Meyers Konversationslexikon 4. Aufl. Bd. 15 (2024)

The Project Gutenberg eBook of Meyers Konversationslexikon Volume 15

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Title: Meyers Konversationslexikon Volume 15

Author: Various

Release Date: November 24, 2003 [eBook #10223]
[Most recently updated: January 18, 2023]

Language: German

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK MEYERS KONVERSATIONSLEXIKON ***

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Karl Eichwalder

Oktober 2003

Übersicht

001: Das im laufenden Alphabet nicht Verzeichnete ist im Register des
101: Spanisches Rohr - Spanishtown.
201: Staatsforstwissenschaft - Staatsrat.
301: Steril - Stern.
401: Stübchen - Stuck
501: Talleyrand-Périgord
601: Tersus - Tertiärformation.
701: Tiergarten - Tierische Wärme.
801: Transportsteuern - Trapa.
901: Tüll - Tümpling.
1001: Ungarn (Komitate, Bevölkerung).

S.

Das im laufenden Alphabet nicht Verzeichnete ist im Register desSchlußbandes aufzusuchen.

Sodbrennen (Magenbrennen, Pyrosis), Symptom deschronischen Magenkatarrhs, besteht in einem brennenden Gefühlim Schlund und Rachen; es beruht darauf, daß die sauren undscharfen Flüssigkeiten und Gase, welche sich infolge deschronischen Magenkatarrhs und der dabei stattfindenden abnormenVerdauungsvorgänge im Magen bilden, durch Aufstoßen inden Schlund, ja selbst bis in den Mund gelangen und auf dieSchleimhaut dieser Teile einen scharfen Reiz ausüben. Das S.verschwindet mit dem Magenkatarrh. Zur augenblicklichen Milderungeignet sich am meisten doppeltkohlensaures Natron, welches dieüberschüssige Säure neutralisiert.

Soddoma (eigentlich Giovannantonio Bazzi), ital. Maler,geb. 1477 zu Vercelli in Savoyen, bildete sich seit 1498 nachLeonardo da Vinci in Mailand und kam 1501 nach Siena, wo erverschiedene Fresken und Tafelbilder ausführte; 1505 malte ereinen großen Freskencyklus aus dem Leben des heil. Benediktfür das Kloster Montoliveto und um dieselbe Zeit dieKreuzabnahme, jetzt im Museum von Siena. 1507-1509 war er in Rom,wo er im Vatikan malte; dann ging er wieder nach Siena, kehrte aber1514 nach Rom zurück, wo er in der Villa Farnesina seineberühmtesten Fresken malte, Alexander vor der Familie desDareios und seine Vermählung mit Roxane, ein Bild, das durchLiebenswürdigkeit der Erfindung und Zartheit des Ausdrucksbezaubert. Damals erhob ihn Leo X. für ein Bild derRömerin Lucrezia in den Ritterstand. Im J. 1515 kam er nachSiena zurück, wo er 1518 vier Fresken aus der Geschichte derMaria im Oratorium von San Bernardino malte. Zwischen 1518 und 1525scheint er sich in Oberitalien aufgehalten zu haben, wo er mehr vonder lombardischen Schule beeinflußt wurde. Von 1525 bis 1537war er wieder in Siena ansässig, wo er seit 1525 die Freskenaus dem Leben der heil. Katharina in der Kapelle der Heiligen inder Kirche San Domenico, ein durch Tiefe und Wahrheit derEmpfindung ausgezeichnetes Hauptwerk des Künstlers, undspäter mehrere Heiligengestalten, die Auferstehung Christi u.a. im Stadthaus malte. Im J. 1542 war er zu Pisa thätig. Erstarb 15. Febr. 1549 in Siena. B. war ein Lebemann, dessenexzentrisches Wesen (daher der Name S.) ihn nicht zu einemsorgsamen Naturstudium und zu einer fleißigenDurchführung seiner Bilder kommen ließ. Von seinenTafelbildern sind noch die heilige Familie mit Calixtus (imStadthaus zu Siena), die Anbetung der Könige (in Sant'Agostino daselbst) sowie eine Prozessionsfahne mit der Madonna unddem heil. Sebastian (in den Uffizien zu Florenz) hervorzuheben.Vgl. Jansen, Leben und Werke des Malers G. Bazzi (Stuttg.1870).

Soden, 1) Dorf und Badeort im preuß.Regierungsbezirk Wiesbaden, Kreis Höchst, am Fuß desTaunus und an der Linie Höchst-S. der PreußischenStaatsbahn, 142 m ü. M., hat schöne Parkanlagen, einenKursaal, ein Badehaus, eine neue Trinkhalle und (1885) 1517 meistevang. Einwohner. Die dortigen Heilquellen, 24 an der Zahl, sindeisenhaltige Säuerlinge von 11-29,5° C. und werdennamentlich gegen chronisch-entzündliche Krankheiten derRespirationsorgane, Skrofulose etc., die stärkern gegenchronische Magenkatarrhe, Dyspepsie, Hämorrhoiden,Menstruationsstörungen, Rheumatismus, Gicht etc. angewandt.Besonders wichtig für Badezwecke ist der Solsprudel, dessenstark gashaltiges Kochsalzwasser (1,5 Proz.) eine natürlicheWärme von 31° C. besitzt. Die Zahl der Kurgästebetrug 1885: 2132. S. war früher unmittelbares Reichsdorf.Vgl. Thilenius, S. am Taunus, mit vergleichender Rücksicht aufEms, Kissingen etc. (2. Aufl., Frankf. 1874); Köhler, S. amTaunus (2. Aufl., das. 1873); Haupt, S. am Taunus (2. Aufl.,Würzb. 1883). -

2) Stadt im preuß. Regierungsbezirk Kassel, KreisSchlüchtern, zwischen Salza und Kinzig, 1 km von StationSalmünster der Linie Hanau-Bebra-Göttingen derPreußischen Staatsbahn, hat eine kath. Kirche, einSchloß, eine Sägemühle undParkettfußbodenfabrik, Schuhmacherei und (1885) 883 fast nurkath. Einwohner. Die dortigen vier jod- und bromhaltigen Solquellenvon 12,5-13° C. werden vorzugsweise bei Skrofulose,Unterleibsstockungen, chronischenGebärmutterentzündungen, alten Exsudaten etc. benutzt.1885 ward dort auch ein an Kohlensäure reicher Säuerlingentdeckt und gefaßt. Dabei auf einer Anhöhe diemalerisch gelegenen Ruinen der Burg Stolzenberg. -

3) (Sooden) Flecken im preuß. Regierungsbezirk Kassel,Kreis Witzenhausen, an der Werra und der LinieFrankfurt-Bebra-Göttingen der Preußischen Staatsbahn,der Stadt Allendorf (s. d.) gegenüber, hat eine evang. Kirche,ein Salzwerk (schon 973 genannt) mit

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd.

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Soden - Sofala.

Solbad, eine Kinderheilanstalt und (1885) 758 evang. Einw. Vgl.Sippell, S. an der Werra (Soden 1886).

Soden, Friedrich Julius Heinrich, Graf von,Schriftsteller, geb. 4. Dez. 1754 zu Ansbach aus freiherrlichemGeschlecht, wurde fürstlich branden-burgischer Regierungsrat,später Geheimrat und preußischer Gesandter beimfränkischen Kreis zu Nürnberg und 1790 in denReichsgrafenstand erhoben. Seit 1796 privatisierend, lebte er aufseinem Gut Sassenfahrt am Main, führte 1804-10 die Leitung desBamberg-Würzburger Theaters, zog dann nach Erlangen und starb13. Juli 1831 in Nürnberg. Als Schriftsteller hat er sichdurch Erzählungen (z. B. "Franz von Sickingen", 1808) und einebeträchtliche Reihe dramatischer Arbeiten bekannt gemacht, vonwelch letztern "Inez de Castro" (1784), "Anna Boley" (1794),"Doktor Faust, ein Volksschauspiel" (1797), und "Virginia" (1805)erwähnt seien. S. war auch als Übersetzer (Lope de Vega,Cervantes) sowie als staatswissenschaftlicher Schriftstellerthätig.

Söderhamn, Stadt im schwed. Län Gefleborg,unweit des Bottnischen Meerbusens, an der EisenbahnKilafors-Stugsund, hat lebhaften Handel mit Holz und Eisen und(1885) 9044 Einw. S. ist Sitz eines deutschen Konsuls.

Söderköping, Stadt im schwed. LänOstgotland, am Götakanal, der 5 km davon in die OstseebuchtSlätbaken mündet, einst ein ansehnlicher Ort, jetztunbedeutend, mit (1885) nur 1909 Einw.

Södermanland, Län im mittlern Schweden(Swearike), zwischen der Ostsee im SO. und dem Mälar- undHjelmarsee im N., grenzt im Süden an Ostgotland, im W. anÖrebro, im N. an Westmanland, im NO. an das LänStockholm, welchem nur der nordöstliche Teil der altenLandschaft S. zugeteilt ist, und hat ein Areal von 6841,4 qkm(124,2 QM.). Es ist größtenteils Flachland, reich anSeen und Wäldern (37 Proz. des Areals) und eine derfruchtbarsten Provinzen des mittlern Schweden. Die Bewohner, derenZahl 1887: 152,296 betrug, treiben Ackerbau (1886 wurden 888,000 hlHafer, 435,000 hl Roggen, 116,000 hl Weizen geerntet), Viehzucht(1884 zählte man 95,797 Stück Rindvieh) und Industrie inEisen, Wolle und Baumwolle. Das Län wird von der Westbahndurchschnitten, an welche sich bei Flen nach Oxelösund undKolbäck führende Zweigbahnen und bei Katrineholm dieOstbahn anschließt. Hauptstadt ist Nyköping.

Södertelge, Landstadt im schwed. Län Stockholm,an der Bahn Stockholm-Gotenburg, zwischen dem Mälar und demkleinen See Maren, durchschnitten von dem Södertelgekanal,welcher, 1819 eröffnet, von dem Mälar in den Maren undvon diesem in die Ostsee führt, hat ein Pädagogium, 2mechanische Werkstätten, Zündhölzerfabrik, eineKaltwasserheilanstalt, ein Seebad und (1885) 3926 Einw.

Sodium, s. v. w. Natrium.

Sodom, alte Stadt Palästinas, im Thal Siddim, gingnach mosaischem Bericht (1. Mos. 19, 24 ff.) mit dem benachbartenGomorra (s. d.) zu Abrahams Zeiten unter. Der Name hat sich in demdes Salzbergs Usdum erhalten. Vgl. Totes Meer.

Sodoma, Maler, s. Soddoma.

Sodomie, s. Unzuchtsverbrechen.

Sodor und Man, engl. Bistum, welches jetzt nur die InselMan umfaßt, sich früher aber auch auf die Hebriden (dieSodoreys der Normannen) erstreckte.

Soerabaya (spr. sura-), Stadt, s. Surabaja.

Soest, 1) (spr. sohst) Kreisstadt im preuß.Regierungsbezirk Arnsberg, in einer fruchtbaren Ebene (SoesterBörde). Knotenpunkt der Linien S.-Nordhausen, Schwelm-S. undS.-Münster der Preußischen Staatsbahn, 98 m ü. M.,hat 6 evang. Kirchen (darunter die gotische, 1314 begonnene, 1846restaurierte Wiesenkirche), einen kath. Dom, ein Gymnasium,Schullehrerseminar, ein Taubstummen- und ein Blindeninstitut, einRettungshaus, ein Amtsgericht, ein Puddel- und Walzwerk,Fabrikation von Zucker, Nieten, Seife, Hüten und Zigarren,Leinweberei, Gerberei, Bierbrauerei, Branntweinbrennerei, eineMolkerei, Ziegeleien, Getreide- und Viehhandel, besuchteMärkte, bedeutenden Acker- und Gartenbau und (1885) mit derGarnison (eine Abteilung Feldartillerie Nr. 22) 14,846 meist evang.Einwohner. - Im Mittelalter war S. eine der angesehensten undreichsten Hansestädte mit reichsstädtischen Rechten undeiner Bevölkerung von 25-30,000 Seelen. Ihr Stadtrecht, Schran(jus Susatense) genannt und zwischen 1144 und 1165 aufgezeichnet,diente in vielen andern Städten, Lübeck, Hamburg etc.,als Norm. Die Stadt galt als Hauptstadt des Landes Engern imHerzogtum Sachsen. Nach Auflösung des letztern 1180bemächtigte sich der Erzbischof von Köln derselben undeignete sich das Schultheißenamt an. Dagegen stand den Grafenvon Arnsberg bis 1278 die Vogtei (Blutbann) in S. zu. Unter demErzbischof Dietrich von Köln entzog sich die Stadt wegen zuharten Drucks der erzbischöflichen Botmäßigkeitwieder und begab sich 24. Okt. 1441 unter den Schutz Adolfs,Herzogs von Kleve und Grafen von der Mark, was 1444 zu einerlangwierigen Belagerung der Stadt (Soester Fehde) führte, beiwelcher die dortigen Frauen sich durch Mut auszeichneten. DerStreit endete infolge päpstlicher Entscheidung damit,daß S. mit der Börde 1449 unter die Landeshoheit desneuen Herzogs von Kleve, Johannes, kam. Vgl. Barthold, S., dieStadt der Engern (Soest 1855); Schmitz, Denkwürdigkeiten ausSoests Vorzeit (Leipz. 1873); Hansen, Die Soester Fehde (das.1888); "Chroniken der deutschen Städte", Bd. 21; S. (das.1889). -

2) (spr. suhst) Dorf in der niederländ. Provinz Utrecht,Bezirk Amersfoort, am Eem und der Eisenbahn Utrecht-Kampen, mit(1887) 3776 Einw. Dabei das Lustschloß Soestdyk, vom Prinzenvon Oranien (nachmals König Wilhelm III. von England) 1674erbaut.

Soeste (spr. sohste), Fluß im GroßherzogtumOldenburg, entspringt bei Kloppenburg, durchfließt dasSaterland und mündet links in die Leda.

Soeurs converses (franz., spr. ssör kongwérs,bekehrte Schwestern), s. v. w. Beaten (s. d.).

Soeurs de la charité (franz., spr. ssör d' lacharité), s. v. w. Barmherzige Schwestern (s. d.).

Sofa, in den türk. Häusern die Vorhalle, von woman zu den verschiedenen Zimmern gelangt; dieselbe ist auf dreiSeiten mit Ruhesitzen versehen, woher die europäischeBedeutung des Wortes stammt.

Sofála (arab., "Niederland"), geographischeBezeichnung für das Küstenland Ostafrikas zwischen demSambesi und der Delagoabai, bestehend aus einem flachenKüstenstrich mit der vorliegenden Gruppe der Bazarutoinselnund einem weiter zurückliegenden gebirgigen Teil. ZahlreicheFlüsse, darunter Bazi, Sabia und Limpopo, münden hier inden Ozean und überschwemmen alljährlich das Land. DerBoden ist längs der Küste sehr fruchtbar und bringtbesonders Reis, Orseille, Indigo, Kautschuk, Zuckerrohr und

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Soffariden - Sohar.

Kaffee hervor. Im Hinterland findet sich viel Gold, Kupfer,Eisen, und die Kaffern, die Bewohner des Landes, bringen Elfenbeinan die Küste. Die Portugiesen, welche am Ende des 15. Jahrh.diese Küste entdeckten, und zu deren Kolonie Mosambik dieselbejetzt gehört, trafen hier arabische, vom Sultan von Kilwaabhängige Niederlassungen. Sie unterwarfen diese sowie diebenachbarten Kaffern und nannten die neue Besitzung KönigreichAlgarve. Von ihren hier angelegten Militär- undHandelsstationen S. und Inhambane unternahmen die Portugiesennamentlich im 16. Jahrh. Züge nach den goldreichenKaffernstaaten Mokaranga und Monomotapa, welche als angeblichmächtige und zivilisierte "Kaiserreiche" erschienen, in derThat aber nur barbarische Reiche waren. Im Hinterland von S. liegenauch die Goldgruben von Manica sowie verschiedene 1871 von KarlMauch entdeckte Goldgruben und die Ruinen von Zimbabye (s. d.),weshalb man schon im 16. Jahrh. das Salomonische Ophir hierherverlegte, eine Ansicht, die mit mehr Kühnheit alsBegründung in neuerer Zeit wiederholt wurde. - Die Stadt S.,am Kanal von Mosambik, seit 1505 im Besitz der Portugiesen, ist einarmseliger, verfallener Ort, der kaum 1200 Einw. (darunter wenigeWeiße) zählt, aber doch Hauptort des gleichnamigenBezirks und Station für das submarine Kabel von Durban nachAden.

Soffariden, pers. Dynastie, s. Saffariden.

Soffionen (ital., "Blasebälge"), Name derDampfausströmungen der Borsäure (s. d.) in Toscana.

Soffítte (ital.), in der Baukunst dieornamentierte Unteransicht eines Bogens, einer Hängeplatte,einer Balkendecke etc.; eine in Felder geteilte oder mitGetäfel gezierte Zimmerdecke; im Theaterwesen die überder Bühne aufgehängten, den Himmel oder eine Deckedarstellenden Dekorationsstücke.

Sofi (arab., Sufi, Ssofi, Ssufi), s. Sûfismus.

Sófia (bulgar. Sredec), Hauptstadt desFürstentums Bulgarien, an der Eisenbahn von Konstantinopelnach Belgrad und an der Bogana (Nebenflüßchen des Isker)in einer prachtvollen, weiten Ebene, zwischen Balkan und Witosch,580 m ü. M. gelegen. S., Mittelpunkt eines ansehnlichenStraßennetzes, hat viele Moscheen (darunter als diearchitektonisch bedeutendste die jetzt verfallene BöjükDschami), christliche Kirchen und Klöster; das sehenswertesteGebäude ist das große Bad bei der Moschee BaschiDschamisi, mit warmen Quellen. Doch entstehen gegenwärtigviele Neubauten, und die alten Straßen werden reguliert undgepflastert. Neu errichtet sind ein fürstlicher Palast, eineNationalbibliothek, eine Druckerei, Apotheken, Agenturen,Gasthöfe, eine Post, eine Nationalbank mit einem Kapital von 2Mill. Frank, ein wissenschaftlicher Verein u. a. 1887 zähltees 30,428 Einw., darunter 5000 Juden, 2000 Türken und 1000Zigeuner. S. hat starken Export von Häuten nachÖsterreich und Frankreich, von Mais und Getreide. Es ist derSitz der bulgarischen Regierung, eines griechischen Metropoliten,eines Kassations- und eines Appellhofs sowie eines deutschenBerufskonsuls. - S. steht an der Stelle des alten Ulpia Serdica inObermösien (berühmt durch ein 344 daselbst gehaltenesKonzil) und fiel 1382 in die Hände der Türken. Am 3. Jan.1878 wurde die Stadt von den Russen unter Gurko besetzt.

Sofia-Expedition, 28. Juni bis 20. Okt. 1868, s. Maritimewissenschaftliche Expeditionen.

Sofiero (Sophiero), königliches Lustschloß amÖresund in Schweden, 6 km von Helsingborg; Sommersitz derköniglichen Familie.

Sofis (Safis, Sûfis), pers. Dynastie,gegründet von Ismail, mit dem Beinamen Sofi, herrschte von1505 bis 1735 über Persien (s. d., S. 873).

Sofismus, s. Sûfismus.

Söflingen, Marktflecken im württemberg.Donaukreis, Oberamtsbezirk Ulm, an der Blau und der LinieUlm-Sigmaringen der Württembergischen Staatsbahn, hat einekath. Kirche, ein Forstamt, mechanische Weberei und (1885) 2501Einw. S. war früher reichsunmittelbare Frauenabtei, kam 1802an Bayern und 1810 an Württemberg.

Softa (pers.), in der Türkei ein der Wissenschaftlebender, der Welt abgestorbener Besucher der Hochschulen (s.Medresse). Die Softas rekrutieren sich jetzt aus den unterstenVolksschichten und haben mehrere Prüfungen zu bestehen, bissie den gesetzlichen Titel "Molla" (s. d.) erlangen, um dann alsGeistliche oder als Richter angestellt zu werden. Meist Gegneraller europäisierenden Maßregeln, haben sie sich in derNeuzeit auch zu politischen Demonstrationen verleiten lassen.

Sog, s. v. w. Kielwasser (s. d.).

Sogamoso, Stadt im Staat Boyacá dersüdamerikan. Republik Kolumbien, am Chicamocha, 2506 m ü.M., mit Hospital, lebhaftem Handel und (1870) 9553 Einw. Ehemalswar S. die Hauptstadt der theokratischen Regierung des Sugamuxi,eines Hohenpriesters der Muisca oder Tschibtscha (s. d.).

Sogdiana, ehemals die nördlichste bis zum Jaxartesreichende Satrapie des Perserreichs, mit der Hauptstadt Marakanda(jetzt Samarkand).

Sögel, Dorf im preuß. RegierungsbezirkOsnabrück, Kreis Lingen, am Hümmling, mit kath. Kirche,Amtsgericht und (1885) 1100 Einw. Östlich das herzoglicharenbergische Jagdschloß Klemenswerth.

Soggen, s. Salz, S. 238.

Soghum Kala, Stadt, s. Suchum Kalé.

Soglio (spr. ssolljo), s. Sils 3).

Sognefjord, tief einschneidender Fjord an derWestküste Norwegens, über 200 km lang, endigt in einemSeitenfjord, welcher den Namen Lysterfjord führt, ist kaumirgendwo 7 km breit und fast überall von hohen, steilenFelswänden umgeben. Die Landschaft, welche den S. umgibt, istdie gebirgige Vogtei Sogn und gehört zu den wildesten Gegendendes Landes. Die vom Hauptfjord abgehenden Seitenfjorde zeichnensich besonders durch ihre gewaltigen Umgebungen aus. So sind diesüdlichen Zweige, der Aurlands- und der Näröfjord,von Gebirgen umgeben, die sich von der See aus 1600-2000 msenkrecht erheben. Im N. sendet der S. außer dem Lysterfjordauch den Sogndalsfjord und den Fjärlandsfjord aus, von denender letztere bis zu den Gletschern des Jostedalsbrähineindringt, welche hier bis zu 65 m ü. M. herabsteigen.Diese riesenhafte Schneemasse, die mit ihren Gletschern dieangrenzenden Thäler erfüllt, begrenzt den Fjord im N.,während ihn im O. große, zu den Jotunfjelden (s. d.)gehörige Gebirgsmassen von den angrenzenden Gegenden scheiden;nur im Süden führt ein einziger Paß durch dasgroßartige Närödal, die Fortsetzung desNäröfjords.

Sohair (Zuhair), berühmter arab. Dichter dervormohammedanischen Zeit. Seine "Moallaka" ist einzelnherausgegeben von Rosenmüller ("Analecta arabica", 2. Teil,Leipz. 1826), übersetzt von Rückert ("Hamasa" I, Zugabe 1zu Nr. 149); seine erhaltenen Gedichte s. bei Ahlwardt in den "Sixancient poets" (Lond. 1870). Vgl. Kaab Ibn Sohair.

Sohar ("Glanz", auch S. hakadosch, der heilige S.,genannt), das in unkorrektem Aramäisch in Form

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Sohar - Soiron.

eines Pentateuchkommentars abgefaßte Hauptwerk der Kabbala(s. d.), das jahrhundertelang fast vergöttert wurde, aberdurch seine verworrene Vermischung von neuplatonischen,gnostischen, Aristotelischen und jüdisch-allegorischenAnschauungen die Entwickelung des Judentums sehr geschädigthat. Verfasser oder Redakteur des S. ist vermutlich der in derzweiten Hälfte des 13. Jahrh. in verschiedenen StädtenSpaniens lebende Moses ben Schemtob de Leon und nicht Simon benJochai (Mitte des 2. Jahrh. n. Chr.). Der S., der an einzelnenStellen eine Feindseligkeit gegen den Talmud zu erkennen gibt undhin und wieder mit dem Christentum liebäugelt, besteht ausdrei Hauptteilen: 1) dem eigentlichen S., 2) dem treuen Hirten(Raja mehemna) und 3) dem geheimen Midrasch (Midrasch neelam). Vgl.Tholuck, Wichtige Stellen des rabbinischen Buches S. (Berl. 1824);Joël, Die Religionsphilosophie des S. (Leipz. 1849); Jellinek,Moses ben Schem-Tob de Leon und sein Verhältnis zum S. (das.1851).

Sohar, Hafenstadt in der arab. Landschaft Oman, mit guterReede, einem festen Schloß, sorgfältig angebauterUmgebung und ca. 24,000 Einw. (darunter eine Anzahl Juden miteigner Synagoge). Gewerbe, Weberei, Metallarbeiten blühen.

Sohl (ungar. Zólyom), ungar. Komitat am linkenDonauufer, grenzt an die Komitate Liptau, Gömör,Neográd, Hont, Bars und Thúrócz, ist 2730 qkm(49,7 QM.) groß, ganz von Gebirgen bedeckt, wird vomGranfluß durchströmt, dessen Thal besonders fruchtbarist, und hat zahlreiche Gebirgsweiden. Die Einwohner (1881:102,500, meist Slowaken) betreiben Rindvieh- und Schafzucht, etwasWeinbau, lebhaften Bergbau auf Schwefel, Silber, Kupfer, Eisen,Vitriol und Quecksilber sowie Fabrikation von Eisen- undTöpferwaren, Tuch, Glas, Papier etc. Sitz des Komitats, dasseinen Namen von der bei Altsohl malerisch gelegenen Ruine S. ander Mündung der Szlatina in die Gran erhielt, ist Neusohl.

Sohland, Dorf in der sächs. Kreis- undAmtshauptmannschaft Bautzen, an der Spree und an der LinieBischofswerda-Zittau der Sächsischen Staatsbahn, hat eineevang. Kirche, Hand- und mechan. Weberei, Säge- undMahlmühlen und (1885) 5126 Einw.

Sohle (Soole), Fisch, s. Schollen.

Sohlenbau, s. v. w. Strossenbau, s. Bergbau, 724.

Sohlengänger, Säugetiere, die mit der ganzenSohle auftreten, wie die Bären (s. Säugetiere, 345).

Sohlennähmaschine, s. Schuh.

Söhlig, im Bergwesen s. v. w. horizontal. Vgl.Fallen der Schichten.

Sohn, jede Person männlichen Geschlechts imVerhältnis zu ihren Erzeugern (Vater und Mutter). S.Verwandtschaft.

Sohn, 1) Karl Ferdinand, Maler, geb. 10. Dez. 1805 zuBerlin, erhielt von Schadow, dem er 1826 nach Düsseldorffolgte, den ersten Unterricht in der Kunst und behandelte anfangsmit Vorliebe antike Stoffe, dann auch Szenen aus neuern Dichtern,wie Tasso, Goethe etc. Seine Hauptwerke, welche ihm in den 30er und40er Jahren eine große Popularität einbrachten, sind:Rinaldo und Armida, die Lautenschlägerin und der Raub desHylas (beide in der Nationalgalerie zu Berlin), Diana undAktäon, das Urteil des Paris, Romeo und Julie, die beidenLeonoren, die Schwestern, die vier Jahreszeiten, Lurlei undDarstellungen von sentimental-romantischen Situationen. S. warMeister in Behandlung der Karnation und in der Darstellung vonFrauengestalten. Besonders ausgezeichnet war er im weiblichenBildnis. Er wurde 1832 Lehrer an der Düsseldorfer Akademie undstarb 25. Nov. 1867 während eines Besuchs in Köln. AlsLehrer hat er einen großen Einfluß auf die Entwickelungder Düsseldorfer Schule geübt. - Seine beiden SöhneRichard S. (geb. 1834) und Karl S. (geb. 1845) haben sich alsPorträt- und Genremaler vorteilhaft bekannt gemacht.

2) Wilhelm, Maler, Neffe des vorigen, geb. 1830 zu Berlin, ging1847 nach Düsseldorf und erhielt durch Karl S. seineAusbildung, die er durch Reisen ergänzte. Anfangs malte erhistorische Bilder, wie: Christus auf stürmischer See (1853,städtische Galerie in Düsseldorf, Christus am Ölberg(1855, in der Friedenskirche zu Jauer in Schlesien), Genoveva(1856); bald aber wandte er sich der Genremalerei zu. SeineVerschiedenen Lebenswege, Gewissensfrage (1864, Galerie zuKarlsruhe), besonders aber die Konsultation beim Rechtsanwalt(1866, Museum in Leipzig) sind meisterhaft in der Charakteristik,in der Zeichnung und der koloristischen Wirkung. Infolge desAufsehens, welches diese Gemälde machten, erhielt er denAuftrag, für die preußische Nationalgalerie eingroßes Bild, die Abendmahlsfeier einer protestantischenPatrizierfamilie, zu malen, das ihn noch beschäftigt. S. wurde1874 Lehrer der Malerei an der Düsseldorfer Akademie. Seitdieser Zeit hat er wenig geschaffen, desto ersprießlicheraber als Lehrer gewirkt.

Soho, Vorstadt von Birmingham (s. d.), mitberühmter, von Watt gegründeter Dampfwagenfabrik.

Sohrau, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Oppeln,Kreis Rybnik, am Ursprung der Ruda und an der Linie Orzesche-S. derPreußischen Staatsbahn, 283 m ü. M., hat eineevangelische und eine kath. Kirche, eine Synagoge, ein Amtsgericht,Eisengießerei und Eisenwarenfabrikation, Lein- undWollweberei, eine Dampf- und 3 Wassermühlen, Ziegeleien und(1885) mit der Garnison (1 Eskadron Ulanen Nr. 2) 4450 meist kath.Einwohner.

Söhre, bewaldete Berglandschaft im preuß.Regierungsbezirk Kassel, rechts von der Fulda, südöstlichvon Kassel, besteht aus Buntsandstein und erreicht im Stellberg 482m Höhe.

Soi-disant (franz., spr. ssoa-disang), sogenannt.

Soignies (spr. ssoanjih), Hauptstadt einesArrondissem*nts in der belg. Provinz Hennegau, an der Senne und derEisenbahn Brüssel-Quiévrain (mit Abzweigung nachHoudeng-Goegnies), hat mehrere Kirchen (darunter die romanischeVincentiuskirche aus dem 12. Jahrh.) und Klöster, ein Rathausim spanischen Stil, eine höhere Knabenschule, Industrieschule,ein geistliches Seminar, Zwirnfabrikation und (1887) 8683 Einw.Hier 10. Juli 1794 siegreiches Gefecht der Franzosen gegen dieNiederländer.

Soirée (franz., spr. ssóareh), Abend;Abendgesellschaft; S. dansante, Abendgesellschaft mit Tanz.

Soiron (spr. ssoaróng), Alexander von, bad.Politiker, geb. 2. Aug. 1806 zu Mannheim, studierte in Heidelbergund Bonn, widmete sich seit 1832 der advokatorischen Praxis erst zuHeidelberg, dann zu Mannheim und ward 1834 daselbstOberhofgerichtsadvokat. Seit 1845 Abgeordneter der badischenZweiten Kammer, hielt er zur liberalen Opposition und nahm 1848 anden Vorbereitungen zur Berufung des Vorparlaments regen Anteil. Erward auch in den Fünfzigerausschuß gewählt undführte den Vorsitz darin. In der Nationalversammlung war ergeraume Zeit erster Vizepräsident und Vorsitzender desVerfassungsausschusses. Er handhabte seine Ämter mit Energieund Umsicht und zog sich dadurch den Haß

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Soissonische Stufe - Soja.

der Linken zu. S. war ein tüchtiger Redner undfleißiger Arbeiter. Auch am Erfurter Parlament nahm er teil.Er starb 6. Mai 1855 in Heidelberg.

Soissonische Stufe (spr. ssoa-), s.Tertiärformation.

Soissons (spr. ssoassóng),Arrondissem*ntshauptstadt im franz. Departement Aisne, an der Aisneund der Nordbahn (mit Abzweigung nach Compiègne und Reims),mit detachierten Forts umgebene Festung zweiten Ranges, hat mehrereÜberreste gallorömischer Architektur und bedeutendeBauwerke aus dem Mittelalter, wie die schöne Kathedrale(12.-13. Jahrh.), die Kirche St.-Léger, die StiftskircheSt.-Pierre, die Reste der 1076 gegründeten Abtei St.-Jean desVignes, das Stadthaus u. a. S. hat ein Zivil- und Handelstribunal,ein Collège, großes und kleines Seminar, eineZeichenschule, eine Bibliothek mit 30,000 Bänden, einAntikenmuseum, ein Taubstummeninstitut und (1886) 11,850 Einw.,welche etwas Industrie und starken Handel mit landwirtschaftlichenProdukten treiben. Es ist Bischofsitz. - Im Altertum hieß dieStadt Noviodunum, später Augusta Suessionum (wovon der heutigeName) und war die Hauptstadt der Suessionen im belgischen Gallien.In S. war ein Palatium der römischen Kaiser, und es war dieletzte Stadt, welche die Römer in Gallien besaßen.Aetius und Syagrius residierten daselbst, und letzterer wurde 486von Chlodwig in der Nähe der Stadt geschlagen. In derMerowingerzeit war es fast immer Residenz eines Teilreichs und warauch nachher von Bedeutung. Hier fand 744 eine für Neustrienwichtige Synode und 751 die Erhebung Pippins zum König statt;hier mußte Ludwig der Fromme 833 Kirchenbuße thun. Seitdem 9. Jahrh. Sitz eigner Grafen, ging S. durch Kauf und Heirat inverschiedene Hände über und fiel 1734 an diefranzösische Krone. Als Knotenpunkt großerHeerstraßen und Sperrpunkt der Nordbahn spielte S. in denKämpfen von 1814 und 1815 sowie 1870 eine große Rolle,15. Okt. d. J. ward es nach dreitägiger Beschießung vomGroßherzog von Mecklenburg-Schwerin genommen. Die Geschichtedieser Belagerung beschrieben Gärtner (Berl. 1874) und H.Müller (das. 1875).

Soissons (spr. ssoassóng), 1) Charles von Bourbon,Graf von, Sohn des Prinzen Ludwig I. von Condé (s. d.) ausdessen zweiter Ehe mit Françoise vonOrléans-Longueville, durch welche die Grafschaft S. an dasHaus Bourbon-Condé kam, geb. 1566, stand in denHugenottenkriegen bald auf seiten des Hofs, bald auf seiten desKönigs Heinrich von Navarra, schloß sich 1588 an diesenan, leistete ihm in der Schlacht bei Coutras nützliche Diensteund starb 1. Nov. 1612.

2) Louis von Bourbon, Graf von, Sohn des vorigen, geb. 11. Mai1604 zu Paris, folgte seinem Vater als Grand-Maître undGouverneur der Dauphiné. Schon im 16. Jahr unterstützteer die Königin-Mutter Maria von Medici gegen ihren Sohn LudwigXIII., während er zugleich, um sich gefürchtet zu machen,mit den Hugenotten unterhandelte. Als diese ihn mißtrauischvon sich wiesen, kehrte er zur Partei des Königs zurückund begleitete diesen im Feldzug von 1622 gegen die Protestanten.Durch die Entdeckung der Verschwörung gegen Richelieu, an derer teilgenommen hatte, kompromittiert, floh er nach Italien; LudwigXIII. rief ihn jedoch zurück und beauftragte ihn mit derBelagerung von La Rochelle. 1630 kaufte S. die Grafschaft S. vomPrinzen von Condé, begleitete den König nochmals nachItalien und erhielt dann das Gouvernement von Champagne und LaBrie. In dem Feldzug von 1636 befehligte er ein kleines Korps ander Aisne und Oise, wurde jedoch von den Spaniern zum Rückzugnach Noyon gezwungen. Ein neuer, abermals vereitelter Anschlag zurErmordung Richelieus nötigte S. zur Flucht nach Sedan, wo ersich mit dem Herzog von Bouillon, dem Herzog von Guise und denSpaniern zum Kriege gegen den Minister verband. Einkönigliches Heer unter dem Marschall Châtillon wurde 6.Juli 1641 bei Marfée in der Nähe von Sedan geschlagen,S. aber im Gefecht erschossen. Mit ihm erlosch die Seitenlinie S.des Hauses Bourbon-Condé; Besitz und Titel gingen auf denzweiten Sohn seiner Schwester Maria über, die sich 1625 mitdem Prinzen Thomas Franz von Savoyen-Carignan vermählthatte.

3) Eugène Maurice von Savoyen, Graf von, Sohn des PrinzenThomas Franz von Savoyen-Carignan, Neffe des vorigen, geb. 1635 zuChambéry, widmete sich in der Jugend dem geistlichen Stand,nahm jedoch später Kriegsdienste und heiratete 1657 OlympiaMancini (s. Mancini 1), die Nichte des Ministers Mazarin, der ihnzum Generalobersten der Schweizer und zum Gouverneur der Champagneernannte. 1667 wohnte er dem Feldzug in Flandern bei, und 1672 warder von Ludwig XIV. zum Generalleutnant befördert, in welcherEigenschaft er sich in Holland und am Rhein auszeichnete. Er starb7. Juni 1673. Sein jüngerer Sohn war der berühmte PrinzEugen (s. d.) von Savoyen; der ältere, Ludwig Thomas, setztedie Linie Savoyen-S. fort, die mit dessen Enkel 1734 erlosch.

Soja Savi (Sojabohne), Gattung aus der Familie derPapilionaceen, mit der einzigen Art S. hispida Mönch, einereinjährigen, in Japan, Südindien und auf den Molukkenheimischen Pflanze. Sie hat einen bis 1 m hohen, aufrechten, etwaswindenden Stengel, langgestielte, dreizählige Blätter,welche wie Stengel und Zweige dicht rotbraun behaart sind,kurzgestielte Blütenträubchen mit kleinen, unscheinbaren,blaßvioletten Blüten und sichelförmige,trockenhäutige, rötlich behaarte, zwei- bisfünfsamige, zwischen den Samen schwammig gefächerteHülsen. Man kultiviert die Sojabohne in zahlreichenVarietäten und in sehr weiter Verbreitung in Asien. Sie gehtmit ihrer nördlichen Verbreitungsgrenze noch über denMais hinaus, besitzt ein großes Anpassungsvermögen anBoden- und klimatische Verhältnisse, völligeImmunität gegen Schmarotzerpilze und nie versagendeFruchtbarkeit. Die früh reifenden Varietäten geben inMitteleuropa nach zahlreichen mehrjährigen Anbauversuchen sehrbefriedigende Resultate. Die Samen sind rundlich, länglichoder nierenförmig, gelblich, braunrot, grünlich oderschwarz, niemals gefleckt; sie enthalten neben etwa 7 Proz. Wasser38 Proteinkörper, 17-20 Fett, 24-28 stickstofffreieSubstanzen, 5 Rohfaser und 4,5 Proz. Asche. Ihr Nährwert istmithin gegenüber den übrigen Hülsenfrüchten einsehr hoher, und namentlich tritt der bedeutende Fettgehalt hervor.Auf letzterm beruht zum Teil die vielfache Verwendung derwohlschmeckenden Samen in Japan, indem der fettige Brei fast allenGerichten statt der Butter zugesetzt wird; in China lebt eingroßer Teil der Bevölkerung von Sojagerichten; auchbereitet man aus Sojabohnen durch einen Gärungsprozeßeine pikante braune Sauce für Braten und Fische, welche inJapan, China, Ostindien sehr beliebt ist und in England wie auf demKontinent und in Nordamerika ebenfalls in den Handel kommt. Diejapanische Sojasauce ist die beste, sie besitzt nicht densüßlichen Geschmack der chinesischen. Gute Sojasauce isttiefbraun, sirupartig und bildet

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Sojaro - Sokrates.

beim Schütteln eine helle, gelbbraune Decke. Bei derBenutzung darf den Speisen nur sehr wenig zugesetzt werden. InÖsterreich hat man die Samen als gutes Kaffeesurrogat benutzt.Vgl. Haberlandt, Die Sojabohne (Wien 1878); Wein, Die Sojabohne(Berl. 1881).

Sojaro, Beiname von Bernardino Gatti (s. d.).

Sok, siamesische Elle, = 2 Kup à 12 Niuh oder Nidà 4 Kabiet = ½ m.

Sokal, Stadt in Ostgalizien, am Bug und an der EisenbahnJaroslau-S., mit Bezirkshauptmannschaft, Bezirksgericht,Bernhardinerkloster, Wallfahrtskirche und (1880) 6725 Einw. Hier1519 Niederlage der Polen gegen die Tataren.

Sokol (slaw.), Falke; übertragen s. v. w. Held,wackerer Mann; in Böhmen und Mähren häufig auch Namevon Turnvereinen.

Sokolka, Kreisstadt im russ. Gouvernement Grodno, an derPetersburg-Warschauer Eisenbahn, mit (1885) 4125 Einw., von denensich die Christen mit Landbau, die Juden mit Kramhandelbeschäftigen; kam bei der dritten Teilung Polens (1795) anPreußen und 1807 an Rußland.

Sokolow, 1) Stadt in Galizien, BezirkshauptmannschaftKolbuszow, hat ein Bezirksgericht und (1880) 4296 Einw. -

2) Kreisstadt im russisch-poln. Gouvernement Sjedletz, mit(1885) 7083 Einw.

Sókoto (Soccatu, Sakatu), Reich der Fellata imwestlichen Sudân (Afrika), grenzt nördlich an dieSahara, östlich an Bornu, westlich an Gando und umfaßtden größten Teil des Haussalandes mit einemFlächenraum von ca. 440,000 qkm (8000 QM.). Hauptstadt desLandes und Residenz des Sultans ist Wurno mit 22,000 Einw. DerSultan von S. übt über Gando, Bautschi, Nupe undAdamáua mehr ein geistliches als ein weltliches Regiment.Dennoch empfängt er von diesen Staaten mäßigenTribut. Das Reich, welches unter den Sultanen Bello (1819 bis 1832)und Atiku (1832-37) in ziemlicher Blüte stand, ist unter derenNachfolgern sehr in Verfall gekommen. Die Stadt S., ehemalsHauptstadt des Reichs, am gleichnamigen Fluß (Nebenflußdes Niger), ist mit einer Mauer umgeben, ziemlichregelmäßig gebaut, hat einen großenResidenzpalast, mehrere Moscheen, Fabrikation von Leder- u.Baumwollwaren, Waffen, Werkzeugen etc. Ein aus Brasilienzurückgekehrter Fulahsklave hat in der Nähe eineZuckerplantage und -Raffinerie angelegt. Arabische Kaufleute ausGhadames bewohnen ein besonderes Viertel, auch englischeHändler erscheinen jetzt daselbst. Clapperton gelangte 1824als erster Europäer nach S. und starb 1827 in der Näheder Stadt. 1853 wurde es von Barth, 1880 von Flegel und 1885 von I.Thomson besucht. Letzterer schloß namens der National AfricanCompany mit dem Sultan einen Vertrag ab, wonach jener Gesellschaftgegen eine jährliche Subsidie das Monopol des Handels und derMineralausbeute an den Ufern des Binue eingeräumt wurde. S.Karte bei Guinea.

Sokotora (Socotra, verderbt aus dem griech. Dioskorides),Insel im Indischen Ozean, 220 km östlich vom Kap Gardafui, derOstspitze Afrikas, 3579 qkm (65 QM.) groß mit 12,000 Einw.,ist mit Ausnahme eines schmalen Küstenstrichs von hohen, bisüber 1360 m aufsteigenden Gebirgen erfüllt, nur ineinzelnen Thälern unweit der Küste fruchtbar, in welchenvorzugsweise die nach der Insel benannte Aloe und Dattelpalmengedeihen, welche nebst Drachenblut, Schildpatt, Zibetkatzen etc.ausgeführt werden. Die Bevölkerung ist ein Mischvolk vonArabern, Somal, Negern und Indern. Ihre Hauptbeschäftigungbilden Handel, Viehzucht (Kamele, Rinder, Schafe, Ziegen) und etwasAckerbau. Der Hauptort ist Tamarida an der Nordküste. - Vonden alten Kulturvölkern Dioskorides genannt und auch imPeriplus erwähnt, wurde die Insel im 15. Jahrh. vonNiccolò Conti und 1503 von Pereira besucht und 1506 vonTristan da Cunha erobert. Doch stellte 1510 der arabische Scheichvon Keschin seine Autorität wieder her. Damals befand sicheine im 4. Jahrh. von Arabien aus gegründete christlicheGemeinde auf der Insel, die später den Arabern weichenmußte. Von 1835 bis 1839 hielten englische Truppen die Inselbesetzt, 1876 schloß die englische Regierung mit dem Scheichvon Keschin einen Vertrag ab, wodurch sie das Vorkaufsrecht erwarb,und 30. Okt. 1886 ließ der britische Resident in Aden dieInsel besetzen. Schweinfurth hat dieselbe 1881 erforscht. Vgl.Robinson, Sokotra (Lond. 1878).

Sokrates, 1) der berühmteste unter den griechischenWeisen, Sohn des Bildhauers Sophroniskos und der HebammePhänarete, wurde um 469 v. Chr. zu Athen geboren. Er soll dieKunst seines Vaters erlernt und auch eine Zeitlang ausgeübthaben; eine Gruppe am Fuß der zur Akropolis führendenTreppe galt für sein Werk. Zu seiner Lebensaufgabe machte erden in Gestalt von Unterredungen und im Gegensatz zu den Sophistenunentgeltlich erteilten Unterricht, zu welchem Zweck er seinemateriellen Bedürfnisse auf das äußerstebeschränkte und den Verkehr mit Jünglingen, deren Geburtund Talent (wie bei Alkibiades und Kritias) vorhersehenließen, daß sie späterhin einen großenEinfluß auf ihre Mitbürger üben würden, um siezu denkenden und charaktervollen Männern zu bilden, jedemandern vorzog. Seine Tüchtigkeit bekundete sich jedoch nichtbloß in diesen didaktischen, sondern auch in praktischen, aufdie Erfüllung seiner Bürgerpflichten, auch dermilitärischen, gerichteten Bestrebungen. Obgleich dem Kriegabhold, beteiligte er sich an drei Feldzügen und rettete inder Schlacht bei Potidäa dem vom Pferd gestürztenAlkibiades durch mannhafte Verteidigung das Leben. Gerade aber seinStreben nach unabhängiger Tüchtigkeit im Treiben einerkorrumpierten Umgebung und seine Bemühungen, die Jugend vonden verderblichen Lehren sittlicher Zersetzung abzuziehen undedlerer Geistesverfassung zuzuführen, zogen ihm Verfolgung zu.S. wurde bezichtigt, die Jugend zu verderben und andre Götterals die vom Staat anerkannten zu lehren. Als seine Anklägerwerden genannt: ein mittelmäßiger Dichter, Melitos, einLederhändler und Demagog, Anytos, und ein Rhetor, Lykon. S.verteidigte sich in mutvoller und seiner würdiger Weise, ohneeine gewisse Reizung seiner Richter zu vermeiden. Nachdem er mitganz geringer Majorität verurteilt war und nun selbst demHerkommen gemäß einen Strafantrag zu stellen hatte,lehnte er letzteres ab, indem er ironisch an Stelle dervorzuschlagenden Strafe eine Belohnung seiner Verdienste durchErhaltung auf öffentliche Kosten im Prytaneion forderte.Hierdurch erbittert, verurteilten ihn seine Richter mitgrößerer Majorität zum Tode. Der religiöseGebrauch, dem zufolge niemand bis zur Rückkehr eines gerade umdiese Zeit nach Delos entsendeten heiligen Schiffs hingerichtetwerden durfte, gestattete ihm, noch 30 Tage zu leben. Währenddieser Zeit unterhielt er sich im Gefängnis mit einigen seinerAnhänger über philosophische Gegenstände undnamentlich über den Tod. Das Anerbieten Kritons, ihm zurFlucht zu verhelfen, lehnte er ab. Mit der größtenGemütsruhe nahm er

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Sokratik - Sol., Soland.

nach Ablauf der Frist den Schierlingstrank und starb so in einemAlter von etwa 70 Jahren 399. Die große Bedeutung des S. istin der Anregung zu suchen, die er durch sein Leben und noch mehrdurch seinen Tod gab. Sein geistreichster und edelsterSchüler, Platon, hat in seinen Dialogen Charakter undGedankenkreis seines Meisters, wenn auch in einer freien, mitdichtender Umbildung versetzten Form, so doch mit jener Wahrheit,die auch der Dichtung innewohnt, dargestellt. Eine mehrnüchterne, aber gerade darum wertvolle Auffassung des S.findet sich in den "Memorabilien" Xenophons, der ebenfalls zu demKreise seiner Vertrauten gehörte. Die Lehre des S. ist, da erselbst nichts geschrieben hat, nur durch seine Schüler auf unsgekommen. Als Philosoph kam derselbe mit seinen Zeitgenossen, denSophisten, darin überein, daß er, wie diese, denSchwerpunkt des Unterrichts in die (lehrbare) Methode und den Zweckdesselben nicht, wie deren Vorgänger, die griechischenPhysiker und Naturphilosophen, in die Erkenntnis der Natur, sondernin jene des dem Menschen Nützlichen als des für dieseneinzig Wissens- und Wünschenswerten legte, unterschied sichaber von denselben dadurch, daß einerseits seine Methodenicht, wie die der Sophisten, ein dialektisch-rhetorischesKunststück, um Wahres falsch, Falsches wahr scheinen zumachen, sondern die dialektische Kunst, das Wahre als solches zufinden und zu erkennen, anderseits sein Zweck nicht, wie bei jenen,auf die Erkenntnis des Nützlichen als des Guten, sondernvielmehr auf jene des Guten als des allein wahrhaft, bleibend undallgemein Nützlichen gerichtet war. Um seiner Abwendung vonder Physik willen ist von ihm gesagt worden, daß er diePhilosophie vom Himmel auf die Erde zurückgeführt habe.Seine Übereinstimmung mit den Sophisten hinsichtlich desWertes methodischen Denkens und praktischer Ziele hat bewirkt,daß er von Fernstehenden (z. B. von Aristophanes in den"Wolken") zu den Sophisten gerechnet, ja seiner dialektischenSchärfe wegen als "Erzsophist" hingestellt worden ist. DieReinheit seiner nur auf Erkenntnis der Wahrheit abzielenden sowiedie Uneigennützigkeit seiner nur das Gute als Zweckmenschlichen Handelns zulassenden Denkweise haben gemacht,daß er von den ihm Nahestehenden (von seinen Schülern,insbesondere von Platon) als deren diametraler Gegensatz erkanntund sein Bild als Ideal eines Weisen dem des Sophisten als desZerrbildes eines solchen entgegengestellt wurde. Jene Kunst des S.bestand (nach Aristoteles) darin, einerseits von der Betrachtungdes Besondern zum Allgemeinen aufzusteigen (Induktion), anderseitsdurch Ausscheidung des Unwesentlichen und Ungehörigen wiedurch Zusammenfassung des Wesentlichen und Unentbehrlichen zumBegriff zu gelangen (Definition), welch letzterer, weil er derSache selbst entspricht, immer derselbe bleibt, während dasAllgemeine, weil es aus dem Besondern gewonnen worden ist, diesesletztere sämtlich in sich begreift. Dieselbe wurde von S.,hierin dem Beispiel der Sophisten folgend, in dialogischer Form,durch geschicktes Fragen (erotematisch), aber zu dem Zweck, dieWahrheiten an den Tag zu bringen (daher er sie selbst mit demHandwerk seiner Mutter, der mäeutischen oder Hebammenkunst,verglich), und zugleich indirekt, d. h. in der Weise geübt,daß der Fragende (obgleich der Wissende) sich unwissendstellt und von dem Gefragten (als ob dieser wissend wäre)belehrt zu werden vorgibt, während er diesen belehrt (daherdiese Form des erotematischen Unterrichts als "sokratische Ironie"bezeichnet wird). Von diesem nur aus didaktischen Gründengewählten Schein des Nichtwissens verschieden ist das dem S.gleichfalls in den Mund gelegte Eingeständnis wirklichenNichtwissens, der anspruchsvollen Vielwisserei der Sophistengegenüber, um derentwillen derselbe von dem delphischen Orakelfür den weisesten aller Menschen erklärt worden seinsoll. In Bezug auf die Tugend als Verwirklichung des Guten war S.der Meinung, daß dieselbe lehrbar, d. h. durch richtigeErkenntnis und Unterweisung zu bewirken sei, denn es seiunmöglich, das Gute zu wissen, ohne es zu thun. In Bezug aufden Inhalt des Guten aber liebte es S., sich auf sein von ihmsogenanntes Dämonion als eine in seinem Innern sichkundgebende Stimme zu berufen, welche zwar niemals ratend, aberstets warnend sich vernehmbar mache, wenn er etwas Unrechtes zuthun im Begriff sei. Unter den Schülern des S. haben diesogen. Sokratiker einzelne Seiten seines Wesens (Eukleides undPhädon in der megarischen und elischen Schule diedialektische, Antisthenes und Aristippos in der cynischen undkyrenäischen Schule die moralische) einseitig entwickelt,während Platon allein die empfangenen geistigen und sittlichenAnregungen zu einem das Ganze der Philosophie umfassendenGedankenbau ausbildete. Aus der antiken Litteratur über S.sind die Platonischen Dialoge (insbesondere Kriton, Phädon unddie "Apologie") hervorzuheben. Vgl. Lasaulx, Des S. Leben, Lehreund Tod (Münch. 1857); Volkmann, Die Lehre des S. (Prag 1861);Alberti, Sokrates (Götting. 1869); Fouillée, Laphilosophie de Socrate (Par. 1874, 2 Bde.); Grote, Plato and theother companions of S. (4. Aufl., Lond. 1885, 3 Bde.); Zeller,Philosophie der Griechen, 2. Teil, 1. Abteil. (4. Aufl., Leipz.1889).

2) S. Scholasticus, Verfasser einer Kirchengeschichte in siebenBüchern, der Fortsetzung des Werkes des Eusebios, welche von306-439 reicht, geboren um 380 zu Konstantinopel war eigentlichSachwalter. Sein Werk ist herausgegeben unter andern von Hussey(Oxf. 1853, 3 Bde.) und Bright (das. 1878).

Sokrátik (Sokratische Methode), die"erotematische" Kunst (s. Erotema) oder die Kunst, durch geschicktgestellte Fragen die passende Antwort hervorzulocken, welcheSokrates selbst, auf den Beruf seiner Mutter anspielend, einegeistige Hebammenkunst (s. Mäeutik) genannt und seine Schulemit Rücksicht darauf, daß der Fragende sich unwissendstellt, aber wissend ist, als sokratische Ironie bezeichnet hat.Vgl. Sokrates 1) und Katechetik.

Sokratiker, Schüler, Anhänger des Sokrates.

Sokratischer Dämon (Dämonion) nannte Sokratesselbst (Xenophon und Platon zufolge) das "höhere Wesen", vondem er meinte, daß es ihm durch ein göttliches Geschenkvon Jugend auf beiwohne und sich ihm, wenn er oder seine Freundeetwas Unrechtes zu thun im Begriff seien, als abratende, jedochniemals als zu etwas zuratende Stimme kundgebe, was zu mancherleiMißdeutungen (z. B. durch den Spiritismus) Anlaßgegeben hat. Vgl. Volquardsen, Das Dämonium des Sokrates (Kiel1862).

Sol, seit 1862 Rechnungseinheit in Peru, à 100Centavos = 5 Frank; auch s. v. w. Sou (s. d.).

Sol, in der Musik, s. Solmisation.

Sol, bei den Römern der Sonnengott, s. Helios; inder Alchimie das Gold.

Sol., Soland., bei naturwissenschaftl. NamenAbkürzung für Daniel Solander, geb. 1736 in Norrland,gest. 1782 als Unterbibliothekar des Britischen Museums zu London.Weichtiere, Korallen.

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Sola fide - Solario.

Sola fide (lat.), d. h. "allein durch den Glauben" werdenwir nämlich gerechtfertigt. Dieses von Luther in der StelleRöm. 3, 28, sinn-, aber nicht textgemäßeingeschobene Sola wurde das Stichwort der lutherischenReformation.

Solamen miseris socios habuisse malorum (lat.), "es istein Trost für die Unglücklichen, Leidensgenossen zuhaben".

Solanaceen, dikotyle Familie aus der Ordnung derTubifloren, einjährige und perennierende Kräuter undHolzpflanzen mit wechselständigen, einfachen, oft in derBlütenstandregion gepaarten Blättern ohneNebenblätter und mit meist vollständigen Blüten,welche einzeln oder in Wickeln stehen, und deren Stiele häufigscheinbar außerhalb der Blattachseln oder aus der Seite derInternodien entspringen. Der Kelch ist verwachsenblätterig,meist fünfspaltig oder -teilig, selten über der stehenbleibenden Basis abfallend, meist bleibend und an der Frucht mehroder weniger vergrößert. Die regelmäßigeKorolle ist dem Blütenboden inseriert,verwachsenblätterig, rad-, glocken-, trichter- oderpräsentiertellerförmig, mit meist fünfspaltigemSaum, dessen Zipfel gefaltet, gedreht oder klappig liegen;bisweilen ist die Blumenkrone zygomorph. Die fünfStaubgefäße stehen in der Röhre der Blumenkroneabwechselnd mit den Saumabschnitten derselben. Deroberständige Fruchtknoten wird aus zwei schräg zurMediane gestellten Karpiden gebildet und ist zweifächerig oderdurch sekundäre Scheidewände unvollständig odervollständig vierfächerig und hat eine dicke zentrale, mitzahlreichen amphitropen Samenknospen besetzte Placenta. Die Fruchtist eine Beere oder eine Kapsel. Die mehr oder wenigernierenförmigen Samen haben ein reichliches fleischigesEndosperm und einen halb oder ganz kreisförmiggekrümmten, seltener geraden Embryo. Die Familie zähltüber 1200 Arten, die zum größten Teil den Tropenund demnächst den beiden gemäßigten Zonenangehören. Mehrere enthalten narkotische Alkaloide und sindwichtige Arznei- oder gefährliche Giftpflanzen (Hyoscyamus,Datura, Atropa, Solanum, Nicotiana); andere, wie die Kartoffel(Solanum tuberosum), sind namentlich wegen ihres Gehalts anStärkemehl wichtige Nutzpflanzen. Nur sehr wenige S. sindfossil in Tertiärschichten gefunden worden (SolanitesSap.).

Solanin C43H71NO16 findet sich in verschiedenen Arten derPflanzengattung Solanum, besonders reichlich in den Keimen,welche Kartoffeln im Frühjahr im Keller treiben. Extrahiertman diese mit säurehaltigem Wasser und fällt den Auszugmit Ammoniak, so entzieht Alkohol dem Niederschlag das S. Diesbildet farb- und geruchlose Kristalle, schmeckt bitter, etwasbrennend, ist sehr schwer löslich in Wasser und Äther,leichter in Alkohol, schmilzt bei 235°, reagiert schwachalkalisch und bildet mit Säuren zwei Reihensalze, von denendie neutralen nicht kristallisieren, bitter und brennend schmecken,in Wasser und Alkohol leicht, in Äther kaum löslich sind,und aus deren Lösung Ammoniak amorphes S. fällt. BeimKochen mit verdünnten Säuren wird S. in Zucker undSolanidin C25H41NO gespalten; letzteres kristallisiert, istflüchtig, reagiert stärker alkalisch und bildetkristallisierbare Salze. S. ist stark giftig.

Solano (span.), ein im südlichen Spanien in derMancha und Andalusien, namentlich in Sevilla und Cadiz, meist vonJuni bis September auftretender, dem Scirocco ähnlicher, vonSO. und Süden kommender heißer Wind, welchererschlaffend und Schwindel erregend wirkt.

Solanum L. (Nachtschatten), Gattung aus der Familie derSolanaceen, Kräuter, Sträucher oder kleine Bäume vonsehr verschiedenem Habitus, bisweilen kletternd, oft zottig,sternfilzig oder drüsig behaart, auch stachlig, mitabwechselnden, einzeln stehenden oder gepaarten, einfachen,gelappten oder fiederschnittigen Blättern, gelben,weißen, violetten oder purpurnen Blüten in achsel- oderendständigen Trauben oder wickeligen Infloreszenzen undgewöhnlichen, vom bleibenden Kelche gestützten, meistkugeligen, vielsamigen Beeren. Etwa 700 Arten, meist in dentropischen und subtropischen Klimaten, besonders Amerikas. S.Dulcamara L. (Bittersüß, Alpranke, Mäuseholz,Hundskraut, Stinkteufel, Teufelszwirn), Halbstrauch mit hin- undhergebogenem, kletterndem oder windendem Stamm, länglicheiförmigen, zugespitzten, am Grund oft herzförmigen odergeöhrt dreilappigen Blättern, diesengegenüberstehenden, wickeligen, nickenden Infloreszenzen,violetten Blüten und roten, länglichen Beeren,wächst an feuchten Stellen in Europa, Asien, Nordamerika. DieStämme riechen beim Zerbrechen sehr widrig narkotisch, sindnach dem Trocknen geruchlos, schmecken bitterlich, hintennachsüß; sie enthalten Solanin, Dulcamarin und Zucker; seitdem 17. Jahrh. wurden sie medizinisch benutzt, sind jetzt aberziemlich obsolet. Die Beeren erzeugen Erbrechen und Durchfall. S.esculentum Dun. (S. Melongena L. Eierpflanze, Melanganapfel), inOstindien, einjährig, mit krautartigem, bis 60 cm hohem,stachligem oder wehrlosem Stengel, eirunden, ganzrandige oderbuchtig gezahnten, unbewehrten oder dornigen, unterseits filzigenBlättern und lilafarbigen, großen Blüten,trägt ovale, violette, gelbe oder weiße Früchte(Aubergine, Albergine) von der Größe einesHühnereies, die als Zuthat an Saucen, Suppen, Ragouts etc.oder geröstet gegessen werden. Man kultiviert sie in denTropen, in Spanien, Südfrankreich, um Rom, Neapel, in derWalachei und der Levante. In Deutschland kommt diese Pflanze nur inTöpfen oder auf warmen Rabatten, besser in Mistbeeten, vor. S.nigrum L. (Hühnertod, Saukraut, s. Tafel "Giftpflanzen II"),aus Amerika eingewandert, allenthalben auf bebautem Land, an Wegen,auf Schutt, unbewehrt, mit eirunden, buchtig-gezahntenBlättern, weißen, selten ins Violette spielendenBlüten in kurz doldenartigen Wickeln und erbsengroßen,schwarzen (auch grünen) Beeren, und das zottig oder dichtbehaarte S. villosum Lam. mit gelben und mennigroten (S. miniatumBernh.) Beeren, sind bekannte Giftpflanzen und enthalten Solanin.S. Quitoense Lam. (Orange von Quito), ein bis 2 m hoher Halbstrauchin Peru und Quito, trägt genießbare Früchte von derGröße einer kleinen Orange, wird auch in Englandkultiviert. Von S. anthropophagorum Seem., auf den Fidschiinseln,wurden die Beeren als Würze bei den kannibalischen Mahlzeitender Eingebornen benutzt. Viele Arten werden als Blattzierpflanzenkultiviert. Über S. tuberosum s. Kartoffel.

Solar (solarisch, lat.), auf die Sonnebezüglich.

Solarchemie, die von Kirchhoff und Bunsenbegründete, auf Beobachtung des Sonnenspektrums beruhendeUntersuchung der chemischen Beschaffenheit derSonnenatmosphäre; s. Spektralanalyse.

Solario, Andrea, italien. Maler, geboren um 1460 zuMailand, bildete sich seit 1490 in Venedig bei G. Bellini undspäter nach Leonardo da Vinci. Von 1507 bis 1509 war er inFrankreich thätig. Er starb nach 1515. Seine Hauptwerke sind:der Ecce hom*o und die Ruhe auf der Flucht (im Museum Poldi-

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Solarlicht - Soleillet.

Pezzoli zu Mailand), die Madonna mit dem grünen Kissen unddie Schüssel mit dem Haupt Johannes' des Täufers (imLouvre zu Paris) und die Salome (in der Galerie zu Oldenburg).

Solarlicht, veraltet s. v. w. elektrisches Licht.

Solarmaschine, s. v. w. Sonnenmaschine.

Solaröl, s. Mineralöle.

Solarstearin, aus Schweineschmalz abgeschiedenes festesFett, dient zu Kerzen.

Solawechsel, ein nur in einem einzigen Exemplarausgestellter Wechsel, im Gegensatz zu einem Wechsel, von welchemnoch ein oder mehrere Duplikate ausgefertigt werden (Prima-,Sekunda-, Tertiawechsel etc.); auch s. v. w. eigner Wechsel (s.Wechsel).

Solbad, ein Bad, welches in einem natürlichen, vielKochsalz, oft auch Jod und Brom enthaltenden Mineralwasser (s. d.)oder statt des letztern in einer künstlich bereitetenLösung von Seesalz oder Mutterlaugensalz (Kreuznach,Kösen) genommen wird. Über die Anwendung derSolbäder und die Bereitung der künstlichen s. Bad, S.221.

Solbrunnen, s. Salz, S. 237.

Sold, s. v. w. Lohn, Bezahlung für geleisteteDienste, namentlich Kriegsdienste, abzuleiten vom lat. solidus, dervon Alexander Severus (222-235 n. Chr.) eingeführtenGoldmünze, welche den viermonatlichen Lohn des Kriegersausmachte. Daher Söldner, Scharen, welche um Lohn inKriegsdienste treten, wie im Altertum die Griechen, im MittelalterDeutsche und, bis in die Neuzeit, besonders die Schweizer (s.Fremdentruppen). Nach dem Verfall des Heerbannes, der Lehnsfolgeund des Rittertums bildeten bis gegen Ende des 18. Jahrh. geworbeneSöldner die Masse der Heere. Geregelte Soldzahlung begann erstmit dem Aufkommen der stehenden Heere. Bei dem ausgehobenenWehrpflichtigen ist S. die zum Unterhalt nötige Löhnung,die, wie schon zu Gustav Adolfs Zeit, alle zehn Tage ausbezahltwird. Ihre Höhe beträgt in Deutschland für denGemeinen der Infanterie 35 Pf. auf den Tag, für Leute derberittenen Waffen 5 Pf. mehr, für Gefreite je 5 Pf. mehr alsfür Gemeine derselben Waffe. Bei den Griechen beginnt dieSoldzahlung unter Perikles, bei den Römern schon unter denKönigen, aber aus den Gemeindekassen, aus der Staatskasse erstseit 406 n. Chr. halbjährlich oder jährlich; der bare S.,das Salarium (Geld für Salz) eingerechnet, entsprach dem Lohnder ländlichen Arbeiter. Bei den Deutschen beginnt dieSoldzahlung vereinzelt unter Karl d. Gr. und war durch die Hansa im13. Jahrh., in England um 1050 vollständig entwickelt.

Soldanella L. (Troddelblume, Alpenglöckchen),Gattung aus der Familie der Primulaceen, kleine, perennierendeKräuter mit grundständigen, gestielten,nierenförmigen Blättern, auf nacktem Schaft einzeln oderdoldig stehenden, nickenden, blauen, violetten oder rosenrotenBlüten und kegelförmig länglicher Kapsel. Vier Artenauf den südeuropäischen Hochgebirgen. S. alpina L., mitüberhängenden, hellvioletten Blüten auf zwei- bisvierblütigem Schaft. S. pusilla Baumg., mit großer,rötlichweißer oder rosenroter, einzeln stehenderBlüte, wird, wie die vorige, gleich andern Alpenpflanzenkultiviert.

Soldat, jede für Sold dienende Militärperson,mit Ausnahme der Militärbeamten; insbesondere der Gemeine (s.Militär). Der Name S. wurde im 16. Jahrh. aus demItalienischen (soldato) entlehnt und stammt vom lateinischensolidus (s. Sold).

Soldatenhandel, das Vermieten von Truppen, namentlichseitens der Fürsten deutscher Kleinstaaten, an fremde Staaten,lediglich zum Zweck des Gelderwerbs, gleichgültig, ob zugunsten der Kasse des Staats oder des Fürsten. Hierin liegtder Unterschied zwischen dem S. und den Subsidienverträgenbehufs Truppenstellung oder Lieferung von Subsidiengeldern; diesenVerträgen liegt eine Staatsidee zu Grunde, die dem S. mangelt.Der letztere hat seinen Ursprung bei den Handelsstaaten desAltertums: Syrakus, Tarent, Karthago, und fand gleiche Anwendung inVenedig, den Niederlanden und England, die alle zur Aufstellungihrer Heere der Werbung von Söldnern bedurften und (wieEngland) noch bedürfen. Den S. begann Bernhard von Galen,Bischof von Münster, 1665; ihm folgte Johann Georg III. vonSachsen, der 1685 für 120,000 Thlr. 3000 Mann an Venedig zumKrieg in Morea vermietete. Den höchsten Aufschwung nahm der S.während der Kriege Englands gegen seine amerikanischenKolonien; etwa 30,000 Mann sind dazu aus Deutschland gestellt,wofür dieses gegen 8 Mill. Pfd. Sterl. erhielt. Der LandgrafWilhelm VIII. von Hessen vermietete während desösterreichischen Erbfolgekriegs sowohl Truppen an England alsan Karl VII., also an die sich bekriegenden Gegner. DieFremdentruppen (s. d.), die Schweizerregimenter, die sich oft inden feindlichen Parteien gegenüberstanden, gehören zum S.Vgl. Jähns, Heeresverfassungen und Völkerleben (Berl.1885); Winter, Über Soldtruppen (8. Beiheft zum"Militärwochenblatt" 1884).

Soldatéska (ital.), das Soldatentum, mit demNebenbegriff des Übermütigen und Eigenmächtigen.

Soldau (poln. Dzialdowo), Stadt im preuß.Regierungsbezirk Königsberg, Kreis Neidenburg, am Flusse S.,Knotenpunkt der Linie Allenstein-S. und der EisenbahnMarienburg-Mlawka, 157 m ü. M., hat eine evangelische und einekath. Kirche, eine Synagoge, Ruinen eines alten Ordensschlosses,ein Amtsgericht, Spiritusfabrikation, Getreide- und Schweinehandelund (1885) mit der Garnison (ein Füsilierbat. Nr. 44) 3122meist evang. Einwohner. Hier 26. Dez. 1806 heftiges Gefechtzwischen Franzosen (Ney) und Preußen (Lestocq).

Soldin, Kreisstadt im preuß. RegierungsbezirkFrankfurt, am Ausfluß der Miezel aus dem Soldinsee und an derEisenbahn Stargard i. P.-Küstrin, 76 m ü. M., hat Resteeiner Stadtmauer und einige Thore aus dem Mittelalter, eineschöne evang. Kirche, ein Amtsgericht, Maschinenfabrikation, 3Dampfschneidemühlen, eine Molkerei, Fischerei und (1885) 6198meist evang. Einwohner. S. wird zuerst 1262 erwähnt. Hierbestand 1298-1538 ein Kollegiat- oder Domstift derPrämonstratenser.

Söldner, s. Sold.

Soldo (Mehrzahl Soldi), ital. Rechnungs- undKupfermünze, von welcher 20 auf die Lira gehen.

Sole (Soole), kochsalzhaltiges Wasser ausnatürlichen Salzquellen oder künstlich erzeugt (s.Salz).

Solea (Soole), Zungenscholle, s. Schollen.

Solebai, die Reede von Southwold (s. d.).

Soleillet (spr. ssolläjäh), Paul, franz.Afrikareisender, geb. 29. April 1842 zu Nîmes, bereiste 1865Algerien, Tunesien und Tripolitanien, durchzog dann 1871 diealgerische Sahara und machte sich bekannt als einer derHauptagitatoren der transsaharischen Eisenbahn. 1873 unternahm ereine Reise nach Tuat auf einer neuen, noch nicht begangenen Route,durfte aber die Oase selbst nicht betreten und kehrte 1874 nachFrankreich zurück. 1878 ging er über Senegambien nachSegu am Niger und versuchte 1879 nach seiner Rückkehr imAuftrag der französischen Regierung

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Solenhofen - Solferino.

von St. Louis nach Timbuktu vorzudringen, wurde indessen beiSchingit, in der Nähe von Adras, ausgeplündert und warschon im Mai 1880 wieder in Paris. Im Juli d. J. versuchte er vonSt. Louis aus abermals, aber wiederum vergeblich, nach Timbuktu zugelangen. Im Auftrag einer französischen Handelsgesellschaftin Obok machte er 1882 einen kurzen Ausflug über Schoa nachKaffa und stand im Begriff, sich abermals nach Schoa zu begeben,als er 10. Sept. 1886 in Aden starb. Er schrieb: "Exploration duSahara" (1876); "L'avenir de la France en Afrique" (1876);"L'Afrique occidentale" (1877); "Les voyages et découvertesde P. S., etc., racontés par lui-même" (1881); "Voyageen Éthiopie 1882-1884" (1886); "Obock, le Choa, le Kaffa"(1886); "Voyage a Ségou 1878-79" (hrsg. von Gravier, 1887).Vgl. Gros, Paul S. en Afrique (Par. 1888).

Solenhofen, Dorf, s. Solnhofen.

Solenn (lat.), feierlich; Solennität,Feierlichkeit.

Solenoglypha (Röhrenzähner), Unterordnung derSchlangen (s. d., S. 501).

Solenoid (griech.), ein schraubenförmig gewundenerDraht, welcher, solange ihn ein galvanischer Stromdurchfließt, sich wie ein Magnet verhält, nämlich,wenn beweglich aufgehängt, seine Längsachse in denmagnetischen Meridian einstellt, indem dasjenige Ende, an welchemder Strom in der Richtung des Uhrzeigers kreist, sich nachSüden wendet und deshalb Südpol des Solenoids genanntwird, wogegen das andre nach N. weisende Ende Nordpol heißt.Auch einem Magnet oder einem zweiten S. gegenüber verhältsich ein S. wie ein Magnet. Vgl. Elektrodynamik und Magnetismus, S.90.

Solenópsis, s. Ameisen, S. 452.

Solent, Meeresarm, welcher die engl. Insel Wight vonHampshire trennt. Die westliche Einfahrt verteidigt HurstCastle.

Soleras, s. Jereswein.

Solesmes (spr. ssolähm), 1) Stadt im franz.Departement Nord, Arrondissem*nt Cambrai, an der Selle und derNordbahn, hat bedeutende Zuckerfabrikation, Woll- u.Baumwollwebereien und (1886) 5728 Einw. -

2) Dorf im franz. Departement Sarthe, Arrondissem*nt LaFlèche, mit Benediktinerkloster aus dem 12. Jahrh., einerKlosterkirche aus dem 13. Jahrh. mit schönen Skulpturen und795 Einw.

Soleure (spr. -löhr), franz. Name fürSolothurn.

Soleus (lat.), der Schollenmuskel (fälschlichSohlenmuskel) in der Wade.

Solfa (ital.), Tonleiter (vgl. Solmisation).

Solfatára (ital., franz. Soufrière,Schwefelgrube), vulkan. Krater, dessen Schlot sich bei abnehmendervulkanischer Thätigkeit allmählich verschloß undnur noch Gase, Wasserdämpfe und Sublimationen von Schwefel ausSpalten zu Tage treten läßt wodurch die Gesteine derKraterwände Zersetzungen erleiden und einen Überzug vonSchwefel erhalten. Die bekanntesten Solfataren sind in Italien.Hier heißen so insbesondere drei kleine Seen in der ProvinzRom, an der nach Tivoli führenden Straße, welche durcheinen Kanal mit dem Teverone in Verbindung stehen. Der Bodenexhaliert Schwefeldünste an mehreren eingebrochenen Stellenist trübes Schwefelwasser zu sehen. Von dem einen dieser Seenwerden Thermalbäder (Aquae Albulae) gespeist. Die S. vonPozzuoli ist einer von den 27 Kratern, welche sich auf der schonbei den Alten als Phlegräische Felder (s. d.) bezeichnetenvulkanischen Hügellandschaft im W. von Neapel befinden. Es istein durch Einsturz des Kraters eines sich dicht über Pozzuolierhebenden Vulkans entstandenes fast kreisrundes Becken das ringsvon den Kraterwänden umgeben und nur durch eine Bresche an derWestseite zugänglich ist. An einigen Stellen ist der Bodenwarm, an andern brennend heiß; heißeSchwefeldämpfe strömen namentlich aus der sogen. Boccagrande hervor. Die aufsteigenden Dünste werden zu Heilzweckenbenutzt, zu welchem Behuf Bretterhütten errichtet sind. Auchder an den Wänden der Spalten abgelagerte Schwefel und derdurch Verbindung der porösen Kalke mit der Schwefelsäuregebildete Gips werden industriell verwertet. Andre Solfatarenfinden sich in Westindien (St. Vincent, Guadeloupe, Dominica, wodie sogen. Grande Soufrière am 4. Jan. 1880 einengroßen vulkanischen Ausbruch hatte, etc.) und in Mexiko. Dievielgenannte S. von Urumtsi in der Nähe der gleichnamigenStadt, am Nordhang des Thianschan (Westchina), ist wahrscheinlichnur ein brennendes Kohlenlager. Vgl. Fumarolen.

Solfeggio (ital., spr. ssolféddscho. franz.Solfège) Gesangsübung zur Ausbildung des Gehörsund der Trefffähigkeit, musikalische Leseübung, amPariser Konservatorium der vorbereitende Elementarkursus füralle Schüler, an vielen andern Anstalten leidervernachlässigt. Die Solfeggien benannten Gesangsübungenwerden in der Regel auf die Tonnamen: ut (do), re, mi, fa, sol, la,si gesungen und sind daher zugleich Vokalisationsübungen(Vokalisen) und bei gesteigerter Schwierigkeit Koloratur- undVortragsübungen. Als Meister in der Solfeggienkompositionstehen die Italiener, namentlich Porpora, Mazzoni, Crescentini,Concone, obenan. Vgl. Gesang.

Solferino, rote Farbe, s. Anilin, S. 591.

Solferino, Marktflecken in der ital. Provinz Mantua,Distrikt Castiglione, auf einer Anhöhe 3 Stunden westlich vomMincio und ebenso weit südlich vom

[siehe Graphik]

Kärtchen zur Schlacht bei Solferino (24. Juni 1859).

Gardasee, mit (1881) 1284 Einw., ehemals Sitz einesFürstentums, geschichtlich merkwürdig durch denentscheidenden Sieg, welchen hier 24. Juni 1859 dieverbündeten Franzosen und Sardinier über dieÖster-

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Solger - Soliman.

reicher erfochten. Die Österreicher hatten 21. Juni 1859ihren Rückzug hinter den Mincio beendigt, am 23. aber, nachdemder Kaiser, dem Heß zur Seite trat, den Oberbefehlübernommen, mit 170,000 Mann wieder den Vormarsch in dieLombardei begonnen. Auf diesem trafen sie 24. Juni früh aufdie gleichfalls vormarschierenden Alliierten (150,000 Mann). Esentspann sich nun auf der ganzen Linie eine Reihe vonEinzelgefechten ohne Entscheidung, bis Napoleon gegen Mittag einenenergischen Angriff auf S., den Mittelpunkt und Schlüssel derösterreichischen Aufstellung, befahl. Verteidigung u. Angriffleisteten das Äußerste. Um 3 Uhr erstürmten dieFranzosen endlich die österreichischen Stellungen von S. undSan Cassiano. Da ein Angriff Wimpffens auf den französischenrechten Flügel von Niel zurückgewiesen wurde, traten dieÖsterreicher 4 Uhr den Rückzug an. Ein starkes Gewittermit Wolkenbruch verhüllte von 5 Uhr an diesen. Die Piemontesenhatten mittlerweile die gefährlichste Aufgabe zu lösen:sie sollten in der schmalen Ebene zwischen dem Nordabfall desHügellandes und dem Südufer des Gardasees östlichgegen Peschiera vorgehen. General Benedek drängte sie bisRivoltella zwischen Desenzano und Sermione zurück und stelltesich auf dem Plateau von San Martino auf, das gegen N. und W. steilabfällt. Fünfmal stürmten die piemontesischenBataillone; aber so oft sie bis an den obern Rand gelangten, wurdensie unter großen Verlusten zurückgeworfen. Erst am Abendtrat auch Benedek zögernd den Rückzug an. Die Schlachtvon S. war eine sehr blutige. Der Gesamtverlust derÖsterreicher belief sich auf 22,350 Mann; die Franzosenverloren 11,670, die Piemontesen 5521 Mann. Den Gefallenen wardhier 1870 ein Denkmal errichtet.

Solger, Karl Wilhelm Ferdinand, Ästhetiker, geb. 28.Nov. 1780 zu Schwedt in der Ukermark, studierte zu Halle und Jenadie Rechte und unter Schelling Philosophie, schloß sich amletztern Ort und später in Berlin dem Kreis der Romantiker an,wurde 1809 Professor der Ästhetik zu Frankfurt a. O., 1811 zuBerlin, wo er 20. Okt. 1819 starb. Außer seinem in Form derPlatonischen Dialoge abgefaßten mystisch-dunkeln "Erwin. VierGespräche über das Schöne und die Kunst" (Berl.1815, 2 Bde.), in welchem er die ästhetischen Prinzipien derromantischen Schule vertrat, der aber auch eindringlich auf HegelsÄsthetik gewirkt hat, verfaßte er noch: "PhilosophischeGespräche" (das. 1817) und eine geschätzteÜbersetzung des Sophokles (das. 1808, 2 Bde.; 3. Aufl. 1837).Seine "Nachgelassenen Schriften und Briefwechsel" wurden von Tieckund Fr. v. Raumer (Leipz. 1826, 2 Bde.), seine "Vorlesungenüber Ästhetik" von Heyse (Berl. 1829) herausgegeben. Vgl.Reinh. Schmidt, Solgers Philosophie (Berl. 1841).

Solicitor (engl., spr. ssollíssítör),Anwalt, Sachwalter (s. Attorney); S. general (spr.dschönnerel), der Obersachwalter der Krone in England.

Solid (lat.), fest, gediegen, zuverlässig;Solidität, Festigkeit, Zuverlässigkeit.

Solidago L. (Goldrute), Gattung aus der Familie derKompositen, ausdauernde Kräuter mit abwechselnden,ganzrandigen, oft gesägten Blättern, in Trauben oderRispen stehenden, kleinen Blütenkörbchen undcylindrischen, gerippten Achenen mit einreihigem Pappus. Etwa 80Arten, meist Nordamerikaner. S. canadensis L. (kanadische Goldrute,Klapperschlangenkraut), in Nordamerika, mit bis 2,5 m hohem,zottigem Stengel, lanzettförmigen, gesägten, scharfenBlättern und gelben Blüten in zurückgebogenen,einseitigen Trauben, welche wieder große Rispen bilden, wirdgegen den Biß der Klapperschlange gebraucht und häufigals Zierpflanze kultiviert. Von S. Virga aurea L. (heidnischesWundkraut), in Europa, in Wäldern und Hainen, besonders antrockenen Stellen, mit bis 1 m hohem Stengel, untern elliptischen,gesägten, obern lanzettlichen, fast ganzrandigen Blätternund gelben, traubigen oder rispig traubigenBlütenständen, war das adstringierend aromatische Krautfrüher offizinell.

Solidarhaft (Solidarbürgschaft), imGenossenschaftswesen die Haftpflicht des Einzelmitglieds fürdie Verbindlichkeiten der Genossenschaft (s. Genossenschaften, S.103).

Solidarisch (lat. in solidum), Bezeichnung fürdiejenige Gemeinschaftlichkeit von Verbindlichkeiten und Rechten(Solidarobligation), vermöge deren, wenn mehrere etwas zufordern haben, jeder das Ganze fordern kann und, wenn mehrereverpflichtet sind, jeder das Ganze zu leisten schuldig ist (allefür einen und einer für alle, samt und sonders, korreal).Der Entwurf des deutschen bürgerlichen Gesetzbuchs spricht insolchen Fällen von einem "Gesamtschuldverhältnis" und von"Gesamtgläubigern" und "Gesamtschuldnern". Vgl.Korrealverbindlichkeit.

Solidarität (lat.), völligeÜbereinstimmung, Einheit, z. B. der Interessen.

Solidarpathologie (lat.), s. Cellularpathologie undMedizin.

Soli Deo gloria! (lat.), Gott allein die Ehre!

Solidieren (lat.), befestigen, sichern.

Solidungula, s. v. w. Einhufer.

Solidus, röm. Goldmünze, welche KaiserKonstantin d. Gr. um 312 an Stelle des bis dahin üblichenAureus (s. d.) einführte, und die seitdem nicht bloß dieallgemeine Reichsmünze war, sondern bald auch Geltungüber die ganze damals bekannte Welt erlangte. Der Wert betrug1/72 Pfd = 4,55 g und war bisweilen durch die Zahl LXXII oder durchdie griechischen Zahlzeichen O B (d. h. 72) auf der Münzeausgedrückt. Das gewöhnlichste Teilstück ist dasDrittel, der Tremissis oder Triens; selten sind Stücke von1½, 2 und mehr Solidi (sogen. Medaillons). Der Name S.("Ganzstück") erhielt sich noch lange für verschiedeneGeldwerte; schließlich ging er, da Feinheit und Kurswert derMünzen immer mehr herabsanken, auf Kupfermünzen, wie denitalienischen Soldo und den französischen Sou, über.

Soligalitsch (Ssoligalitsch), Kreisstadt im russ.Gouvernement Kostroma, an der Kostroma, mit (188^) 3303 Einw.,entstand aus einem Kloster (1335 gegründet), in dessenNähe Salzquellen entdeckt wurden, und gehörte seit 1450zum moskauischen Fürstentum. Die Salzgewinnung hat jetzt fastganz aufgehört; doch wird ein Brunnen, aus dem klaresbittersalziges Wasser hervorsprudelt, als Heilquelle benutzt.

Solikamsk (Ssolikamsk), Kreisstadt im russ. GouvernementPerm, unweit der Kama, hat 7 griechisch-russ. Kirchen, ein Kloster,eine Stadtbank, wichtige Salinen (jährlich über 1 Mill.Pud Salz) und (1885) 3901 Einw.

Soliloquium (lat.), Selbstgespräch, Monolog.

Soliman (Suleiman), Name von drei türk. Sultanen: 1)S. I., Sohn Bajesids I., ließ sich nach der Gefangennehmungseines Vaters bei Angora 1402 in Adrianopel zum Sultan ausrufen,mußte aber mit seinem Bruder Musa um den Thron kämpfen,wurde in Adrianopel eingeschlossen, auf der Flucht gefangengenommen und seinem Bruder ausgeliefert, welcher ihn 1410erdrosseln ließ.

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Solimoes - Solis y Ribadeneira.

2) S. II., el Kanani ("der Große" oder "derPrächtige"), Sohn Selims I., der berühmteste Sultan derOsmanen, geb. 1496, war bei des Vaters Tod (22. Sept. 1520)Statthalter von Magnesia, gab die durch seinen Vater eingezogenenGüter an die Beraubten zurück und bestrafte mit StrengeStaatsdiener, welche sich Unordnungen hatten zu schulden kommenlassen. Die Verweigerung des bei einem Thronwechsel üblichenTributs gab ihm den Vorwand zu einem Feldzug gegen Ungarn, der ihmden Besitz von Schabatz, Semlin und Belgrad verschaffte. Dannrüstete er sich zur Eroberung der Insel Rhodos, welche nacheiner sechsmonatlichen Verteidigung am 25. Dez. 1522 durch Verratfiel. Hierauf zog er im April 1526 mit 100,000 Mann und 300 Kanonenvon neuem gegen Ungarn, und am 29. Aug. erfocht er den Sieg vonMohács, worauf am 10. Sept. Pest und Ofen dem Sieger dieThore öffneten. Nach Unterdrückung eines Aufstandes inKleinasien unternahm er zu gunsten Johann Zápolyas, Bans vonSiebenbürgen, den eine Partei zum Könige gewählthatte, 1529 einen dritten Feldzug nach Ungarn, nahm am 8. Sept.Ofen und drang am 27. mit 120,000 Mann bis Wien vor, mußteaber nach einem Verlust von 40,000 Mann am 14. Okt. die Belagerungder Stadt aufgeben. Nun wandte er seine Waffen nach Osten. Bereitsim Herbst 1533 sandte er ein Heer unter dem Großwesir Ibrahimnach Asien, wo die Festungen Ardschisch, Achlath und Wan fielen undPersiens Hauptstadt Tebriz 13. Juli 1534 ihm ihre Thoreöffnete. Auch Bagdad ward noch in demselben Jahr besetzt undhierauf von da aus das eroberte Land organisiert. Währenddessen hatte Solimans Marine unter Barbarossa den Spaniern 1533Koron genommen und 1534 Tunis unterworfen, welches aber 1535 durchKarls V. Expedition bald wieder verloren ging. 1541 unterwarf S.über die Hälfte Ungarns, und Zápolyas Sohnmußte sich mit Siebenbürgen begnügen. Endlich wurde1547 ein fünfjähriger Waffenstillstand geschlossen, nachwelchem S. ein jährlicher Tribut von 50,000 Dukaten bewilligtward. Hierauf unternahm er einen zweijährigen Krieg gegenPersien und erneuerte 1551 den Krieg in Ungarn. Erst 1562 kam mitUngarn ein Friede zu stande. Obschon über 70 Jahre alt,unternahm S. 1566 einen abermaligen Heereszug gegen Ungarn, fandaber vor Szigeth am 5. Sept. 1566 das Ende seines thatenreichenLebens. S. beschließt die Periode der Blüte derosmanischen Herrschaft. Die Türken verehren in ihm ihrengrößten Fürsten. Als Krieger ausgezeichnet undglücklich, war er auch ein weiser Gesetzgeber und Staatsmann.Er übte Gerechtigkeit, hielt die Beamten in Pflicht undGehorsam, beförderte Ackerbau, Gewerbfleiß und Handelund war freigebig gegen Gelehrte und Dichter. Doch hielt er sichnicht frei von Grausamkeit; so ließ er seiner FavoritinRoxelane, einer gebornen Russin, zu Gefallen alle ihm von andernFrauen gebornen Kinder umbringen, um ihrem Sohn Selim II. dieNachfolge zu sichern.

3) S. III., Sohn Ibrahims, Bruder Mohammeds IV., geb. 1647,folgte, nach dessen Absetzung von den Ulemas aus seinerlangjährigen Haft befreit, 1687, hatte mit Empörungen zukämpfen und führte den Krieg in Ungarn unglücklich,bis er 1689 Mustafa Köprili zum Großwesir ernannte;starb 1691.

Solimões, s. Amazonenstrom.

Solingen, Kreisstadt im preuß. RegierungsbezirkDüsseldorf, auf einer Anhöhe unweit der Wupper und an derLinie Ohligswald-S. der Preußischen Staatsbahn, 216 m ü.M., hat 2 evangelische und eine kath. Kirche, eine Synagoge, einRealprogymnasium, ein Kranken-, Armen- und Waisenhaus, einAmtsgericht, eine Handelskammer, eine Reichsbanknebenstelle, sehrbedeutende Fabrikation von Eisen- und Stahlwaren, insbesondere vontrefflichen Säbel- und Degenklingen, Messern, Gabeln, Scheren,chirurgischen Instrumenten etc., welche in die entferntestenLänder ausgeführt werden, ferner Eisengießereienund Fabriken für Patronentaschen, Helme, Zigarren etc. und(1885) 18,641 meist evang. Einwohner. Die Entstehung derEisenindustrie soll unter Adolf IV. von Berg 1147 durch DamaszenerWaffenschmiede, nach andrer Annahme um 1290 durch eingewanderteSteiermärker begründet worden sein. Erst 1359 wurde derHerrenhof S. vom Grafen von Berg erworben und erhielt bald daraufStadtrecht. 1815 kam S. an Preußen. Vgl. Cronau, Geschichteder Solinger Klingenindustrie (Stuttg. u. Leipz. 1885).

Solinus, Gajus Julius, röm. Schriftsteller,wahrscheinlich aus dem 3. Jahrh. n. Chr., veranstaltete aus desPlinius "Historia naturalis" einen Auszug, meist geographischenInhalts, der unter dem Titel: "Polyhistor" auf uns gekommen ist(beste Bearbeitung von Th. Mommsen, Berl. 1864).

Soliped (lat.), Einhufer.

Solipsen (v. lat. solus, allein, und ipse, selbst, = S.I.), satir. Name für die Jesuiten, insofern diese nur an sichselbst zuerst denken. Vgl. Imhofer (Scotti), Monarchia Solipsorum(Vened. 1645).

Solipsismus, in theoretischer Hinsicht der subjektiveIdealismus (Fichtes), weil das Ich aus sich allein die Weltschafft, in praktischer Hinsicht der Egoismus, weil der Einzelnehandelt, als ob die Welt sein wäre; Solipsist, einSelbstsüchtiger.

Solis, Virgilius, Zeichner und Kupferstecher, geb. 1514zu Nürnberg, bildete sich nach den Stichen der sogen.Kleinmeister, verlor sich aber bald in charakterlose Manier, welcheden meisten seiner Kupferstiche (ca. 650) und Federzeichnungeneigen ist. Er hat seine Motive mit Vorliebe aus der antikenMythologie und Geschichte gewählt, aber auch viele Bildnisseund Szenen aus dem Leben seiner Zeit gezeichnet und gestochen.Zuletzt schloß er sich ganz den Italienern an. Er starb 1.Aug. 1562 in Nürnberg.

Solist (lat.), Solosänger.

Solis y Ribadeneira, Antonio de, span. Dichter undGeschichtschreiber, geb. 28. Okt. 1610 zu Alcalá de Henares,studierte in Salamanca die Rechte, begleitete später denGrafen von Oropesa, Vizekönig von Navarra und später vonValencia, als Sekretär und leistete in dieser Stellungausgezeichnete Dienste. Seine Talente erregten die AufmerksamkeitPhilipps IV., der ihm eine Stelle im Staatssekretariat verlieh undihn später zu seinem eignen Sekretär machte. Dasselbe Amtbekleidete S. auch bei der Königin-Regentin, die ihnaußerdem 1666 zum Chronisten von Indien ernannte. Nicht langedarauf ließ er sich zum Priester weihen und starb 19. April1686. Seine "Poesías varias" wurden von I. de Goyeneche(Madr. 1692) herausgegeben, neuerdings auch in der "Biblioteca deautores españoles" (Bd. 42) abgedruckt. Viel bedeutender ister aber durch seine "Comedias" und er kann als der letzte guteDramatiker im Nationalgeschmack betrachtet werden. SeineStücke zeichnen sich weniger durch Originalität derErfindung, die meistens nicht ihm gehört, als durch geschickteBehandlung sowie große Reinheit und Eleganz der Sprache unddes Stils aus und wurden zu Madrid 1681 und 1732 gedruckt (eineAuswahl auch im 47. Bande der genannten "Biblioteca"). Unterdenselben waren die Schauspiele: "El amor al uso" und

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Solitär - Solmisation.

"El alcazar del segreto" sowie die nach Cervantes' schönerNovelle bearbeitete "Gitanilla de Madrid" (auch von P. A. Wolff zuseiner "Pretiosa" benutzt) besonders beliebt. Am berühmtestenund außerhalb Spaniens am bekanntesten ist S. alsGeschichtschreiber durch seine "Historia de la conquista de Mejico"(Madr. 1684; am besten, das. 1783-84, 2 Bde., u. öfter; auchim 28. Bd. der "Biblioteca de autores españoles", 1853;deutsch von Förster, Quedlinb. 1838), welche, wenn auch keinkritisches Geschichtswerk im strengen Sinn des Wortes, doch wegender kunstreichen Darstellung und der geistvollen Betrachtungsweisesowie wegen des Reichtums, der Eleganz und Klarheit der Sprache zuden klassischen Werken der spanischen Litteratur gerechnet wird.Noch hat man von S. eine Anzahl vortrefflich geschriebener Briefe,die Mayans y Siscar in seiner Sammlung "Cartas morales etc." (Val.1773, 5 Bde.) herausgab.

Solitär (franz. solitaire), Einsiedler,einsiedlerisch lebender Mensch; ein einzeln stehender, funkelnderStern; ein einzeln gefaßter Diamant oder Edelstein vonbesonderm Wert. Auch ein Geduldspiel für eine einzelne Person,das sich vielfach in Kinderstuben findet, heißt S. Auf einemBrett sind 37 Löcher in 7 Reihen so angebracht, daß die1. und 7. Reihe je 3, die 2. und 6. je 5, die 3., 4. und 5. je 7Löcher enthalten. In jedem Loch steckt ein leicht ausziehbarerStift. Das Spiel besteht darin, daß man einen Stift weglegt,sodann immer einen Stift in gerader Linie über einen andernwegsteckt und den übersprungenen herausnimmt. Um das Spiel zugewinnen, darf man zuletzt nur noch einen Stift im Brett behalten.Solitärpflanzen, Pflanzen mit schönen Blättern etc.zur Einzelstellung auf Rasen.

Solitüde (franz., "Einsamkeit"), öfters Namevon Lustschlössern. Besonders bekannt ist die S. beiStuttgart, 1763-67 von Herzog Karl erbaut und 1770-1775 Sitz derdurch Schiller berühmt gewordenen Karlsschule (s. d.).

Solium (lat.), s. v. w. Thron, ein hoher erhabener Sitzmit Rücken- und Seitenlehnen. Auf einem solchen saß beiden Römern der Pater familias, wenn er morgens seinen KlientenAudienz gab.

Soljanka, russ. Gericht aus mit Zwiebeln gedämpftemSauerkraut, welches mit gebratenem Fleisch geschichtet, mitPfeffergurken, Pilzen, Würstchen bedeckt und im Ofen leichtgebacken wird.

Soll, in der Buchhaltung (s. d., S. 564) s. v. w. Debet.Solleinnahmen, Sollausgaben, erwartete, noch nicht erfolgteEinnahmen und Ausgaben (Sollposten). Demgemäß sprichtman auch von einem Budgetsoll oder Etatsoll, während dasKassensoll die Summe angibt, welche, entsprechend den Buchungen, inder Kasse vorhanden sein soll.

Sölle, s. Riesentöpfe.

Sollen unterscheidet sich von Müssen wie das Sitten- vomNaturgesetz dadurch, daß eine durch das erstere geboteneHandlung unterlassen werden kann, aber nicht unterlassen werdendarf, ohne mißfällig zu werden, während von demdurch das letztere vorgeschriebenen Geschehen keine Ausnahmestattfinden kann.

Söller (v. lat. solarium), s. v. w. Saal oderVorplatz im obern Stockwerk eines Hauses; auch ein offener Gangoder Altan um dasselbe.

Sollicitudo omnium ecclesiarum (lat.), die Bulle vom 7.Aug. 1814, durch welche Papst Pius VII. den Jesuitenordenwiederherstellte ; s. Jesuiten, 210.

Solling (Solinger Wald), ein den Weserbergenangehöriger Bergzug in der preuß. Provinz Hannover undim Herzogtum Braunschweig, fällt steil von Bodenfelde bisHolzminden westlich zum Weserthal und östlich bei Einbeck zuden Thälern der Leine und Elme ab. Der S., welcher im Moosbergzu 513 m Höhe ansteigt, ist ganz bewaldet und besteht ausBuntsandstein, der vielfach gebrochen wird (Höxtersandstein).Mit dem S. schließt das durch die hessischen Länder nachSüden bis zum Odenwald sich erstreckende Buntsandsteingebirgeim N. ab.

Sollizitieren (lat.), nachsuchen, inständig bitten;Sollizitant, Bittsteller, Rechtssucher; Sollizitation, Gesuch;Sollizitator, Anwalt.

Sollm., bei naturwissenschaftl. Namen Abkürzungfür A. Sollmann, Lehrer in Koburg (Pilze).

Sollogub, Wladimir Alexandrowitsch, Graf, russ.Schriftsteller, geb. 1814 zu St. Petersburg, studierte in Dorpat,schlug dann die diplomatische Laufbahn ein und erhielt bei derGesandtschaft in Wien einen Posten. Später wurde er vomMinisterium des Innern in den Süden Rußlandsabkommandiert, um statistische Nachrichten über diesüdlichen Gouvernements zu sammeln. Nachdem er sich vomStaatsdienst zurückgezogen, nahm er seinen Wohnsitz in Dorpatund starb 17. Juni 1882 im Bad Homburg. Sein Hauptwerk ist"Tarantas" (1845; deutsch, Leipz. 1847), eine mit trefflichem Humorverfaßte Schilderung der verschiedenen Schichten derGesellschaft in der Provinz. Außerdem sind zahlreicheNovellen und Erzählungen (darunter die rührende"Geschichte zweier Galoschen" und "Die große Welt")vorhanden, die von Phantasie und Beobachtungsgabe zeugen, wenn sieauch der künstlerischen Tiefe ermangeln. Gelegentlichversuchte sich S. auch als Theaterdichter (z. B. mit dem Lustspiel"Der Beamte", 1857) und veröffentlichte "Erinnerungen anGogol, Puschkin und Lermontow" (deutsch, Dorp. 1883) u. a.

Solmisation, eine eigentümliche, Jahrhundertehindurch üblich gewesene Methode, die Kenntnis der Intervalleund der Tonleitern zu lehren, welche auf Guido von Arezzo (um 1026)zurückgeführt wird; sicher ist, daß sie um 1100bereits sehr verbreitet war. Die S. hängt offenbar engzusammen mit der damals aufkommenden Musica ficta, d. h. demGebrauch chromatischer, der Grundskala fremder Töne, undverrät eine Ahnung von dem innersten Wesen der Modulation, d.h. des Überganges in andre, transponierte Tonarten,entsprechend unserm G dur, F dur etc., die nichts als Nachbildungendes C dur auf andrer Stufe sind. Die sechs Töne C D E F G A(Hexachordum naturale) erhielten nämlich die Namen ut, re, mi,fa, sol, la (nach den Anfangssilben eines Johanneshymnus: ut queantlaxis resonare fibris mira gestorum famuli tuorum, sole pollutilabii reatum, sancte Ioannes); dieselben Silben konnten nun aberauch von F oder von G aus anfangend zur Anwendung kommen, sodaß F oder G zum ut wurde, G oder A zum re etc. Da stelltesich nun heraus, daß, wenn A mi war, der nächste Schritt(mi-fa) einen andern Ton erreichte als das mi des mit G als utbeginnenden Hexachords, d. h. die Unterscheidung des B von H (Brotundum oder molle [b] und B quadratum oder durum [#], vgl.Versetzungszeichen) wurde damit begreiflich gemacht. JedesÜberschreiten des Tons A nach der Höhe (sei es nach Boder H) bedingte nun aber einen Übergang aus dem Hexachordumnaturale entweder in das mit F beginnende (mit B molle [B], daherHexachordum molle) oder das mit G beginnende (mit B durum [H],daher Hexachordum durum); im erstern Fall erschien derÜbergang von G nach A als sol-mi. im andern als sol-re. Vomerstern stammt der Name S. Jeder

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Solmona - Solms.

derartige Hexachordwechsel hieß Mutation. Die folgendeTabelle mag das veranschaulichen:

[siehe Graphik]

Die geklammerten Vertikalreihen hier sind die Hexachorde: dieunterhalb mit # bezeichneten Reihen Hexachorda dura (mit h), diemit b bezeichneten Hexachorda mollia (mit b), die ohne Abzeichennaturalia (weder h noch b enthaltend). Die Horizontalreihen ergebendie zusammengesetzten Solmisationsnamen der Töne (Gamma ut bise la). Zur bequemen Demonstration der S. bediente man sich dersogen. Harmonischen Hand (s. d.). In Deutschland ist die S. niesehr beliebt gewesen; dagegen verdrängten in Italien undFrankreich die Solmisationsnamen gänzlich die Buchstabennamender Töne, ja man bediente sich längere Zeit daselbstsogar der zusammengesetzten Namen C solfaut, G solreut etc., weilnämlich C im Hexachordum naturale ut, im Hexachordum durum faund im Hexachordum molle sol war etc. Der italienische Name Solfafür Tonleiter sowie solfeggiare, solfeggieren (d. h. dieTonleiter singen), kommt natürlich auch von der S. her.Für das moderne System der transponierten Tonarten wurde dieS. unpraktikabel. Als man anfing, die zusammengesetztenSolmisationsnamen zu schwerfällig und, was wichtiger ist,nicht ausreichend zu finden (nämlich für die Benennungder chromatischen Töne), und den einfachen Silben ut, re, mi,fa, sol, la ein für allemal feststehende Bedeutung anwies, umsie durch b und # beliebig verändern zu können, bemerkteman, daß ein Ton (unser H) gar keinen Namen hatte; indem mannun auch diesem Ton einen Namen gab, versetzte man der S. denTodesstoß, denn die damit beseitigte Mutation war derenWesenskern. Einfacher wäre es freilich gewesen, zur schlichtenBuchstabenbenennung zurückzukehren, wie sie durch dieSchlüsselzeichen [Grafik] ein für allemal in unsrerTonschrift implizite enthalten ist. Statt dessen soll um 1550Hubert Waelrant, ein belgischer Tonsetzer, die sogen. belgische S.mit den sieben Silben: bo, ce, di, ga, lo, ma, ni (Bocedisation)vorgeschlagen und eingeführt haben, während um dieselbeZeit der bayrische Hofmusikus Anselm von Flandern für H denNamen si, für B aber bo wählte (beide galten nach alterAnschauung für Stammtöne). Henri van de Putte (Puteanus,Dupuy) stellte in seiner "Modulata Pallas" (1599) bi für Hauf, Adriano Banchieri in der "Cartella musicale" (1610) dagegen baund Pedro d'Urenna, ein spanischer Mönch um 1620, ni. Ganzandre Silben wünschte Daniel Hitzler (1628): la, be, ce, de,me, fe, ge (Bebisation), unserm A, B, C, D, E, F, G entsprechend,und noch Graun (1750) glaubte mit dem Vorschlag von da, me, ni, po,tu, la, be etwas Nützliches zu thun (Damenisation). Von allendiesen Vorschlägen gelangte schließlich nur der zuallgemeiner Geltung, die Silbe si für H (aber ohne bo fürB) zu setzen, und dies erklärt sich hinreichend daraus,daß das si wie die übrigen Solmisationssilben demerwähnten Johanneshymnus entnommen ist (die Anfangsbuchstabender beiden Schlußworte: Sancte Ioannes).

Solmona, Kreishauptstadt in der ital. Provinz Aquila(Abruzzen), in herrlicher Gebirgsgegend am Fluß Gizzio, ander Eisenbahn Castellammare Adriatico-Aquila-Terni, istBischofsitz, hat mehrere Kirchen (darunter San Pamfilo mitschönem Portal), ein schönes Rathaus, eine alteWasserleitung, ein Gymnasium, technische Schule, Seminar, Papier-und Walkmühlen, Fabrikation von Webwaren, Darmsaiten undKonfitüren, Weinbau und (1881) 14,171 Einw. S. ist das alteSulmo, Ovids Geburtsort, wovon sich noch einzelne Baureste erhaltenhaben.

Solms, altes gräfliches, zum Teil fürstlichesGeschlecht, dessen Stammschloß seit dem 14. Jahrh. Braunfelsin der Wetterau war, und das Marquard, Grafen von S. im Hessengau,der 1129 erwähnt wird, zum ersten gewissen Stammvater hat.1409 teilte sich das Geschlecht in die Linien S.-Braunfels undS.-Lich. Erstere teilte sich wieder in drei Zweige, wovon nur nochder Zweig Greiffenstein besteht, der 1693 den Namen Braunfelsannahm und 1742 in den Reichsfürstenstand erhoben ward. Diezweite Linie teilte sich in zwei Hauptzweige: S.-Hohen-S.-Lich,1792 in den Reichsfürstenstand erhoben, und S.-Laubach,gräflich. Letzterer teilte sich wieder in zwei Unterlinien,S.-Sonnenwalde und S.-Baruth; die letztgenannte wieder in zweiÄste, S.-Rödelheim und Assenheim, in beiden Hessenstandesherrlich, und S.-Wildenfels mit den NebenästenS.-Wildenfels-Laubach und S.-Wildenfels zu Wildenfels. DieReichsunmittelbarkeit verloren die fürstlichen undgräflichen Linien 1806. Den ansehnlichstenzusammenhängenden Teil der Ländereien des Hauses besitztGeorg, Fürst von S.-Braunfels (geb. 18. März 1836;succedierte 7. März 1880 seinem Bruder, dem FürstenErnst), nämlich unter preußischer Landeshoheit dieÄmter Braunfels, Greiffenstein, unter großherzoglichhessischer die Ämter Hungen, Wölfersheim und Gambach,unter württembergischer einen Teil von Limpurg-Gaildorf,zusammen 514 qkm, mit welchen Besitzungen eine Virilstimme beimLandtag der Rheinprovinz verbunden ist. Residenz ist Braunfels.Dieser Linie gehörte auch der österreichischeFeldmarschallleutnant Prinz Karl zu S.-Braunfels (geb. 27. Juli1812, gest. 13. Nov. 1875) an, der Sohn der in zweiter Ehe mit demPrinzen Friedrich Wilhelm (gest. 1814) vermählten PrinzessinFriederike von Mecklenburg-Strelitz, Stiefbruder des ExkönigsGeorg von Hannover, auf den er in österreichischem Interesseeinwirkte; seine Söhne sind katholisch und stehen inösterreichischen Diensten. Der Fürst vonS.-Hohen-S.-Lich, Hermann, geb. 15. April 1838, besitzt unterpreußischer Landeshoheit das Amt Hohen-S. und untergroßherzoglich hessi-

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Solnhofen - Solombala.

scher die Ämter Lich und Niederweisel, zusammen 220 qkm. Erresidiert zu Lich und ist erbliches Mitglied dergroßherzoglich hessischen Ersten Kammer, wie er auch auf demLandtag der Rheinprovinz eine Virilstimme hat. Haupt der inPreußen und Sachsen ansässigen, nicht standesherrlichenLinie S.-Sonnenwalde ist Graf Theodor, geb. 6. Febr. 1814; seinjüngerer Bruder, Graf Eberhard, geb. 2. Juli 1825, war 1878-87deutscher Gesandter in Madrid und ist jetzt Botschafter in Rom.Standesherr in der Linie S.-Laubach zu Rödelheim und Assenheimist Graf Maximilian, geb. 14. April 1826, der auf Grund seinerBesitzungen im Groß Herzogtum Hessen erbliches Mitglied derdortigen Ersten Kammer ist. Gleicherweise ist der Standesherr zuS.-Laubach, Graf Friedrich, geb. 23. Juni 1833, erbliches Mitgliedder Ersten Kammer im Großherzogtum Hessen. Der Standesherrvon S.-Wildenfels zu Wildenfels, Graf Friedrich Magnus, geb. 26.Juli 1847, der neben der Herrschaft Wildenfels unter königlichsächsischer Landeshoheit im Großherzogtum Hessen und inSachsen-Weimar Besitzungen hat, ist erbliches Mitglied der ErstenKammer des Königreichs Sachsen. Das Haupt der Baruther Linie,Graf Friedrich Hermann Karl Adolf, geb. 29. Mai 1821, erblichesMitglied des preußischen Herrenhauses, ward im April 1888 inden Fürstenstand erhoben. Vgl. Graf zu S.-Laubach, Geschichtedes Grafen- und Fürstenhauses S. (Frankf. a. M. 1865).

Solnhofen (Solenhofen), Dorf im bayr. RegierungsbezirkMittelfranken, Bezirksamt Weißenburg, an der Altmühl undder Linie München-Ingolstadt-Hof der Bayrischen Staatsbahn,hat eine evang. Kirche, ein ehemaliges Benediktinerkloster von 743und (1885) 1128 Einw. Berühmt sind die Solnhofener Schiefer,womit man die obersten schieferigen Jurakalke bezeichnet, diezwischen S. und Monheim und bis tief nach Schwaben hinein denJurakalk und Dolomit bedecken und in ausgedehnten Brüchen, diebei S. ihren Mittelpunkt haben, für die verschiedenstenZwecke: als lithographische Steine, zu Tischplatten, fürKegelbahnen, Fußböden etc., verarbeitet werden. In ihnenfand man die Überreste des ersten bekannten Vogels (s.Archaeopteryx).

Solnhofener Schichten, s. Juraformation.

Solo (ital., "allein"), in der Musik Bezeichnung einesInstrumentalstücks, welches allein, ohne Begleitung einesandern Instruments, vorgetragen wird. Innerhalb der fürOrchester geschriebenen Werke bedeutet S. soviel wie eine sichauffallend heraushebende, von einem einzelnen Instrumentausdrucksvoll vorzutragende Stelle, die indes in der Regel vonandern Instrumenten begleitet wird. Wieder eine andre Nüanceder Bedeutung des Wortes ist die, daß es bei Instrumenten,welche vielfach besetzt sind, als Gegensatz von Tutti gebrauchtwird; die Anweisung "S." im Parte der Violinen einesOrchesterwerkes bedeutet, daß nur Ein Violinist (derKonzertmeister) die Stelle spielen soll; der Wiedereintritt derübrigen Geiger wird dann durch "Tutti" bezeichnet. Indemselben Sinn ist in Chorwerken S. der Gegensatz von "Chor" (vgl.Ripieno). Tasto s. (t. s.) bedeutet in derGeneralbaßbezifferung, daß die übrigen Stimmenpausieren und nur die Baßstimme selbst angegeben werdensoll.

Solo (ital., "allein"), im Kartenspiel entweder (z. B.beim Skatspiel) ein Spiel, welches mit denjenigen Karten alleingemacht wird, die man ursprünglich erhalten hat, oder einselbständiges Spiel mit deutscher Karte, dem L'hombrenachgebildet. Zu diesem Spiel gehören vier Personen, welchezunächst die vier Farben untereinander auslosen. Wer Eichelnhat, gibt an, und Eicheln ist für die ersten 16 Spiele (eineTour) die Kouleur. In der nächsten Tour wird die Farbe deszweiten Spielers Kouleur etc. Jeder erhält 8 Blätter.Treffdame oder Eichelnober (Spadille), die Sieben der jedesmaligenTrumpffarbe (Manille oder Spitze) und Pikdame oder Grünober(Baste) sind beständige Trümpfe und rangieren in dergenannten Folge; der Wert der übrigen Karten ist dernatürliche. In Treff und Pik (Eicheln und Grün) sind 9,in Coeur und Karo (Rot und Schellen) aber 10 Trümpfevorhanden. Es gibt im S. 4 Spiele: Frage, Groß-Casco(Forcée partout, Respect), Solo und Klein-Casco(Forcée simple). Die beiden Cascos sind Zwangsspiele: daskleine muß, wenn alle 4 Personen gepaßt haben, derInhaber der Spadille machen; das große muß der Besitzervon Spadille und Baste spielen, außer wenn er selbst oder einandrer S. hat. Frage und S. werden durch Frage und S. in Kouleurüberboten. Nur im S. spielt einer gegen drei; bei Casco oderFrage nimmt sich der Meldende durch das sogen. Dausrufen einenGehilfen. Spielt jemand Frage, so wählt er eine Farbe zuTrumpf und nennt zugleich ein Daus von einer andern Farbe. Werdieses Daus hat, ist Gehilfe; er darf dies aber nicht entdecken.Spielt einer Casco, so ruft er ebenfalls ein Daus; den Trumpf machtaber der aufgerufene Gehilfe. Zum Gewinn sind mindestens 5 Sticheerforderlich; bei 4 Stichen ist das Spiel einfach verloren und beinur 3 Stichen "Codille". Vole, Tout, Wäsche oder Lese istgemacht, wenn der oder die Spieler alle 8 Stiche bekommen, eineRevolte oder Devole, wenn sie gar keine bekommen, Remis, wenn jedePartei 4 Stiche macht. Es gilt Matadorrechnung, wie im Skat. DasSolospiel ist in vielfacher Weise erweitert und abgeändertworden; eine interessante Abart ist das S. unter 5 Personen,welches nach gleichen Regeln mit einer Karte von 5 Farben (40Blättern) gespielt wird. Die hinzugefügte Farbeheißt die blaue. Eine andre ist die mit dem Mediateur, wobeivon einem der Mitspieler ein Daus (As) gegen eine entbehrlicheKarte eingetauscht und dann S. gespielt wird.

Solo, Landschaft, s. Surakarta.

Solofänger, ein Windhund, der einen Hasen allein,ohne Hilfe andrer Hunde, zu fangen vermag.

Solofra, Stadt in der ital. Provinz Avellino, amFuß des Monte Terminio, Station der Eisenbahn von Neapel nachAvellino, hat bedeutende Fabrikation von Leder und Pergament,Handel mit Wolle und gesalzenem Schweinefleisch und (1881) 5178Einw.

Sologne (spr. ssolonnj), franz. Landstrich in denDepartements Cher, Loiret und Loir-et-Cher, 460,000 Hektargroß und sprichwörtlich wegen seiner Unfruchtbarkeit,enthält sandige Heiden, zahlreiche Teiche und Sümpfe (zuderen Entwässerung in neuerer Zeit allerdings viel gethanworden ist) und etwas Wald, produziert Buchweizen und Wein(Solognewein), Schafe und eine eigne Rasse Pferde (Solognote).

Sololá, Departement im mittelamerikan. StaatGuatemala, erstreckt sich an der Küste des Stillen Ozeans bisauf die Hochebene und hat (1885) 76,342 Einw. In seiner Mitte liegtder reizende Atitlansee (s. d.) und in dessen Nähe dieHauptstadt S.

Solombala (Ssolombala), ehemaliger Kriegshafen im russ.Gouvernement Archangel, am Weißen Meer, von Peter I.angelegt, mit einer Admiralität, wurde 1862 als solcheraufgehoben und bildet gegenwärtig eine Vorstadt von Archangel,von welchem der Ort durch einen Arm der Dwina getrennt ist. S.

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Solon - Solothurn.

hat 2 Kirchen, ein kath. Bethaus, eine Seemannsschule, eineSchiffswerfte, einen geräumigen Kauffahrteihafen und gegen11,000 Einw.

Solon, berühmter Gesetzgeber Athens, unter densieben Weisen Griechenlands der bedeutendste, geboren um 640 v.Chr. zu Athen, Sohn des Exekestides, aus einem alten edlenGeschlecht, welches Kodros unter seinen Ahnen zählte, widmetesich dem Handel und ging frühzeitig auf Reisen. Zum erstenmaltrat er 604 öffentlich auf. Die Athener, eines langenresultatlosen Kampfes mit Megara um Salamis müde, hatten einGesetz gegeben, welches jeden mit dem Tod bedrohte, der eineErneuerung des Kampfes beantragen würde. S. erschien hieraufin der Rolle eines Wahnsinnigen auf dem Markt, sang vom Stein desHerolds herab eine von ihm verfertigte Elegie: "Salamis", undentflammte dadurch die Kriegslust der Athener aufs neue in solchemGrade, daß der Kampf wieder begonnen und mit der Eroberungder Insel beendigt wurde. Nicht lange nachher (600) wurde aufSolons Betrieb der erste Heilige Krieg gegen Krissa zum Schutz desdelphischen Heiligtums beschlossen. Athen selbst aber befand sichum diese Zeit in einer bedenklichen Lage. Die Zerrüttung warallgemein, und der Zwiespalt der Parteien drohte den Staat zuuntergraben. Da trat S. im entscheidenden Augenblick abermals alsRetter seiner Vaterstadt auf, bewirkte eine allgemeine Sühnungdes Volkes durch Epimenides und stiftete Frieden. Hierauf machteer, um der wachsenden Not und Verarmung des niedern Volkes zusteuern, durch die Seisachtheia (s. d.) dem Wucher ein Ende undermöglichte die Abwälzung der Schulden. 594 zum erstenArchon gewählt, gab er dem Staat eine neue Verfassung. SeineAbsicht ging hierbei vornehmlich dahin, die bisher zwischen Adelund Volk bestandene Kluft auszufüllen, die Anmaßung deserstern zu brechen, die Entwürdigung der letztern zubeseitigen, Standesvorrechte und Beamtenwillkür abzuschaffenund eine nach den Leistungen abgestufte Beteiligung allerStaatsbürger an der Staatsregierung einzuführen (s.Athen, S. 1001). Seine Verfassung war also eine Timokratie. IhrenCharakter und Zweck hat S. selbst am schönsten in den Versenbezeichnet (nach der Übersetzung von Geibel):

So viel Teil an der Macht, als genug ist, gab ich dem Volke,

Nahm an Berechtigung ihm nichts, noch gewährt' ich zuviel.

Für die Gewaltigen auch und die reicher Begütertensorgt' ich,

Daß man ihr Ansehen nicht schädige widerGebühr.

Also stand ich mit mächtigem Schild und schützte siebeide,

Doch vor beiden zugleich schützt' ich das heiligeRecht.

Außerdem gab er dem Volk eine dessen ganzes Leben undganze Thätigkeit umfassende Gesetzgebung, deren segensreicheWirkungen seine Verfassung überdauert haben; sie gewöhntedas Volk zu lebendiger, selbständiger Teilnahme amöffentlichen Leben, hob die geistige Bildung und erzeugtebewußte Sittlichkeit und edle Humanität in ihm. Die Sageerzählt, daß S. die Athener verpflichtet habe,während eines zehnjährigen Zeitraums an seinerGesetzgebung nichts zu ändern, und daß er eine Reise insAusland deshalb gemacht habe, um nicht selbst Hand an dieAbänderung seiner Gesetze legen zu müssen. Er gingzunächst nach Ägypten, wo er mit den Priestern vonHeliopolis und Sais Umgang hatte, dann nach Cypern und nach Sardeszu Krösos, mit dem er nach der (historisch unmöglichen)Sage die bekannte Unterredung über die Nichtigkeitmenschlicher Glückseligkeit hatte. Nach seiner Rückkehrnach Athen suchte er vergeblich den von neuem ausbrechendenZerwürfnissen daselbst zu steuern und mußte noch sehen,daß sich Peisistratos zum Tyrannen aufwarf. Er starb 559;seine Gebeine sollen auf sein eignes Verlangen nach Salamisgebracht und dort verbrannt, die Asche aber auf der ganzen Inselumhergestreut worden sein. Als Sittenspruch wurde ihm beigelegt:"Nichts zu viel". Als Dichter war er nicht minder ausgezeichnet wieals Gesetzgeber. Seine Gedichte sind größtenteilshervorgegangen aus dem Bedürfnis, seinen Mitbürgern dieNotwendigkeit der von ihm getroffenen Staatseinrichtungendarzuthun. Die Fragmente derselben sind gesammelt von Bach (Bonn1825), in Schneidewins "Delectus poesis Graecorum elegiacae"(Göttingen 1838) und in Bergks "Poetae lyrici graeci". InsDeutsche übersetzte sie Weber in den "Elegischen Dichtern derHellenen" (Frankf. 1826). Die ihm von Diogenes Laertius beigelegtenBriefe an Peisistratos und einige der sieben Weisen sinduntergeschoben. Solons Leben beschrieb Plutarch. Vgl. Kleine,Quaestiones de Solonis vita et fragmentis (Kref. 1832); Schelling,De Solonis legibus (Berl. 1842).

Solothurn (franz. Soleure), ein Kanton der Schweiz, wirdim O. von Basel und Aargau, im Süden und W. von Bern, im N.von Basel begrenzt und hat einen Flächengehalt von 784 qkm(14,2 QM.). Abgesehen von den beiden Exklaven Mariastein undKlein-Lützel, die auf bernischem Gebiet an der ElsässerGrenze liegen, ist das Land von eigentümlich zerrissenenUmrißformen und zerfällt zunächst in Anteile derSchweizer Hochebene und in solche des Jura. Zu jenen gehörendas Aarethal von S., in welches die Thalebene der Großen Emmeausmündet, und das Aarethal von Olten. Beide Thalstreckenscheidet ein vorspringendes Stück des bernischen Ober-Aargaues(Wangen-Wiedlisbach), und eine Jurakette, deren HäupterHasenmatt (1449 m), Weißenstein (1284 m) und Röthifluh(1398 m) sind, schließt sie nach der Seite der jurassischenLandschaften ab. In der Klus von Önsingen-Balsthal bricht dieDünnern aus ihrem dem Aarelauf parallelen jurassischenHochthal hervor, um bei Olten in die Aare zu münden,während ebenfalls bei Balsthal das jenem parallele Guldenthalsich öffnet. Ein zweiter Jurazug, die Kette des Paßwang(1005 m), führt von Mümliswyl hinüber in dasBirsgebiet (Schwarzbubenland). Das Klima gehört eher zu denrauhen als milden, so daß das Land ohne Weinbau ist. DieVolkszahl beläuft sich auf (1888) 85,720 Köpfe. DieSolothurner, deutschen Stammes und katholischer Konfession (nur21,898 Protestanten, vorwiegend im Bucheggberger Amt), geltenfür "ein gutmütiges, munteres und rechtschaffenesVölkchen". Seit durch Referendum vom 4. Okt. 1874 dieBenediktinerabtei Mariastein und die beiden Chorherrenstifter vonSolothurn und Schönenwerd aufgehoben sind, besitzt der Kantonnoch drei Kapuziner- und drei Nonnenklöster. Die Katholikendes Kantons sind der Diözese Basel zugeteilt, und seitlängerer Zeit ist die Stadt S. Bischofsitz. Einige Gemeindenhaben sich dem 1874 geschaffenen Nationalbistum angeschlossen. S.ist ein vorzugsweise Ackerbau treibendes Ländchen, einer derwenigen Schweizer Kantone, welche Getreide über den Bedarferzeugen; auch kommen Obst und Kirschwasser sowie (bei guterWaldwirtschaft) Holz zur Ausfuhr. Rindvieh, meist vom BernerSchlag, wird viel gehalten. Einige Käse kommen dem Emmenthalergleich; um Mümliswyl wird der "Geißkäse" bereitet.Auch viele Schafe und Ziegen werden gehalten, Pferde weniger alsfrüher; hingegen besteht noch eine treffliche Schweinezucht.Der Jura liefert Gips und trefflichen Kalkstein; in der Näheder Hauptstadt wird "Marmor"

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Solothurn (Kanton und Stadt).

gebrochen und weithin versandt. Bohnerzlager finden sich beiMatzendorf (seit 1877 so gut wie erschöpft). Gerlafingen hatin neuerer Zeit Baumwollspinnerei (Derendingen) u.Papierfabrikation eingeführt. Sonst besitzt die Gegend vonOlten-Schönenwerd eine rege Industrie: einen Eisendrahtzug,eine große Maschinenbauwerkstätte, Strumpffabrikation u.a. Die Bandweberei des Schwarzbubenlandes ist eine Dependenz vonBasel (s. d., S. 418). Ferner bestehen Glashütten,Parkettfabriken etc. Wenn auch weder die Stadt S. noch Olten zu denHandelsplätzen gehört, sind beide doch bedeutsameKnotenpunkte im Schweizer Bahnnetz geworden. Im Kur- undTouristenverkehr nimmt S. keine hervorragende Stelle ein; nur derWeißenstein und Bad Lostorf sind stark besuchte Punkte. Dieheutige Volksschule gliedert sich, wie in den meisten Kantonen, ineine allgemein verbindliche primäre und eine fakultativesekundäre Stufe. Von humanitären Anstalten besitzt derKanton eine Irrenheilanstalt (Rosegg), die DischerscheRettungsanstalt Hofmatt und eine von Schwendimann dotierteBlindenanstalt. Die öffentlichen Bibliotheken zählen ca.85,000 Bände (die Stadtbibliothek Solothurns allein40,000).

Die Verfassung des Kantons, 12. Dez. 1875 vom Volk angenommen,23. Okt. 1887 revidiert, hat an die Stelle derRepräsentativdemokratie das Referendum gesetzt.Demgemäß unterliegen alle Gesetze undStaatsverträge sowie alle neuen Ausgaben von höhermBetrag und alle Staatsanleihen von mehr als einer halben Milliondem obligatorischen Referendum. Das Recht der Initiative istgeregelt; ein Volksentscheid muß stattfinden, wenn eineAnregung von 2000 Votanten eingereicht ist. Das Volk kann sowohlLegislative als oberste Exekutive abberufen; eine Abstimmungentscheidet, sobald die Abberufung von 4000 Votanten verlangt wird.Der Kantonsrat, als gesetzgebende Behörde, wird vom Volk aufvier Jahre gewählt. Die Exekutive übt ein Regierungsratvon fünf Mitgliedern, welche das Volk auf vier Jahreerwählt. Der Präsident führt den Titel Landammann.Ein Obergericht, durch den Kantonsrat ebenfalls auf vier Jahreernannt, besteht aus sieben Mitgliedern. Im übrigen garantiertdie Verfassung alle in den Schweizer Kantonen üblichenGrundrechte. Der Kanton ist in fünf Amteien eingeteilt, jedemit Oberamtmann und Amtsgericht. Die Staatsrechnung für 1887ergibt an Einnahmen 1,736,746 Frank, davon an Abgaben 611,581 Fr.;die Ausgaben belaufen sich auf 1,865,956 Fr., wovon 333,558 Fr. aufdas Erziehungswesen entfallen. Zu Ende 1887 betrugen die Aktiva desStaatsvermögens 13,245,122 Fr., die Passiva 10,079,000 Fr.,also reines Staatsvermögen 3,166,122 Fr.; dazu dieSpezialfonds, 15 an Zahl, im Betrag von 3,685,089 Fr., zusammen6,851,211 Fr.

Die gleichnamige Hauptstadt des Kantons, zu beiden Seiten derAare, Knotenpunkt der Bahnlinien Herzogenbuchsee-Biel,Olten-Lyß und S.-Langnau, bietet außer demUrsusmünster (1773 von Pisoni vollendet) und dem Zeughaus nurdie eine Sehenswürdigkeit der Verena-Einsiedelei, mit einemFelskirchlein und einer großen Felsenhöhle. Die Stadtselbst hat sich in neuerer Zeit erweitert und verschönert undbesitzt eine Kantonsschule (Gymnasium und Industrieschule), eineStadtbibliothek mit einer Sammlung von Altertümern undMünzen, eine Gemäldegalerie, 3 Bankinstitute (daruntereine Notenbank mit 3 Mill. Fr. Kapital), Uhren-, Eisen-,Zementfabrikation, Baumwollweberei, Marmorsteinbrüche und(1888) 8305 Einw. (darunter ca. 2000 Protestanten). EntfernterePunkte sind Zuchwyl, wo Kosciuszko begraben liegt, und der KurortWeißenstein. Vgl. Hartmann, S. und seine Umgebungen (Soloth.1885).

[Geschichte.] Die Stadt S. (Salodurum) war schon zurRömerzeit ein Knotenpunkt der großen HeerstraßenHelvetiens. Im Mittelalter lehnt sich ihre Geschichte an das im 10.Jahrh. entstandene Chorherrenstift des heil. Ursus an, dasursprünglich alle Hoheitsrechte mit Ausnahme des Blutbannsinnehatte, von dem sich die Bürgerschaft aber allmählichemanzipierte. Nach dem Aussterben der Zähringer (1218), welchedie Reichsvogtei besessen, wurde S. reichsunmittelbar; 1295schloß es mit Bern ein ewiges Bündnis und hatte 1318eine Belagerung durch Herzog Leopold auszustehen, weil es Friedrichden Schönen nicht als König anerkannte. Ein Versuch desverarmten Grafen Rudolf von Kyburg, sich der Stadt durch Verrat zubemächtigen, wurde glücklich vereitelt (SolothurnerMordnacht, vom 10. zum 11. Nov. 1382) u. führte zu demKyburger Krieg, in welchem Bern und S. das Grafenhaus vernichteten.Als treue Verbündete Berns nahm S. an den Schicksalen derEidgenossen schon seit dem 14. Jahrh. Anteil, wurde aber infolgedes Widerstandes der "Länder" erst 22. Dez. 1481 gleichzeitigmit Freiburg in den Bund aufgenommen, nachdem es sich durch Kaufden größten Teil des heutigen Kantons alsUnterthanenland erworben. Gegen die Reformation verhielt sich S.eine Zeitlang schwankend, aber nach der Schlacht von Kappel warendie Katholiken im Begriff, die reformierte Minderheit mit denWaffen zu vernichten, als der katholische Schultheiß Wengisich vor die Mündung der Kanonen stellte und durch seinehochherzige Dazwischenkunft den blutigen Zusammenstoßvermied. Doch blieb S. der Reformation verloren und schloßsich 1586 dem Borromeischen Bund an. Dagegen hielt es sich fern vondem Bunde der übrigen katholischen Orte mit Spanien (1587),vornehmlich aus Ergebenheit gegen Frankreich, dessen AmbassadorenS. zu ihrer regelmäßigen Residenz erwählt hatten.Aus ihrem glänzenden Hofhalt und den reichlichfließenden französischen Gnadengeldern schöpfte dieStadt einen Wohlstand, den der Adel in höfischenFestlichkeiten zu entfalten liebte. Auch in S. bildete sichnämlich ein erbliches Patriziat aus, dessen Regiment erst 1798mit dem Einrücken der Franzosen ein Ende nahm (1. März).Die Mediationsakte erhob 1803 S. zu einem der sechsDirektorialkantone mit einer Repräsentativverfassung. Nach demEinrücken der Österreicher bemächtigten sich dienoch lebenden Mitglieder der alten patrizischen Räte in derNacht vom 8. zum 9. Jan. 1814 des Rathauses, erklärten sichfür die rechtmäßige Regierung und schlugen eineErhebung der Landschaft mit bernischer Hilfe nieder; nur einDrittel des Großen Rats wurde dieser zugestanden. 1828 wurdeS. durch ein Konkordat der Kantone Bern, Luzern, Zug, S., Aargauund Thurgau zum Sitz des neugegründeten Bistums Basel erhoben.1830 mußte der Große Rat dem stürmischen Verlangender Landschaft nachgeben und vereinbarte mit den Ausschüssenderselben eine neue Verfassung, welche, obwohl sie der Hauptstadtnoch 37 Vertreter auf 109 gewährte, 13. Jan. 1831 mitgroßer Mehrheit angenommen wurde. Nach dem "ZüricherPutsch" wurde das Wahlvorrecht der Stadt beseitigt und dieMitgliederzahl der Regierung vermindert, worauf die neue Verfassung10. Jan. 1841 angenommen und das liberale Regiment durchfortschrittliche Wahlen aufs neue befestigt wurde. Daher hielt sichder Kan-

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd.

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Solotnik - Soltikow.

ton trotz seiner überwiegend katholischen Bevölkerungzu den entschiedensten Gegnern des Sonderbundes und nahm die neueBundesverfassung 1848 mit großer Mehrheit an. Durch zweiVerfassungsrevisionen (1851 und 1856) ward das lange festgehalteneSystem der indirekten Wahlen und der Allmacht der Regierung auch inKommunalangelegenheiten beseitigt. Nachdem 1869 Referendum undInitiative eingeführt worden waren, wurde 1875 die gesamteVerfassung revidiert. Inzwischen war der Konflikt der BaselerDiözesanstände gegen den in S. residierenden BischofLachat ausgebrochen, in welchem S. sich der Mehrheit anschloßund den Bischof nötigte, nach seiner Entsetzung seineAmtswohnung zu räumen. Zugleich strengte die Regierung namensder Stände einen Aufsehen erregenden Prozeß gegen Lachatwegen stiftungswidriger Verwendung von bedeutenden Legaten an, der1877 vom Obergericht zu ihren gunsten entschieden wurde. Eine Folgedieses Konflikts war die Aufhebung einer Anzahl kirchlicherStiftungen, deren ca. 4 Mill. betragendes Vermögen zu Schul-u. Krankenfonds verwendet wurde (18. Sept. 1874). Auch fand daschristkatholische Bistum staatliche Anerkennung in S., dochvermieden sowohl die Regierung als die römisch-katholischeGeistlichkeit einen offenen Bruch, und die letztere unterwarf sichauch 1879 der in der Verfassung vorgesehenen periodischenWiederwahl durch die Gemeinden. 1885 wurde der Friede mit der Kuriedurch Wiedererrichtung des Bistums Basel und des Domkapitels in S.hergestellt, wo der neue Bischof Fiala seinen Sitz nahm. Da dieRegierung sich durch Beteiligung mehrerer ihrer Mitglieder an einemBankschwindel bloßstellte, trat sie 1887 zurück, und dasVolk beschloß 23. Okt. d. J. eine neue, rein demokratischeVerfassung. Vgl. Strohmeier, Der Kanton S. historisch,geographisch, statistisch (St. Gallen 1836); Fiala, Geschichtlichesüber die Schule von S. (das. 1875-1879, 4 Tle.); Amiet, S. imBunde der Eidgenossen (Soloth. 1881).

Solotnik, Gewicht in Rußland, = 1/96 Pfund = 96Doli = 4,265 g.

Solotonoscha, Kreisstadt im russ. Gouvernement Poltawa,am Flusse S., der dem Dnjepr zuströmt, mit 9 Kirchen,Mädchenprogymnasium und (1885) 8417 Einw., die sich meist mitLandwirtschaft beschäftigen. S. kam 1654 an Rußland.

Solotschow, Stadt im russ. Gouvernement Charkow, an derUda, mit (1885) 6584 Einw., die sich mit Garten- und Ackerbau,Schuhmacherei, Kürschnerei und Viehhandelbeschäftigen.

Solowezk (Ssolowezk), russ. Inselgruppe im WeißenMeer, im Eingang zum Onegabusen gelegen, zum Teil mit Tundren undGestrüppe bedeckt, zum Teil mit Birken und Kiefern bewachsen.Auf der Hauptinsel liegt das reiche Solowjezkische Kloster, einberühmter, jährlich von ca. 8000 Pilgern besuchterWallfahrtsort, seit 1429 bestehend und aus Anlaß derhäufigen Überfälle von seiten der Schweden mitbetürmten Granitmauern umgeben. Die Mönche betreibenThransiederei und in dem an den Ufern schon sehr tiefen MeerHerings-, Hausen- und Lachsfanng (vgl. die vortrefflicheSchilderung von Dixon in "New Russia").

Solowjew, 1) Sergei Michailowitsch, russ.Geschichtschreiber, geb. 5. Mai 1820 zu Moskau, studierte daselbstund brachte als Hauslehrer bei dem Grafen Stroganow die Jahre1842-44 im Ausland, meist in Paris, zu. Nachdem er mit einerSchrift: "Über die Beziehungen Nowgorods zu denGroßfürsten", die Magisterwürde und mit einerandern: "Die Geschichte der Beziehungen zwischen den Fürstendes Rurikschen Geschlechts", den Doktorgrad erlangt hatte, hielt erVorlesungen über Geschichte an der Moskauer Universität,ward 1855 Dekan der philosophischen Fakultät und 1871 Rektorder Universität Moskau. Daneben unterrichtete er dieGroßfürsten in Petersburg in der Geschichte und versahdas Amt eines Direktors der Antiquitätensammlung im Kreml. Alsder Unterrichtsminister Tolstoi das freisinnigeUniversitätsstatut abschaffen wollte, geriet S. in Streit mitden Behörden und forderte 1877 seine Entlassung, die er aucherhielt. Er starb 4. Okt. 1879 in Moskau. Außer zahlreichenAufsätzen über Geschichtswissenschaft und russischeGeschichte in periodischen Zeitschriften schrieb S.: "HistorischeBriefe" (1858-59); "Schlözer und die antihistorischeRichtung"; "Die Geschichte des Falles von Polen" (1863; deutsch vonSpörer, Gotha 1865); "Kaiser Alexander I., Politik undDiplomatie" (1877); "Lehrbuch der russischen Geschichte" (7. Aufl.1879); "Populäre Vorlesungen über russische Geschichte"(1874); "Kursus der neuen Geschichte" ; "Politisch-diplomatischeGeschichte Alexanders I." (1877) u. a. Sein Hauptwerk ist die"Russische Geschichte von den ältesten Zeiten" (1851-80, Bd.1-29, bis 1774 reichend).

2) Alexander Konstantinowitsch, russ. Revolutionär, geb.1846, ward Lehrer, dann Amtsschreiber, ging 1878 nach Petersburg,trat hier der nihilistischen Verschwörung bei und unternahm14. April 1879 ein Attentat auf Kaiser Alexander II., indem erfünf Revolverschüsse auf ihn abfeuerte, ohne ihn zuverletzen; S. ward 10. Juni d. J. gehenkt.

Solözismus (griech.), Sprachfehler, besonders einauf die Konstruktion des Satzes bezüglicher. Die Altenleiteten das Wort von dem Namen der athenischen Kolonie Soloi inKilikien ab, deren Einwohner ihren Heimatsdialekt rasch vergessenund sich durch fehlerhafte Sprechweise ausgezeichnet habensollen.

Solpuga, Walzenspinne.

Solquellen, s. Salz (S. 237) und Mineralwässer.

Solsalz, aus Salzlösungen gewonnenes Kochsalz imGegensatz zum Steinsalz.

Solsona (das alte Setelsis), Bezirksstadt in der span.Provinz Lerida, hat 2 Kastelle, eine Kathedrale,Quincailleriefabriken, Baumwoll- und Leinweberei und (1878) 2413Einw.

Solspindel, s. Gradierwage.

Solstitium (lat., "Sonnenstillstand"), s. Sonnenwenden;solstitial, die Solstitien betreffend.

Solt, Markt im ungar. Komitat Pest mit (1881) 5692ungarischen und serbischen Einwohnern.

Solta, österreich. Insel im Adriatischen Meer,südlich von Spalato, 56 qkm groß, ist fruchtbar, hatmehrere Häfen, eine Landwirtschaftsgesellschaft und in sechsOrtschaften (1880) 2556 Einw.

Soltau, Kreisstadt im preuß. RegierungsbezirkLüneburg, an der Linie Stendal-Langwedel der PreußischenStaatsbahn, hat eine evang. Kirche, ein Amtsgericht, Filz-,Teppich-, Faßkräne- und bedeutendeFruchtweinfabrikation, Honig- und Bettfedernhandel und (1885) 2827Einw. S., schon 937 genannt, ist durch die Schlacht vom 28. Juni1519 (beim Dorf Langeloh) in der Hildesheimer Stiftsfehdebekannt.

Soltikow (Ssaltykow), russ. Adelsgeschlecht, welches aufdie Zeiten Alexander Newskijs zurückreicht und unter seinenGliedern viele Bojaren zählt. Praskowja Fedorowna S. ward dieGemahlin des Zaren Iwan Alexejewitsch (gest. 1696) und dadurchMutter der Kaiserin Anna. Der General Se-

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Soltyk - Somal.

men S., Gouverneur von Moskau, ward durch diese 1732 in denrussischen Grafenstand erhoben. Dessen Sohn, Graf Petersem*nowitsch S., geb. 1700, führte im SiebenjährigenKrieg seit 1759 den Oberbefehl über die russische Armee, trug23. Juli 1759 bei Kai einen Sieg über den preußischenGeneral Wedel davon und gewann 12. Aug., nachdem er sich mit demösterreichischen General Laudon vereinigt hatte, denentscheidenden Sieg bei Kunersdorf über den KönigFriedrich II. selbst. Dafür mit der Feldmarschallswürdebelohnt, ward er später Generalgouverneur in Moskau und starb15. Dez. 1772. Nikolai Iwanowitsch S., geb. 24. Okt. 1736, wurde1783 Erzieher des nachmaligen Kaisers Alexander I. und desGroßfürsten Konstantin, 1796 Feldmarschall undPräsident des Kriegskollegiums, 1812 Präsident desReichsrats und 1813-15 Vorsitzender des Ministerkomitees. 1814 inden Fürstenstand erhoben, starb er 28. Mai 1816 in Petersburg.Sein ältester Sohn, Fürst Alexander S., war kurze ZeitMinister des Äußern und starb 1837. Dessen Neffe,Fürst Alexei S., machte sich durch seine Reisen in Persien1838 und Ostindien 1841-46 bekannt, die er in "Voyages dans l'Inde"(3. Aufl., Par. 1858) und "Voyage en Perse" (das. 1851)beschrieb.

Soltyk, Roman, poln. General, geb. 1791 zu Warschau, Sohndes Reichstagsmarschalls Stanislaus S. und der Prinzessin KarolineSapieha, besuchte die polytechnische Schule in Paris, trat 1807 alsLeutnant in die Fußartillerie des damaligenGroßherzogtums Warschau und machte 1809 den Feldzug gegenÖsterreich mit. 1812 als Adjutant des Generals Sokolnicki inden Generalstab Napoleons I. berufen, befehligte er in der Schlachtbei Leipzig die Sachsen und geriet durch deren Übergang in dieGefangenschaft der Alliierten. Wieder frei, verließ er denMilitärdienst und eröffnete in Warschau ein Eisenmagazin.Seit 1822 beteiligte er sich an den geheimen politischenGesellschaften. Nach dem Ausbruch der Revolution vom 29. Nov. 1830begab er sich nach Warschau, ward Generalkommandant der vier aufdem rechten Weichselufer liegenden Woiwodschaften, organisiertehier 47,000 Mann mobiler Nationalgarden und beantragte auf demReichstag die Absetzung des Kaisers Nikolaus und die Erklärungder Souveränität des Volkes (21. Jan. 1831). Währendder Belagerung Warschaus durch die Russen Befehlshaber derArtillerie in der Stadt, widersetzte er sich aufs eifrigste derKapitulation Krukowieckis und hielt stand bis zum letztenAugenblick, ging dann mit der Armee nach Plozk und übernahmeine Sendung nach England und Frankreich, um dort eine Vermittelungdieser Mächte für Polen nachzusuchen. Er starb am 22.Okt. 1843 in St. Germain en Laye. Im Exil schrieb er den"Précis historique, politique et militaire de larévolution du 29 novembre" (Par. 1833, 2 Bde.; deutschbearbeitet von Elsner, Stuttg. 1834) und "Napoléon en 1812"(Par. 1836; deutsch, Wesel 1837).

Soluntum (Solus), im Altertum befestigte Stadt aufSizilien, östlich von Palermo, phönikischen Ursprungs,zur Zeit des Dionys (397 v. Chr.) mit den Karthagern verbündetund im ersten Punischen Krieg erst nach dem Fall von Panormos zuRom übergehend, wahrscheinlich durch die Sarazenenzerstört; jetzt Ruinen Solanto. Seit 1826 (ingrößerm Maßstab seit 1863) werden hier, ½Stunde Gehens von der Station Santa Flavia, Ausgrabungenvorgenommen, durch welche bereits die meisten Straßen derStadt, viele Mosaikböden und mancherlei Skulpturen freigelegtworden sind.

Solution (lat.), Lösung; solubel, löslich.

Solutivum (neulat.), Auflösungsmittel.

Solutum (lat.), Zahlung.

Solvabel (lat.), auflösbar; solvieren, lösen,seiner Verbindlichkeit nachkommen; solvent, zahlungsfähig(daher insolvent, zahlungsunfähig); Solvenz,Zahlungsfähigkeit, im Gegensatz zu Insolvenz (s. d.).

Solventia (lat.), lösende Mittel, Expektoranzien,welche eine Lösung des zähen Schleims bewirken, denAuswurf befördern.

Solway Firth (spr. ssóllwe), Golf des IrischenMeers, zwischen England und Schottland, schneidet innordöstlicher Richtung 56 km tief in das Land ein undenthält viele Lachse und Heringe. Während der Ebbe kannder obere Teil des S. fast trocknen Fußes durchkreuzt werden,die Flut steigt aber rasch und mit großer Heftigkeit. In ihnmünden die Flüsse co*cker, Eden, Esk, Annan und Nith. Seinoberes Ende überspannt ein Eisenbahnviadukt.

Solwytschegodsk (Ssolwytschegodsk), Kreisstadt im russ.Gouvernement Wologda, an der Wytschegda, mit (1885) 1313 Einw.

Solzy (Ssolzy), Flecken im russ. Gouvernement Pskow,Kreis Porchow, am Schelonj, mit (1885) 5903 Einw., welche lebhaftenFlachshandel nach Petersburg treiben.

Soma (griech.), Leib, Körper.

Soma (ital.), in der Lombardei s. v. w. Hektoliter.

Soma, in den Hymnen des Weda (s. d.) ursprünglichder berauschende, mit Milch und Mehl gemischte und einige Zeit derGärung überlassene Saft einer Pflanze, der einebegeisternde und heilende Wirkung auf Menschen und Götterübt; besonders häufig wird der berauschende Einflußdes Trankes auf den Gott Indra geschildert. Als die betreffendePflanze gilt heute eine Sarcostemma-Art (Asclepias acida), dieindes in südlichern Strecken wächst, als die Wohnsitzedes wedischen Volkes gelegen waren, so daß wahrscheinlich mitden Sitzen auch die Pflanze gewechselt hat. Die begeisternde Machtdes Trankes führte bereits in indo-iranischer Zeit dazu, denSaft als Gott S. zu personifizieren und ihm fast alle Thaten andrerGötter zuzuschreiben. Bei den Ostiraniern steht dem Somakultder ganz analoge Haomakult zur Seite. Vgl. Windischmann, Überden Somakultus der Arier (Münch. 1847); Muir, OriginalSanskrit texts (Bd. 2, S. 469 ff., und Bd. 5, S. 258 ff.); Haug,Essays on the sacred language etc. of the Parsis (2. Ausg., Lond.1878, S. 282 ff.); Hovelacqe, L'Avesta (Par. 1880, S. 272 ff.).

Somain (spr. ssomäng), Stadt im franz. DepartementNord, Arrondissem*nt Douai, Knotenpunkt der Eisenbahnlinienzwischen Douai und Valenciennes, mit bedeutenden Steinkohlengrubenund darauf gegründeter Industrie in Zucker, Leinwand, Glas,Chemikalien und 1881) 4782 Einw.

Somal (Singular Somali), ein den Hamiten und zwar deräthiopischen Familie derselben zugerechneter großerVolksstamm, welcher das ganze östliche Horn Afrikasöstlich von den Galla und südlich von den Danakilüber den Dschubbfluß hinaus bis gegen den Tana bewohnt.Sie zerfallen in drei voneinander unabhängige Stämme: dieAdschi von Tadschura am Golf von Aden bis Kap Gardafui, die Hawijahan der Küste des Indischen Ozeans bis zur Stadt Obbia und dieRahanwin im W. der Hawijah zwischen Dschubb und Webbi (s. Tafel"Afrikanische Völker", Fig. 29 u. 30). Die ethnographischeStellung der S. ist noch keine sichere; sie scheinen ein Mischvolkzu sein, bei dem nach den physischen Eigenschaften

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Somateria - Somerset.

einmal der nordostafrikanische Typus durchschlägt, dannaber wieder eine Annäherung an das Semitische sich kundgibt.Unzweifelhaft sind sie Verwandte der Abessinier und Galla. Alsfanatische Mohammedaner rühmen sie sich ihrer Herkunft ausArabien. Bemerkenswert ist die von Revoil bei Somalweibernhäufiger beobachtete Steatopygie (s. d.). Das Haarläßt man lang wachsen, beizt es mit Kalk rötlich;im Innern werden Perücken aus Schaffell getragen. Die Zahl derS. (zu 5 Mill. geschätzt) ist nicht bekannt, da in deneigentlichen Kern ihres Landes bis jetzt nur der Brite L. Jamesnebst Genossen eingedrungen ist. Die Sprache der S. gehört zudem äthiopischen (südlichen) Zweig des hamitischenSprachstammes (dargestellt von Prätorius in der "Zeitschriftder Deutschen Morgenländischen Gesellschaft", Bd. 24, 1870;auch von Hunter: "Somal-Grammatik", Bombay 1880). Eine Schriftbesitzen die S. nicht. Der Charakter des Volkes ist nach derLebensweise verschieden. Die beduinischen S. sind leidenschaftlich,verräterisch und grausam, der Wert eines Mannes wird bei ihnennach der Zahl seiner Mordthaten bemessen. Dagegen zeigen dieBewohner der größern Ortschaften eineverhältnismäßig nicht unbedeutende Bildung. Alleaber sind stolz und freiheitliebend u. im allgemeinen Feinde derFremden. Sie leben meist in Monogamie, Sklaven sind nichthäufig. Die Kinder beiderlei Geschlechts werden beschnitten,die Mädchen bis zur Verheiratung vernäht. Bei derVerheiratung wählt das Mädchen den Mann, letzterermuß aber den Schwiegervater für dasselbe bezahlen. Aufdie Frauen fällt die ganze Arbeitslast. Als Kleidung dientenfrüher Felle, jetzt ein der abessinischen Schamaähnliches Baumwollentuch, auch tragen die Frauen Beinkleider,Sandalen sind häufig in Gebrauch. Als Waffen dienen Lanzen,runde Schilde, Messer, im Süden auch Schwerter, ferner Bogenund vergiftete Pfeile. Die Wohnungen werden in den Städten ausSteinen und Lehmziegeln, sonst aus Fachwerk und Strohmattenerrichtet; die nomadisierenden S. haben leicht abtragbare,zeltähnliche Hütten. Die Nahrung besteht im Fleisch ihrerHerden, in Sorghum, Mais, Milch, Butter sowie eingeführtenDatteln und Reis. Spirituosen und Schweinefleisch sind verboten.Als Haustiere werden Kamele, Rinder (Zebu), Schafe, Ziegen, Pferde,Esel gehalten. Gelegentlich jagt man Elefanten, Nashorn,Büffel, Antilopen, Strauße. Den Toten zollt man vielVerehrung. Die Stämme stehen unter Häuptlingen, die aberwenig Macht haben. Die Gesellschaft zerfällt in drei Klassen:die Saladin, die Reichen und Würdenträger; die Barkeleoder Beduinen und die Mödgan, letztere sind die Eisenarbeiterund werden als Zauberer scheel angesehen. Eine Art Hörige sinddie Tomal, welche als Hirten, Kamelreiter u. a. dienen; eine ArtZigeuner, verachtet, aber wegen ihrer Zaubereien gefürchtet,sind die Jibbir. Bei allen hat die Blutrache Geltung. Das Somal-oder Somaliland besteht aus einem schmalen, sandigenKüstenstreifen, der an der Nordseite mehrere Häfen(Zeila, Bulhar, Berbera, Las Gori, sämtlich in englischemBesitz, ferner am Osthorn Bender Felek, Ras Felek) hat,während die Ostküste ganz ohne Häfen verläuftbis zu den im Besitz von Sansibar befindlichen: Warscheich,Mogduschu, Merka, Barawa, Kismaju. Das Innere ist eine weite, voneinzelnen Höhenrücken unterbrochene Hochfläche, diezum Teil aus großen wüsten Strichen mit hartem Bodenbesteht. Die Wasserläufe, die das Land durchziehen, sind dengrößten Teil des Jahrs trocken, nur der Dschubbführt das ganze Jahr hindurch Wasser und ist auch einebeträchtliche Strecke aufwärts bis Bardera, wo v. d.Decken ermordet wurde, schiffbar; der nächstbedeutende Webierreicht die See nicht. Auf dem Hochland sind der Tug Dehr und TugFaf ihrer fruchtbaren Thalmulden wegen zu bemerken. Die hoheTemperatur des Küstenstrichs wird durch heftige Seewinde sehrgemildert; auf dem Hochland bilden 8° C. das Temperaturminimumund 32° C. das Maximum. Mimosen, Calotropis procera, Euphorbienund Koloquinten charakterisieren die Vegetation des Tieflandes,während im Hochland Weihrauchbäume, alle Gummisorten,Leuchtereuphorbien, im Webigebiet auch der Affenbrotbaum gedeihen.Die Fauna bietet Wanderheuschrecken, giftige große Ameisen,viele Bienen, Flußpferde und Krokodile, Strauße, alleafrikanischen Katzen, große Antilopenherden, das Zebra undden Wildesel. Vgl. Haggenmacher, Reise im Somaliland (Gotha 1876);Révoil, La vallée du Darror. Voyage au paysÇomalis (Par. 1882); Derselbe, Faune et flore des paysÇomalis (das. 1882); Paulitschke, Beiträge zurEthnographie und Anthropologie der S., Galla und Harari (Leipz.1886); James, The unknown horn of Africa (Lond. 1888).

Somateria, Eiderente.

Somátisch (griech.), körperlich.

Somatologie (griech.), die Lehre vom menschlichenKörper, also besonders Anatomie.

Sombreréte, Bergstadt im mexikan. Staat Zacatecas,2369 m ü. M., an der Eisenbahn von Zacatecas nach Durango,1570 gegründet, hat eine höhere Schule und (1882) 5173Einw.

Sombrerit, ein jüngst gebildeter, an Korallenreicher Kalk, der durch überlagernden Guano teilweisemetamorphosiert worden ist und neben kohlensaurem Kalk und Thon75-90 Proz. phosphorsauren Kalk enthält. Er findet sich aufder Insel Sombrero. Die Amerikaner beuteten 1856 den S. aus undbrachten ihn als Dungmittel in den Handel, doch scheint das Lagerrasch erschöpft worden zu sein. Vgl. Guano.

Sombrero ("Hutinsel"), eine der Kleinen Antillen, 5 qkmgroß, zwischen den Jungferninseln und Anguilla gelegen, istein Kalksteinfels, der schroff aus dem Meer aufsteigt, einenLeuchtturm trägt, fast ohne Vegetation ist, aber seinerKalkbrüche halber doch einigen Wert besitzt; eine Zeit langlieferte die Insel den Sombrerit.

Sombreros (span.), breitrandige, leichte und dauerhafteHüte, aus Palmblättern gefertigt (s. Sabal).

Somerset (spr. ssommersset), 1) Grafschaft imsüdwestlichen England, grenzt nordwestlich an denBristolkanal, wird zu Lande von den Grafschaften Gloucester, Wilts,Dorset und Devon umschlossen und umfaßt 4248 qkm (77,1 QM.)mit (1881) 469,109 Einw. Die Küste ist großenteils steilund unzugänglich, hat aber teilweise auch schöne Buchtenmit niedrigem Landsaum; die bedeutendste derselben ist dieBridgewaterbai. Im N. und W. ist die Grafschaft gebirgig und vonlangen, jäh abfallenden Hügelketten (Mendip, Blackdownund Quantock Hills) durchschnitten; an der Westgrenze gegen Devonzu erhebt sich das Bergland Exmoorforest (509 m). Die bedeutendernFlüsse sind: der Avon, welcher zum Teil die Nordgrenze bildet,der Ex, Yeo, Axe, Brue und Parret. Der Boden ist teils steinig,teils Heide, teils Marsch- und Moorland, im allgemeinen aberfruchtbar, und namentlich ist die Thalebene von Taunton einer derreichsten Bezirke von England. Das Klima ist gemäßigt.Von der Oberfläche sind 22,1 Proz. unter dem Pflug, 60,5 Proz.bestehen aus Weideland; 1888 zählte man 34,701 Ackerpferde,217,728 Rinder 557,857 Schafe, 123,901 Schweine. Der Bergbau

Die Sonne.

Fig. 1. Die Sonne (photographiert von Rutherford).

Fig. 2. Sonnenflecke, beobachtet vom 10.-22. Mai 1868.

Fig. 4. Protuberanzen, beobachtet von Zöllner 1869.

Fig. 3. Totale Sonnenfinsternis am 18. Juni 1860, nachRümker, I-VI sind Koronastrahlen.

Fig. 5. Protuberanzen, beobachtet von Zöllner 1869.

Fig. 6. Protuberanzen, beobachtet von Secchi 1871.

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Somerset (engl. Adelstitel).

liefert Steinkohlen, Eisen und Blei. Die Industrie erstrecktsich auf die Herstellung von Tuch, Seide, Spitzen, Handschuhen,Eisen und Stahl, Maschinen etc. Hauptstadt ist Taunton, diegrößte Stadt aber Bath. -

2) Die nördlichste Niederlassung der britisch-austral.Kolonie Queensland auf der Kap-York-Halbinsel, mit sichermZufluchtshafen. Das früher hier bestehendeRegierungsetablissem*nt wurde nach der Thursdayinsel und die hier1872 errichtete Hauptstation der Londoner Missionsgesellschaft nachder Murrayinsel (Neuguinea) verlegt.

Somerset (spr. ssómmersset) , engl. Adelstitel.1397 erhielt das von den Plantagenets abstammende ältere HausBeaufort den Grafentitel und 1443 den Herzogstitel von S. Dies Hausstarb mit Edmund, dem vierten Herzog von S., der nach der Schlachtbei Tewkesbury auf Eduards IV. Befehl enthauptet wurde, aus. Einnatürlicher Sohn des dritten Herzogs Henry von S. nahm denFamiliennamen S. an, und dessen Nachkommen sind 1514 Grafen, 1642Marquis von Worcester, 1682 aber wieder Herzöge von Beaufortgeworden, so daß die jüngern Söhne diesesHerzogshauses Lords S. heißen. Unter ihnen ist hervorzuhebenLord Granville Charles Henry S., geb. 27. Dez. 1792, unterLiverpool Lord des Schatzes, unter Peel Domänenminister und1841 Kanzler des Herzogtums Lancaster, gest. 23. Febr. 1848. DessenOheim war Fitzroy James Henry S., später Lord Raglan (s. d.).Den Titel Graf S. führte im 17. Jahrh. Robert Carr, Viscountvon Rochester, Graf von S., geb. 1590. Derselbe stammte aus einerschottischen Adelsfamilie, kam als Page an den Hof Jakobs I.,gewann durch seine Schönheit dessen Gunst, ward von ihm 3.Nov. 1611 zum Viscount von Rochester erhoben und erhieltgroßen Einfluß auf die britische Regierung. 1613vermählte er sich mit Frances Howard, Gräfin von Essex,deren Ehe mit dem Grafen von Essex zu diesem Zweck getrennt werdenmußte. Einen Gegner dieser Verbindung, Sir Thomas Overbury,ließ der mächtige Günstling im Tower vergiften,ward aber später durch George Villiers, nachmaligen Herzog vonBuckingham, aus des Königs Gunst verdrängt und samtseiner Gemahlin als Mörder Overburys zum Tod verurteilt.Nachdem beide mehrere Jahre im Gefängnis gesessen, woselbst S.mit der Enthüllung von Geheimnissen drohte, die den Königkompromittieren würden, erhielten sie die Freiheit und lebtenseitdem in stiller Zurückgezogenheit. S. starb im Juli 1645.Aus der Ehe seiner einzigen Tochter mit dem Herzog von Bedfordentsprang der unter Karl II. hingerichtete Lord William Russell (s.d. 1). Schon im 16. Jahrh. war der Herzogstitel von S. an dieFamilie Seymour (s. d.) gekommen. Der erste Herzog war EdwardSeymour. Derselbe erhielt bei der Vermählung Heinrichs VIII.mit seiner Schwester Jane S. 1536 den Titel eines Viscount vonBeauchamp, wurde 1537 zum Grafen von Hertford ernannt, kämpfte1544 in Schottland, verwüstete Leith und Edinburg und folgtedarauf dem König nach Frankreich, wo er Boulogne erobern half.1547 ernannte ihn Heinrich VIII. zu einem der Geheimräte, diewährend der Minderjährigkeit des jungen Eduard VI.,seines Neffen, die Regierung führen sollten. Gleich in denersten Sitzungen des Geheimen Rats nach Heinrichs Tod ließsich aber Hertford zum Protektor des Königreichs und zumHerzog von S. erheben und zugleich durch ein Patent des jungenKönigs die volle Regierungsgewalt übertragen. S. benutzteseine Macht zuvörderst, um unter Cranmers Leitung dieKirchenreformation durchzuführen. Dann unternahm er im August1547 einen abermaligen Feldzug nach Schottland und brachte denSchotten 10. Sept. die Niederlage bei Pinkey bei. Nach seinerRückkehr ließ er vom Parlament alle blutigen GesetzeHeinrichs VIII. aufheben. Gleichwohl bildete sich allmählicheine Partei gegen ihn, an deren Spitze die Grafen Southampton undJohn Dudley, Graf von Warwick, später Herzog vonNorthumberland, standen. Diesen Gegnern gelang es infolge desMißvergnügens über des Protektors kirchlicheReformen und den Krieg mit Frankreich, in welchen sein schottischerFeldzug die Nation verwickelte, den Herzog zu stürzen: derGeheime Rat entschied sich gegen ihn, und S. wurde gefangengesetzt. Im November 1549 ward seine Sache vor das Parlamentgebracht, doch verurteilte ihn dieses bloß zu einerGeldstrafe. Darauf trat S. wieder in den Rat ein; aber seine alteMacht erlangte er nicht wieder, und seine Zerwürfnisse mitWarwick dauerten trotz einer zwischen beiden geschlossenenFamilienverbindung fort. Nachdem sich Warwick des Königsbemächtigt und die Staatsgewalt an sich gerissen, ließer S. 16. Okt. 1551 verhaften und beschuldigte denselben, ihm nachdem Leben getrachtet und verräterische Anschläge auf dieStaatsgewalt gemacht zu haben. Von der Anklage des Verratsfreigesprochen, aber wegen Felonie verurteilt, da er einen Vasallendes Königs habe ermorden wollen, ward S. 22. Jan. 1552 aufTower Hill enthauptet. Der Titel Herzog von S. erlosch darauf;seine übrigen Titel und Güter hatte S. auf seine Kinderzweiter Ehe übertragen lassen, nach deren Aussterben erst dieNachkommenschaft aus erster Ehe folgen sollte. Sein Enkel WilliamSeymour ging 1610 eine heimliche Ehe mit Lady Arabella Stuart,einer Verwandten König Jakobs I., ein und mußte deshalbins Ausland flüchten, während seine Gattin 1615 im Towerstarb. Gleichwohl bewies er sich nachmals als treuen Anhängerder königlichen Sache, ward 1640 zum Marquis von Hertforderhoben und 1660 nach Karls II. Restauration wieder mit dem Titeleines Herzogs von S. ausgestattet. Er starb 24. Okt. 1660. CharlesSeymour, siebenter Herzog von S., geb. 12. Aug. 1662, spielte unterKarl II., Wilhelm III., Anna und Georg I. als erster Peer desReichs eine hervorragende Rolle, trug durch seine Gemahlin, dieErbin der Percy, wesentlich zum Sturz Marlboroughs bei, wardLord-Oberkammerherr und starb 2. Dez. 1748. Da sein einziger Sohn,Algernon, achter Herzog von S., 7. Febr. 1750 ohne männlicheNachkommen starb, trat jene frühere Klausel in Kraft, und dieTitel des Herzogs von S. und Lord Seymour gingen auf Sir EdwardSeymour, einen Nachkommen des Protektors aus erster Ehe, über,welcher 15. Dez. 1757 starb. Dessen Urenkel Edward Adolphus, 12.Herzog von S., geb. 20. Dez. 1804, trat 1834 für Totneßins Parlament. Als eifriger Whig ward er 1835 zum Lord desSchatzes, 1839 zum Sekretär des indischen Amtes und 1841 aufeinige Zeit zum Unterstaatssekretär des Innern ernannt. Von1849 bis Februar 1852 war er Oberkommissar der Wälder undForsten, zog sich aber durch Willkürlichkeiten viele Gegner zuund wurde beim Wiedereintritt der Whigregierung 1855übergangen, dagegen 1859 in das Whigministerium unterPalmerston als erster Lord der Admiralität berufen, welchesAmt er bis 1866 verwaltete. Seitdem gehörte S. keinerRegierung mehr an und starb 28. Nov. 1885 in London. Ihm folgtesein Bruder Archibald (geb. 30. Dez. 1810) als 13. Herzog vonS.

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Somersinseln - Somme.

Somersinseln (spr. ssömmers), s. Bermudas.

Somerville (spr. ssömmerwill), Stadt imnordamerikan. Staat Massachusetts, dicht bei Cambridge undCharlestown, und Wohnstadt von Boston, hat ein Irrenhaus und (1885)29,992 Einw.

Somerville (spr. ssömmerwill), 1) William, engl.Dichter, geb. 1677 (nicht 1692) zu Edston in Warwickshire, kam 1690auf die Schule zu Winchester, wurde dann Fellow am New College zuOxford und lebte später als Friedensrichter auf dem von seinemVater ererbten Gut. Er starb am 19. Juli 1742. Sein Hauptwerk ist:"The chace" (1735, mit kritischem Essay von Aikin 1796; neue Ausg.1873), ein gefälliges didaktisch-deskriptives Gedicht inreimlosen Versen, in welchen die Sportsmen besonders dieSachkenntnis, die sich darin ausspricht, hervorheben. Seine "Works"erschienen zu London 1742, 1776 u. öfter.

2) Mary, engl. Schriftstellerin im Fach der Physik undAstronomie, Tochter des Vizeadmirals Sir William Fairfax, geb. 26.Dez. 1780 zu Jedburg in Roxburghshire, wurde in der Nähe vonEdinburg erzogen und heiratete den Kapitän Samuel Greig, dersie in den exakten Wissenschaften unterrichtete. Schon 1811 hattesie mehrere wissenschaftliche Probleme gelöst, 1826veröffentlichte sie eine Arbeit über die magnetisierendeKraft der Sonnenstrahlen; dann folgten unter dem Titel: "Mechanismof the heavens" (Lond. 1831) eine Einleitung in das Studium derAstronomie und "On the connexion of the physical sciences" (das.1851; 10. Aufl., das. 1877), ihr Hauptwerk, welches wegen seinerTiefe und Klarheit außerordentlichen Beifall fand. S. wurde1835 zum Mitglied der königlichen Gesellschaft derwissenschaften ernannt. Sie vermählte sich nach dem Tod ihresersten Gatten mit dem Arzt William S., mit dem sie in London lebte.1838 siedelte sie mit den Ihrigen nach Italien über, wo sie1860 von neuem Witwe ward und 29. Nov. 1872 in Neapel starb. Vonihren Werken sind noch die treffliche "Physical geography" (Lond.1848, 2 Bde.; 7. Aufl. 1877; deutsch, Leipz. 1852) und "On themolecular and microscopic science" (l869, 2 Bde.) zu erwähnen.Vgl. ihre "Personal recollections from early life to old age"(1873).

Somino (Ssomino), Flußhafen im russ. GouvernementNowgorod, Kreis Ustjuschna, an der Somina, ist ein bedeutenderStapelplatz, hauptsächlich für Getreide, Glas undMetalle, wo alljährlich gegen 4000 Flußfahrzeuge(Barken) ankommen und gegen 5000 abgehen.

Somma, 1) (S. Lombarda) Flecken in der ital. ProvinzMailand, Kreis Gallarate, an der Simplonstraße und derEisenbahn von Mailand nach Arona, mit altem Kastell und (1881) 3422Einw. Als Sehenswürdigkeit gilt eine uralte Cypresse von 28 mHöhe.

2) (S. Vesuviana) Flecken in der ital. Provinz Neapel, amnördlichen Abhang des Vesuvs, hat ein Schloß, Reste vonalten Stadtmauern, Weinbau und (1881) 4533 Einw. Hiernach ist auchder nördliche Gipfel des Vesuvs "S." benannt.

Somma-Campagna, Dorf bei Custozza (s. d.).

Sommatino, Stadt in der ital. Provinz Caltanissetta, 368m ü. M. auf einer Hochebene südlich von Caltanissettagelegen, mit Olivenkultur, Schwefelbergbau und (1881) 5375Einw.

Sommation (franz.), die vor dem Zwangseinschreitenerlassene Aufforderung oder gütliche Mahnung; diplomatisch s.v. w. Ultimatum.

Somme (spr. ssomm, im Altertum Samara), Fluß imnördlichen Frankreich, entspringt bei Font-S. unweitSt.-Quentin im Departement Aisne, fließt südwestlich,wendet sich dann nordwestlich, tritt in das Departement S. ein,wird bei Bray für kleinere, bei Amiens fürgrößere Fahrzeuge schiffbar und fällt nach einemLaufe von 245 km unterhalb St.-Valéry mit breitemMündungsbecken in den Kanal (La Manche). Der Sommekanalbegleitet einen großen Teil ihres Laufs; außerdem stehtdie S. noch durch den St.-Quentin-Kanal mit der Schelde und durchden Crozatkanal mit der Oise in Verbindung.

Das Departement Somme, gebildet aus den ehemals zur Picardiegehörigen Landschaften Santerre, Amiénais, Vimeux,Ponthieu, Vermandois und Marquenterre, grenzt nördlich an dasDepartement Pas de Calais, nordöstlich an das DepartementNord, östlich an Aisne, südlich an Oise, südwestlichan Niederseine, westlich an den Kanal (La Manche) und umfaßt6161 qkm (111,89 QM.). Das Departement gehört zu denfruchtbarsten des nördlichen Frankreich; es bildet eine weite,nur gegen die Küste hin sandige Ebene, die sich namentlich umden Sommebusen allmählich durch Anschwemmungen undEindeichungen vergrößert hat und nochvergrößert; nur im SO. ist das Land von einzelnenAusläufern der Ardennen durchzogen. Bewässert wird dasDepartement von der Authie, Maye, Somme mit ihren Nebenflüssenund der Bresle. Das Klima ist kühl und feucht, im allgemeinenaber gesund. Die Bevölkerung belief sich 1886 auf 548,982Einw. und hat seit 25 Jahren um 24,000 Seelen abgenommen. Von derOberfläche kamen 1882 auf Äcker und Gärten 499,714Hektar, Wiesen 21,596, Wälder 39,449, Heiden und Weiden 5553Hektar. Der hoch entwickelte Ackerbau liefert Getreide überden Bedarf (jährlich 7-8 Mill. hl), besonders: Weizen (2,8Mill. hl), Hafer (3,4 Mill. hl), Halbfrucht, Gerste und Roggen,Kartoffeln, viel Hülsenfrüchte, Gemüse, Hanf,Flachs, Raps, andere Ölpflanzen und Zuckerrüben. Sehrbedeutend ist ferner die Torfgewinnung (85,500 Ton.). GeringereAusdehnung hat die Viehzucht; doch ist die Zahl der Pferde (1882:77,590), der Schafe (423,948) und namentlich des Geflügels(1,8 Mill. Stück) immerhin ansehnlich. Einengrößern Holzbestand bildet nur der Wald von Crécyim NW. Die Industrie ist sehr lebhaft. Ihre vorzüglichstenZweige sind die Spinnerei und zwar in Wolle (125,000 Spindeln),Baumwolle (75,000 Spindeln), Flachs und Hanf (50,600 Spindeln) undSeide (18,000 Spindeln) nebst der Schafwollkämmerei undZwirnerei; außerdem die Weberei (3400 mechanische und 10,500Handstühle), insbesondere die Erzeugung von sogen. Articlesd'Amiens (Gewebe aus verschiedenen Stoffen), Tuch (besonders zuAbbeville), Baumwollsamt, Teppichen etc. Neben der Textilindustrieist besonders wichtig die Rübenzuckerfabrikation (69Etablissem*nts mit 6600 Arbeitern, Produktion 970,000 metr. Ztr.);ferner sind zu nennen die Eisengießerei, die Erzeugung vonSchlosserwaren und Maschinen, Seife, Kerzen, chemischen Produkten,Papier, Bier und Branntwein. Von geringerer Wichtigkeit dagegen istder Handel, namentlich der Seehandel, da es dem Departement anguten Häfen fehlt; er erstreckt sich auf die einheimischenAckerbau- und Industrieprodukte in der Ausfuhr, Wein, Holz, Kohlenetc. in der Einfuhr. Das Departement wird von der Nordbahn(Paris-Brüssel) durchschnitten, die hier von Amiens nachBeauvais, Rouen, Abbeville, St.-Valéry, Tréport,Boulogne und Doullens sowie nach Laon abzweigt. Es zerfällt infünf Arrondissem*nt Abbeville, Amiens, Doullens, Montdidierund Péronne. Hauptstadt ist Amiens.

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Sommer - Sommersprossen.

Sommer, die Jahreszeit zwischen Frühling und Herbst,astronomisch die Zeit vom längsten Tag bis zum darauffolgenden Äquinoktium. Auf der nördlichen Halbkugel derErde beginnt der S., wenn die Sonne den Wendekreis des Krebses unddamit ihre größte nördliche Abweichung vomÄquator erreicht hat (Sommersonnenwende, 21. oder 22. Juni),und endet, wenn die Sonne auf ihrem Rückgang wieder denÄquator erreicht hat (Herbstäquinoktium, 22. oder 23.Sept.). Der S. der südlichen Hemisphäre dagegenfällt auf unsern Winter und umfaßt den Zeitraum,während dessen die Sonne von ihrer größtensüdlichen Abweichung vom Äquator, also vom Wendekreis desSteinbocks (Wintersonnenwende, 21. oder 22. Dez.), wieder zumÄquator zurückkehrt (Frühlingsäquinoktium, 20.oder 21. März). Auf der nördlichen Halbkugel ist der S.um einige Tage länger als auf der südlichen, was davonherrührt, daß die Erde während unsersFrühlings und Sommers die von der Sonne entferntereHälfte ihrer Bahn durchläuft, in welcher, dem zweitenKeplerschen Gesetz zufolge, ihre Geschwindigkeit eine geringereist. Der höhere Stand der Sonne, der ein mehr senkrechtesAuftreffen der Strahlen bewirkt, sowie die längere Dauer desVerweilens der Sonne über dem Horizont bewirken, daßtrotz des größern Abstandes der Sonne unser S.wärmer ist als unser Winter; der Einfluß derverschiedenen Entfernung der Sonne ist in Bezug auf die durch siebewirkte Erwärmung nicht bedeutend und wird erst merklich beiVergleichung der S. beider Hemisphären. Infolge derstärkern Bestrahlung während des Sommers derSüdhalbkugel ist z. B. in Australien und Neuseelandwährend des Sommers der Wechsel, wenn man aus dem Schatten indie Sonne tritt, fühlbarer als bei uns. Im meteorologischenSinn rechnet man den S. bei uns vom 1. Juni bis 1. Sept., auf derSüdhalbkugel vom 1. Dez. bis 1. März. Diegrößte Sommerwärme tritt etwa einen Monat nach demlängsten Tag und zwar erst dann ein, wenn die Erwärmungdurch die Sonnenstrahlen gleich der Abkühlung durch dieWärmeausstrahlung geworden ist. Daher ist der Juli derwärmste Monat auf der nördlichen und der Januar auf dersüdlichen Halbkugel, und damit dieser wärmste Monat indie Mitte des Sommers fällt, ist die oben angegebeneBegrenzung desselben erforderlich. Vgl. Jahreszeiten.

Sommer, 1) Anton, thüring. Dialektdichter, geb. 11.Dez. 1816 zu Rudolstadt, studierte 1835-38 in Jena Theologie,übernahm 1847 die Leitung einer Töchterschule in seinerVaterstadt und daneben das Pfarramt zu Schaala und wurde 1864 zumGarnisonprediger in Rudolstadt ernannt, wo er, halb erblindet undseit 1881 Ehrenbürger, 1. Juni 1888 starb. Seinegemütvollen "Bilder und Klänge aus Rudolstadt inVolksmundart" (11. Aufl., Rudolst. 1886, 2 Bde.) haben vielenBeifall gefunden.

2) Otto, Pseudonym, s. Möller 3).

Sommercypresse, s. Chenopodium.

Sömmerda, Stadt im preuß. RegierungsbezirkErfurt, Kreis Weißensee, an der Unstrut, Knotenpunkt derLinie Sangerhausen-Erfurt der Preußischen Staatsbahn u. derEisenbahn Großheringen-Straußfurt, 160 m ü. M.,hat 2 evangelische und eine kath. Kirche, ein Amtsgericht, Gewehr-,Munitions-, Zündhütchen- und Eisenwarenfabrikation,Eisengießerei und (1885) 4795 meist evang. Einwohner. S. warGeburtsort und Wohnsitz von Dreyse (s. d.).

Sommerendivien, s. Lattich.

Sommerfäden, s. v. w. Alterweibersommer.

Sommerfeld, Stadt im preuß. RegierungsbezirkFrankfurt, Kreis Krossen, an der Lubis, Knotenpunkt der LinienBerlin-S., S.-Breslau und S.-Liegnitz der PreußischenStaatsbahn, 82 m ü. M., besteht aus der Stadt, 2Vorstädten (Schönfeld und Hinkau) und 3 Kolonien (Karras,Bornstadt und Klinge), hat 2 evang. Kirchen, ein Schloß, einRettungshaus, ein Amtsgericht, eine Reichsbanknebenstelle,bedeutende Tuchfabrikation, eine Hutfabrik, eine mechanischeBandweberei, 3 Dampffärbereien, 2 Maschinenbauanstalten, eineFlachsgarnspinnerei, Appretur- u. Karbonisieranstalten, Ziegeleien,eine Ofenfabrik, Dampfschneidemühlen, Bierbrauereien u. (1885)11,362 meist ev. Einw.

Sommerfrischen, die im Sommer zu benutzenden klimatischenKurorte (s. d.).

Sommergewächse, einjährige Pflanzen, s.Einjährig.

Sommerkatarrh (Catarrhus aestivus), s. Heufieber.

Sommerkleid, s. Vögel.

Sommerkönig, Vogel, s. Laubsänger undGoldhähnchen.

Sommerpappel, s. Lavatera.

Sommerpunkt, s. v. w. Sommersolstitium, s.Sonnenwenden.

Sömmerring, Samuel Thomas von, Mediziner, geb. 28.Jan. 1755 zu Thorn, studierte seit 1774 in Göttingen, ward1778 Professor der Anatomie in Kassel, 1784 in Mainz, praktizierteseit 1798 in Frankfurt a. M., wurde 1805 königlicher Leibarztin München, dann Geheimrat und in den Adelstand erhoben. 1820kehrte er nach Frankfurt zurück, wo er 2. März 1830starb. Seine Untersuchungen über Gehirn- und Nervensystem,über die Sinnesorgane, über den Embryo und seineMißbildungen, über den Bau der Lungen, über dieBrüche etc. stellen ihn in die Reihe der ersten deutschenAnatomen. Er konstruierte auch 1809 einen elektrischen Telegraphen,bei welchem die Zeichen durch galvanische Zersetzung von Wassergegeben werden sollten, arbeitete über die Veredelung desWeins, über die Zeichnungen, welche sich bei der Ätzungdes Meteoreisens auf demselben bilden, über die Sonnenfleckeetc. Er schrieb: "Vom Hirn- und Rückenmark" (Mainz 1788, 2.Aufl. 1792); "Vom Bau des menschlichen Körpers" (Frankf.1791-96, 6 Bde.; 2. Aufl. 1800; neue Aufl. von Bischoff, Henle u.a., Leipz. 1839-45, 8 Bde.); "De corporis humani fabrica" (Frankf.1794-1801, 6 Bde.); "De morbis vasorum absorbentium corporishumani" (das. 1795); "Tabula sceleti feminini" (das. 1798);"Abbildungen des menschlichen Auges" (das. 1801), "des menschlichenHörorgans" (das.1806), "des menschlichen Organs des Geschmacksund der Stimme" (das. 1806), "der menschlichen Organe des Geruchs"(1809). Sömmerrings Briefwechsel mit Georg Forster wurde vonHettner (Braunschw. 1878) herausgegeben. Vgl. R. Wagner,Sömmerrings Leben und Verkehr mit Zeitgenossen (Leipz.1844).

Sommerschlaf s. Winterschlaf.

Sommersolstitium, s. Sonnenwenden.

Sommersporen, s. Pilze, S. 66, und Rostpilze, S. 989.

Sommersprossen (Sommerflecke, Ephelides), kleine,rundliche, bräunliche Flecke, welche sich namentlich beiblonden und rothaarigen Menschen, unter der Einwirkung desSonnenlichts und der Sonnenwärme, der Feuchtigkeit und desWindes an den unbedeckten Stellen der Haut bilden. Die S. beruhenauf der Ablagerung eines bräunlichen Pigments in denoberflächlichen Hautschichten. Während des Win-

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Sommerthürchen - Son.

ters blassen sie ab oder verschwinden auch ganz. Durch Mittel,welche eine Abstoßung der Epidermis mit Einschluß ihrertiefern pigmenthaltigen Schichten bewirken, kann man die S.vertreiben; sie kehren aber nach wenigen Wochen wieder, wenn dieHaut von neuem den erwähnten Schädlichkeiten ausgesetztwird. Auf diese Weise wirken die Lilionese und Umschläge miteinprozentiger Lösung von Sublimat (Quecksilberchlorid,höchst giftig!). Man läßt diese Umschläge nureinige Stunden lang wirken und sorgt dafür, daß die mitder Sublimatlösung befeuchteten Leinwandläppchen keineFalten schlagen. Zeigt sich die Haut hiernach stärkerentzündet, so bedeckt man sie mit in Öl getränktenKompressen.

Sommerthürchen, Pflanze, s. Leucojum.

Sommertuch, s. Halbtuch.

Sommerwal, s. Finnfisch.

Sommerwurz, s. Orobranche.

Sommières (spr. ssommjähr), Stadt im franz.Departement Gard, Arrondissem*nt Nîmes, am Vidourle und ander Eisenbahnlinie Lunel-Le Vigan (mit Abzweigung nach Nimes undLes Mazes), hat ein altes Schloß, eine Brücke mit Turm,eine reformierte Konsistorialkirche, Fabrikation von Likör,Essenzen, Decken, Wollenstoffen, Hüten etc. und (1881) 3644Einw.

Sommitäten (franz.), die Höchsten,Vornehmsten.

Somnambulismus (lat.), im engern Sinn das "Umherwandelnim Schlaf", das Schlafwandeln; dann das habituell gewordene, demAnschein nach mit Überlegung vor sich gehende, in Wahrheitaber nur traumbewußte Verrichten von Handlungen währenddes Schlafs, das Schlafhandeln; gewöhnlich rechnet man zum S.auch diejenigen meist auf Selbsttäuschung oder Betrugberuhenden Fälle, in welchen gewisse Personen Dinge oderEreignisse wahrzunehmen glauben oder vorgeben, welche mittelsgesunder Sinne nicht wahrzunehmen sind (das Hellsehen,clairvoyance); endlich auch die Gesamtheit der noch vielfachproblematischen Erscheinungen des sogen. tierischen Magnetismus (s.Magnetische Kuren und Hypnotismus). Die beiden ersten Arten des S.,welche man gewöhnlich als Nachtwandeln bezeichnet,charakterisieren sich besonders dadurch, daß bei mangelndemklaren Bewußtsein Handlungen vorgenommen werden, welche denSchein der Willkürlichkeit und Zweckmäßigkeit ansich tragen. Das Nachtwandeln nimmt niemals einen tödlichenAusgang und stört den Fortgang der Körperentwickelungnicht auf eine erhebliche Weise. Beim Traum wie beim Nachtwandelnist das dämmernde Selbstbewußtsein der Mittelpunkt,worin sich die dunkeln und verworrenen Empfindungen der Sinne unddes Gemeingefühls, wenn nämlich solche noch zurWahrnehmung kommen, sammeln, während Reihen von Vorstellungenund Willensantrieben auftreten, welche zu den mannigfaltigsten,ihnen entsprechenden Bewegungen der Glieder sowie zu einemvöllig artikulierten und zusammenhängenden SprechenVeranlassung geben. Nur die höchsten Grade dieserErscheinungen kommen aber hier in Betracht, insofern bei ihnen diecharakteristischen Bedingungen des Schlafs nicht mehr vorhanden zusein scheinen. Dahin ist vor allem zu rechnen, daß dieNachtwandler ungeachtet der größten Anstrengung beimErklettern von Fenstern, Dächern etc. nicht erwachen, was dochder Fall sein würde, wenn bei ihnen, wie beimgewöhnlichen Schlaf, die Fähigkeit zur Empfindung undBewegung in gleichem Maß ab- und zunähme. Vielmehr gebensie bei äußerer ordentlicher Bethätigung ihresganzen Muskelsystems zuweilen eine so gänzlicheEmpfindungslosigkeit kund, daß weder das stärkste Licht,noch der Schall von lärmenden Instrumenten, noch dieschärfsten Gerüche, noch Verletzungen der Haut dengeringsten Eindruck auf sie machen. Auch haben die Reden desNachtwandlers nicht jenen Charakter der Zerfahrenheit und desUnzusammenhängenden wie die des Träumenden, sondern meistlogischen Zusammenhang und bewegen sich, wie seine Handlungen,größtenteils im Kreis früherer Erinnerungen. Nachdem bisherigen Stand unsers Wissens unerklärlich ist derangebliche, im Volksmund allgemein behauptete Einfluß desMondes auf die Nachtwandler, welcher zu der Bezeichnung Mondsucht(Lunatismus) Veranlassung gegeben hat. Die oft erzählten Sagenvon Mondsüchtigen, welche auf Bäume, Dächer undTürme gleichsam dem Mond entgegengeklettert seien etc., sindnoch zu wenig beglaubigt, als daß man sie unbedenklich geltenlassen könnte. Erwähnung verdient noch, daß dieNachtwandler ihre Bewegungen auch auf gefährlichen Wegen mitder größten Sicherheit ausführen sollen, wobei dasFreibleiben von Schwindel eine wirksame Unterstützunggewähren mag. Da das Nachtwandeln gewöhnlich einenvöllig konstitutionellen Zustand darstellt, welcher alssolcher das Individuum Jahrzehnte behaften kann, so läßtes sich höchstens durch kräftige diätetischeMaßregeln mit einigem Erfolg bekämpfen. Zu letzternwürden vor allem angemessene Körperanstrengungen, umeinen möglichst festen und tiefen Schlaf zu bewirken, undVermeidung aller das Nervensystem stärker aufregendenpsychischen und physischen Reize, z. B. allzu reichlicheAbendmahlzeiten, zu rechnen sein. Entschieden abzuraten ist von dengebräuchlichen Gewaltmitteln, wie z. B. den vor das Bettgestellten Wassergefäßen, Prügeln u. dgl.Jedenfalls hat man die Nachtwandler unter eine angemessene Aufsichtzu stellen, damit sie in ihren Paroxysmen weder sich noch andernSchaden zufügen können. Vgl. Magnetische Kuren.

Somnium (lat.), Traum.

Somnolénz (lat.), Schläfrigkeit,schlafsüchtiger Zustand, leichtester Grad vonBetäubtheit.

Somnus (lat.), Gott des Schlafs, s. Hypnos.

Somogy (spr. schómodj, Sümeg), Komitat inUngarn, am rechten Donauufer zwischen dem Plattensee und der Drau,hat 6531 qkm (118,6 QM.) Areal mit (1881) 307,448 meistungarischen, kath. Einwohnern. Es wird von zahlreichen kleinenFlüssen bewässert, ist sehr fruchtbar und im Südenan der Drau teilweise sumpfig; 1/3 des Gebiets bedeckt Wald. Sitzdes Komitats, das nach dem alten Schlosse Somogyvár benanntist und von der Donau-Draubahn, der LinieStuhlweißenburg-Kanizsa und der Fünfkirchen-Barcser Bahndurchschnitten wird, ist Kaposvár.

Somorrostro, kleiner Ort in der span. Provinz Viscaya,10km nordwestlich von Bilbao, berühmt wegen seiner reichenEisenminen.

Somosierra, Dorf in der span. Provinz Madrid, amSüdabhang des gleichnamigen Gebirges (Fortsetzung der Sierrade Guadarrama), historisch merkwürdig durch das siegreicheGefecht Napoleons I. gegen die Spanier 30. Nov. 1808.

Somvix ("Oberdorf", rätoroman. Sumvigel), Ort imschweizer. Kanton Graubünden, am Vorderrhein, 880 m ü. M.gelegen, zum Bezirk Vorderrhein gehörig, mit (1880) 1235 Einw.Gegenüber öffnet sich das alpine, vom Somvixer Rheindurchströmte Val S. in das Hauptthal; es bildet den Zugang zudem (nicht fahrbaren) Paß Greina.

Son (Sona), Fluß in Britisch-Indien, entspringt inZentralindien am Gebirgsstock des Amarkantak

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Sonate.

und fließt in nordöstlicher Richtung dem Ganges zu,den er oberhalb Patna nach einem Laufe von 748 km erreicht. ImUnterlauf ist er schiffbar und seit 1871 durch einen bei Dehrivollendeten Querdamm, wodurch fünf Kanäle gespeistwerden, zur künstlichen Überflutung seiner Ufereingerichtet.

Sonate (ital. sonata, suonata), ein in der Regel aus dreioder vier abgeschlossenen, aber durch innere Verwandtschaft untersich verbundenen Sätzen bestehendes Tonwerk von ganzbestimmter Form, zunächst für ein Soloinstrument,namentlich Klavier, Cello, Flöte, Violine, Orgel etc.,bestimmt, jedoch, als Duo, Trio, Quartett etc., auch auf mehrereInstrumente und, als Symphonie, sogar auf großes Orchesterübertragen. Der erste Satz ist der speziell für die S.charakteristische und sie von der Suite, Serenade etc.unterscheidende; seine Form ist die darum speziell so genannteSonatenform. Er beginnt entweder mit einer langsamen Einleitung(Grave, Largo) oder gleich mit dem Hauptthema (Hauptsatz) inbewegtem Tempo (Allegro), von welchem geschlossene, modulierende(nicht in allzufern liegende Tonarten ausschweifende) Gängezum zweiten Thema (Nebensatz, Seitensatz) überleiten, das zwarin gleichem Tempo, aber in längern Notenwerten, gesangartigergehalten ist. Steht der Hauptsatz in Dur, so pflegt der Seitensatzauf der Tonart der Dominante zu stehen; steht er in Moll, so kommtdie Parallel-Durtonart oder Durtonart der kleinen Sexte (z. B. beiA moll: F dur) oder auch eine verwandte Molltonart in Anwendung.Entweder schließt nun der erste Teil hiermit ab, oder esfolgt noch ein kleiner Schlußsatz, der zum ersten Themazurückführt. Die Repetition (Reprise) der den ersten Teildes Sonatensatzes konstituierenden Themata ist durchaus fürdie Form charakteristisch, und Abweichungen sind selten undbedeuten ein Zerbrechen der Form (Beethoven). Der nun folgendezweite Teil (Durchführungssatz) besteht ausschließlichin Verarbeitung des vorausgegangenen thematischen Materials (seltenbringt er noch ein selbständiges Thema) und leitet ohneWiederholung durch den sogen. Rückgang zum dritten Teilüber. Dieser bringt wieder das Hauptthema in der Haupttonart,führt jedoch diesmal (mit oder ohne Gang) den Seitensatz undetwanigen Schlußsatz gleichfalls in der Haupttonart odergleichnamigen Molltonart ein und beschließt entweder hiermitdas Tonstück, oder es folgt ihm noch ein besonderer Anhang(coda), der hier meistens etwas länger ausgeführt ist alsim ersten Teil. Bildungen wie die der ersten Sätze der sogen.Mondscheinsonate (Op. 27, Cis moll) oder der As dur-Sonate (Op. 26)von Beethoven haben mit diesem Schema nichts zu thun. BeidenSonaten fehlt der eigentliche erste Satz; sie beginnen mit demlangsamen, der in der Regel der zweite ist. Charakteristikum deszweiten Satzes ist die langsame Bewegung (nur ausnahmsweisevertauschen der langsame Satz und das gleich zu besprechendeScherzo ihren Platz). Seine Form kann eine sehr verschiedenartigesein. Ist er wie der erste mit zwei kontrastiernden Themataausgestattet, so ist das bewegtere das zweite; die Reprise undDurchführung fallen weg, dagegen erscheint gern das Hauptthemadreimal, meist mit immer gesteigerter Figuration. Oft begnügtsich der Tonsetzer mit der Liedform, d. h. der ThemataordnungI-II-I. Sehr beliebt ist auch die Variationenform für denzweiten Satz. Die Tonart des zweiten Satzes ist meist die derUnterdominante. Der dritte Satz bringt Menuett oder Scherzo,gewöhnlich wieder in der Haupt- oder doch in einer engverwandten Tonart. In ältern Sonaten fehlt Menuett oderScherzo gänzlich, so daß man gleich vom zweiten zumletzten Satz, dem Finale, gelangt. Dieser steht beidurchschnittlich schneller Bewegung immer in der Haupttonart,verwandelt sie aber nicht selten aus Moll in Dur. Seine Form istentweder die Sonatenform, in der Regel ohne Reprise, aber mitDurchführung, oder eine weit ausgesponnene Rondoform mit mehrals zwei meist kurzen Themata. In seltenen Fällen läufter in eine Fuge aus. Beethoven handhabt die Form sehr frei undbeschränkt sich manchmal auf nur zwei Sätze und zwarnicht nur in der kleinen S. (Sonatine), bei der das fast die Regelist, sondern auch in groß und ernst angelegten Werken (Op.53, 54, 78, 90, 101, 111).

Geschichte. Sonata ("Klingstück") ist ursprünglich, d.h. als die Anfänge einer selbständigen Instrumentalmusiksich entwickelten (gegen Ende des 15. Jahrh.), eine ganz allgemeineBezeichnung für Instrumentalstücke und der Gegensatz vonCantata ("Singstück"). Die ältesten Komponisten, welcheden Namen S. gebrauchten, waren Giovanni Croce (1580) und AndreaGabrieli, dessen "S. a 5 istromenti" (1586) leider nicht mehr zufinden sind. Dagegen sind uns einige Sonaten von seinem NeffenGiovanni Gabrieli erhalten (I597 und 1615). Diese ältestenSonaten sind Stücke für mehrere Instrumente (Violinen,Violen, Zinken und Posaunen), und ihr Schwerpunkt liegt in derEntfaltung harmonischer Fülle. Ihre praktische Bestimmung wardie, einem kirchlichen Gesangswerk als Einleitung vorausgeschicktzu werden, die S. tritt in der Folge (völlig gleichbedeutendmit Symphonia) als Einleitung der Kantate auf. Gegen Ende des 17.Jahrh. begann man die Sonata da chiesa (Kirchensonate) von derSonata da camera (Kammersonate) zu unterscheiden. Die letztereschied die Blasinstrumente aus und wurde schließlich diePrärogative der Violine (Biber, Corelli), ja die alte Art derfür die Kirche bestimmten S. wurde gleichfalls nach Art derKammersonate zugestutzt und nur, statt mit Cembalo, mit der Orgelbegleitet. Neben beiden bestand die vielstimmige, besonders mitBlasinstrumenten besetzte S. fort für Tafelmusik undähnliche weltliche Bestimmungen. Diese Sonaten, auch dieCorellischen und Biberschen, haben mit der neuern Sonatenform nochwenig mehr gemeinsam als die Zusammensetzung aus mehreren Teilenvon verschiedener Bewegungsart, welche bereits I. Gabrieli seinenletzten Sonaten gegeben hatte. Corelli schrieb sie viersätzig:Adagio, Allegro, Adagio, Allegro. Die Übertragung des NamensS. auf Klavierwerke ähnlicher Gestaltung ist das Werk JohannKuhnaus (s. d.). Die letzte Vollendung der Form der S., namentlichihres charakteristischen ersten Satzes, erfolgte durch DomenicoScarlatti, J. S. Bach, Philipp Emanuel Bach, Joseph Haydn, Mozartund Beethoven. Die Umbildung des Stils der S. ist nichts derselbenEigentümliches, sondern geht parallel mit der Entwickelung derInstrumentalmusik und insbesondere des Klavierstils überhaupt,welcher nach J. S. Bach allgemein, aber schon früher inziemlich ausgedehntem Maß eine freiere (hom*ophone) Setzweiseerfuhr. Die Form der S. wurde durch Haydn, Mozart und Beethoven aufdie Komposition für verschiedene Ensembles (Violine undKlavier, Klavier, Violine und Cello, Streichtrio, Streichquartettetc.) und für Orchester (Symphonie) übertragen. NachBeethoven haben die Form der S. mit besonderm Glück FranzSchubert, Mendelsohn, Rob. Schumann und in neuester Zeit JohannesBrahms, Joachim Raff, Anton Rubinstein, I. Rhein-

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Sonatine - Sonett.

berger und Robert Volkmann behandelt. Vgl. Marx,Kompositionslehre, Tl. 3 (5. Aufl., Leipz. 1868); Faißt,Beiträge zur Geschichte der Klaviersonate (in der"Cäcilia", Bd. 25 u. 26, Mainz 1847); Bagge, GeschichtlicheEntwickelung der S. (Leipz. 1880).

Sonatine, s. v. w. kleine Sonate, leichtverständlichund leicht zu spielen; der erste Satz der S. hat entweder keineoder nur eine sehr kurze Durchführung, die Zahl der Sätzeist meist 2 oder 3 (vgl. Sonate).

Soncino (spr. ssontschino), Dorf in der ital. ProvinzCremona, Kreis Crema, unweit des Oglio, hat ein altes Schloß,bekannt durch die Gefangenschaft und den Tod (1259) desStatthalters Ezzelino, Seidenbau und (1881) 3965 Einw.

Sond., bei botan. Namen Abkürzung für W.Sonder, Apotheker in Hamburg (Algen, Kapflora).

Sonde (Specillum), dünnes, rundes, 12-28 cm langesStäbchen, gewöhnlich aus Stahl oder Silber, an der Spitzeabgerundet oder mit einem Knöpfchen oder Öhr versehen,dient zur Untersuchung von Wunden, Geschwüren etc., zumEinbringen von Scharpie oder Fäden oder als Leitungswerkzeugfür schneidende Instrumente, in welchem Fall es der Längenach gefurcht oder gerinnt ist (Hohlsonde). Im Seewesen ist S. s.v. w. Senkblei.

Sonderbund, der Bund der sechs ultramontanen Kantone derSchweiz (1845), der 1847 den Sonderbundskrieg zur Folge hatte. S.Schweiz, S. 762.

Sonderburg, Kreisstadt in der preuß. ProvinzSchleswig-Holstein, auf der Insel Alsen und am Alsensund, überwelchen eine Schiffbrücke zum Festland führt, hat eineevang. Kirche, ein Schloß, ein Realprogymnasium, einAmtsgericht, Eisengießereien, Dampfmahlmühlen,Färbereien, ein Seebad, einen guten Hafen und (1885) mit derGarnison (ein Füsilierbataillon Nr. 86) 5266 fast nur evang.Einwohner. - S. war schon 1253 vorhanden, brannte 1864 währendder Belagerung der Düppeler Schanzen teilweise nieder und fiel29. Juni d. J. mit dem Übergang der Preußen nach Alsenin deren Hände. Die Festungswerke sind neuerdings aufgegeben.Nach S. wird die apanagierte Linie der Herzöge von S. benannt(s. Schleswig-Holstein, S. 524).

Sondereigen, gesondertes Privateigentum im Gegensatz zumgemeinschaftlichen oder Gemeineigen.

Sondergut (Einhands-, Rezeptiziengut), das Vermögender Ehefrau, welches sie sich zur freien Verfügungvorbehält (s. Güterrecht etc., S. 949).

Sonderland, Johann Baptist, Maler und Radierer, geb. 2.Febr. 1805 zu Düsseldorf und an der Akademie daselbst sowieauf Studienreisen in Paris, Holland und Frankfurt a. M. gebildet,zeichnete sich in seinen Genrebildern durch Reichtum der Erfindung,Lebendigkeit der Darstellung und naiven Humor aus. Unter dem Titel:"Bilder und Randzeichnungen zu deutschen Dichtern" fertigte er einegroße Anzahl radierter Blätter sowie auch dieIllustrationen zu Reinicks "Malerliedern", zu "Münchhausen"von Immermann etc. In den letzten Jahren seines Lebens wandte ersich ausschließlich der Illustration zu und schuf einegroße Zahl von Aquarellkompositionen, Lithographien nacheignen und fremden Originalen, Randzeichnungen etc. Er starb 21.Juli 1878. Sein Sohn Friedrich S., geb. 20. Sept. 1836 zuDüsseldorf ist ebenfalls ein begabter Maler, der besonders imhumoristischen Genre hervorragend ist.

Sonderling, Schmetterling, s. Aprikosenspinner.

Sondernachfolge, s. Rechtsnachfolge.

Sondershausen, Haupt- und Residenzstadt desFürstentums Schwarzburg-S., in der sogen. Unterherrschaft, amFuß der Hainleite, an der Wipper und der LinieNordhausen-Erfurt der Preußischen Staatsbahn, hat 3 Kirchen,ein ansehnliches Residenzschloß mit Antiquitäten- undNaturaliensammlung und schönem Garten, ein Gymnasium, eineRealschule, ein Schullehrerseminar, ein Konservatorium, einTheater, ein Zeughaus, ein Landeskrankenhaus, Nadelfabrikation, 2Dampfziegeleien, eine Dampfschneidemühle und (1885) 6336 meistevang. Einwohner. S. ist Sitz der obersten Landesbehörden,eines Landratsamtes und eines Amtsgerichts. Vor der Stadt liegt dasLoh, ein Vergnügungsort, und unweit von S. auf der Hainleitedas Jagdschloß Possen (s. d.).

Sondersieche, s. v. w. Aussätzige, s. Aussatz, S.127.

Sondieren, mit dem Senkblei (Sonde) die Tiefeergründen; ausforschen, prüfen.

Sondrio, ital. Provinz im N. der Lombardei, begreiftgroßenteils das bis 1797 zu Graubünden gehörigeVeltlin, wird im N. von der Schweiz, im O. von Tirol und derProvinz Brescia, im Süden von Bergamo und im W. von Comobegrenzt und umfaßt 3268, nach Strelbitsky 3123 qkm (56,7QM.) mit (1881) 120,534 Einw. Das Land besteht der Hauptsache nachaus den Thälern der obern Adda und der Mera, welche vonmehreren Gebirgsgruppen der Alpen (Bernina-, Ortler- undBergamasker Alpen) flankiert werden. Über das Gebirgeführen im W. der Splügen, im O. das Stilfser Joch; auchmünden hier die Straßen über den Maloja- undBerninapaß. Der Boden ist großenteils Weide und Wald(57,538 Hektar); das bebaute Land bringt Wein (1886: 119,200 hl,doch gute Sorten), etwas Getreide, viel Kartoffeln, Obst etc.hervor; das Mineralreich liefert Eisen, Blei und andre Metalle undMineralien. Neben dem sehr beschränkten Ackerbau, der Vieh-und Seidenzucht und Holzgewinnung wird etwas Industrie(Seidenfilanden, Baumwollspinnerei, Metallindustrie) und Handelbetrieben. Durch die Eisenbahnen Colico-Sondrio undColico-Chiavenna in Verbindung mit der Dampfschiffahrt am Comerseeist die Provinz in neuester Zeit dem Weltverkehr nähergerückt worden. Von Bedeutung sind endlich die ausgezeichnetenMineralquellen (vor allen die zu Bormio). Doch genügen dievorhandenen Erwerbsquellen nicht, so daß viele Bewohneralljährlich auswärts Beschäftigung suchenmüssen. Die gleichnamige Hauptstadt, malerisch an derMündung des Mallero in die Adda und an der Bahn Colico-S.gelegen, hat ein königliches Lyceum und Gymnasium, einetechnische Schule, ein Gewerbeinstitut, eine städtischeBibliothek, ein Nationalkonvikt, ein großes Krankenhaus, einschönes Theater, ein ehemaliges Kloster (jetztTraubenkuranstalt), Ruinen eines Schlosses, Seidenindustrie,Töpferei (aus dem im Val Malenco gebrochenen Lavezstein),Handel und (1881) 3989 Einw. S. ist Sitz eines Präfekten.

Sonett (ital., Klanggedicht), kleines Gedicht vonbestimmter Form, bestehend aus 14 (in der Regel iambischen) Zeilen,von denen die ersten 8 und die letzten 6 miteinander reimen undzwar so, daß die 8 ersten, in zwei Strophen von je 4 Zeilenzerfallend (Quaternarien oder Quatrains), nur zwei Reime haben,welche je viermal anklingen und in dem Verhältnis derReimumschlingung zu einander stehen

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Songarei - Sonnborn.

(abba abba), die 6 letzten dagegen, in zwei Strophen von je 3Zeilen zerfallend (Terzinen), mit zwei oder auch dreiReimklängen beliebig wechseln können (cdc ded, cde cde,cde dce etc.). Das S. ist eine ebenso schöne wie kunstvolle,aber auch schwierige Form für die reflektierende Lyrik, weilsie nicht nur einen bedeutenden Reichtum an Reimen erfordert,sondern auch die innere Gedankenordnung sich genau den Abteilungenanschmiegen soll, nicht bloß so, daß mit der 4., 8. und11. Zeile eine Sinnpause eintreten muß, sondern die Art desGedankenvortrags soll auch mit jeder neuen Strophe eine neueWendung nehmen. Unbedingt verpönt ist namentlich dasHerüberziehen des Satzes aus der 8. in die 9. Zeile.Hervorgegangen aus der provencalischen Poesie, fand das S. in derMitte des 13. Jahrh. in die italienische Poesie Aufnahme. Die ersteregelmäßige Gestalt gab ihm Fra Guittone von Arezzo, diehöchste Vollendung Dante und Petrarca; im übrigen ist dieZahl der italienischen Sonettendichter unendlich. In Frankreichward das S. erst im 16. Jahrh. wieder aufgenommen, aber als Boutsrimés zum leeren Witz- und Reimspiel herabgewürdigt.Auch in England, wohin es durch Howard Graf Surrey verpflanzt ward,war es eine Zeitlang Modeform (Shakespeare). In Spanien haben sichBoscau, Garcilaso de la Vega, Mendoza etc., in Portugal namentlichCamoens als Meister des Sonetts ausgezeichnet. In der deutschenPoesie finden sich Anklänge an das S. bereits bei Walther vonder Vogelweide. Eigentlich eingeführt ward es zuerst vonWeckherlin und Opitz (in Alexandrinern) und unter dem NamenKlanggedicht bald mit Vorliebe (Gryphius, P. Fleming etc.)bearbeitet. Später geriet es wieder in Vergessenheit, bis esdurch Bürger und dann durch die romantische Schule von neuemaufgenommen und mit Eifer kultiviert wurde. Treffliche deutscheSonette haben Schlegel, Goethe, Rückert, Platen, Chamisso,Herwegh, Geibel, Strachwitz u. a. geliefert. Sonettenkranz ist eineReihe von 15 Sonetten, von denen 14 durch ihre Anfangs- oderEndzeilen das 15., das sogen. Meistersonett, bilden. Vgl.Tomlinson, The sonnet, its origin, structure etc. (Lond. 1874);Welti, Geschichte des Sonetts in der deutschen Dichtung (Leipz.1884); Lentzner, Über das S. in der englischen Dichtung (Halle1886).

Songarei, Land, s. Dsungarei.

Songhay, Negerstamm, s. Sonrhai.

Songka (Sangkoi oder Roter Fluß), Hauptflußder franz. Kolonie Tongking (Hinterindien), entspringt mit dreiwestlichern und einer östlichen Quelle in denSüdabhängen der die chinesische Provinz Jünnandurchziehenden hohen Gebirgskette. In China heißt erHongkiang, bei Laokai tritt er über die Grenze, bleibt wiezuvor noch 140 km von Bergen eingefaßt und bildet zahlreicheStromschnellen. Später wird er ruhiger, nimmt rechts denHellen Fluß und links den Klaren Fluß auf und spaltetsich unterhalb in zahlreiche Arme, von denen die linksseitigen mitdem Thaibinh oder Bakha durch drei künstliche Kanäle undandre Wasseradern in Verbindung stehen, so daß hier einmächtiges Delta gebildet wird, und ergießt sich in denMeerbusen von Tongking. An einem Arm des Thaibinh liegt Haiphong,der Haupthafen des Gebiets. Der S. wurde zuerst 1870 von Dupuis vonder chinesischen Stadt Manghao bis zu seinem Eintritt in die Ebeneund 1872 aufwärts bis Jünnan hinein befahren. Auch derKlare Fluß ist bis zur chinesischen Grenze, der SchwarzeFluß eine große Strecke aufwärts für leichteFahrzeuge befahrbar. Am rechten Ufer des S., 175 km von derMündung, liegt die Hauptstadt Hanoi, die im 8. Jahrh. noch amMeer gelegen haben soll, ein Beweis für die rascheDeltabildung des Flusses.

Sonica (franz.), wird in Hasardspielen von einer Kartegesagt, die beim ersten Aufschlagen über Gewinn und Verlustentscheidet; im weitern Sinn s. v. w.. sogleich, zu rechterZeit.

Soninke, Negerstamm, s. Serechule.

Sonklar, Karl, Edler von Innstädten,österreich. Militär und Geograph, geb. 2. Dez. 1816 zuWeißkirchen in der damaligen Militärgrenze, besuchte1829-32 die mathematische Schule in Karansebes, an welcher er eineZeitlang auch Lehrer war, stand 1839-48 als Infanterieoffizier inAgram, Graz und Innsbruck und benutzte seinen Aufenthalt in Grazdazu, Studien über Physik und Chemie an der dortigenUniversität zu machen, wogegen er von Innsbruck ausweitreichende Wanderungen in den Alpen machte. Von 1848 bis 1857lebte er als Erzieher des Erzherzogs Karl Viktor inSchönbrunn, wirkte seit 1857 als Lehrer der Geographie an derMilitärakademie in Wiener-Neustadt, aus welcher Stellung er1872 als Generalmajor in den Ruhestand trat und seinen Aufenthaltin Innsbruck nahm, wo er 10. Jan. 1885 starb. Seine erstenSchriften: "Über Führung einer Arrieregarde" (1844),"Über die Heeresverwaltung der alten Römer im Frieden undKrieg etc." (Innsbr. 1847), waren rein militärischenCharakters; später aber wandte er sich der Geographie zu undhat auf dem Gebiet der Orographie die größten Erfolgeaufzuweisen. Als Anhänger K. Ritters war er bestrebt, dieUrsachen der Erscheinungen, welche unmittelbar zu beobachten erseit 1857 jährlich Reisen in die Alpen (1870 nach Ungarn, 1875nach Italien) unternahm, aufzuspüren und darzulegen. AlsFrucht dieser Einzelforschungen veröffentlichte er:"Reiseskizzen aus den Alpen und Karpathen" (Wien 1857); "DieGebirgsgruppe der Hochschwab" (das. 1859); "Die ÖtzthalerGebirgsgruppe" (Gotha 1860, mit Atlas); "Die Gebirgsgruppe derHohen Tauern" (Wien 1866); "Die Zillerthaler Alpen" (Gotha 1877).Sein in mehrfacher Hinsicht grundlegendes Hauptwerk ist aber die"Allgemeine Orographie oder Lehre von den Reliefformen derErdoberfläche" (Wien 1872). Noch veröffentlichte eraußer verschiedenen Lehrbüchern der Geographie, dieebenfalls besonderes Gewicht auf die Darstellung des Erdreliefslegen: "Die Überschwemmungen" (Wien 1883) und bearbeitetefür die vom Deutschen u. Österreichischen Alpenvereinherausgegebene "Anleitung zur wissenschaftlichen Beobachtung aufReisen" den Teil "Die Orographie u. Topographie, Hydrographie undGletscherwesen" (Münch. 1879). In der Kunstlitteraturversuchte er sich durch eine "Graphische Darstellung der Geschichteder Malerei" (Wien 1853).

Sonn., bei naturwissenschaftl. Namen Abkürzungfür P. Sonnerat (spr. ssonn'ra), geb. 1749, Reisender, gest.1814 in Paris (Zoologie, Botanik).

Sonnabend (d. h. der Abend vor dem Sonntag), der siebenteTag der Woche im christlichen Kalender, der Sabbat imjüdischen Kalender. An die letztere Bedeutung erinnern dieNamen Samstag im Deutschen, samedi im Französischen u. a.,wogegen sich die römische Bezeichnung dies Saturni(Saturnustag), im plattdeutschen Zaturdag, Saterdag sowie imenglischen Saturday erhalten hat.

Sonnblick, Berg, s. Rauriser Thal.

Sonnborn, Landgemeinde im preuß. RegierungsbezirkDüsseldorf, Kreis Mettmann, an der Wupper

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Sonne (Entfernung, Parallaxe, Größe,Oberfläche).

und an den Linien Neuß-Schwelm und Düsseldorf-Schwelmder Preußischen Staatsbahn, hat eine evangelische und einekath. Kirche, mechanische Weberei, eine Tapetenfabrik,Kalksteinindustrie, Fabrikation landwirtschaftlicher Maschinen und(1885) 7543 meist evang. Einwohner.

Sonne (hierzu Tafel "Sonne"), der Zentralkörper desPlanetensystems, zu dem die Erde gehört, an Volumen und Masseweitaus der größte unter den Körpern dieses Systemsund für sie alle Quelle von Licht und Wärme.

[Entfernung von der Erde, Parallaxe.] Da die Erde sich in einerEllipse um die im Brennpunkt stehende S. bewegt, so ist dieEntfernung beider Himmelskörper voneinander veränderlich,wie sich schon aus den zwischen 32' 36'' und 31' 32'' schwankendenWerten des scheinbaren Halbmessers der S. ergibt. Die mittlereGröße dieser Entfernung ist eins der wichtigstenElemente der Astronomie, denn sie bildet die Einheit, in welcherman die Entfernungen der Weltkörper zunächst ermittelt.Man bezeichnet sie gewöhnlich mit den Namen Sonnenweite,Sonnenferne oder auch Erdweite. Dem dritten Keplerschen Gesetzzufolge verhalten sich die dritten Potenzen der mittlernEntfernungen zweier Planeten von der S. wie die Quadrate ihrerUmlaufszeiten. Sind daher die letztern durch Beobachtung bekannt,so kann man das Verhältnis zwischen den mittlern Entfernungenberechnen. Ebenso läßt sich die Entfernung derjenigenFixsterne, bei denen die Bestimmung der jährlichen Parallaxe(s. d.) gelungen ist, in Erdweiten angeben. Um nun dieGröße einer Erdweite in geographischen Meilen oderKilometern zu finden, muß die Parallaxe der S. bekannt sein.Diese kann man aber, ihrer Kleinheit wegen, nicht direkt durchBeobachtung von Sonnenhöhen an verschiedenen Punkten der Erdefinden; man bestimmt sie vielmehr indirekt, indem man die Parallaxeund Entfernung der Planeten Mars und Venus in ihrem geringstenAbstand von der Erde durch Beobachtung ermittelt. Dom. Cassinileitete zuerst aus den Beobachtungen des Mars zur Zeit seinerOpposition eine Parallaxe von 25'' ab, und da die Entfernung desMars von der Erde zur Zeit der Beobachtung 0,4 von der Entfernungder Erde von der S. betrug, so ergab sich daraus dieSonnenparallaxe = 0,4.25'' oder 10'', was eine Entfernung der S.von 20,700 Erdhalbmessern gibt. Statt des Mars kann man auch dieVenus in ihrer Erdnähe beobachten. Dieselbe kehrt uns dannihre dunkle Seite zu und ist nur sichtbar, wenn sie vor derSonnenscheibe vorübergeht, wenn ein sogen. "Durchgang derVenus durch die S." stattfindet. Halley machte zuerst (1677) aufdie Wichtigkeit der Venusdurchgänge für die Bestimmungder Sonnenparallaxe aufmerksam und schlug eine hierzu geeigneteBeobachtungsmethode vor (1691 u. 1716). Seitdem sind alleVenusdurchgänge (9. Juni 1761, 2. Juni 1769, 8. Dez. 1874 und6. Dez. 1882) mit größter Sorgfalt beobachtet worden.Aus den Beobachtungen von 1761 und 1769 hat Encke den Wert derSonnenparallaxe zu 8,57116'' bestimmt, was eine Entfernung der S.gleich 24,043 Erdhalbmessern oder 20,682,000 geogr. Meilen gibt.Bis Anfang der 60er Jahre galt dieser Wert als derzuverlässigste. Eine neue Berechnung von Powalky, bei welchergenauere Werte für die Längen einiger Beobachtungsortebenutzt wurden, gab für die Sonnenparallaxe dengrößern Wert 8,855''. Ferner berechnete Newcomb aus denBeobachtungen des Mars zur Zeit seiner Opposition 1862, die nacheinem von Winnecke entworfenen Plan auf zahlreichen Sternwartenangestellt wurden, den Wert 8,848''. Später hat Galle ausOppositionsbeobachtungen des Planeten Flora, der im Oktober undNovember 1873 sich der Erde bis auf 0,87 Sonnenweiten näherte,den Wert 8,873'' berechnet, fast übereinstimmend mit der Zahl8,879, welche Puiseux aus den französischen Beobachtungen desVenusdurchganges von 1874 abgeleitet hat. Leverrier hattefrüher aus den Störungen der Venus den Wert 8,95''berechnet, und ähnliche Werte, sämtlich größerals der Enckesche, sind von Hansen, Delaunay und Plana aus gewissenUngleichheiten der Mondbewegung gefunden worden. Endlich kann mandie Sonnenparallaxe auch finden, wenn man die Lichtgeschwindigkeitunabhängig von astronomischen Beobachtungen bestimmt und diesogen. Lichtgleichung, d. h. die Zeit, in welcher das Licht von derS. zur Erde gelangt, oder auch den Aberrationswinkel (s. Aberrationdes Lichts) kennt. Nach den neuesten Versuchen von Newcombbeträgt aber die Lichtgeschwindigkeit im leeren Raum 299,860km, und daraus ergibt sich mit Nyréns Wert derAberrationskonstanten (s. Aberration) eine Sonnenparallaxe von8,794'', entsprechend einer Entfernung der S. von 149,61 Mill. km.Da eine Bearbeitung der sämtlichen Beobachtungen derVenusdurchgänge von 1874 und 1882 zur Zeit noch nichtvorliegt, so bedient man sich gewöhnlich des NewcombschenWertes 8,85'' für die Sonnenparallaxe. Hiernach beträgtdie mittlere Entfernung der S. 23,307 Erdhalbmesser = 148,670,000km = 20,036,000 geogr. Meilen. Das Licht braucht 8 Min. 18 Sek. zurZurücklegung dieses Wegs. Da die Exzentrizität derErdbahn ungefähr 1/60 beträgt, so wird die Entfernung imPerihel um etwa 1/3 Mill. Meilen verkleinert, im Aphel umebensoviel vergrößert.

[Scheinbare und wahre Größe.] In mittlerer Entfernungerscheint der Sonnenhalbmesser unter einem Winkel von 16' 1,8''oder 961,8''; daraus berechnet sich der wahre Durchmesser der S. =(961,8)/(8,85) = 108,556 Erddurchmessern = 1,387,600 km = 187,000geogr. Meilen, also ungefähr 1 4/5 mal so groß als derDurchmesser der Mondbahn. Ein Bogen auf der Mitte der S., der unsunter einem Winkel von 1'' erscheint, hat eine Länge von 720km, und selbst der feinste Spinnwebenfaden eines Mikrometersverdeckt noch gegen 200km. Die S. hat 11,800 mal sovielOberfläche und 1,279,000 mal soviel Volumen als die Erde, 600mal soviel als alle Planeten zusammen. Ihre Masse ist das 319,500fache von der Erdmasse, mehr als das 700 fache allerPlanetenmassen. Die mittlere Dichte aber ist nur 0,253 oderungefähr 1/4 von der unsrer Erde, also 1,4 von der desWassers. Da die Schwerkraft an der Oberfläche einesHimmelskörpers, abgesehen von den Wirkungen derZentrifugalkraft, proportional ist dem Produkt aus mittlerer Dichteund Durchmesser, so ist dieselbe auf der S. 108,6.0,253 = 27,5 malso groß als bei uns, und während ein Körper auf derErde 4,9 m in der ersten Sekunde fällt, beträgt derFallraum auf der S. 135 m.

[Oberfläche.] Während bei Anwendung mäßigerVergrößerung die leuchtende Oberfläche der S. , diePhotosphäre, glatt und gleichförmig erscheint, erblicktman sie durch Instrumente von großer Öffnung mit starkerVergrößerung bei klarer und ruhiger Luft wie bedeckt mitleuchtenden, in ein weniger helles Netzwerk eingebettetenKörnern. Schon W. Herschel hat dieselben wahrgenommen und als"Runzeln" bezeichnet, später hat sie Nasmyth mitWeidenblättern, Secchi aber mit Reiskörnern verglichen.Nach

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Sonne (Flecke und Fackeln, Rotation).

Langley hat die Photosphäre ein wollig-wolkenartigesAussehen, aber neben den verwaschen wolkenartigen Gebildenunterscheidet man noch zahlreiche schwache Fleckchen auf hellemGrund, und unter günstigen Umständen lösen sich diewolkenähnlichen Gebilde in eine Menge kleiner intensivleuchtender Körner auf, die in einem dunklern Mediumsuspendiert erscheinen. Die erwähnten Fleckchen haben jetztdas Aussehen von Öffnungen oder Poren, entstanden durchAbwesenheit der weißen Wolkenknoten und Durchscheinen desdunklern Grundes; der Durchmesser beträgt bei den deutlicherwahrnehmbaren 2-4 Bogensekunden. Die hellen Knötchen oderReiskörner Secchis bestehen nach Langley aus Anhäufungenkleiner Lichtpunkte von ungefähr 1/3'' Durchmesser. Janssenhat Photographien der S. bis zu einem Durchmesser von 30cm und mehrdargestellt, die unter der Lupe sehr deutlich die granulierteBeschaffenheit der Photosphäre zeigen. An Stellen, wo dieGranulationen am deutlichsten ausgeprägt sind, besitzen dieElemente alle eine mehr oder minder kugelförmige Gestalt, unddas um so mehr, je geringer ihre Größe ist. DerDurchmesser dieser Kugeln ist sehr verschieden, von wenigenZehnteln der Bogensekunde bis zu 3 und 4''. Die ganzeOberfläche der Photosphäre erscheint in eine Reihe vonmehr oder minder abgerundeten, oft fast geradlinigen, meist anVielecke erinnernden Figuren abgeteilt, deren Größe sehrverschieden ist, oft einen Durchmesser bis zu 1' und darübererreicht. Während nun in den Zwischenräumen dieserFiguren die einzelnen Körner bestimmt und gut begrenzt, obwohlvon sehr verschiedener Größe sind, erscheinen sie imInnern wie zur Hälfte ausgelöscht, gestreckt odergewunden; ja, am häufigsten sind sie ganz verschwunden, umStrömen von leuchtender Materie Platz zu machen, die an dieStelle der Granulationen getreten sind. Janssen hat dieseGestaltung als photosphärisches Netz bezeichnet.

[Sonnenflecke, Rotation.] Ferner bemerkt man auf derSonnenfläche schon bei schwachen Vergrößerungenbald einzelne, bald in Gruppen zusammenstehende dunklere Stellen,sogen. Sonnenflecke. Dieselben wurden zuerst 1610 von Fabriciuswahrgenommen, 1611 auch von Galilei und von Scheiner in Ingolstadtentdeckt. Während ersterer die S. mit ungeschütztem Augebeobachtete, wenn sie in der Nähe des Horizonts stand, wandteScheiner zuerst dunkel gefärbte Blendgläser an.Gegenwärtig polarisiert man auch das Licht im Fernrohr durchReflexion und kann es dann durch abermalige Reflexion beliebigabschwächen (Helioskop von Merz). Vielfach beobachtet man auchdas objektive Sonnenbild, das durch ein Äquatorial auf einerweißen Fläche entworfen wird. Auch wendet man jetzt nachdem Vorgang von Warren de la Rue häufig die Photographie an,um getreue Abbildungen der Sonnenfläche mit ihren Flecken etc.zu erhalten. Fig. 1 der Tafel "Sonne" zeigt den Anblick der S. nacheiner Photographie von Rutherfurd in New York 23. Sept. 1870.Außer den Sonnenflecken zeigt dieselbe auch noch nach demRand hin helle Adern, sogen. Fackeln, in Silberlicht glänzendeStreifen, die schon Galilei beobachtete. Die Sonnenflecke sind vonsehr verschiedener Größe, oft nur als dunkle Punkteerkennbar, sogen. Poren, und oftmals 1000 Meilen und mehr imDurchmesser haltend. Schwabe beobachtete im September 1850 einenFleck von 30,000 Meilen Durchmesser. Große Flecke von mehrals 50'' = 4800 Meilen Durchmesser sind auch mit bloßem Augesichtbar, wenn man die S. durch dünnes Gewölk oder naheam Horizont oder auch ein berußtes Glas beobachtet, und essind solche schon vor Erfindung der Fernröhre, namentlich vonden Chinesen, vereinzelt gesehen worden. An den größernFlecken unterscheidet man meist einen dunkeln Kern, den Kernfleck,bisweilen mit noch dunklern Stellen, Dawes' Centra. Diese Kernesind umgeben mit einem matten, nach der leuchtendenSonnenfläche gut abgegrenzten Hof oder Halbschatten(penumbra), ungefähr von der grauen Färbung derMondmeere. Doch sind auch bisweilen rötliche Färbungenbeobachtet worden, namentlich hat Secchi größere Fleckewiederholt wie durch einen rötlichen Schleier gesehen. Nichtselten fehlt übrigens die Penumbra, andre Male wieder derKernfleck.

Gleich die ersten Beobachter bemerkten, daß dieSonnenflecke sich vom östlichen Rande der S. nach demwestlichen bewegen, und erklärten diese Bewegung richtig durcheine Rotation der S. um eine Achse. Die Bestimmung der Dauer derRotation ist aber mit Schwierigkeiten verbunden, einesteils wegender Veränderlichkeit, andernteils wegen der eignen Bewegungder Flecke, die nach Laugier bisweilen über 100m in derSekunde beträgt. Verhältnismäßig nicht vieleFlecke behalten ihre Gestalt so lange, daß man siewährend mehrerer Rotationen verfolgen kann; viele ändernvon einem Tag zum andern ihre Gestalt teils durch Zerfallen (s.Tafel, Fig. 2), teils durch Zusammenfließen mit andernderart, daß sie nicht wieder zu erkennen sind; andreverschwinden gänzlich, neue erscheinen. Das Auftreten neuerFleckengruppen wird meist vorher angezeigt durch ausgedehnte helleFackeln an der gleichen Stelle. Dessen ungeachtet hat manzahlreiche Flecke durch mehrere Rotationen beobachtet. Man findetnun, daß ein Fleck ungefähr 27½ Tage nach seinemersten Erscheinen sich wieder am Ostrand zeigt, und daraus ergibtsich, mit Berücksichtigung der Bewegung der Erde, die wahreDauer einer Rotation der S. zu ungefähr 25½ Tagen. Diegenauere Bestimmung liefert aber für Flecke, die demSonnenäquator nahe sind, eine kürzere Dauer als fürsolche in höhern Breiten. Spörer fand z. B. für1,5° heliographischer Breite 25,118 Tage, für 24,6°aber 26,216 Tage. Es deutet dies auf eine Bewegung der Fleckeparallel zum Äquator. Außerdem aber ändern sichauch die Breiten, es zeigen die meisten Flecke eine Bewegung vomÄquator nach den Polen hin. Spörer vermutet, daßdiese Bewegungen mit Winden auf der S. zusammenhängen. Nachseiner Bestimmung beträgt die Rotationszeit der S. 25,234Tage, der Sonnenäquator ist um 6° 57' geneigt gegen dieEkliptik, und die Länge seines aufsteigenden Knotens ist74° 36'; Carrington hat 25,38 Tage, 7° 15' und 73° 57'gefunden.

Bei der Rotation der S. zeigen die Flecke, den Regeln derPerspektive entsprechend, gewisse regelmäßigeFormveränderungen: wenn ein Fleck sich vom Ostrand aus nachder Mitte der S. bewegt, so wird seine Ausdehnung parallel zumÄquator immer größer; entfernt er sich aber von derMitte, so wird sie immer kleiner, während gleichzeitig seineAusdehnung senkrecht zum Äquator ungeändert bleibt.Wilson in Glasgow beobachtete 1769 an einem großenSonnenfleck, daß die Penumbra, als derselbe in der Mitte derS. stand, links und rechts ungefähr gleich groß, vor-und nachher aber, bei exzentrischer Stellung, allemal auf der demRande der S. zunächst liegenden Seite sich am breitestenzeigte. Wilson kam dadurch zu der Ansicht, daß die Penumbragebildet werde durch die trichterförmig nach untenabfallenden, nur wenig leuchtenden Seitenwände einerÖffnung in

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Sonne (Korona, Protuberanzen etc.).

der Lichthülle der S., durch welche wir deren dunkeln Kernerblicken. Daß der eigentliche Sonnenkörper dunkel sei,hatte schon Dom. Cassini (1671) behauptet; Bode (1776) undspäter W. Herschel haben der Wilsonschen Hypothese, daßder dunkle Kern der S. zunächst von einer wenig leuchtenden,wolkenähnlichen Hülle umgeben sei, über welche sichdie eigentliche Lichthülle ausbreite, allgemein Eingangverschafft. Erst Kirchhoff (1861) machte darauf aufmerksam,daß die leuchtende Hülle der S. unmöglichbloß nach außen Licht und Wärme senden könne,daß vielmehr auch die unter ihr liegende wolkenartige Schichtund der Sonnenkörper selbst längst durch Leitung undStrahlung erwärmt und ins Glühen versetzt worden seinmüßten. Aus diesen Gründen ist die WilsonscheHypothese aufgegeben worden.

Die Sonnenflecke erscheinen nicht an allen Stellen derSonnenoberfläche in gleicher Häufigkeit. In derHauptsache sind sie beschränkt auf die Zonen zwischen 10 und30° heliographischer Breite, die sogen. Königszonen. Inder Nähe des Sonnenäquators selbst sind sie nurspärlich vorhanden, und ebenso finden sie sich selten jenseitdes 35. Breitengrads. Ferner sind die Sonnenflecke nicht zu allenZeiten gleich häufig, und es hat zuerst Schwabe 1843 ausseiner seit 1826 fortgesetzten Beobachtung auf eine etwazehnjährige Periode der Häufigkeit geschlossen. Zuallgemeiner Anerkennung gelangte diese Behauptung namentlich durchdie Diskussion älterer Fleckenbeobachtungen durch Wolf 1852.Derselbe fand eine mittlere Dauer der Periode von 11 1/9 Jahren mitAbweichungen von durchschnittlich 1 2/3 Jahren; etwa fünfsolcher Perioden bilden wieder eine größere Periode, diedurch die Höhe der Fleckenmaxima und die Tiefe der Minimacharakterisiert ist. Merkwürdig ist das 1852 von Sabine,Gautier und Wolf erkannte Zusammentreffen der Sonnenfleckenperiodemit derjenigen der erdmagnetischen Störungen und Variationen.Später hat man auch in den Erscheinungen der Nordlichter, desRegenfalls, der Stürme etc. dieselbe Periode zu erkennengeglaubt; auch hatte schon W. Herschel einen Zusammenhang zwischender Häufigkeit der Sonnenflecke und der Fruchtbarkeit dereinzelnen Jahre zu erkennen geglaubt. Vgl. Hahn, Über dieBeziehungen der Sonnenfleckenperiode zu meteorologischenErscheinungen (Leipz. 1877); Fritz, Die Beziehungen derSonnenflecke zu den magnetischen und meteorologischen Erscheinungender Erde (Haarlem 1878).

[Korona und Protuberanzen.] Bei totalen Sonnenfinsternissenerscheint der vor der S. stehende Mond rings umgeben mit einemsilberglänzenden, wallenden Lichtschimmer, aus dem einzelne,oft wunderbar gekrümmte Strahlengruppen hervorschießen.Es ist dies die sogen. Korona. Außerdem aber hat man auchnoch bei diesen Gelegenheiten eigentümliche rosenrote Gebildeam Sonnenrand bemerkt, die bald wie Berge oder Flammen an der S.haften, bald wie Wolken frei schweben, die Protuberanzen (vgl.Tafel "Sonne", Fig. 3). Solche Protuberanzen sind bereits 1733 vonVassenius in Gotenburg beobachtet und abgebildet worden; ihrgenaueres Studium beginnt aber erst mit der Sonnenfinsternis vom 8.Juli 1842, wo Arago, Airy, Schumacher u. a. sie wahrnahmen; 1860wurden sie bereits photographiert, und 1867 glückte es Rziha,bei Ragusa eine Protuberanz während einer zehnzölligenringförmigen Finsternis zu beobachten. Endlich haben 1868Lockyer, Janssen, Huggins und Zöllner Methoden angegeben, umdiese Gebilde auch bei vollem Sonnenschein zu beobachten. AlsMittel hierzu dient das Spektroskop. Das Sonnenspektrum ist einkontinuierliches Spektrum, welches von zahlreichen dunkeln(Fraunhoferschen) Linien unterbrochen wird, die genau dieselbeStelle einnehmen wie die hellen Linien in den Spektrenverschiedener Metalldämpfe. Kirchhoff zeigte, daß einjedes glühende Gas ausschließlich Strahlen von derBrechbarkeit derer schwächt, die es selbst aussendet, sodaß die hellen Linien eines glühenden Gases in dunkleverwandelt werden müssen, wenn durch dasselbe Strahlen einerLichtquelle treten, die hinreichend hell ist und an sich einkontinuierliches Spektrum gibt. Um also die dunkeln Linien desSonnenspektrums zu erklären, muß man annehmen, daßdie Sonnenatmosphäre einen leuchtenden Körperumhüllt, der für sich allein ein kontinuierlichesSpektrum gibt. Die wahrscheinlichste Annahme scheint Kirchhoff diezu sein, daß die S. aus einem festen odertropfbarflüssigen, in der höchsten Glühhitzebefindlichen Kern besteht, der umgeben ist von einerAtmosphäre von etwas niedrigerer Temperatur. Durch daserwähnte Zusammentreffen der Fraunhoferschen mit den hellenLinien in den Spektren gewisser Metalldämpfe ist zugleich dieAnwesenheit der letztern in der Sonnenatmosphäre nachgewiesen,und man hat auf diese Weise gefunden, daß Natrium, Calcium,Baryum, Magnesium, Eisen, Chrom, Nickel, Kupfer, Zink, Strontium,Kadmium, Kobalt, Wasserstoff, Mangan, Aluminium, Titan in derSonnenatmosphäre vorkommen; Wasserstoff und Eisendampf bildendie Hauptgemengteile. Die Sonnenflecke zeigen nach Huggins undSecchi dasselbe Spektrum wie die übrige Sonnenfläche, nursind die dunkeln Linien breiter; Secchi schließt daraus,daß in ihnen die metallischen Dämpfe sich im Zustandgrößerer Dichte befinden. Die Protuberanzen aber zeigenein Linienspektrum mit den hauptsächlichsten Linien desWasserstoffs und einigen Eisenlinien. Darauf beruht dieMöglichkeit, diese Gebilde bei hellem Sonnenschein selbst aufder Sonnenscheibe zu beobachten. Man bringt nämlich imSpektroskop eine größere Anzahl Prismen an, durch welchedas Spektrum des störenden Sonnenlichts sovergrößert wird, daß es nicht mehr blendet;dagegen bleibt die Protuberanz im Licht einer der hellenWasserstofflinien sichtbar, wenn man den Spalt weit öffnet(Lockyer, Zöllner). Man weiß gegenwärtig, daßdie Protuberanzen in der Hauptsache aus glühendem Wasserstoffbestehen, der in Massen von mannigfachster Form bis zur Höhevon 1-3', ja in einzelnen Fällen bis über 4' Höhe(23,000 geogr. Meilen) mit rasender Schnelligkeit (über 20geogr. Meilen in der Sekunde) aufsteigt. Durch die Neigung derobern Teile der Protuberanzen gibt sich eine in den höhernSchichten der Atmosphäre herrschende Strömung nach denPolen kund. Eine Hülle glühenden Wasserstoffgases umgibtauch den ganzen Sonnenkörper, in der Fleckenregion fast zu6000 Meilen, anderwärts nur etwa zu 1000 Meilen aufsteigend,die sogen. Chromosphäre, welche namentlich in mittlern Breitenzahlreiche haarförmige Hervorragungen zeigt. Die Koronaendlich gibt ein kontinuierliches Spektrum mit einigen hellenLinien, darunter einer grünen Eisenlinie, die auch imNordlichtspektrum auftritt. Zwischen Protuberanzen und Fackelnbesteht eine enge Beziehung; es treten durchschnittlich dieschönsten Protuberanzen in der Region der Fackeln auf, undSecchi versichert, noch niemals eine einigermaßenglänzende Fackel am Sonnenrand selbst angetroffen zu haben,ohne daselbst zugleich eine Protuberanz oder wenigstens einehöhere Erhebung und

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Sonneberg - Sonnenberg.

einen stärkern Glanz der Chromosphäre zu sehen.Spörer hält die Protuberanzen für Vorläuferspäter erscheinender Fleckengruppen. Fig. 4-6 auf Tafel"Sonne" zeigen eine Anzahl Protuberanzen: Fig. 4 I eine Protuberanzvon 2' (11,500 geograph. Meilen) Höhe 3 Uhr 45 Min., II, III,IV eine andre von 35 bis 40'' (3400-3800 Meilen) Höhe 6 Uhr 45Min., 55 Min. und 57 Min.; Fig. 5 I 2. Juli 1869, 11 Uhr 35 Min.,Höhe 65'' (6300 Meilen), II 4. Juli, 9 Uhr, Höhe 40''(3800 Meilen), III und IV eine Protuberanz von 50-60'' (4800-5700Meilen) Höhe 4. Juli, II Uhr 50 Min. und 12 Uhr 50 Min.

[Temperatur.] Über die Temperatur, welche auf derOberfläche der S. herrscht, gehen die Ansichten der Forscherweit auseinander: während Zöllner aus theoretischenErwägungen über 27,000° C. findet, hat Secchi ausaktinometrischen Messungen 5-6 Mill. Grad als untere Grenzeabgeleitet. Aus solchen Messungen haben aber anderseits Pouilletund neuerdings wieder Vicaire und Violle bloß 1500°gefunden. Diese verschiedenen Resultate sind Folge verschiedenerAnnahmen des Wärmestrahlungsgesetzes, dessen Form uns freilichnur innerhalb ziemlich enger Temperaturgrenzen sicher bekannt ist.Licht- und Wärmestrahlung sind infolge der Absorption in derSonnenatmosphäre am Rand geringer als in der Mitte derSonnenscheibe. Secchi fand die Wärmestrahlung am Rand nur halbso groß als in der Mitte, auch am Äquator bedeutenderals an den Polen. Langley hat 1874 diese ältern Beobachtungenbestätigt gefunden. Die Flecke strahlen weniger Wärme ausals die benachbarte Sonnenfläche (Henry 1845); doch gibt nachLangley selbst ein Kernfleck noch mehr Wärme als ein gleichgroßes, hell leuchtendes Randstück.

[Theorie der Sonne.] Nach Kirchhoffs Ansicht, die auch vonSpörer, Zöllner u. a. in der Hauptsache adoptiert wordenist, besteht die S. aus einem in der höchsten Glühhitzebefindlichen Kern, der von einer Atmosphäre von niedrigererTemperatur umgeben ist. Die Sonnenflecke sind Wolken, dieKernflecke werden durch tiefer liegende dichtere, die Höfedurch darübergelagerte dünnere und ausgebreitetere Wolkengebildet. Zöllner dagegen hält die Kernflecke fürSchlackenmassen, die sich auf der glühend flüssigenSonnenoberfläche durch Abkühlung gebildet haben und sichauch infolge der in der Sonnenatmosphäre erzeugtenGleichgewichtsstörungen von selbst wieder auflösen.Diesen Anschauungen gerade entgegengesetzt, denkt sich Faye dieSonnenmasse als einen gasförmigen, infolge seiner hohenTemperatur in einem Zustand allgemeiner physischer und chemischerDissociation befindlichen Körper, an dessen durch Strahlungetwas erkalteter Oberfläche sich chemische Verbindungen bildenkönnen, welche aber sofort wieder untersinken und durch neueersetzt werden; die Lichthülle oder Photosphäre ist daherdiese in beständiger Neubildung begriffene Oberfläche.Wird diese Hülle an einer Stelle durch aufsteigendeStrömungen unterbrochen, oder werden Teile des Innern an dieOberfläche gebracht, in denen der chemische (Verbrennungs-)Prozeß nicht thätig ist, so haben wir den Anblick einesSonnenflecks. Während nach diesen und andern Theorien die S.allmählich kälter wird, hat neuerdings William Siemens("Die Erhaltung der Sonnenenergie", deutsch, Berl. 1885) eineTheorie aufgestellt, nach welcher die von der S. ausgestrahlteEnergie derselben beständig wieder zugeführt wird. Vgl.Faye, Sur la constitution physique du soleil (in den"Comptes-rendus" 1865 ff.); Secchi, Die S. (deutsch von Schellen,Braunschw. 1872); Young, Die S. (Leipz. 1883); kürzereDarstellungen von Reis (das. 1869) und Hirsch (Basel 1874).

Sonneberg, Kreisstadt im Herzogtum Sachsen-Meiningen, 3km lang, eng eingeklemmt zwischen Bergen an der Südseite desThüringer Waldes (der neue Stadtteil liegt in der Ebene), ander Röthen, der Zweigbahn Koburg-S. (Werrabahn) und derSekundärbahn S.-Lauscha, hat eine schöne neue Kirche imgotischen Stil, eine Wasserheilanstalt, blühende Industrie und(1885) 10,247 Einw. S. ist namentlich berühmt als Mittelpunktder vielen umliegenden Fabrikorte, in welchen wie in der Stadtselbst die sogen. Sonneberger Spielwaren (aus Holz undPapiermaché), Attrappen, Masken, Glas-, Porzellan- undEisenwaren geliefert und von hier aus im Wert von jährlich 7,5Mill. Mk. nach allen Weltgegenden hin versandt werden.Außerdem liefert S. Farben, Schiefertafeln, Schieferstifte,Schleif- und Poliersteine, Lederarbeiten etc. und hat Brauereien,Masse-, Loh- und Schneidemühlen und Ziegelhütten. S. hatein Amtsgericht und eine Realschule und ist Sitz einesLandratsamtes, eines Forstdepartements und eines Konsulats derVereinigten Staaten von Amerika. Vgl. Fleischmann, Gewerbe,Industrie und Handel des meiningenschen Oberlandes (Hildburgh. 1876ff.).

Sonnefeld, Flecken in Sachsen-Koburg, hat eine evang.Kirche, ein Amtsgericht und 1180 Einw.; in der UmgegendVerfertigung von Korbwaren.

Sonnemann (eigentlich Saul), Leopold, Journalist, geb.29. Okt. 1831 zu Höchberg in Unterfranken von jüdischenEltern, wurde erst Kaufmann, gründete 1856 die inHandelskreisen einflußreiche "Frankfurter Zeitung" und istseit 1867 alleiniger Eigentümer und Herausgeber derselben.Auch war er Mitbegründer des volkswirtschaftlichen Kongressesund langjähriger Referent über Bankwesen in demselben.1871-76 und 1878-84 Mitglied des deutschen Reichstags, trat er, derHaltung seiner Zeitung entsprechend, als Vertreter der deutschenVolkspartei meist oppositionell auf, stimmte gegen die Annexion vonElsaß-Lothringen, unterstützte die Beschwerden derelsässischen Protestler und der Sozialdemokraten undbeteiligte sich positiv nur an der Beratung über dasMünz- und Bankgesetz sowie über den Zolltarif.

Sonnenbad, Bestrahlung des menschlichen Körpersdurch die Sonne zu Heilzwecken.

Sonnenbahn, s. v. w. Ekliptik (s. d.).

Sonnenbaum, s. Retinospora.

Sonnenberg, Franz Anton Joseph Ignaz Maria, Freiherr von,Dichter, geb. 5. Sept. 1779 zu Münster, entwarf schon auf demGymnasium in Münster nach Klopstocks "Messiade" den Plan zueinem Epos: "Das Weltende" (Bd. 1, Wien 1801), das alle Fehlereiner wilden Phantasie, eines regellosen Umrisses und einerschwülstigen Diktion vereinigt. Er studierte die Rechte, dochnicht aus Neigung, lebte späterhin zurückgezogen in Jenaund arbeitete hier an einem zweiten Epos: "Donatoa", abermals einemGemälde des Weltuntergangs, welches dergestalt seine ganzeSeele erfüllte, daß er Schlaf und Speise, Umgang undjede Lebensfreude dafür aufopferte. Er endete 22. Nov. 1805freiwillig in Jena durch einen Sturz aus dem Fenster. Auch in"Donatoa" (Rudolst. 1806, 2 Bde., mit Biographie von Gruber)erscheint S. als ein Nacheiferer Klopstocks. Bei allen Fehlern inPlan und Ausführung zeigen einzelne Stellen eine gewisse Kraftund Hoheit und eine tiefe Innigkeit des Gemüts. Aus seinemNachlaß erschienen auch "Gedichte" (Rudolst. 1808).

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Sonnenblume - Sonnenfinsternis.

Sonnenblume, s. Helianthus.

Sonnenblumenöl, fettes Öl, durch Pressen ausden Samen von Helianthus annuus gewonnen (Ausbeute 15 Proz.), isthellgelb, schmeckt sehr rein, erstarrt bei -16°, trocknet,dient als Speiseöl, zur Verfälschung des Baumöls,zum Malen etc.

Sonnenburg, Stadt im preuß. RegierungsbezirkFrankfurt, Kreis Oststernberg, an der Lenze und dem Warthebruch,hat eine evang. Kirche, ein Schloß aus dem 16. Jahrh. (einstSitz eines Johanniter-Herrenmeisters, jetzt Sitz des neuenpreußischen Johanniterordens), ein Johanniterkrankenhaus,eine Strafanstalt, ein Amtsgericht, Seidenweberei, Filzfabrikation,eine Bilderrahmen-, eine Messingstift- und eineBlechemballagenfabrik, Ziegelbrennerei, Dampfmühle und (1885)6226 meist evang. Einwohner.

Sonnendarre, s. Samendarre.

Sonnendistel, s. Carlina.

Sonnenfackeln, s. Sonne, S. 29.

Sonnenfels, Joseph von, Schriftsteller, geb. 1732 zuNikolsburg in Mähren, besuchte die dortige Schule derPiaristen und wollte Mönch werden, wählte aber denSoldatenstand und diente fünf Jahre im Deutschmeisterregimentzu Klagenfurt und Wien, wo er seine Entlassung nahm. Hieraufbeschäftigte er sich in Wien mit Rechtsstudien und arbeiteteals Gehilfe bei einem höhern Justizbeamten. Zugleich suchte erdie Wiener mit der neuern deutschen Litteratur, die neben und nachden Erzeugnissen der Gottschedschen Schule frisch aufgeschossenwar, bekannt zu machen, gründete zu diesem Behuf 1761 eineDeutsche Gesellschaft in Wien, schrieb Wochenblätter ("DerMann ohne Vorurteile", 1773) und eiferte in gleicher Weise gegendie Versunkenheit der Wiener Bühne, zu deren Reform er durchseine "Briefe über die wienerische Schaubühne" (Wien1768, 4 Bde.; Neudruck 1884) wesentlich beitrug, wie gegen dieTortur, welche infolge seiner Schrift "Über Abschaffung derTortur" (Zürich 1775) in ganz Österreich wirklichbeseitigt wurde. S. hatte inzwischen (1763) die Professur derpolitischen Wissenschaften an der Wiener Universität erhalten;später wurde er von der Kaiserin Maria Theresia zum Rat, 1779zum Wirklichen Hofrat bei der Geheimen böhmischen undösterreichischen Hofkanzlei und zum Beisitzer der Studien- undZensurkommission, endlich 1810 zum Präsidenten der k. k.Akademie der bildenden Künste ernannt. Er starb 25. April1817. Auch auf dem Gebiet des peinlichen Rechts, der Polizei unddes Finanzwesens hat er sich durch Anregung wesentlicherVerbesserungen großes Verdienst erworben. Diesem Zweckdienten namentlich das "Handbuch der innern Staatsverwaltung" (Wien1798) und besonders die "Grundsätze der Polizei, Handlung undFinanz" (das. 1804, 3 Tle.). Auf der Elisabethbrücke zu Wienwurde seine Statue (von Hans Gasser) errichtet. Seine "GesammeltenSchriften" erschienen Wien 1783-87, 13 Bände. Vgl. W.Müller, Joseph v. S. (Wien 1882); Kopetzky, Joseph und Franzv. S. (das. 1882); v. Görner, Der Hanswurststreit in Wien undJoseph v. S. (das. 1885); Simonson, I. v. S. und seine"Grundsätze der Polizei" (Leipz. 1885).

Sonnenferne und Sonnennähe, s. Aphelium.

Sonnenfinsternis, Himmelserscheinung, bei welcher dieSonne für eine gewisse Gegend der Erde ganz oder teilweisedurch den Mond verdeckt wird. Der Name S. ist insofern unrichtig,als die Sonne nicht verfinstert, wie der Mond bei einerMondfinsternis, sondern lediglich durch den Mond für das Augedes Beobachters verdeckt wird. Während daher eineMondfinsternis überall, wo der Mond über dem Horizontsteht, in demselben Augenblick und in gleicher Größegesehen wird, wird eine S. an verschiedenen Orten zu verschiedenenZeiten und in verschiedener Form beobachtet. Eine S. kann nur zurZeit des Neumondes eintreten, und es würde bei jedem Neumondeine solche stattfinden, wenn die Bahn des Mondes mit der Erdbahnin einer Ebene läge. Da aber beide Ebenen einen Winkel von5° 8' einschließen, so kann eine S. nur eintreten, wennsich der Mond als Neumond in der Nähe eines Knotens,höchstens 19° 44' von demselben entfernt, befindet. Dieverschiedene Größe der Finsternis hängt davon ab,in welchem Teil des Mondschattens sich der Beobachter befindet. Istin Fig. 1 S der Mittelpunkt der Sonne, M derjenige des Mondes, soist der kegelförmige Raum ABC der Kernschatten des Mondes;innerhalb desselben ist die Sonne vollständig durch den Mondverdeckt, die S. ist für einen Beobachter in diesem Raumtotal. Damit eine solche S. eintrete, darf der Mond nicht über13 1/3° vom Knoten entfernt sein; auch muß der Mond sichnahezu in seiner Erdnähe befinden, denn sonst erreicht dieSpitze des Kernschattens die Erde gar nicht. Der Kernschatten istrings umgeben von dem Halbschatten, dessen kegelförmige Grenzedurch die Linien AD und BE angedeutet wird. Ein Beobachterinnerhalb dieses Raums sieht nur einen Teil der Sonne und zwareinen um so größern, je näher dem Rand er steht.Ein Beobachter in F, Fig. 2, sieht die Sonne, wie es bei Kangegeben ist; die Finsternis ist für ihn (in diesemAugenblick) partiell. Befindet sich ferner der Beobachter auf derVerlängerung der Linie SM, so ist für ihn die Finsterniszentral, der Mondmittelpunkt geht über den Sonnenmittelpunktweg; vgl. Fig. 3 und 4, wo G den Beobachtungspunkt, L die S.darstellt. In Fig. 3 liegt G im Kernschatten, der Monderscheint

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Sonnenfisch - Sonnenkultus.

größer als die Sonne: die S. ist total. In Fig. 4aber liegt G jenseit der Spitze des Kernschattens, der Monderscheint kleiner als die Sonne, und ein leuchtender Ring derletztern umgibt ihn: die S. ist ringförmig. Jede totale S.beginnt und endigt mit einer partiellen. Wenn man eine Finsternisfür einen bestimmten Ort schlechthin als partiell bezeichnet,so bedeutet dies, daß auch zur Zeit der stärkstenVerdeckung noch ein Teil der Sonne sichtbar ist. Man gibt dieGröße einer S. in der Weise an, daß man denscheinbaren Sonnendurchmesser in zwölf gleiche Teile, Zollegenannt, teilt und angibt, wieviel solcher Teile bei derstärksten Verfinsterung bedeckt werden; die S. K in Fig. 2 istalso neunzöllig. Eine totale Finsternis ist nur von kurzerDauer, denn durch die vereinigte Wirkung der Erdrotation und derBewegung des Mondes werden schnell andre als die anfänglichgetroffenen Punkte der Erde in den Kernschatten des Mondesgeführt. Für einen einzelnen Ort und zwar am Äquatorkann sie höchstens 8 Minuten währen, und für dieganze Erde ist ihre größte mögliche Dauer 4 Stunden38 Minuten. Die Zone, innerhalb deren eine S. total ist, kann amÄquator nur eine Breite von etwa 30 Meilen haben (gleich demDurchmesser des Kernschattens an dieser Stelle); in polarenGegenden der Erde dagegen kann diese Breite gegen 200 Meilenerreichen. Die Längenausdehnung der Zone der Totalitätbeträgt nicht selten Tausende von Meilen. Östlich undwestlich sowie nördlich und südlich von der schmalen Zoneder Totalität liegen diejenigen Gegenden, die von demHalbschatten des Mondes getroffen werden, in denen also dieFinsternis nur partiell und zwar um so unbedeutender ist, je mehrihr Abstand von jener Zone beträgt. Mit Einschluß derpartiellen Finsternis östlich und westlich von derTotalitätszone kann eine S. im äußersten Fall eineGesamtdauer von etwa 7 Stunden haben. Unmittelbar vor und nach dertotalen Finsternis erscheint die Sonne als schmale Sichel, die aberweniger als den Halbkreis umfaßt, weil der Mondgrößer erscheint als die Sonne. Die Berge undThäler am Rande des Mondes sind dann selbst beimäßiger Vergrößerung mit einer sonst nie zuerreichenden Schärfe sichtbar. Während der totalenFinsternis selbst entsteht eine eigentümliche Dunkelheit, derHimmel erscheint grünlichblau, einige der hellern Sternewerden sichtbar; die schwarze Mondscheibe aber ist mit einemlebhaft glänzenden, in heftiger Wallung begriffenen breitenLichtring, der Korona, umgeben, von welchem gelbe Strahlenausgehen. Auch gewahrt man am Rande des Mondes die Protuberanzen(vgl. Sonne und Tafel "Sonne"). Partielle Sonnenfinsternisse sindin der Regel nicht von besondern Erscheinungen begleitet; nur wennmehr als drei Viertel der Sonnenscheibe verfinstert werden, bemerktman eine Abnahme der Tageshelle. Die Sonnenfinsternisse sind imallgemeinen häufiger als die Mondfinsternisse. Innerhalb 18Jahren (der von den Chaldäern mit dem Namen Saros belegtenPeriode von 18 Jahren 11 Tagen = 223 synodischen oder 242Drachenmonaten) ereignen sich nur etwa 29 Mondfinsternisse, dagegen40 Sonnenfinsternisse, für einen bestimmten Ort aber nur 9,und unter diesen ist alle 200 Jahre ungefähr eine totale oderringförmige. Die letztern sind ungefähr gleich selten. -über die Vorausbestimmung der Sonnenfinsternisse durchRechnung oder Zeichnung vgl. Drechsler, Die Sonnen- undMondfinsternisse (Dresd. 1858); Oppolzer, Kanon der Finsternisse(hrsg. von der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Wien1887).

Sonnenfisch (Zeus Cuv.), Gattung aus der Ordnung derStachelflosser und der Familie der Makrelen (Scomberoidei), Fischemit länglich eirundem, hohem, seitlich starkzusammengedrücktem Körper, vorstreckbarem Maul,schwachen, nicht zahlreichen Zähnen, einfacher oder doppelterRückenflosse, unter oder vor den kleinen Brustflossenstehender Bauchflosse und nackter oder mit kleinen Schuppenbedeckter Haut. Sie bewohnen nur das Meer, besonders in niedernBreiten. Der Heringskönig (Peters-, Christus-, Martinsfisch,Z. faber L.), 1-1,25 m lang und 15-20 kg schwer, mit zweigetrennten Rückenflossen, von denen die ersteverlängerte, in Fäden auslaufende Strahlen besitzt, zweigetrennten Afterflossen, welche die Bildung der Rückenflossebis zu einem gewissen Grad wiederholen, großen Bauch-,kleinen Brustflossen und gabelförmigen Stacheln auf derBauchschneide, ist im Norden graugelb, im Mittelmeer oftgoldfarben, mit einem runden, schwarzen Fleck auf jeder Seite,bewohnt das Atlantische und das Mittelmeer, kommt nicht selten anden englischen Küsten vor, bevorzugt die hohe See, lebteinzeln, folgt aber den Zügen des Pilchards an die Küste,nährt sich von Fischen, Sepien und Krustern und wird seinesschmackhaften Fleisches halber seit dem Altertumgeschätzt.

Sonnenflecke, s. Sonne, S. 29.

Sonnengeflecht, s. Plexus.

Sonnengläser, Scheiben aus dunkel gefärbtem(London smoke) oder schwach versilbertem Glas, welche beiBeobachtung der Sonne zur Dämpfung des Lichts am Okular desFernrohrs angebracht werden. Zur Beobachtung einer Sonnenfinsternisohne Fernrohr genügt ein Stück über einer Flammegleichmäßig angerußtes Fensterglas.

Sonnengold, Pflanze, s. Helichrysum.

Sonnengott, s. Apollon und Helios.

Sonnenherde, geheiligte Viehherde des Sonnengottes(Helios). Es gab deren mehrere im Altertum, zu Erytheia, Apolloniaund auf Thrinakia. Am bekanntesten ist die letztere durch dieOdyssee geworden. Es waren sieben Herden Kühe und siebenHerden Lämmer, jede zu 50 Stück, an denen der Sonnengottseine Freude hatte; als die Gefährten des Odysseus, von Hungergetrieben, einige derselben schlachteten, zürnte Heliosunversöhnlich und sendete Unheil. Wahrscheinlich werden durchdie 7*50 Kühe und Lämmer die Tage und Nächte desMondjahrs angedeutet. Auch der Stier des Minos auf Kretagehörte zu einer S. Der Gigant Alkyoneus hatte die Rinder desHelios von Erytheia weggetrieben; Herakles erlegte ihn.

Sonnenjahr, die Zeit eines Umlaufs der Erde um die Sonne,s. Jahr.

Sonnenkälbchen, s. Marienkäfer.

Sonnenkorn, s. Ricinus.

Sonnenkultus (Sonnenanbetung), die Verehrung der Sonneals einer Licht und Wärme spendenden Gottheit, von derenWohlwollen alles Leben auf der Erde abhängt. Bei niedrigstehenden Völkern äußert sich der S.hauptsächlich nur in den Zeremonien, die beiSonnenfinsternissen zur Verscheuchung des Ungeheuers angewendetwerden, welches nach Ansicht derselben die Sonne zu verschlingendroht, gewöhnlichen Gestalt eines Wolfs oder Dämonsgedacht, den man ebenso wie den Mondwolf mit Lärm, Geschreiund Bogenschüssen zu verscheuchen sucht. Auf höhererStufe, die in der kulturgeschichtlichen Entwickelung in der Regelmit der Kupfer- oder Bronzezeit zusammenfällt, fand der mitOpfern und Zeremonien verknüpfte Kultus gewöhnlich in

Meyers Konv.- Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd.

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Sonnenlehen - Sonnenmikroskop.

Anlehnung an ein Sonnenepos statt, in welchem das Lichtprinzip(Surya der Inder, Ormuzd der Perser, Izdubar oder Nimrod derAssyrer, Osiris der Ägypter, Herakles der Phöniker undältern Griechen, Dionysos der spätern Griechen, Balderder Germanen etc.) im Kampf mit den Mächten der Finsternis(Ahriman, Typhon, Loki etc.) gedacht wurde, bald in Form einerSiegesreise durch die zwölf Himmelszeichen (die zwölfThaten des Herakles), bald eines Einzelkampfes dargestellt, beiwelchem der Sonnengott zeitweise (im Winter) unterliegt, in Fesselngeschlagen, gebunden und geschwächt, auch wohlverstümmelt wird, weil seine Strahlen alsdann keine Krafthaben, aber allmählich wieder erstarkt und über seineGegner siegt. Als die Hauptfeste dieses Kultus wurden die Zeit derwieder erstarkenden Sonne, das alte Julfest, und das derSonnenstärke (Mittsommerfest) der germanischen Stämmebegangen. Einige Völker feierten auch Klagefeste zur Zeit derverwundeten Sonne oder des absterbenden Naturlebens, die Adonis-,Osiris- und Thammuzfeste der assyrischen, ägyptischen undsemitischen Völker, die Dionysien und Bacchusfeste derGriechen und Römer, die sich in Frühlings- undHerbstfeier schieden. Bei manchen Völkern, wie z. B. denPersern, Altmexikanern und Peruanern, fand eine Verschmelzung desSonnen- und Feuerdienstes (s. d.) statt, und die Sonnenopfermußten an den Hauptfesten mit neuem oder Notfeuer (s. d.)entzündet werden. In spätern Zeiten wurde der Sonnengottdann auch wohl als Mittler- und Versöhnungsgott gefeiert,namentlich im indischen Agni, im persischen Mithra undgriechisch-italischen Dionysos. Vielfach scheint dem ausgebildetenS. ein Mondkultus mit nächtlichen Mysterien und weiblicherPriesterschaft vorausgegangen zu sein, namentlich bei solchenVölkern, wo das Mutterrecht (s. d.) galt und Frauen an derSpitze der Gemeinwesen standen (Amazonenstaaten). Ein solcherKultus findet sich noch heute unter ähnlichenVerhältnissen bei wilden Völkern Afrikas und Amerikas,und da Ähnliches in der alten Welt stattgefunden, soerklärt sich, weshalb die Sonnengottheiten zugleich alsSchützer des Vaterrechts und Unterdrücker der Amazonengalten, namentlich Apollon, Herakles, Perseus und andreSonnenkämpfer. Vgl. Dupuis, L'origine de tous les cultes (Par.1795, 3 Bde.; neue Ausg. 1835-37).

Sonnenlehen, ehedem Bezeichnung für Besitzungen, diein niemandes Lehen, vielmehr im vollen Eigentum der Besitzerstanden, bei welchen aber die Sonne als Lehnsherrin fingiertward.

Sonnenmaschine, eine Kraftmaschine zur Umsetzung der vonder Sonne gespendeten Wärme in mechanische Arbeit. DerGedanke, die Sonnenwärme zur Arbeitsleistung heranzuziehen,ist alt; doch war erst nach der Ausbildung der mechanischenWärmetheorie eine Beurteilung der von einer solchen Maschinezu erwartenden Leistung möglich. Nach Versuchen von Pouillet,Herschel und Ericsson beträgt die nutzbar zu machendeWärmemenge der Sonne pro Quadratmeter der Erdoberflächezwischen dem Äquator und dem 43. Breitengrad etwa 10 Kalorienpro Minute (1 Kalorie oder Wärmeeinheit ist die zurErwärmung von 1 kg Wasser um 1° C. erforderlicheWärmemenge), also 1/6 Kalorie pro Sekunde. Da nun 1 Kalorieeiner Arbeitsmenge von 426 Meterkilogramm gleichwertig ist, soerhält man pro Quadratmeter 1/6*426=71 Meterkilogramm proSekunde oder 71/75 = 0,95 Pferdekräfte. Um die erforderlichenTemperaturen zu erzielen, muß die Sonnenwärme mittelsgroßer Reflektoren konzentriert werden, wozu sich nachProvostaye und Desains Silberspiegel am besten eignen, welche 92Proz. der auffallenden Wärme zurückstrahlen. Ferner istes nötig, den mit der Sonnenwärme zu heizendenKörpern (Dampfkesseln, Heiztöpfen) eine möglichstgut wärmeabsorbierende Oberfläche zu geben (nach Melloniabsorbieren mit Lampenruß geschwärzte Metallflächenunter Glasbedeckung die Wärmestrahlen am besten). Die bisherzur Verwertung der Sonnenwärme benutzten Maschinen sindHeißluft- oder Dampfmaschinen. Ericssons S. besteht aus einerHeißluftmaschine (s. d.), deren Heiztopf in dem Brennpunkteines paraboloidisch gestalteten Brennspiegels liegt. Mouchot heizteinen Dampfkessel mittels Sonnenstrahlen, indem er ihn in Gestaltvon kupfernen, mit Ruß überzogenen und von einerGlasglocke überdeckten Röhren in den linearen Fokus einestrichterförmigen, aus versilberten Blechplatten gebildetenReflektors stellt. Der ganze Apparat ist auf einem Gelenksystem soangebracht, daß er mit seiner Achse leicht dem Lauf der Sonnefolgen kann. Dieser Kessel lieferte mit einem Sonnenrezeptor von3,8 qm Bestrahlungsfläche zur Winterzeit in Algier 5100 Lit.Dampf von normalem Druck = 3,1 kg Dampf, welcher ca. 2000 Kalorienenthält, so daß pro Minute und pro MeterBestrahlungsfläche 2000/60.3,8 = 8 2/3 Kalorien oder 87 Proz.der angegebenen 10 pro Quadratmeter Fläche disponibelnKalorien durch Dampfbildung nutzbar gemacht wurden, währendder Rest durch unvollständige Reflexion und Absorptionverloren ging. Eine mit dem Kessel betriebene kleine Dampfmaschineleistete eine Arbeit von 8 Meterkilogramm pro Sekunde oder 8/75 =ungefähr 1/9 Pferdekraft, während nach obigen Angaben inder auf 3,8 qm Fläche fallenden Sonnenwärme 3,8.0,95 =3,6 Pferdekräfte disponibel sind, so daß nur8.100/75.3,6 = 3 Proz. der Sonnenwärme ausgenutzt werden.Demnach wären für eine S. von nur 1 Pferdekraft 9.3,8 =35 qm und für eine S. von 100 Pferdekräften 3500 qmBestrahlungsfläche erforderlich. Dieses ungünstigeResultat rührt jedoch nicht von der Wärmeübertragungher, die ja 87 Proz. der Wärme nutzbar macht, sondern ist inder Natur der Dampfmaschine begründet, welche auch in derbesten Ausführung nur etwa 5-6 Proz. der Wärme einesBrennmaterials in Arbeit verwandeln kann, während alleübrige Wärme teils durch Strahlung, teils durch denSchornstein, zum größten Teil jedoch durch denabziehenden Dampf, bez. das Kondensationswasser verloren geht.Solange es daher keine Maschine gibt, welche die Wärmebedeutend besser ausnutzt als die Dampfmaschine, wird die S.schwerlich, auch nicht in den für sie günstigstenTropenländern, eine nennenswerte Verwendung findenkönnen.

Sonnenmesser, s. v. w. Heliometer (s. d.).

Sonnenmikroskop, Vorrichtung, um vergrößerteBilder sehr kleiner Gegenstände auf einem Schirm, fürviele Zuschauer gleichzeitig sichtbar, zu entwerfen. Seinwesentlichster Teil ist eine in die Röhre e (s. Figur, S. 35)bei d eingeschraubte Konvexlinse von kurzer Brennweite, welche voneinem kleinen, gewöhnlich zwischen zwei Glasplattengefaßten und bei cc etwas außerhalb der Brennweite derLinse d festgeklemmten Gegenstand auf einem Schirm ein riesigesBild entwirft. Da die Lichtmenge, welche von dem kleinen Gegenstandausgeht, sich auf die im Verhältnis enorm großeFläche des Bildes verteilt, so begreift man, daß derGegenstand sehr hell erleuchtet sein muß, wenn das Bild nichtzu lichtschwach

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Sonnenorden - Sonnenthal.

ausfallen soll. Die starke Beleuchtung des Gegenstandes wirdbewirkt durch eine große Konvexlinse a am Ende des weitenRohrs, welches den Hauptkörper des Instruments ausmacht;dieselbe sammelt unter Beihilfe der kleinern Linse b die zurBeleuchtung bestimmten Lichtstrahlen aus dem kleinen Gegenstand.Eine Zahnstange mit Trieb dient dazu, den Objektträger cc inden Brennpunkt der Beleuchtungslinsen einzustellen, eine andre hatden Zweck, durch Verschiebung der Fassung de das Bild genau auf denSchirm zu bringen. Zur Beleuchtung wird entweder Sonnenlichtbenutzt, indem man die Vorrichtung als eigentliches "S." in dieÖffnung eines Fensterladens einsetzt und ihm durch einenSpiegel (Heliostat, s. d.) die Sonnenstrahlen zuführt; oderman beleuchtet das Mikroskop mit elektrischen. oder mitDrummondschem Kalklicht (s. Knallgas), für welche Fälleman ihm die überflüssigen Namen photoelektrischesMikroskop und Hydrooxygenmikroskop (Knallgasmikroskop) beigelegthat.

Sonnenorden, 1) Argentinischer S., Stifter undStiftungszeit unbekannt; das Ordenszeichen besteht in einergoldenen Medaille, welche die Sonne, umgeben von einemLorbeerkranz, zeigt. - 2) Persischer Sonnen- und Löwenorden,1808 von Schah Feth Ali gestiftet unter dem NamenNishan-i-Schir-u-Khorschid für Zivil- undMilitärverdienst, erhielt seine Organisation nach dem Musterder französischen Ehrenlegion von Ferukchan und hat fünfKlassen. Die Großkreuze tragen einen achtstrahligensilbernen, brillantierten Stern, in der Mitte von einer dreifachenPerlenreihe umgeben, das Bild des schwerttragenden Löwen,stehend für Perser, liegend für Ausländer, mit deraufgehenden Sonne; die zweite Klasse den siebenstrahligen Stern;die dritte Klasse mit sechs Strahlen um den Hals; die vierte dieDekoration mit fünf Strahlen und einer Rosette im Knopflochund die fünfte die fünfstrahlige Dekoration ohne Rosette.Blau, Rot oder Weiß ist die Farbe des Bandes für diePerser, Grün für die Ausländer.

Sonnenparallaxe, s. Parallaxe u. Sonne, S. 28.

Sonnenrauch, s. Herauch.

Sonnenring, s. Hof, S. 604 f.

Sonnenrisse, das Aufreißen der Rinde vonBäumen im Frühling auf der Südseite, hervorgerufendurch die starke Erwärmung und Austrocknung durch die Sonne,wahrscheinlich nach vorangehenden Spätfrösten.

Sonnenröschen, s. Helianthemum.

Sonnenrose, s. Helianthus.

Sonnenscheibe, geflügelte (Tebta), ein in derägyptischen Architektur häufig angewandtes Symbol desGottes Horos von Apollinopolis magna (Edfu). Es findet sich zumeistüber den Thüren und Thoren der Tempel gleichsam alsAbwehr des Bösen ausgemeißelt. Um die Scheibe windensich gewöhnlich zwei Uräusschlangen, die Ober- undUnterägypten symbolisieren (s. Abbild.). Die spätere Zeithat die Bedeutung, welche der geflügelten S. in denKämpfen des Horos gegen Seth beigelegt wurde, in einer Sageweiter ausgebildet.

Sonnenschein, Franz Leopold, Chemiker, geb. 13. Juli 1817zu Köln, erlernte daselbst die Pharmazie, errichtete in den30er Jahren in Berlin ein kleines Laboratorium und bereitete inGemeinschaft mit einem Arzt andre Apotheker auf das Staatsexamenvor. Gleichzeitig studierte er Chemie und habilitierte sich 1852als Privatdozent. Er widmete sich speziell der analytischen Chemieund entfaltete eine sehr ausgedehnte praktische Thätigkeit,durch welche er ein Ansehen gewann wie kaum ein Chemiker vor ihm.Viele technische Unternehmungen verdankten ihm hauptsächlichihren Erfolg. Die analytische und die gerichtliche Chemieförderte er durch zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen.Er starb 26. Febr. 1879 als Professor an der Universität inBerlin. Von seinen Schriften sind hervorzuheben: "Anleitung zurchemischen Analyse" (Berl. 1852, 3. Aufl. 1858); "Anleitung zurquantitativen chemischen Analyse" (das. 1864); "Handbuch dergerichtlichen Chemie" (2. Aufl. von Clafsen, das. 1881) und"Handbuch der analytischen Chemie" (das. 1870-71, 2 Bde.).

Sonnenscheinautograph, s. Insolation.

Sonnenstein, s. Adular, Bernstein (S. 785), Korund undOligoklas.

Sonnenstein, Schloß, s. Pirna.

Sonnensteine, s. Gräber, prähistorische.

Sonnenstich (Insolation, Heliosis), im weitern Sinn alleKrankheitserscheinungen, welche durch anstrengende Bewegungen beihoher Wärme auftreten (s. Hitzschlag); im engern Sinn eineReihe von Erregungszuständen, Delirien mit Selbstmordideen,welche bei marschierenden Soldaten in den Tropen unter Einwirkungdirekter Sonnenstrahlung beobachtet worden sind und als Wirkung derstrahlenden Wärme auf das Gehirn aufgefaßt werden. Vgl.Jacubasch, S. und Hitzschlag (Berl. 1879).

Sonnensystem, die Gesamtheit der Weltkörper, welchesich um die Sonne als Zentralkörper bewegen, mitEinschluß der Sonne selbst. Vgl. Karte "Planetensystem".

Sonnentafeln, astronom. Tafeln, welche den Himmelsort derSonne für den Mittag jedes Tags angeben. GroßeVerdienste um Herstellung guter S. erwarb sich der italienischeAstronom Carlini, dessen Werk (Mail. 1810) von Bessel durchKorrektionstafeln noch mannigfach verbessert worden ist (1827).Ältere Tafeln besitzen wir von Lacaille, Mayer, Zach (1804)und Delambre (1805); die genaueren sind gegenwärtig die vonHansen und Olufsen (Kopenh. 1853) und Leverrier (Par. 1858).

Sonnentag, s. Sonnenzeit.

Sonnentau, Pflanzengattung , s. Drosera.

Sonnentaugewächse, s. Droseraceen.

Sonnenthal, Adolf von, Schauspieler, geb. 21. Dez. 1834zu Pest, mußte infolge plötzlicher Verarmung seinerEltern das Schneiderhandwerk ergreifen, wandte sich später,seiner Neigung folgend und von Dawison ermuntert undeinigermaßen vorbereitet, zur Bühne und debütierte1851 zu Temesvár als Phöbus im "Glöckner von NotreDame". 1852 ging er nach Hermannstadt, von hier 1854 nach Graz undim Winter 1855-56 nach Königsberg, wo er mit solchem Erfolgauftrat, daß Laube ihm ein Engagement am Wiener Burgtheaterantrug. Hier trat er im Mai 1856

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Sonnentierchen - Sonnenzeit.

zum erstenmal (als Mortimer) auf, wurde nach drei Jahren aufLebenszeit engagiert und entwickelte sich unter Laubes Leitung zueinem der bedeutendsten Künstler der Gegenwart. 1881gelegentlich seines 25jährigen Dienstjubiläums durchVerleihung des Ordens der Eisernen Krone in den Adelstand erhoben,wurde er 1884 zum Oberregisseur ernannt und fungierte seit demAbgang des Direktors Wilbrandt (Juni 1887) bis Ende 1888 alsartistischer Leiter der Anstalt. Sonnenthals eigentlicheStärke liegt im Schauspiel und im Lustspiel; als Darstellersogen. Salonrollen nimmt er unbestritten den ersten Platz ein. Ausseinem vielseitigen Repertoire sind Ahasver, Hamlet, Narciß,Mortimer, Graf Waldemar, Lord Rochester ("Waise von Lowood"),Fürst Lübbenau ("Aus der Gesellschaft"), Fox, Bolz,Ringelstern, Posa, Raoul Gérard ("Aus der komischen Oper"),Gesandtschaftsattaché, Marcel de Prie ("Wildfeuer"),König ("Esther"), auch Faust, Tell u. a. hervorzuheben. S. hatauch einige französische Bühnenstücke, z. B. den"Marquis von Villemer", gewandt und wirksam übertragen.

Sonnentierchen, s. Rhizopoden (2).

Sonnenuhr, eine Vorrichtung, welche die Zeit angibtmittels der Lage des Schattens, den ein von der Sonne beschienener,zur Weltachse paralleler Stab (Gnomon oder Weiser) auf eine in derRegel ebene Fläche, das Zifferblatt, wirft. Nicht seltenbezeichnet man auch die ganze S. mit dem Namen Gnomon (s. d.). Dieeinfachste S. ist die Äquinoktialuhr. Bei ihr ist die Ebene,auf welche der Schatten fällt, senkrecht zum Stab, alsoparallel zur Ebene des Äquators, und da die Sonne bei ihrerscheinbaren täglichen Bewegung sich parallel zu dieser Ebenebewegt, so rückt der Schatten um ebensoviel Grade auf derEbene weiter als die Sonne am Himmel; es entspricht einer jedenStunde ein Winkel von 15°. Man erhält das Zifferblatt,wenn man um den Punkt, in welchem der Stab besestigt ist, einenKreis schlägt, denselben in 24 gleiche Teile teilt und dieRadien nach den Teilungspunkten zieht; dreht man nun noch die Ebeneso, daß der eine Radius in die Ebene des Meridians zu liegenkommt, so fällt auf ihn der Schatten des Stabes mittags, aufdie beiden benachbarten vormittags 11 und nachmittags 1 Uhr etc.Bei der Horizontaluhr liegt das Zifferblatt horizontal; dieStundenlinie 12 Uhr liegt auch hier in der Ebene des Meridians,aber die Winkel, welche die übrigen Stundenlinien mit dieserersten einschließen, sind nicht der Zeit proportional,sondern wenn t diesen Winkel für die Aquinoktialuhr bedeutet(also t = 15° für 1 Uhr, 30° für 2 Uhr), sofindet man für die geographische Breite ^|phi| denentsprechenden Winkel u der Horizontaluhr mittels der Gleichung tanu = sin ^|phi|. tan t. Man kann diesen Winkel auch einfachkonstruieren (s. Figur). Man mache OA = 1, AM = sin ^|phi| (z. B.für Berlin = 0,798, weil ^|phi| = 52° 30'), errichte ABrechtwinkelig auf O M und mache Winkel AMC = t; dann ist Winkel AOC= u. Die Vertikaluhr hat ihr Zifferblatt in einer vertikalen Ebene,die im einfachsten Fall von O. nach W. geht; die Stundenlinie 12Uhr liegt in der Ebene des Meridians, und den Winkel u, den irgendeine andre Stundenlinie mit der mittägigen einschließt,berechnet man aus dem entsprechenden Winkel t derÄquinoktialuhr mittels der Formel tan u = cos ^|phi| . tan t.Man kann demnach u auch auf die in der Figur erläuterte Artkonstruieren, wenn man AM = cos ^|phi| (für Berlin = 0,609)macht. Äquinoktial- und Horizontaluhren geben alle Stunden an,solange die Sonne scheint; bei den erstern fällt der Schattenim Sommerhalbjahr auf die obere, im Winterhalbjahr auf die untereSeite des Zifferblatts, weshalb auch der Stab nach beiden Seitenhin gehen muß. Eine Vertikaluhr der beschriebenen Art gibtaber nur die Zeit von früh 6 bis abends 6 Uhr an.Übrigens geben die Sonnenuhren nicht die im bürgerlichenLeben übliche mittlere Zeit, sondern die wahre Sonnenzeit (s.d.) an. Bei den neuern hemisphärischen Sonnenuhren zeigt einschattenwerfendes Fadenkreuz das ganze Jahr hindurch die Sonnenzeitauf der in einer halben Hohlkugel angebrachten Teilung an. Vgl.Littrow, Gnomonik (2. Aufl., Wien 1838); Goring, Die S. (Arnsb.1864); Vidal, La gnomonique (Par. 1876); Mollet, Gnomoniquegraphique (7. Aufl., das. 1884).

Sonnenvogel (Pekingnachtigall, Leiothrix luteus Scop.),Sperlingsvogel aus der Familie der Lärmdrosseln (TimaliidaeGray), von der Größe der Kohlmeise, oberseitsolivengraubraun, am Kopf gelblich, Kinn und Kehle orange,unterseits gelblichweiß, an den Seiten graubräunlich, anden Flügeln schwarz mit orange und am Schwanz braun undschwarz, mit braunen Augen, korallenrotem Schnabel undfleischbraunen Füßen, bewohnt dichte Wälder imHimalaja zwischen 1500 und 2500 m Höhe und inSüdwestchina, nährt sich von allerlei Kerbtieren,Früchten und Sämereien, ist sehr munter, hat einenansprechenden Gesang, legt 3-4 bläulichweiße, rotgetüpfelte Eier und wird in China und Indien seit langer Zeit,jetzt auch bei uns vielfach als Stubenvogel gehalten undgezüchtet. S. Tafel "Stubenvögel".

Sonnenweite, die mittlere Entfernung der Erde von derSonne, 148,670,000 km oder 20,036,000 geogr. Meilen; sie bildet dieEinheit, nach der man häufig die Entfernungen im Sonnensystemmißt.

Sonnenwende, Name einiger Pflanzen, s. Cichorium undHeliotropium.

Sonnenwenden (Solstitien, Solstitial- oderSonnenstillstandspunkte), die zwei um 180° voneinanderentfernten Punkte der Ekliptik, welche am weitesten, nämlich23° 27½', vom Äquator entfernt sind. Dernördlich vom Äquator gelegene ist der Anfangspunkt desSternzeichens des Krebses und heißt die Sommersonnenwendeoder das Sommersolstitium, weil der Durchgang der Sonne durchdenselben den Anfang des astronomischen Sommers der nördlichenErdhalbkugel bezeichnet; der südliche dagegen, derAnfangspunkt des Steinbocks, wird die Wintersonnenwende, dasWintersolstitium, genannt, weil dort die Sonne zu Anfang desastronomischen Winters steht. Mit dem Namen S. (Solstitien)bezeichnet man auch die Zeitpunkte, in denen die Sonne durch diesePunkte geht; die durch die letztern gelegten Parallelkreise desHimmels heißen Wendekreise. Vgl. Ekliptik.

Sonnenwendfeier, s. Johannisfest.

Sonnenzeit, die durch die scheinbare täglicheBewegung der Sonne bestimmte Zeit im Gegensatz zur Sternzeit, derenGrundlage der Sterntag (s. Tag) bildet. Der wahre Sonnentag oderdie Zeit zwi-

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Sonnenzirkel - Sonntag.

schen zwei aufeinander folgenden Kulminationen der Sonnemuß etwas länger sein als der Sterntag, weil die Sonneunter den Fixsternen von W. nach O. geht; denn kulminiert heute dieSonne gleichzeitig mit einem Fixstern, so wird sie morgen, wenn derletztere wieder kulminiert, noch etwas östlich vom Meridianstehen und diesen erst später erreichen. Die Bewegung derSonne in ihrem Parallelkreis bildet die Grundlage für dieBestimmung der wahren S. Es ist wahrer Mittag, wenn die Sonne imMeridian steht; nachmittags 1 Uhr, 2 Uhr etc., wenn die Sonne inihrem Parallelkreis 15°, 30° etc. westlich vom Meridiansteht. Diese wahre S. wird von den Sonnenuhren angegeben. Die Dauereines wahren Sonnentags ist aber im Lauf eines Jahrsveränderlich, weil die Sonne nicht alle Tage um dasselbeStück am Himmel nach O. rückt; am größten, 24Stunden 0 Minuten 30 Sekunden, ist sie 23. Dez., am kleinsten, 23Stund. 59 Min. 39 Sek., Mitte September. DieseUngleichförmigkeit hat zwei Ursachen. Einmal bewegt sich dieErde in ihrer elliptischen Bahn mit veränderlicherGeschwindigkeit, in der Sonnennähe rascher als in derSonnenferne; dem entsprechend ist auch die scheinbare Bewegung derSonne in der Ekliptik ungleichförmig. Ferner sind aber auchdie verschiedenen Stücke der scheinbaren Sonnenbahn (Ekliptik)ungleich geneigt gegen den Äquator. In der Nähe derSolstitialpunkte liegt sie parallel zum Äquator, in denÄquinoktien schneidet sie denselben unter 23½°; anden letztern Punkten wird daher das Vorrücken nach O. (dieVergrößerung der Rektaszension) nur einen Bruchteil derscheinbaren Belegung in der Ekliptik betragen, während in denSolstitien beide Bewegungen gleich sind. So wie die Sonnentage,sind auch die einzelnen Stunden von ungleicher Länge. Deshalbeignet sich die wahre S. nicht für die Zwecke desbürgerlichen Lebens; man kann auch keine mechanischen Uhrenherstellen, welche dieselbe angeben. Andernteils würde esunzweckmäßig sein, im bürgerlichen Leben nachSternzeit zu rechnen, da der Anfang des Sterntags bald auf den Tag,bald auf die Nacht fällt. Deshalb rechnet man nach mittlererZeit. Die Sonne braucht, um in der Ekliptik vom Frühlingspunktbis wieder zu demselben Punkt zu gelangen (tropisches Jahr)366,2422 Sterntage; sie selbst geht in dieser Zeit einmal wenigerdurch den Meridian als ein beliebiger Fixstern, und man teilt daherdiesen Zeitraum in 365,2422 gleich lange Abschnitte, die manmittlere Tage nennt, und deren jeder wieder in 24 gleich langeStanden zu 60 Minuten zu 60 Sekunden zerfällt. Da 365,2422mittlere Tage = 366,2422 Sterntagen sind, so ist 1 mittlerer Tag =1 Tag 3 Min. 56,55 Sek. Sternzeit und 1 Sterntag = 1 Tag weniger 3Min. 55,91 Sek. mittlerer Zeit. Viermal im Jahr, nämlich 15.April, 14. Juni, 31. Aug. und 24. Dez., fällt die wahre S. mitder mittlern Zeit zusammen; in den Zwischenzeiten ist abwechselnddie eine oder die andre voraus. Den Unterschied beider nennt mandie Zeitgleichung. Man gibt dieselbe in mittlerer Zeit an und zwarpositiv, wenn man sie zur wahren Zeit addieren muß, um diemittlere zu finden, negativ, wenn sie zu subtrahieren ist. Gibtalso eine Sonnenuhr nachmittags 4 Uhr 30 Min. an, und ist dieZeitgleichung +12 Min., so ist es nach mittlerer Zeit um 4 Uhr 42Min.; wäre aber die Zeitgleichung -12 Min., so hätte manerst 4 Uhr 18 Min. mittlere Zeit. Die astronomischenJahrbücher geben die Zeitgleichung für den wahren Mittageines bestimmten Meridians (das Berliner "Astronomische Jahrbuch"für den Meridian von Berlin) von Tag zu Tag an. Statt dessenfindet man in den meisten Kalendern die mittlere Zeit im wahrenMittag verzeichnet, die man durch Addition (bez. Subtraktion) derZeitgleichung zu 12 Uhr erhält; statt Zeitgleichung +12 Min.30 Sek. findet man also mittlere Zeit im wahren Mittag 12 Uhr 12Min. 30 Sek. Weitere Zahlenangaben erscheinen hier unnötig;nur die größten Werte, welche die Zeitgleichung im Laufdes Jahrs erreicht, mögen noch erwähnt werden,nämlich:

+ 14 Min. 34 Sek. - 3 Min. 53 Sek.

am 12. Febr., 14. Mai,

+ 6 Min. 12 Sek. - 16 Min. 18 Sek.

am 26. Juni, 18. Nov.

Mit der Zeitgleichung im Zusammenhang steht noch der Umstand,daß die Zeiten des Auf- und Unterganges der Sonne, die inunsern Kalendern verzeichnet sind, nicht gleich weit von mittags 12Uhr abstehen. So findet man z. B. für Leipzig 1. Juli denSonnenaufgang um 3 Uhr 50 Min. früh und den Untergang 8 Uhr 17Min. abends angegeben; das Mittel aus beiden Zeiten ist 12 Uhr3½ Min. mittags. Dies ist aber annähernd die Zeit deswahren Mittags (12 Uhr 3 Min. 33 Sek.). Ganz genau gleich weit vomwahren Mittag entfernt sind übrigens die Momente des Auf- undUnterganges nicht wegen der ungleichen Bewegung der Sonne in derEkliptik. Vgl. Förster, Ortszeit und Weltzeit (Berl.1884).

Sonnenzirkel, s. Kalender, S. 383.

Sonnewalde, Stadt im preuß. RegierungsbezirkFrankfurt, Kreis Luckau, hat eine Dampfbrauerei und (1885) 1152Einw. Dabei das Schloß S. des Grafen von Solms.

Sonnino, Dorf in der ital. Provinz Rom, Kreis Frosinone,in den Volsker Bergen gelegen, mit (1881) 3200 Einw., Geburtsortdes Kardinals Antonelli, war früher ein berüchtigtesRäubernest und wurde deshalb 1819 teilweise zerstört.

Sonntag (Dies Solis), der Tag der Sonne (althochd.Sunnentac, altnord. Sunnudaga, engl. Sunday, niederländ.Sondag, schwed. Sondag, dän. Sondag), im Brauch der Kirche dererste Tag der Woche und als Tag des Herrn (dies dominicus oderdominica, woraus das franz. dimanche, das ital. domenica, das span.und portug. domingo gebildet worden ist) zugleich derwöchentliche Ruhe- und Feiertag der Christen. Wiewohl sich imNeuen Testament kein bestimmtes Gebot für denselben findet(doch vgl. 1. Kor. 16, 2; Offenb. 1, 10; Apostelgesch. 20, 7), warder schon im nachapostolischen Zeitalter als AuferstehungstagChristi neben dem jüdischen Sabbat gefeiert, und zwar alsFreudentag. Mit dem Aufgeben der Heilighaltung des Sabbats trug manviele der auf diesen bezüglichen Anschauungen auf den S.über; doch datieren förmliche Verbote irdischer, nichtganz dringender Geschäfte an Sonntagen von seiten derweltlichen Obrigkeit erst aus der Zeit Konstantins d. Gr., undKaiser Leo III. (717-741) untersagte endlich jegliche Arbeit andiesem Tag. Die Reformatoren wollten den S., ohne Berufung auf eingöttliches Gebot, bloß der Zweckmäßigkeitwegen beobachtet wissen. Dagegen hat schon Beza die Ansichtvertreten, daß der S. eine göttliche Einsetzung und andie Stelle des jüdischen Sabbats getreten sei, und so hat sichauf reformiertem Gebiet, besonders in England, Schottland undNordamerika, die strengste Form der Sonntagsfeier bis auf denheutigen Tag erhalten, selbst wenn die bezüglichen Gesetzenicht mehr aufrecht erhalten werden. In

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Sonntagsbuchstabe - Sonometer.

Frankreich dagegen ist seit der großen Revolution derUnterschied zwischen Sonn- und Wochentagen thatsächlichaufgehoben worden. Auch in Italien sind alle auf Nichtbeobachtungder Feiertage gesetzten Strafen gesetzlich beseitigt. Die neuereGesetzgebung in Deutschland, namentlich in Preußen, ist vondem durch die Humanität gebotenen Gesichtspunkt ausgegangen,daß der Staat alle offiziellen Amtshandlungen am S. zuuntersagen, bei seinen eignen Unternehmungen die Sonntagsarbeit zuvermeiden und die Tagelöhner, Dienstboten und Fabrikarbeitergegen die Forderungen ihrer Herren vor Sonntagsarbeit zuschützen hat. Die deutsche Gewerbeordnung (§ 136)verbietet die Beschäftigung von jugendlichen Arbeitern anSonn- und Festtagen; auch können die Gewerbtreibenden dieArbeiter an Sonn- und Festtagen zum Arbeiten nicht verpflichten(§ 105). Auch die evangelische Kirche hat neuerdings ihreAufmerksamkeit wieder auf diesen Punkt gelenkt und ist dabeivornehmlich dem Mißbrauch des Sonntags zu Vergnügungenund Ausschweifungen entgegengetreten. Ein "internationalerKongreß für Sonntagsruhe" tagte 1877 in Genf, 1879 inBern. Die jetzt noch gewöhnlichen Namen der Sonntage kommenteils von den Festen her, denen sie folgen, teils von denAnfangsworten der alten lateinischen Kirchengesänge oderKollekten, welche meistens aus den Psalmen entlehnt waren. UnsreKalendersonntage sind: 1) ein S. nach Neujahr, der jedoch nur insolchen Jahren eintritt, in welchen Neujahr auf einen der vierletzten Wochentage fällt; 2) zwei bis sechs Sonntage nachEpiphania (s. d.); 3) die Sonntage Septuagesimä,Sexagesimä und Estomihi (Ps. 71, 3); 4) die FastensonntageInvokovit (Ps. 91, 15), Reminiscere (Ps. 25, 6), Okuli (Ps. 25,15), Lätare (Jes. 66, 10), Judika (Ps. 43, 1) und derPalmsonntag (s. d.); 5) sechs Sonntage nach Ostern: Quasimodogeniti(1. Petr. 2, 2), Misericordias Domini (Ps. 23, 6, oder 89, 2),Jubilate (Ps. 66, 1), Kantate (Ps. 96, 1), Rogate (Matth. 7, 7) undExaudi (Ps. 27, 7); 6) die Trinitatissonntage, deren Anzahl von demfrühern oder spätern Eintritt des Osterfestesabhängt und höchstens 27 beträgt; 7) die vierAdventsonntage (s. Advent); 8) ein S. nach Weihnachten, welcher nurdann eintritt, wenn das Weihnachtsfest nicht auf den Sonnabend oderS. fällt. Vgl. Litteratur bei Kirchenjahr; ferner: Henke,Beiträge zur Geschichte der Lehre von der Sonntagsfeier(Stendal 1873); Zahn, Geschichte des Sonntags, vornehmlich in deralten Kirche (Hannov. 1878); Rauschenbusch, Der Ursprung desSonntags (Hamb. 1887); Grimelund, Geschichte des Sonntags(Gütersl. 1889); Lammers, Sonntagsfeier in Deutschland (Berl.1882); "Gesetze und Verordnungen, betreffend die Ruhe an Sonn- undFeiertagen" (das. 1886); über die Sonntagsfeier vom Standpunktder Gesundheitslehre die Schriften von Schauenburg (das. 1876) undNiemeyer (das. 1877).

Sonntagsbuchstabe, s. Kalender, S. 383.

Sonntagsschulen, dem Wortlaut nach jede Schule, inwelcher am Sonntag unterrichtet wird, was vielfach in denFortbildungsschulen (s. d.) der Fall ist. Vorzugsweise bezeichnetman aber mit dem Namen S. solche Anstalten, in welchen die Jugenddes niedern Volkes durch freiwillige Lehrer und Lehrerinnen dergebildeten Stände im religiösen Interesse unterrichtetwird. Solche Schulen gründete schon der Erzbischof KarlBorromeo von Mailand (gest. 1584), und andre hervorragendeMänner der katholischen Kirche, namentlich J. B. de La Salle,Stifter der christlichen Schulbrüder, folgten ihm darin. Dochblieben diese Bestrebungen vereinzelt. Dagegen erwachte im letztenViertel des vorigen Jahrhunderts in England und Schottland einbegeisterter Eifer für die Gründung von S., welcher sichin alle Länder der angelsächsischen Zunge, besonders nachNordamerika, verbreitet hat. Nach einigen sollen die erstenenglischen S. von den Töchtern des Geistlichen More zu Hanhambei Bristol, namentlich von der auch als Schriftstellerin bekanntenHannah More, gegen 1780 eingerichtet worden sein. Gewöhnlichwird Robert Raikes, ein reicher Buchdrucker in Gleucester (geb.1735, gest. 1811), als erster Gründer der S. genannt. Ergründete 1781 (1784) eine Sunday School in seiner Vaterstadtund gab die Anregung zu der von William Fox gestifteten LondonSunday School Society (1785), welche in kurzer Zeitaußerordentliche Erfolge aufzuweisen hatte. In Deutschlandentstand 1791 eine Sonntagsschule in München; 1799gründete Professor Müchler in Berlin eine solche fürKnaben, 1800 der jüdische Menschenfreund Samuel Levi einesolche für Mädchen. Der Eifer für die S. nahm inevangelisch-kirchlichen Kreisen seit 1864 noch einmal lebhaftenAufschwung durch die Bemühungen des Amerikaners AlbertWoodruff aus Brooklyn sowie seiner deutsch-amerikanischen FreundeBröckelmann aus Heidelberg und Professor Schaff aus New York,nachdem schon 1857 die Versammlung der Evangelischen Allianz inBerlin auf diese bezeichnende Form englischer Kirchlichkeit vonneuem die Aufmerksamkeit gerichtet hatte. Da in Deutschland dieErgänzung des öffentlichen Schulunterrichts durch privateWohlthätigkeit im allgemeinen nicht Bedürfnis ist, habendie S. hier mehr Wesen und Namen der Jugendgottesdiensteangenommen. An S. aller Art waren 1888 in Deutschland nachglaubhafter Angabe 30,000 Lehrer und Lehrerinnen unter etwa 230.000Kindern thätig.

Sonometer (Audiometer), ein von Hughes angegebenerApparat zur Bestimmung der Empfindlichkeit des menschlichen Ohrs,besteht aus einem Mikrophon (ein vertikal stehendesKohlenstäbchen, das mit seinen zugespitzten Enden zwei mitKlemmschrauben versehene Kohlenstückchen berührt),welches auf dem Sockel einer Pendeluhr steht und in denSchließungsbogen einer Batterie aus drei DaniellschenElementen eingeschaltet ist; der galvanische Stromdurchfließt ferner zwei etwa 30 cm voneinander entfernte,miteinander parallele Drahtrollen, deren eine mit einem Draht von100 m, die andre mit einem Draht von 9 m Länge umwickelt ist.Zwischen diesen beiden Rollen, auf einem Stab verschiebbar,befindet sich eine dritte, auf welcher gleichfalls ein Draht von100 m Länge aufgewunden ist, dessen Enden mit einem Telephonverbunden sind. Die Drähte der beiden ersten Rollen sind sogewickelt, daß sie in der mittlern Ströme vonentgegengesetzter Richtung induzieren. Verschiebt man die mittlereRolle so lange, bis die in ihr induzierten entgegengesetztenStröme gleiche Stärke besitzen, so heben sie sich auf,und in dem Telephon wird das Ticken der Uhr nicht gehört.Diese Stellung wird als Nullpunkt bezeichnet und der Abstandzwischen demselben und der ersten Rolle auf dem Stab in 200 gleicheTeile (Grade) eingeteilt. Verschiebt man nun die mittlere Rollegegen die erste hin, so hört man das Ticken der Uhr imTelephon zuerst schwach und bei weiterer Verschiebung immerstärker. Versuche an verschiedenen Personen lehrten, daßbeim ersten Grade das Ticken nur von einem äußerstempfindlichen Gehörorgan wahrgenommen

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Sonor - Sontag.

werden kann; die mittlere Empfindlichkeit des menschlichen Ohrsentspricht den Graden 4-10; Personen, welche bei der Rollenstellung200 den Schlag der Uhr nicht hören, müssen als absoluttaub angesehen werden.

Sonor (lat.), helltönend, wohlklingend.

Sonora, der nordwestlichste Staat der Republik Mexiko, amKalifornischen Meerbusen, umfaßt 197,973 qkm (3595,4 QM.).Die Küstengegend ist meist flach und im NW. so sandig,daß selbst die Viehzucht unmöglich wird; das Innere aberbesteht aus Gebirgsland, dicht bewaldet, von fruchtbarenThälern durchzogen und reich an Mineralschätzen. Diewichtigsten Flüsse sind der Yaqui, der Mayo und der S., vondenen die beiden erstern das ganze Jahr durch Wasser haben, derSonora aber sich in den sandigen Ebenen von Siete Cerritosverliert. Das Klima ist auch an der Küste gesund; nur in derNähe von den Sümpfen von Santa Cruz kommen Wechselfiebervor. Von Juni bis zum August bläst gelegentlich der Vientocaliente. Im Innern trifft man alle Extreme der Temperatur, und inden höher gelegenen Gegenden friert es vom November bis zumMärz. Die Bevölkerung betrug 1882: 115,424 Seelen, zumgroßen Teil Indianer, den Stämmen der Yaqui, Mayo, Seri,Papayo, Opata und Apatschen angehörig. Ackerbau ist fastüberall nur bei künstlicher Berieselung möglich,ergibt dann aber reichen Ertrag an Mais, Weizen, Zuckerrohr,Bohnen, Baumwolle, Kaffee, Tabak, Indigo etc. Wein und alle Artenvon Obst gedeihen vortrefflich. Auch die Viehzucht ist vonBedeutung. Die Austern- und Perlenfischerei wird mit Erfolggetrieben. Der Bergbau beschäftigte 1878: 5600 Menschen undergab einen Ertrag von 1,640,272 Pesos, vornehmlich Gold undSilber. Außerdem findet man aber auch Kupfer, Eisen (im N.),Graphit (bei San José de la Pimas) und Steinkohlen (SantaClara). Die Industrie beschränkt sich auf Baumwollfabrikation(4 Fabriken), Hut- und Schuhmacherei, Seifensiederei etc.Hauptartikel der Ausfuhr sind Edelmetalle, Erze, Häute undHüte. Hauptstadt ist Hermosillo, wichtigster Hafen Guaymas. S.Karte "Mexiko". - Die sonorischen Sprachen bilden nach denUntersuchungen Professor Buschmanns einen weitverzweigtenSprachstamm, der nicht allein in S., sondern im ganzennördlichen Mexiko sowie im südlichen Arizona undKalifornien herrscht; auch die Sprache der Schoschonen oderSchlangenindianer im Felsengebirge, der Juta in Utah u. a.gehören zu demselben. Vgl. Buschmann, Die Spuren deraztekischen Sprache im nördlichen Mexiko; Derselbe, DieZahlwörter in den sonorischen Sprachen (in den "Abhandlungender Akademie der Wissenschaften", Berl. 1859 u. 1867).

Sonrhai (Songhay), Negerstamm im westlichen Sudân,zu beiden Seiten des mittlern Niger, bildete ehemals eingroßes Reich, welches 1009 den Islam annahm, unter dem SultanAskia, einem der größten afrikanischen Eroberer,mächtig erweitert, zu Ende des 15. Jahrh. das ganze innereNordafrika bis östlich zum Tschadsee umfaßte, Garo zurHauptstadt hatte und 1592 durch die Marokkaner zerstört wurde.Zu ihm gehörte auch Timbuktu. Nach Barth besitzen die S.feinere, edlere Züge von kleinern Umrissen, die Gestalten sindschlank, die Beine wadenlos. Die Sprache der S. ist neuerdings vonBarth und Lepsius, ausführlicher von Fr. Müller("Grundriß der Sprachwissenschaft", I, 2, Wien 1877)dargestellt, der sie für völlig isoliert hält.

Sonsonate, Stadt im zentralamerikan. Staat Salvador, amRio Grande, in reizender, aber von Erdbeben oft heimgesuchterGegend, hat lebhaften Handel und (1878) 5127 Einw. Eisenbahnenverbinden die Stadt mit den Häfen Acajutla und Libertad. S.wurde 1524 von Pedro de Alvarado gegründet.

Sontag, 1) Henriette, Gräfin Rossi,Opernsängerin, geb. 3. Jan. 1806 zu Koblenz, wo ihre Elternals Schauspieler wirkten, erhielt ihre musikalische Ausbildung imKonservatorium zu Prag, debütierte daselbst in ihrem 15. Jahrals Prinzessin in "Johann von Paris" mit großem Erfolg, gingdarauf mit ihrer Mutter nach Wien, wo sie an der Deutschen undItalienischen Oper mitwirkte, ward 1824 am neuenKönigstädter Theater in Berlin engagiert und bald daraufzur Hof- und Kammersängerin ernannt. Zwei Jahre spätertrat sie ihre erste Reise nach Paris an, wo sie einenunbeschreiblichen Enthusiasmus erregte und 1827 für zwei JahreEngagement annahm. Nachdem sie sich 1828 insgeheim mit dem GrafenCarlo Rossi, damals Geschäftsträger des sardinischen Hofsim Haag, verheiratet hatte, trat sie nur noch alsKonzertsängerin auf, besuchte als solche Petersburg und Moskauund kehrte dann über Hamburg nach den Niederlandenzurück, wo bald darauf die öffentliche Bekanntmachungihrer Heirat erfolgte. Bedeutende Vermögensverlusteveranlaßten sie, 1849 zur Bühne zurückzukehren, undder Zauber ihrer Persönlichkeit, die ungeschmälerteFrische und Lieblichkeit ihrer Stimme verschafften ihr überallden frühern Beifall. 1853 unternahm sie eine Kunstreise nachAmerika und feierte auch hier die glänzendsten Triumphe, starbaber 17. Juni 1854 in Mexiko an der Cholera. Ihr Leichnam ward imKloster Marienthal bei Ostritz in der sächsischen Lausitzbeigesetzt. In ihrer Blütezeit besaß Frau S. neben deräußersten Reinheit, Klarheit und Biegsamkeit der Stimmeeine unübertreffliche Leichtigkeit, Sauberkeit und Anmut desVortrags. Sie erschütterte nicht durch imponierendeStimmfülle, bezauberte aber durch die Grazie ihres Gesanges,besonders in Koloraturen, welche sie größtenteils mithalber Stimme, aber mit der vollkommensten Deutlichkeit vortrug.Namentlich im Sentimentalen und Scherzhaften war sieunvergleichlich. Gundling hat ihr Jugendleben zu dem Kunstroman"Henriette S." (Leipz. 1861, 2 Bde.) benutzt. In derSelbstbiographie ihres Bruders sind zahlreiche sie betreffendebiographische Einzelheiten enthalten.

2) Karl, Schauspieler, Bruder der vorigen, geb. 7. Jan. 1828 zuDresden, begann seine Bühnenlaufbahn 1848 am dortigenHoftheater, war 1851-52 am Hofburgtheater in Wien thätig undfolgte dann einem Ruf nach Schwerin, wo er sieben Jahre lang dieersten Helden- und Bonvivantrollen spielte. Im J. 1859 wurde er inDresden, 1862 in Hannover angestellt, wo er sichausschließlich dem Lustspiel widmete; seit 1877 gibt er nurGastrollen, die ihn wiederholt auch nach Nordamerika führten.1885 siedelte er nach Dresden über. S. versteht seinenLebemännern und sogen. Chargen so drollige Züge zuverleihen, daß sie eine unwiderstehliche Wirkungausüben. Zu seinen bedeutendsten Rollen gehören DoktorWespe, Orgon ("Tartüffe"), Petrucchio, Bolingbroke,Königsleutnant, auch Nathan, Karlos u. a. S. hat sich auch alsSchriftsteller versucht; er veröffentlichte dasTheaterstück "Frauenemanzipation" (Hannov. 1875), das dieRunde über alle Bühnen machte, und ein sehrrückhaltlos urteilendes autobiographisches Werk unter demTitel: "Vom Nachtwächter zum türkischen Kaiser" (3.Aufl., Hannov. 1876), das Veranlassung zu seiner Entlassung aus demVerband des hannoverschen Hoftheaters (1877) wurde.

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Sonthofen - Sophie.

Sonthofen, Flecken und Bezirksamtshauptort im bayr.Regierungsbezirk Schwaben, an der Iller und der LinieImmenstadt-Oberstorf der Bayrischen Staatsbahn, 742 m ü. M.,hat eine kath. Kirche, ein Schloß, ein Amtsgericht, einHüttenwerk, Baumwollweberei, sehr besuchte Viehmärkte und(1885) 1819 Einw. Nordöstlich erhebt sich der Grünten (s.d.).

Sontra, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Kassel,Kreis Rotenburg, am Flüßchen S. und an der LinieFrankfurt-Bebra-Göttingen der Preußischen Staatsbahn,242 m ü.M., hat eine evang. Kirche, ein Schloß, einAmtsgericht, Branntweinbrennerei, Preßhefenfabrikation,Schlauchweberei, Molkerei, Schwerspatmüllerei und (1885) 1945Einw. Vgl. Collmann, Geschichte der Bergstadt S. (Kassel 1863).

Sontschi, chines. Stadt, s. Kutschun.

Sonus (lat.), Schall, Klang.

Soodbrot, s. Ceratonia.

Soole, s. Sole.

Soonwald, s. Hunsrück.

Soor, s. Schwämmchen.

Soor (Sohr, Sorr), Dorf südwestlich von Trautenau imnordöstlichen Böhmen, ist durch zwei preußischeSiege berühmt geworden. Friedrich d. Gr. schlug hier 30. Sept.1745 mit 19,000 Mann die Österreicher und Sachsen, welche,32,000 Mann stark, vom Prinzen Karl von Lothringen befehligtwurden; einem beabsichtigten Überfall der letztern auf daspreußische Lager von den Höhen von Burkersdorf aus kamFriedrich durch einen Angriff auf diese zuvor, erstürmte sieund sicherte sich dadurch den Rückzug durch das Gebirge nachSchlesien. Bei dem zweiten Gefecht von Trautenau (s. d.), 28. Juni1866 gegen Gablenz, ward das Dorf von der 1. preußischenGardedivision unter General Hiller v. Gärtringeuerstürmt. Vgl. Kühne, Das Gefecht bei S. ("KritischeWanderungen" Heft 4 u. 5, 2. Aufl., Berl. 1887).

Soorpilz, s. Oidium.

Soovar, Ort, s. Sovar.

Sopha, s. v. w. Sofa.

Sopher (hebr., "Schreiber"), in älterer ZeitSchriftgelehrter, heutzutage der Gesetzrollen-, Tefillin- undMesusotschreiber in größern jüdischenGemeinden.

Sophia (griech.), Weisheit.

Sophie (Sophia), weiblicher Name. Unter denfürstlichen Trägern desselben sind hervorzuheben:

[Hannover.] 1) Kurfürstin von Hannover, geb. 14. Okt. 1630im Haag als zwölftes Kind des flüchtigen"Winterkönigs", Friedrichs V. von der Pfalz, und der ElisabethStuart, fühlte sich im Haus ihrer kaltherzigen Mutterhöchst unglücklich, begab sich daher zu ihrem Bruder KarlLudwig, nachdem derselbe 1648 die Kurpfalz zurückerhaltenhatte, nach Heidelberg und vermählte sich 1658 mit dem HerzogErnst August von Hannover, der 1692 Kurfürst ward.Hochmütigund hartherzig, verfolgte sie ihre SchwiegertochterSophie Dorothea von Celle (s. S. 2) mit unversöhnlichemHaß und führte deren gerichtliche Scheidung herbei. Seit23. Okt. 1698 Witwe, ward sie als Enkelin König Jakobs I. 22.März 1701 zur Erbin von England erklärt, und nach ihremTod (8. Juni 1714) bestieg ihr ältester Sohn, Georg Ludwig,31. Okt. 1714 den Thron von Großbritannien. Mit ihrenpfälzischen Verwandten führte sie einen sehr lebhaftenBriefwechsel, so mit ihrem Bruder, dem Kurfürsten Karl Ludwig(hrsg. von Bodemann in den "Publikationen aus den preußischenStaatsarchiven", Bd. 26, Leipz. 1885), und ihrer Nichte ElisabethCharlotte von Orléans (hrsg. von Bodemann, das., Bd. 37,1888; s. Elisabeth 3). Ihre Memoiren gab Köcher heraus (das.,Bd. 4, 1879).

2) S. Dorothea, bekannt als Prinzessin von Ahlden, geboren imHerbst 1666, war die einzige Tochter und Allodialerbin des HerzogsGeorg Wilhelm von Braunschweig-Lüneburg-Celle und der Eleonored'Olbreuse (s. d.) und wurde 1682 mit dem Erbprinzen Georg Ludwigvon Hannover (später als Georg I. König von England)vermählt. Vortrefflich gebildet und sehr schön, vermochtesie doch nicht, ihren Gemahl, der den Haß seiner Mutter, derHerzogin Sophie, gegen S., die Tochter der d'Olbreuse, geerbthatte, zu fesseln. Nachdem sie ihm einen Sohn, den nachmaligenKönig Georg II., und eine Tochter, Sophie Dorothea (diespätere Gemahlin König Friedrich Wilhelms I. vonPreußen, s. unten 5), geboren, sah sie sich nicht nur von ihmoft rauh behandelt, sondern auch von der Mätresse ihresSchwiegervaters Ernst August, der Gräfin von Platen, imgeheimen verfolgt. Denn da der Zweck der Heirat, die VereinigungCelles mit Hannover, nun gesichert war, legten der KurfürstErnst August und seine Gemahlin Sophie ihrem Haß gegen ihreSchwiegertochter keine Zügel mehr an. UnvorsichtigeBevorzugung des Grafen Philipp Christoph von Königsmark (s. d.2), der am Hof ihres Vaters als Page aufgewachsen war, gab demhannöverschen Hof den Vorwand, S. eines anstößigenVerhältnisses mit Königsmark zu beschuldigen. Als S. denVater nicht für eine Lösung ihrer Ehe gewinnen konnte,verabredete sie für den 2. Juli 1694 mit Königsmark dieFlucht nach Wolfenbüttel zu ihrem Verwandten, dem Herzog AntonUlrich. Am Abend des 1. Juli wurde Königsmark, als er aus denZimmern der Prinzessin kam, von dazu bestellten Leuten ermordet undsein Leichnam im Schloß verborgen, die Prinzessin aberhieraus verhaftet. Da sie jeden Versuch, eine Aussöhnung mitihrem Gemahl herbeizuführen, von sich wies, wurde die Ehe 28.Dez. 1694 gelöst und die Prinzessin auf das SchloßAhlden verbannt, wo sie, allerdings unter Beobachtung der ihrgebührenden Rücksichten, bis zu ihrem 13. Nov. 1726erfolgenden Tod gefangen gehalten wurde. Daß sie ihrem Gattendie Treue gebrochen, ist durchaus nicht erwiesen worden und ihrBriefwechsel mit Königsmark, den Palmblad herausgab,gefälscht. Vgl. Schaumann, S. Dorothea, Prinzessin von Ahlden,und Kurfürstin Sophie von Hannover (Hannov. 1879).

[Österreich.] 3) Erzherzogin von Österreich, geb. 27.Jan. 1805, Tochter des Königs Maximilian I. Joseph von Bayernund Zwillingsschwester der Königin Maria von Sachsen,vermählte sich 1824 mit dem Erzherzog Franz Karl vonÖsterreich und starb 28. Mai 1872. S. war die Mutter desjetzigen Kaisers von Österreich, Franz Joseph, undeinflußreiche Gönner in der ultramontanenBestrebungen.

[Preußen.] 4) S. Charlotte, Königin vonPreußen, "die philosophische Königin", geb. 20. Okt.1668 auf Schloß Iburg bei Osnabrück, Tochter desHerzogs, spätern Kurfürsten Ernst August von Hannover undder Sophie 1), lebte längere Zeit in Paris bei ihrer Tante,der berühmten Pfalzgräfin Elisabeth Charlotte, wo siefeine Sitte und Geschmack für Kunst sich aneignete,während sie im Umgang mit Leibniz, dem Freund ihrer Mutter,ihren lebhaften Geist auch in religiösen und philosophischenProblemen übte, wurde 8. Okt. 1684 mit dem KurprinzenFriedrich von Brandenburg, spätern König Friedrich I.,vermählt, dem sie nach seinem Regierungsantritt 1688 seineneinzigen Sohn (den König Friedrich Wilhelm I.) gebar, lebte amHof ihres verschwenderischen und eiteln Gemahls der Pflege derKünste und Wissenschaften, für welche sie auch Leib-

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Sophienkirche - Sophokles.

niz nach Berlin zog, und erbaute sich in Lietzow dasSchloß Charlottenburg, wo sie einen eignen Hofhalt hattetstarb 1. Febr. 1705 in Hannover auf einer Reise nach denNiederlanden. Vgl. Varnhagen v. Ense, Biographische Denkmale, Bd. 4(3. Aufl., Leipz 1872).

5) S. Dorothea, Königin von Preußen, geb. 16.März 1687, Tochter von Sophie 2) und des Königs Georg I.von England und Nichte der vorigen, ward 28. Nov. 1706 mit demKronprinzen Friedrich Wilhelm von Preußen vermählt, demsie 24. Jan. 1712 als dritten Sohn (die zwei ersten starbenfrüh) Friedrich d. Gr., dann noch mehrere Kinder gebar. Eifrigbemüht, die Beziehungen zwischen Preußen undHannover-England noch fester und inniger zu knüpfen, kam siewiederholt mit dem von Österreich beherrschten Gemahl inKonflikt, namentlich als sie, um die englischen Heiraten desKronprinzen und der Prinzessin Wilhelmine zu stande zu bringen,heimlich mit dem englischen Hofe verhandelte, und hatte von demJähzorn und der rauhen Härte des Königs viel zuleiden. Nach dessen Tod (31. Mai 1740) lebte sie im SchloßMonbijou in Berlin und starb 28. Juni 1757.

[Rußland.] 6) S. Alexejewna, russ. Großfürstin,geb. 27. Sept. 1657, Tochter des Zaren Alexei Michailowitsch ausdessen erster Ehe mit Maria Miloslawskij und daher HalbschwesterPeters d. Gr., machte sich nach dem Tode des Zaren Feodor III. 1682durch einen Aufstand der Strelitzen zur Regentin für ihreBrüder, den blödsinnigen Iwan und den unmündigenPeter, die gemeinschaftlich den Thron bestiegen. Ihre Regentschaftwährte von 1682 bis 1689. Sie maßte sich gegen das Endedieses Zeitraums den Titel einer "Selbstherrscherin" an. Esmußte zu einem Konflikt zwischen ihr und Peter kommen.Derselbe ließ sie endlich 1689 in das Jungfrauenkloster zuMoskau bringen, wo sie 14. Juli 1704 starb.

Sophienkirche, s. Konstantinopel, S. 29.

Sophisma (griech.), Trugschluß, ein Schluß,den man mittels der Kunst der Sophistik zieht.

Sophisten (griech.), zur Zeit des Perikles und Sokrateseine Klasse von Philosophen, welche den Unterricht in derPhilosophie nicht als Sache der freien Mitteilung trieben, sonderndenselben, meist von Ort zu Ort reisend, um Geld erteilten. DieSophistik, welche Platon und Aristoteles als die Kunst, mitHintansetzung ernsten wissenschaftlichen Sinnes den leeren Scheindes Wissens zu erregen, bezeichnen, entwickelte sich zunächstaus dem Streben, dem Gedanken und der Sprache durch Biegsamkeit undGewandtheit für politische Zwecke die möglichste Kraft,nicht sowohl der Überzeugung als der Überredung, zugeben. Ihre Bedeutung für die Geschichte der Philosophieberuht vorzugsweise darauf, daß sie in ihrem übrigensdurch mannigfache Kenntnisse und zum Teil durch glänzendeTalente unterstützten Streben, die Haltbarkeit alles durchÜberlegung zu erreichenden Wissens durch die Überlegungselbst zu untergraben und die Festigkeit sittlicherÜberzeugung aufzulösen, für Sokrates und seineNachfolger die Veranlassung wurden, die Probleme der Wissenschafttiefer aufzufassen, als es bisher geschehen war. Die S. waren meistLehrer der Rhetorik, erniedrigten aber die Redekunst zubloßer Deklamation ebenso für wie wider jeden beliebigenGegenstand. Je ausschließlicher sich die Sophistik dieserRichtung hingab, um so mehr verfiel sie in ein gehaltloses, nur aufBeifall und Gewinn gerichtetes Wesen und endigte mit frivolerAbleugnung jeder sittlichen Verbindlichkeit und mit spottenderAbleitung des Guten und Gerechten aus dem gebietenden Belieben derMächtigen. Wissenschaftlich knüpften die einen, wieGorgias (s. d.), an die eleatische Schule, die andern, wieProtagoras (s. d.), an die Heraklitische an. Jene gaben den Eleatendarin recht, daß das Viele nicht, aber darin unrecht,daß das Eine sei; denn wäre dies, so müßte esirgendwo sein. Dann aber wäre es nicht das Einzige: also seiüberhaupt Nichts (metaphysischer Nihilismus). Diese stimmtenmit den Herakliteern darin überein, daß alle Dingeveränderlich seien, gingen aber dadurch über dieselbenhinaus, daß auch das Wissen veränderlich sei: also gebees überhaupt kein Wissen (logischer Nihilismus). Dieberühmtesten S. außer Gorgias und Protagoras waren:Prodikos, Hippias, Thrasymachos, Kritias u. a. Vgl. Wecklein, DieS. (Würzb. 1866).

Sophistik (Sophisterei, griech.), die Kunst der Sophistenim schlimmen Sinn des Wortes; dann überhaupt die Kunst, durchZweideutigkeiten, trügerische Schlüsse (Sophismen) undhalb wahre Argumente Scheinbeweise herzustellen; s. Sophisten.

Sophokles, der gefeiertste tragische Dichter des griech.Altertums, geb. 496 v. Chr. im attischen Kolonos, Sohn desSophillos, des wohlhabenden Besitzers einer Waffenfabrik, erhielteine sorgfältige Bildung in den musischen Künsten undsoll 480 den Siegesreigen nach der Schlacht bei Salamisangeführt haben. Gleich bei seinem ersten Auftreten alstragischer Dichter im Alter von 28 Jahren (468) gewann er den Siegüber den 30 Jahre ältern Äschylos, um fortan denersten Rang in der Tragödie bis in sein hohes Alter zubehaupten. Er hat über 20 mal den ersten, nie aber den drittenPreis erhalten. Anders als Euripides beteiligte er sich ampolitischen Leben und bekleidete mehrere Ämter; so war er 440mit Perikles Befehlshaber der Flotte gegen Samos. Daß er imhohen Alter von seinem Sohn Iophon, der gleichfalls als Tragikergeachtet war, wegen Unfähigkeit, sein Vermögen zuverwalten, vor Gericht gezogen sei, aber durch Vorlesung seines"Ödipus auf Kolonos" seine völlige Freisprechung erwirkthabe, scheint eine unbegründete Sage zu sein, wie sich auchmancherlei Sagen an seinen 405 erfolgten Tod, der nach dem Zeugniseines Zeitgenossen seinem Leben entsprechend ein schöner war,und sein Begräbnis anknüpften. Auf seinem Grab stand eineSirene als Sinnbild des Zaubers der Poesie. Die Athener errichtetenihm später, wie Äschylos und Euripides, ein ehernesStandbild im Theater. S. galt schon im Altertum für denVollender und Meister der Tragödie. Er erweiterte diedramatische Handlung durch Einführung eines drittenSchauspielers und durch die Beschränkung des Chors, dem eranderseits eine kunstreichere Ausbildung gab, wie er auch seinPersonal auf 15 Mitglieder vermehrte. Indem er die Komposition derÄschyleischen Tetralogie (s. d.) verließ, gestaltete erjede Tragödie zu einem einheitlichen Kunstwerk mit einer insich abgeschlossenen Handlung, die er im einzelnen aufskunstvollste motivierte, namentlich aus dem Charakter derhandelnden Personen. Ganz besonders zeigt sich seine Kunst in derscharfen, bis ins einzelnste sorgfältig durchgeführtenCharakteristik der Personen, in der er die Mitte hält zwischender übermenschlichen Erhabenheit des Äschylos und derNeigung des Euripides, das gewöhnliche Leben zu kopieren. Mitdem erstern hat er die tiefe Frömmigkeit gemein, die jedochbei ihm auf einer erheblich mildern Anschauung von der Stellung derGötter zu den Menschen beruht. Die dem Wesen des S.eigentümliche Anmut zeigt sich auch in der Sprache, derenSüßigkeit von den Alten allgemein gerühmt

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Sophonias - Sopran.

wird, und die in ihrer edlen Einfachheiten der Mitte zwischendem großartigen Pathos des Äschylos und der Glätteund dem rhetorischen Schmuck des Euripides steht. S. gehört zuden fruchtbarsten Dichtern. Außer Päanen, Elegien,Epigrammen und einer prosaischen Schrift über den Chor hat er123-130 Dramen verfaßt, von denen uns über 100 durchTitel und Bruchstücke bekannt, aber nur 7 vollständigerhalten sind: "Aias", "Antigone", "König Ödipus","Ödipus auf Kolonos", "Elektra", "Trachinierinnen" (Tod desHerakles), "Philoktetes". Dieselben gehörten, mit Ausnahme der"Trachinierinnen", unter die berühmtesten des S. Von ihnenwurde "Antigone" 442, "Philoktet" 410, "Ödipus auf Kolonos"erst nach dem Tode des Dichters von seinem gleichnamigen Enkel 401auf die Bühne gebracht; die Abfassungszeit der übrigenist nicht genau bekannt. Namentlich die "Antigone" und der"Ödipus auf Kolonos" wurden in neuester Zeit durch deutscheÜbersetzungen und die Musikbegleitung vonMendelssohn-Bartholdy für die moderne Bühne bearbeitetund seit 1841 (zuerst in Berlin) mit Beifall aufgeführt.

Gesamtausgaben, außer der Editio princeps, einer Aldina(Vened. 1502), besorgten namentlich Brunck (Straßb. 1786-89,4 Bde.), Erfurdt (Leipz. 1802-11, 6 Bde.; Bd. 7 von Heller u.Döderlein, 1825; kleinere Ausg. von G. Hermann, 3. Aufl., das.1830-51, 7 Bde.), Schneider (Weim. 1823-30, 10 Bde.), Wunder (4.,zum Teil 5. Ausg., Leipz. 1847-1879, 2 Bde.), Dindorf (3. Aufl.,Oxf. 1860, 8 Bde.; auch in dessen "Poetae scenici graeci", 5.Aufl., Leipz. 1869), Schneidewin u. Nauck (zum Teil schon 9. Aufl.,Berl. 1880, 7 Bde.), Nauck (das. 1868), Bergk (neue Aufl., Leipz.1868), Wolff und Bellermann (5 Stücke, zum Teil in 4. Aufl.,das.). Von Bearbeitungen einzelner Stücke sind hervorzuheben:"Aias" von Lobeck (3. Aufl., Berl. 1866), M. Seyffert (das. 1866);"Antigone" von Böckh (mit Übersetzung, neue Ausg., Leipz.1884), Meineke (Berl. 1861), M. Seyffert (das. 1865), Schmidt (Jena1880); "König Ödipus" von Elmsley (Cambr. 1811, Leipz.1821), Herwerden (Utr. 1866); "Ödipus auf Kolonos" von Reisig(Jena 1820), Elmsley (Oxf. 1823, Leipz. 1824), Mineke (Berl.1864);"Philoktetes" von Buttmann (das. 1822) und M. Seyffert (das. 1867);"Elektra" von O. Jahn (3. Aufl. von Michaelis, Bonn 1882);"Trachinierinnen" von Blaydes (Jena 1872). Die Fragmente derübrigen Stücke des S. sind gesammelt von Nauck in"Fragmenta tragicorum graecorum" (2. Aufl., Leipz. 1889). Ausgabender Scholien zu sämtlichen Stücken besorgten Elmsley undDindorf (3. Aufl., Oxf. 1860) und Papageorg (Leipz. 1888). Eintreffliches "Lexicon Sophocleum" hat Ellendt (2. Aufl. von Genthe,Berl. 1872, 2 Bde.) veröffentlicht, ein gleiches auch Dindorf(Leipz. 1871). Von den Übersetzungen der Sophokleischen Dramennennen wir die von Solger (3. Aufl., Berl. 1837, 2 Bde.), Donner(10. Aufl., Leipz. 1882), Thudichum (3. Aufl., das. 1875), Hartung(das. 1853), Minckwitz (neue Aufl., Stuttg. 1869), W. Jordan (Berl.1862, 2 Bde.), Viehoff (Hildburgh. 1866), Scholl (Stuttg. 1869-71),Bruch (Bresl. 1879), Prell-Erckens (Leipz. 1883), Wendt (Stuttg.1884, 2 Bde.) und Türkheim (das. 1887, 2 Bde.). Wilbrandtveröffentlichte "Ausgewählte Dramen des S. und Euripides,mit Rücksicht auf die Bühne bearbeitet" (Nördlingen1866). Eine berühmte Statue des Dichters, ein griechischesOriginalwerk von höchstem Kunstwert (in Terracinaaufgefunden), befindet sich im Lateran zu Rom. Vgl. Lessing, Lebendes S. (in dessen Werken); Schöll, S., sein Leben und Wirken(Frankf. 1842); Patin, Études sur les tragiques grecs, Bd.2: Sophocle (5. Aufl., Par. 1877).

Sophonias, s. Zephanja.

Sophonisbe (Sophonibe), Tochter des karthag. FeldherrnHasdrubal, Sohns des Gisgo, ausgezeichnet durch Schönheit,Geist und Vaterlandsliebe, ward früh mit Masinissa (s. d.)verlobt, aber dann mit König Syphax von Numidienvermählt, um denselben für Karthago zu gewinnen. Nach derNiederlage und Gefangennahme des Syphax (203 v. Chr.) fiel sieMasinissa in die Hände, der sich sofort mit ihrvermählte, um sie der Gewalt der Römer zu entziehen; alsaber Scipio, den Einfluß der unversöhnlichen FeindinRoms auf Masinissa fürchtend, ihre Auslieferung forderte,trank sie heldenmütig den ihr von Masinissa gereichtenGiftbecher. Vielfach dramatisch behandelt, so von Lohenstein(1666), Hersch (1859), Geibel (1873), Roeber (1884) u. a.

Sophora L., Gattung aus der Familie der Papilionaceen,Bäume und Sträucher, selten Kräuter, in dentropischen und gemäßigten Gegenden der Alten und NeuenWelt, mit unpaarig gefiederten Blättern, weißen, gelben,selten violetten Blüten in endständigen Trauben oderRispen und mehr oder weniger gestielten, rosenkranzartigen,dickschaligen, nicht aufspringenden Hülsen. S. japonica L.;ein hoher Baum mit fein gefiedertem Laub, 11-13 unterseitsgraugrün behaarten Blättchen mit krautartiger Borste,endständigen Blütenrispen, weißlichen Blütenund etwas fleischiger Hülse, wächst in China und Japanund wird bei uns in Gärten kultiviert. Das sehr feste Holzenthält einen stark riechenden, scharfen Stoff, der beiVerwundungen mancherlei Übel hervorrufen kann; auch wirkenalle Teile des Baums purgierend. In China kultiviert man ihn ingroßem Maßstab, weil die getrockneten Blüten(Waifa) zum Gelb- und Grünfärben benutzt werden. - S.tinctoria, s. Baptisia.

Sophron, griech. Mimendichter, aus Syrakus, ältererZeitgenosse des Euripides, verfaßte prosaische Dialoge indorischem Dialekt, teils ernsthaften, teils spaßhaftenInhalts, welche Szenen des Volkslebens aufs treueste schilderten.Trotz der prosaischen Form wurden seine Mimen von den Alten alsDichtungen betrachtet. Platon, durch den sie in Athen zuerstbekannt wurden, schätzte sie überaus und benutzte sie zurdramatischen Einkleidung seiner Dialoge; Theokrit nahm sie inseinen Idyllen zum Vorbild, und auch die Grammatiker schenktenihnen wegen ihrer volkstümlichen Sprachformen besondereBeachtung. Die Dürftigkeit der erhaltenen Bruchstücke(zuletzt gesammelt von Botzon, Marienburg 1867) verstattet wedervon Inhalt noch Ausführung eine Anschauung. Vgl. die Schriftenvon Grysar (Köln 1838), Heitz (Straßb. 1851) und Botzon(Lyck 1856).

Sophronisten (griech.), Sittenmeister, bei den GriechenBeamte, welche das sittliche Verhalten der Jünglinge in denGymnasien zu überwachen hatten.

Sophrosyne (griech.), s. v. w. weise Mäßigung,eine der vier Haupttugenden der Platonischen Ethik und zwardiejenige, welche sich auf die Begierden der sinnlichen Natur desMenschen bezieht.

Sopor (lat.), s. Schlafsucht.

Sopran (ital. Soprano, lat. Supremus, Discantus, Cantus,franz. Dessus. engl. Treble), die höchste aller Gattungen derSingstimmen, von der Altstimme dadurch verschieden, daß ihrSchwerpunkt nicht wie bei dieser in dem sogen. Brustregister,sondern in der Kopfstimme liegt. Der S. ist entweder eineFrauen-,

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Sopranschlüssel - Sorben.

Knaben- oder Kastratenstimme; die grausame, naturwidrigeKastration (s. d.) erzeugte Sopranstimmen von dem Timbre derKnabenstimme und der mächtigen Lungenkraft des Mannes. In derpäpstlichen Kapelle und auch anderweit wurden statt derKastraten, die nur zeitweilig zugelassen wurden, und statt derKnaben, welche die schwierige Mensuraltheorie nicht schnell genugzu erlernen vermochten, im 15.-17. Jahrh. sogen. Falsettisten(Tenorini, Alti naturali) zur Ausführung der Sopranparteverwendet, die darum verhältnismäßig tiefgeschrieben wurden, um die Stimmen nicht allzu schnell zuruinieren. Der Normalumfang des Soprans ist vom (eingestrichenen)c' bis zum (zweigestrichenen) a''; das Brustregister erstreckt sichauf die Töne von f' oder fis' abwärts, die Kopfstimmebeinahe auf den ganzen Umfang, höchstens versagen c' und d'.Es sind also dann die Töne d' bis fis' beiden Registerngemein, d. h. können auf beide Weise hervorgebracht werden.Bis zum a'' läßt sich so ziemlich jede normaleSopranstimme ausdehnen, hohe Soprane singen bis c''',phänomenale bis fis''', g''', ja c'''' (z. B. LucreziaAgujari, gest. 1783). Vgl. Mezzosopran.

Sopranschlüssel, s. v. w. Diskantschlüssel.

Sopratara (ital.), s. Tara.

Sora, Kreishauptstadt in der ital. Provinz Caserta, amGarigliano, Bischofsitz, mit Seminar, Gewerbeschule, Resten vonMauern des antiken S. und der mittelalterlichen Burg Sorella,Tuchfabrikation, Papiermühlen und (1881) 5411 Einw.

Sorácte (jetzt Monte Sant' Oreste), berühmterBerg, 45 km nördlich von Rom, die höchste Spitze einessich zwischen der Via Flaminia und dem Tiber hinziehendenBergrückens. Auf seinem Gipfel stand im Altertum einberühmter Tempel des Apollon (daher dessen Beiname Soranus),dem daselbst Feste seltsamer Art gefeiert wurden. Am Abhang desBergs befanden sich warme Quellen; an seinem Fuß lag einHeiligtum der Feronia. Der S. ist 692 m hoch und gewährtbesonders mit Schnee bedeckt einen pittoresken Anblick (candidusSoractes bei Horaz). Karlmann, der Bruder Pippins, gründete748 am Ostabhang des S. das Kloster des heil. Silvester.

Sorano, Ortschaft in der ital. Provinz Grosseto, mitMineralquellen und (1881) 1217 Einw. Dazu gehört Sovana(Soana), ein vormals bedeutender, aber schon seit langer Zeit wegendes ungesunden Klimas verlassener Ort, mit Bistum (Sitz inPitigliano) und großer Kathedrale, Geburtsort Papst GregorsVII. In der Nähe zahlreiche etruskische Gräber und dieTrümmer des alten Saturnia.

Soranus, Beiname des Apollon (s. Soracte).

Sorata, Revado de (Ilampu), nächst dem Aconeaguahöchster Berg des amerikan. Kontinents, erhebt sich alsvulkanischer Kegel auf der östlichen Umwallung (CordilleraReal) der Hochebene von Bolivia in Südamerika, im O. desTiticacasees, und überragt das Plateau um 2700 m, indem er bis6544 m aufsteigt.

Sorau, 1) Kreisstadt im preuß. RegierungsbezirkFrankfurt, Knotenpunkt der Linien Sommerfeld-Iegnitz, S.-Sagan undS.-Kottbus der Preußischen Staatsbahn, 160 m ü. M.,besteht aus dem Schloßbezirk, mit dem alten Schloß (von1207) und dem daneben erbauten neuen Schloß (von 1716, jetztLokal der Behörden) nebst der Peterskirche (um 1200 erbaut),und der eigentlichen Stadt. Von hervorragenden Gebäuden sindzu nennen: die evangelische Hauptkirche (aus dem 14. Jahrh., 1870restauriert), die Schloß- und Klosterkirche (1728 neugebaut)und die Gräbigerkirche (seit 1874 den Altlutheranerneingeräumt), das Rathaus, das Krankenhaus und dasWaldschloß (von 1557). Öffentliche Plätze sind: derKaiserplatz mit dem Kriegerdenkmal und der Bismarckplatz. DieBevölkerung beträgt (1885) 13,665 Seelen, meistEvangelische, welche Tuch-, Leinwand- und Damastweberei,Färberei, Druckerei, Wachslicht-, Ziegel- u.Drainröhrenfabrikation, Porzellanmalerei, Kunst- undHandelsgärtnerei betreiben. Für den Handelsverkehrbefinden sich dort eine Handelskammer und eineReichsbanknebenstelle. S. hat ein Gymnasium, eine Webschule, einAmtsgericht, eine Oberförsterei, eine Irrenanstalt und einWaisenhaus. In der Umgegend zahlreiche Braunkohlengruben. - S. istwendischen Ursprungs und erhielt 1260 Stadtrecht. Damalsgehörte es den Burggrafen von Dewin, 1355 kam es an dieBurggrafen von Biberstein, welche auch die Umgebung der Stadt, dieHerrschaft S., erwarben. Diese fiel, nachdem sie 1490-1512 zuSachsen gehört hatte, nach dem Aussterben der Burggrafen vonBiberstein 1551 an König Ferdinand I. von Böhmen, der sie1557 nebst der Herrschaft Triebel an den Bischof von Breslau,Balthasar von Promnitz, verkaufte. Der letzte Sprößlingdieses Hauses überließ beide 1765 gegen eine Leibrentevon 12,000 Thlr. an Kursachsen, von dem sie 1815 an Preußenkamen. Vgl. Worbs, Geschichte der Herrschaft S. und Triebel (Sor.1826); Saalborn, Beiträge zur Geschichte von S. (das. 1876,Heft 1). -

2) Stadt, s. Sohrau.

Sorauer, Paul, Botaniker, geb. 9. Juni 1839 zu Breslau,erlernte daselbst die Gärtnerei, hörte gleichzeitigbotanische Vorlesungen, ging zu weiterer praktischer Ausbildungnach Berlin, Brüssel, Paris und London, lebte ein Jahr inDonaueschingen und studierte dann 1864-68 in BerlinNaturwissenschaft, besonders Botanik. Er arbeitete als Assistent inKarstens pflanzenphysiologischem Institut und widmete seineUntersuchungen von nun an ausschließlich der Phytopathologie.Er begann Vorlesungen über diese Disziplin amlandwirtschaftlichen Institut in Berlin, ging aber bald alsAssistent zu Hellriegel in Dahme und folgte 1871 einem Ruf an daspomologische Institut in Proslau. Hier errichtete er die erste demGartenbau speziell gewidmete botanische Versuchsstation und suchtenamentlich die bis dahin fast unbeachtet gebliebenen nichtparasitären Krankheiten der Pflanzen zu erforschen. Erschrieb: "Handbuch der Pflanzenkrankheiten" (2. Aufl., Berl. 1887,2 Bde.; dazu der "Atlas", 1887 ff.); "Die Obstbaumkrankheiten"(das. 1878); "Untersuchungen über die Ringelkrankheit und denRußtau der Hyazinthen" (Leipz. 1878); "Die Schäden dereinheimischen Kulturpflanzen durch Schmarotzer etc." (Berl.1888).

Sorben (Sorbenwenden), slaw. Volk, welches im 6. Jahrh.n. Chr. das Gebiet zwischen Saale und Elbe in Besitz nahm. Schon im7. Jahrh. den Franken unterthan, fielen die S. 631 unter ihremHerzog Dervan ab und schlossen sich an Samo von Böhmen an.Nicht Karl d. Gr., der 782 ein Heer gegen sie aussandte, sondernerst Heinrich I. gelang um 928 ihre völlige Unterwerfung; aufihrem Gebiet entstanden die Marken Zeitz und Merseburg,während das nördliche Sorbenland zur Mark Lausitzgeschlagen wurde. Unter Otto I. brach sich das Christentum unterden S. allmählich Bahn, besonders seitdem die BistümerMerseburg und Zeitz 968 als Mittelpunkte der Mission gegründetworden waren. Die S. verschmolzen teils mit den deutschenEinwanderern, teils zogen sie sich in die jetzigen beiden Lausitzenzurück, wo sie noch heute die ländliche Bevölkerungbilden. Über die Sprache der S. s. Wendische Sprache.

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Sorbett - Sorby.

Die Haupterzeugnisse ihrer Litteratur findet man verzeichnet inden "Jahrbüchern für slawische Litteratur" (hrsg. vonJordan, Leipz. 1843-48; fortgesetzt von Schmaler, Bautz.1852-56).

Sorbett (arab.), s. Scherbett.

Sorbonne, die altberühmte Theologenschule in Paris,deren Gründung auf Robert von Sorbon (gest. 1274), denHofkaplan Ludwigs des Heiligen, zurückgeführt wird; dieBestätigungsbulle Clemens' IV. datiert von 1268.Ursprünglich ein Alumnat für arme Studierende derTheologie, gelangte die S. (welchen Namen die Anstalt erst seit dem14. Jahrh. erhielt) durch berühmte Lehrer, welche an ihrwirkten, sowie durch reiche Ausstattung gegenüber andernähnlichen Kollegien zu immer größerm Ansehen. Inihrem Haus fanden regelmäßig die Sitzungen dertheologischen Fakultät der Pariser Universität statt, sodaß es seit dem Ende des 15. Jahrh. üblich wurde, dieseFakultät selbst mit dem Namen S. zu bezeichnen. An diesenNamen knüpfen sich daher die wichtigsten Entscheidungen,welche vom Mittelalter bis zur Neuzeit für Gestaltung desKatholizismus in Frankreich ausschlaggebend waren. Aber alsVorkämpferin des Gallikanismus (s. d.) und Feindin desJesuitenordens, dessen Einführung in Frankreich (1562) sievergeblich zu verhindern suchte, verlor die S. allmählich anEinfluß und Ansehen in dem selben Maß, als die Machtder Päpste wuchs. Vollends war es um ihren Ruhm geschehen, alssie sich im Sinn beschränkter Orthodoxie in einen erbittertenKampf mit den freisinnigen Schriftstellern des 18. Jahrh.einließ (vgl. Voltaires "Tombeau de la S."). Durch dieDekrete der Nationalversammlung von 1789 und 1790 wurden ihreausgedehnten, prächtigen Gebäude (1635-53 vom KardinalRichelieu errichtet) als Nationalgut eingezogen, 1808 aber derneuen kaiserlichen Universität wieder übergeben. Jetztbilden sie den Mittelpunkt des Quartier latin und beherbergen dietheologische, die historisch-philologische und dienaturwissenschaftliche Fakultät der Pariser Universität.Vgl. Duvernet, Histoire de la S. (deutsch, Straßb. 1792, 2Bde.); Franklin, La S. (2. Aufl., Par. 1875); Méric, La S.et son fondateur (das. 1888).

Sorbus L. (Eberesche), Gattung aus der Familie derRosaceen, Bäume von mittlerer Höhe, häufigerSträucher, mit einfachen, gelappten oder gefiedertenBlättern, in einfachen oder zusammengesetzten Trauben- oderScheindolden stehenden Blüten und beerenartiger Apfelfruchtmit dünnhäutigen Fruchtfächern. I.Apfelbeersträucher (Adenorrhachus Dec.), Sträucher miteinfachen, auf der Mittelrippe oft mit Drüsen besetztenBlättern, einfachen Doldentrauben, weißen, an der Basisnicht bewimperten oder behaarten Blumenblättern, fünfGriffeln. Rotfrüchtiger Apfelbeerstrauch (S. arbutifolia L.),in Nordamerika, 1-2 m hoher Strauch mit aufrecht abstehendenZweigen, länglich ovalen, unterseits behaarten Blätternund roten, behaarten Früchten, färbt sich im Herbstintensiv rot, wird als Zierstrauch angepflanzt. Ein Bastard dieserArt mit S. Aria ist S. heterophylla Rchb., mit sehrveränderlichen, ganzen, eingeschnittenen, meist mehr oderweniger gefiederten, unterseits graufilzigen Blättern,vielblütigen Doldentrauben und schwarzroten Früchten. II.Ebereschen (Aucuparia Med.), Sträucher und Bäume mitgefiederten Blättern, zusammengesetzten, rispenartigenDoldentrauben, an der Basis mit einigen abfallenden Härchenbesetzten Blumenblättern, zwei oder drei Griffeln und glattenFrüchten. S. aucuparia L. (gemeine Eberesche, Vogelbeerbaum,Quitzstrauch), ein mittelhoher Baum mit gefiederten, wenigstens aufder Unterseite lange Zeit wollig behaarten Blättern,gesägten Blättchen, weißen, unangenehm riechendenBlüten und roten Früchten, wächst in Europa undNordasien bis in die subarktische Zone, im Süden auf dem St.Gotthard bis zur Grenze der Fichte. Die Eberesche gehört zuunsern schönsten Gehölzen und eignet sich trefflich zuAnpflanzungen in Gärten und an Wegen. Das ziemlich harte Holzwird von Tischlern, Büchsenschäftern und Wagnern benutzt;die Früchte dienen zum Vogelfang (aucupium, daher der Name),besonders für Drosseln (Drosselbeere), auch als Futterfür Federvieh und Schafe, zur Darstellung vonÄpfelsäure, Branntwein, Essig etc. III. Mehlbirn (AriaHost.), Sträucher und Bäume mit einfachen, unten filzigenBlättern, Blüten in Doldentrauben,zurückgeschlagenen Blumenblättern, wolligen Griffeln undFrüchten. S. Aria Crtz. (gemeine Mehlbirn, Mehlbaum,weißer Elsbeerbaum, Alzbeere, Arlesbeere), ein 9-12 m hoherBaum mit rundlichen oder länglichen, doppelt gesägtenoder eingeschnittenen, unterseits weißfilzigen Blättern,in verästelten Doldentrauben stehenden, weißenBlüten und rundlichen, rotorangen, punktierten, süßsäuerlichen Früchten, findet sich in Mittel- undSüdeuropa und im Orient, in der untern Alpenregion bis 1700 m,nördlich bis zum Harz, liefert Nutzholz; er wird in mehrerenVarietäten in den Gärten kultiviert. Ein Bastard mit S.torminalis ist S. latifolia Pers., mit länglichbreiteiförmigen, am Rand lappigen, gesägten, unterseitsgraufilzigen Blättern, großer, filziger Doldentraube undovalrunden, rotorangen, gelb punktierten Früchten. IV.Elsbeerbäume (Torminaria Ser.), Bäume mit gelappten,unbehaarten Blättern, Doldentrauben, flachen, etwasbärtigen Blumenblättern, zwei Griffeln, unbehaartenFrüchten. S. torminalis L. (Elsebeerbaum, Atlasbeerbaum), einmittelhoher Baum mit eirunden, tief und ungleich gelappten,ungleich scharf gesägten, unbehaarten Blättern, filzigerDoldentraube, weißen Blüten und graubraunen, weißpunktierten Früchten, ist in Mitteleuropa einheimisch, bei unsnördlich bis zum Harz, liefert genießbare Früchteu. Nutzholz (Atlasholz). V. Speierling (Cormus Spach), mitgefiederten Blättern, an der Basis wolligenBlumenblättern und fünf meist einsamigen, imQuerdurchschnitt spitzen Fruchtfächern. S. domestica L.(Speierling, Sperber-, Spierlingsvogelbeere), ein großer Baummit gefiederten Blättern, gesägten, unterseits meistweißlich behaarten Blättchen, kleinen Blüten inendständiger Doldentraube und birn- oder apfelförmigen,orangegelben Früchten, welche durch Liegen weich undwohlschmeckend werden, wächst in Italien, Frankreich und demwestlichen Nordafrika, wird in Süddeutschland in Gärtenkultiviert und findet sich bei uns verwildert bis zum Harz.

Sorby, Henry Clifton, Naturforscher, geb. 10. Mai 1826 zuWoodbourne bei Sheffield, widmete sich naturwissenschaftlichenStudien auf seinem Gut Broomfield bei Sheffield und erreichtebedeutende Erfolge namentlich durch Anwendung mikroskopischerForschungen auf physikalische Gegenstände und physikalischerMethoden aus geologische Probleme. Er wies zuerst auf diemikroskopische Untersuchung der Kristalle und Gesteine und auf dieWichtigkeit derselben für theoretische Schlußfolgerungenhin und veröffentlichte seine ersten darauf bezüglichenArbeiten 1858 im "Quarterly Journal of the Geological Society". Erwandte auch zuerst die Spektralanalyse

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Sordid - Soria.

bei mikroskopischen Untersuchungen an und konstruierte einSpektroskop zur Analyse gefärbter Flüssigkeiten, welchesseitdem weite Verbreitung gefunden hat.

Sordid (lat.), schmutzig, unflätig, geizig;Sordidität, schmutziges Wesen, Geiz.

Sordino (ital.), s. Dämpfer.

Sordo (ital.), musikal. Bezeichnung: gedämpft.

Sordun, Name eines im 17. Jahrh. gebräuchlichenHolzblasinstruments und einer veralteten Orgelstimme vongedämpftem Klang.

Soredien (griech.), s. Flechten, S. 353.

Sorel, Stadt in der britisch-amerikan. Provinz Quebec, amSt. Lorenzstrom, an der Mündung des Richelieu, hat Handel,Fischerei und (1881) 5791 Einw.

Sorel, 1) (Soreau) Agnes, die Geliebte König KarlsVII. von Frankreich, geboren um 1409 zu Fromenteau in Touraine vonadligen Eltern, kam als Ehrendame der Herzogin von Anjou, Isabellavon Lothringen, 1431 (also erst nach dem Tode der Jungfrau vonOrléans) an den französischen Hof und fesselte durchihre Schönheit und Geistesbildung den König so sehr,daß er sie zur Ehrendame der Königin ernannte und ihrdas Schloß Beauté an der Marne schenkte, daher ihrName Dame de Beauté. Obwohl sie ihren Einfluß auf denKönig nie mißbrauchte und selbst die Achtung derKönigin genoß, hatte sie doch viel von der Roheit desDauphins, nachmaligen Königs Ludwig XI., zu leiden. Nachdemsie seit 1442 zu Loches in der Zurückgezogenheit gelebt,ließ sie die Königin wieder an den Hof kommen. Um demKönig stets nahe zu sein, begab sie sich nach dem SchloßMasmal la Belle, wo sie aber schon 9. Febr. 1450 starb. Siehinterließ dem König drei Töchter. Vgl.Steenackers, Agnes S. et Charles VII (Par. 1868).

2) Albert, franz. Schriftsteller, geb. 13. Aug. 1842 zu Honfleur(Calvados), war 1866 im Auswärtigen Ministerium angestellt,begleitete 1870 die Delegation nach Tours und Bordeaux, ward 1872Professor der diplomatischen Geschichte in Paris und 1876Generalsekretär des Präsidiums des Senats. Außervielen Artikeln in der "Revue des Deux Mondes" und andernZeitschriften schrieb er die Romane: "La grande falaise" (1872) und"Le Docteur Egra" (1873) und die historischen Werke: "Letraité de Paris du 20 nov. 1815" (1873); "Histoirediplomatique de la guerre franco-allemande" (1875, 2 Bde.);"Laquestion d'Orient au XVIII. siècle" (1878); "Essaisd'histoire et de critique" (1882); "L'Europe et laRévolution française" (1885-87, 2 Bde.);"Montesquieu" (1887), und in Gemeinschaft mit Funck-Brentano:"Précis du droit des gens" (2. Aufl. 1887).

Soresina, Stadt in der ital. Provinz Cremona, an derEisenbahn von Treviglio nach Cremona, hat Seiden- und Weinkultur,Bereitung von Senf und Konfitüren, Handel und (1881) 6765Einw.

Sorex, Spitzmaus.

Sorèze (spr. ssorähs), Flecken im franz.Departement Tarn, Arrondissem*nt Castres, pittoresk durch Lage undBauart und berühmt durch ein Collège der Benediktiner,mit (1881) 1348 Einw. In der Nähe eine großeStalaktitengrotte und das Bassin von St.-Ferréol des Canaldu Midi.

Sorgh, Hendrik Martensz, niederländ. Maler, geborenum 1611 zu Rotterdam, war dort Schüler des Willem Buyteweckund starb daselbst um 1670. Er hat biblische Darstellungen ingenrehafter Auffassung (z. B. die Anbetung der Hirten, inPetersburg, die Parabel vom Weinberg des Herrn, in Dresden) undGenrebilder aus dem Volksleben (Fisch- und Gemüsemärkte,Interieurs mit Figuren), aber auch Marinen und Flußufergemalt, die zum Teil den Einfluß von C. Saftleven zeigen undsich durch Feinheit der Färbung und Lebendigkeit derDarstellung auszeichnen.

Sorghum Pers. (Mohrenhirse), Gattung aus der Familie derGramineen, in wärmern Ländern heimische große,breitblätterige Gräser mit markigem Stengel,reichverzweigten, derbästigen Rispen mit elliptischen biskugelig elliptischen Ährchen, lederigen, schwach behaarten, ander Spitze gezähnelten, selten begrannten Hüllspelzen,tief ausgerandeten, begrannten oder grannenlosen Deckspelzen undmehligen Samen. S. vulgare Pers. (Mohren-, Moorhirse, Kafferkorn,Negerkorn, Durrha, Dari, Dara, Doura [S. tartaricum]),einjähriges Gewächs mit knotig gegliedertem, bis 5 mhohem Halm, eirund-ovaler, zusammengezogener, fastkolbenförmiger Rispe und braunen, braunroten oder schwarzenSpelzen, stammt vielleicht aus Indien, kam zu Plinius' Zeit nachEuropa, im 13. Jahrh. nach Italien und im 16. Jahrh. alssarazenische Hirse nach Frankreich. Sie wird jetzt alsCharakterpflanze Afrikas an der West- und Ostküste, in derNordhälfte bis Timbuktu, in Abessinien bis 2500 m ü. M.als Brotkorn gebaut, auch in Polen, Ungarn, Dalmatien, Portugal,Italien, in Arabien, Ostindien und Turkistan in mehrerenVarietäten kultiviert. In Afrika liefert sie unter allenBrotfrüchten die reichsten Erträge. Man bereitet aus denKörnern auch Grütze, ein berauschendes Getränk undEssig und verarbeitet sie in Belgien, Irland, Schottland in denBrennereien; außerdem dienen sie, wie auch die Halme mit denBlättern, als Viehfutter; aus den entkernten Blütenrispenmacht man die sogen. Reisbesen (Besenkraut). S. saccharatum Pers.(Zuckermoorhirse, Himalajakorn), 3-3,75 m hoch, mitquirlästiger Rispe mit überhängenden Ästen, ausOstindien und Arabien stammend, wird in China, Südafrika unddem südlichen Nordamerika sehr ausgedehnt kultiviert. 1857importierte man nach Amerika den ersten Samen, und 1863 waren schon250,000 Acres mit S. (Imphee) bebaut, aus dessen Stengeln manZucker gewann. Als indisches Futter-Sorgho (indisches Korn) wurdedie Pflanze auch bei uns zum Anbau als Grünfutter empfohlen;sie gibt hohen Ertrag, ist aber unsicherer als Mais und verlangtheiße Sommer zu ihrem Gedeihen. Vgl. Collier, S., its cultureetc. (Lond. 1884).

Sorgues (spr. ssorgh), Flecken im franz. DepartementVaucluse, Arrondissem*nt Avignon, am gleichnamigen Fluß,welcher seinen Ursprung in der wasserreichen Quelle Vaucluse (s.d.) hat und nach 40 km langem Lauf in den Rhône mündet,und an der Eisenbahn Lyon-Marseille (Abzweigung nach Carpentras)gelegen, hat Weinbau, Seidenspinnerei, Fabrikation von chemischenProdukten und (1881) 2977 Einw.

Soria, span. Provinz in der Landschaft Altkastilien,grenzt im N. an die Provinz Logroño, im O. an Saragossa, imSüden an Guadalajara, im W. an Segovia u. Burgos und hat einAreal von 10,318 qkm (187,4 QM.). Das Land ist im ganzen einHochplateau, welches im N. von Berggruppen des IberischenGebirgssystems (darunter Pico de Urbion, 2252 m, Sierra delMoncayo, 2349 m), im südlichen Teil von den Ausläuferndes Kastilischen Scheidegebirges eingeschlossen wird. Das Zentrumder Provinz bildet das Becken des obern Duero, welcher hier denRituerto und Ucero aufnimmt. Einige Wasserläufe imöstlichen Teil, darunter der Jalon, fließen dem Ebro zu.Im N. finden sich große Kiefernwaldungen, sonst aber herrschtMangel an Bäumen, dafür jedoch sehr reicher Graswuchs aufden öden Hochflächen. Das Klima ist

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Soria - Sosh.

in den Thälern mild, auf den Gebirgen rauh. Die sehrspärliche, arme Bevölkerung betrug 1878: 153,652 Seelen,demnach nur 15 pro QKilometer (1886 auf 162,000 Seelengeschätzt). Die wichtigsten Produkte sind: Schafe, Pferde,Maulesel, Getreide, Wein (geringe Qualität), Öl, Flachsund Hanf; das Mineralreich bietet wohl Erze, welche aber nichtabgebaut werden, dann Salz und Gips. Hauptbeschäftigung bildetVieh-, besonders Schafzucht, daneben kommen höchstens nochWeberei und Gerberei in Betracht. Die Südostecke der Provinzwird von der Spanischen Ostbahn (Madrid-Saragossa) durchschnitten.Die Provinz umfaßt fünf Gerichtsbezirke (darunter Burgode Osma und Medinaceli). - Die gleichnamige Hauptstadt, rechts amDuero, mit zinnengekrönten Mauern umgeben und von einemhochgetürmten Schloß überragt, hat (1886) 5834Einw. u. ist Sitz des Gouverneurs.

Soria, Fabrikstadt im mexikan. Staat Guanajuato, beiCelayo, hat eine Baumwollspinnerei u. -Weberei und eineKasimirfabrik.

Soriano, Departement des südamerikan. StaatsUruguay, 9223 qkm (151,2 QM.) groß mit (1885) 24,988 Einw.,am Uruguay, ist malerisch gelegen und hat viel Viehzucht (Schafe,Rinder). Hauptstadt ist Mercedes am Rio Negro, 30 km oberhalbdessen Mündung in den Paraguay, mit 4000 Einw.; derälteste Ort aber ist Soriano, an der Mündung desgenannten Flusses, 1624 gegründet, mit 600 Einw.

Soriano nel Cimino (spr. tschi-), Dorf in der ital.Provinz Rom, Kreis Viterbo, am Fuß des Monte Cimino, hatRingmauern und (1881) 4601 Einw.

Soringaöl (Sorinjaöl), s. Behenöl.

Soristan, s. v. w. Syrien.

Sorites (griech., Kettenschluß), ein aus mehrerenSchlüssen zusammengesetzter Schluß, dessen Erfindunggewöhnlich dem Eubulides zugeschrieben wird. Derselbeentsteht, indem zwei Schlüsse enthymematisch, d. h. durchHinweglassung entweder des Ober- (Aristotelischer S.) oder desUntersatzes (Goclenianischer S.), abgekürzt und so verbundenwerden, daß sie alle einen gemeinschaftlichenSchlußsatz erhalten; z. B.: die Gestirne sind Körper;alle Körper sind beweglich; alles Bewegliche istveränderlich; alles Veränderliche ist vergänglich:also sind die Gestirne vergänglich (Krug).

Sorlingues (spr. ssorlängh), s. Scillyinseln.

Sorö, dän. Amt auf der Insel Seeland, 1475 qkm(26,8 QM.) mit (1880) 87,509 Einw. Die gleichnamige Hauptstadt inschöner Lage am Sorösee und an der Eisenbahn vonKopenhagen nach Korsör, mit berühmter Akademie und (1880)1464 Einw. Die Akademie (jetzt gelehrte Schule undErziehungsanstalt), eine der reichsten Stiftungen des Landes, wurde1586 aus den Einkünften der 1161 hier gegründetenCistercienser-Mönchsabtei gestiftet und 1822 neu organisiert.Von den großartigen alten Klostergebäuden ist nur nochdie Kirche (mit den Grabmälern mehrerer dänischerKönige und Ludwig Holbergs) vorhanden.

Sörö, norweg. Insel an der Küste desNördlichen Eismeers, unweit der Stadt Hammerfest, 971 qkm(17,6 QM.) groß.

Sorocaba, Stadt in der brasil. Provinz São Paulo,am gleichnamigen Nebenfluß des Tieté, in fruchtbarerGegend, hat vielbesuchte Maultier-, Pferde- und Rindviehmärkteund 3000 Einw. 5 km nördlich davon liegen die Eisenhüttenvon Ipanema.

Soroki (Ssoroki), Kreisstadt im russ. GouvernementBessarabien, rechts am Dnjestr, hat 2 Kirchen und (1885) 11,876Einw., welche Handel mit Tabak, Wein und Getreide treiben. An derStelle von S. stand einst Olchionia, ein Handelsplatz der Genuesen.Im Bukarester Traktat 1812 kam S. an Rußland.

Sorr, Dorf in Böhmen, s. Soor.

Sorrénto, Stadt in der ital. Provinz Neapel, KreisCastellammare, in reizender Lage auf der Nordseite der Halbinselvon S., welche den Golf von Neapel von dem von Salerno trennt, ander landschaftlich schönen Straße von Castellammare nachMassa, von Orangen- und Olivenhainen, Wein-, Obst- undMaulbeerpflanzungen umgeben, ist Sitz eines Erzbischofs, hat Restevon römischen Bauwerken, eine Kathedrale, ein Seminar,Seebäder, Schiffahrt und Handel (in der Marina von S. sind1886: 91 Schiffe mit 38,025 Ton. angelaufen), Seidenindustrie,Fabrikation von Holzmosaikwaren und (1881) 6089 Einw. Dieschöne Lage und das herrliche Klima machen es zumLieblingsaufenthalt der Fremden auch im Sommer (zahlreiche Hotelsund Villen). Einen malerischen Anblick gewährt die Küsteringsumher durch ihre jäh niederstürzenden, 30-60 m hohenFelswände mit Höhlen und tiefen Einkerbungen. DieUmgebung der Stadt enthält zahlreiche schöne Punkte (wiedas ehemalige Kloster Deserto, der Arco naturale, die Punta dellaCampanella etc.). S., im Altertum Surrentum, war eine uralte,anfänglich etruskische Stadt Kampaniens, späterrömische Kolonie und ist Geburtsort Torquato Tassos, welchemhier ein Denkmal errichtet worden ist.

Sört (Saird), Hauptort eines Liwa imasiatisch-türk. Wilajet Bitlis, zwischen dem Bitlis Su und demöstlichen Tigris (Schatt), ist Sitz eines nestorianischenBischofs, hat einige Moscheen und 5000 Einw.

Sorte (franz.), Art, Gattung, besonders von Waren oderGeld; Sortenzettel, s. Bordereau.

Sortes ("Lose"), bei den Römern Losorakel, von denensich besonders die zu Antium, Cäre und Pränestegroßen Ansehens erfreuten. Die letztern wurden geleitet durchden Willen der Fortuna Primigenia (s. d.) und bestanden aus siebeneichenen, mit alten Schriftzügen versehenen Stäbchen,welche, nachdem der Befragende sich mit Gebet und Opfer an dieGöttin gewendet hatte, ein Knabe mischte, um sodann eins davonzu ziehen. Mit Unrecht führen den Namen S. Praenestinae einigeinschriftlich erhaltene Prophezeiungen (vgl. Preller-Jordan,Römische Mythologie, Bd. 2, S. 190). S. nannte man dann auchdie als Prophezeiungen verwendeten Stellen eines Buches (z. B. derBibel), welche durch Aufschlagen ermittelt wurden, oder auch aufBlätter geschriebene Verse (namentlich des Vergil), die manzog.

Sortie (franz., spr. ssortih), Ans-, Weggang; Ausfall,Ausfallthor; s. de bal, leichter Damenumhang.

Sortieren (franz.), nach Sorten ordnen.

Sortiment (franz. assortiment), Sammlung vonGegenständen derselben Gattung, aber von den verschiedenstenArten, besonders in gehöriger Abstufung der Güte (vgl.Assortiment); Sortimentshandel, s. Buchhandel, S. 574.

Sortita (ital.), die Eintrittsarie der Primadonna in deritalienischen Oper früherer Zeit, auf welche die Komponistengroßen Fleiß verwandten, um sie zu einer dankbaren undbrillanten Nummer zu gestalten.

Sorus (lat.), Fruchthäufchen, s. Farne, S. 51.

Sosandra, mutmaßlicher Beiname der Aphrodite, vonwelcher Kalamis (s. d.) eine berühmte Statue (auf derAkropolis zu Athen) gemacht hatte.

Sosh (Ssosh), Nebenfluß des Dnjepr inRußland, durchfließt die Gouvernements Smolensk undMohilew und ist durch seine Schiffbarkeit für den Handelwichtig.

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Sosier - Sottie.

Sosier (Sosii), Name einer Buchhändlerfirma im altenRom, zur Zeit des Augustus, welche einen großen, von Horazrühmend erwähnten Betrieb hatte; deshalb typischer Namefür angesehene Buchhändler.

Sosiphanes, griech. Tragiker der sogen. Pleias, ausSyrakus, lebte um 300 v. Chr. und soll 73 Tragödiengeschrieben haben, von denen aber nur geringe Fragmente (bei Nauck:"Tragicorum graecorum fragmenta", 2. Aufl., Leipz. 1889) erhaltensind.

Sositheos, griech. Tragiker der sogen. Pleias, ausAlexandria in Troas, lebte um 280 v. Chr. zu Athen und Alexandriain Ägypten und gilt als Wiederhersteller des Satyrspiels. Vonseinen Dramen sind nur spärliche Fragmente erhalten (beiNauck: "Tragicorum graecorum fragmenta", 2. Aufl., Leipz.1889).

Sosna (Ssosna), Fluß im russ. Gouvernement Orel,fließt zwischen waldlosen, steilen Ufern hin und mündetvon rechts in den Don; 220 km lang.

Sosniza (Ssosniza), Kreisstadt im russ. GonvernementTschernigow, unweit der Mündung der Ubeda in die Desna, hat 5Kirchen, ein Stadtkrankenhaus und (1885) 6774 Einw., welche sichvornehmlich mit Ackerbau und Tabaksanpflanzung beschäftigen.Ursprünglich eine Stadt des Tschernigower Fürstentums,stand S. lange unter polnischer Herrschaft, bis es 1686 die Russenwieder in Besitz nahmen.

Sóso, afrikan. Stadt, s. Saria.

Sosos, griech. Mosaikkünstler, der wahrscheinlichzur Zeit der Attaliden zu Pergamon thätig war. Dort befandsich sein berühmtes Werk mit den vier trinkenden oder sichsonnenden Tauben auf dem Rand eines Wassergefäßes, ausnatürlichen Steinen zusammengesetzt, wovon sich einerömische Nachbildung im kapitolinischen Museum zu Rombefindet.

Sospel (ital. Sospello), Stadt im franz. DepartementSeealpen, Arrondissem*nt Nizza, in einem tiefen Thal an der Beveraund an der Straße zum Col di Tenda, hat Reste alterBefestigungen und (1881) 3097 Einw.

Sospirante (ital.), seufzend.

Sospiro (ital., franz. soupir, "Seufzer"), in derNotenschrift s. v. w. Viertelpause.

Sospita (auch Sispita, Sospes, Sispes, "Erretterin,Heilbringerin"), Beiname besonders der Juno, als welche sienamentlich in Lanuvium, aber auch in Rom verehrt wurde, angethanmit Ziegenfell, welches ihr zugleich als Helm und als Panzerdiente, gebogenen Schnabelschuhen, Schild und Spieß. Einevorzügliche Statue derselben enthält das vatikanischeMuseum zu Rom.

Sospität (lat.), Wohlsein, Wohlstand.

Sostenuto (ital.), s. v. w. gehalten, eineTempobezeichnung, die etwa mit Andante oder Adagioübereinstimmt, zu welchen beiden es auch als Zusatzauftritt.

Sotades, griech. Dichter, aus Maroneia in Thrakien, lebtein Alexandria unter Ptolemäos Philadelphos (um 280 v. Chr.)und soll auf Geheiß des Königs, dessen Ehe mit seinerleiblichen Schwester Arsinoe er verspottet hatte, ersäuftworden sein. Er verfaßte im ionischen Dialekt und einemeigentümlichen nach ihm benannten Metrum (Sotadeen,Grundschema: ^^^^^^^^^^^^^^) boshafte Spottgedichte undmythologische Travestien zum Teil unzüchtigen Inhalts, welcheauf mündlichen Vortrag unter mimischer Tanzbegleitungberechnet waren. Diese sogen. Sotadische Dichtgattung fandzahlreiche Nachahmer. Vgl. Sommerbrodt, De phlyacographis Graecorum(Bresl. 1875).

Soetbeer (spr. söt-), Adolf, deutscherNationalökonom, geb. 23. Nov. 1814 zu Hamburg, studiertePhilologie, wurde infolge seiner Schrift "Des Stader ElbzollsUrsprung, Fortgang und Bestand" 1840 Bibliothekar derKommerzbibliothek und 1843 Sekretär und Konsulent derKommerzdeputation in Hamburg. Die Universität Kiel ernannteihn zum Ehrendoktor der Rechte. 1872 siedelte er nachGöttingen über, wo er zum Honorarprofessor und GeheimenRegierungsrat ernannt wurde. S. hat seit vielen Jahren eifrigfür eine deutsche Münzreform auf Grundlage derGoldwährung gewirkt; auch der Münzgeschichte, derStatistik der Flußschiffahrt, den Handelsverträgenwidmete er ein reges Interesse. Er übersetzte Mills"Politische Ökonomie" (4. Ausg., Leipz. 1881, 3 Bde.), schriebKommentare zum deutschen Münzgesetz und dem deutschenBankgesetz (Erlang. 1874-76) und veröffentlichteaußerdem: "Edelmetallproduktion und Wertverhältniszwischen Gold und Silber seit der Entdeckung Amerikas" (Gotha 1879)und "Materialien zur Erläuterung und Beurteilung derwirtschaftlichen Edelmetallverhältnisse und derWährungsfrage" (2. Ausg., Berl. 1886).

Soteira (griech., "Retterin"), Name der Göttinnen,welche als Schützerinnen eines Landes galten, z. B. derArtemis in Korinth, der Athene in Athen.

Soter (griech., "Erhalter, Retter"), Beiname aller Stadtund Land beschützenden Götter, des Zeus, Helios, Apollon,Dionysos, Asklepios, Poseidon, Herakles etc.; auch Beiname vielerKönige und Kaiser.

Soteriologie (griech.), die Lehre von Christus als demErlöser (Soter).

Sothisperiode (Hundssternperiode), s. Periode.

Sotnie (russ.), bei den Kosaken s. v. w. Kompanie oderEskadron; Sotnik, der Kommandant einer S.

Soto, 1) (Sotus) Dominico de, gelehrter kathol. Theolog,geb. 1494, war Dominikaner, beteiligte sich 1545-47 am Konzil vonTrient, war 1547-50 Beichtvater Karls V. und lebte später zuSalamanca, wo er 1560 starb. Unter seinen Schriften ward namentlichdie "De justitia et jure" (Salam. 1556) dadurch berühmt,daß sie dem Volk das Recht vindiziert, einen tyrannischenFürsten abzusetzen. Auch bekämpfte S. als einer derersten den Negerhandel.

2) Hernando de, span. Seefahrer, geboren um 1496 zu Villanuevain Estremadura, machte erst Entdeckungsreisen auf Cuba, wardGouverneur von Santiago de Cuba, erbaute das 1528 vonfranzösischen Seeräubern zerstörte Havana wieder,begleitete dann 1532 Pizarro auf seiner Unternehmung gegen Peru undkundschaftete das Land aus, zeigte sich human und mild und suchtevergeblich Atahualpas Hinrichtung zu hindern, unternahm 1539 dieEroberung Floridas und kam auf einer seiner Expeditionen 25. Juni1542 um. Vgl. Garcilaso de la Vega, Historia del adelantado H. deS. (Madr. 1723).

Sotteville (spr. ssott'wil, S. lès Rouen), Dorf imfranz. Departement Niederseine, links an der Seine, Rouengegenüber, an der Eisenbahn Paris-Le Havre, hatEisenbahnwerkstätten der Ostbahn, Baumwollspinnerei und-Weberei, Fabriken für Chemikalien, Seilerwaren, Öl,Seife etc. und (1886) 13,628 Einw.

Sottíe (franz. sotie, von sot, "Narr"),Narrenspiel, Name einer Art dramatischer Possen oder Satiren,welche wie die Moralitäten und Farcen den Anfangszeiten desfranzösischen Dramas angehörten, und deren PersonenNarren waren. Sie wurden von den Enfants sans souci (s. d.), dannauch von den Mitgliedern der Bazoche (s. d.) aufgeführt undzeichneten sich besonders durch die Plumpheit ihrer Rollen undkühn tadelnde Sprache aus. Seit Gringore (s. d.),

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Sottise - Söul.

der viele solcher Stücke schrieb, meist mit typischenNarrenfiguren, wie le prince Sot, la mère Sotte etc., wurdensie ausgeführter und erhielten eine politisch- oderkirchlich-satirische Zuspitzung. In der ersten Hälfte des 17.Jahrh. verschwanden die Sottien allmählich von der Bühnewie von der Straße. In Deutschland, wohin sich dieselben vonFrankreich aus auch verbreiteten, verschmolzen sie mit denFastnachtsspielen (s. d.).

Sottise (franz.), Albernheit; beleidigende Rede.

Sottovoce (ital., spr. ssottowohtsche), mitgedämpfter Stimme, halblaut.

Sou (franz., spr. ssu. früher Sol), franz.Kupfermünze, ehedem die Basis der französischenMünzrechnung, 20 Sous = 1 Livre; jetzt das 1/20-Frank- oder5-Centimesstück.

Soubise (spr. ssubihs'), Zwiebelpüree; à laS., mit Zwiebelpüree.

Soubise (spr. ssubihs'), altes franz. Geschlecht, dessenGüter und Titel 1575 durch die Verheiratung der Erbtochter desHauses, Catherine de Parthenay, mit dem Vicomte René II. vonRohan auf das Geschlecht der Rohans übergingen.Merkwürdig sind die beiden aus dieser Ehe entsprossenen undals Kriegshäupter der Hugenotten berühmten Söhne:der Herzog Henri von Rohan (s. d.) und Benjamin von Rohan, Baronvon Frontenai, als Erbe seiner Mutter Herr von S., geb. 1583. Erfocht schon unter Moritz von Oranien in den niederländischenFeldzügen und schloß sich 1615 der Partei des PrinzenCondé an. In den Religionskriegen, die unter Ludwig XIII.1621 wieder begannen, führte er das Kommando über dieHugenotten in den Provinzen Poitou, Bretagne und Anjou mit vielerUmsicht und bewies besondere Tapferkeit bei der Verteidigung vonSt.-Jean d'Angely, mußte aber 1622 vor der feindlichenÜbermacht nach La Rochelle zurückweichen. S.bemächtigte sich darauf der Inseln Ré und Oleron(Anfang 1625) sowie in dem Hafen Blavet an der bretagnischenKüste der königlichen, aus 15 großen Schiffenbestehenden Flotte. Dagegen mißlang seine Expedition nach derLandschaft Médoc. Am 15. Sept. 1625 schlug ihn der Herzogvon Montmorency auf der Höhe der Insel Ré und vertriebihn aus Oleron. S. unternahm darauf eine zweite Reise nach England,wo er Karl I. bewog, nacheinander drei ansehnliche Flotten dembedrängten La Rochelle zu Hilfe zu schicken; gleichwohl fieldies letzte Bollwerk der Hugenotten. Obschon in den Frieden vom 29.Juni 1629 eingeschlossen, blieb S. dennoch in England, um von hieraus die Sache der Protestanten zu fördern. Er starb 9. Okt.1642 in London, ohne Kinder zu hinterlassen. Die Güter undTitel des Hauses S. erbte einer seiner Seitenverwandten,François von Rohan. Ein Nachkomme dieses letztern warCharles von Rohan, Prinz von S., Pair und Marschall von Frankreich,geb. 16. Juli 1715; er begleitete Ludwig XV. als dessen Adjutant inden Feldzügen von 1744 bis 1748 und nötigte 1746 Mechelnzur Kapitulation, infolgedessen er 1748 zum Maréchal de Campund 1751 zum Gouverneur von Flandern und Hennegau ernannt wurde.Bei Beginn des Siebenjährigen Kriegs mit dem Kommandoüber ein Korps von 24,000 Mann betraut, eroberte er Wesel,besetzte Kleve und Geldern und vereinigte sich mit der deutschenReichsarmee, um Sachsen von den Preußen zu säubern. InGotha aber im September von Seydlitz beim Diner im Schloßüberfallen, ergriff er eiligst die Flucht, und 5. Nov. erlitter bei Roßbach eine schimpfliche Niederlage. Gleichwohlverlieh ihm Ludwig XV. das Portefeuille des Kriegsministers undsandte ihn 1758 mit dem Herzog von Broglie wieder auf denKriegsschauplatz in Deutschland. Wiewohl zwischen beidenfortwährende Eifersucht herrschte, errangen sie 10. Okt. 1758bei Lutternberg doch einen Sieg, infolge dessen Hessen in ihreHände fiel. S. erhielt daher den Marschallsstab und behieltdas Kommando bis zum Friedensschluß von 1763. Nach dem Todeder Pompadour fand er eine ebenso starke Stütze an derDubarry. Als Ludwig XV. starb, war er der einzige von denHofleuten, welcher den Leichnam bis zu seiner Bestattung nichtverließ; dieser Zug der Ergebenheit bewog Ludwig XVI., S. dieStelle im Ministerrat zu lassen. Er starb 4. Juli 1787, und mit ihmerlosch die Linie von Rohan-S.

Soubrette (franz., spr. ssu-), Rollenfach derfranzösischen und deutschen Bühne. Eigentlich Zofe,Kammerjungfer, mit dem Nebenbegriff der List und Verschmitztheit,bezeichnet S. jetzt eine muntere oder komische jugendlicheMädchenrolle und ist besonders in der modernen Operette u.Posse zu Bedeutung gelangt.

Souche (franz., spr. ssuhsch), "Stumpf" am Stammregisteroder Juxtabuch (s. d.).

Souches (spr. ssuhsch), Louis Rattuit, Graf von,kaiserlicher Feldherr, geb. 1608 zu La Rochelle als Sohn einesprotestantischen Edelmanns, verließ Frankreich nach demHugenottenkrieg 1629 und begab sich erst in schwedische, dann inkaiserliche Kriegsdienste, zeichnete sich imDreißigjährigen Krieg, insbesondere als tapfererVerteidiger Brünns gegen die Schweden (1645), dann gegen dieTürken aus, eroberte 1664 Neutra, kämpfte bei St.Gotthardt mit, ward Kammerherr, Hofkriegsrat undFeldmarschallleutnant, befehligte 1674 die Kaiserlichen in denNiederlanden, schadete aber den Unternehmungen der Verbündetendurch sein verdächtiges, aus seinem Starrsinn und seinerUnbotmäßigkeit erklärliches Zaudern, namentlich inder Schlacht bei Senesse, so daß er abberufen wurde, undstarb 1682 in Mähren.

Soufflé (franz., Omelette soufflée),Eierauflauf.

Soufflet (franz., spr. ssufla, Blasebalg), faltigeSeitenwände an Koffern etc., welche dieVergrößerung des Raums ermöglichen.

Souffleur (franz., spr. ssuflör, "Einblaser"), amTheater diejenige Person, welche, unter einem in der Mitte desProszeniums auf dem Podium angebrachten Kasten sitzend,während der Vorstellung das Stück aus dem Buch abliest,um dem Gedächtnis der Schauspieler zu Hilfe zu kommen.Soufflieren, einem das zu Sagende zuflüstern, den S.machen.

Soufflot (spr. ssufloh), Jacques Germain, franz.Architekt, geb. 1713 zu Irancy bei Auxerre, studierte in Rom,erbaute dann in Lyon das Hospital und ging 1750 zum zweitenmal nachItalien. Nach seiner Rückkehr begann er sein Hauptwerk, dieKirche Ste.-Geneviève in Paris (jetzt Panthéon),deren großartige Kuppel zu den schönsten der Weltgehört. Er erbaute auch die Sakristei und die Schatzkammer vonNotre Dame in Paris und starb 1781 daselbst.

Souffrance (franz., spr. ssufrangs), Leiden; auch s. v.w. streitiger Posten (in einer Rechnung).

Souillac (spr. ssnják), Stadt im franz.Departement Lot, Arrondissem*nt Gourdon, an der Dordogne, mitHandelsgericht, schöner Kirche (12. Jahrh.), Gewehrfabrik,Gerberei, Färberei und (1881) 2749 Einw.

Söul, Hauptstadt des Königreichs Korea, amrechten Ufer des Hanflusses, 45 km (nach dem Stromlauf 120 km) vondessen Mündung in das Gelbe Meer, unter 37° 31'nördl. Br. und 127° 19' östl. L. v. Gr., hat 150,000,mit Einschluß der weithin sich erstreckenden

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Soulagieren - Soult.

Vorstädte 300,000 Einw. Von Ausländern zählte man1887: 619 (300 Chinesen, 263 Japaner, 26 Amerikaner, 11 Deutsche, 8Engländer etc.). Die eigentliche Stadt liegt 5 km vomFluß, in einem Becken, das auf drei Seiten von Höheneingefaßt wird, an denen die Stadtmauer hinläuft, durchwelche vier den Haupthimmelsrichtungen entsprechende Thoreführen. Im Zentrum der Stadt steht ein hölzerner Turm,dessen Glocke das Zeichen zum Öffnen und Schließen derThore gibt. Die Straßen sind eng und schmutzig, nur dreikönnen von Wagen benutzt werden; die Häuser sind niedrigund ärmlich, auch die auf weiten, von Mauern umschlossenenPlätzen erbauten Wohnungen der Vornehmen kaum besser. Dieweiten Plätze sind öde; einen Garten besitzt nur derKönig, dessen Palastgebäude mit großemExerzierplatz, Teichen etc. 2,6 qkm bedecken und von einer 12 mhohen Mauer eingefaßt werden, durch welche drei Thoreführen. S. ist Residenz des Königs und Sitz der Regierungsowie der diplomatischen Vertreter Deutschlands, Englands, Japans,Chinas, Rußlands und der Vereinigten Staaten von Nordamerika.Die Industrie war früher weit bedeutender; nennenswerteProdukte sind: Seide, Papier, Matten, Fächer, Dachziegel,Tabak, Bürsten.

Soulagieren (franz., spr. ssulasch-), erleichtern,helfen, erquicken; Soulagement (spr. ssulaschmáng),Linderung, Unterstützung, Erleichterung.

Soulary (spr. ssu-), Josephin, eigentlich Joseph Marie,franz. Dichter, geb. 23. Febr. 1815 zu Lyon, trat schon mit 16Jahren in das Militär, wo er bis 1836 blieb. Schon von hieraus schickte er an den "L'Indicateur de Bordeaux" seine poetischenVersuche mit der Unterschrift "S. grenadier". 1840 erhielt er beider Präfektur des Rhônedepartements eine Anstellung.Seine Dichtungen sind: "A travers champs" (1838); "Le chemin defer" (1839); "Les Éphémères" (2 Serien, 1846und 1857); "Sonnets humoristiques" (Lyon 1857), welche J. JaninsBewunderung erregten; "Les Figulines" (1862); "Les diables bleus"(1870); "Pendant l'invasion"(1871); "La chasse aux mouches d'or"(1876); "Les rimes ironiques" (1877), ein Lustspiel in Versen: "Ungrand homme qu'on attend" (1879) und "Promenade autour d'un tiroir"(1886). Eine Sammlung seiner "OEuvres poetiques" erschien 1872-83in 3 Bänden. Vgl. Mariéton, Jos. S. et laPléiade lyonnaise (Par. 1884).

Soulié (spr. ssu-), MelchiorFrédéric, franz. Novellist und Bühnendichter,geb. 23. Dez. 1800 zu Foix, war eine Zeitlang Advokat, sodannSteuerbeamter, später Dirigent einer Tischlerei und erhieltendlich eine Stelle als Unterbibliothekar am Arsenal. Mit dem Jahr1829 warf er sich ganz in die Romantik und lieferte nun eine langeReihe von Dramen und Melodramen, von denen aber nur das Shakespearenachgeahmte Trauerspiel "Roméo et Juliétte", dieSchauspiele: "Clotilde" und "La closerie des genêts"bemerkenswert sind. Andre erschienen gesammelt als "Drames inconnus(1879, 4 Bde.). Von seinen meist auf Erfolg beim großenPublikum berechneten historischen und sonstigen Romanen sindhervorzuheben: "Les deux cadavres". "Le magnétiseur", "Levicomte de Breziérs", "Le comte de Toulouse",hauptsächlich aber "Le lion amoureux" und "Les mémoiresdu diable", sorgfältige psychologische Studien, welche durchdramatische Lebendigkeit, phantastische Situationen undblühenden Feuilletonstil das Publikum fesselten. S. starb 23.Sept. 1847 in Bièvre bei Paris. Vgl. Champion, Fréd.S. (Par. 1847).

Soulouque (spr. ssuluhk), Faustin, als Faustin I. Kaiservon Haïti, geb. 1782 als Negersklave im Distrikt Petit Goyaveauf der Insel Haïti, erhielt 1793 nach Aufhebung der Sklavereiseine Freiheit, wurde 1804 Bedienter des Generals Lamarre,später dessen Adjutant, 1810 unter dem PräsidentenPétion Leutnant, 1820 unter Boyer Hauptmann. 1843 zumObersten befördert und dann zum General und Oberbefehlshaberder Präsidialgarde ernannt, erhielt er 1846 die Kommandanturvon Port au Prince und ward 1. März 1847 vom Senat zumPräsidenten der Republik erwählt, wiewohl er weder lesennoch schreiben konnte. Im höchsten Grad argwöhnisch undbesonders die über seine Unwissenheit und seinen Aberglaubenspottenden Mulatten fürchtend, schürte er den Haßdes schwarzen Pöbels gegen die Mulattenbourgeoisie undließ unter dem Vorwand einer Verschwörung derselben vom16. April 1848 an in Port au Prince ein viertägiges Blutbadunter denselben anrichten. Darauf votierte dieRepräsentantenkammer 3. Dez. 1848 dem Diktator ihren Dank,daß er das Vaterland und die Verfassung gerettet habe. EinFeldzug gegen die "rebellischen Mulatten" von San Domingo imMärz 1849 endete mit einem schmählichen Rückzug.Gleichwohl veranstaltete man im August 1849 zu Port au Prince einePetition an die Kammern, wodurch das haïtische Volk ausDankbarkeit S. den Kaisertitel übertrug; der Senat willigteein, und zu Weihnachten 1850 ließ er sich als Faustin I.öffentlich als erblicher Kaiser krönen. Eine nochmaligefeierliche Krönung erfolgte 18. April 1852. Sein Hofstaatwurde nach französischem Muster kopiert, und auch seineStaatseinrichtungen waren eine Karikatur der Napoleonischen. Nachseiner Thronbesteigung stiftete er zwei Orden, nämlich denOrden des heil. Faustin für Militärpersonen und denEhrenlegionsorden für Zivilisten. Seine wiederholten Versuche,San Domingo zu unterwerfen, scheiterten kläglich. Im Innernherrschte er verschwenderisch und grausam, so daß dieErbitterung gegen ihn schließlich allgemein wurde. AlsGeneral Geffrard 22. Dez. 1858 zu Gonaïves die Republikproklamiert hatte und S. gegen ihn auszog, ging dergrößte Teil seiner Truppen zu den Insurgenten über.Am 15. Jan. 1859 wurde S. in seiner Hauptstadt Port au Prince durchVerrat gefangen; doch schonte man sein Leben und ließ ihnnach Jamaica übersiedeln. Nach dem Sturz Geffrards 1867erhielt er die Erlaubnis zur Rückkehr in die Heimat und starb4. Aug. d. J. in Petit Goyave.

Soult (spr. ssult), Nicolas Jean de Dieu, Herzog vonDalmatien, franz. Marschall, geb. 29. März 1769 zu St.-Amansla Bastide (Tarn) als Sohn eines Landmanns, trat 1785 als Gemeinerin das Regiment Royal-Infanterie, ward 1791 Offizier, bald daraufKapitän und zeichnete sich unter Custine und Hoche aus. 1794zum Brigadegeneral ernannt, focht er 1796 und 1797 am Main undRhein, befehligte 1799 eine Brigade in der Avantgarde unterLefebvre bei der Donauarmee und erwarb sich hierauf als Führereiner Division besonders in der Schlacht von Stockach (25.März) hohen Ruhm. Dafür zum Divisionsgeneral ernannt undzu der Armee in der Schweiz unter Masséna versetzt,unterwarf er die widerspenstigen kleinen Kantone, überfiel,während Masséna die Russen schlug, dieÖsterreicher und verfolgte auch die russischenHeerestrümmer. 1800 übernahm er unter MassénasOberkommando den Befehl über den rechten Flügel deritalienischen Armee und wurde, bei einem Ausfall aus Genua schwerver-

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd.

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Soultz - Soust de Borkenfeldt.

wundet, gefangen. Nach der Schlacht von Marengo in Freiheitgesetzt, erhielt er den Oberbefehl in Piemont, wo er mit klugerMäßigung die ausbrechenden Aufstände zudämpfen wußte. 1802 wurde er zum Generalobersten derKonsulargarde ernannt und befehligte von 1803 bis 1805 die Truppenim Lager von Boulogne. Bei Napoleons I. Thronbesteigung ward er zumMarschall erhoben. 1805-1807 befehligte er das 4. Armeekorps beiAusterlitz, Jena und Eylau. Nach dem Tilsiter Frieden zum Herzogvon Dalmatien ernannt, erhielt er 1808 das Kommando derZentralarmee in Spanien. Er bestand hier 16. Juni 1809 gegen dasbritische Heer den blutigen Kampf bei Coruña,überschritt Anfang März den Minho und trieb dasbritisch-portugiesische Heer bis Porto zurück. An JourdansStelle zum Generalstabschef der Armee in Spanien ernannt, schlug er12. Nov. 1809 die spanische Armee bei Ocaña, nahm 1810Sevilla und trieb die Spanier nach Cadiz zurück. Am 11.März 1811 eroberte er Badajoz und lieferte 16. Mai denEngländern und Portugiesen die Schlacht bei Albuera. 1813übernahm er in der Schlacht bei Großgörschen anBessières' Stelle das Kommando über die Gardeinfanterieund befehligte bei Bautzen das Zentrum, ward aber dann wieder nachBayonne geschickt, um Wellingtons weiterm Vordringen Schranken zusetzen. Er drang Ende Juli von neuem in Spanien ein, ward aber beiCubiry (27. Juli) mit großem Verlust zurückgeschlagen.Ein zweiter Versuch des Vordringens (Ende August) endete mit seinerNiederlage bei Irun und seinem Rückzug nach Bayonne. Obwohl er27. Febr. 1814 die Schlacht bei Orthez verlor, lieferte erWellington noch 10. April mit kaum 20,000 Mann die blutige Schlachtvon Toulouse. Erst am 12. räumte er Toulouse und schloß,indem er sich zugleich dem König von Frankreich unterwarf, am19. einen Waffenstillstand. Er wurde von Ludwig XVIII. zumGouverneur der 13. Militärdivision, 3. Dez. 1814 aber anGeneral Duponts Stelle zum Kriegsminister ernannt. Als Napoleon 1.März bei Fréjus landete, dankte S. ab; er zog sich aufein Landgut bei St.-Cloud zurück, erschien erst nachmehrmaliger Aufforderung bei Napoleon und übernahm 11. Mai dieStelle eines Generalstabschefs. Er befand sich in den Schlachtenvon Ligny und Waterloo an Napoleons Seite, übernahm, alsdieser in Laon die Armee verließ, das Oberkommando derselbenund leitete den Rückzug bis Soissons. Durch diekönigliche Ordonnanz vom 12. Jan. 1816 aus Frankreichverbannt, ging er nach Düsseldorf. 1819 erhielt er dieErlaubnis zur Rückkehr und ward sei 1821 wieder unter denMarsch allen aufgeführt und 1827 zum Pair erhoben. Von LudwigPhilipp 18. Nov. 1830 zum Kriegsminister ernannt, behauptete ersich beinahe vier Jahre (bis 1834) auf seinem Posten und erhieltauch im Mai 1832 die Präsidentschaft im Kabinett. Im Mai 1839übernahm er nach Molés Sturz von neuem dasPräsidium im Kabinett zugleich mit dem Portefeuille desAuswärtigen, doch scheiterte dieses liberale Ministerium schonim Januar 1840 an der Dotationsfrage. Nach Thiers' Rücktrittließ sich S. 29. Okt. 1840 nochmals zur Übernahme desPortefeuilles des Kriegs und der Präsidentschaft bewegen,legte aber 1846 ersteres und 1847 letztere nieder und ward zumMaréchal général de France ernannt. Er starb26. Nov. 1851 auf seinem Schloß in St.-Amans. Seine wertvolleGemäldesammlung, die er in den spanischen Feldzügenzusammengeraubt, trug bei der Versteigerung fast 1½ Mill.Frank ein. S. war ohne höhere Bildung, besaß aber um somehr natürlichen Scharfblick, große Bravur undglühenden Ehrgeiz. Er galt für den besten Taktiker unterNapoleons Generalen. Die 1816 geschriebenen Memoiren des Marschallsgab sein Sohn heraus (I. Teil: "Histoire des guerres de laRévolution", 1854, 3 Bde.). Vgl. Combes, Histoireanecdotique de Jean de Dieu S. (Par. 1870). - Sein Sohn HectorNapoléon S., Herzog von Dalmatien, geb. 1801, diente unterder Restauration im Generalstab und betrat 1830 die diplomatischeLaufbahn. Er war erst französischer Gesandter in denNiederlanden, dann zu Turin und bekleidete seit 1844 dieselbeStelle zu Berlin. Vor der Februarrevolution Mitglied der ZweitenKammer, trat er 1850 in die Legislative und verfocht hier die Sacheder Orléans. Nach dem Staatsstreich vom 2. Dez. 1851 trat erins Privatleben zurück und starb 31. Dez. 1857. Des MarschallsBruder, Pierre Benoît S., geb. 20. Juli 1770 zu St.-Amans,schwang sich in den Kriegen der Republik und des Kaiserreichsebenfalls zu höhern Chargen empor und starb alsGeneralleutnant 7. Mai 1843 in Tarbes.

Soultz, Stadt, s. Sulz.

Soumet (spr. ssuma), Alexandre, franz. Dramatiker, geb.8. Febr. 1788 zu Castelnaudary, folgte frühzeitig seinerNeigung zur Poesie und begründete seinen Ruhm 1814 durch dierührende Elegie "La pauvre fille". Er besang nacheinander dasKaiserreich, die Restauration und die Juliregierung und wurde vonallen belohnt; 1815 erhielt er von der Akademie Preise für dieGedichte: "La découverte de la vaccine" und "Les derniersmoments de Bayard", trat 1824 in die Akademie und starb 30.März 1845 als Bibliothekar in Compiègne. Am meistenberühmt ist er wegen seiner Tragödien und Epen. In derMitte stehend zwischen Klassizität und Romantizismus, hat ereine gewisse Mittelmäßigkeit nie überschritten;doch wußte er sich durch kluges Eingehen auf die Ideen undden Geschmack seiner Zeit großen Erfolg zu sichern. Vonseinen Tragödien sind zu nennen: "Clytemnestre" und"Saül" (1822), Jeanne d'Arc" (1825), "Élisabeth deFrance" (1828, eine lächerliche Bearbeitung von Schillers "DonKarlos"), "Une fête de Néron" (1829) und einige andre,an denen seine Tochter mitgearbeitet hat. Unter seinen Epen istbemerkenswert "La divine épopée" (1840, 2 Bde.; 2.Aufl. 1841), die ab er weit hinter ihrem Vorbild, der"Göttlichen Komödie", zurückbleibt. Das Thema istdie Erlösung der Hölle durch Christus, aber dieGedankenarmut sucht er durch wilde Phantasien und abgeschmackteUngeheuerlichkeiten zu verdecken. Einzelnes Gute findet sich in demEpos "Jeanne d'Arc" (1845). Außerdem schrieb er:"L'incrédulité", Gedicht (1810); "Les scrupuleslittéraires de Madame de Staël" (1814) u. a.

Souper (franz., spr. ssupeh), Abend-, Nachtessen;soupieren, zu Abend essen. S. de Candide, Gastmahl, bei dem dieGäste betrunken gemacht werden, um dann im Spiel etc.ausgeplündert zu werden (nach Voltaires "Candide", 2).

Soupir (franz., spr. ssupihr. "Seufzer"), s. Sospiro.

Source (franz., spr. ssurs), Quelle, Ursprung.

Sourdeval (spr. ssurd'wall), Marktflecken im franz.Departement Manche, Arrondissem*nt Mortain, an der BahnlinieMontsecret-S., hat Granitbrüche, Fabrikation von Metallwaren,Papier etc., Pferdehandel und (1881) 1534 Einw.

Sous bande (franz., spr. ssu bangd), unter Kreuz- oderStreifband.

Soust de Borkenfeldt, Adolphe van, belg. Dichter undKunsthistoriker, geb. 6. Juli 1824 zu Brüssel,

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Soutache - Southey.

gest. 23. April 1877 als Chef der Abteilung für dieschönen Künste im Ministerium des Innern daselbst. Vonseinen Dichtungen, welche der vlämischen Bewegung in seinemVaterland wie der Wiedergeburt des Deutschen Reichs galten, sind zunennen: "Rénovation tlamande", "Venise sauvée" und"L'année sanglante" (Lond. 1871, unter dem Pseudonym PaulJane; deutsch von Dannehl, Bresl. 1874); von seinenkunstgeschichtlichen und kunstkritischen Büchern:"Études sur l'état présent de l'art enBelgique" (1858) und "L'école d'Anvers".

Soutache (franz., spr. ssutásch), Litzenbesatz;soutachieren, mit Litzenbesatz verzieren.

Soutane (franz., spr. ssu-), ein von den katholischengeistlichen nicht im Amt getragener, langer, eng anliegender Rockmit engen Ärmeln, von oben bis unten durch dicht gesetzteKnöpfe verschlossen, bei Kardinälen hochrot, beiBischöfen und Hausprälaten des Papstes violett, beimPapst weiß, bei allen übrigen Geistlichen schwarz; vonderselben Farbe der dazu gehörende Gürtel. Die erstangehenden Kleriker pflegen die kürzere Soutanelle zutragen.

Soutenieren (franz., spr. ssu-), (aufrecht) halten,stützen, unterstützen; bewähren, behaupten.

Souterrain (franz., spr. ssuterrang), das zum Teil in denErdboden versenkte Geschoß eines Hauses, zu Wohnungen,Geschäfts- und Wirtfchaftsräumen dienend. Im ersten Fallmuß es eine lichte Höhe von mindestens 2,6 m besitzen,wovon 1,6 m über dem Erdboden sich befinden müssen; auchsoll es nach Süden oder SO. gelegen und zum Schutz gegenBodenfeuchtigkeit mit Isolierschichten versehen sein.

Souterraine, La (spr. ssuterrähn), Stadt im franz.Departement Creuse, Arrondissem*nt Guéret, an der Sedelleund der Eisenbahn Orléans-Limoges, in einer anrömischen Ruinen und vorhistorischen Denkmälern reichenGegend, mit befestigtem Thor, einer Kirche aus dem 12. Jahrh.,Fabrikation von Holzschuhen und Faßdauben, Tuch,Bierbrauerei, Handel mit Vieh, Wein und Likör und (1881) 2978Einw., von denen namentlich viele als Maurer periodischauswandern.

Southampton (spr. ssauthammt'n), Stadt in Hampshire(England), auf einer durch den Zusammenfluß des Itchin undTest gebildeten Halbinsel, im Hintergrund der Southampton Watergenannten, 16 km tiefen Bucht, an deren Mündung die InselWight liegt. Von den alten Stadtmauern sind noch Reste und ein Thor(Bargate) übrig, aber die Stadt hat sich bedeutend überdieselben ausgedehnt. Unter den gottesdienstlichen Gebäudenist die normännische St. Michaeliskirche die älteste; ihrschlanker Turm dient den Seefahrern als Merkmal. Das Spital DomusDei, aus der Zeit Heinrichs III., ist eins der ältestenEnglands. S. besitzt im Hartley Institution eine Schule fürWissenschaft und Kunstgewerbe mit Museum (seit 1872), eineSeeschule und die Zentralstelle der großbritannischenLandesaufnahme (Ordnance Survey Office). Im N. liegen zwei Parke,in deren einem ein Denkmal des geistlichen Liederdichters Wattssteht, der, ebenso wie der Seeliederdichter Dibdin, hier geborenwurde. Die Bevölkerung der Stadt ist rasch gewachsen; siebetrug 1831 erst 19,324, 1881 aber 60,051 Seelen. Die Industriebeschränkt sich fast nur auf Maschinen- und Schiffbau. S. istvorwiegend Handelsstadt, und seine trefflichen Docks (25,5 HektarWasserfläche) lassen zu jeder Zeit die größtenSchiffe zu. Es ist Haupthafen für den Postdampferverkehr mitOstindien (die Peninsular and Oriental Company hat ihre Werftehier), mit Afrika, Südamerika und Westindien, der IberischenHalbinsel und durch Vermittelung der Bremer Dampfer auch mitNordamerika. Zum Hafen gehörten 1887: 328 Schiffe (100Dampfer) von 73,970 Ton. Gehalt. Den Wert der Einfuhr schätzteman im genannten Jahr auf 6,719,110 Pfd. Sterl., den der Ausfuhrauf 2,640,935 Pfd. Sterl. S. ist Sitz eines deutschen Konsuls. Inder Nähe Southamptons liegt die malerische Ruine von NetleyAbbey (s. d.) und gegenüber der von Wilhelm dem Erobererangelegte New Forest. Vgl. Davies, History of S. (1883).

South Bend (spr. ssauth), Stadt an der Nordgrenze desnordamerikan. Staats Indiana, am schiffbaren St. Josephsfluß,mit zahlreichen Mühlen, dem katholischen NotreDame-Collège und (1880) 13,280 Einw.

Southcott (spr. ssauth-), Johanna, Schwärmerin, dieeinige Zeit in London die öffentliche Aufmerksamkeit auf sichzog. Geb. 1750, gab sie sich 1801 für das in der OffenbarungJohannis (12, 1) erwähnte Sonnenweib aus und betrieb nebenbeieinen gewinnreichen Handel mit Siegeln, welche die Kraft habensollten, die ewige Seligkeit zu verleihen. Schon über 60 Jahrealt, behauptete sie 1814, mit dem wahren Messias schwanger zu sein,und fand mit dieser Behauptung bei Tausenden Glauben, der selbstdadurch nicht bei allen Anhängern (Neuisraeliten, Sabbatianer)erschüttert ward, daß sie 27. Dez. starb, ohneüberhaupt schwanger gewesen zu sein. Vgl. Fairburn, The lifeof J. S. (Lond. 1814).

Southend (spr. ssauth-), beliebtes Seebad in der engl.Grafschaft Essex, links an der Mündung der Themse, mit 2 kmlanger Landebrücke und (1881) 7979 Einw.

Southey (spr. ssauthí), Robert, engl.Geschichtschreiber und Dichter, als solcher zur "Seeschule" zuzählen, geb. 12. Aug. 1774 zu Bristol, Sohn einesLeinwandhändlers, besuchte die Westminsterschule, die er abernach vier Jahren wegen eines Artikels gegen die körperlicheZüchtigung auf englischen Schulen, den er in der von ihmbegründeten Zeitschrift "Flagellant" erscheinen ließ,verlassen mußte. Er studierte in Oxford Theologie, ohne alsUnitarier Aussicht auf ein Kirchenamt zu haben. Seine exzentrischenAnsichten führten ihn mit Coleridge zusammen, dessen Plan, inAmerika einen freien Staat zu gründen, seinen Beifall fand.Die ihn damals beherrschenden Ideen spiegeln sich in derTragödie "Wat Tyler", die ohne seine Zustimmungveröffentlicht, von ihm selbst später verworfen ward, wieer überhaupt bald von den Extremen zurückkam. Ein BandGedichte (1794) machte keinen Eindruck, mehr das Epos "Joan ofArc", das von reicher Phantasie, aber auch von jugendlicherÜberspannung zeugt. In Bristol hielt er, um sein Leben zufristen, geschichtliche Vorträge, bis ihn sein Oheim imNovember 1795 mit sich nach Lissabon nahm. Vor der Abreisevermählte sich S. heimlich mit Miß Fricker. Nach sechsMonaten kehrte er zurück und widmete sich in London demRechtsstudium und angestrengter litterarischer Thätigkeit.1800 finden wir ihn wieder in Portugal, dann aber lebte er in Gretabei Keswick in Cumberland, nur 1802 als Sekretär des Kanzlersder Schatzkammer von Irland, Carry, etwa auf Jahresfrist abwesend.1807 erlangte er eine Staatspension und wurde 1813 poet-laureate.Seit 1839 infolge einer Lähmung bewußtlos, starb er 21.März 1843. Seine litterarische Thätigkeit istbewunderungswürdig: er schrieb 109 Bände und 52 Artikelzum "Annual Review", 3 zum "Foreign Quarterly", 94 zum "QuarterlyRevier", und stets machte er umfassende Studien zu seinen Arbeiten.Das 1801 veröffentlichte epische Gedicht "Thalaba, thedestroyer" ist eins

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South Paß City - Souvestre.

arabische Erzählung in reimlosen Versen (deutsch zum Teilvon Freiligrath); 1804 folgten: "Metrical tales", 1805 "Madoc",eine wallisische Sage behandelnd; 1810 "The curse of Kehama", seinegrößte Dichtung, eine auf Hindusagen beruhendephantastische Erzählung; 1814 "Roderick, the last of theGoths", ein wieder in Blankversen abgefaßtes Gedicht, das dieZerstörung des Westgotenreichs durch die Araber besingt. UnterSoutheys kleinern Gedichten zeichnen sich die Balladen aus (z. B."Mary, the maid of the inn"); als Hofpoet verherrlichte er im"Carmen triumphale" Wellingtons Siege und dichtete Oden aus denPrinz-Regenten und die alliierten Monarchen. Die "Vision ofjudgment" (1821) ward von Byron, der darin das Haupt der"satanischen Schule" heißt, schonungslos gegeißelt.Bedeutend ist S. als Biograph und Geschichtschreiber. Stilistischvollendet ist das oft aufgelegte "Life of Nelson" (1813; deutsch,Stuttg. 1837), dem sich "Lives of the British admirals" (4 Bde.)und "Life of Vesley" (1820; deutsch, Hamb. 1841) anreihen. Auchhinterließ er eine "History of Brazil" (1810-19, 3 Bde.) undeine "History of the Peninsular war" (1823-28, 2 Bde.) sowiereligiöse, soziale und politische Schriften. Hierhergehören: "The book of the church" (3. Aufl. 1825), "Lettersfrom England by Don Manuel Espriella" (1807, 3 Bde.), "Colloquieson the progress and prospects of society" (1829, 2 Bde.); ferner:"The Doctor", die beste seiner Prosaschriften, voll scharfsinnigerGedanken und Bemerkungen (1834-37, 5 Bde.; neue Ausg. 1856), und"Omniana" (1812, 2 Bde.). Die Diktion ist überall klar undkräftig; Parteilichkeit und starke Subjektivität wirkenindessen oft störend. Endlich gab er die "Select works ofBritish poets from Chaucer to Jonson" (1836) sowie Umarbeitungenmittelalterlicher Romane (z. B. "Amadis of Gaul", 1803, 4 Bde.)heraus. Southeys "Poetical works" erschienen gesammelt in 11Bänden London 1820, in 10 Bänden 1854, in 1 Band l863.Vgl. "Life and correspondence of R. S." (hrsg. von seinem SohnCharles Cuthbert S., neue Ausg. 1862, 6 Bde.), seinen Briefwechselmit Karoline Bowles (1881) und die Biographien Southeys von Browne(Lond. 1859), Dowden (das. 1880) und Dennis (Boston 1887).

South Paß City (spr. ssauth paß ssitti),Hauptort des Bergbaubezirks am Sweetwater (Nebenfluß desPlatte) im nordamerikan. Territorium Wyoming, beim 2280 m hohenSouth Paß.

Southport (spr. ssauth-), beliebtes Seebad in Lancashire(England), 25 km nördlich von Liverpool (das "englischeMontpellier"), mit allen Annehmlichkeiten für Badegäste,als Wintergarten, Aquarium, Landungsbrücke (1 km lang),großer Markthalle, Konzertsaal etc. und (1881) 32,206 Einw.Dicht dabei Birkdale mit 8706 Einw.

Southsea (spr. ssauth-ssih), Vorstadt von Portsmouth (s.d.), der Insel Wight gegenüber, mit Fort, wird als Seebad vielbesucht.

Southwark (spr. ssáthärk), Stadtteil Londons,der City gegenüber, mit der ihn vier Brücken verbinden,hat (1881) 99,252 Einw. (als parlamentarischer Wahlbezirk aber221,946). In ihm liegen die bemerkenswerte St. Saviour's-Kirche,die Zentralstation der Londoner Feuerwehr, die Hopfen- undMalzbörse, die Brauerei von Barclay u. Perkins etc.

Southwell (spr. ssauth-), Stadt in Nottinghamshire(England), mit Kathedrale und (1881) 2866 Einw.

Southwold (spr. ssauth-), Flecken in der engl. GrafschaftSuffolk, mit (1881) 2107 Einw. Auf der Reede bei S. (der sogen.Solebai) 7. Juni 1672 Seeschlacht zwischen der englischen Flotteunter dem Herzog von York (nachmaligem König Jakob II.) undder holländischen unter de Ruyter.

Soutien (franz., spr. ssutjang), Stütze,Unterstützung, Rückhalt; im Militärwesen s. v. w.Unterstützungstrupp, die hinter einer ausgeschwärmtenSchützenlinie geschlossen zurückbleibendeTruppenabteilung, welche nach Erfordernis in dasSchützengefecht einzugreifen hat; s. auchSicherheitsdienst.

Soutmann (spr. saut-), Peter, niederländ. Maler undKupferstecher, geboren um 1590 zu Haarlem, bildete sich bei Rubensin Antwerpen, nach dessen Gemälden und Zeichnungen er eineAnzahl von Radierungen (vier Jagden, der wunderbare Fischzug, dasAbendmahl nach Leonardo da Vinci) fertigte, und welchem er auch beider Ausführung seiner Bilder half, und soll von 1624 bis 1628als Hofmaler des Königs in Polen thätig gewesen sein.Seit 1628 war er wieder in Haarlem ansässig, wo er eineWerkstatt von Kupferstechern gründete, die unter seinerLeitung nach eignen und fremden Zeichnungen, besonders nach Rubens,stachen. S. selbst schloß sich in Haarlem mehr dem Frans Halsan, in dessen Art er mehrere Bildnisse und Schützenstückemalte und dekorative Malereien im Huis ten Bosch im Haagausführte. Er starb 16. Aug. 1657.

Souvenir (franz., spr. ssuw'nihr), Andenken, Geschenk zumAndenken; auch s. v. w. Notizbuch.

Souveraind'or (spr. ssuwerän-), früher fürdie österreich. Niederlande geprägte Goldmünze,22¼ Karat sein, im Wert von 14,224 Mk.

Souverän (franz. souverain, v. mittellat. superanus,"zuoberst befindlich"), höchst, oberst, oberherrlich,unabhängig. So spricht man von einem souveränen Urteil,von welchem es keine Berufung an ein höheres Gericht gibt;einem souveränen Heilmittel, das unfehlbar gegen einbestimmtes Leiden wirkt; von souveräner Verachtung etc.Namentlich aber wird im Staats- und Völkerleben der Inhaberder höchsten Gewalt im Staat, welche von keiner andern Machtabhängig ist, als S. und jene höchste Machtvollkommenheit(Staatshoheit) selbst als Souveränität bezeichnet; daherSouveränitätsrechte, s. v. w.. Hoheitsrechte (s. Staat).Vgl. Suzeränität.

Souvestre (spr. ssuwéstr), Emile, franz. Roman-und Bühnendichter, geb. 15. April 1806 zu Morlaix(Finistère), ließ sich 1836 dauernd in Paris nieder,machte sich zuerst durch Schilderungen der Bretagne: "LeFinistère en 1836", "La Bretagne pittoresque" (1841),bekannt und lieferte dann eine große Anzahl Romane, auchDramen und Vaudevilles, welche ein reiches Talent fürBeobachtung, aber wenig Erfindungskraft bekunden. In seinen Romanentritt die -philosophierende oder moralisierende (d. h. die denGegensatz zwischen arm und reich in sozialistischer Schärfehervorhebende) Richtung zu stark hervor. Hervorzuheben sind davon:"Riche et pauvre" (1836); "Les derniers Bretons" (1837); "Pierre etJean" (1842) "Les Réprouvés et les Élus"(1845); "Confessions d'un ouvrier" (1851); die von der Akademiegekrönten: "Un philosophe sous les toits". "Au coin du feu"und "Sous latonnelle" (1851); "Le memorial de famille" (1854).Seine dramatischen Dichtungen, wie "Henri Hamelin", "L'oncleBaptiste", "La Parisienne", "Le Mousse" etc., bilden den Gegensatzzu Scribes Stücken, indem sie nicht, wie diese, die reichen,sondern vorwiegend die besitzlosen Klassen alsHauptrepräsentanten der Moral darstellen. Noch sind seinegeistvollen "Causeries historiques et lit-

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Souvigny - Sozialdemokratie.

téraires" (1854, 2 Bde.) zu erwähnen. S. starb 5.Juli 1854 in Paris. Eine Gesamtausgabe seiner auch teilweise insDeutsche übersetzten Werke erschien in der "CollectionLévy" (60 Bde.).

Souvigny (spr. ssuwinji), Stadt im franz. DepartementAllier, Arrondissem*nt Moulins, an der EisenbahnMoulins-Montluçon, mit alter gotischer Kirche (früherBegräbnisort der Fürsten von Bourbon), Glasfabrikation,Weinbau und (1881) 1943 Einw.

Souza (spr. ssusa), Adelaïde Marie Emilie,Gräfin von Flahaut, dann Marquise von S., geborne Filleul,franz. Schriftstellerin, geb. 14. Mai 1761 zu Paris, heiratete 1784den Grafen Flahaut, floh, nachdem derselbe 1793 guillotiniertworden, mit ihrem Sohn (dem nachherigen Adjutanten Napoleons I. undspätern General Flahaut) nach England und ward dort durchMangel zur Schriftstellerei getrieben. So entstanden ihre"Adèle de Sénanges" (Lond. 1794, 2 Bde.) und derRoman "Émile et Alphonse" (Hamb. 1799, 3 Bde.). Nach ihrerRückkehr nach Paris heiratete sie 1802 den portugiesischenGesandten José Maria de S.-Botelho, der sich durchHerausgabe einer Prachtausgabe der "Lusiaden" (Par. 1817) um dieLitteratur seines Vaterlandes verdient gemacht hatte. Es erschienendarauf nacheinander: "Charles et Marie" (1802); "Eugène deRothelin" 1808, 2 Bde.); "Eugène et Mathilde" (1811, 3Bde.); "Mademoiselle de Tournon" (1820, 2 Bde.); "La comtesse deFargy" (1823, 4 Bde.) u. a. S. starb 16. April 1836 in Paris. Manrühmt ihren Schriften treffende Schilderung derLeidenschaften, gute Beobachtung, klaren und geistreichen Stil undäußerste Delikatesse in Situationen und Worten nach.Ihre "OEuvres complètes" erschienen 1811-22, 6 Bde.; Auswahl1840 u. öfter.

Sóvár (Soóvár, Salzburg),Dorf im ungar. Komitat Sáros, südlich von Eperies, mit(1881) 1307 slowakischen und deutschen Einwohnern, großemSalzsiedewerk, Forst- und Bergamt. Der SóvárerGebirgszug der Karpathen erstreckt sich zwischen der Tarcza undTopla von Bartfeld in südlicher Richtung bis an die TokayerBerge (die Hegyalja). Vgl. Gesell, Geologische Verhältnissedes Steinsalzbergbaugebiets von S. (Pest 1886).

Sovereign (spr. ssowwerin), seit 1816 ausgeprägtebrit. Goldmünze, = 1 Pfund Sterling (s. d.).

Sovrano, frühere lombardisch-venez. Goldmünzevon 40 Lire austriache, = 28,4548 Mk.

Sow., bei naturwissenschaftl. Namen Abkürzungfür James Sowerby (s. d.).

Sowerby (spr. ssauerbi), zwei aneinander stoßendeStädte (S. und S. Bridge), im westlichen Yorkshire (England),am Calder, südwestlich von Halifax, mit Baum- undKammwollspinnerei, chemischen Fabriken, Wachstuchfabrikation und(1881) 14,903 Einw.

Sowerby (spr. ssauerbi) James, Naturforscher und Maler,geb. 21. März 1757 zu London, besuchte die königlicheAkademie, widmete sich dann aber den Naturwissenschaften, speziellder Botanik und Malakozoologie. Er starb 25. Okt. 1822 in Lambeth.Von seinen Arbeiten sind hervorzuheben: "Coloured figures ofEnglish Fungi" (Lond. 1797-1809, 3 Bde. u. Supplement); "Englishbotany" (das. 1790-1814, 36 Bde. mit 2592 kolorierten Tafeln;Supplement 1831 ff.; 3. Aufl. von Syme, 1863-72, 11 Bde.); "Mineralconchology" (das. 1841, 6 Bde.; deutsch von Desor und Agassiz). Dieletzten beiden großen Werke setzte sein Sohn James de CarleS., geb. 1787, gest. 1854, fort. Dieser gab auch heraus: "The fernsof Great Britain" (mit Johnson, Lond. 1855); "The fern-allies"(das. 1856); "Grasses of Great-Britain" (das. 1857-58, neue Ausg.1883); "British wild flowers" (mit Johnson, das. 1863; neue Ausg.1882); "Useful plants of Great Britain" (das. 1862). Sein zweiterSohn, George Brettingham S., geb. 1788 zu London, gest. 1854,schrieb "The genera of recent and fossil shells" (Lond. 1820-24, 2Bde. mit 264 kolorierten Tafeln); auch beteiligte er sich mitVigors und Horsfield an der Herausgabedes "Zoological Journal".Dessen gleichnamiger Sohn, geb. 1812, gleichfalls ein bedeutenderKonchyliolog, schrieb: "Conchological illustrations" (Lond.1841-45, 6 Bde.); "Conchological manual" (das. 1839, neue Ausg.1852); "Thesaurus conchyliorum" (das. 1842-70, 30 Tle.); "PopularBritish conchology" (das. 1853); "Illustrated index of Britishshells" (das. 1859, 2. Aufl. 1887) etc.

Sowinski, Leonard, poln. Dichter und Litterarhistoriker,geb. 1831 zu Berezowka in Podolien, studierte zu Kiew, verbrachtespäter sechs Jahre in der Verbannung zu Kursk, lebte seit 1868in Warschau; starb 23. Dez. 1887 auf dem Gut Statkowce inWolhynien. In seinen lyrischen Gedichten (Posen 1878, 2 Bde.)bekundet S. schwungvolle Phantasie. Weniger Anklang fand seinTrauerspiel "Na Ukrainie" (Wien 1873). Mit seiner großen"Geschichte der polnischen Litteratur" (Wilna 1874-78, 5 Bde.; dieersten Bände mit Benutzung der Vorträge von ProfessorZdanowicz) hat sich S. eine der ersten Stellen unter den polnischenLiterarhistorikern erworben.

Soyaux (spr. ssoajoh), Hermann, Botaniker und Reisender,geb. 4. Jan. 1852 zu Breslau, erlernte die Gärtnerei,studierte 1872 Botanik in Berlin und war 1873-76 als Mitglied derLoango-Expedition in Westafrika für die Deutsche AfrikanischeGesellschaft thätig. 1879 ging er im Auftrag desWörmannschen Hauses in Hamburg nach Gabun, um dortKaffeeplantagen anzulegen, kehrte 1885 nach Berlin zurück undtrat in den Dienst des Deutschen Kolonialvereins, für den er1886 nach Südbrasilien ging, um die dortigen Verhältnissezu studieren. Er nahm dort den untern Camaquam auf, in dessenNähe eine deutsche Kolonie (San Feliciano) gegründetwerden sollte, und kehrte dann nach Deutschland zurück. Erschrieb: "Aus Westafrika" (Leipz. 1879, 2 Bde.) und "DeutscheArbeit in Afrika" (das. 1888).

Soyeuse (spr. ssoajöhs'), vegetabilische Seide, s.Asclepias.

Soyons amis, Cinna! (franz., spr. ssoajóng-samih,ssinna!), "Laß uns Freunde sein, Cinna." Citat aus Corneilles"Cinna", Akt 5, Szene 3.

Sozialaristokratie, s. Aristokratie.

Sozialdemokratie, diejenige sozialistische Richtung undPartei, welche für die Klasse der Lohnarbeiter die Herrschaftin einem demokratischen Staat erstrebt, um die sozialistischenIdeen und Forderungen verwirklichen zu können. DerBegründer der S. ist der Franzose Louis Blanc (s. d. undSozialismus). Die von ihm in den 40er Jahren in Parisgegründete Arbeiterpartei war die erste sozialdemokratische.Dieselbe erlangte vorübergehend einen Einfluß auf diePolitik in Frankreich dadurch, daß zwei ihrer Führer, L.Blanc und Albert, nach der Februarrevolution 1848 Mitglieder derprovisorischen Regierung wurden; sie wurde mit andern radikalenParteien in der Junischlacht 1848 besiegt. In Deutschland war dervon F. Lassalle (s. d.) 23. Mai 1863 gegründete AllgemeineDeutsche Arbeiterverein die erste Organisation der S. Der einzigestatutarische Zweck dieses Vereins, der sich zu dem sozialistischenProgramm

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Sozialdemokratie (Entwickelung in Deutschland).

Lassalles bekannte, war die "friedliche und legale" Agitationfür das damals noch nicht in Deutschland bestehendeallgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht mit geheimer Abstimmung.Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein, welcher unter derPräsidentschaft Lassalles nur einige tausend Mitgliederzählte und nach Lassalles Tod (31. Aug. 1864) unterunbedeutenden Führern (Bernhard Becker, Försterling,Mende, Tölcke u. a.) sich in verschiedene, sich gegenseitigbekämpfende Parteien spaltete, gelangte erst zugrößerer Bedeutung, seit das von Lassalle geforderteWahlgesetz 1867 durch Bismarck das Wahlgesetz für denReichstag des Norddeutschen Bundes geworden war und der begabteLitterat J. B. v. Schweitzer 1867 die Leitung übernahm. AlsFührer der Lassalleaner in den Reichstag des NorddeutschenBundes gewählt, vertrat v. Schweitzer dort mit andernSozialdemokraten die Sache der S. Schon unter seinerPräsidentschaft wurde das ökonomische und politischeProgramm des Vereins erweitert. In dem Verein vertraten Hasencleverund Hasselmann eine radikalere Richtung, diese siegte, und 1871wurde v. Schweitzer als ein bezahlter Agent der preußischenRegierung verdächtigt und aus dem Verein gestoßen. Unterder Führung jener beiden Männer nahm die Mitgliederzahl,nachdem inzwischen das Wahlgesetz für den Norddeutschen Bundauch das für das Deutsche Reich geworden war, in kurzer Zeitenorm zu (1873 hatte der Verein schon über 60,000 Mitgliederund in 246 Orten Lokalvereine), wurde aber auch dasökonomische und politische Parteiprogramm radikaler(Ausdehnung des aktiven und passiven Wahlrechts für alleStaats- und Gemeindewahlen auf alle Altersklassen vom 20. Jahr ab,Abschaffung der stehenden Heere, Abschaffung aller indirektenSteuern und Einführung einer progressiven Einkommensteuer mitFreilassung der Einkommen unter 500 Thlr. und mit einemSteuerfuß von 20-60 Proz. für Einkommen über 1000Thlr., Abschaffung der Gymnasien und höhern Realschulen,Unentgeltlichkeit des Unterrichts in allen öffentlichenLehranstalten etc.). Hauptblatt des Vereins war der Berliner"Sozialdemokrat". Die Forderungen und ganze Art der Agitationnäherten sich immer mehr dem Programm und der Agitationsweiseeiner zweiten sozialdemokratischen Partei, welche unter demEinfluß von Karl Marx und der internationalenArbeiterassociation im August 1869 Wilhelm Liebknecht und AugustBebel gegründet hatten. In der internationalenArbeiterassociation war seit 1866 die erste internationale undzugleich eine radikale und revolutionäre sozialdemokratischePartei entstanden (s. über deren Programm, Organisation undAgitation die Art. Internationale und Sozialismus). Liebknecht undBebel, Anhänger der Internationale, setzten, nachdem sie sichlange vergeblich bemüht hatten, den Allgemeinen DeutschenArbeiterverein in das Lager der Internationalehinüberzuführen, auf einem allgemeinenArbeiterkongreß in Eisenach im August 1869 die Gründungeiner zweiten Partei, der sozialdemokratischen Arbeiterpartei,durch, welche sich ausdrücklich als deutscher Zweig derInternationale konstituierte. Die neue Partei, vortrefflichorganisiert und dirigiert (Hauptorgan der Leipziger "Volksstaat"),entfaltete namentlich seit Anfang der 70er Jahre eineaußerordentliche Rührigkeit, im Mai 1875 vereinigte siesich mit dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein auf demKongreß in Gotha (22.-27. Mai) zur sozialistischenArbeiterpartei Deutschlands. Das Parteiprogramm (s. d. im Art.Sozialismus), ein radikal-sozialistisches, stimmte in allenwesentlichen Punkten mit dem frühern Eisenacher Programm von1869 überein. Der "Volksstaat" (später "Vorwärts")wurde das Hauptorgan. Die Partei nahm bei der fast vollen Freiheit,die man ihr gewährte, einen großen Aufschwung. Nach demJahresbericht von 1877 verfügte sie über 41 politischePreßorgane mit 150,000 Abonnenten, außerdem über15 Gewerkschaftsblätter mit etwa 40,000 Abonnenten und einillustriertes Unterhaltungsblatt, "Die Neue Welt", mit 35,000Abonnenten. Ein Hauptagitationsorgan waren die besoldeten,redegewandten Agitatoren (1876: 54 ganz besoldete, 14 zum Teilbesoldete) und die nicht besoldeten "Redner" (1876. 77). Bei denReichstagswahlen stimmten für sozialdemokratische Kandidaten1871: 124,655, 1874: 351,952, 1877: 493,288 (s. unten). Die ganzeAgitation war seit 1870 eine entschieden revolutionäre, mitdiabolischem Geschick wurden in ihrer Presse die radikalensozialistischen und politischen Anschauungen der S. erörtertund in den Arbeiterkreisen der Klassenhaß geschürt undrevolutionäre Stimmung gemacht. Nachdem die Reichsregierung,um dieser Agitation, welche zu einer ernsten Gefahr für densozialen Frieden und das gemeine Wohl geworden war, wirksamentgegentreten zu können, im Reichstag vergeblich eineVerschärfung des Strafgesetzbuchs versucht hatte, griff mannach den Attentaten von Hödel und Nobiling auf Kaiser Wilhelm(11. Mai und 2. Juni 1878), in denen man eine Folge jener Agitationerkennen mußte, zu dem Mittel eines Ausnahmegesetzes gegendie S., und es erging das zunächst nur bis 31. März 1881gültige Reichsgesetz vom 21. Okt. 1878 "gegen diegemeingefährlichen Bestrebungen der S." Es wollte verhinderndie gefährliche, das öffentliche Wohl schädigendesozialdemokratische Agitation, insbesondere Bestrebungensozialdemokratischer, sozialistischer oder kommunistischer Art,welche, auf den Umsturz der bestehendem Rechts- oderGesellschaftsordnung gerichtet, diesen direkt bezwecken oder ineiner den öffentlichen Frieden, insbesondere die Eintracht derBevölkerungsklassen, gefährdenden Weise zu Tage treten.Es verbot bei Strafe daher Vereine, Versammlungen, Druckschriftendieser Art sowie die Einsammlung von Beiträgen zu diesenZwecken; Personen, welche sich die sozialdemokratische Agitationzum Geschäft machen, können aus bestimmten Landesteilenoder Orten ausgewiesen, Wirten, Buchhändlern etc. kann aus demgleichen Grunde der Betrieb ihres Gewerbes untersagt werden. Auchkann über Bezirke und Orte, in welchem durchsozialdemokratische Bestrebungen die öffentliche Sicherheitbedroht erscheint, der sogen. kleine Belagerungszustand mitBeschränkung des Versammlungsrechts und Ausweisungansässiger Personen verhängt werden. Das Gesetz wurde1880 bis zum 30. Sept. 1884, dann bis 30. Sept. 1886, hierauf bis30. Sept. 1888 und darauf nochmals bis 30. Sept. 1890verlängert. Das Gesetz hat nicht die Partei beseitigt, auchnicht die Zahl der Stimmen für sozialdemokratische Kandidatenbei den Reichstagswahlen auf die Dauer verringert (1881: 311,961,1884: 549,990, 1887: 763,128); aber es hat die in hohem Gradgefährliche und gemeinschädliche Art der Agitation, wiesie früher in der sozialdemokratischen Presse betrieben wurde,verhindert. In der deutschen S. sonderte sich seit 1878 immerentschiedener unter der Führung von Most und Hasselmann eineradikale Anarchistenpartei ab, deren Hauptorgan 1879 die von Mostin London herausgegebene "Freiheit" wurde, und deren Mitgliederauch in Deutschland und Österreich eine Reihe von Attentatengegen Beamte und von Raubmorden

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Soziale Frage - Sozialismus.

ausführten. Das Hauptorgan der deutschen S. und der ihrverbündeten internationalen S. wurde der seit Oktober 1879 inZürich erscheinende "Sozialdemokrat". Zu einer definitivenSpaltung zwischen den Anarchisten und der sogen.gemäßigten, aber noch immer radikalen undrevolutionären Bebel-Liebknechtschen Partei kam es auf demKongreß in Wyden (Schweiz) im August 1880, auf dem aber auchdie "gemäßigte" Richtung aus dem Gothaer Programm in demSatz, daß die sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands mitallen gesetzlichen Mitteln ihre Ziele erstreben wolle, das Wort"gesetzlichen" strich. Das radikale sozialistische Programm, wie esin den statutarischen Bestimmungen undKongreßbeschlüssen der Internationale und in dem GothaerProgramm von 1875 festgesetzt wurde, ist im wesentlichen dasProgramm der Sozialdemokraten in allen Ländern, wo die S.besteht und organisiert ist, und dies ist außer inDeutschland heute namentlich in Österreich, Frankreich,Italien, Spanien, Belgien, Dänemark und in Nordamerika derFall. Vgl. Mehring, Die deutsche S. (3. Aufl., Brem. 1879); weitereLitteratur bei Internationale und Sozialismus.

Soziale Frage, s. Arbeiterfrage.

Soziale Republik, der von den Sozialdemokratenangestrebte Freistaat mit Beseitigung der kapitalistischenProduktionsweise und jeglichen Klassenunterschiedes. S.Sozialdemokratie.

Sozialismus (lat.), nach dem in der Wissenschaft nochheute üblichsten, auch in der deutschen Gesetzgebung und imgroßen Publikum herrschenden Sprachgebrauch die Bezeichnungfür eine bestimmte Richtung, ein bestimmtes System zurLösung der Arbeiterfrage (s. d.). Dieser S. unterscheidet sichscharf von dem Kommunismus (s. d.), obschon er mit demselben mancheGrundanschauungen teilt, namentlich den Glauben an die unbedingteLösung dieser Frage, die ausschließlicheZurückführung der für sie in Betracht kommendenÜbelstände auf verkehrte menschliche Einrichtungen unddie Forderung einer gänzlichen Umgestaltung desWirtschaftsorganismus, der Rechtsordnung und des Staatswesens derKulturvölker, nach welcher unter Beseitigung der individuellenwirtschaftlichen Freiheit die Gesamtheit die Verantwortlichkeit undSorge für die ökonomische und soziale Lage der Einzelnenzu übernehmen habe. Die ihm eigentümlichen, von allenandern sozialpolitischen Richtungen (s. Arbeiterfrage)verschiedenen Anschauungen und praktischen Forderungen haben sicherst allmählich in der Geschichte des S. klarer undschärfer herausgebildet. Dieselben sind heute folgende: derKernpunkt der sozialen Frage ist ihm die ungerechte Verteilung derGüter, und diese führt er vorzugsweise auf dieEinrichtung des privaten Grundeigentums und Erbrechts und auf diefreie individualistische und kapitalistische Produktionsweise mitder Trennung von Unternehmern und Lohnarbeitern, mit dem Eigentumder erstern an den Produktionsmitteln und der Herrschaft des"ehernen Lohngesetzes" über die letztern zurück. Ervertritt die falsche Ansicht der ältern englischenNationalökonomen, daß allein die Arbeit Werte erzeuge,und behauptet, daß infolge jener Ursachen die bisherigeVermögensbildung und die heutige Verteilung der neuproduzierten Güter auf einer Ausbeutung der Lohnarbeiter durchUnternehmer, Grundeigentümer und Kapitalisten, mit andernWorten der Nichtbesitzenden durch die besitzende Klasse beruhe.Diese ungerechte Verteilung ist ihm die wesentliche Ursache desProletariats und aller andern Übelstände in den unternVolksklassen. Beseitigung dieser Übelstände erwartet ernicht wie der Kommunismus von der völligen Gleichheit aller,aber doch von einer sehr starken Ausgleichung der ökonomischenund sozialen Unterschiede und von einer gesellschaftlichenVerfassung, in welcher allein die Arbeit einen Anspruch aufEinkommen und Vermögen gibt. Das Einkommen soll nur nochArbeitsertrag sein. Bekämpft wird deshalb das privateGrundeigentum, das Erbrecht und die Kapitalrente (Kapitalzins undKapitalgewinn). Jene beiden Rechtsinstitutionen sollen durchGesetz, diese Einkommensart soll durch eine neue Organisation derProduktion: die sozialistisch-genossenschaftliche("kollektivistische") Produktionsweise, abgeschafft werden. DasWesen dieser besteht darin, daß nur noch ingenossenschaftlichen Kollektivunternehmungen inplanmäßiger Regelung (Beseitigung der Lohnarbeit undsoziale Organisation der Arbeit) produziert wird, in welchen dasEigentum an den Produktionsmitteln (Grundstücken undKapitalien) Kollektiveigentum der Gesellschaft ist und der Ertragnur an die Arbeiter und gerecht verteilt wird (Beseitigung desEinkommens aus Kapital und Grundstücken und des "ehernenLohngesetzes"). Diese Umwandlung der bisherigen Produktionsweise indie sozialistische und die planmäßige Regelung derletztern soll durch den Staat geschehen.

Die Manchesterschule (s. d.) bezeichnet als S. jede direkteMitwirkung des Staats zur Lösung der sozialen Frage,insbesondere jede staatliche Maßregel, welche zum Schutz derArbeiter die persönliche Freiheit in der Gestaltung derArbeitsvertragsverhältnisse einschränkt. Daher kam es,daß, als Anfang der 70er Jahre Professoren derNationalökonomie eine solche Mitwirkung des Staats forderten,Vertreter der Freihandelsschule (H. B. Oppenheim u. a.) ebendieseForderungen sozialistische und, weil dieselben von den Inhabernakademischer Katheder ausgingen, letztere Kathedersozialisten (s.d.) nannten. Andre nennen noch allgemeiner S. jede Richtung, welchefür die Volkswirtschaft im Gegensatz zu dem Individualismus(s. d.) das soziale Prinzip betont und für dieWirtschaftspolitik als Ausgangspunkt und Ziel nicht das Individuummit ihm zugeschriebenen Trieben und Rechten (wie es dienaturrechtliche Wirtschaftstheorie oder der Smithianismus thut),sondern die Gesellschaft nimmt. Im folgenden ist von dem S. imobigen Sinn die Rede.

Als eine selbständige Wirtschaftstheorie ist dieser S. einProdukt des 19. Jahrh.; als sein Begründer gilt mit Recht derfranzösische Graf Saint-Simon, der auch zuerst die Lösungder sozialen Frage als die große Aufgabe der modernenGesellschaft hinstellte. Die Vertreter des S. stimmen in den obenerwähnten allgemeinen Grundanschauungen überein, imeinzelnen aber gehen sie in ihren Ansichten wie in ihrenForderungen wieder weit auseinander, so daß man deshalbverschiedene sozialistische Systeme oder Theorien (insbesondere diedes Saint-Simonismus, von Ch. Fourier, L. Blanc, F. Lassalle, K.Marx) unterscheidet. Saint-Simon (s. d. 2) hat seinesozialistischen Anschauungen nicht zu einem geschlossenen Systementwickelt. Das geschah erst durch seine Schüler (dieSaint-Simonisten), vor allen durch den hervorragendsten derselben,Bazard (s. d.). Dieselben nannten nach ihrem Lehrer und Meisterdies System den Saint-Simonismus. Die soziale Frage betrachten sienicht nur als eine ökonomische, sondern ebensosehr als einemoralische, religiöse und politische, da es sich in ihr umeine Reform aller Verhältnisse des Volkslebens

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Sozialismus (Saint-Simon, Fourier, Louis Blanc).

handle. Von der Ansicht ausgehend, daß die Arbeit dieQuelle aller Werte sei, sehen sie das Hauptunrecht in Staat undGesellschaft darin, daß der nützlichste Stand, der derArbeiter (industriels), den letzten Rang einnehme, zum weitausgrößten Teil mißachtet, in traurigster Lage undpolitisch ohne Einfluß sei. Es sei deshalb eine neueOrganisation der Gesellschaft zu bilden, in welcher die Klasse derBesitzenden und der "légistes" (Beamten, Gelehrten,Advokaten) wie die militärische Gewalt dem arbeitenden Teilder Gesellschaft untergeordnet sei, so daß an die Stelle derbisherigen feudalen Organisation des Staats eine "industrielle"trete, die zugleich das ideale Ziel Saint-Simons erreiche, "allenMenschen die freieste Entfaltung ihrer Fähigkeiten zusichern". Erziehung und Ausbildung sollen auf der Grundlage einerneuen Religion, eines neuen Christentums der Bruderliebe undwerkthätigen Moral, die wirtschaftliche Thätigkeit durcheine Änderung der Rechtsordnung umgestaltet werden. Um einegerechte volkswirtschaftliche Verteilung herbeizuführen,müsse die Arbeit zum einzigen Eigentumstitel gemacht und eineVerteilung nach dem Prinzip organisiert werden: "Jedem nach seinerFähigkeit, und jeder Fähigkeit nach ihren Werken". Vorallem sei das Erbrecht der Blutsverwandtschaft abzuschaffen unddurch ein Erbrecht des Verdienstes zu ersetzen. Die Güter derEinzelnen sollten nach ihrem Tode der Gesamtheit zufallen, derStaat als Vertreter derselben der Erbe sein und nun die ihmanfallenden Güter denjenigen zuweisen, die sie am besten zumWohl des Ganzen gebrauchen würden. Außerdem solltenStaatsbanken zur leichtern Gewährung eines billigen Kreditsgegründet werden. Der Unterricht sollte ein unentgeltlicher,öffentlicher und zwar der allgemeine theoretische ein gleicherfür alle (mit besonderer Berücksichtigung der moralischenAusbildung), der professionelle aber ein den individuellenFähigkeiten entsprechender sein. - Die Saint-Simonisten habenspäter die Bazardsche Erbrechtsreform auf die Forderung hoherprogressiver Erbschaftssteuern und Aufhebung des Erbrechts in denweitern Verwandtschaftsgraden beschränkt.

Gleichzeitig mit Saint-Simon, aber völlig unabhängigvon ihm, entwickelte Ch. Fourier (s. d.) ein sozialistischesSystem, das durch seine Schüler, besonders durch V.Considérant (s. d.), um die Mitte der 30er Jahre inFrankreich allgemeiner bekannt wurde. Im Gegensatz zu Saint-Simonkonstruierte er seine neue sozialistische Gesellschaftsordnung bisins einzelne. Er stützt dieselbe auf eine eigentümlichewissenschaftlich unhaltbare Psychologie und auf eine eingehendeKritik der ökonomischen Zustände seiner Zeit, die nebenvielem Falschen wertvolle Wahrheiten enthält. DieseZustände erscheinen ihm von Grund aus schlecht, weil diegroße Masse des Volkes, durch eine kleine Zahl ausgebeutet,eine elende Existenz führe und keine Freude an der Arbeit undam Dasein haben könne. Er findet es völlig verkehrt,daß die Produktion eine individualistische (inEinzelunternehmungen) mit freier Konkurrenz sei. Durch die Existenzder vielen kleinen Unternehmungen finde eine ungeheureVerschwendung in der Benutzung der Arbeitsmittel und -Kräftestatt; würde nur in großen genossenschaftlichenUnternehmungen produziert, so könnte mit gleichem Aufwand vielmehr produziert und bei gerechter Verteilung ein höheresGenußleben für die Arbeiter herbeigeführt werden.Sie bewirke weiter eine solche Ausdehnung der Arbeitsteilung,daß die meisten Menschen keine Abwechselung bei der Arbeithätten und diese dadurch, statt zu einer Freude, zu einer Lastund für viele zu einer unerträglichen Last und Qualwerde. Sie veranlasse endlich auch die Existenz einer großenZahl an sich völlig überflüssiger Kaufleute unddadurch eine unnötige Verteurung der Produkte. Fourier findetebenso die bestehende Art der Konsumtion in den Einzelwirtschaftenvöllig unwirtschaftlich. Er fordert deshalb einegenossenschaftliche Produktion und Konsumtion in großenVerbänden, die, etwa 300-400 Familien umfassend,möglichst alle Genußmittel für die Mitgliederherstellen, jedenfalls Landwirtschaft und Gewerbe betreiben, ineinem großen Gebäude (Phalanstère) alle ihreWohnungen und Arbeitsräume einrichten, in wenigen Küchendie Speisen für alle bereiten und zugleich für dieVergnügungen und den Unterricht sorgen. Er entwirft den Plandieser sozialen Wirtschaftsorganismen, von ihm Phalangen genannt,im einzelnen und sucht nachzuweisen, daß sie, richtigorganisiert, eine Garantie dafür bieten, daß jeder durchseine Arbeit die Mittel erlange, ein behagliches Genußlebenzu führen, dabei an derselben Frende habe und für alleaus der freien naturgesetzlichen Entfaltung der Triebe die Harmonieder Triebe sich ergebe, die nach Fouriers Philosophie dieGlückseligkeit der Menschen sei. Die Gründung derPhalangen soll aber nicht durch staatlichen Zwang, sondern durchden freien Willen der Einzelnen erfolgen. Fourier trug sich mit derüberspannten Hoffnung, daß, wenn nur erst eine Phalangegebildet worden, die Phalangen sich allmählich über dieganze Welt verbreiten würden. Fourier stellte zuerst dieAbschaffung der Lohnarbeit und Gründung großerProduktiv- und Konsumgenossenschaften als die Panacee für diesoziale Frage auf.

Eine neue Ausbildung erfuhr der S. durch Louis Blanc (s. d.),zuerst in dessen kleiner Schrift über "Die Organisation derArbeit" (1839). Auch er will die Lohnarbeit durchProduktivgenossenschaften beseitigen. Aber seineProduktivgenossenschaften sind wesentlich andrer Art als dieFourierschen Phalangen, und die Gründung derselben fordert ervom Staat. Wie bei dem bisherigen Wirtschaftssystem der großeUnternehmer den kleinen, das große Kapital das kleineunterdrücke, so könne der Staat, als dergrößte Kapitalist, durch die Gründung vongrößern Unternehmungen als die bestehenden in der Formvon Produktivgenossenschaften alle, auch die größtenUnternehmer allmählich konkurrenzunfähig machen und soohne Zwang und Gewalt der höchste Ordner und Herr derProduktion werden. Wenn dies geschehen, habe er es in der Hand,durch die Regelung der innern Organisation dieser Genossenschaftenund der Art der Ertragsverteilung den arbeitenden Klassen diegenügende materielle Existenz zu sichern. Louis Blanc denktsich dann die Entwickelung für die gewerbliche Produktion indrei Stadien. In dem ersten gründe der Staat die Atelierssociaux für die verschiedenen Industriezweige, zunächstals Staatsunternehmungen; nach einiger Zeit aber wandle er sie umin reine Produktivgenossenschaften, überlasse die Verwaltungden Mitgliedern und beschränke sich nur auf die gesetzlicheRegelung der Organisation und der Gewinnverteilung. DieseGenossenschaften würden sofort die bessern Arbeitskräftean sich ziehen und mit geringern Kosten produzieren, zumal wenn siegleichzeitig große Konsumgenossenschaften errichtenwürden. Die bestehenden Unternehmungen würden gezwungenwerden, entweder den Betrieb einzustellen, oder sich in solcheGenossenschaften umzuwandeln. In dem zweiten Stadium sollen dann,damit keine Konkurrenz unter den Genossenschaften entstehe, dieGe-

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Sozialismus (Lassalle, Karl Marx).

nossenschaften gleichartiger Produktionszweige sich zugrößern Genossenschaften associieren, bis in jedem nureine Landesgenossenschaft existiere. Im dritten associieren sichauch diese, so daß schließlich eine großeProduktivgenossenschaft produziere, deren Organisation undGewinnverteilung das Staatsgesetz regele. Eine Reform der Erziehung(mit obligatorischem und unentgeltlichem Unterricht) würdediese Entwickelung sichern. Um auch die Landwirtschaft zureformieren, soll das Erbrecht der Seitenverwandten fortfallen, anihrer Stelle soll die Gemeinde erben und mit dem ihr so anfallendenVermögen ähnlich verwaltete landwirtschaftlicheProduktivgenossenschaften gründen. Da von der herrschendenGesellschaft mit monarchischer Staatsform eine Lösung dieserAufgaben nicht zu erwarten sei, so müsse zunächst derStaat in eine sozialdemokratische Republik umgewandelt werden, inwelcher die untern Klassen, im Besitz der Herrschaft, dann auf demvorgezeichneten Weg vorgehen könnten.

Diese Ideen wurden in den 40er Jahren das Programm derfranzösischen Sozialisten, an deren Spitze Louis Blanc stand.Er ist der Gründer der Sozialdemokratie, d. h. derjenigenPartei, welche für die Klasse der Lohnarbeiter die Herrschaftin einer demokratischen Republik erstrebt, um im Besitz dieserHerrschaft das sozialistische Programm zu verwirklichen.Modifiziert wurde dies Programm durch die Beschlüsse desArbeiterparlaments, welches 1848 nach der Februarrevolution, vonder provisorischen Regierung einberufen, im Palais Luxembourg unterdem Vorsitz von Louis Blanc tagte. Nach denselben sollte ein eignesMinisterium (ministère du progrès) die sozialistischeReform herbeiführen: zunächst die Bergwerke undEisenbahnen für den Staat ankaufen, das Versicherungswesen inStaatsanstalten zentralisieren, große Warenhallen undVorratshäuser zu entgeltlicher Benutzung errichten, diefranzösische Bank in eine Staatsbank umwandeln und mit demReinertrag aus diesen Geschäften industrielle undlandwirtschaftliche Genossenschaften nach dem Plan Louis Blancs miteinigen Abänderungen desselben gründen. Zur Beseitigungeiner verderblichen Konkurrenz sollte für alle Produkte durchgesetzliche Feststellung des auf die Kosten zu schlagenden Gewinnsein Normalpreis vorgeschrieben werden.

Eine andre Modifikation gab dem Blancschen S. Ferdinand Lassalle(s. d.). Er betrachtet die soziale Frage als Einkommensfrage,hervorgerufen durch die ungerechte Verteilung des Ertrags derUnternehmungen infolge des "ehernen Lohngesetzes" der freienKonkurrenz, nach welchem der Lohn stets um einen Punkt oszilliere,bei welchem er den Arbeitern nur die notdürftig Befriedigungder Existenzbedürfnisse gestatte. Die Lösung sieht er inder Beseitigung dieser Lohnregulierung und Abschaffung derLohnarbeit durch Produktivassociationen mit Hilfe des Staats. Aberdieser soll nicht, wie Louis Blanc will, dieselben gründen undihre Organisation wie die Art der Gewinnverteilung bestimmen,sondern der Staat soll nur freiwillig sich bildende mit seinemKredit unterstützen, wobei er zur Wahrung seines Interessessich die Genehmigung der Statuten und eine Kontrolle derGeschäftsführung vorbehalten könne. Darin stimmtLassalle wieder mit Louis Blanc überein, daß, um dieseStaatsunterstützung zu erreichen, der Arbeiterstand sich zumherrschenden im Staat machen müsse. Er wähnte, daßdie Einführung des allgemeinen, gleichen und direktenWahlrechts mit geheimer Abstimmung demselben in Deutschland zudieser Herrschaft verhelfen würde, und forderte deshalb diedeutschen Arbeiter auf, ihre ganze Agitation zunächst nur aufdieses Ziel zu richten.

Derjenige, der in neuerer Zeit den S. eigentlich allein inumfassender Weise und wirklich wissenschaftlich zu begründenversucht, ihm zugleich die radikalste Ausdehnung gegeben hat, istKarl Marx (s. d.). In seinem Hauptwerk: "Das Kapital", sucht ernachzuweisen, daß die Verteilung in der bisherigenVolkswirtschaft eine durchaus ungerechte sei, denn das Kapitalentstehe und vermehre sich nur dadurch, daß es einenmöglichst großen Teil des Arbeitsprodukts in sichaufsauge; die Arbeit, nicht das Kapital setze dem Produkt Wert zu,der Arbeiter leiste stets mehr, als ihm im Lohn vergolten werde,der ihm nicht bezahlte Mehrwert seiner Leistung aber falle demEigentümer der Produktionsmittel zu und vermehre das Kapital.Marx folgert daraus die Ungerechtigkeit eines Einkommens ausKapital- und Grundbesitz. Weiter sucht er zu erweisen, daßaus der gegenwärtigen kapitalistischen Produktionsweise diesozialistisch-kooperative notwendig entstehen müsse.Zunächst würden in dem freien Konkurrenzkampf dieProduktionsmittel sich in den Händen einer immer kleinernAnzahl konzentrieren, dadurch aber der Zustand für dieArbeiter endlich so unerträglich werden, daß dieselben,ihre Macht benutzend, die wenigen Expropriateure einfachexpropriieren und, geschult und organisiert durch den bisherigenkapitalistischen Produktionsprozeß, auf der Grundlagegemeinsamen Eigentums an den Produktionsmitteln in den schonbestehenden großen Unternehmungen weiter produzieren, denErtrag derselben, entsprechend seiner ökonomischen Natur alsArbeitsertrag, aber fortan nur nach Maßgabe derArbeitsleistungen verteilen würden. Besser indes sei es,diesen Expropriations- und Produktionsumwandlungsprozeß zubeschleunigen. Die praktischen Konsequenzen hat dann der AgitatorMarx gezogen und in den Beschlüssen der von ihmgegründeten und geleiteten internationalen Arbeiterassociation(vgl. Internationale) sowie in dem Programm der heutigen deutschenSozialdemokratie, dessen geistiger Urheber er ist, zum Ausdruckgebracht. Von diesen Beschlüssen sind für diesozialistischen Bestrebungen insbesondere charakteristisch die derKongresse in Brüssel und Basel. Auf dem Kongreß inBrüssel (1868) wurde die Abschaffung des Kapitaleinkommens undder Grundrente, die Gründung von Produktivgenossenschaften mitKollektiveigentum an den Produktionsmitteln und von besondernKreditanstalten für dieselben, die Umwandlung allerTransportanstalten in Staatsanstalten, aller Bergwerke, Wälderund landwirtschaftlichen Grundstücke in Staatseigentum, mitÜberweisung der letztern an Arbeitergesellschaften zurBenutzung, in das Programm aufgenommen. Der Kongreß in Basel(1869) sprach sich für die Abschaffung des privatenGrundeigentums und für die Bebauung des Bodens durchsolidarisierte Gemeinden sowie für die Abschaffung desErbrechts aus. Das sozialistisch-politische Programm der deutschenSozialdemokratie (sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands)lautet nach der Fassung des Gothaer Kongresses von 1875:

"1) Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums und aller Kultur,und da allgemein nutzbringende Arbeit nur durch die Gesellschaftmöglich ist, so gehört der Gesellschaft, d. h. allenihren Gliedern, das gesamte Arbeitsprodukt, bei allgemeinerArbeitspflicht, nach gleichem Recht jedem nach seinenvernunftgemäßen Bedürfnissen. In der heutigenGesellschaft sind die Arbeitsmittel Monopol der Kapitalistenklasse;die hierdurch bedingte Abhängigkeit der Arbeiterklasse ist dieUrsache des Elends und der Knechtschaft in allen Formen. DieBefreiung der Arbeit erfordert die

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Sozialismus (Rodbertus; Umsturzbestrebungen in derGegenwart).

Verwandlung der Arbeitsmittel in Gemeingut der Gesellschaft unddie genossenschaftliche Regelung der Gesamtarbeit mitgemeinnütziger Verwendung und gerechter Verteilung desArbeitsertrags. Die Befreiung der Arbeit muß das Werk derArbeiterklasse sein, der gegenüber alle andern Klassen nureine reaktionäre Masse sind. 2) Von diesen Grundsätzenausgehend, erstrebt die sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands(die hier ursprünglich im Programm enthaltenen Worte: 'mitallen gesetzlichen Mitteln' wurden später gestrichen) denfreien Staat und die sozialistische Gesellschaft, die Zerbrechungdes ehernen Lohngesetzes durch Abschaffung des Systems derLohnarbeit, die Aufhebung der Ausbeutung in jeder Gestalt, dieBeseitigung aller sozialen und politischen Ungleichheit. Diesozialistische Arbeiterpartei Deutschlands, obgleich zunächstim nationalen Rahmen wirkend, ist sich des internationalenCharakters der Arbeiterbewegung bewußt und entschlossen, allePflichten, welche derselbe den Arbeitern auferlegt, zuerfüllen, um die Verbrüderung aller Menschen zur Wahrheitzu machen. Die sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands fordert,um die Lösung der sozialen Frage anzubahnen, die Errichtungvon sozialistischen Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe unterder demokratischen Kontrolle des arbeitenden Volkes. DieProduktivgenossenschaften sind für Industrie und Ackerbau insolchem Umfang ins Leben zu rufen, daß aus ihnen diesozialistische Organisation der Gesamtheit entsteht. 3) Diesozialistische Arbeiterpartei Deutschlands fordert als Grundlagendes Staats: a) Allgemeines, gleiches, direktes Wahl- und Stimmrechtmit geheimer, obligatorischer Stimmabgabe allerStaatsangehörigen vom 20. Lebensjahr an für alle Wahlenund Abstimmungen in Staat und Gemeinde. Der Wahl- oderAbstimmungstag muß ein Sonntag oder Feiertag sein. d) DirekteGesetzgebung durch das Volk; Entscheidung über Krieg undFrieden durch das Volk. c) Allgemeine Wehrhaftigkeit, Volkswehr anStelle der stehenden Heere. d) Abschaffung aller Ausnahmegesetze,namentlich der Preß-, Vereins- und Versammlungsgesetze,überhaupt aller Gesetze, welche die freieMeinungsäußerung, das freie Denken und Forschenbeschränken. e) Rechtsprechung durch das Volk; unentgeltlicheRechtspflege. f) Allgemeine und gleiche Volkserziehung durch denStaat; allgemeine Schulpflicht; unentgeltlicher Unterricht in allenBildungsanstalten; Erklärung der Religion zurPrivatsache."

Das Programm enthält außerdem noch eine Reihe vonForderungen, die indes ausdrücklich als Forderungen "innerhalbder heutigen Gesellschaft" bezeichnet werden und nicht mehrspezifisch sozialistische sind. Mit diesem Programm stimmt imwesentlichen überein das Programm des Parti ouvrier socialisterévolutionnaire français von 1880, welches die Basisder gegenwärtigen sozialistischen Bewegung in Frankreich istund in der Hauptsache auch von den spanischen und italienischenSozialisten angenommen wurde, ebenso das Programm dersozialistischen Arbeiterpartei von Nordamerika von 1877 (weitereshierüber bei Zacher, s. Litteratur).

In Deutschland entstand Mitte der 70er Jahre neben derSozialdemokratie vorübergehend eine konservativesozialistische Richtung, der sogen. Staatssozialismus, derenpolitischer Grundgedanke ein Bündnis der Monarchie mit demvierten Stand war, um die vermeintliche Herrschaft der Bourgeoisieund des Kapitals zu brechen, die berechtigten Forderungen derArbeiterklasse durch eine sozialistische Organisation derVolkswirtschaft zu befriedigen und damit zugleich die Machtstellungder Monarchie zu befestigen. Das unklare sozialistische Programm(s. dasselbe in Nr. 23 des "Staatssozialist" vom 1. Juni 1878)dieser Richtung, die wenige Anhänger fand, und derenHauptvertreter unter andern Pastor R. Todt ("Der radikale deutscheS. und die christliche Gesellschaft. Aufl., Wittenb. 1878) und derSchriftsteller Rudolf Meyer waren (Organ: "Der Staatssozialist.Wochenschrift für Sozialreform", 1877 ff.), stützt sichauf die sozialistischen Anschauungen von J. K. Rodbertus (s. d.),der die Berechtigung eines Einkommens aus Besitz, der "Rente"(Grundrente wie Kapitalrente), bestritt und den Kernpunkt dersozialen Frage in dem angeblichen "Gesetz" sah, daß, wenn derVerkehr in Bezug auf die Verteilung der Nationalprodukte sichselbst überlassen bleibe, bei steigender Produktivitätder gesellschaftlichen Arbeit der Lohn der arbeitenden Klassen einimmer kleinerer Teil des Nationalprodukts werde, daß derrelative Lohn der Arbeit in dem Verhältnis sinke, als sieselbst produktiver werde, und daß folglich die Kaufkraft derMehrzahl der Gesellschaft immer kleiner werde. Die Lösung derFrage erblickte Rodbertus darin, daß den Arbeitern ein mitder steigenden nationalen Produktivität mitsteigenderArbeitslohn gesichert würde, und er glaubte, dieselbe - ohnedaß man dem Grund- und Kapitaleigentum von seinem heutigenGrundrenten- und Gewinnbetrag etwas fortnehme, sondern nurverhindere, daß auch für alle Zukunft, wie bisher, dasPlus einer steigenden nationalen Produktion der Grundrente und demKapitalgewinn zuwachse - durch eine Reihe von Vorschlägengefunden zu haben, deren wichtigste sind: der Staat sollezunächst für jedes "Gewerk" einen normalen Zeitarbeitstagund einen normalen Werkarbeitstag festsetzen und den Lohnsatzfür den letztern mit periodischen Revisionen bestimmen, bez.zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer unter seiner Autoritätfestsetzen lassen. Sodann soll "der normale Werkarbeitstag zuWerkzeit oder Normalarbeit erhoben und nach solcher Werkzeit oderNormalarbeit (nach solcher in sich ausgeglichener Arbeit) nichtbloß der Wert des Produkts jedes Gewerks normiert, sondernauch der Lohn in jedem Gewerk als Quote dieses nach Normalarbeitberechneten Produktwerts fixiert und bezahlt werden".

In der Geschichte der sozialistischen Agitation ist die Phasedes friedlichen, doktrinären S. und die des gewaltsamen,praktischen S. zu unterscheiden. In jener, welcher dieThätigkeit Saint-Simons und Fouriers und ihrer Schülerangehört, war die Bewegung eine wesentlich theoretische undfriedliche. Jene Sozialisten erhofften auf friedlichem Weg dieallmähliche Verwirklichung ihrer Ansichten. Sie wandten sichdeshalb nur an die Gebildeten, nicht an diejenigen Klassen, derenBesserung sie wollten, und wenn auch ihre Äußerungennicht frei waren von Anklagen gegen die bestehenden Einrichtungenund Zustände, so enthielten sie doch nur selten Anklagen gegenPersonen und gegen die besitzenden Klassen. Diesen friedlichenCharakter verliert aber die sozialistische Agitation seit LouisBlanc und im Verlauf der Zeit mehr und mehr. Neue sozialistischeSysteme und Forderungen werden aufgestellt nicht mehr alswissenschaftliche Theorien, sondern als Programme praktischerAgitationsparteien. Die Vertreter derselben wenden sich nun mitihren Lehren direkt an die untern Volksklassen, um sie zum S. zubekehren und für dessen Durchführung zu gewinnen; siewerden Arbeiteragitatoren. Ein Hauptmittel ihrer Agitation wird es,bei den untern Klassen die Gefühle der Erbitterung und desHasses nicht bloß gegen die bestehenden Zustände desöffentlichen Lebens, sondern auch gegen die Träger derStaatsgewalt und gegen die besitzenden Klassen zu erzeugen. Dasökonomische sozialistische Programm wurde hiermit einradikaleres, und da es durch den Staat verwirklicht werden sollte,wurde die Bewegung eine politische. Da man sich sagen mußte,daß die bestehenden Staaten die sozialistischen Wünschenicht erfüllen würden, wurde die Erlangung der Herrschaftim Staat für die Lohnarbeiterklasse in das Programmaufgenommen und das praktische Ziel. Die sozialistische

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Soziallast - Spach.

Partei wurde eine sozialdemokratische. Naturgemäßgesellten sich nun weitere politische Forderungen (betreffend dieVerfassung des Staats, das Wahlrecht, das Gerichts-, Schul- undMilitärwesen etc.) hinzu, und wie das ökonomische wurdeauch das politische Programm, namentlich seit der Gründung derInternationalen Arbeiterassociation, immer radikaler. Man machteauch kein Hehl daraus, daß allein die Revolution derSozialdemokratie zum Sieg verhelfen könne, und sprach es offenaus, daß man nicht zaudern würde, zu diesem Mittel zugreifen, wenn man nur die Möglichkeit des Gelingens sähe.Daher entstand nun eine Art der Agitation, die nur die Vorbereitungzur Revolution war. Und deshalb ist diese Partei auch die Gegnerineiner starken, mächtigen Staatsgewalt in den bestehendenStaaten, deshalb bekämpft sie vor allem das stehende Heer,deshalb ihre ausgesprochene Feindschaft gegen die Religion, nichtbloß gegen die Kirche. Der ganze Charakter, den die Bewegungangenommen, zwang und zwingt die Staaten zu einem entschiedenenVorgehen gegen dieselbe, wie es das Deutsche Reich in dem Gesetzvom 21. Okt. 1878 (s. Sozialdemokratie) und andre Staaten in andrerWeise gethan haben. In neuester Zeit ist in der Sozialdemokratieeine noch radikalere Richtung in den Anarchisten hervorgetreten,die, ohne ein neues sozialistisches Programm aufzustellen, densofortigen Umsturz alles Bestehenden mit allen nur möglichenMitteln will, inzwischen aber die Beseitigung der Gegner durch Mordempfiehlt (s. Anarchie).

Vgl. außer den im Art. "Kommunismus" (S. 990) angegebenenWerken von Stein, Sudre, Hildebrand, Marlo, Schäffle, Meyer:L. Reybaud, Études sur les réformateurs (6. Aufl.,Par. 1849, 2 Bde.); E. Jäger, Der moderne S. (Berl. 1873);Derselbe, Geschichte des S. in Frankreich (das. 1876, Bd. 1);Schuster, Die Sozialdemokratie (2. Aufl., Stuttg. 1876); Mehring,Die deutsche Sozialdemokratie (3. Aufl., Brem. 1879); v. Scheel,Unsre sozialpolitischen Parteien (Leipz. 1878); Schäffle,Quintessenz des S. (8. Aufl. 1885); E. de Laveleye, Le socialismecontemporaine (4. Aufl., Par. 1889; deutsch, Tübing. 1884);Zacher, Die rote Internationale (Berl. 1884); Kleinwächter,Grundlagen und Ziele des sogen. wissenschaftlichen S. (Innsbr.1885); Adler, Geschichte der ersten sozialpolitischenArbeiterbewegung in Deutschland (Bresl. 1885); Zander, Diesozialpolitischen Gesetze des Deutschen Reichs (Kattowitz 1887);Dawson, German socialism (Lond. 1888); Semler, Geschichte des S.und Kommunismus in Nordamerika (Leipz. 1880); "S. und Anarchismusin England und Nordamerika während der Jahre 1883-86" (Berl.1887); v. Scheel, S. und Kommunismus, in Schönbergs "Handbuchder politischen Ökonomie" (2. Aufl., Tübing. 1885, Bd. 1,S. 107 ff.); Schönberg, Gewerbliche Arbeiterfrage (ebenda, Bd.2).

Soziallast (Societätslast), Genossenschaftssteuer,in süddeutschen Gemeinden eine Steuer, welche zur Abwendungbesonderer Nachteile oder zur Erreichung besonderer Vorteileeinzelner Einwohner oder Besitzer oder einzelner Klassen vonsolchen bestimmt ist. Vgl. Gemeindehaushalt, S. 68.

Sozialpolitik, der Inbegriff der auf Besserung dersozialen Verhältnisse, vorzüglich auf Regelung derArbeiterfrage, gerichteten Bestrebungen und Maßregeln,insbesondere derjenigen des Staats. Während der Sozialismusdie gesellschaftliche Verfassung von Grund aus ändern will,hält die heutige praktische S. an der gegebenen sozialen undEigentumsordnung grundsätzlich fest und will auf deren Bodendurch die Arbeiterschutzgesetzgebung (s. Fabrikgesetzgebung), durchdie Arbeiterversicherung (s. d.), durch entsprechendeSteuerverteilung, Verwaltungsmaßnahmen verschiedener Art etc.die Lage der untern Klassen verbessern und die durch Privateigentumund freien Wettbewerb sich bildenden Klassengegensätzemildern. In diesem Sinn wirkt der Verein für S., welcher 1872zu Eisenach gegründet wurde und bis zur Neuzeit fürVorbereitung von seither in Gesetzgebung und Verwaltungeingetretenen Änderungen thätig gewesen ist (vgl.Kathedersozialisten). Über die verschiedenen sozialpolitischenRichtungen der Gegenwart s. Arbeiterfrage.

Sozomenos, Salamanes Hermias, Kirchenhistoriker, geborenum 400 n. Chr. bei Gaza in Palästina, trat als Sachwalter inKonstantinopel auf und starb nach 443. Er schrieb unter Benutzungdes Sokrates eine Fortsetzung der Kirchengeschichte des Eusebios(von 323 bis 439), herausgegeben von Valesius (Par. 1668) undHussey (Lond. 1860 u. 1874 ff.).

Sozopolis (türk. Sizebolu), Stadt in Ostrumelien, ander Südseite des Golfs von Burgas, mit guter Reede, auf einemVorgebirge, Sitz eines griechischen Erzbischofs, hat ca. 2000griech. Einwohner, welche Handel (vorzüglich mit Holz)treiben; hieß im Altertum und bis 430 n. Chr. Apollonia.

Sp., auch Spach, bei botan. Namen für Eduard Spach,geb. 1801 zu Straßburg, gest. 1879 als Oberaufseher derHerbarien des Jardin des plantes in Paris.

Spaa (Spa), Flecken in der belg. Provinz Lüttich,Arrondissem*nt Verviers, in waldiger Gebirgsgegend, an derStaatsbahnlinie Gouvy-Pepinster, hat Fabrikation von lackiertenHolzwaren (bois de Spa), Wollkratzen und Spindeln, Gerbereien,Eisenhämmer, Hochöfen, eine höhere Knabenschule und(1887) 7278 Einw., ist aber namentlich berühmt durch seineMineralquellen, von denen die stärkste (Pouhon) in der Stadt,15 außerhalb derselben liegen. Die wichtigsten der letzternsind: Géronstère, Sauvenière, die beidenTonnelets, Groesbeck, Barisart, Nivesé und Marie-Henriette.Sie besitzen eine Temperatur von 9-10° C. und gehören zuden alkalisch-eisenhaltigen Säuerlingen, weshalb sienamentlich gegen Hypochondrie, Hysterie, Verschleimung,Magenleiden, Nervenschwäche empfohlen und jährlich von11-12,000 Kurgästen aus allen Weltgegenden, insbesondere ausEngland, besucht werden. S. besitzt daher auch viele prächtigeGebäude, mit allem Komfort eingerichtete Gasthäuser,glänzende Etablissem*nts für Vergnügungen undreizende Spaziergänge. Das Wasser des Pouhon wird unter demNamen Spaawasser weithin versendet. Vgl. Scheuer, Traité deseaux de S. (2. Aufl., Brüssel 1881).

Spaargebirge, Höhenzug auf dem rechten Elbufer beiMeißen in Sachsen, 199 m hoch. Hier wird der besteMeißener Wein gebaut.

Spaccaforno, Stadt in der ital. Provinz Syrakus(Sizilien), Kreis Modica, mit (1881) 8588 Einw. In der Nähedas sogen. Troglodytenthal (Valle d'Ispica) mit vielen oft in dreiGeschossen übereinander in den Fels gehauenen, teilweise sehrschwer zugänglichen Höhlen, welche derursprünglichen Bevölkerung wahrscheinlich zu Wohnungendienten.

Spaccio (ital., spr. spattscho), Absatz, Vertrieb.

Spach (spackig), vor Trockenheit geborsten (Holz).

Spach, Ludwig Adolf, elsäss. Geschichtsforscher,geb. 27. Sept. 1800 zu Straßburg, studierte daselbst

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Spachtel - Spalato.

1820-23 die Rechte, ward dann Erzieher in Paris, Rom und derSchweiz, 1840 Archivar des Departements Niederrhein und daneben1848-54 Schriftführer des protestantischen Direktoriums und1872 Honorarprofessor an der Universität. Er starb 16. Okt.1879 in Straßburg. Er schrieb: "Histoire de la Basse-Alsace"(1859); "Lettres sur les archives départementales duBas-Rhin" (Straßb. 1861); "Inventaire sommaire des archivesdépartementales du Bas-Rhin" (das. 1863 ff., 3 Bde.). Seinezahlreichen kleinern Arbeiten (darunter die "Biographiesalsaciennes", 3 Bde.) erschienen gesammelt als "OEuvres choisies"(Nancy 1869-71, 5 Bde.). In deutscher Sprache veröffentlichteer: "Moderne Kulturzustände im Elsaß" (Straßb.1872-74, 3 Bde.); das Drama "Heinr. Waser" (das. 1875); "ZurGeschichte der modernen französischen Litteratur" (das. 1877);"Dramatische Bilder aus Straßburgs Vergangenheit" (das. 1876,2 Bde.). Unter dem Pseudonym Louis Lavater verfaßte ermehrere Romane: "Henri Farel" (1834), "Le nouveau Candide" (1835),"Roger de Manesse" (1849). Vgl. Kraus, Ludw. S. (Straßb.1880).

Spachtel, s. v. w. Spatel.

Spack, s. v. w. Steinsalz, s. Salz, S. 236.

Spada (ital.), Schwert, Degen.

Spada, Palast in Rom, s. Rom, S. 908.

Spadicifloren (Kolbenblütler), Ordnung imnatürlichen Pflanzensystem unter den Monokotyledonen,charakterisiert durch einen meist kolbenförmigenBlütenstand, der häufig von einem großenHüllblatt umgeben ist und zahlreiche kleine Blütenträgt, welche gewöhnlich eingeschlechtig, ein- oderzweihäusig sind und kein oder doch kein blumenkronartiggefärbtes Perigon besitzen; die Samen enthalten Endosperm,welches den kleinen, geraden Keimling umgibt. Die Ordnung bestehtaus den Familien: Aroideen, Pandaneen, Cyklantheen, Palmen undTyphaceen.

Spadille (franz., spr. -dihj), die höchsteTrumpfkarte im L'hombrespiel (Pik-As) und in dem diesem nachgebildeten Solospiel (Eichel-Ober).

Spadix (lat.), Kolben, s. Blütenstand, S. 80.

Spado (lat.), ein Verschnittener, Eunuch.

Spagat (Spaget, v. ital. spaghetto), in Österreich,Bayern etc. s. v. w. Kanzleibindfaden.

Spagirisch (ital.), s. v. w. alchimistisch.

Spagniolgeschmack, s. Firnewein.

Spaguolette (ital., spr. spanjo-), spanischer Drehriegel,Riegelstange am Fenster; auch s. v. w. spanische Zigarrette.

Spaguoletto (spr. spanjo-), Maler, s. Ribera.

Spagnuólo (spr. spanj-), Maler, s. Crespi 3).

Spahi (türk., pers. Sipahi, "Krieger, Heer"), inMittelasien der dem Fürsten zur Stellung von Soldatenverpflichtete Adel, welche Bezeichnung später auf die Soldatenselbst überging, woraus die englischen Sepoys (s. d.)entstanden. S. hießen in der Türkei die von denLehnsträgern zu stellenden Reiter, später war es dieBezeichnung der irregulären türkischen Reiterei, welchegleichzeitig mit den Janitscharen (s. d.) entstand und den Kern dertürkischen Reiterei bildete. S. heißen die 4französischen Reiterregimenter, von denen 3 zu 6 Eskadrons inAlgerien und 1 zu 3 Eskadrons in Tunis stehen. Sie wurden um 1834aus Eingebornen gebildet und sind heute organisiert und bewaffnetwie die übrige französische Kavallerie, aber vonfranzösischen Offizieren befehligt.

Spaichingen, Oberamtsstadt im württemberg.Schwarzwaldkreis, an der Prim und der Linie Rottweil-Immendingender Württembergischen Staatsbahn, 659 m ü. M., hat einekath. Kirche, ein Gewerbemuseum, ein Amtsgericht, ein Revieramt,ein Hauptsteueramt, Zigarren-, Trikot-, Schuh- und Holzwaren- undUhrenfabrikation, Klavier- und Orgelbau, Buchdruckerei,Bierbrauerei und (1885) 2441 meist kath. Einwohner. Nahebei derDreifaltigkeitsberg mit Wallfahrtskirche.

Spalatin, Georg Burkhardt, Beförderer derReformation, geb. 1484 zu Spalt im Bistum Eichstätt (dahersein Name), lag seit 1499 in Erfurt, gleichzeitig mit Luther,humanistisch-philosophischen Studien ob, ward 1502 Magister zuWittenberg, studierte dann in Erfurt noch die Rechte und Theologie,wurde 1509 Erzieher von Johann Friedrich, dem nachherigenKurfürsten von Sachsen, 1514 ernannte ihn Friedrich der Weisezu seinem Hofkaplan, dann zu seinem Geheimschreiber und zumBibliothekar an der Universität Wittenberg. S. war seitdem dervertrauteste Diener des Kurfürsten, den er fast zu allenReichstagen begleitete, und dessen Beziehungen zu Luther er fastausschließlich vermittelte; seine nicht hoch genuganzuschlagenden Verdienste um die deutsche Reformation sind bishernoch viel zu wenig gewürdigt. Johann der Beständige, derihn ebenso wie sein Vorgänger zu schätzen wußte,ernannte ihn 1525 zum Ortspfarrer und Superintendenten vonAltenburg. 1530 begleitete S. den Kurfürsten zum AugsburgerReichstag. Von 1527 bis 1542 entwickelte er eine bedeutendeThätigkeit bei der Organisation der evangelischen Kirche dersächsischen Lande. Er starb 16. Jan. 1545 in Altenburg. S.schrieb die Biographien von Friedrich dem Weisen (hrsg. vonNeudecker und Preller, Weim. 1851) und Johann dem Beständigen;"Christliche Religionshändel oder Religionssachen", vonCyprian irrig "Annales Reformationis" (Leipz. 1718) genannt, undeine Geschichte der Päpste und Kaiser desReformationszeitalters. Seine meist im Archiv zu Weimar liegendenBriefe sind noch ungedruckt. Vgl. J. Wagner, G. S. und dieReformation der Kirchen und Schulen in Altenburg (Altenb. 1830);Seelheim, G. S. als sächsischer Historiograph (Halle 1876);Burkhardt, Geschichte der sächsischen Kirchen- undSchulvisitationen von 1524 bis 1545 (Leipz. 1879).

Spálato (slaw. Spljet), Stadt in Dalmatien,halbmondförmig auf der Südseite einer Halbinsel im Grundeiner Bucht des Adriatischen Meers gelegen, die schönste undvolkreichste Stadt des Landes, teilt sich in die Altstadt, dieNeustadt und vier Vorstädte. Öffentliche Plätzesind: der Domplatz (Piazza del Tempio) und der Herrenplatz. DieStadt ist reich an antiken Baudenkmälern. Den ganzen Raum derAltstadt nahm der umfangreiche Palast des Kaisers Diokletian ein,von dessen südlicher Fronte namentlich ein 125 m langesPeristyl mit Vestibulum erhalten ist (s. Tafel "Baukunst VI", Fig.12 u. 13), welches gegenwärtig den Domplatz bildet. Die andemselben gelegene Kathedrale (das ehemalige DiokletianischeMausoleum), ein wohlerhaltener römischer Gewölbebau,bildet außen ein mit korinthischen Säulen geziertesAchteck, innen eine Rotunde mit Kuppel. Beim Eingang steht eineägyptische Sphinx, und neben dem Dom erhebt sich einimposanter Glockenturm aus dem 15. Jahrh. Dergegenüberstehende Äskulaptempel dient jetzt alsTaufkapelle und ist gleichfalls sehr gut erhalten. Außerdemsind die Trümmer der Diokletianischen Wasserleitungbemerkenswert. Auf der Ostseite der Stadt erhebt sich das FortGrippi. S. zählt (1880) mit den Vorstädten 14,513 Einw.Der Hafen ist etwas versandet und wird

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Spalding - Spaltbarkeit.

durch einen Damm gegen die Südwinde geschützt. 1886sind daselbst 1814 beladene Schiffe mit 286,366 Ton. eingelaufen.Die Stadt treibt Wein-, Öl- und Gemüsebau, Fabrikationvon Likören (Rosoglio und Maraschino), Seiler- und Teigwaren,Seife, Ziegeln, Kalk und Zement, ferner Schiffbau,Küstenschiffahrt, lebhaften Handel mit Wein und Vieh sowieauch Durchfuhrhandel und Niederlagsverkehr nach Bosnien und derHerzegowina. S. besitzt eine Gasanstalt, eine Filiale derÖsterreichisch-Ungarischen Bank, 2 Lokalbanken und ist derAusgangspunkt der Dalmatischen Eisenbahn nach Siveric mitAbzweigung nach Sebenico. Es ist Sitz einer Bezirkshauptmannschaft,eines Kreis- und Bezirksgerichts, einer Finanzbezirksdirektion,eines Hauptzoll- und Hauptsteueramtes, eines Hafenkapitanats, einerHandels- und Gewerbekammer, eines deutschen Konsuls, eines Bischofs(bis 1807 Erzbischofs) und Kathedralkapitels und hat 8Klöster, ein Diözesanseminar, ein Obergymnasium, eineOberrealschule, Knaben- und Mädchenschule, Lehr- undErziehungsanstalt der Barmherzigen Schwestern, Kinderbewahranstalt,ein Krankenhaus, Findelhaus, Theater, Museum fürAltertümer (insbesondere die Ausgrabungen aus Salonäenthaltend). Am Fuß des Bergs Marian (170 m, schönerÜberblick) sind zu Bädern benutzte kalte Schwefelquellen.- In den oben erwähnten Kaiserpalast zog sich Diokletian nachseiner Abdankung zurück. Als im 6. und 7. Jahrh. dasbenachbarte Salonä (s. d.) zerstört worden war, bautensich dessen Einwohner innerhalb der Residenz Diokletians an, und soentstand eine kleine Stadt, welche anfangs Palatium, dann Spalatium(Salonae Palatium) hieß, woraus dann der Name S. entstand.Die um die Mitte des 17. Jahrh. errichteten Festungswerke sind bisauf das Fort Grippi unter der französischen Herrschaftabgetragen worden. Vgl. Lanza, Dell' antico palazzo di Dioclezianoin S. (Triest 1855); Hauser, S. und die römischen MonumenteDalmatiens (Wien 1883).

Spalding, Stadt in Lincolnshire (England), am schiffbarenWelland, Hauptort des "Holland" genannten Distrikts der Fens (s.d.), hat lebhaften Handel mit Wolle, Vieh und Kohlen und (1881)9260 Einw.

Spalding, 1) Johann Joachim, protest. Theolog, geb. 1.Nov. 1714 zu Tribsees in Schwedisch-Pommern, ward 1749 Prediger zuLassahn, 1757 erster Prediger zu Barth, 1764 Propst an derNikolaikirche in Berlin und später auch Oberkonsistorialrat,in welcher Stellung er für religiöse Aufklärungwirkte, bis ihn 1788 das Wöllnersche Religionsedikt (s. d.)veranlaßte, seine Stelle niederzulegen. Er starb 26.März 1804 in Berlin. Unter seinen Schriften sind als typischfür seine Zeit noch heute hervorzuheben: "Gedanken überden Wert der Gefühle in dem Christentum" (Leipz. 1761, 5.Aufl. 1785); "Über die Nutzbarkeit des Predigtamts" (1772, 3.Aufl. 1791). Seine Autobiographie erschien Halle 1804.

2) Georg Ludwig, Philolog, Sohn des vorigen, geb. 8. April 1762zu Barth, vorgebildet in Berlin, studierte seit 1780 inGöttingen und Halle, ward 1787 Professor am Grauen Kloster undMitglied der Akademie der Wissenschaften in Berlin und starb 7.Juni 1811 in Friedrichsfelde bei Berlin. Er schrieb: "Vindiciaephilosophorum megaricorum" (Halle 1792), gab Demosthenes' "InMidiam" (Berl. 1794; neubearbeitet von Buttmann, das. 1823) herausund machte sich namentlich um Quintilian verdient ("Quintilianiopera", Leipz. 1798-1816, 4 Bde.; Bd. 5 von Zumpt, 1829; Bd. 6:"Lexicon" von Bonnel, 1834). Vgl. Walch, Memoria Spaldingii (Berl.1821).

Spalier (franz. espalier, ital. spaliéra,Baumgeländer), Latten- und Drahtwerk, woran Weinstöckeund Obstbäume in die Breite gezogen und mit den Ästen undZweigen angebunden werden; wird gewöhnlich an sonnigenWänden angebracht. Am besten benutzt man hierzu verzinktenEisendraht, der durch verzinkte Eisenstützen festgehalten,durch sogen. Drahtspanner (s. d.) angezogen, bez. (überWinter) nachgelassen wird.

Spalierbaum, s. Obstgarten, S. 312.

Spallanzani, Lazzaro, Naturforscher, geb. 12. Jan. 1729zu Scandiano im Herzogtum Modena, studierte zu BolognaNaturwissenschaft, ward 1756 Professor zu Reggio, später inModena und Pavia, bereiste die Schweiz, den Orient und einen TeilDeutschlands und starb 11. Febr. 1799 in Pavia. Er lieferte 1785 inseiner Arbeit über die Zeugung den experimentellen Nachweisder Befruchtung der Eier durch die Samenkörper, machte auchUntersuchungen über die Reproduktion und die Fortpflanzung derFrösche, über die Infusionstierchen, über eineneigentümlichen Sinn der Fledermäuse, über dieWirkung des Magensafts und den Blutkreislauf und beschrieb dienaturhistorischen Merkwürdigkeiten der von ihm bereistenLänder. Er schrieb: "Opuscoli di fisica animale e vegetabile"(Mod. 1780, 2 Bde): "Viaggi alle due Sicilie ed in alcune partidegli Apennini" (Pavia 1792, 6 Bde.; deutsch, Leipz. 1795, 4 Bde.);"Expériences pour servir à l'histoire de lagénération des animaux et des plantes" (Genf 1786).1889 wurde ihm in Scandiano ein Denkmal errichtet.

Spalmadores (Kujun-Adassi, "Schaf-Inseln"), kleinetürk. Inselgruppe in der gleichnamigen Meerenge zwischen derInsel Chios und der Westküste von Kleinafien (im AltertumÖnussä).

Spalmeggio (spr. -meddscho), ein Nebel, s. Bora.

Spalt, Stadt im bayr. Regierungsbezirk Mittelfranken,Bezirksamt Schwabach, an der Fränkischen Rezat u. der LinieGeorgensgmünd-S. der Bayrischen Staatsbahn, 362 m ü. M.,hat 3 Kirchen, Bierbrauerei, starken Hopfenbau und (1885) 2060meist kath. Einw.

Spaltbarkeit der Mineralien, die Eigenschaft, inbestimmten Richtungen geringere Grade der Kohärenz zu besitzenals in den übrigen dazwischenfallenden Richtungen, sodaß selbst bei unbedeutender Größe trennenderKräfte senkrecht zu diesen Richtungen der Minima derKohärenz Spaltbarkeitsflächen(Blätterdurchgänge) erzeugt werden können. DieFlächen, welche durch die S. erzeugt werden, stehen im engstenZusammenhang mit den morphologischen Eigenschaften der Mineralienund gehören ausnahmslos einer Figur an, die demselbenKristallsystem zuzuzählen ist, in welchem die betreffendeSpezies kristallisiert. So ist der tesseral kristallisierendeBleiglanz in drei aufeinander senkrechten Richtungen, den sechsWürfelflächen entsprechend, spaltbar, der tesseraleFlußspat in vier (oktaedrischen) Richtungen, der hexagonaleKalkspat nach den Flächen eines Rhomboeders und zwar derart,daß diese durch Spaltung erhaltenen Formen, abgesehen von derZugehörigkeit zum gleichen System, von der äußernBegrenzung der Individuen unabhängig ist. So erhält mandurch Zertrümmerung von Kalkspat Rhomboeder, sei der Kristallselbst ein Rhomboeder oder ein Skalenoeder oder eine hexagonaleSäule. Diesem Zusammenhang zwischen Spaltungsform undKristallsystem entsprechend, können zu Blättchen teilbareMineralien (monotome) nicht dem tesseralen System angehören,da in diesem eine der Monotomie entsprechende Kristallform (einFlächenpaar)

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Spaltfrüchte - Spangenberg.

nicht möglich ist. Aus gleichem Grund könnenquadratisch oder hexagonal kristallisierende Mineralien nursenkrecht zur kristallographischen Hauptachse (optischen Achse)monotom spaltbar sein, während in dem rhombischen und denklinoedrischen Systemen Monotomie nach mehr denn einer Richtungmöglich ist. Die Leichtigkeit, charakterisierende Formenselbst bei äußerlich mangelnderGesetzmäßigkeit der Begrenzung darstellen zukönnen, macht die S. für die Bestimmung derMineralspezies sehr wertvoll.

Spaltfrüchte (Schizocarpia), s. Frucht, S. 755.

Spaltfüßer (Entomostraca), s. Krebstiere,177.

Spalthufer, s. v. w. Wiederkäuer.

Spaltöffnungen (Stomata), s. Epidermis.

Spaltpilze, s. Pilze I., S. 68.

Spaltschnäbler (Fissirostres), nach Cuvier u. a.Familie aus der Ordnung der Sperlingsvögel, mit kurzem,dreieckigem, flachem, bis weit hinter die Augen gespaltenemSchnabel. Hierher gehört die Gattung Schwalbe u. a.

Spaltung (Kirchenspaltung), s. Schisma.

Spampanaten (ital.), Aufschneidereien.

Spanböden, s. v. w. Sparterie, s. Geflechte.

Spandau (Spandow), Stadt (Stadtkreis) und Festung impreuß. Regierungsbezirk Potsdam, am Einfluß der Spreein die Havel und an den Linien Berlin-Buchholz und Berlin-Lehrteder Preußischen Staatsbahn, 32 m ü. M., hat 2evangelische und eine kath. Kirche (unter jenen die Nikolaikircheaus dem 14. Jahrh.), ein Gymnasium, ein Amtsgericht, eineMilitärschießschule, ein Krankenhaus, 2 Hospitäler,ein Militärlazarett, ein Zentralfestungsgefängnis,Geschützgießerei, Pulver-, Munition- undGewehrfabrikation, eine Artilleriewerkstatt, einFeuerwerkslaboratorium (sämtlich Staatsanstalten), einengroßen Pferdemarkt und (1885) mit der Garnison (4. Gardereg.zu Fuß, 3. Gardegrenadierreg., 2 Bat.Gardefußartillerie und ein Trainbat. Nr. 3) 32,009 meistevang. Einwohner. Durch zahlreiche Neubauten und die Anlage vondetachierten Forts ist S. zum Schutz von Berlin in eine Festungersten Ranges umgewandelt. In der Citadelle steht der Juliusturmmit dem deutschen Reichskriegsschatz (s. d.). - S., eine derältesten Städte der Mittelmark, empfing schon 1232Stadtrecht und war später mehrfach Residenz derKurfürsten von Brandenburg. Nachdem es schon 1319-50 mit einerMauer umgeben war, wurden die Festungswerke 1626-48 verstärktund 1842 bis 1854 zeitgemäß umgebaut. 1631-34 wurde S.von Georg Wilhelm den Schweden eingeräumt, 25. Okt. 1806 vonBeneckendorf an die Franzosen übergeben. Am 26. April 1813ergab es sich nach kurzer Blockade dem preußischen General v.Thümen. Vgl. Krüger, Chronik der Stadt und Festung S.(Spand. 1867); Kuntzemüller, Geschichte der Stadt und FestungS. (das. 1881).

Spandrille, in der Baukunst ein Zwickel zwischen einemBogen und dessen rechtwinkeliger Einfassung (s. vorstehendeAbbildung).

Spange, Nadel, Schmucknadel (s. Fibel), ursprünglichzur Befestigung des Mantels oder Gürtels dienend; dann auch imweitern Sinn für Brosche, Armband etc. gebraucht. Übervorhistorische Spangen s. Metallzeit.

Spangenberg, Stadt im preuß. RegierungsbezirkKassel, Kreis Melsungen, an der Pfiefe und der LinieTreysa-Leinefelde der Preußischen Staatsbahn, 264 m ü.M., hat eine evang. Kirche, ein Amtsgericht, eineOberförsterei, Zigarren- und Peitschenfabrikation, Ziegeleienund (1885) 1676 Einw. Dabei das gleichnamige Bergschloß, daszur kurhessischen Zeit als Staatsgefängnis benutzt wurde,jetzt aber leer steht. S., ursprünglich einem Zweig der Herrenv. Treffurt gehörig, wurde 1347 hessisch.

Spangenberg, 1) August Gottlieb, der zweite Stifter derEvangelischen Brüderunität, geb. 1704 zu Klettenberg inder Grafschaft Hohenstein, ward auf der Universität Jenagebildet und 1732 Adjunkt der theologischen Fakultät zu Hallesowie Inspektor des dortigen Waisenhauses. Nachdem er 1743 ausHalle auf Befehl des Königs vertrieben war, schloß ersich der Brüdergemeinde an, machte mehrere Missionsreisen inEuropa und Amerika, wurde 1762 nach Zinzendorfs Tode dessenNachfolger als Bischof und starb 18. Sept. 1792 in Berthelsdorf. Erschrieb das "Leben Zinzendorfs" (Barby 1772, 2 Bde.) und "Ideafidei fratrum, oder kurzer Begriff der christlichen Lehre in derBrüdergemeinde" (das. 1779). Vgl. Ledderhose, LebenSpangenbergs (Heidelb. 1846); Knapp, Beiträge zurLebensgeschichte Spangenbergs (1792; hrsg. von Frick, Halle1884).

2) Ernst Peter Johannes, gelehrter Jurist, geb. 6. Aug. 1784 zuGöttingen, studierte daselbst die Rechte, habilitierte sich1806, trat aber dann zur richterlichen Laufbahn über und ward1811 Generaladvokat bei dem kaiserlichen Gerichtshof zu Hamburg,1814 Assessor bei der Justizkanzlei in Celle, 1816 Hof- undKanzleirat an diesem Gerichtshof, 1824 Oberappellationsgerichtsratund 1831 Beisitzer des königlichen Geheimratskollegiums zuHannover. Er starb 18. Febr. 1833 in Celle. Während derwestfälischen Herrschaft schrieb er mehrere auf dasfranzösische Recht bezügliche Werke, wie die"Institutiones juris civilis Napoleonei" (Götting. 1808) undden "Kommentar über den Code Napoléon" (das. 1810-1811,3 Bde.). Von seinen übrigen zahlreichen Schriften nennen wir:"Einleitung in das Römisch-Justinianeische Rechtsbuch"(Hannov.1817); "Die Minnehöfe des Mittelalters" (Leipz. 1821);"Beiträge zu den deutschen Rechten des Mittelalters" (Halle1822); "Jakob Cujas" (Leipz. 1822); "Juris romani tabulaenegotiorum sollemnium" (das. 1822); "Die Lehre von demUrkundenbeweise" (Heidelb. 1827, 2 Abtlgn.). Von Strubes"Rechtlichen Bedenken" besorgte S. eine neue Ausgabe (Hannov.1827-28, 3 Bde.), wie er auch Hagemanns "PraktischeErörterungen aus allen Teilen der Rechtsgelehrsamkeit" (Bd.8-10, 1829-37) fortsetzte. Noch sind von ihm zu erwähnen:"Sammlung der Verordnungen und Ausschreiben für sämtlicheProvinzen des hannoverschen Staats bis zur Zeit der Usurpation"(Hannov. 1819-25, Tl. 1-3 und Tl. 4 in 4 Abtlgn.); "Neuesvaterländisches Archiv" (Lüneb. 1822-32, 22 Bde.);"Kommentar zur Prozeßordnung für die Untergerichte desKönigreichs Hannover" (Hannov. 1829-1830, 2 Abtlgn.); "DasOberappellationsgericht in Celle" (Celle 1833).

3) Louis, Maler, geb. 1824 zu Hamburg, war anfangs Architekt undEisenbahntechniker und wid-

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Spangenhelm - Spanien.

mete sich erst nach 1845 der Landschafts- und Architekturmalereiin München bei E. Kirchner und in Brüssel. Nachlängern Studienreisen durch Frankreich, England, Italien undGriechenland ließ er sich 1857 in Berlin nieder. SeineLandschaften, deren Motive teils Norddeutschland, teilsGriechenland und Italien entlehnt sind, zeichnen sich durchgroßartige und strenge Auffassung mit Neigung zum Stilisierenund bei meist ernster Stimmung aus. Die hervorragendsten derselbensind: Akrokorinth, die Akropolis von Athen, Bauernhof in Oldenburg,der Regenstein im Harz, norddeutscher Eichenwald, Neptuntempel undBasilika in Pästum, Theater des Herodes Atticus in Athen,Motiv aus dem Engadin, Torfmoor in Holstein. In der technischenHochschule zu Charlottenburg hat er eine Reihe vonWandgemälden mit berühmten Baudenkmälern desAltertums ausgeführt.

4) Gustav, Maler, Bruder des vorigen, geb. 1. Febr. 1828 zuHamburg, hatte 1844 den ersten Zeichenunterricht bei H. Kauffmannin Hamburg, besuchte 1845-48 die Gewerbe- und Zeichenschule inHanau unter Th. Plissier, lebte 1849-51 in Antwerpen, wo er dieAkademie jedoch nur kurze Zeit besuchte, und ging 1851 nach Paris,wo er bei Couture und dem Bildhauer Triqueti arbeitete, sich abervorwiegend durch das Studium der Meister der deutschen Renaissance(Dürer und Holbein) bildete. Nachdem er noch ein Jahr inItalien zugebracht (1857-1858), ließ er sich in Berlinnieder, wo er als Professor lebt. Von seinen frühern Bildernsind zu nennen: das geraubte Kind, der Rattenfänger vonHameln, St. Johannisabend in Köln, Walpurgisnacht. Seinen Rufbegründete S. jedoch erst durch seine Historienbilder, die imAnschluß an die altdeutschen Meister sich durch klareKomposition, Korrektheit der Zeichnung und fleißigeDurchführung des Einzelnen auszeichnen. Luthers Hausmusik,Luther als Junker Georg, Luther die Bibel übersetzend (1870,Berliner Nationalgalerie), Luther und Melanchthon, Luther im Kreiseseiner Familie musizierend und Luthers Einzug in Worms sind dieHauptbilder dieser Reihe. Den Höhepunkt seines Schaffenserreichte er in dem tief ergreifenden Zug des Todes (1876, in derBerliner Nationalgalerie), mit Figuren in der Tracht derRenaissance, welcher ihm die große goldene Medailleeinbrachte. Hinter diesem Hauptwerk blieben seine späternSchöpfungen (am Scheideweg, das Irrlicht, die Frauen am GrabChristi) an Tiefe der Empfindung und Gedankeninhalt zurück.Für das Treppenhaus der Universität Halle führte ereinen Cyklus von die vier Fakultäten versinnlichendenWandgemälden aus, wofür er 1888 zum Ehrendoktor derPhilosophie promoviert wurde.

5) Paul, Maler, geb. 26. Juli 1843 zu Güstrow(Mecklenburg), bildete sich an der Akademie zu Berlin, beiProfessor Stesseck daselbst und bei Stever in Düsseldorf, dannein Jahr lang in Paris, machte Reisen nach Spanien und Italien undließ sich 1876 in Berlin nieder, wo er als Porträtmalerthätig ist und namentlich in Damenbildnissen durch geschicktesArrangement und glänzende koloristische Behandlung desStofflichen Hervorragendes leistet.

Spangenhelm, s. Helm, S. 363.

Spangrün, s. Grünspan.

Spanheim, 1) Ezechiel, namhafter Staatsmann undRechtsgelehrter, geb. 7. Dez. 1629 zu Genf, wo sein Vater FriedrichS. (gest. 1648 in Leiden) Professor der Theologie war, studiertehier und in Leiden, wurde 1651 Professor der Beredsamkeit in seinerVaterstadt und Mitglied des Großen Rats, später Erzieherder Söhne des Kurfürsten von der Pfalz, mit denen erItalien u. Sizilien bereiste. 1665 wurde er kurpfälzischer undzugleich brandenburgischer Resident in England, trat dann ganz indie Dienste des Kurfürsten von Brandenburg, ging 1680 alsaußerordentlicher Gesandter nach Paris, wo er neun Jahreverweilte, und ward dann zum Staatsminister ernannt. Er nahm 1697teil an den Friedensverhandlungen zu Ryswyk und ging darauf vonneuem als Gesandter nach Paris, 1702 als außerordentlicherGesandter nach London, wo er 7. Nov. 1710 starb. S. besaßeine umfassende Gelehrsamkeit im Gebiet der Staaten- undRechtsgeschichte und im Münzwesen des Altertums. SeineHauptwerke sind: die "Dissertationes de usu et praestantianumismatum antiquorum" (beste Ausgabe, Lond. u. Amsterd. 1706-16, 2Bde.) und die Schrift "Orbis romanus" (Lond. 1704, Halle 1728).Wegen der sachlichen Erläuterungen sind seine Ausgaben desJulianus (Leipz. 1696) und Kallimachos (Utr. 1697, 2 Bde.) sowiedie französische Übersetzung der "Imperatores" desJulianus (beste Ausg., Amsterd. 1728) schätzenswert. Auchlieferte er Kommentare zu mehreren Komödien des Aristophanes(Amsterd. 1710). Seine wertvolle Bibliothek wurde von Friedrich I.angekauft und der königlichen Bibliothek in Berlineinverleibt.

2) Friedrich, Kirchenhistoriker, Bruder des vorigen, geb. 1632zu Genf, studierte in Leiden und erhielt nach Vollendung seinerStudien 1656 eine Professor der Theologie zu Heidelberg, 1670 zuLeiden, wo er 1701 starb. Er hat sich als Polemiker und Forscher imFach der Kirchengeschichte bekannt gemacht. Seine Werke erschienen,mit Ausnahme der in französischer Sprache geschriebenen, in 3Bänden (Leid. 1701-1703).

Spani, Prospero, ital. Bildhauer, s. Clementi 1).

Spanien (hierzu die Karte "Spanien und Portugal", bei denAlten auch Iberien, bei den Griechen Hesperien genannt, span.España, franz. l'Espagne, lat. Hispania),westeuropäisches Königreich, erstreckt sich, den beiweitem größten Teil der Pyrenäischen Halbinseleinnehmend, zwischen 36-43° 47' nördl. Br. und 9° 22'westl. - 3° 20' östl. L. v. Gr.

Übersicht des Inhalts.

Seite

Grenzen, Küsten.................63

Bodengestaltung.................64

Gewässer........................65

Klima...........................65

Vegetation, Tierwelt............66

Areal und Bevölkerung...........66

Bildungsanstalten...............67

Land- und Forstwirtschaft.......68

Bergbau und Hüttenwesen.........70

Industrie.......................71

Handel und Verkehr..............72

Wohlthätigkeitsanstalten........73

Staatsverfassung................73

Verwaltung......................74

Rechtspflege....................74

Finanzen........................75

Heer und Flotte.................75

Wappen, Orden...................75

Geograph.-statist. Litteratur...76

Geschichte......................76

S. grenzt gegen N. an Frankreich (durch die Pyrenäen davongeschieden), an die Republik Andorra und an den ViscayischenMeerbusen, gegen W. an das Atlantische Meer und an Portugal,während es im übrigen vom Atlantischen Ozean und vomMittelländischen Meer bespült wird. Der nördlichstePunkt Spaniens ist die Estaca de Vares, der westlichste das KapToriñana, beide in Galicien, der südlichste die PuntaMarroqui bei Tarifa, der östlichste das Kap de Creus. Diegrößte Ausdehnung von N. nach Süden beträgt856 und von O. nach W. 1020 km. Die Grenzentwickelung beläuftsich auf 3340 km. Die Nordküste verläuft fast geradlinig,bildet nur zwischen Gijon und Aviles sowie zwischen Rivadeo und LaCoruña bedeutendere Vorsprünge gegen N. und zeichnetsich vor den übrigen Küsten des Landes durch Schroff-

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Karte Spanien und Portugal.

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Spanien (Bodengestaltung).

heit und Unzugänglichkeit aus, indem hier die Gebirge fastüberall dicht ans Meer heranrücken. Zugänglich istsie nur an den Mündungen der Flüsse und der tief in dasLand einschneidenden Meeresarme (rias), welche namentlich an derKüste von Galicien häufig auftreten. Auch dieWestküste Spaniens trägt im ganzen diesen Charakter; dochist sie viel zugänglicher als jene, weil hier die Gebirge nurin den Kaps bis an das Meer herantreten und sich im Hintergrund derRias gewöhnlich Ebenen befinden. Die Süd- undOstküste läßt dagegen eine Anzahl weiter, flacherMeerbusen und dazwischen befindliche, in felsige Vorgebirge endendeLandvorsprünge erkennen, ist also gegliederter als die Nord-und Westküste und durch sichere Häfen zugänglich.Die wichtigsten Buchten der Südküste sind von W. nach O.die Golfe von Cadiz, Malaga und Almeria sowie die Bucht vonCartagena, an der Ostküste die Bai von Alicante und der Golfvon Valencia.

Bodengestaltung.

Was die Bodengestaltung anlangt, so besteht die PyrenäischeHalbinsel zum großen Teil aus einem das Zentrum derselbeneinnehmenden Plateau oder Tafelland von trapezoidaler Gestalt, dasein Areal von etwa 231,000 qkm (4200 QM.) bedeckt und ringsum vonGebirgen umwallt ist, auch mehrere Gebirgsmassen auf seinerOberfläche trägt. Dieses zentrale Tafelland gehörtganz und gar zu S. und besteht aus zwei großen Plateaus,einem höhern nördlichen und einem etwas niedrigernsüdlichen. Ersteres umfaßt die Hochebenen von Leon undAltkastilien, letzteres die von Neukastilien, Estremadura und dienördliche Hälfte von Murcia. Beide Plateaus sind durcheinen hohen, von ONO. nach WSW. sich erstreckenden Gebirgszug(Kastilisches Scheidegebirge) größtenteils voneinandergeschieden. Nach O. ansteigend, senken sie sich nach W., sodaß die Hauptflüsse westlichen Lauf haben, imnördlichen Plateau der Duero, im südlichen der Tajo undGuadiana, zwischen welchen beiden Flüssen sich in derwestlichen Hälfte des Plateaus das ziemlich bedeutendeGebirgssystem von Estremadura erhebt. Die Hochebene vonAltkastilien und Leon hat eine mittlere Höhe von 810, die vonNeukastilien und Estremadura von 784 m. Die vier Abhänge deszentralen Tafellandes zeigen sehr verschiedene Gestaltung. Dersteil ins Meer abstürzende Nordabhang wird vom KantabrischenGebirge, der westlichen Fortsetzung der Pyrenäen, gebildet undist sehr schmal. Weit breiter ist der östliche oder iberischeAbhang, der in mehreren terrassenartigen Absätzen in dieTiefebene von Aragonien und zum Golf von Valencia abfällt undbloß stellenweise isolierte Gebirgsmassen aufweist. Eineähnliche, wenn auch weniger deutlich ausgeprägteTerrassenbildung zeigt der südliche oder bätische Abhang,welcher bloß gegen O. (in den Provinzen Murcia und Alicante)bis an die Küste des Mittelmeers herantritt, im übrigenin die Tiefebene Niederandalusiens und zu den Küsten desAtlantischen Meers absinkt. Derselbe wird ganz von den welligenBergen der Sierra Morena eingenommen, welche sich über dieHochebenen Neukastiliens und Estremaduras nur als niedrigeGebirgskette erhebt. Der westliche oder lusitanische Abhang, derbreiteste und eigentümlichste, gehörtgrößtenteils Portugal an. Im ganzen lassen sich sechsvoneinander fast unabhängige Gebirgssysteme unterscheiden,nämlich: das pyrenäische System, das iberische Systemoder das östliche Randgebirge des Tafellandes, das zentraleSystem oder das Kastilische Scheidegebirge, das Gebirgssystem vonEstremadura oder das Scheidegebirge zwischen Tajo und Guadiana, dasmarianische System oder das südliche Randgebirge desTafellandes und das bätische System oder die Bergterrasse vonGranada (mit der Sierra Nevada, der höchsten Erhebung derHalbinsel). Die eingehendere Beschreibung dieser Gebirgssystemefindet sich in den Artikeln Pyrenäen, Kantabrisches Gebirge,Iberisches Gebirge, Sierra Morena, Sierra Nevada etc. Zwischen demiberischen und pyrenäischen Gebirgssystem breitet sich dasausgedehnte Ebrobassin oder das iberische Tiefland aus. Dasselbeerstreckt sich von NW. nach SO. und mißt gegen 300 km in derLänge und gegen 150 km in der Breite. Es zerfällt in einenordwestliche kleinere und eine südöstlichegrößere Abteilung, welche, durch Höhenzügevoneinander getrennt, bei Tudela ineinander übergehen.Während das obere Bassin ein eigentliches Plateau bildet,dessen tiefste Punkte noch eine absolute Höhe von mehr als 300m haben, trägt das untere Ebrobassin, wenigstens in seinerletzten Hälfte, wo es sich bedeutend erweitert, mehr denCharakter eines Tieflandes, dessen tiefste Punkte, z. B. dieSalzseen von Bajaraloz, ungefähr 100 m ü. M. liegen.Beide Bassins enthalten neben höchst fruchtbaren Strecken auchweite öde Steppengebiete. Zwischen dem bätischen undmarianischen Gebirgssystem breitet sich das bätische Tieflandoder das Bassin des Guadalquivir aus, welches sich von ONO. nachWSW. erstreckt, 330 km lang und bis 90 km breit ist und ebenfallsin zwei Hauptabteilungen zerfällt: das kleine Becken des obernGuadalquivir und das fünfmal so große Bassin desmittlern und untern Guadalquivir. Während jenes einentschiedenes Plateau ist, das sich bis 475 m ü. M. erhebt undnicht tiefer als bis 160 m herabsinkt, bildet das letztere oderNiederandalusien ein Flachland, welches durch den Jenil in zweiungleiche Stücke geteilt wird. Das östliche kleinereStück, die Campiña de Cordova bildet eine hügeligeFläche mit bis über 130 m ansteigenden Punkten; dasrestliche größere, die Ebene von Sevilla, eineigentliches Tiefland, dessen Boden sich nirgends über 80 mü. M. erhebt. Das Bassin des Ebro und das des Guadalquivirsind alte Meeresgolfe und daher mit brackischenmitteltertiären Ablagerungen erfüllt. Durch jenes werdendie Pyrenäen (s. d.) mit ihrem Terrassenabfall nach Katalonienund Aragonien, durch dieses die Gebirge von Granada mit der SierraNevada in der Art vom Hauptkörper des spanischen Hochlandesgetrennt, daß dieselben nur an ihren Enden mit ihm durchBerg- und Plateaulandschaften in Verbindung stehen.

Was die geognostische Beschaffenheit des Landes betrifft, sospielen die plutonischen Eruptivgesteine und die ältern oderprimären Sedimentärgesteine eine hervorragende Rolle,namentlich in der südwestlichen Hälfte der Halbinsel, woGranit, Gneis und andre kristallinische Gesteine, Thonschiefer undGrauwacke fast ausschließlich vorherrschen, während inder nordöstlichen Hälfte die jüngern Sedimentevorwiegend sind. Nur in der Pyrenäenkette und längs derKüste von Katalonien (zwischen dem Golf von Rosas undBarcelona) treten Gneis und kristallinische Sedimentärgesteinewieder in bedeutender Mächtigkeit auf. Unter densekundären Sedimenten erscheinen die Glieder der Kreide-, derjurassischen und der Triasperiode am meisten verbreitet. DieKreideformation umfaßt namentlich den größten Teilder Kantabrischen Kette, der Pyrenäischen Terrasse und denNordrand des nördlichen Tafellandes und tritt

Spanien (Gewässer, Klima).

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außerdem am Ost- und Südrand des Plateaus vonAltkastilien und im westlichen Teil des zentralen Gebirgssystemssowie im nordwestlichen Randgebirge der Terrasse von Granada auf.Die ältern Sekundärformationen, wie die Gesteine derSteinkohlenformation, treten nur in geringem Umfang und zerstreutauf. Gleichwohl besitzt S. so gewaltige Steinkohlenbecken,daß, wenn dieselben gehörig aufgeschlossen wären,das Land nicht nur keiner fremden Kohlen mehr bedürfte,sondern sogar bedeutende Mengen ausführen könnte. Ammeisten ist die Steinkohlenformation in Asturien, Leon undAltkastilien entwickelt. Eine ungeheure Verbreitung haben dannwieder die tertiären und diluvialen Ablagerungen, die nichtnur den bei weitem größten Teil der beidenZentralplateaus, sondern auch die Becken des Ebro, desGuadalquivir, des mittlern Guadiana und des untern Tajoerfüllen. Diese Ablagerungen enthalten sehr viel Salz.Vulkane, aber schon seit vorgeschichtlicher Zeit erloschen, findensich vereinzelt, z. B. bei Rio Tinto, Ciudad Real in der Mancha,Gerona etc. Sehr verbreitet, besonders in der südwestlichenHälfte (z. B. Estremadura), sind Eruptionen derverschiedenartigsten Porphyre und Grünsteine, daher auch dashäufige Vorkommen metamorphosierter Gesteine, im SW.namentlich metamorphischer Schiefer. Über den ReichtumSpaniens an Erzen und Mineralien s. den Abschnitt "Bergbau undHüttenwesen" (S. 70).

Gewässer.

In hydrographischer Hinsicht zerfällt das Land in dasGebiet des Atlantischen Ozeans und das des Mittelmeers, welchletzterm sein östliches Dritteil angehört. DieWasserscheide zwischen beiden Gebieten beginnt auf den Paramerasvon Reinosa am Südrand der Kantabrischen Kette, wo dieQuellbäche des Ebro und des in den Duero sichergießenden Pisuerga nicht 10 km weit voneinander entferntauf einer vollkommen ebenen Fläche entspringen, und endigt ander Meerenge von Gibraltar, indem sie über den Kamm desiberischen Gebirgszugs (Sierra de la Demanda, Pico de Urbion,Sierra del Moncayo, die Parameras von Molina) bis zur Sierra deAlbarracin läuft, dann das Plateau von Neukastilien schneidetund über die Sierra de Alcaraz und das Gebirge von Segura aufdie Plateaus der Terrasse von Granada übergeht, derenöstliches Randgebirge ihr letztes Stück bildet. Derwestlichen Abdachung zum Atlantischen Ozean gehören an: derDuero, Tajo, Guadiana und Guadalquivir, der östlichen zumMittelmeer der Ebro. Unter den zahlreichen Küstenflüssenzeichnen sich die der Nordküste dadurch aus, daß sietrotz ihrer unbedeutenden Länge in ihrem untersten Laufschiffbar sind. Die beträchtlichsten sind von O. nach W.:Bidassoa, Orio, Deva, Nervion, Besaya, Nalon, Navia, Rivadeo,Landrone, Mandeo und Allones. Die Flüsse der Westküstesind zwar länger, doch meist gar nicht schiffbar; diebedeutenden sind: der Tambre, Ulla und besonders der Minho(Miño). Die Südküste hat zwar viele Flüsse,doch nur einen einzigen im untersten Lauf schiffbaren, nämlichden Guadalete; außerdem verdienen noch der Odiel und RioTinto Erwähnung sowie zwischen der Meerenge von Gibraltar unddem Kap Palos: der Guadiaro, Guadalhorce, Rio de Almeria,Almanzora. Auch die lange Ostküste hat nur zwei schiffbareKüftenflüsse aufzuweisen, den Segura und Llobregat.Nächstdem sind zu nennen: der Jucar, Turia oder Guadalaviar,Millares (Mijares), Tordera, Ter und Fluvia. GrößereSeen gibt es nur an der Süd- und Südostküste,nämlich die Strandseen Albusera und Mar Menor und die Lagunade la Janda in der Nähe der Meerenge von Gibraltar. KleinereSeen sind: die wegen ihrer mephitischen Ausdünstungberüchtigte Laguna de la Nava bei Palencia, die salzhaltigeLaguna de Zoñar in der bätischen Steppe und diegleichfalls salzige Laguna de Gallocanta im Süden von Darocaam Ostabhang des Tafellandes. Sehr zahlreich sind dieMineralquellen; von 1500, die S. besitzt, sind aber erst etwa 325untersucht. Die kälteste ist die Schwefelsaline zu Loeches inNeukastilien (15° C.), die heißeste die Fuente de Leon zuMombuy in Katalonien (70° C.).

Klima.

Die eigentümliche Plastik des Landes hat eine großeVerschiedenheit des Klimas zur Folge. Es lassen sich dreiklimatische Zonen unterscheiden: eine mitteleuropäische oderkältere gemäßigte Zone, zu welcher dergrößte Teil der Nordküste, die nördlichenGegenden der Hochebene von Leon und Kastilien und das Plateau vonAlava gehören; eine afrikanische oder subtropische, welcheAndalusien bis zur Sierra Morena, Granada, diesüdöstliche Hälfte von Murcia und densüdlichsten Teil von Valencia begreift, und einesüdeuropäische oder wärmere gemäßigteZone, welche alles übrige Land umfaßt. In dermitteleuropäischen Zone haben die Litoral- und tiefergelegenen Gegenden ein sehr angenehmes Klima, indem die Temperaturselbst im heißesten Sommer nicht leicht über +33° C.steigt, an den kältesten Wintertagen kaum unter -3° sinktund Frost und Schneefall nur vorübergehend auftreten. DieAtmosphäre ist meist feucht, Regen besonders im Herbst undFrühling häufig. Die Thäler der Nordküstegehören zu den gesündesten Gegenden Europas. Ein ganzandres Klima herrscht auf den Hochflächen des altkastilischenTafellandes; hier sind heftiger Frost und starker Schneefall schonim Spätherbst keine Seltenheit, und während des Wintersist durch Schneemassen oft wochenlang alle Kommunikationunterbrochen. Im Frühling bedecken kalte Nebel oft tagelangdas Land, und im Sommer herrscht glühende Hitze, die seltendurch Regen gemäßigt wird. Dabei sind in jederJahreszeit Stürme häufig. Erst die von Regengüssenbegleiteten Äquinoktialstürme bringen dem Plateaulandangenehme Witterung. Von Ende September bis November ist der Himmelfast stets unbewölkt, und die Fluren bedecken sich mitfrischem Grün; doch oft schon im Oktober machenFrühfröste diesem zweiten Frühling ein Ende. EinenGegensatz zu diesem der Gesundheit sehr nachteiligen Klima bietendie innerhalb der südeuropäischen Zone gelegenenKüstenstriche dar, namentlich die FlußthälerSüdgaliciens, wo ein gleichmäßiges, mildesKüstenklima herrscht, indem die mittlere Temperatur desSommers ungefähr +20°, die des Winters +16°beträgt und Frost und Schnee selten, Regen und Tau häufigsind. Die Ebenen und Thäler der Südost- und Ostküstehaben im allgemeinen ein dem des südlichen Frankreichentsprechendes, nur wärmeres Küstenklima, doch nicht ohnebedeutende und häufige Temperaturschwankungen. Dieafrikanische Zone der Halbinsel ist dadurch ausgezeichnet,daß in ihren Tiefebenen, Küstengegenden und tiefenThälern Schnee und Frost fast unbekannte Erscheinungen sind,indem die Temperatur höchst selten bis 3° sinkt. Dieheißesten Gegenden sind die Südostküste bisAlicante sowie die angrenzenden Ebenen, Hügelgelände undPlateaus von Murcia und Ostgranada. Weit gemäßigter sinddie Küstengegenden Niederandalusiens. Der glühendheiße, alle Vegetation versengende Solano (Samum) suchtam

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd.

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Spanien (Pflanzen- und Tierwelt, Areal undBevölkerung).

häufigsten die südöstlichen Küstenstricheheim. Im übrigen ist das Klima in den niedern Gegenden derafrikanischen Zone ein angenehmes Küstenklima mit einermittlern Temperatur, die nicht leicht über +24,5° steigtoder unter +12° C. fällt. Der eigentliche Frühlingbeginnt hier Ende Februar und dauert an der Küste bis MitteMai, im Innern bis Anfang Juni. Während des Sommersvertrocknet auch hier die Vegetation, wie auch dieÄquinoktialregen einen zweiten Frühling hervorzaubern,welcher aber nicht schnell verfließt, wie im Plateauland,sondern durch den minder blütenreichen Winter, fast dieangenehmste Jahreszeit jener Gegenden, in den eigentlichenFrühling übergeht. Die Ebenen und Küstengegenden derafrikanischen Zone haben folglich acht Monate Frühling undvier Monate Sommer. Was die eigentlichen Gebirgsgegenden anlangt,so lassen sich hier fünf Regionen unterscheiden: die untereoder warme (bis 800 m) mit 27-17° mittlerer Temperatur, dieBergregion (800-1600 m) mit 16-9°, die subalpine Regton(1600-2000 m) mit etwa 8-4°, die alpine Region (2000-2500 m)mit 3°-0, die Schneeregion (2500-3500 m) mit einer mittlernJahrestemperatur von wahrscheinlich unter 0. In den Pyrenäenfindet sich ewiger Schnee nur in der Zentral- und östlichenKette, wo die Grenze desselben auf der spanischen Seite bei 2780 mliegt. In der Sierra Nevada, dem höchsten Gebirge Spaniens,nimmt man die Schneelinie am Nordabhang bei 3350, am Südabhangbei 3500 m an, weshalb hier bloß die höchsten Gipfel,und auch diese sparsam, mit ewigem Schnee bedeckt sind.

Pflanzen- und Tierwelt.

Die Verschiedenheit des Klimas und der Bodengestaltung hat einegroße Mannigfaltigkeit der Flora und Fauna zur Folge.Hinsichtlich des Charakters der Vegetation zerfällt S. infolgende fünf Vegetationsregionen: 1) die nördliche odermitteleuropäische mit mitteleuropäischer Flora (Eichen,Buchen, edle Kastanien, Erlen, Ulmen, Obst- undWalnußbäume, Getreide- und Gemüsebau; Weinbau nurin günstigen Lagen); 2) die peninsulare oder zentrale (Alpen-und Pyrenäenpflanzen, Heiden mit Cistineen, Thymian und andernLabiaten, Ginster, Centaureen, Disteln, Artemisien, hier und daausgedehnte Nadelwälder sowie Bestände vonimmergrünen Eichen und Kastanien); 3) die westliche oderatlantische, im N. mit vorwiegend mitteleuropäischer, im S.mit bereits an Afrika erinnernder Vegetation (Ölbaum,Orangen-, Feigen- und Mandelbaum, Weinbau, Lorbeer, Cypresse,Agave, indische Feige, Dattel- und Zwergpalme, Johannisbrotbaum,Cistusheiden mit Myrten, Pistazien und andern immergrünenSträuchern; in der Bergregion Eichen, Kastanien, Wacholder,Obstbau, Alpentristen); 4) die östliche oder mediterrane(Labiatenheiden und öde Steppen, Gehölze vonimmergrünen Eichen und von Kiefern, Ölbaum, Wein-undWeizenbau, Maulbeer-, Feigen- und Mandelbaum, Pfirsisch- undAprikosenbaum, Walnußbaum, Mais, Hanf, Flachs; im SüdenOrangen-, Johannisbrotbaum, Dattel- und Zwergpalme, Artischocken-und Melonenbau, in den sumpfigen Niederungen Reis); 5) diesüdliche oder afrikanische Region bis zur Höhe von ca.630 m, charakterisiert durch das Vorherrschen solcher Pflanzen,welche Nordafrika, Sizilien, Ägypten, Syrien, Kleinasien etc.eigentümlich sind, und durch die Kultur subtropischer undtropischer Gewächse (Zuckerrohr, Baumwolle, Batate,Kochenillekaktus etc.). Nicht minder mannigfaltig und ausgezeichnetist die Tierwelt, die außer Arten der unter entsprechenderBreite gelegenen Länder Europas und außer einer Mengeder Halbinsel eigentümlicher zahlreiche Vertreter der FaunaAfrikas, ja selbst des Orients und Innerasiens aufweist. Dieeuropäische Zone, im allgemeinen der mitteleuropäischenVegetationsregion entsprechend, wird charakterisiert durchmitteleuropäische Tiere (darunter der Wolf,Siebenschläfer, Schneehase, die Gemse, Wildkatze, derPyrenäensteinbock, der Bartgeier, Aasgeier etc.). Die mittlereoder südeuropäische Zone, die zentrale westliche undöstliche Vegetationsregion umfassend, weist ein buntes Gemischeuropäischer und afrikanischer Tierformen (Pantherluchs,Genettkatze, Ichneumon, südliche Geier-, Adler- undFalkenarten, Schrei- und Klettervögel etc., zahlreicheSchmetterlinge, Skorpione etc.) auf. Die südliche oderafrikanische Zone zeigt viele echt afrikanische Tierformen(darunter der nordafrikanische Affe am Gibraltarfelsen, dasDromedar, afrikanische Vögel, Chamäleon etc.) nebenandern nur im südlichsten Europa vorkommenden oder auch S.eigentümlichen (spanischer Steinbock auf der Sierra Nevada,spanischer Hase, Flamingo etc.).

Bevölkerungsverhältnisse.

Das Areal von S. und zwar des europäischen Mutterlandes mitEinschluß der Balearen und der Kanarischen Inseln sowie dernordafrikanischen Besitzungen beträgt 504,552 qkm (9163,6QM.). Die Bevölkerung bezifferte sich nach dem letzten Zensusvom 31. Dez. 1877 auf 16,634,345 Einw., deren Verteilung auf dieeinzelnen Provinzen aus nebenstehender Tabelle ersichtlich ist.

Die Vermehrung der spanischen Bevölkerung ist eine sehrschwache; sie belief sich gegenüber der im J. 1857vorgenommenen ersten ordentlichen Volkszählung, welche15,464,340 Einw. ergab, 1877 nur auf 1,170,005 Seelen oder pro Jahrkaum auf 0,4 Proz. Der Grund liegt, abgesehen von den vielfachenKriegen, welche S. im Innern und in den Kolonien zu bestehen hatte,in einer beträchtlichen Auswanderung, insbesondere nachSüdamerika und nach Algerien (Provinz Oran). Für Ende1886 wurde die Bevölkerung mit 17,358,404 Einw. berechnet.Bemerkenswert in der Verteilung der Bevölkerung ist, daßdie Dichtigkeit derselben vom Zentrum gegen die Peripherie hinzunimmt. Die schwächste relative Bevölkerung weisen dieProvinzen Ciudad Real und Cuenca auf (13 und 14 Einw. auf dasQKilometer), am dichtesten bevölkert (über 100 Einw. aufdas QKilometer) sind Barcelona und Pontevedra. Nach dem Geschlechtentfallen auf je 1000 männliche Personen 1044 weibliche. Nachdem Geburtsland waren von der (1877) anwesenden Bevölkerunggeboren: in S. 16,591,796, in Frankreich 17,657, in Portugal 7941,in Großbritannien 4771, in Italien 3497, in Deutschland952.

Die spanische Nation ist ein Gemisch verschiedenerVölkerschaften. Zu den alten Iberern gesellten sich anfangsKelten, dann Phöniker und Karthager, hierauf Römer, dannGoten; später mischten sich Juden, Berber und Araber (dieseinsbesondere in Andalusien, Murcia und Valencia), endlich auchNeger (aus Marokko und weiterher) bei. Die herrschende Sprache istdie kastilische; daneben wird das Katalonische (ein demProvençalischen verwandtes Idiom) in Katalonien, Valenciaund den Balearen, das Baskische (in den baskischen Provinzen und inNavarra) und das Galicische (welches sich dem Portugiesischen sehrnähert) gesprochen. Die spanische Sprache ist übrigensals Weltsprache in Mittel- und Südamerika stark verbreitet undgewinnt dadurch immer wachsende Bedeutung.

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Spanien (Volkscharakter, geistige Kultur).

Areal Spaniens.

Einwohner

Provinzen QKilometer QMeilen Ende 1877 Ende 1886 auf 1 qkm

Alava . . 3045 55,3 93538 99034 33

Albacete. . 14863 269,9 219058 221894 15

Alicante . . 5660 102,8 411565 423808 75

Almeria . . 8704 158,1 349076 358486 41

Avila . . 7882 143,2 180436 193565 25

Badajoz. . 21894 397,6 432809 469952 21

Barcelona . 7691 139,7 836887 861212 112

Burgos . . 14196 257,8 332625 351293 25

Caceres . . 19863 360,8 306594 329707 17

Cadiz¹ . . 7342 133,3 429206 433516 59

Castellon . 6465 117,4 283981 298965 46

Ciudad Real 19608 356,1 260358 285341 15

Cordova . . 13727 249,3 385482 406059 30

Coruña . . 7903 143,5 596436 623575 79

Cuenca . . 17193 312,3 236253 245112 14

Gerona . . 5865 106,5 299702 309992 53

Granada . 12768 231,9 479066 480594 38

Guadalajara 12113 220,0 201288 207030 17

Guipuzcoa . 1885 34,2 167207 181673 97

Huelva . . 10138 184,1 210447 227116 22

Huesca . . 15149 275,1 252239 263634 17

Jaen. . . 13480 244,8 423025 436184 32

Leon ... 15377 279,3 350210 378098 25

Lerida . . 12151 220,7 285339 290856 24

Logroño . . 5041 91,6 174425 179897 36

Lugo ... 9881 179,5 410810 429430 43

Madrid . . 7989 145,1 594194 590065 74

Malaga. . 7349 133,5 500322 522376 71

Murcia . . 11537 209,5 451611 462039 40

Navarra. . 10506 190,8 304184 321015 30

Orense . . 6979 126,8 388835 399552 57

Oviedo . . 10895 197,9 576352 596856 55

Palencia . 8434 153,2 180771 190724 23

Pontevedra. 4391 79,8 451946 467289 106

Salamanca 12510 227,2 285695 311428 25

Santander . 5460 99,2 235299 248753 46

Saragossa . 17424 316,5 400587 401386 23

Segovia . . 6827 124,o 150052 160111 23

Sevilla . . 14062 255,4 506812 526864 37

Soria . . 10318 187,2 153652 162555 16

Tarragona . 6490 117,9 330105 345601 53

Teruel . . 14818 269,1 242165 250823 17

Toledo . . 15257 277,1 335038 357886 23

Valencia . 10751 195,3 679046 692245 64

Valladolid . 7569 137,5 247458 261254 35

Viscaya . . 2165 39,3 189954 204043 94

Zamora . . 10615 192,8 249720 274312 26

Zusammen : 492230 8939,9 16061860 16733200 34

Balearen . 5014 91,o 289035 311652 62

Kanarische Inseln 7273 132,1 280974 311030 43

Spanien: 504517 9163,o 6631869 17355882 34

In Nordafrika² 35 0,6 [ 2476 2522 72

Totalsumme: 504552 9163,6 16634345 17358404 34

1 Mit Ceuta. - 2 Ohne Ceuta, welches zu Cadiz gehört.

Die Kolonien oder überseeischen Besitzungen (s. Karte"Kolonien" mit Tabelle), nur noch ein geringer Überrest vonden unermeßlichen Gebieten, welche S. einst beherrschte,umfassen zur Zeit

in Amerika: QKilom. QMeilen Einw.

Cuba. ........ 118833 2158,13 1521684

Puerto Rico ...... 9315 169,17 754313

in Asien:

Philippinen ...... 293726 5334,37 5559020

Sulu-Inseln . ..... 2456 44,60 75000

in Ozeanien :

Marianen ....... 1140 20,72 8665

Karolinen ....... 700 12,71 22000

Palau ... 750 13,62 14000

in Afrika (Guinea):

Fernando Po, San Juan etc. 2200 39,95 68656

Zusammen: 429120 7793,27 8023383

Die Spanier sind im allgemeinen ein körperlichwohlgebildetes Volk, meist mittlerer Statur, hager, mit schwarzemHaar. Die Frauen zeichnen sich durch feurige Augen und anmutigesWesen aus, entwickeln sich sehr frühzeitig, altern aber auchbald. Der Spanier ist nüchtern, mäßig, mutig, vollNationalstolz, aber auch rachgierig, bigott und träge.Nationalkleid der Männer ist der rund geschnittene, den ganzenKörper umhüllende spanische Mantel (capa), das der Frauendie Mantilla, welche mit einem Kamm am Kopf befestigt und überder Brust gekreuzt wird. Die vorherrschende Farbe der Kleidung istdie schwarze. Im übrigen wechselt die Tracht in den einzelnenProvinzen bedeutend. Die höhern Stände habengegenwärtig meist die französische Mode angenommen.Hauptvergnügen sind der Tanz, der mit Gesang oderKastagnetten, Tamburin und Guitarre begleitet wird, und dieStiergefechte. Was die Konfession betrifft, so waren 16,603,959Katholiken, 6654 Protestanten, 4021 Israeliten, 9645 Rationalisten,271 Mohammedaner, 209 Buddhisten etc. Nach der Staatsverfassunggilt die römisch-katholische Religion als Staatskirche; dochdarf niemand wegen seiner Konfession und wegen der Ausübungseines Kultus, sofern die christliche Moral nicht darunter leidet,behelligt werden. Für die Leitung der geistlichenAngelegenheiten der katholischen Kirche gibt es in S. 9Erzbischöfe (zu Toledo, Primas von S., Burgos, Granada,Santiago, Saragossa, Sevilla, Tarragona, Valencia und Valladolid)und 45 Suffraganbischöfe. Bischöfliche Jurisdiktionübt auch der Patriarch von Indien aus, indem derselbeGeneralvikar des Heers und der Flotte ist. Der unterstehende Klerusbeziffert sich mit ca. 40,000 Weltgeistlichen, 800 Mönchen und13,000 Nonnen. Eigentliche Mönchsklöster bestehen nichtmehr, da dieselben bereits 1841 gesetzlich aufgehoben wurden. Essind nur 41 Häuser solcher religiöser Orden geblieben,welche sich der Heranbildung von Missionären, demJugendunterricht oder der Krankenpflege widmen. ProtestantischeGemeinden gibt es 60.

Bildungsanstalten.

In Bezug auf die geistige Kultur steht das spanische Volk trotzseiner Begabung wegen des mangelhaften Volksunterrichts noch aufeiner tiefen Stufe, was darin seine Erklärung findet,daß bis 1808 das öffentliche Unterrichtswesen ganz inden Händen des Klerus war. Für den Elementarunterrichtbestehen (1881) 29,828 Volksschulen. Der Schulbesuch istobligatorisch. Während 1797 nur 393,126 Kinder die Volksschulebesuchten, stieg diese Zahl allmählich, namentlich infolge dergesetzlichen Reformen der Jahre 1838, 1847 und 1857, auf 663,711 imJ. 1848, auf 1,046,558 im J. 1861 und auf 1,769,608 im J. 1881.Normalschulen bestehen zur Heranbildung von Lehrern 47, fürLehrerinnen 29. Zu den Sekundärschulen gehören die seit1845 anstatt der frühern Lateinschulen bestehenden Institute(institutos de segunda enseñanza), in welchen in einemsechsjährigen Kursus die humanistischen und Realstudienbetrieben werden. Solcher Institute gibt es 61 mit ca. 35,000Schülern. Neben ihnen bestehen die Colegios,Privatvorbereitungsschulen zu den Universitäts- undSpezialstudien. Universitäten hat S. 10: zu Madrid, Barcelona,Granada (jede mit 5 Fakultäten, für Philosophie undLitteratur, exakte Wissenschaften, Pharmazie, Medizin, Rechte), zuSalamanca, Sevilla, Valencia (jede mit 4 Fakultäten, dieobigen ohne Pharmazie), Santiago und Saragossa (je 3Fakultäten, erstere für Medizin, Pharmazie und Rechte,letztere für Philosophie, Medizin und Rechte), Valladolid (2Fakul-

68

Spanien (Landwirtschaft).

täten, für Medizin und Rechte), Oviedo (eine Fakultut,für Rechte). Alle Universitäten zählen zusammen 475Professoren und Dozenten und gegen 16,000 Studierende. Mit 7Universitäten ist je eine Notariatsschule verbunden.Höhere technische Lehranstalten sind: eine Architekturschule,eine Schule für Handel und Industrie und eine Ingenieurschulefür Wege-, Kanal- und Hafenbau in Madrid; ferner eine Schulefür industrielle Technik in Barcelona. Zu den Fachschulengehören: die theologischen Seminare in den Bischofsitzen, diekönigliche Schule für Diplomatik in Madrid, die neunnautischen Schulen, die königliche Agrikulturschule in Madrid,die königliche Forstingenieurschule im Escorial, dielandwirtschaftliche Schule in Cordova, die Lehranstalten fürTierheilkunde in Madrid, Cordova, Leon und Saragossa, diekönigliche Bergwerksingenieurschule in Madrid, dieSteigerschule in Almaden, die königliche Schule derschönen Künste, die Nationalschule für Musik undDeklamation (beide in Madrid), die Provinzialschulen fürschöne Künste in Barcelona, Sevilla, Valencia undValladolid, die Akademien für den Generalstab in Madrid,für die Artillerie zu Segovia, für das Ingenieurkorps inGuadalajara, für die Kavallerie in Valladolid, die allgemeineMilitärakademie in Toledo, die Seeschule in Ferrol. Zu denBeförderungsmitteln der intellektuellen Bildung gehörenaußerdem acht Akademien (davon sieben zu Madrid) und dieöffentlichen Bibliotheken, von denen die Nationalbibliothek zuMadrid und die des Escorial die hervorragendsten sind. Diebedeutendsten historischen und Kunstsammlungen sind: diekönigliche Rüstkammer, das königliche Münz- undAntiquitätenkabinett, das königliche Museum fürGemälde und Skulpturen, das Nationalmuseum fürGemälde und das naturhistorische Museum, sämtlich zuMadrid. Botanische Gärten sind zu Madrid und Valencia, einastronomisch-meteorologisches Observatorium besitzt Madrid.

Land- und Forstwirtschaft etc.

Unter den Nahrungszweigen der Bevölkerung von S. nimmt derBetrieb der Landwirtschaft die erste Stelle ein. Dabei steht aberdie Bodenbehandlung noch auf einer sehr unbefriedigenden Stufe. DieDüngung ist eine ganz primitive, und auch in Bezug auflandwirtschaftliche Geräte und Betriebsart haben dieErfahrungen und Verbesserungen der Neuzeit fast gar keinen Einganggefunden. Zu Anfang des 19. Jahrh. war noch ein sehr großerTeil vom Grund und Boden im Besitz der Toten Hand, d. h. desKlerus, der Gemeinden, der milden Stiftungen und des Staats. DerVerkauf der Kirchengüter wurde bereits 1820 und 1841angeordnet sowie durch das Gesetz vom 1. Mai 1855 bestätigt,welches überhaupt allen Grundbesitz und alle Grundzinsen derToten Hand der Veräußerlichkeit unterwirft. Die Bauernsind persönlich frei und teils Eigentümer ihrer in derRegel kleinen Grundstücke, teils Erbpachter. Der produktiveBoden umfaßt im ganzen 79,6 Proz. der Gesamtfläche, undzwar kommen 33,8 Proz. auf Äcker und Gärten, 3.7 aufWeinland, 1,6 auf Olivenpflanzungen, 19,7 auf natürlicheWiesen und Weiden und 20,8 Proz. auf Wald. Der Boden bedarf in S.zur Ertragsfähigkeit in der Regel künstlicherBewässerung, zu welchem Behuf großartige Anlagen teilsdurch die Regierung, teils durch Vereine, teils durch großeGrundbesitzer und Kommunen hergestellt worden sind; gleichwohlmachen die bewässerten Ländereien nur einen kleinen Teilder produktiven Bodenfläche aus. Am besten angebaut ist derBoden in den Provinzen Palencia, Pontevedra, Coruña,Valladolid und Barcelona, am wenigsten in den Provinzen Oviedo,Huelva, Almeria und Santander. Die spanischen Staatsökonomenunterscheiden in S. sieben Kulturregionen, nämlich die Regiondes Zuckerrohrs, der Orangen, des Ölbaums, des Weinstocks, derCerealien, der Wiesen und Triften, der Heiden. Der Getreidebau istzwar fast überall ein wichtiger Zweig der Landwirtschaft, ambedeutendsten aber auf den Ebenen beider Kastilien, in Leon und imGuadalquivirbecken. Die jährliche Getreideproduktionbeläuft sich bei einer guten Mittelernte auf nachfolgendeMengen:

Weizen ..... 61142000 hl

Hafer ...... 4481000 hl

Roggen ..... 11629000 hl

Mais ....... 13173000 hl

Gerste ..... 27792000 hl

Reis ....... 1212000 hl

Am meisten wird Weizen gebaut, Roggen und Gerste besonders inden nördlichen, Mais in den südlichen Provinzen. Inletztern kommen an verschiedenen Orten, aber vereinzelt, Reisfeldervor, während sie in der Provinz Valencia eineHauptnahrungsquelle bilden. Einen Exportartikel bildet Weizenmehl,insbesondere für die Provinz Valladolid. Der Anbau vonKartoffeln ist minder bedeutend (18,3 Mill. hl Ertrag), jener vonHülsenfrüchten dagegen sehr ausgedehnt, indem Erbsen undBohnen eine Lieblingsspeise der Spanier bilden und in großenMengen als Feldfrüchte gezogen werden (Ertrag an Kichererbsen2,354,000hl). Kein Staat in Europa produziert so mannigfache Artenvon Gemüse wie S., wo die gartenmäßige Kulturinsbesondere in der Provinz Valencia betrieben wird. Außerden gewöhnlichen Küchengewächsen werden kultiviert:spanischer Pfeffer, der Liebesapfel (Lycopersicum esculentum) imgroßen, die Wassermelone, die Schlangengurke, derKalebassenkürbis, stellenweise die tropische Batate (Batatasedulis) und die Erdnuß (Cyperus esculentus). Dieverbreiterten Gartengewächse sind: Kohl, Salat, Zwiebeln,Knoblauch, Gurken, Artischocken, Erdbeeren. Gemüse undGartenfrüchte geben auch einen nicht unbedeutendenExportartikel ab. Die Runkelrübe kennt man dagegen nur alsViehfutter. Die Handelsgewächse des Landes sind: Hanf (ambesten in Granada und Murcia), Flachs, Waid, Safran,Süßholz, Zuckerrohr, welches an der südlichen undöstlichen Küste, namentlich in der Provinz Malaga, gebautwird, und zwar infolge gesetzlichen Schutzes in steigendemMaß, Raps in den nördlichen Provinzen, Kümmel inder Mancha; ferner Senf, Mohn, Sesam, Rizinus und andreÖlpflanzen. Die Baumwollstaude, welche noch vor 30 Jahreneinen Ausfuhrartikel für die Balkarischen Inseln bildete, wirdgegenwärtig fast gar nicht mehr kultiviert. Der Tabaksbau istuntersagt. Espartogras (s. d.), das im Süden Spaniens unweitder Seeküste ohne irgend eine Pflege reichlich wächst,wird zu verschiedenen Flechtwerken, Seilen, Lauftüchern,Bundschuhen etc. sowie zur Papierfabrikation verwendet und ingroßen Mengen exportiert (jährlich ca. 400,000 metr.Ztr.). Ein wichtiger Zweig der Bodenkultur ist die Fruchtbaumzucht.Neben den mitteleuropäischen Obstarten, Wal- undHaselnüssen findet man die schönsten Kastanienwälderund die verschiedenartigsten Südfrüchte (Orangen,Zitronen, Granaten, Feigen, Mandeln, Datteln, Johannisbrot,indische Feigen, Bananen) nicht nur längs der Küste undin den südlichen Provinzen, sondern auch in den warmenFlußthälern des Nordens. Die Südfrüchte sowiedie Wal- und Haselnüsse bilden einen ergiebigenAusfuhrartikel. 1886 wurden an Orangen 816,666, Zitronen 73,493,Mandeln 27,730 und Haselnüssen 40,090 metr. Ztr. ex-

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Spanien (Viehzucht, Jagd, Fischerei, Forstwesen).

portiert. Ausgedehnte Landstriche sind namentlich im Südender Olivenkultur eingeräumt, welche einen wichtigenExportartikel liefert. Doch steht das spanische Öl wegenschlechter Behandlung der Frucht in geringem Preis und wirdgroßenteils erst im Ausland, namentlich in Frankreich,raffiniert. Die Produktion, welche vornehmlich in Andalusien,Murcia, Valencia, Aragonien und Katalonien vertreten ist, ergibt ingünstigen Jahren ca. 2,5 Mill. hl Öl; die Ausfuhrbeträgt im Durchschnitt der letzten Jahre 250,000 metr. Ztr.In den letzten Jahren hat sich der Anbau von Cacahuetes oder Mani,einer Art Pistazie, aus der ein billiges und brauchbares Ölbereitet wird, zu einem besondern Zweig der landwirtschaftlichenThätigkeit in der Provinz Valencia herausgebildet. WichtigeBodenkulturzweige sind noch die in großem Maßstabbetriebene Maulbeerbaum- und die Weinkultur. Durch diegeographische Lage und durch die klimatischen Verhältnissebegünstigt, bringt das Land die feurigsten Weine in allenAbarten und in großer Menge hervor. Der durchschnittlicheErtrag beläuft sich auf mehr als 20 (1887: 28) Mill. hl. Dieberühmtesten Weine sind die andalusischen, insbesondere dievon Jeres de la Frontera, Puerto de Santa Maria und Malaga. DerExport dieser Weine geht hauptsächlich nach England undAmerika. Von den katalonischen Weinen sind nur die Sorten von Reusund Tarragona vorzüglich, von den Valenciaweinen die rotenBenicarloweine geschätzt. Die Alicantiner Weine sind sehr feinund ziemlich alkoholreich. Die kastilischen Weine, darunter derausgezeichnete Manchawein (Valdepeñas), werden meist imInland konsumiert. Die Aragonweine sind am dunkelsten, feinsten undam wenigsten säuerlich. Vorzügliche Weingegenden sindaußerdem: Südnavarra, das untere Duerothal, Viscaya,Orense, die Gegend von Plasencia und die Serena in Estremadura,endlich Mallorca (vgl. Spanische Weine). Großen Absatz findendie spanischen Weine seit den letzten Jahren in Frankreich, wo diedurch die Reblaus und durch die schlechten Ernten verursachtenAusfälle außer durch italienische auch durch spanischeWeine (meist aus den nordöstlichen Provinzen) gedeckt werden.Im ganzen werden jährlich über 7 Mill. hl, davon gegen 6Mill. nach Frankreich, exportiert. Daneben bilden auch frischeTrauben einen Ausfuhrartikel (1886: 192,000 metr. Ztr.). VonWichtigkeit ist ferner die Kultur der Rosinen, namentlich werdenRosinen aus den Provinzen Alicante (Denia) und Malaga ins Ausland,hauptsächlich nach England und Nordamerika, geführt(1886: 384,460 metr. Ztr.). Die hervorragendsten Futterkräutersind Luzerne und Esparsette. Eigentliche Wiesen gibt es nur in dennördlichen Provinzen und in den höhern Gebirgsgegenden.Viel ausgedehnter ist das Weideland in solchen Strecken, welcheauch zum Ackerbau oder zur Forstkultur geeignet wären, jedochvorzugsweise zur Zucht von Schafen dienen, wie in Estremadura,Niederandalusien, Aragonien, Altkastilien und Leon.

Von großer Bedeutung ist die Viehzucht. Man zählte1878 in S. 460,760 Pferde, 941,653 Maultiere, 890,982 Esel,2,353,247 Rinder, 16,939,288 Schafe, 3,813,006 Ziegen, 2,348,602Schweine. Die früher so berühmte, dann in Verfallgeratene Pferdezucht hat einen neuen Aufschwung genommen. Diebesten Pferde sind die andalusischen und unter diesen wieder dievon Cordova. Indessen reicht die Zahl der gezüchteten Pferdefür den Bedarf des Landes nicht aus. Auf die Zucht derMaultiere und Esel, welche nicht nur die bevorzugtesten Haustieresind, sondern auch in Menge ausgeführt werden, wirdgroße Sorgfalt verwendet. Die Zucht des Rindviehszerfällt in die der zahmen Rinder und die der zu denStiergefechten erforderlichen wilden Stiere, welche auf einsamen,hoch gelegenen Triften und in den Gebirgen, namentlich in Navarra,in der Sierra Guadarrama, Sierra Morena und am Guadalquivir, gehegtwerden. Das zahme Rindvieh ist nicht sehr groß, aber starkund gut gebaut; das beste wird in den nördlichen Provinzengezüchtet, wo auch allein Milch-, Butter- undKäsewirtschaft getrieben wird. Die spanische Schafzucht, einstdie erste der Welt und Quelle ungeheurer Einkünfte, ist, wennauch immer noch ansehnlich, von der andrer Länderüberflügelt worden und in Abnahme begriffen. Die Ursachehiervon ist besonders darin zu suchen, daß die Regierungbehufs der Hebung der Agrikultur 1858 die lästige Bestimmungaufhob, daß von den Grundbesitzern, durch deren Gebiet dieHerden (von und nach den Winterquartieren in Estremadura) ziehen,eine Schaftrift von 90 Schritt Breite zu beiden Seiten derStraße freigelassen werden mußte. Gegenwärtigmuß, soweit das Wandern mit Schafherden noch besteht,für die Benutzung der Weiden ein Pachtgeld gezahlt werden. DieMehrzahl der Merinoherden gehört nämlich großenGrundbesitzern von Leon, Altkastilien und Niederandalusien. DerWollertrag der spanischen Schafe ist zwar sehr gesunken (auf ca. 20Mill. kg, und zwar nur zum geringern Teil feine und brauchbareWolle); doch bildet Schafwolle noch immer einen Exportartikel(1886: 92,000 metr. Ztr.). Wichtig ist die Hämmelzucht,vorzüglich für Niederaragonien, wo sich stets Käuferaus ganz S. zusammenfinden. Die Ziegenzucht ist besonders in denGebirgsgegenden heimisch und Ziegenkäse ein wichtigerGegenstand des innern Handels, während die Felle in Mengeexportiert werden. Schweinezucht wird überall, imgrößten Maßstab jedoch in Estremadura betrieben.Treffliche Schinken sowie Würste und Borsten gelangen zurAusfuhr. Schweine- und Ziegenhäute werden in S. allgemein zuWeinschläuchen, welche inwendig ausgepicht werden,verarbeitet. In den Provinzen Murcia und Cadiz kommen auch Kamele(1878: 1597 Stück) vor. Beträchtliche Ausfuhr von Viehfindet nach Portugal und England statt. Von Federvieh werdenvornehmlich Hühner, in Estremadura und Andalusien auchTruthühner gezüchtet; von geringem Belang ist dieBienenzucht, von Wichtigkeit dagegen die (früher allerdingsnoch bedeutendere) Seidenzucht, die namentlich in Valencia undMurcia ihren Sitz hat (s. unten). Die Kochenillezucht (1820 inSüdspanien eingeführt) wird jetzt um Malaga und Motril ingrößerm Maßstab betrieben.

Jagd und Fischerei sind in S. frei, doch wird erstere nichtbesonders eifrig getrieben; das häufigste Haarwild sindKaninchen, das meiste Federwild Rebhühner. Der Fang vonThunfischen, Sardinen, Sardellen und Salmen und dasEinräuchern derselben beschäftigt an den Küsten vonViscaya, Galicien, Andalusien, Valencia und Katalonien Tausende vonMenschen und liefert bedeutende Mengen für den Export. Auchdie Korallenfischerei an der Küste von Andalusien hat sich inneuester Zeit gehoben. Die Waldwirtschaft steht in S. noch aufeiner niedrigen Stufe. Der Holzboden nimmt zwar über 20 Proz.des gesamten Areals ein; doch sind infolge derVernachlässigung der Kultur, der unbeschränktenBrennholznutzung, der Schädigung der Wälder durch Hirtenund Herden und der planlosen Ausnutzung der Privat- undStaatsforsten nur etwa 9 Proz. noch wirklich mit Holzbestanden.

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Spanien (Bergbau und Hüttenwesen).

Das wichtigste Nadelholz ist die Kiefer, die vorzüglichstenLaubhölzer sind: die Eiche, Rotbuche, Kastanie, dieRüster und der Ölbaum, welcher besonders in Andalusienganze Wälder bildet. Nach Gesetz vom 19. Febr. 1859 soll vonden Staats-, Kommunal- und Körperschaftsforsten ein Teil(3½ Mill. Hektar) verkauft, der andre Teil (6½ Mill.Hektar) aber regelmäßig bewirtschaftet werden. Zu diesemZweck ist das Land in zehn Forstdistrikte eingeteilt worden; auchbesteht eine königliche Forstingenieurschule im Escorial. Sehrgesegnet mit Waldungen ist Katalonien, wo (insbesondere imMonsenygebirge) die gewinnreichsten Holzgattungen, wie Kastanien(zu Faßdauben vorzüglich geeignet),Walnußbäume (zu Holzreifen verwendet) und Korkeichen, ambesten gedeihen, welch letztere wegen des Korks, des alsGerbmaterial geschätzten Bastes und des sich zu Kohlentrefflich eignenden Astholzes einen reichlichen Ertrag liesern.Außer in Katalonien findet man diese Baumgattung inEstremadura, Andalusien und Valencia. Die jährliche Produktionan Korkplatten beträgt 520,000 metr. Ztr., der Export vonPfropfen durchschnittlich 1010 Mill. Stück, an Platten undTafeln 25,000 metr. Ztr. Nebenprodukte der Wälder sind:Sumachrinde (als Gerbmaterial), Ladanbalsam, eßbare Eicheln,Maronen, Beeren, Arzneikräuter etc.

Bergbau und Hüttenwesen.

S. ist ein an Metallen und Erzen außerordentlich reichesLand und könnte in seinem Bergbau und Hüttenwesen eineQuelle großen Nationalreichtums finden, wenn erstererrationell betrieben und entsprechend ausgebeutet würde. DasBergwesen untersteht dem Ministerium für Volkswirtschaft,resp. der bei demselben errichteten Junta für dasselbe. Nachdem Gesetz vom 6. Juli 1859 wurde das Land in 17 Minendistrikteeingeteilt, von denen jeder unter einem königlichenBergingenieur steht, und in Madrid auch ein Oberbergamteingerichtet. Laut des genannten Gesetzes hat sich der Staat dieAusbeutung der meisten Bergwerke, sämtlicher Salzbergwerke undSalinen (ausgenommen die in den baskischen Provinzen) reserviert.Durch die finanzielle Notlage wurde indessen die Regierung inneuerer Zeit genötigt, sich des größten Teils desStaatseigentums und so auch des Montanbesitzes zuentäußern, so daß jetzt nur noch dieQuecksilbergruben von Almaden und einige Salinen Staatseigentumsind. Im ganzen Land gibt es etwa 6000 Minen aller Art, wozu nochdie aus alter Zeit, teilweise von den Römern,zurückgelassenen Schlackenhaufen als Ausbeutungsobjektekommen. Bei der Gewinnung von Erzen u. Metallen sind über45,000 Arbeiter beschäftigt. Der Bergbau undHüttenbetrieb ergaben nach der letzten Erhebung (1883)folgende Mengen: Silber 540 metr. Ztr., Quecksilber 16,670,Roheisen 1,422,240, Kupfer 321,560, Blei 993,120, Zink 68,430,Kohle 10,707,500, Salz 6,750,000, Schwefel 11 1,290 metr. Ztr.Bemerkenswert ist jedoch, daß das Hüttenwesen mit demBergbau nicht gleichen Schritt hält, und daß eingroßer Teil der gewonnenen Erze nach England und andernLändern exportiert wird und häufig in verhütteterForm wieder ins Land zurückkehrt. So wurden 1886: 49,2 Mill.metr. Ztr. Erze (davon 41,8 Mill. Eisenerz und 6,7 Mill. Kupfererz)ausgeführt. Was die einzelnen Produktionszweige betrifft, sowird Gold gegenwärtig nur in den Arsenikgruben bei Culera(Katalonien), in kleinern Quantitäten auch aus dem Sande desFlusses Sil gewonnen. Ebenso ist die Produktion von Silberherabgegangen, wenngleich mehrere Bergwerke hierfür bestehen,von welchen jene in den westlichen Abhängen der SierraAlmagrera (Provinz Almeria), die von Hiende la Encina (ProvinzGuadalajara) und die von Farena (Provinz Tarragona) diemächtigsten sind. In den Quecksilbergruben von Almaden (12Minen) sind über 3000 Arbeiter beschäftigt. Der Exportbeträgt durchschnittlich 11,000 metr. Ztr. An Eisenerz birgtS. in vielen Provinzen, besonders in Viscaya (zu Somorrostro),Guipuzcoa (Irun), Navarra (Lesaca, Vera), Santander, Oviedo undGranada, reiche Schätze, die aber nicht gehörigausgenutzt werden. Die bedeutendsten Hüttenwerke befinden sichin den Provinzen Viscaya, Navarra, Oviedo, Sevilla, Malaga u. a. AnKupfer besitzt die Provinz Huelva in den Minen von Rio Tinto,Tharsis und andern schon von den Karthagern u. Römernbearbeiteten Bergwerken unerschöpfliche Lager. Die Minen vonRio Tinto (s. d.) wurden 1873 von der spanischen Regierung (um 96Mill. Frank) an ein Syndikat von Londoner und Bremer Firmenverkauft; Tharsis gehört bereits seit längerer Zeit einerenglischen Aktiengesellschaft. Hinsichtlich der Bleiproduktionüberragt S. alle andern Staaten Europas. Die Hauptsitzefür diesen Bergbau und Hüttenbetrieb sind: die ProvinzenMurcia (bei Cartagena 76 Werke mit 150 Hochöfen und 1500Arbeitern), Almeria (Bleiminen der Sierra Gador, Sierra Almagrera,Alhamilla etc.; 13 Schmelzwerke bei Garrucha) und Jaen (Linares undBaylen). Der Export an metallischem Blei betrug 1886: 1,150,000metr. Ztr. Für den Zinkbergbau sind die Hauptsitze: dieProvinzen Santander, Guipuzcoa, Murcia, Granada, Malaga undAlmeria. Die Verhüttung ist von geringem Umfang; diegewonnenen Erze werden größtenteils nach Belgien undandern Ländern exportiert. Die wichtigsten Kohlendistriktesind in der Provinz Oviedo, dann in Burgos und Soria, Leon undPalencia, Teruel und Santander. Die jährliche Produktion istvon 355,000 metr. Ton. im J. 1861 gegenwärtig auf mehr als 1Mill. metr. T., größtenteils Steinkohle, gestiegen,wobei immer noch eine überwiegende Einfuhr englischer Kohle(1886: 1,4 Mill. metr. T.) stattfindet. An Salz ist S. überausreich. Dasselbe ist kein Monopolgegenstand; es gibt zwar staatlicheEtablissem*nts dafür, welche in 20 Haupt- und 12Unteranstalten zerfallen, aber ebensowohl befassen sich mit derSalzgewinnung und zwar aus Seewasser u. aus Bergsalinen vielePrivate, die aus Anlaß des Betriebs nur der gewöhnlichenIndustrialsteuer unterworfen sind. Steinsalzminen gibt es zuCardona (Provinz Barcelona), Pinoso (Provinz Alicante), Gerry yVillanova (Provinz Gerona), Minglanilla (Provinz Cuenca) u. a. O.Seesalz wird am meisten in den Lagunen der Bai von Cadiz und an denUfern des untern Guadalquivir ausgebeutet, ferner auf der InselIviza, aus den Lagunen von Torrevieja (Provinz Alicante, in derRegie des Staats) etc. Der gesamte Salzexport beträgtjährlich 2,5 Mill. metr. Ztr. Manganerz (Braunstein) wird ammeisten in der Provinz Huelva zu Tage gefördert, doch droht esinfolge des Raubbaues bald gänzlich zu versiegen. Alaungrubenfinden sich an vielen Orten; Schwefel wird besonders in Murcia undOstgranada, Schwefelkies in der Provinz Huelva (namentlich in denschon erwähnten Gruben von Rio Tinto und Tharsis mitfortwährend steigendem Export), Asphalt in der Provinz Alava,Antimon in Saragossa, Ciudad Real und bei Cartagena, außerdemGraphit, Bergöl, Naphtha und Phosphorit (letzteres fürdie Agrikultur äußerst wichtige Material in 9 Minen derProvinz Caceres mit einer durchschnittlichen Ausbeute von 1,8 Mill.metr. Ztr.) gewonnen.

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Spanien (Industrie).

Industrie.

Die spanische Industrie nimmt zwar noch lange nicht den Platzein, der ihr in anbetracht der reichen Hilfsquellen und dergünstigen kommerziellen Lage des Landes gebührt; doch hatdieselbe in neuester Zeit einen bedeutenden Aufschwung genommen.Die industriellsten Provinzen sind: Barcelona, Gerona, Tarragona,Guipuzcoa und Viscaya, nächst diesen Valencia, Murcia,Alicante, Almeria, Granada, Sevilla, Malaga, Galicien, Asturien,Santander, Madrid und Ciudad Real. Was die einzelnenIndustriezweige betrifft, so wird die Verfertigung von Eisen- undStahlwaren am ausgedehntesten in Katalonien, in den baskischenLandschaften und in den Provinzen Malaga und Sevilla betrieben.Guten Ruf hat das Land in der Erzeugung von Handwaffen, wofürFabriken zu Toledo, Oviedo und Plasencia (Guipuzcoa) bestehen;berühmt sind insbesondere die Klingen von Toledo. Eingroßes Etablissem*nt ist auch die Nationalfabrik zu Trubio(Oviedo) für Eisengußwaren und Artilleriematerial. Nebenden Eisenwaren produziert S. viel Kupfer- und Bleiwaren, Messingnamentlich zu San Juan de Alcaraz (Provinz Albacete), Bronzewarenzu Barcelona, Eibar (Guipuzcoa) und in Navarra, Schmucksachen undFiligranarbeiten. Der Maschinenbau hat seine Hauptsitze zuBarcelona (4 große Werkstätten mit ca. 1700 Arbeitern),Sevilla, Malaga, Madrid und Valladolid, der Schiffbau zu Barcelona,Cartagena, Cadiz und Santander, die Verfertigung von chirurgischenund Präzisionsinstrumenten zu Madrid. Musikinstrumente, undzwar Pianos, werden zu Barcelona, Sevilla, Saragossa undValladolid, Guitarren zu Murcia, Streichinstrumente vorzugsweise zuPalma fabriziert. Für Porzellan bestehen zwei Fabriken,für Steingut- und Fayenceerzeugung ein ansehnlichesEtablissem*nt zu Sevilla und weitere Unternehmungen in denProvinzen Valencia, Madrid und Castellon. Die Fabrikationfeuerfester Thonwaren steht zu Barcelona auf einer Höhe,welche einen nicht unbedeutenden Export nach den Häfen desMittelmeers bis nach Konstantinopel zuläßt. Einewichtige Industrie ist auch die Erzeugung von Ziegelfliesen,glasierten Platten und Mosaikfußböden, welche namentlichals Hausindustrie Tausende von Arbeitskräften, insbesondere inder Provinz Valencia, beschäftigt und einen wesentlichenExportartikel liefert. Hydraulischer Kalk (Zement) wird nur inGuipuzcoa in einer Menge von jährlich ca. 100,000 metr. Ztr.erzeugt. S. liefert gutes Glas in ziemlich großer Menge, aberhauptsächlich nur für den inländischen Bedarf,während der Export nach den Kolonien ein geringer ist;geschliffene Glaswaren werden eingeführt. Die Glasindustriewird an vielen Orten, insbesondere in Badalona, Murcia, Cadalso(Madrid) und Gijon, betrieben. Die Verarbeitung des Korks zuPfropfen, Platten und Tafeln bildet einen ergiebigen Industriezweigin der Heimat des Rohstoffs, der Provinz Gerona (Exportwert 1886über 17 Mill. Pesetas). Tischlerwaren werden zu Madrid undBarcelona verfertigt, ohne daß jedoch in feinern Artikeln dieausländische Industrie vom Markt verdrängt wäre.Bedeutend ist namentlich für die Hausindustrie die Stroh- undBinsenflechterei. Die Lederindustrie Spaniens stand infrüherer Zeit auf einer viel höhern Stufe als diesgegenwärtig der Fall ist, obschon das Land noch immer durchdie Erzeugung von Saffian und Korduan hervorragt und gewisseQuantitäten von Leder ausführt. Die besten Fabrikatekommen von Cordova, Barcelona, Toledo, Burgos und aus denbaskischen Provinzen. Insbesondere ist S. die Heimat derkunstvollsten Riemerartikel (Sättel und Reitzeuge). DieSeidenindustrie, für welche alle klimatischen Bedingungenvorhanden sind, ist durch die Seidenraupenkrankheit sehrbeeinträchtigt worden und beschränkt sichgegenwärtig hauptsächlich auf die Provinzen Murcia,Valencia und Sevilla, in welchen übrigens die Seidenspinnereiein vorzügliches Erzeugnis liefert. Die Produktion anSeidenkokons beträgt etwas über 1 Mill., an Rohseidedurchschnittlich 85,000 kg. Die Seidenweberei war in frühernJahrhunderten blühend und wird gegenwärtig noch, ohne denBedarf zu decken, fabrikmäßig zu Madrid, Valencia,Barcelona, Granada, Sevilla und Toledo betrieben. DieSchafwollweberei macht große Fortschritte, arbeitet jedochbloß für den einheimischen Markt, wobei ihr das AuslandKonkurrenz bietet. Der Hauptsitz ist Katalonien, namentlichBarcelona, Tarrasa, Sabadell, Manresa u. a. O. Barcelona zeichnetsich auch in der Fabrikation von Shawls und Möbelstoffen durchgediegene Leistungen aus. Gute Tuche und Flanelle werden in Alcoy,Palencia, Bejar (Provinz Salamanca) etc. erzeugt. Valencia undMurcia liefern Decken aus Streich- und Kammgarn, welche denBewohnern zur Bekleidung, zum Schmuck und zum Tragen der Utensilienunentbehrlich sind. Verhältnismäßig günstigentwickelt ist die spanische Baumwollindustrie. Während dieSpinnerei 1834 erst 600,000 Feinspindeln zählte, hob sichdiese Ziffer 1881 auf 1,835,000. Der Baumwollkonsum betrug imDurchschnitt der letzten Jahre 490,000 metr. Ztr. Diegrößte Bedeutung hat die Baumwollindustrie fürKatalonien. Barcelona versteht mit gewebten und bedruckten Stoffen(Indiennes) fast alle spanischen Kolonien. Außerdem ist dieseIndustrie noch in den baskischen Provinzen, in Malaga, Santander,Valladolid und den Balearen vertreten, obgleich immer noch einImport (Garne 1886 für 2,1, Gewebe für 11,4 Mill.Pesetas) notwendig ist. Die Flachsspinnerei macht guteFortschritte. Die Leinweberei arbeitet für dieBedürfnisse des eignen Landes und exportiert nach den Kolonienund Brasilien, wogegen aber auch ein Import ausGroßbritannien und Irland stattfindet. Die Sitze dieserIndustrie sind: die Landschaften Katalonien, Aragonien, Kastilien,Galicien u. Navarra. Die Espartoweberei, welche in Murcia, Alicanteu. a. O. betrieben wird, liefert verschiedene Waren, als:Überzieher für Bergleute, Teppiche, Lauftücher etc.In Leinen- und Hanfgarn fand in den letzten Jahren ein Import vondurchschnittlich 42,000 metr. Ztr., an Geweben ein solcher von 6300metr. Ztr. statt. Färberei und Druckerei sind alte undwichtige Zweige der spanischen Industrie, zumal in Katalonien undin den baskischen Provinzen. Die Spitzenmanufaktur ist gleichfallssehr alt und im Fortschreiten begriffen; ihre Heimat istKatalonien. Maschinenspitzen werden zu Barcelona, Mataro u. a. O.erzeugt. Handschuhe liefern Madrid und Valladolid, WirkwarenBarcelona. Die Industrie in Schuhwaren schwingt sich auf denBalearen sichtlich empor (Export über Barcelona nach denspanischen Kolonien). Für den Konsum der spanischenLandbevölkerung werden auch Schuhwaren aus Hanf (Alpargatas)an vielen Orten gefertigt. Neu aufstrebende Industrien sind dieFächerfabrikation in Valencia und die Knopffabrikation inMadrid. In der Papierfabrikation findet der Maschinenbetrieb immerweitere Verbreitung. Es gibt bereits ca. 40 Papierfabriken (zuBarcelona, Tolosa etc.), während die Zahl derPapiermühlen mit Büttenbetrieb immer mehr abnimmt. EinHauptartikel der

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Spanien (Handel, Schiffahrt).

Papierfabrikation ist das Zigarrettenpapier (namentlich inAlcoy). Bedeutend ist die Industrie in Nahrungs- u.Genußmitteln. Es bestehen 18 Raffinerien fürKolonialzucker (Barcelona, Malaga und Umgebung, Granada undAlmeria; Produktion jährlich ca. 150,000 metr. Ztr.),zahlreiche Schokoladefabriken, so zu Madrid und Umgebung,Barcelona, Saragossa, Ciudad Real, Leon, Astorga, Oviedo, Malagaetc., mehrere Fabriken für konservierte und kandierteFrüchte, einige große Fabriken für Fisch- undFleischkonserven (in Guipuzcoa und Coruña) und mehrereUnternehmungen für Maccaroni- und Teigwarenerzeugung (inMalaga). Weizenmehl wird von Santander aus nach den spanischenKolonien verschifft (in den letzten Jahren durchschnittlich 275,000metr. Ztr.). Erwähnenswert sind ferner: die Spirituserzeugungaus Wein und dessen Rückständen, die Fabrikation vonLikören (besonders Anislikör in der Provinz Albacete) unddie Bierbrauerei in den größern Städten. DieTabaksfabrikation ist Staatsmonopol, welches aber seit 1887verpachtet ist, und beschäftigt große Etablissem*nts zuMadrid, Sevilla, Santander, Gijon, Coruña, Valencia undAlicante. Die erforderlichen Blätter kommengrößtenteils aus den überseeischen Kolonien (Cuba,Puerto Rico, Philippinen), teilweise auch aus Deutschland. Dochwerden daneben Massen von fremden Zigarren eingeschmuggelt. Endlichsind noch die Zinnobererzeugung, die Fabrikation von Seife(Katalonien und Andalusien, insbesondere Malaga), Kerzen undverschiedenen Chemikalien, die Buchdruckerei und Lithographie(Hauptort Madrid) hervorzuheben. In ganz S. besteht schon seitgeraumer Zeit Gewerbefreiheit. Es gibt daher keine Innungen undZünfte, sondern bloß Vereinigungen (gremios) vonHandwerkern und Gewerbtreibenden zu irgend einem gemeinsam besserals einzeln zu erreichenden Zweck. Zur Beförderung derIndustrie und der Gewerbe dienen außer den Handelskammern (s.unten): der Industrieverein zu Madrid, die Gewerbevereine inverschiedenen Städten und die technischenUnterrichtsanstalten.

Handel und Verkehr.

S. hat eine für den Handel, namentlich den Welthandel,äußerst günstige Lage, und geraume Zeit war derspanische Handel einer der umfangreichsten der Welt. Wenn er in derGegenwart kaum noch an das erinnert, was er einst gewesen, so sinddaran einerseits die äußern und innern Kriege,anderseits aber die Vernachlässigung der natürlichenHilfsquellen des Landes schuld. Das Zentrum des gesamten innernHandels bildet Madrid. Nächstem sind Valladolid, Palencia,Burgos, Oviedo, Vitoria, Saragossa und Granada die wichtigstenPlätze des Binnenhandels. In betreff des äußernHandels zerfällt S. in mehrere selbständige Zollgebiete,nämlich: das Festland mit den Balearen, die KanarischenInseln, die Provinzen in Amerika, die Besitzungen in Asien undOzeanien, die Insel Fernando Po mit deren Dependenzen, dienordafrikanischen Besitzungen. Jedes dieser Zollgebiete hat seinenbesondern Tarif; die nordafrikanischen Häfen sind zuFreihäfen erklärt worden. In dem Zollgebiet desspanischen Festlandes und der Balearen wurde ein Tarif 5. Okt. 1849eingeführt, seitdem aber vielfach modifiziert und namentlichdurch die abgeschlossenen Handelsverträge ermäßigt.So hat S. 1861 mit Marokko, 1862 mit der Türkei, 1864 mitChina, 1865 mit Frankreich, dann seit 1870 mit den meisten anderneuropäischen Staaten und mit Siam Handels- undSchiffahrtsverträge abgeschlossen, darinEinfuhrzollbegünstigungen für fremde Produkte zugestandenund sich zugleich verpflichtet, diese Zollsätze in einemspätern Termin noch weiter herabzusetzen. Die finanzielle Lageund der Vorgang der übrigen Kontinentalstaaten auf dem Weg desSchutzzollsystems veranlaßten jedoch auch S., zurErhöhung der Einfuhrzollsätze mittels neuer Tarife (1882und 1886) zu schreiten und in diesem Sinn modifizierteHandelsverträge mit den übrigen Staatenabzuschließen. Bemerkenswert für den auswärtigenHandel Spaniens ist, daß von seiten Portugals und vonGibraltar aus starker Schleichhandel (von letzterm Punkt namentlichmit englischen Waren) getrieben wird. Der Gesamtwert der Ein- undAusfuhr Spaniens (und zwar des Festlandes mit Einschluß derBalearen) betrug in den letzten Jahren in Millionen Pesetas (1Peseta = 80 Pfennig):

Jahr Einfuhr Ausfuhr Jahr Einfuhr Ausfuhr

1882 816,7 765,4 1885 764,8 698,0

1883 893,4 719,5 1886 855,2 727,3

1884 779,6 619,2 1887 811,2 722,2

Der auswärtige Handel von S. bewegt sich hauptsächlichauf dem Seeweg. Auf den Landhandel kamen nämlich vom gesamtenWarenverkehr des letztgenannten Jahrs nur 16, auf den Seehandeldagegen 84 Proz. Die Hauptartikel des auswärtigen Handels sindin der Ausfuhr (mit Angabe des Wertes 1887 in Millionen Pesetas):Wein (281,7), Erze (86,7), Blei (22,0), Rosinen (22,2), Vieh(12,4), Kork (16,8), Orangen (15,4), Schafwolle (14,1),Olivenöl (9,7, 1885: 40,0), Schuhwaren (12,4), Esparto (8,9),Weintrauben (9,7), Weizenmehl (5,2), Konserven (6,9), Eisen undEisenwaren (10,4); in der Einfuhr: Weizen (62,8), Baumwolle (62,5),Spiritus (45,0), Holz (35,3), Tabak (30,3), Fische (29,8), Zucker(29,7), Mineralkohle (25,6), Schafwollwaren (24,9), Maschinen(20,1), Häute und Felle (19,4), andre Cerealien (17,5), Vieh(17,1), Eisen und Eisenwaren (16,9), Chemikalien (15,8), Kakao(13,6), Flachs- und Hanfgarn (13,3). Was die einzelnen Länderbetrifft, welche an dem auswärtigen Handel Spanienspartizipieren, so kommt der Hauptanteil auf Frankreich (234,7 Mill.Pesetas in der Einfuhr und 308,9 Mill. in der Ausfuhr) undGroßbritannien (114,0, resp. 184,6 Mill. Pesetas). Hieranreihen sich die Vereinigten Staaten von Nordamerika (99,6 und 21,9Mill.), Cuba (37,3 und 61,0 Mill.), Deutschland (82,9 und 9,6Mill.), Belgien, Portugal, Italien, die Philippinen, Puerto Rico,Argentinien, Niederlande, Norwegen etc.

Die Schiffahrt Spaniens zeigt im letzten Jahrzehnt einenkräftigen Aufschwung. Die Zahl der Häfen an derspanischen Küste und auf den Balearen beträgt 116, wovon56 auf die Küste des Atlantischen Meers, 60 auf die desMittelmeers kommen. Die wichtigsten von erstern sind: Bilbao,Santander, Gijon, Ferrol (Kriegshafen), Coruña, Vigo, Huelvaund Cadiz; von letztern: Malaga, Almeria, Cartagena, Alicante,Valencia-Grao, Tarragona und Barcelona; auf den Balearen undPithyusen: Palma, Mahon und Iviza. In den letzten Jahrzehnten sahman die Notwendigkeit der Herstellung sicherer und verbesserterHafenanlagen ein. Demgemäß wurden auch die Arbeiten,zunächst in Alicante, Barcelona, Cartagena, Tarragona undValencia-Grao, in Angriff genommen und großenteils bereitsdurchgeführt. Die Zahl der im Betrieb befindlichenLeuchttürme beträgt 198. In dem Leuchtturm auf KapMachichaco in Viscaya besteht eine Schule fürLeuchtturmwächter. Die Handelsmarine Spaniens zählteAnfang 1884: 1544 Segelschiffe mit 308,779 Registertonnen und 282Dampfer

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Spanien (Eisenbahnen etc., Münzen, Wohlthätigkeits- u.Strafanstalten, Staatsverfassung).

mit 200,100 Ton., zusammen 1826 Seeschiffe mit 508,879 T. DieSchiffahrtsbewegung sämtlicher Häfen Spaniens beziffertesich 1887 in Registertonnen:

Eingelaufen Ausgelaufen

Spanische Schiffe 4264482 4420130

Fremde Schiffe 6900494 6696443

Zusammen: 11164976 11116573

Hierzu Küstenschiffahrt (1885) 5661952 5237227

Die Binnenschiffahrt ist in S. von geringem Belang. Unter denStrömen ist ein einziger, welcher bei hohem Wasserstandstreckenweise befahren werden kann, nämlich der Ebro, aufwelchem flache Fahrzeuge dann bis Saragossa, wohl auch bis in dieProvinz Navarra gelangen können. Der Guadalquivir, Guadianaund Minho sind nur ein Stück von der Mündung an hinauffür größere Schiffe fahrbar, der erstgenanntefür Seeschiffe bis Sevilla; dieselben kommen daher bei derBinnenschiffahrt nicht in Betracht. Die übrigen Strömesind, soweit sie S. angehören, so voller Sandbänke,Löcher und Strudel, daß sie sich gar nicht zurSchiffahrt eignen. Unter den Kanälen steht der unter Karl V.begonnene Kaiserkanal von Aragonien obenan, 119 km lang, 3,35 mtief und an der Oberfläche 23,5 m breit, außer zurSchiffahrt auch zur Bewässerung dienend. Im 18. Jahrh. wurdendrei schiffbare Kanäle hergestellt, worunter der 160 km langeKastilische, der bei Alar del Rey aus dem Pisuerga ausgeht undunweit Simancas an demselben Fluß endigt, der wichtigste ist.Der Manzanareskanal (von Toledo nach Madrid, 14 km) sowie derCanale Nuevo, bei Amposta aus dem Ebro ausgehend und in San Carlosde la Rapita nach 11 km Länge endigend, werden zur Schiffahrtwenig benutzt. Aus diesem Jahrhundert datieren der Guadarramakanal(17 km) und der Murciakanal (28 km). Neuerlich hat eineAktiengesellschaft auch die Kanalisierung des Ebro bis Saragossaunternommen. Die Gesamtlänge aller schiffbaren Kanäle undFlüsse Spaniens beträgt ungefähr 700 km.

Die erste Eisenbahn, von Barcelona nach Mataro (28 km), wurde28. Okt. 1848 dem Verkehr übergeben. Seitdem entwickelte sichdas Eisenbahnnetz Spaniens in folgender Progression: 1855: 595 km,1865: 5226 km, 1876: 5796 km, 1886: 9185 km. Diehauptsächlichsten Linien sind: Die Spanische Nordbahn vonMadrid über Irun an die französische Grenze, mitZweiglinien nach Zamora, Salamanca, Segovia und Santander. An dieNordbahn schließen sich die Nordwestliche oder GalicischeEisenbahn mit den Linien Palencia-Coruña, Monforte-Vigo undLeon-Gijon, dann die Eisenbahn Tudela-Bilbao, welche die Nordbahnbei Miranda kreuzt. Eine wichtige Linie ist im NO. die Eisenbahnvon Saragossa nach Pamplona, welche einen Zweig zur Nordbahn nachAlsasua entsendet. Von Madrid laufen außer derersterwähnten Bahn noch die Eisenbahn über Saragossa nachBarcelona und die nach Alicante aus, welche beide miteinander durchdie Küstenbahn über Tarragona und Valencia nach Almansain Verbindung stehen, und wovon die erstere mehrere Zweiglinien inKatalonien und die Linie über Portbou nach Frankreich, dieletztere die Zweiglinien nach Toledo und Cartagena entsenden. Andie Eisenbahn Madrid-Alicante schließen sich endlich dieandalusischen Bahnen nach Cadiz, Malaga und Granada sowie dieEisenbahn über Ciudad Real und Badajoz nach Portugal an. VonMadrid nach Lissabon führt außerdem die neue direkteLinie über Talavera. Auch die Insel Mallorca hat ihreEisenbahn Palma-Manacor. Die Ausführung der einzelnenEisenbahnlinien erfolgte durch Privatgesellschaften, meist mitenglischen Kapitalien. Pferdebahnen bestehen zu Madrid, Barcelonaund Valencia-Grao. Auch auf den arg vernachlässigtenStraßenbau hat man in neuerer Zeit große Summenverwendet; die Gesamtlänge der fertigen Straßenbeträgt gegenwärtig ca. 19,000 km. Weitere 3000 km sindteils im Bau, teils projektiert. Am meisten leidet noch das Zentrumdes Landes durch Mangel an Verkehrswegen. Auch auf Vizinalwege wirdwenig Bedacht genommen. Das spanische Staatstelegraphenwesenumfaßte 1886 ein Netz von 17,840 km Linien mit einemBetriebspersonal von 3540 Individuen. Der Korrespondenzverkehrergab 2,8 Mill. Depeschen. Dem Postwesen standen 1886: 2655Anstalten mit einem Personal von 7112 Individuen zurVerfügung. Der Briefpostverkehr umfaßte 111 Mill.Stück. Seit 1886 sind 15 Handels-, Industrie- undSchiffahrtskammern errichtet worden. Banken mit dem Rechte derNotenemission bestanden früher in den meistengrößern Städten. Durch das Gesetz vom 19. März1874 wurde jedoch die Kreditzirkulation in einer einzigen Bank, derBank von S. (Grundkapital 100 Mill. Pesetas) in Madrid,konzentriert und zu ihren gunsten die Aufhebung aller andernZettel- und Diskontobanken angeordnet. Die meisten derselben habensich zu Filialen der Bank von S. umgestaltet. Außerdem gibtes eine größere Anzahl von selbständigenKreditinstituten, zahlreiche Sparkassen, Leihhäuser,Börsen in allen großen Handelsplätzen etc. Dieberühmtesten Messen sind die von Talavera de la Reina inNeukastilien, Palencia, Valladolid, Medina de Rioseco und Soria inAltkastilien, Puenta de la Reina, Estrella und Corella in Navarra,Granollers und Tarrasa in Katalonien, Ronda und Puerto de SantaMaria in Andalusien; Hauptwollmärkte die von Cuenca inNeukastilien und Bejar in Leon. Münzeinheit ist seit 1871 diePeseta à 100 Centimos = 1 Frank = 4 Reales de vellon(Kupferreal). Die gangbaren Münzsorten sind in Gold: derGolddoblon = 100 Realen = 21,06 Mk., der Goldthaler (escudo de oro)= 40 Realen = 8,42 Mk., der halbe Goldthaler (coronilla) = 20Realen; in Silber: der Duro oder spanische Thaler (peso fuerte, imAusland Piaster genannt) = 20 Realen = 4,20 Mk., der halbe Durooder Escudo (medioduro, escudo) = 10 Realen, die Peseta = 4 Realen,die halbe Peseta = 2 Realen, der einfache Real (real de vellon).Das einzige Papiergeld des Landes sind gegenwärtig die Notender Bank von S., deren höchste Abschnitte aber nicht auf mehrals 1000 Pesetas lauten dürfen. In Bezug auf Maß undGewicht ist seit 1855 gesetzlich das metrische Systemeingeführt.

Ungemein groß ist die Zahl derWohlthätigkeitsanstalten, deren man bereits 1859: 1028zählte, worin 455,290 Individuen verpflegt wurden. Die Straf-und Besserungsanstalten zerfallen in Zuchthäuser fürmännliche Verbrecher und Korrektionshäuser fürWeiber. Die schwersten Verbrecher werden in den an die Stelle derehemaligen Galeeren getretenen Zuchthäusern in Ceuta,Alhucemas, Melilla und Peñon de Velez untergebracht.

Staatsverfassung und Verwaltung.

Das Grundgesetz der gegenwärtigen Staatsverfassung desKönigreichs S. bildet die Konstitution vom 30. Juni 1876.Hiernach ist S. eine eingeschränkte Monarchie,gegenwärtig unter der Dynastie Bourbon. Als Thronfolgeordnunggilt die kognatische, wonach das weibliche Geschlecht in Bezug aufdie Succession gleiches Recht mit dem männlichen besitzt undnur die Nähe der Linie darüber entscheidet, wernachfol-

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Spanien (Staatsverwaltung, Rechtspflege).

gen soll, so daß ein näher verwandter weiblicherAbkömmling einem entfernter verwandten männlichenvorangeht, in der erbenden Linie aber der jüngere Prinz vorder ältern Prinzessin den Vorzug hat. DieSuccessionsfähigkeit ist von dem römisch-katholischenGlaubensbekenntnis abhängig. Die Großjährigkeittritt mit dem vollendeten 16. Jahr ein. Wenn die Erbfolge einennoch minderjährigen Succedenten trifft, oder wenn der Monarchdurch längere Zeit verhindert ist, selbst zu regieren, sotritt im ersten Fall eine Vormundschaft, in beiden Fällen eineRegentschaft ein, deren Bestellung durch die Volksvertretungerfolgt. Gegenwärtiger König ist Alfons XIII.,nachgeborner Sohn Alfons' XII., geb. 17. Mai 1886. Regentin istseine Mutter Marie Christine. Der König, bez. Regent übtdie gesetzgebende Gewalt gemeinsam mit den Cortes aus, welche sichin zwei Kammern gliedern: den Senat und den Kongreß derDeputierten. Der Senat wird gebildet: von den Senatorenvermöge eignen Rechts; von den Senatoren, welche von der Kroneauf Lebenszeit ernannt werden; von den Senatoren, welche durch dieProvinzialvertretungen und die Höchstbesteuerten gewähltwerden und sich alle fünf Jahre zur Hälfte erneuern.Senatoren von Rechts wegen sind: die großjährigenSöhne des Königs und des Thronfolgers; die Granden vonS., welche eine jährliche Rente von 60,000 Pesetasgenießen; die Generalkapitäne des Heers und die Admiraleder Flotte; die Erzbischöfe; die Präsidenten desStaatsrats, des obersten Gerichtshofs, des Rechnungshofs, desobersten Kriegs- und des obersten Marinerats, wenn sie sich zweiJahre im Amt befinden. Die vom König ernannten oder von denProvinzialvertretungen u. den Höchstbesteuerten gewähltenSenatoren müssen bestimmten Klassen des Beamtenstandes, derArmee, des Klerus angehören oder eine jährliche Rente von20,000 Pesetas beziehen. Die Zahl der Senatoren kraft eignen Rechtsund der vom König ernannten Senatoren darf zusammen 180 nichtübersteigen, und dieselbe Zahl entfällt auf diegewählten Senatoren. Jeder Senator muß Spanier und 35Jahre alt sein. Der Kongreß der Deputierten setzt sich ausdenjenigen Mitgliedern zusammen, welche von den Wahljunten auffünf Jahre, im Verhältnis von einem Deputierten auf40,000 Einw., gewählt werden. Um zum Deputierten gewähltzu werden, sind die spanische Staatsbürgerschaft, derweltliche Stand, die Großjährigkeit und der Genußaller bürgerlichen Rechte erforderlich. Das passive Wahlrechtist durch keinen Zensus, das aktive Wahlrecht seit der Wahlreformvom 20. Juli 1877 durch einen solchen von 25 Pesetasbeschränkt. Die Cortes versammeln sich alle Jahre. DerPräsident und die Vizepräsidenten der Zweiten Kammerwerden von der Kammer gewählt, die der Ersten Kammer vomKönig ernannt. Der König und jede der beiden legislativenKörperschaften besitzen das Recht der Initiative zu denGesetzen. Finanzgesetze müssen zuerst dem Kongreß derDeputierten vorgelegt werden. Der Kongreß besitzt das Rechtder Ministeranklage, wobei der Senat als Gericht fungiert. DieAbgeordneten erhalten keine Vergütung oder Diäten. DieStaatsbürgerrechte entsprechen den in den übrigenrepräsentativen Monarchien gewährleisteten Grundrechten.Die Staatsbürger teilen sich dem Stand nach in Adel,Geistlichkeit, Bürger und Bauern, welche Stände aber vordem Gesetz gleich sind. Der Adel zerfällt in den hohen, dersich wieder in Grandes und Titulados teilt, und in den niedern derHidalgos oder Fidalgos. Die "Grandeza" wird gegenwärtig vomKönig teils als persönliche Auszeichnung, teils erblicherteilt und führt das Prädikat "Exzellenz". Die Tituladossind Familien, welche von alters her den stets nur auf denältesten Sohn übergehenden Titel Herzog, Marquis, Graf,Visconde oder Baron führen. Der äußerst zahlreicheniedere Adel zerfällt in Ritter- und Briefadel. Aber weder derhohe noch der niedere Adel hat irgend welche politische Vorrechte.Das Prädikat "Don", früher nur dem hohen Adel zustehend,wird jetzt jedem gebildeten Mann gegeben. Die Gemeindeverfassungdatiert in ihrer jetzigen Form von 1845 und ist, wie auch dieProvinzialverfassung, im wesentlichen der französischennachgebildet. In jeder Provinz sind Provinzialdeputationeneingesetzt, deren Mitglieder von den Gemeindevertretungengewählt werden. Jede Gemeinde von mindestens 30 Mitgliedernhat ihre eigne Gemeindevertretung (ayuntamiento), welche auf zweiJahre gewählt wird, und welcher der Alkalde, der zugleichFriedensrichter ist, präsidiert. Die Alkalden werden von denGemeinden alljährlich neu gewählt, aber von der Regierungbestätigt.

An der Spitze der gesamten Staatsverwaltung steht derMinisterrat (consejo de ministros), dem der königlicheStaatsrat (consejo de estado) zur Seite steht. Der Staatsratbesteht aus 33 Räten, die vom König ernannt werden, undden Ministern, berät in seinen den Ministerien entsprechendenSektionen Regierungsmaßregeln und entscheidet überKompetenzkonflikte zwischen Gerichts- und Verwaltungsbehörden.Königliche Ministerien sind: das Ministerium desÄußern (zugleich für die Angelegenheiten desköniglichen Hauses), das Ministerium der Gnaden und Justiz(auch für den Kultus), das Kriegsministerium, dasMarineministerium, das Finanzministerium, das Ministerium desInnern (ministerio de la gobernacion, auch für das Eisenbahn-,Post- und Telegraphenwesen), das Ministerium für dieVolkswirtschaft (ministerio de fomento, für Landwirtschaft,Bergbau, Industrie, Handel, Bauten und Unterrichtswesen) und dasMinisterium der Kolonien (ministerio de ultramar). Selbständigist der Rechnungshof. Zur Leitung der Provinzialverwaltung stehenan der Spitze der 49 Provinzen für die gesamte innere undSteuerverwaltung die Gouverneure, welchen dieProvinzialdeputationen und deren permanente Kommissionen beigegebensind. Ferner bestehen in jeder Provinz eine Sanitätsjunta undeine Hauptpostverwaltung. Die Polizei wird in den Gemeinden von denAlkalden, in größern Städten von besondernPolizeikommissaren, unter Aufsicht des Gouverneurs, gehandhabt.Für die Militärverwaltung sind 16 Generalkapitanate undunter diesen Provinzialmilitärgubernien, für die Marine 3Departements (Generalkapitanate) errichtet. Die Kolonialverwaltungbesteht für jede Kolonie aus einer Regierung mit demGeneralkapitän, dem obersten Militärkommandanten undeinem Zivilgouverneur, welch letzterer unmittelbar vom Königdependiert. Der Volksvertretung ist keine Beteiligung dabeieingeräumt.

Die Gerichtsverfassung beruht auf Öffentlichkeit undMündlichkeit des Verfahrens und Geschwornengerichten.Römisches Recht und Landrecht bilden die Grundlage desRechtswesens; die in den baskischen Provinzen bisher geltendenSonderrechte (fueros) wurden 1876 aufgehoben. Die unterste Instanzbilden die Alkalden der Gemeinden als Friedensrichter.Außerdem bestehen noch 500 Untergerichtsbezirke (partidos)mit je einem Gerichtshof erster Instanz. Diese sind verteilt unter15 Ober- oder Appellations-

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Spanien (Finanzen, Heer und Flotte, Wappen, Orden etc.).

gerichtshöfe (audiencias territoriales). Die obersteInstanz bildet der höchste Gerichtshof zu Madrid. InPreßprozessen erkennen Geschwornengerichte. Außerdiesen ordentlichen Gerichten bestehen noch: geistliche undMilitärgerichte, das Tribunal de hacienda publica inSteuersachen, Handelsgerichte, Berggerichte sowie Gerichte fürdas Post- und Straßenwesen. Das spanischeZivilgerichtsverfahren ist jetzt auch in den Kolonien Cuba undPuerto Rico eingeführt.

Finanzen.

Die Budgetvoranschläge für das Finanzjahr

1888/89 ergaben (in Pesetas):

A. Einnahmen.

Direkte Steuern 310 983 000

Indirekte Steuern 314 294 394

Zölle 172 993 000

Staatsmonopole 21 198 038

Nationalgüter 7 944 000

Staatsschatz 24 255 500

Zusammen 851 667 932

B. Ausgaben.

Zivilliste 9 350 000

Portes 1 940 205

Staatsschuld 279 099 611

Gerichtshöfe 1 361 276

Pensionen 50 593 826

Ministerpräsidium 1 148 959

Auswärtiges 5 300 620

Gnaden und Justiz 59 092 859

Krieg 154 720 262

Marine 26 683 627

Inneres 31 186 581

Öffentliche Arbeiten u. Unterricht 100 385 507

Finanzen 20 826 781

Verwaltung der Steuern 106 967 871

Zusammen: 848 657 985

Die Staatsschuld, welche in den 70er Jahren bereits einen Standvon 12,000 Mill. Pesetas überschritten hatte, wurde seitherdurch eine umfassende Konversion um mehr als die Hälfteverringert; am 1. Jan. 1887 belief sie sich schon wieder auf einKapital von 6334 Mill. Pesetas; die Jahreszinsen betrugen 238 Mill.Pesetas.

Meer und Flotte.

Das Kriegswesen Spaniens ist nach der Beendigung desBürgerkriegs in den Jahren 1877 und 1878 neu organisiertworden. Hiernach besteht in S. das System der allgemeinenWehrpflicht, jedoch mit Loskauf (für gebildete junge Leute vomDienst in der aktiven Armee) und Stellvertretung (unterBrüdern). Die Militärpflicht beginnt mit dem 20.Lebensjahr und dauert 12 Jahre (3 Jahre in der aktiven Armee, 3Jahre in der Reserve derselben und 6 Jahre in der zweiten Reserve).Die Ergänzung der Kriegsflotte erfolgt nach denselbenPrinzipien aus der seemännischen Bevölkerung. DieKolonialtruppen werden teils durch die Bewohner derüberseeischen Besitzungen, teils durch die Ausgehobenen imMutterland ergänzt. Die Truppen des Heers sind: a) Infanterie:61 Linienregimenter zu 2 Bataillonen und 21 Jägerbataillone,alle diese zu je 4 Feld- und 2 Depotkompanien, 140Reservebataillone und 140 Depotbataillone zu 6 Kompanien (davon 2in Kadrestärke), 31 Disziplinarbataillone; b) Kavallerie: 1Eskadron königlicher Garden, 28 Regimenter (8 Ulanen-, 14Jäger-, 4 Dragoner- und 2 Husarenregimenter) zu 4 Eskadrons,28 Reserveregimenter; c) Artillerie: 5 Regimenter zu 4 BatterienKorpsartillerie, 5 Regimenter zu 6 Batterien Divisionsartillerie, 1reitende Batterie, 2 Gebirgsartillerieregimenter (zu 6Bataillonen), 1 Regiment Belagerungsartillerie (mit 4 Batterien), 9Bataillone Festungsartillerie, 7 Reserveregimenter; die Batteriezählt im Frieden 4, im Krieg 6 Geschütze; d)Ingenieurtruppen: 4 Regimenter Sappeure und Mineure (zu 2Bataillonen), 4 Reserveregimenter, 1 Pontonierregiment, 1Eisenbahn- und 1 Telegraphenbataillon; e) die Guardia civil(Gendarmerie), die Karabiniere (Zoll- und Grenzwache) und dieProvinzialmiliz auf den Kanarischen Inseln - letztere mit 7Bataillonen). Der Friedens- und Kriegsstand betragen:

im Frieden

Infanterie 83 808 Mann

Kavallerie 14 364 -

Artillerie 11 340 -

Ingenieurtruppen 4 279 -

Andre Formationen 2 422 -

Zusammen: 116 213 Mann

im Krieg

Infanterie 734 679 Mann

Kavallerie 21 452 -

Artillerie 30 355 -

Ingenieurtruppen 7 163 -

Andre Formationen 9 538 -

Zusammen: 803 187 Mann

Die Kavallerie verfügt im Frieden über 10,233, imKrieg über 17,205 Pferde, die Artillerie zählt im Frieden392, im Krieg 460 Geschütze. Hierzu kommen dann die Guardiacivil mit 15,302 und die Karabiniere mit 10,940 Mann sowie dieselbständigen Kolonialtruppen (39,924 Mann). Die Kriegsflotteist verhältnismäßig sehr bedeutend an Zahl derSchiffe, doch entspricht nur der geringste Teil derselben denmodernen Anforderungen an gefechtstüchtige Schiffe. Es istdeshalb der Plan einer Reorganisation der Flotte beschlossen undder Bau einer Anzahl neuer Schlachtschiffe, Kreuzer, Kanonen- undTorpedoboote teils in Angriff, teils in Aussicht genommen worden.Ende 1886 umfaßte die Flotte:

4 Panzerschiffe 74 Kanonen 13 300 Pferdekr.

13 Torpedoboote 4 Kanonen 10 444 Pferdekr.

11 Kreuzer u. Korvetten 94 Kanonen 38 135 Pferdekr.

63 andre Dampfer 95 Kanonen 11 775 Pferdekr.

20 Schulschiffe u. Hulks 246 Kanonen 13 000 Pferdekr.

Zusammen:

111 Fahrzeuge 513 Kanonen 86 654 Pferdekr.

Die Bemannung beträgt 14,000 Köpfe; außerdembestehen 3 aktive und 3 nicht aktive Regimenter Marineinfanterie(zu 2 Bataillonen), die aktiven mit 7033 Mann; hierzu kommen 400Maschinisten, 180 Bootsleute, 1500 Arsenalarbeiter etc.

Wappen, Orden.

Das königliche Wappen (s. Tafel "Wappen") besteht aus einemin vier Felder abgeteilten Schild mit einem Mittelschild, welcherdurch das Wappen des Hauses Bourbon-Anjou, drei goldene Lilien imblauen Feld, gebildet wird. Das erste Quartier enthält dieWappen von Kastilien (drei goldene Türme im roten Feld) undLeon (ein gekrönter roter Löwe im silbernen Feld) undzwar doppelt, indem es kreuzweise in Felder abgeteilt ist. Zwischenseinen beiden untersten Feldern befindet sich das Wappen vonGranada, ein aufgesprungener Granatapfel im roten Felde. Daszweite, der Quere nach gespaltene Quartier enthält die Wappenvon Aragonien (vier rote Pfähle im goldenen Feld) und desKönigreichs beider Sizilien. Das dritte, ebenfalls geteilteQuartier zeigt oben das Wappen des Erzhauses Österreich, untendas der alten Herzöge von Burgund, das vierte Quartier aberdas neuburgundische Wappen, unten das Wappen von Brabant. Der ganzeWappenschild ist mit der Kette des Goldenen Vlieses umgeben und mitder königlichen Krone bedeckt; als Schildhalter dienen zweiaufrechte Löwen. Als gewöhnliches Wappen dient bloßder Wappenschild von Kastilien und Leon mit dem Wappen vonBourbon-Anjou im Mittelschild. Die Landesfarben sind Rot und Gelb.Die Flagge (s. Tafel "Flaggen") ist in drei horizontale Streifen,zwei rote und einen gelben (in der Mitte), geteilt, diekönigliche mit dem Wappen im Mittelstreifen versehen. S. hatzehn Ritterorden: den Orden des Goldenen Vlieses (toison de oro),1431 gestiftet, in einer Klasse, nur für Souveräne,Prinzen und Granden von S.; den Orden Karls III. (s. Tafel"Orden"), 1773 gestiftet, in drei Klassen; den Damenorden derKönigin Maria Luise, 1792 gestiftet, in einer Klasse; denamerikanischen Orden Isabellas der Katholischen, 1815 gestiftet, indrei Klassen; den Militärorden von San Fernando, 1815 ge-

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Spanien (geographisch-statistische Litteratur; Geschichte).

stiftet, in fünf Klassen; den Militärorden von St.Hermenegild, gleichfalls 1815 gestiftet, in drei Klassen; denMilitärorden von Santiago, 1175 gestiftet, in vier Klassen;den Militärorden von Calatrava, 1058 gestiftet, in einerKlasse; den Militärorden von Alcantara, 1177 gestiftet, indrei Klassen; den Orden von Montesa, 1319 gestiftet, in einerKlasse. Außer diesen Orden bestehen noch mehrere Ehrenzeichenfür Militärs. Königliche Residenz ist Madrid. DenMai pflegt der Hof nach altem Herkommen in Aranjuez, den Sommer inSan Ildefonso (La Granja), den Herbst im Escorial und in Pardozuzubringen.

[Litteratur.] M. Willkomm in Stein-Hörschelmanns "Handbuchder Geographie" (Leipz. 1862); Derselbe, Die PyrenäischeHalbinsel (Prag 1884); Carrasco, Geografia general de España(Madr. 1861 ff.); Coello, Reseña geografica de España(das. 1859); Mingotey Tarazona, Geografia de España y suscolonias (das. 1887); "Diccionario geografico-historico deEspaña por la Real Academia de la historia" (das. 1802-46, 8Bde.); Madoz, Diccionario geografico-historico-estadistico deEspaña (das. 1846-50, 16 Bde.); Mariana y Sanz, Diccionariogeografico, estadistico, municipal de España (Valencia1886); Martinez Alcubilla, Diccionario de la administracionespañola (4. Aufl., Madr. 1886 ff.); Cuendias, S. und dieSpanier (Brüssel 1851); v. Minutoli, S. und seinefortschreitende Entwickelung (Berl. 1852); Leftgarens, La situationéconomique et industrielle de l'Espagne en 1860 (Par. 1860);Garrido, Das heutige S. (deutsch von A. Ruge, Leipz. 1863);Davillier, L'Espagne (Par. 1873, illustriert von Doré);Simons, S. in Schilderungen (illustr. von Wagner, Berl. 1880);Lauser, Aus Spaniens Gegenwart. Kulturskizzen (Leipz. 1872);Parlow, Kultur und Gesellschaft im heutigen S. (das. 1888); dieReiseschilderungen von v. Minutoli, Huber, Cook, O'Shea, Th.Gautier, E. Qninet, Boissier, v. Rochau, Willkomm, v.Quandt,Ziegler, Roßmäßler, Wachenhusen, Hackländer,v. Wolzogen, W. Mohr (Köln 1876, 2 Bde.), Lauser (Berl. 1881),de Amicis (deutsch, Stuttg. 1880), Bark (Berl. 1883), Passarge(Leipz. 1884), Th. v. Bernhardi (Berl. 1886), Parlow (Wien 1889);Reisehandbücher von Murray (6. Aufl., Lond. 1882), O'Shea (6.Aufl., Edinb. 1878), Roswag (Madr. 1879), Germond de Lavigne (3.Aufl. 1880); die amtlichen Publikationen ("Annuario estadistico deEspaña", die Handels- und Schiffahrtsausweise, "Guia oficialde España"); das "Boletin de la Sociedad geografica deMadrid"; Vizaino, Atlas geografico español (Madr. 1860);eine topographische Karte wird auf Grund der Landesvermessung unterLeitung von Ibanez seit 1878 veröffentlicht; bis zu ihrerVollendung dient Coello, Atlas de España (1 : 200,000), alsoffizielle Karte; geologische Übersichtskarten lieferte F. deBotella (1:1,000,000, 1875, und 1:2,000,000, 1880).

Geschichte.

[Die Zeit der Römer und Westgoten.]

Die Ureinwohner der Pyrenäischen Halbinsel waren dieIberer, von denen die ganze Halbinsel Iberien hieß. Mit ihnenverschmolzen die in vorhistorischer Zeit über diePyrenäen aus Gallien eingewanderten Kelten nach langenKämpfen zu dem Volk der Keltiberer. Um 1100 v. Chr. siedeltensich Phöniker an der Südküste an; unter ihrenKolonien war Cadiz (Gades) die berühmteste. Sie nannten dasLand nach dem im Thal des Bätis (Guadalquivir) wohnenden Volkder Turdetaner Tarschisch (griech. Tartessos). Später setztensich Griechen an der Ostküste fest. Nach dem ersten PunischenKrieg eroberten die Karthager 237-219 den Süden und Osten derHalbinsel; Neukarthago (Cartagena) wurde ihre wichtigsteNiederlassung. In dem zweiten Punischen Krieg aber, der zum Teil inS. geführt wurde, verloren sie diese Besitzungen wieder (206).Die Römer suchten nun das ganze Land unter ihreBotmäßigkeit zu bringen, was ihnen jedoch erst nach 200jährigen blutigen Kämpfen gelang. Namentlich dieKeltiberer und die Lusitanier (unter Viriathus) leistetenhartnäckigen Widerstand, und die Kantabrer wurden erst 19 v.Chr. unter Augustus bezwungen, der S. anstatt wie bisher in zweiProvinzen (Hispania citerior und H. ulterior) in drei, Lusitania,Baetica und Tarraconensis, einteilte, von welch letzterngrößten Provinz unter Hadrianus die neue ProvinzGallaecia et Asturia abgezweigt wurde. Nur die Basken behauptetenin ihren Gebirgen ihre Unabhängigkeit. Da die Römer dasLand mit vielen Militärstraßen durchzogen und zahlreicheSoldatenkolonien anlegten, so wurde S. sehr rasch romanisiert, baldein Hauptsitz römischer Kultur und eins der blühendstenLänder des römischen Weltreichs, dem es mehrere seinertüchtigsten Kaiser (Trajan, Hadrianus, Antoninus, MarcusAurelius, Theodosius) u. angesehene Schriftsteller (Seneca,Lucanus, Martialis, Flavius, Quintilian u. a.) gab. Handel undVerkehr blühten, Gewerbe und Ackerbau standen auf einer hohenStufe der Vervollkommnung, und die Bevölkerung war eineäußerst zahlreiche. Frühzeitig gewann auch dasChristentum hier Anklang und breitete sich trotz blutigerVerfolgungen mehr und mehr aus, bis es durch Konstantin auch hierherrschende Religion ward.

Zu Anfang des 5. Jahrh., als der innere Verfall desrömischen Reichs auch seine äußere Machterschütterte, drangen die germanischen Völkerschaften derAlanen, Vandalen und Sueven verwüstend in S. ein und setztensich in Lusitanien, Andalusien und Galicien fest, während dieRömer sich noch eine Zeitlang im östlichen Teil derHalbinsel behaupteten. 415 erschienen die Westgoten (s. Goten, S.537), anfangs als Bundesgenossen der Römer, in S. undverdrängten bald die andern germanischen Stämme; ihrKönig Eurich entriß den Römern auch den letztenRest ihres Gebiets, und Leovigild unterwarf nach gänzlicherUnterjochung der Sueven 582 die ganze Halbinsel der westgotischenHerrschaft. Sein Sohn und Nachfolger Reccared I. trat mit seinemVolk vom arianischen zum katholischen Glauben über (586) undbahnte dadurch die Verschmelzung der Goten mit den Römern zueinem romanischen Volk an. Allerdings hatte dieser Schritt noch dieandre Folge, daß die katholische Geistlichkeitübermäßige Macht erlangte und im Bund mit dem Adeldie sich schon befestigende Erblichkeit der Krone verhinderte, umbei der Wahl jedes neuen Oberhauptes die königliche Gewaltmöglichst einzuschränken. Als 710 König Witiza vondem Klerus und dem Adel unter Führung des Grafen Roderichgestürzt und getötet wurde, riefen seine Söhne dieAraber von Afrika zu Hilfe, welche 711 unter Tarik bei Gibraltarlandeten und dem westgotischen Reich nach fast 300jährigerDauer durch den Sieg bei Jeres de la Frontera (19.-25. Juli d. J.)ein Ende machten. Fast ganz S. wurde in kurzer Zeit von den Arabernerobert und ein Teil des großen Kalifats der Omejjaden.

Herrschaft der Araber.

Die Araber (Mauren) verfuhren in der ersten Zeit sehr schonendgegen die alten Einwohner und ließen

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Spanien (Geschichte bis 1118).

ihr Eigentum, ihre Sprache und Religion unangetastet. IhreHerrschaft erleichterte den untern Klassen sowie den zahlreichenJuden ihre Lage, und der Übertritt zum Islam verschaffte denhart bedrückten Leibeignen die ersehnte Freiheit. Aber auchviele Freie und Angesehene traten zum Islam über; denen, dieChristen blieben, wurden bloß Steuern auferlegt. Denaufreibenden Zwistigkeiten und blutigen Fehden, welche Ehrgeiz undHerrschsucht der arabischen Häuptlinge in dieser entferntenProvinz des Kalifats hervorriefen, machte 755 der bei derVernichtung durch die Abbassiden einzig übriggebliebeneSproß der Omejjaden, Abd ur Rahmân, ein Ende, welchernach S. flüchtete und hier, vom Volk mit Jubelbegrüßt, ein eignes Reich mit der Hauptstadt Cordova,das sogen. Kalifat von Cordova, gründete, welches er auch biszu seinem Tod (788) behauptete und auf seine Nachkommen vererbte.Obwohl diese ebenfalls wiederholte Empörungen der Statthalterund andre durch Thronansprüche und Abgabendruck hervorgerufeneUnruhen zu bekämpfen hatten, so konnten sie doch Künsteund Wissenschaften pflegen und die friedliche Entwickelung vonGewerbe, Handel und Ackerbau schützen. Wohlstand und Bildungmehrten sich, und Cordova ward ein glänzender Herrschersitz.Unter Abd ur Rahmân III. (912-961) erreichten arabische Kunstund Wissenschaft in S. ihre höchste Blüte. VolkreicheStädte schmückten das Land; das Gebiet des Guadalquivirsoll allein 12,000 bewohnte Orte gezählt haben. Cordova hatte113,000 Häuser, 600 Moscheen, darunter die prachtvolleHauptmoschee, und herrliche Paläste, darunter den Alkazar; mitCordova wetteiferten andre Städte, wie Granada mit derAlhambra, Sevilla, Toledo u. a. In gleichem Sinn wie Abd urRahmân III. regierte sein als Dichter und Gelehrterausgezeichneter Sohn Hakem II. (961-976), wogegen unter demschwachen Hischam II. (976-1013) das Kalifat zu sinken begann. Esgelang den Arabern nicht, mit den altspanischen Einwohnern sich zuverschmelzen und ein Staatswesen mit feststehenden gesetzlichenOrdnungen zu begründen. Despotismus und Anarchie wechseltenmiteinander ab: bald zerriß der ganze Reichsverband, wenn dieStatthalter und hohen Befehlshaber den Gehorsam verweigerten; baldlag das Land blutend und demütig zu Füßen desHerrschers, wenn diesem die Unterdrückung der Empörermittels fremder Söldnerscharen gelungen war. Das Volk verfielin Genußsucht und Verweichlichung und ließ willenlosalles über sich ergehen. Der berühmteste unter denkriegerischen Statthaltern Hischams II. war Mansur, der ebensokunstsinnig und klug wie tapfer und gewaltthätig den Staat mitunumschränkter Macht leitete, Santiago, den heiligenApostelsitz Galiciens, zerstörte (994) und die Christen invielen blutigen Fehden überwand, bis er endlich an den Wunden,die er in der heißen Schlacht am Adlerschloß (KalatNosur) unweit der Quellen des Duero in kühnem Handgemengeempfangen, in den Armen seines Sohns Abd al Malik Modhaffer starb(1002). Nach dem Tode dieses (1008), der mit gleicher Kraft wiesein Vater regierte, machten die Statthalter ihr Amt erblich undgründeten sich unabhängige Herrschaften; um den Thronwurde mit wilder Erbitterung gekämpft, und der letzteomejjadische Kalif, Hischam III., wurde 1031 durch einen Aufstandin Cordova gestürzt. Diesen Zustand benutzend, griffen diechristlichen Spanier die Araber immer erfolgreicher an unddrängten sie allmählich in den südlichen Teil derHalbinsel zurück.

Das Emporkommen christlicher Königreiche.

Nur in den nördlichen Gebirgen, in Asturien, hatten Scharenflüchtiger Westgoten ihre Unabhängigkeit behauptet undsich unter der Herrschaft des tapfern Pelayo (Pelagius) vereinigt,der, ein Nachkomme des westgotischen Königs Receswinth, 718(oder 734) ein arabisches Heer besiegt haben und darauf zumKönig ausgerufen worden sein soll; er wird deshalb elrestaurador de la libertad de los Españoles genannt. Seindurch Wahl erhobener zweiter Nachfolger, Alfons I. (739-757), auchein Abkömmling jenes Westgotenkönigs und Sohn des HerzogsPeter von Kantabrien, vereinigte dieses Land mit Asturien. AlfonsII. (791-842) drang auf seinen verheerenden Streifzügen gegendie Araber bis zum Tajo vor und eroberte das Baskenland im Osten,Galicien bis zum Minho im Westen. Gleichzeitig wurde im NordostenSpaniens von den Franken die Spanische Mark gegründet und dieHerrschaft des Christentums in Katalonien durch zahlreicheEinwanderer gesichert. In den fast ununterbrochenen Kämpfenmit den Ungläubigen bildete sich ein christlicher Lehnsadel,welcher durch ritterliche Tapferkeit zugleich Ruhm, weltlichenBesitz und das ewige Seelenheil zu erlangen strebte. So bildetensich nördlich vom Duero und Ebro allmählich vierchristliche Ländergruppen, welche sich durch festeInstitutionen, Reichstage, Gesetzsammlungen und den Ständenzugesicherte Rechte (Fueros) zu konsolidieren bemüht waren: 1)im Nordwesten Asturien, Leon und Galicien, welche nachvorübergehenden Teilungen im 10. Jahrh. unter OrdoñoII. und Ramiro II. zu dem Königreich Leon vereinigt wurden,das 1057 nach kurzer Unterwerfung unter Navarra von Sancho MayorsSohn Ferdinand mit den neuen Eroberungen im Süden alsKönigreich Kastilien verbunden wurde; 2) das Baskenland,welches mit benachbartem Gebiet von Sancho Garcias zumKönigreich Navarra erhoben wurde, unter Sancho Mayor (1031-35)das ganze christliche Gebiet Spaniens beherrschte, 1076-1134 mitAragonien vereinigt, seitdem aber wieder selbständig war; 3)das Gebiet am linken Ebro, Aragonien, seit 1035 selbständigesKönigreich; 4) die aus der Spanischen Mark entstandeneerbliche Markgrafschaft Barcelona oder Katalonien.

Trotz dieser Zersplitterung zeigten sich die christlichen Reicheden Arabern gewachsen. Als nach dem Untergang der Dynastie derOmejjaden (1031) das Araberreich in mehrere Teile unter besondereDynastien in Sevilla, Toledo, Valencia und Saragossa zerfallen war,gerieten 1085 Toledo, das Haupt von S., dann Talavera, Madrid undandre Städte in die Gewalt der Christen. Die vom Emir vonSevilla zu Hilfe gerufenen Almorawiden aus Afrika befestigten zwarden Islam durch ihre Siege bei Salaca (1086) und bei Ucles (1108)und rissen die Herrschaft über das arabische S. an sich; aberder Glaubenseifer und Kampfesmut der Christen erhielt durch diegleichzeitige Bewegung der Kreuzzüge ebenfalls einen neuenAufschwung. Alfons I. von Aragonien, der durch seineVermählung mit Urraca, der Erbtochter von Kastilien,zeitweilig (bis 1127) dies Reich mit Aragonien vereinigte und sichKaiser von Hispanien nannte, eroberte 1118 Saragossa und machte eszu seiner Hauptstadt. Auch nach der Trennung von Kastilien undAragonien blieben beide Reiche zum Kampf gegen die Ungläubigenverbunden, und letzteres Reich ward durch die Vereinigung mitKatalonien infolge der Heirat der aragonischen

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Spanien (Geschichte bis 1479).

Erbtochter Petronella mit Raimund Berengar II. von Barcelona1137 bedeutend vergrößert und gekräftigt. Nunerlangten die Christen bald völlig die Oberhand über dieAraber. Als die Herrschaft der Almorawiden in Afrika 1147 von denAlmohaden gestürzt wurde, riefen jene, um sich in S. zubehaupten, die Christen zu Hilfe, welche sich Almerias und Tortosasbemächtigten. Gegen die Almohaden, welche auch dassüdliche S. unter ihre Gewalt brachten, bewährtenbesonders die spanischen Ritterorden ihre glaubensmutige Tapferkeitund machten die Niederlage bei Alarcos (1195) durch denglänzenden Sieg bei Naves de Tolosa (16. Juli 1212) wiedergut, welcher den Sturz der Almohadenherrschaft zur Folge hatte. InAndalusien gründete Aben Hud (Motawakkel) eine Dynastie,welche sich unter den Schutz der Abbassiden von Bagdad stellte; inValencia regierte eine andre arabische Dynastie. Durch die Schlachtbei Merida (1230) wurde Estremadura den Arabern entrissen; nach demSieg bei Jeres de la Guadiana (1233) eroberte Ferdinand III. vonKastilien 1236 Cordova, 1248 Sevilla und 1250 Cadiz. Die Mosleminwanderten zu Tausenden nach Afrika oder nach Granada und Murciaaus, aber auch diese Reiche mußten die OberherrschaftKastiliens anerkennen. Die unter kastilischer Herrschaftzurückgebliebenen Mohammedaner nahmen mehr und mehr dieReligion und die Lebensformen der Sieger an, und zahlreichevornehme Araber traten nach empfangener Taufe in den spanischenAdel ein.

Kastilien und Aragonien.

Wie sehr durch die Siege Ferdinands III. die Macht Kastiliens(s. d.) gestiegen war, so blieb es doch auch nicht von innernWirren verschont, welche namentlich unter dem Beschützer derKünste und Wissenschaften, König Alfons X., dem Weisen(1252-84), das Reich zerrütteten und die Macht des Adelsvermehrten. Auch unter Sancho IV. (1284-95), Ferdinand IV.(1295-1312) und Alfons XI. (1312-50) dauerten die Zwistigkeiten inder Königsfamilie fort. Ordnung und Zucht lösten sichauf, das königliche Ansehen schwand, die Krongüter wurdenentfremdet, Gemeinden, Korporationen und mächtige Edelleutegriffen zur Selbsthilfe und befreiten sich von jeder Obrigkeit.Dennoch errangen die Kastilier über die Araber großeErfolge; sie erfochten 1340 den glänzenden Sieg bei Salado undschnitten durch Eroberung von Algeziras Granada von der Verbindungmit Afrika ab, so daß dessen Fall nur eine Frage der Zeitwar. Auch das Reich Aragonien (s. d.) nahm einen mächtigenAufschwung. Jakob I. (Jaime), der von 1213 bis 1276 regierte,unterwarf 1229-33 die Balearen, 1238 Valencia und drang erobernd inMurcia ein; sein Sohn Pedro III. (1276-85) entriß 1282 denAnjous die Insel Sizilien; Jakob II. (1291-1327) eroberte Sardinienund setzte 1319 auf dem Reichstag zu Tarragona die Unteilbarkeitseines Reichs fest. Freilich mußten die aragonischenKönige diese Eroberungen mit großen Zugeständnissenan die Stände (Cortes) erkaufen, besonders durch dasGeneralprivilegium von Saragossa (1283), welches Aragonien fast ineine Republik verwandelte. In beiden Reichen war unter denStänden der Klerus der mächtigste: jeder Sieg überdie Ungläubigen vermehrte seine Rechte und seinen Reichtum,durch prunkvollen Kultus und phantastische Mystik bemächtigteer sich des Volksgeistes und pflanzte ihm einenverfolgungssüchtigen Religionsfanatismus ein. Der hohe Adelmaßte sich das Recht an, dem König die Treue aufzusagen;nicht bloß er, auch die niedern Adligen waren steuerfrei.Aber auch Städte und Landgemeinden erhielten ihre verbrieftenSonderrechte (Fueros). In Aragonien waren die Rechte derUnterthanen dem König gegenüber durch den Gerichtshof derJusticia geschützt. Die Stände traten in beiden Reichenzu Reichstagen (Cortes) zusammen, welche über Wohlfahrt undSicherheit des Reichs, Gesetzgebung und Besteuerung berieten.Handel und Gewerbe standen in den volkreichen Städten unterdem Schutz weiser Gesetze; an den Höfen wurde die Dichtkunstder Troubadoure gepflegt.

Am besten wurden die Dinge in Aragonien geordnet, von Pedro IV.(1336-87) nach dem Sieg über die Union von Epila (1348) auchdas Waffenrecht des Adels beseitigt, und daher kam es, daß indiesem Reich nach dem Erlöschen der alten Dynastie mit Martin(1395-1410) die kastilische Dynastie, welche mit Ferdinand I.(1412-16) den Thron bestieg, die Herrschaft auch über dieNebenlande: Balearen, Sardinien und Sizilien, behauptete und aufkurze Zeit auch Navarra wieder erwarb. In Kastilien dagegen warender hohe Adel und die Ritterorden von Santiago, Calatrava undAlcantara übermächtig. Mit Hilfe der Städte, welcheeine Verkaufs- und Verbrauchssteuer, die Alcavala, bewilligten,suchte sich das Königtum eine freiere, unabhängigereStellung gegenüber der Feudalaristokratie zu verschaffen. AberPeter der Grausame (1350-69) machte den Erfolg dieserBemühungen durch seine wilde Leidenschaft und grausameTyrannei wieder zu nichte. Er wurde 1366 von seinem HalbbruderHeinrich von Trastamara mit Hilfe französischerSöldnerscharen vertrieben und, nachdem ihn der schwarze Prinzdurch einen Zug über die Pyrenäen wieder auf den Thronerhoben, durch die Niederlage bei Montiel (14. März 1369) vonneuem gestürzt und kurz darauf ermordet. Heinrich II.(1369-79), welcher Viscaya erwarb, und Johann I. (1379-90)schwächten das Königtum durch unglückliche Versuche,Portugal zu erobern, welches 1385 in der Schlacht bei Aljubarrotaseine Unabhängigkeit siegreich verteidigte. Heinrich III.(1390-1406) stellte die Ordnung wieder her und nahm die KanarischenInseln in Besitz. Von neuem wurde jedoch Kastilien zerrüttetunter der langen, aber schwachen Regierung Johanns II. (1406-54);das Unternehmen seines Günstlings de Luna, ein absolutesKönigtum zu errichten, endete mit dessen Sturz (1453). Dersteigenden Verwirrung unter Heinrich IV. (1454-74) wurde endlichdurch die Thronbesteigung seiner Schwester Isabella ein Endegemacht. Dieselbe besiegte den König Alfons von Portugal, derals Gemahl der unechten Tochter Heinrichs IV., Johanna Beltraneja,auf Kastilien Anspruch machte, 1476 bei Toro und zwang ihn zumFrieden von Alcantara; darauf unterjochte sie die ihr feindlichePartei der Großen mit Waffengewalt. Und als KönigFerdinand von Sizilien, mit dem sie sich 1469 vermählt hatte,durch den Tod seines Vaters Johann II. von Aragonien 1479König dieses Reichs geworden war, wurde durch Vereinigung derkastilischen und der aragonischen Krone das Königreich S.geschaffen.

Spanien als Weltmacht.

Die Thronbesteigung des Königspaars Ferdinand und Isabellabewirkte aber nicht nur die Vereinigung der zwei Hauptreiche derHalbinsel, sondern auch ihre staatliche Reorganisation und dieBegründung einer machtvollen Königsgewalt in derselben.Vor allem in Kastilien war der unbotmäßige Adel einHaupthindernis für Aufrechterhaltung von

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Spanien (Geschichte bis 1570).

Recht und Frieden. Um diese zu sichern, wurde die "heiligeHermandad", alte Verbrüderungen einzelner Städte zugegenseitigem Schutz gegen Gewaltthaten, wieder belebt und zu einemVerein (Junta) der Städte und Landschaften zurAufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheitumgeschaffen, welcher 2000 berittene Gendarmen und zahlreichesFußvolk zur Verfügung hatte, um die 1485 erlasseneGerichtsordnung durchzuführen. Die Großen wurdengezwungen, die geraubten Güter herauszugeben und den Fehden zuentsagen. Der Adel mußte sich den königlichenGerichtshöfen beugen und auf alle königlichen Vorrechte,auch auf die hohen Staatsämter, welche jetzt nur nachVerdienst verliehen wurden, verzichten. Indem Ferdinand sich zumGroßmeister der drei Ritterorden erwählen ließ,machte er sie zu Werkzeugen der Krone; die hohe Geistlichkeit wurdeder königlichen Jurisdiktion unterworfen. Die Verwaltung wurdevorzüglich organisiert, die königlichen Einkünftevermehrt, Künste und Wissenschaften gepflegt. Die Inquisition,welche in dem fanatischen Glaubenseifer des Volkes eineHauptstütze fand, wütete nicht nur gegen Juden, Moriskenund ketzerische Christen, sondern war auch ein Schreckmittel in derHand der Krone, um Adel und Volk in Furcht und Unterwürfigkeitzu halten und jede freiheitliche Bewegung zu unterdrücken. Diezahlreichen Juden (160,000) wurden 1492 aus dem Reich vertriebenund die alleinige Herrschaft des Kreuzes auf der IberischenHalbinsel durch die Eroberung von Granada (2. Jan. 1492) vollendet.Die gleichzeitige Entdeckung Amerikas eröffnete der spanischenNation ein unermeßliches Feld ruhmvoller zivilisatorischerThätigkeit und die Aussicht auf einen glänzendenAufschwung des Handels und Gewerbes. Die militärischeTüchtigkeit der spanischen Heere bewährte sich zuerst inden Kämpfen um Italien, wo 1504 Neapel unter spanischeHerrschaft gebracht wurde.

Erbin Ferdinands und Isabellas wurde die älteste Tochter,Johanna, welche mit ihrem Gemahl Philipp I., dem Sohn des deutschenKaisers Maximilian I., nach Isabellas Tod (1504) zunächst inKastilien zur Regierung kam; mit Philipp bestieg das Haus Habsburgden spanischen Thron. Als Philipp 1506 jung starb und Johannawahnsinnig wurde, ward zum Vormund ihres Sohns Karl von denkastilischen Ständen Ferdinand erklärt, welcher 1509 Oraneroberte und 1512 Navarra mit seinem Reich vereinigte. NachFerdinands Tod (1516) übernahm Kardinal Jimenez dieRegentschaft bis zur Ankunft des jungen Königs Karl I.,welcher 1517 selbst die Regierung antrat und den verdientenStaatsmann sofort entließ. Da Karl 1519 auch zum deutschenKaiser (Karl V.) gewählt wurde und deshalb schon 1520 Spanienwieder verließ, brach der Aufstand der Comuneros aus, welchersich die Verteidigung der volkstümlichen InstitutionenSpaniens gegen die absolutistischen Gelüste Karls und seinerniederländischen Räte zum Ziel setzte. Als die Comunerosaber einen durchaus demokratischen Charakter annahmen und, seitdemsie siegreich um sich griffen, eine völlige Umwälzung derDinge anstrebten, wurden sie durch den Sieg des Adelsheers beiVillalar (21. April 1521) und durch die Hinrichtung ihresFührers Padilla unterdrückt. Karl V. erließ zwarnach seiner Rückkehr (Juli 1522) eine allgemeine Amnestie,benutzte aber den durch die Bewegung erregten Schrecken des Adelsund der Städte, um, ohne die Formen und Institute der altenVolksfreiheit geradezu zu beseitigen, doch sie so eng zu begrenzen,daß die Cortes zu einem Widerstand gegen den Willen der Kroneunfähig wurden, der Adel in einer übertriebenenLoyalität seine erste Pflicht sah und auch das Volk demKönigtum und seinen Weltherrschaftsplänen bereitwilligfolgte. Ohne Zögern bewilligten fortan die Cortes die Gelderfür die Kriege Karls V. gegen Frankreich, für dieUnternehmungen gegen die seeräuberischen Mauren in Afrika,für die Unterdrückung des Schmalkaldischen Bundes inDeutschland. Für die Begründung einer habsburgischenWeltmacht und die Ausbreitung des römisch-katholischenGlaubens kämpften die spanischen Heere am Po, an der Elbe, inMexiko und Peru. Dem Stolz der Spanier schmeichelte es, diegebietende Macht in Europa zu sein, ihrem Glaubenseifer, fürdie Ausrottung der Ketzerei, wie früher des Islam, zustreiten. Erfüllt von dem Ideal eines Siegs des wahrenGlaubens durch Spaniens Macht, ließ das Volk die Wurzelnseiner Kraft verdorren. Mit Beifall sah es zu, wie dieunglücklichen Morisken bedrückt und außer Landesgetrieben, Tausende von Landsleuten von der Inquisition auf denScheiterhaufen geschleppt, jede freie geistige Regungunterdrückt, jeder Widerstand gegen die unbeschränkteKönigsgewalt niedergeschlagen ward, wie Gewerbe, Handel undAckerbau durch ein willkürliches Steuersystem zu Grundegerichtet wurden, um die Kriegskosten aufzubringen. Nichtbloß der Adel, auch Bürger und Bauern drängten sichzum Kriegsdienst; wer nicht in den Krieg zog, suchte in einemStaatsamt, wie gering es auch war, ein bequemes Brot; derbürgerliche und bäuerliche Erwerb wurde verachtet. DieKirche bestärkte das Volk in dieser Sinnesrichtung und beutetesie zu ihrer Bereicherung aus; immer mehr Grund und Boden fiel andie Tote Hand und ward Weideland oder blieb öde und unbebaut,wogegen die Kirchen und Klöster den Bettelstolz durch ihreAlmosen nährten. Der Handel ging an die Fremden über,welche S. und seine Kolonien für sich ausbeuteten.

Als Karl V. 1556 die Regierung niederlegte, wurden dieösterreichischen Besitzungen des Hauses Habsburg und dieKaiserkrone von S. wieder getrennt, das in Europa nur dieNiederlande, die Franche-Comté, Mailand, Neapel, Sizilienund Sardinien behielt. Indes das Ziel der spanischen Politik bliebdasselbe und wurde mit noch mehr Fanatismus und mit nochrücksichtsloserer Vergeudung der Volkskraft verfolgt. S. wurdeder Mittelpunkt einer mit großartigen Machtmitteln ins Werkgesetzten katholischen Reaktionspolitik, welche den Sieg desrömischen Papismus zugleich über Türken und Ketzererstreiten wollte. Zu diesem Zweck unterdrückte Philipp II.(1556-98) den Rest der politischen Freiheiten und unterwarf alleStände einem unumschränkten Despotismus. Durch dasfurchtbare Werkzeug der Inquisition wurde jederUnabhängigkeitssinn erstickt. Die drückendenMaßregeln gegen die Morisken reizten diese 1568 zu einemgefährlichen Aufstand, der erst 1570 nach den blutigstenKämpfen erstickt wurde. 400,000 Morisken wurden aus Granadanach andern Teilen des Reichs verpflanzt, wo sie zu Grunde gingen.Die unaufhörlichen Kriege zehrten nicht nur die reichenEinkünfte der Kolonien auf, sondern zwangen den König,auf immer neue Mittel zu sinnen, seine Einnahmen zu vermehren;jedes Eigentum (außer dem der Kirche) und jedes Gewerbe wurdemit den drückendsten Steuern belegt, Schulden aller Artaufgenommen, aber nicht bezahlt, die Münze verschlechtert,Ehren und Ämter verkäuflich gemacht, schließlichsogen. Donativen, Zwangsanleihen, den

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Spanien (Geschichte bis 1746).

Einwohnern abgefordert. Dabei hatte die spanischeReaktionspolitik nicht einmal Erfolge aufzuweisen. Wohl bedecktensich die spanischen Regimenter auf allen Schlachtfeldern mit Ruhmdurch ihre Kriegskunst und Tapferkeit, aber sie verfielen auch ineine schreckliche moralische Verwilderung. Zwar siegte Juand'Austria 1571 bei Lepanto über die türkische Seemacht;aber der Sieg wurde nicht benutzt, sogar Tunis ging wiederverloren. Albas Schreckensregiment in den Niederlanden rief derenVerzweiflungskampf hervor, welcher ungeheure Summen verschlang undSpaniens See- und Kolonialmacht einen tödlichen Schlagversetzte. Der Versuch, England der katholischen Kirche wieder zuunterwerfen, scheiterte 1588 mit dem Untergang der großenArmada. Die Einmischung in die Religionswirren Frankreichs hattenur die Einigung und Kräftigung dieses Staats zur Folge. Diewiderrechtliche Besetzung Portugals 1580 schädigte dies Landaußerordentlich, brachte aber S. keinen Nutzen. Als PhilippII. 1598 starb, war die Bevölkerung auf 8¼ Mill.zurückgegangen, die eine Steuerlast von 280 Mill. Realenaufzubringen hatten. Dagegen hatte das Land 750 Bistümer,gegen 12,000 Klöster und 400,000 Geistliche, ferner 450,000Beamte; außer diesen und dem verarmten Adel gab es fast nurnoch Bettler, welche sich von den Almosen der Kirche nährten.Gleichwohl täuschte die glänzende Machtstellung, welcheS. in Europa an der Spitze der katholischen Gegenreformationeinnahm, die Regierung wie das Volk gänzlich über diewirkliche Lage. Von dem unerschütterten Selbstgefühl undder Begeisterung der Nation für ein ideales Ziel, die Machtund Einheit der Kirche, zeugt der außerordentlicheAufschwung, welchen am Anfang des 17. Jahrh. Dichtkunst, Malereiund Baukunst in S. nahmen.

Verfall des Reichs unter den letzten Habsburgern.

Unter der Regierung des schwachen Königs Philipp III.(1598-1621), welcher sich ganz von seinem Günstling Lermabeherrschen ließ, wurden zwar die auswärtigen Kriegeohne Thatkraft geführt, 1609 sogar mit den Niederlanden einWaffenstillstand geschlossen; aber durch das Gnadenedikt vom 22.Sept. 1609 wurden 800,000 Morisken vertrieben, und das fruchtbareValencia verödete völlig. Philipp IV. (1621-65), welchereinen prächtigen Hof hielt und die Kunst pflegte undunterstützte, nahm die kriegerische Politik Philipps II.wieder auf. Im Bund mit Österreich wollte er dieAlleinherrschaft des Papsttums wiederherstellen und einhabsburgisches Weltreich errichten. Der Krieg mit den freienNiederlanden begann von neuem. Im Dreißigjährigen Kriegkämpften wieder spanische Truppen in Deutschland und Italien,und der spanische Gesandte in Wien hatte in deutschenAngelegenheiten die entscheidende Stimme. Aber auf einmal brach dasglänzende Gebäude schmählich zusammen, und es ergabsich, daß die Weltmacht Spaniens nur trügerischer Scheingewesen. Die offene Verletzung der provinzialen Sonderrechte durchden allmächtigen Minister Olivarez rief 1640 einen Aufstand inKatalonien hervor, dem der Abfall Portugals und Empörungen inandern Provinzen folgten. Portugal konnte gar nicht, Katalonienerst nach 13jährigem Kampf bezwungen werden. Das hierdurchtief getroffene S. war nun dem mächtig emporstrebendenFrankreich nicht mehr gewachsen. Nach 80jährigem Kampfmußte es 1648 im Frieden zu Münster dieUnabhängigkeit der Vereinigten Niederlande und in Deutschlanddie Gleichberechtigung der Ketzer anerkennen. Im PyrenäischenFrieden 1659 verlor es Roussillon und Perpignan sowie einen Teilder Niederlande an Frankreich, Dünkirchen und Jamaica anEngland. Als nach dem Tod Philipps IV. der schwächliche KarlII. (1665-1700) den Thron bestieg, erhob der französischeKönig Ludwig XIV. als Gemahl von Philipps Tochter MariaTheresia Erbansprüche auf die spanischen Niederlande und wurdeim sogen. Devolutionskrieg nur durch das Eingreifen derTripelallianz daran verhindert, sich derselben ganz zubemächtigen; im Frieden von Aachen 1668 erhielt er zwölfniederländische Festungen, im Frieden von Nimwegen wiederumeine Anzahl fester Plätze und die Franche-Comté; mittenim Frieden bemächtigte er sich 1684 Luxemburgs. S., welcheseinst ganz Europa mit seinen Heeren beherrscht hatte, über dieSchätze beider Indien gebot, konnte jetzt seine Grenzen nichtmehr verteidigen und war auf den Beistand der früher soerbittert bekämpften Ketzer angewiesen. Die Seemacht warvöllig zu Grunde gegangen, so daß S. seinen eignenHandel nicht zu beschützen vermochte, die Häfenverödeten, die Bevölkerung sich von den schutzlosenKüsten ins Innere zurückzog, Westindien ungestraft vonden Flibustiern geplündert und gebrandschatzt wurde. Am Endeder Regierung Karls II. war die Bevölkerung auf 5,700,000Seelen herabgesunken, von zahllosen Ortschaften war dieBevölkerung verschwunden, ganze Landstriche glichenWüsten. Die Staatseinkünfte verminderten sich trotz deshärtesten Steuerdrucks und fast räuberischerFinanzmaßregeln so, daß der König seineDienerschaft nicht mehr bezahlen konnte, oft nicht einmal seineTafel. Weder Beamte noch Soldaten wurden besoldet. Aus Geldmangelkehrte man in vielen Provinzen zum Tauschhandel zurück. Dieswar die Lage Spaniens, als die spanischen Habsburger nach200jähriger Herrschaft 3. Nov. 1700 mit Karl II. erloschen,dies das Resultat ihrer selbstmörderischenkatholisch-absolutistischen Politik.

Spanien unter den Bourbonen bis zur französischenRevolution.

Durch den Streit, der zwischen Österreich und Frankreichüber die Thronfolge in S. entstand, ward S. in einenverderblichen Krieg verwickelt (s. Spanischer Erbfolgekrieg). Esverlor in demselben zwar seine europäischen Nebenlande undGibraltar, jedoch der Sieg des bourbonischen Prätendentenüber den habsburgischen in S. selbst war für das Land einGewinn, weil er die Möglichkeit einer Regeneration versprach.Der neue König, Philipp V. (1700-1746), obwohl selbst vonkeiner großen Bedeutung, brachte doch aus seiner Heimat einganz andres Regierungssystem und neue Kräfte in daszerrüttete Staatswesen. Die Fremden, Franzosen und Italiener,welche Philipp an die Spitze der Behörden und des Heersstellte, und unter denen Alberoni hervorragte, führten nun,wenn auch in etwas gewaltsamer Weise und in nur beschränktemUmfang, die Grundsätze der französischen Staatsverwaltungdurch: alle die einheitliche Staatsgewalt hemmendenMißbräuche wurden beseitigt, Handel und Gewerbe,Wissenschaft und Kunst gefördert, die Privilegien derProvinzen aufgehoben, eine einheitliche Besteuerung undSteuererhebung eingerichtet. Die wohlthätigen Folgen einerzwar unumschränkten, aber thätigen und verständigenKönigsmacht zeigten sich auch überraschend schnell. Aberals sie auch die Herrschaft der Kirche anfocht und derenMißbräuche abschaffen wollte, stieß die Regierungbeim Volk auf allgemeinen energischen Widerstand, dem Philipp V.unter dem Einfluß seiner zweiten Gemahlin, Elisabeth Farnese,nachgab; die Hierarchie feierte einen glänzenden Triumph, unddie Kurie und die Inquisition

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Spanien (Geschichte bis 1808).

herrschten nach wie vor in S. Ebenso verderblich wurde fürdas wieder erstarkende Land der Rückfall in die alteEroberungspolitik, welche sich besonders auf Erwerbung spanischerBesitzungen für spanische Infanten richtete. In der Thatwurden im polnischen und österreichischen Erbfolgekrieg (1738und 1748) Neapel und Parma als bourbonische Sekundogeniturengewonnen. Aber sie waren mit der Zerrüttung der Finanzen unddem Stocken aller Reformen teuer erkauft. Gleichwohl war die einmalgegebene Anregung nicht fruchtlos: das Volk war wenigstens ausseiner Apathie aufgerüttelt und wendete sich wieder der Arbeitund wirtschaftlichen Unternehmungen zu.

Die Regierung des schwächlichen, hypochondrischen FerdinandVI. (1746-59) war segensreich, weil sie sparsam und friedliebendwar. In materieller Beziehung nahm das Land einen bedeutendenAufschwung. Die Staatseinnahmen stiegen von 211 auf 352 Mill.,trotz der erheblichen Steuererleichterungen, und obwohl dieVerwaltung verbessert und reichlicher ausgestattet, eine stattlicheFlotte geschaffen und die Zinsen der Staatsschuld bezahlt wurden,hatte man fast 100 Mill. jährlichen Überschuß. Wennauch die Geistlichkeit noch 180,000 Personen zählte und einEinkommen von 359 Mill. besaß, so ward ihre Macht durch dasKonkordat von 1753 doch nicht unerheblich beschränkt,namentlich aber der finanziellen Ausbeutung des Landes durch dieKurie ein Ende gemacht. Einen bedeutenden Fortschritt aber in derEntwickelung zum modernen Staat bezeichnete die Regierung KarlsIII. (1759-88), des Stiefbruders Ferdinands VI., der, obwohlstrenggläubig, doch vom damals herrschendenStaatsbewußtsein erfüllt und S. den andern Staatenebenbürtig zu machen bestrebt war. Ihm standen bei seinenReformen drei bedeutende Staatsmänner, Aranda, Floridablancaund Campomanes, zur Seite. Die unglückliche BeteiligungSpaniens am Krieg Frankreichs gegen England 1761-62 infolge desnachteiligen bourbonischen Familienvertrags störte anfangs dieReformthätigkeit. Diese erhielt indessen eine wesentlicheFörderung 1767 durch die Ausweisung der Jesuiten. Nun konnteneine Menge Mißbräuche und Übergriffe derGeistlichkeit beseitigt oder beschränkt und ein erfreulichesZusammenwirken des Staats und der Kirche hergestellt werden,welches auf Bildung und Gesittung des Volkes einen höchstheilsamen Einfluß ausübte. Viele Reformen bliebenfreilich auf dem Papier stehen, da es bei der beispiellosenVersunkenheit Spaniens in Ackerbau, Gewerbe und Unterricht an allenVoraussetzungen ihrer Durchführbarkeit fehlte. Die30jährige angestrengteste Thätigkeit der Regierung, dieVerwendung ungeheurer Summen auf Ansiedelungen, Bergwerke,Fabriken, Straßen etc., die Freigebung des Handels mitAmerika brachten daher nur zum Teil Früchte. DieBevölkerung war 1788 erst auf 10,270,000 Seelen gestiegen, dieEinnahmen auf 400 Mill. Realen. Der zweite unglückliche Krieggegen England (1780-83), in den S. durch den Familienvertragverwickelt wurde, verschlang solche Summen, daß einverzinsliches Papiergeld ausgegeben werden mußte. Dieunleugbaren Fortschritte in Volksbildung und Volkswohlfahrthätten aber doch bei dem frischen Geist, bei der zugleichpatriotischen und freiheitlichen Bewegung, von denen die Nationdurchweht war, wohl günstige und dauernde Ergebnisse zur Folgegehabt, wenn S. eine längere Reformperiode vergönntgewesen wäre. Die vielversprechenden Anfänge gingen aberunter Karls III. Nachfolger Karl IV. (1788-1808) völlig zuGrunde, und S. wurde durch eine heillose, verbrecherische Politikdem Untergang nahegebracht.

Spanien während der Revolutionszeit.

Karl IV., ein gutmütiger, aber unfähiger Fürst,wurde ganz beherrscht von seiner klugen und entschlossenen, jedochsittenlosen Gemahlin Marie Luise von Parma, welche durchGünstlingswirtschaft und Verschwendung die Staatsverwaltungund die Finanzen in Verwirrung brachte und ihrem Geliebten Godoy,dem Friedensfürsten, den herrschenden Einfluß, endlichnach Beseitigung Floridablancas und Arandas im November 1792 auchdie oberste Leitung der Staatsgeschäfte verschaffte. NachdemS. dem Sturz der Bourbonen in Frankreich unthätig zugesehen,ward es 1793 doch durch die Hinrichtung Ludwigs XVI. und dieInsulten des Konvents veranlaßt, Frankreich den Krieg zuerklären, welcher mit einer so beispiellosen Unfähigkeitgeführt wurde, daß er trotz der Schwäche derFranzosen und trotz der Opferwilligkeit der Nation mit einerfeindlichen Invasion in Navarra, die baskischen Provinzen undAragonien endete. Die Gunst der Umstände verschaffte S. nochden vorteilhaften Frieden von Basel (22. Juli 1795), der ihm nurdie Abtretung von San Domingo auferlegte. Aber es geriet durchdenselben in völlige Abhängigkeit von Frankreich, welcheder leichtfertige Godoy durch den Vertrag von San Ildefonso (27.Juni 1796) besiegelte. Derselbe zwang S., das kaum die Kosten desletzten Kriegs hatte aufbringen können, zum Krieg mit England,und gleich die erste Schlacht beim Kap St. Vincent (14. Febr. 1797)zeigte die Unbrauchbarkeit der spanischen Flotte. Dazu unternahmGodoy 1801 in französischem Interesse noch einen ruhmlosenKrieg gegen Portugal. Im Frieden von Amiens (23. März 1802)mußte S. zwar an England bloß Trinidad abtreten; aberseine Herrschaft in den amerikanischen Kolonien warerschüttert, seine Finanzen zerrüttet; das Defizit beliefsich trotz Papiergelds und andrer verderblicher Maßregeln1797 auf 800 Mill., 1799 sogar auf 1200 Mill. Das Kriegsministeriumverbrauchte für ein Heer von 50,000 Mann 935 Mill., da dieZahl der Oberoffiziere übermäßig war; 1802 wurdenauf einmal 83 Generale ernannt. Der Hof nahm allein 105 Mill. inAnspruch, während das Volk infolge von Pest undMißernten darbte. Die Korruption am Hofe verbreitete sichbald über das ganze Land; die edelsten Patrioten wurden mitbrutaler Gewaltthätigkeit verfolgt, dagegen war man gegen rohePöbelexzesse schwach und nachgiebig.

Trotz dieser Zustände stürzte Godoy durch einen neuenungünstigen Vertrag mit Frankreich (9. Okt. 1803) dasfinanziell erschöpfte S. in einen Krieg mit England, inwelchem bei Finisterre (22. Juli) und bei Trafalgar (20. Okt. 1805)Spaniens letzte Flotte zu Grunde ging. Das Volk ließ diesalles geduldig über sich ergehen und wankte nicht in seinerunbedingten Loyalität; die Entrüstung richtete sich nurgegen den schamlosen Günstling Godoy, der in seinerVerblendung sich sogar mit der Hoffnung schmeichelte, Regent von S.zu werden oder sich die Königskrone von Südportugal aufsHaupt zu setzen. Als er, um dies letztere zu erreichen, sich mitFrankreich im Vertrag von Fontainebleau (27. Okt. 1807) zu einemKriege gegen Portugal verband und Napoleon französischeTruppen über die Pyrenäen in S. einrückenließ, kam es 18. März 1808 in Aranjuez zu einer Erhebungdes Volkes gegen Godoy. Derselbe wurde gestürzt, und unter demEindruck der Wut des erbitterten Volkes ließ sich derKönig bewegen, 19. März zu gunsten seines Sohns, desInfanten Ferdinand, abzu-

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Spanien (Geschichte bis 1812).

danken; derselbe hielt 24. März als Ferdinand VII. seinenEinzug in Madrid. Karl IV. nahm aber kurz darauf in einem Schreibenan Napoleon seine Thronentsagung als erzwungen zurück, und derfranzösische Kaiser entbot nun die spanischeKönigsfamilie nach Bayonne, wo Ferdinand nach längermSträuben 5. Mai auf die Krone zu gunsten seines Vatersverzichtete, dieser aber sofort seine Rechte an Napoleon abtrat.Nun wurde dessen Bruder Joseph, König von Neapel, 6. Juli imBeisein einer Junta von spanischen und amerikanischen Abgeordnetenin Bayonne zum König von S. ernannt und hielt, nachdem er unddie Junta 7. Juli die neu entworfene Verfassung beschworen hatten,20. Juli seinen Einzug in Madrid. Karl IV. ließ sich inCompiègne, Ferdinand VII. in Valençay nieder.

Wenn Napoleon auch die königliche Familie leicht beseitigthatte, so sah er sich doch bald in seiner Erwartung, auch S. raschnach französischem Vorbild umgestalten und seinen Interessendienstbar machen zu können, getäuscht. Das spanische Volkwar nicht im stande, die wohlthätigen Wirkungen derfranzösischen Staatsumwälzung zu würdigen; esfüllte dagegen tief die ihm zugefügte Schmach derFremdherrschaft. Edle und unedle Gefühle, Nationalstolz undwilder Fremdenhaß, patriotische Begeisterung undreligiöser Fanatismus, stachelten es zum Widerstand auf; diebeispiellose Erregtheit der Nation ließ die Schwäche dereignen Mittel und die ungeheure Übermacht des Gegners ganzvergessen, so daß niemand am Sieg zweifelte. Der geringeKulturstand des Landes, der Mangel an Ordnung und Sicherheit imStaatswesen, welcher bisher geherrscht hatte, machten dievöllige Auflösung aller Verhältnisse wenigerfühlbar und ermöglichten so die mehrjährige Dauereines verzweifelten Widerstandes, den ein höher kultiviertesLand nur wenige Monate hätte aushalten können. Bereits 2.Mai 1808, bei der Kunde von Ferdinands Entführung nachBayonne, war in Madrid ein Volksaufstand ausgebrochen, den dieFranzosen erst nach vielem Blutvergießen zu unterdrückenvermochten. Nun erhoben sich auch die Provinzen, zuerst Asturien;Provinzialjunten bildeten sich, die Guerillas bewaffneten sich inden Gebirgen, und alle Anhänger der Franzosen (Josefinos oderAfrancesados) wurden für Feinde des Vaterlandes erklärt.Zwar hatten die Franzosen beim ersten Zusammentreffen mit einerspanischen Feldarmee 14. Juli bei Rioseco glänzend gesiegt;aber Monceys Angriff auf Valencia wurde zurückgeschlagen, undeine Expedition des Generals Dupont endete mit seiner Umzingelungund der Kapitulation von Baylen (20. Juli 1808). Die tapfereVerteidigung Saragossas, die Räumung Madrids durch Joseph undder allgemeine Rückzug der Franzosen vermehrten dieBegeisterung. Zugleich war Wellington mit einem englischen Korps inPortugal gelandet und hatte die Franzosen zum Abzug gezwungen. Zwarbehaupteten diese, namentlich so oft Napoleon selbst sich an ihreSpitze stellte, in S. in offenem Felde die Oberhand; sie siegtenbei Burgos (10. Nov.), Espinosa (10. u. 11. Nov.) und Tudela (23.Nov.) und zogen 4. Dez. wieder in Madrid ein, wo 22. Jan. 1809Joseph von neuem seine Residenz aufschlug. Die Expedition desenglischen Generals Moore in Galicien scheiterte. Allein nun nahmder Krieg immer mehr den Charakter des furchtbarsten Volkskampfesan und wurde durch die im Sept. 1808 in Aranjuez errichteteZentraljunta einheitlich geleitet. Diese beging zwar manche Fehler,griff oft in höchst verkehrter Weise in die Kriegsoperationenein und setzte tüchtige Generale ab, gab aber durch den Aufrufzum Guerillakrieg (28. Dez. 1808) dem Kampf den für dieFranzosen so verderblichen Charakter des kleinen Kriegs. In diesemkamen die Vorzüge der Spanier, verwegener Mut, unbändigeLeidenschaftlichkeit und große Ausdauer in Strapazen undEntbehrungen, recht zur Geltung; die fortwährenden kühnenUnternehmungen der Guerillas rieben die Kräfte der Franzosenauf und entrissen ihnen die Früchte ihrer Siege im offenenFelde. Die Franzosen siegten 27. März 1809 bei Ciudad Real,28. März bei Medellin, und die Zentraljunta mußte nachSevilla flüchten. Zwar wurde Soult im Mai 1809 von Wellingtonaus Portugal vertrieben und mußte Galicien und Asturienräumen, worauf Wellington in S. eindrang und die Franzosen 27.und 28. Juli bei Talavera schlug; doch mußte er sich voreinem neuen französischen Heer nach Portugalzurückziehen, und der spanische General Vanegas wurde 11. Aug.bei Almonacid, der englische General Wilson in den Engpässenbei Baros geschlagen. Im Januar 1810 waren die Franzosen Herren vonAndalusien, und nach der Einnahme von Ciudad Rodrigo und Almeidadrang Masséna im August mit 80,000 Mann in Portugal ein, umdie Engländer wieder ins Meer zu werfen. Die Sache der Spanierschien hoffnungslos verloren. Namentlich die höhern,wohlhabendern Volksklassen schlossen sich immer zahlreicher dembonapartistischen König an. Die Zentraljunta, derenUnfähigkeit das Mißgeschick der spanischen Heerehauptsächlich verschuldet hatte, wurde 2. Febr. 1810 in Cadiz,wohin sie von Sevilla geflüchtet war, zur Abdankung undEinsetzung einer Regentschaft gezwungen, in welcher derRadikalismus die Oberhand bekam.

Schon 28. Okt. 1809 hatte die Zentraljunta die Corteszusammenberufen. Diese, unter den größtenSchwierigkeiten und nur zum Teil gewählt, zum Teil kooptiert,traten 24. Sept. 1810 in Cadiz zusammen und nahmen unter denKanonen der französischen Batterien, welche die Isla de Leonumringten, bedroht von der in der überfüllten Stadtwütenden Pest, das große Werk der Reform des verrottetenStaatswesens in die Hand. Unerfahren, teilweise von den radikalenIdeen der französischen Revolution beherrscht, zum Teil in denaltspanischen Vorurteilen befangen, schwankten die Cortes unterleidenschaftlichen, erbitterten Debatten zwischen denentgegengesetztesten Beschlüssen: man proklamierte dieVolkssouveränität und das allgemeine Stimmrecht und hobdie Grundherrlichkeit auf, wagte aber nicht, die Inquisition oderdie Rechte des Adels und der Kirche anzutasten. Im ganzen aber wardie Verfassung vom 18. März 1812 eine sehr liberale. Trotz desh*tzigen Parteikampfes bewährten die Cortes in der Hauptsache,im Kampf gegen den verhaßten Feind, eine großeEinmütigkeit und aufopfernde Thätigkeit. Die Illusionender verblendeten Nationaleitelkeit wurden zerstört, dieSchäden der Verwaltung aufgedeckt, das korrumpierte Beamtentumin heilsamen Schrecken versetzt. Die Truppen wurden verstärkt,geschult und gut verpflegt und ihre nützliche Verwendungdadurch gesichert, daß die Cortes Wellington, der 1811 in denLinien von Torres Vedras bei Lissabon sich so lange behauptethatte, bis Masséna abziehen mußte, zumOberbefehlshaber sämtlicher Streitkräfte in S. ernannten.Im Jan. 1812 eroberte Wellington Ciudad Rodrigo und 7. AprilBadajoz, schlug 22. Juli die Franzosen unter Marmont bei Salamancaund zog 12. Aug. in Madrid ein. Zwar mußte er sich vor derÜbermacht der bedeutend verstärkten Franzosen aufs

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Spanien (Geschichte bis 1823).

neue nach der portugiesischen Grenze zurückziehen, undMadrid wurde zum letztenmal von den Franzosen besetzt; aber dieKatastrophe in Rußland veränderte auch die Lage derDinge in S. Soult wurde zu Anfang 1813 abberufen, Sucheträumte Valencia im Juli; schon 27. Mai hatte König JosephMadrid für immer verlassen und sich mit der französischenArmee auf Vittoria zurückgezogen. Hier wurde dieselbe vonWellington 21. Juni 1813 gänzlich geschlagen. Die Franzosenzogen sich über die Pyrenäen zurück, und Wellingtonrückte 9. Juli in Frankreich ein. Spaniens Unabhängigkeitwar hiermit hergestellt.

Die Reaktion unter König Ferdinand VII.

Die ordentlichen Cortes, welche im Oktober 1813 in Cadizzusammengetreten waren, aber im Januar 1814 ihren Sitz nach Madridverlegten, erließen, obwohl die Servilen (Konservativen) dieMehrheit hatten, 3. Febr. 1814 eine Einladung an Ferdinand VII.,sich nach Madrid zu begeben und die Verfassung von 1812 zubeschwören; den Vertrag des Königs mit Napoleon I. (13.Dez. 1813 in Valençay abgeschlossen), der seine Herrschaftin S. herstellte, aber den französischen Einflußsicherte, erkannten sie nicht an. Ferdinand betrat 24. März1814 in Gerona den spanischen Boden und nahm 4. Mai von Valenciaaus vom Thron Besitz, weigerte sich aber, die Verfassunganzuerkennen, nachdem General Elio mit 40,000 Mann sich ihmangeschlossen, und ließ 11. Mai die Cortes durch Truppenauseinander jagen. Dennoch begrüßte ihn das Volk mitJubel, als er 14. Mai in Madrid einzog; denn er war als Gegner desverhaßten Godoy noch immer populär. Zwar versprach er ineinem Manifest vom 24. Mai Amnestie und die Verleihung einerVerfassung; doch wurden diese Versprechungen nicht gehalten. AlleOffiziere bis zum Kapitän und alle Beamten bis zumKriegskommissar herab, welche Joseph gedient hatten, wurden mitWeib und Kind auf Lebenszeit verbannt. Die Liberalen, wenn sie auchdurch aufopfernde Vaterlandsliebe im Befreiungskampf sichausgezeichnet hatten, wurden geächtet oder in den Kerkergeworfen, zwei Generale, Porlier und Lacy, die für dieVerfassung ihre Stimmen erhoben, hingerichtet. Jesuiten,Klöster und geheime Polizei wurden wiederhergestellt. Dabeifehlte es der Regierung doch an Stärke und Beständigkeit.Von 1814 bis 1819 lösten 24 Ministerien einander ab. DerKönig, unwissend, charakterlos, von launischer, feigerDespotenart, ließ sich ganz von einer gewissenlosen Kamarillabeherrschen, welche jeden durch die Zerrüttung desStaatswesens gebotenen und von den Großmächten dringendangeratenen Reformversuch vereitelte. S. war daher nicht im stande,die abgefallenen Kolonien in Amerika wieder zu unterwerfen, undverlor seinen ganzen Besitz auf dem Festland von Süd- undMittelamerika; Florida in Nordamerika trat es 1819 für 5 Mill.Dollar freiwillig an die Union ab.

Die Gewaltthätigkeit und der Hochmut der unfähigenRegierung erstickten die frühere Anhänglichkeit an dasKönigtum, und erbitterte Feindschaft gegen dasselbe odergleichgültiger Pessimismus traten an ihre Stelle. Besonders indem durchaus vernachlässigten Heer wuchs die Unzufriedenheitund kam unter den für die Überfahrt nach Amerikabestimmten Truppen zum Ausbruch: 4 Bataillone unter demOberstleutnant Riego proklamierten 1. Jan. 1820 zu San Juan dieVerfassung von 1812 und setzten aus der Isla de Leon eineRegierungsjunta ein, die einen Aufruf an das spanische Volkerließ. Mehrere Provinzen schlossen sich der Empörungan, angesehene Generale, wie O'Donnell und Freire, vereinigten sichmit Riego, als derselbe auf Madrid marschierte. Als auch in Madriddas Volk sich erhob, beschwor der König 9. März dieVerfassung von 1812, hob die Inquisition aus und berief die Corteszum 9. Juli 1820. Die Liberalen hatten in denselben die Mehrheit,und einer ihrer Führer, Arguelles, ward Präsident desMinisteriums. Doch traten sie gemäßigt auf, suchten diezügellose Freiheit der Zeitungen und Klubs durch einPreß- und Vereinsgesetz zu beschränken undbegnügten sich, die Majorate, Fideikommisse und Klöster(bis auf 14) aufzuheben und die Besteuerung der Geistlichkeit(148,290 Personen, ohne die Nonnen, darunter bloß 16,481eigentliche Pfarrer) durchzuführen. Der erbittertste Feind derneuen Regierung war der König selbst, der im geheimenEinverständnis mit mehreren reaktionären Schilderhebungenin der Provinz, so der "apostolischen Junta", war und allepositiven Maßregeln der Minister und der Liberalen in denCortes nach Möglichkeit vereitelte, wodurch der Einflußder Exaltados (Radikalen) wuchs; die extremste Partei derselben,die Descamizados, forderte durch ihre Zügellosigkeit eineReaktion heraus. Die Anarchie wurde noch durch die Finanznotvermehrt, der auch die Einführung einer direkten Steuer undder Verkauf der Nationalgüter nicht abzuhelfen vermochten; dieSchuldenlast stieg auf 14 Milliarden. Als die Exaltados bei denWahlen für die neuen Cortes, die 1. März 1822eröffnet wurden, die Mehrheit erlangten, wählten sieRiego zum Präsidenten und überschwemmten das Land miteiner Masse von Reformgesetzen, die bei der Stimmung der Masse nieverwirklicht werden konnten.

Nachdem ein vom Hof angestifteter Versuch der Garden, 7. Juli1822 vom Prado aus Madrid zu überrumpeln, vom Volk vereiteltworden war, wandte sich der König im geheimen an die HeiligeAllianz um Hilfe gegen die Revolution. Auf dem Kongreß zuVerona (Herbst 1822) wurde eine bewaffnete Intervention in S.beschlossen, welche Frankreich auszuführen übernahm. DieGesandten von Frankreich, Österreich, Rußland undPreußen forderten von der spanischen Regierung und den Cortesdie Herstellung der königlichen Souveränität undverließen, als dies 9. Jan. 1823 abgelehnt wurde, denspanischen Hof. Im April rückte die französischeInterventionsarmee, 95,000 Mann unter dem Herzog vonAngoulême, über die Grenze. Die schlecht organisiertenStreitkräfte der Spanier leisteten geringen Widerstand. Voneiner Erhebung des Volkes gegen die Franzosen war nichts zuspüren, da diesmal die Geistlichkeit für sie war undihren Vormarsch unterstützte. Schon 11. April flüchtetendie Cortes mit dem König aus Madrid, wo der Herzog vonAngoulême 24. Mai unter dem Jubel des Volkes einzog und eineRegentschaft unter dem Herzog von Infantado einsetzte, die sofortdas Werk der Restauration mit Verfolgung der Liberalen begann.Überall erhob sich das Volk, vom Klerus aufgehetzt, fürden absoluten König; die meisten spanischen Generalekapitulierten mit den Franzosen. Diese schlossen Cadiz, wohin sichim Juni die Cortes mit dem König zurückgezogen hatten, zuWasser und zu Land ein, eroberten das Außenfort Trocadero(31. Aug.), bombardierten die Stadt (23. Sept.) und bereitetenalles zum Sturm vor, als die Cortes 28. Sept. dem König dieabsolute Gewalt zurückgaben und sich auflösten; diemeisten Mitglieder und Beamten der liberalen Regierung, über600 Personen, flüchteten ins Ausland, bevor die Franzosen 3.Okt. Cadiz besetzten. Auch die letzten von den Libe-

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Spanien (Geschichte bis 1841).

ralen noch behaupteten Städte, Barcelona, Cartagena undAlicante, ergaben sich im November, und Angoulême kehrte nachFrankreich zurück; doch blieben 45,000 Mann Franzosen unterBourmont bis 1828 im Land zum Schutz der neuen Regierung.

Ferdinands VII. erste Regierungshandlung nach seiner Befreiungaus der Gewalt der Cortes war eine Proklamation vom 10. Okt. 1823,welche alle Akte der konstitutionellen Regierung vom 7. März1820 bis 1. Okt. 1823, "indem er während dieses Zeitraums derGewalt beraubt gewesen sei", für null und nichtigerklärte, dagegen alle Beschlüsse der MadriderRegentschaft genehmigte. Alle Anhänger der Liberalen wurdenals "Feinde des Königs" der Rache der Glaubensbandenpreisgegeben, welche die abscheulichsten Gewaltthatenverübten. Die apostolische Junta, an deren Spitze desKönigs Bruder Don Karlos stand, und welche die Hierarchie, vorallem die Inquisition, herstellen wollte, erlangte eine solcheMacht, daß sie eine Art Nebenregierung bildete und alleMinister, die sich ihrem Willen nicht fügten, wie Zea-Bermudez(1824-25), auch den absolutistisch gesinnten Infantado (1825-26)stürzte. Die apostolische Partei war um so siegesgewisser, alsbei dem Alter des kinderlosen Königs ihr Haupt, Don Karlos,der mutmaßliche Thronfolger war. Als ihre Anhänger imAugust 1827 in Katalonien indes eine bewaffnete Schilderhebungversuchten, schritt der König mit Strenge gegen sie ein undvermählte sich nach dem Tod seiner dritten Gemahlin 10. Dez.1829 mit der Prinzessin Christine von Neapel, die 10. Okt. 1830eine Tochter, Isabella, gebar. Schon 29. März l830 hatteFerdinand VII. eine Pragmatische Sanktion erlassen, welche das 1713in S. von den Bourbonen eingeführte Salische Gesetz aufhob undim Einklang mit den altkastilischen Rechten die weiblicheThronfolge einführte. Eine Verschwörung der bitterenttäuschen Anhänger des Don Karlos gegen das Leben desKönigspaars wurde entdeckt und vereitelt, ein dem schwererkrankten König im September 1832 abgepreßter Widerrufder Pragmatischen Sanktion von demselben nach seiner Genesungfür ungültig erklärt. Im Oktober 1832 ward Christinezur Regentin ernannt, berief Zea-Bermudez an die Spitze desMinisteriums, erließ eine Amnestie und versammelte dieCortes, welche 20. Juni 1833 Isabella als Thronerbin den Eid derTreue leisteten. Somit gelangten, als nach dem Tod Ferdinands VII.(29. Sept. 1833) Isabella II. unter der Vormundschaft ihrer MutterChristine den Thron bestieg, die Liberalen wieder zurHerrschaft.

Der Karlistenkrieg und die Regentschaft.

Don Karlos hatte von Portugal aus, wo er bei Dom Miguel Zufluchtund Beistand gefunden hatte, schon 29. April 1833 Protest gegen dieneue Thronfolgeordnung erhoben und nach Ferdinands Tod sich alsKarl V. zum König proklamiert. Ihm schlossen sich außerder apostolischen Partei besonders die baskischen Provinzen undNavarra an, deren aus uralten Zeiten bestehende Freiheiten(Fueros), zu denen freilich auch Mißbräuche, wie derSchmuggel, gehörten, von den Liberalen angefochten wordenwaren. Die Erhebung der Karlisten begann im Oktober 1833 mit derEinsetzung einer Junta und der allgemeinen Volksbewaffnung, welcheZumala-Carreguy leitete. Derselbe treffliche Feldherr verschaffteden Karlisten im Gebirgskrieg immer mehr Erfolge undbemächtigte sich eines Teils von Katalonien. Auch Don Karlos,nach dem Sturz Dom Miguels aus Portugal vertrieben, erschien in denaufständischen Provinzen. Der Bürgerkrieg nahm bald einengrausamen Charakter an, und seitdem Mina die Mutter desKarlistengenerals Cabrera hatte erschießen lassen, wurden dieGefangenen auf beiden Seiten nicht mehr geschont. Die Christinos(Anhänger der Regentin) welche an Machtmitteln den Karlistenbei weitem überlegen waren, da ihrer Regierung dergrößte Teil des Landes, der Armee und der Beamten,namentlich die Bevölkerung der Städte und die zahlreichenamnestierten Spanier (50,000 Personen) anhingen, würden denKarlistenaufstand ohne große Schwierigkeiten habenunterdrücken können, wenn sie sich nichts durchZwistigkeiten geschwächt hätten. Die Progressisten, wiesich jetzt die vorgeschrittenen Liberalen nannten, waren mit dernenen Verfassung, welche nach der Entlassung von Zea-Bermudez (15.Jan. 1834) der neue Minister Martinez de la Rosa gegeben hatte, demEstatuto real (mit zwei Kammern, den Proceres und denProcuradores), nicht zufrieden und verlangten die Herstellung derVerfassung von 1812. Alle weitern Zugeständnisse der Regentin,welche auf den Beistand der Liberalen angewiesen war, genügtennicht; die Progressisten veranstalteten 1836 in zahlreichenStädten Aufstände, bei denen die Verfassung von 1812ausgerufen wurde. Schließlich, 12. Aug. 1836, empörtesich auch eins der in San Ildefonso liegenden Milizregimenter, zognach dem Palast La Granja, wo die Königin Christine sichaufhielt, und zwang sie, die Konstitution von 1812 anzunehmen. DerMinister Isturiz, ein Moderado, floh, Quesada wurde vom Pöbelermordet. Der neue Ministerpräsident Calatrava berief zum 24.Okt. 1836 die Cortes, welche 1837 die Verfassung von 1812 imgemäßigten Sinn revidierten.

Der Zwiespalt im liberalen Lager ermutigte die Karlisten zukühnen Unternehmungen: nach seinem Sieg bei Huesca (24. Mai1837) überschritt Don Karlos den Ebro und bedrohte Madrid,während gleichzeitig in Andalusien ein karlistischer GeneralGomez, bedenkliche Fortschritte machte. Dieser wurde von Narvaezbesiegt; im Norden errang Espartero den entscheidenden Sieg vonHuerta del Rey (14. Okt.); und brachte nach und nach dienördlichen Provinzen in seine Gewalt. Denn auch bei denKarlisten war Zwietracht zwischen einer Hofkamarilla unter derPrinzessin von Beira, Don Karlos' zweiter Gemahlin, und demOberbefehlshaber Maroto, der sogar 20. Febr. 1839 mehrereHäupter der Kamarilla erschießen ließ. Um sich vorder Rache seiner Gegner zu schützen, schloß Maroto 31.Aug. 1839 mit Espartero den Vertrag von Vergara, nach welchem ermit 50 Karlistenchefs die Waffen streckte. Don Karlos trat 15.Sept. auf französisches Gebiet über; ihm folgte 6. Juli1840 Cabrera, welcher in Niederaragonien und Katalonien denWiderstand noch fortgesetzt hatte. Den baskischen Provinzen wurdendie Fueros von den Cortes bestätigt. Im Spätsommer 1840war ganz S. der Königin Isabella unterworfen und derKarlistenkrieg beendet.

Durch seine Erfolge im Karlistenkrieg hatte Espartero sogroßes Ansehen erlangt, daß die Regentin, welche durchBestätigung des von den konservativen Cortes beschlossenenAyuntamiento- (Gemeinde-) Gesetzes eine Erhebung der Progressistenin Madrid hervorgerufen hatte, ihn im September 1840 zumMinisterpräsidenten ernennen mußte und 12. Okt. abdankteund sich nach Frankreich einschiffte, als Espartero ihr einunannehmbares Regierungsprogramm vorlegte. Dieser war nun 8. Mai1841 zum Regenten gewählt. Aber trotz seiner Popularität,und

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Spanien (Geschichte bis 1868)

obwohl er eifrig und mit Erfolg bemüht war, das materielleWohl des Landes zu fördern, hatte er doch unaufhörlichmit den Ränken seiner Gegner, der Regentin und der Moderados(Konservativen), der Unbotmäßigkeit seiner eignenAnhänger, der Progressisten, und Aufständen(Pronunciamentos) ehrgeiziger Offiziere zu kämpfen. Im Juni1843 brach eine allgemeine Empörung aus, der sich sogar dieRadikalen anschlossen, und vor der Espartero nach Englandflüchten mußte. Nachdem die den Moderadosangehörige Mehrheit der Cortes 8. Nov. 1843 die noch nicht14jährige Königin Isabella für volljährigerklärt hatte, übernahm Bravo Murillo, dann (1844)Esparteros Nebenbuhler Narvaez die Leitung des Ministeriums; dieKönigin Christine wurde zurückgerufen und die Verfassungim Mai 1845 in reaktionärem Sinn geändert; für dieCortes ward ein hoher Zensus eingeführt, der Senat von derKrone auf Lebenszeit ernannt, die katholische Religion alsStaatsreligion proklamiert.

Die Regierung der Königin Isabella.

Narvaez veruneinigte sich schon 1846 mit den Cortes und tratzurück, worauf die Königin Isturiz in das Kabinettberief. Die Errichtung einer festen, zielbewußten Regierungwurde durch die Vermählung Isabellas II. erschwert. Der Plan,dieselbe mit dem Grafen von Montemolin, Don Karlos' Sohn, zuverheiraten und dadurch die Legitimität der Dynastieaußer Frage zu stellen, wurde durch Ludwig Philipp vonFrankreich vereitelt, der einem seiner Söhne zur Herrschaft inS. verhelfen wollte. Das Ränkespiel der "spanischen Heiraten"endete damit, daß Ludwig Philipp, durch ein England gegebenesVersprechen gebunden, seinen Sohn, den Herzog von Montpensier,nicht mit Isabella, sondern mit deren Schwester, der InfantinLuise, vermählte, aber, um indirekt seinen Zweck doch zuerreichen, durchsetzte, daß Isabella mit ihrem Vetter Franzd'Assisi, einem körperlich und geistig schwachen Prinzen, eineEhe schließen mußte, die jede Hoffnung auf Leibeserbenausschloß. Indes Isabella, den ihr aufgedrungenen Gemahlverachtend und über die Schranken der Sitte sichhinwegsetzend, erwählte sich Günstlinge, von denen siezahlreiche Kinder gebar, welche die eigennützigen Berechnungender Familie Orléans zu Schanden machten. DieseGünstlinge, in deren Wahl Isabella allmählich von Serranoauf Marfori herabsank, beuteten ihre Stellung aufs schamlosestefür Befriedigung ihres Ehrgeizes und ihrer Habsucht aus, undso wurde in dem sonst so loyalen Volk das moralische Ansehen desKönigtums durch die lasterhafte, heuchlerische Aufführungdes Hofs vernichtet. Die Regierung des unglücklichen Landesward zu einem unwürdigen Intrigenspiel in der vertrautenUmgebung der Monarchin, durch welches trotz mehrjährigerAufrechterhaltung der äußern Ruhe die wenigenFortschritte in der geistigen und materiellen Entwickelung desLandes gefährdet und die sittlichen Grundlagen desStaatswesens untergraben wurden. Die Minister wechselten so oft,daß S. 1833-58 nicht weniger als 47 Ministerpräsidenten,61 Auswärtige, 78 Finanz- und 96 Kriegsminister hatte.

Nach der kurzen Regierung der Progressisten unter Serrano stand1847-51 Narvaez an der Spitze des Ministeriums, der, obwohlModerado, doch mit Mäßigung vorging und nicht nur dieRuhe aufrecht hielt, sondern auch den nationalen Wohlstandförderte. Sein Nachfolger Bravo Murillo (1851-52) erzeugtejedoch durch den Plan, die Verfassung in absolutistisch-klerikalemSinn umzugestalten, eine Aufregung, welche sich 1854 inPronunciamentos zahlreicher Generale äußerte.Schließlich kam es in Madrid zu einem Aufstand, welchen dieKönigin nur durch die Berufung Esparteros zumMinisterpräsidenten (Juli 1854) beschwichtigen konnte. Nachdemer das Gesetz über den Verkauf der National- undKirchengüter der Königin 1855 abgerungen hatte, wurdeEspartero 14. Juli durch O’Donnell gestürzt, der nachUnterdrückung eines Aufstandes in Madrid (16. Juli) dieNationalgarde entwaffnete, die Verfassung vom Mai 1845 herstellteund den Verkauf der Kirchengüter sistierte. ZwischenO’Donnell und Narvaez wechselte nun eine Reihe von Jahren dieHerrschaft: ersterer, 1855-56, 1858-63 und 1865-1866 obersterMinister, früher selbst Progressist, wollte sich auf eineMittelpartei, die "liberale Union", stützen, stießjedoch bei allen seinen Vorschlägen und Maßregeln aufdas unüberwindliche Mißtrauen seiner ehemaligenParteigenossen und suchte sich daher durch Erfolge auf dem Gebietder auswärtigen Politik zu befestigen. Diesem Zweck sollte derKrieg mit Marokko (s. d., S. 277) 1859-60 dienen, in welchemO’Donnell indes nur kriegerische Lorbeeren, keinewesentlichen Vorteile gewann. 1861 wurde San Domingo auf Haïtiwieder mit S. vereinigt, und im Bund mit England und Frankreichschritt S. Ende 1861 gegen Mexiko ein, das für die Verletzungspanischer Interessen die Genugthuung verweigerte; doch zog sichder spanische Befehlshaber Prim 1862 vom Unternehmen zurück,als er die eigennützigen Absichten der Franzosen erkannte (s.Mexiko, S.566). Ein Konflikt mit Peru und Chile (s. d., S. 1022),der 1866 zu einer förmlichen Kriegserklärung Perus,Chiles, Bolivias und Ecuadors an S. (14. Jan.) führte, endetenach der erfolglosen Beschießung Valparaisos (31. März)und Callaos (2. Mai) ohne Ergebnis. San Domingo wurde 1865 wiederaufgegeben. Unter diesen Umständen konnte sichO’Donnell, obwohl er mehrere Militärrevoltenniederschlug und auch einen Landungsversuch des karlistischenPrätendenten, des Grafen von Montemolin (1. April 1860),vereitelte, auf die Dauer nicht behaupten. Wenn O’Donnellnicht im stande war, die Ruhe aufrecht zu erhalten, so zog dieKönigin Isabella Narvaez vor, dessen moderadistische Gesinnungder ihrigen mehr entsprach. Narvaez, 1856-57, 1864-65 und 1866-68Ministerpräsident, begünstigte den Klerus,unterdrückte die Preß- und Vereinsfreiheit und schritt,besonders in seinem letzten Ministerium, mit rücksichtsloserStrenge gegen die Häupter der Progressisten und der liberalenUnion ein. Rios Rosas, Serrano u. a. wurden verhaftet, andre, wieO’Donnell, Prim, flüchteten in das Ausland. Die Cortes,deren Wahlen in S. die Regierung allerdings stets beherrscht, gabenzur Aufhebung der konstitutionellen Freiheiten und zurVerhängung des Belagerungszustandes bereitwilligst ihreZustimmung, und Isabella war des Siegs der klerikalen Richtung sosicher, daß sie sogar ihre Absicht, für die weltlicheHerrschaft des Papstes mit der Macht Spaniens einzutreten, offenäußerte.

Narvaez starb plötzlich 23. April 1868. Sein NachfolgerGonzalez Bravo mußte den Günstling Isabellas, Marfori,in das Ministerium aufnehmen. Nachdem im Juli eine unionistischeVerschwörung, deren Ziel die Erhebung Montpensiers auf denThron war, entdeckt und ihre Häupter, die angesehenstenGenerale, wie Serrano, Dulce u. a., nach den Kanarischen Inselndeportiert worden waren, begab sich die Königin nach SanSebastian, um von hier aus mit Napoleon die Besetzung Roms durchspanische Trup-

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Spanien (Geschichte bis 1874).

pen zu verabreden. Inzwischen aber vereinigten sich die liberaleUnion, die Progressisten und die Republikaner zu einer gemeinsamenErhebung gegen die Mißregierung Isabellas. Die unionistischenGenerale wurden von den Kanarischen Inseln durch einen Dampferabgeholt und nach Cadiz gebracht, wo auch Prim erschien und dieFlotte unter Admiral Topete 18. Sept. 1868 die Absetzung Isabellasverkündete. Der Aufruhr verbreitete sich rasch über ganzS. General Pavia sammelte die treu gebliebenen Truppen undrückte den Aufständischen nach Andalusien entgegen, wardaber 28. Sept. bei Alcolea in der Nähe von Cordova geschlagen.Serrano hielt 3. Okt. seinen Einzug in Madrid, währendIsabella 30. Sept. nach Frankreich floh.

Anarchie und Bürgerkrieg.

Die Unionisten und die Progressisten unter Prim bildeten nuneine provisorische Regierung unter Serranos Vorsitz, welche sofortden Jesuitenorden aufhob, die Klöster beschränkte undvolle Preß- und Unterrichtsfreiheit einführte; das Volkschwelgte im Genuß der Freiheit und ergoß sich inLobreden auf die Helden der glorreichen Revolution. Diekonstituierenden Cortes, welche nach einem neuen Gesetzgewählt wurden, traten 11. Febr. 1869 zusammen: die Unionistenzählten nur 40 Mitglieder, womit ihr Thronkandidat Montpensierbeseitigt war, die Republikaner 70; die Progressisten hatten dieMehrheit. Auch diese wünschten die Errichtung einerkonstitutionellen Monarchie und brachten 1. Juni 1869 einemonarchisch-konstitutionelle Monarchie in den Cortes zur Annahme.Doch lehnte König Ferdinand von Portugal 6. April die ihmangebotene spanische Krone ab, ebenso der junge Herzog von Genua,so daß die Cortes die Einsetzung einer Regentschaftbeschlossen und Serrano 18. Juni zum Regenten ernannten. DieUngewißheit über die politische Gestaltung des Landesermutigte Don Karlos, den Enkel des ältern Don Karlos, im Juliden spanischen Boden zu betreten und mit Hilfe der Geistlichkeit inden Nordprovinzen karlistische Aufstände zu erregen,während in mehreren Städten, namentlich in Barcelona, dieRepublikaner sich erhoben. Endlich gelang es demMinisterpräsidenten Prim, den Erbprinzen Leopold vonHohenzollern zur Annahme der Krone zu bewegen, und 4. Juli 1870beschlossen Regent und Ministerium, dessen Kandidatur den Cortesvorzuschlagen. Der unerwartete Einspruch Frankreichs vereiteltedieselbe, da der Erbprinz 12. Juli auf seine Kandidaturverzichtete, um nicht Ursache eines großen Kriegs zu werden.Als der deutsch-französische Krieg dennoch ausbrach, verhieltsich die spanische Regierung, welche sich sofort mit dem Verzichtdes Prinzen einverstanden erklärt hatte, streng neutral. AnStelle des Hohenzollern gewann Prim in dem Herzog Amadeus vonAosta, zweitem Sohn des Königs Viktor Emanuel von Italien,einen neuen Thronkandidaten, der 16. Nov. von den Cortes mit 191gegen 98 Stimmen zum König gewählt wurde.

An demselben Tag, an welchem König Amadeus in Cartagenalandete, 30. Dez. 1870, starb Marschall Prim, der 27. Dez. inMadrid von Meuchelmördern tödlich verwundet worden war.Damit verlor der junge Herrscher seine festeste Stütze.Dennoch trat er 2. Jan. 1871 die Regierung an und beauftragteSerrano mit der Bildung eines Kabinetts. Die Granden gaben Amadeusihre Geringschätzung in schroffster Weise zu erkennen; eineAnzahl Offiziere verweigerte den Eid. Die Wahlen für dieCortes im März ergaben eine knappe Mehrheit für dieRegierung; unter der Opposition befanden sich 60 Republikaner und65 Karlisten, welche den König aufs heftigste angriffen. Dabeiwar unter den Anhängern des Königs keine Einigkeit:Serrano wurde von dem ränkevollen Zorrilla, einem radikalenProgressisten, schon im Juli aus dem Ministerium gedrängt, dersich aber auch nur bis zum Oktober an der Spitze der Regierungbehauptete. Der konservative Progressist Sagasta, seit Ende 1871Ministerpräsident, erlangte nach der Auflösung der Cortesbei den Neuwahlen im April 1872 eine Mehrheit und machte im Juniwieder Serrano Platz, der gegen die Karlisten mit Erfolggekämpft, ihnen aber in der Konvention von Amorevieta (24. Mai1872) Amnestie gewährt hatte, um die Ruhe in S. herzustellen.Hierfür verlangte er vom König außerordentlicheVollmachten, die derselbe jedoch auf Anstiften Zorrillasverweigerte. Dieser trat 16. Juni wieder an die Spitze desKabinetts, vermochte aber weder den Parteikämpfen in den neuenCortes, in denen die ministerielle Mehrheit immer deutlicher ihrerepublikanischen Grundsätze kundgab, noch den Aufständenim Land ein Ende zu machen. Überzeugt, daß er keinefeste Autorität in dem unterwühlten Land gewinnenkönne, dankte Amadeus 10. Febr. 1873 ab und begab sichüber Lissabon nach Italien zurück.

Die Cortes erklärten sofort mit 256 gegen 32 Stimmen S.für eine Republik und erwählten Figueras zumPräsidenten, einen föderalistischen Republikaner, der dieBefugnisse der Zentralregierung und der Cortes auf das Notwendigstebeschränken, den Provinzen, Städten und Gemeinden abermöglichst ausgedehnte Autonomie gewähren wollte. Der Eidund die Konskription für die Armee wurden abgeschafft. Nachdemdie Anhänger des Einheitsstaats verjagt worden waren, errangendie Föderalisten bei den Corteswahlen 10. Mai eineerdrückende Mehrheit. Figueras erschien dieser nicht extremgenug, und Pi y Margall trat an seine Stelle, unter demvöllige Anarchie eintrat. Im Norden breiteten sich dieKarlisten wieder aus; der Prätendent Don Karlos nahm inEstella sein Hauptquartier. In den großen Städten desSüdens, wie Malaga, Cadiz, Sevilla und Cartagena, suchten dieroten Kommunisten (Intransigenten) durch sofortige Verwirklichungder Föderativrepublik ihre Herrschaft zu begründen,proklamiertem die Autonomie Andalusiens, errichtetenWohlfahrtsausschüsse und bemächtigten sich mehrererKriegsschiffe. Die Cortes sahen nun die Notwendigkeit ein,Karlisten und Intransigenten energisch zu bekämpfen. Zu diesemZweck trat der bisherige Föderalist Castelar 9. Sept. an dieSpitze der Regierung, vertagte die Cortes, nachdem er sich zuAusnahmemaßregeln hatte ermächtigen lassen, suspendierte21. Sept. die konstitutionellen Garantien und verkündete dieKriegsgesetze in voller Strenge. Sevilla, Malaga und Cadiz wurdensofort unterworfen, Cartagena mußte aber regelrecht belagertwerden und ergab sich erst 12. Jan. 1874. Im Norden machten dieKarlisten immer größere Fortschritte, und das Gebarender Cortes, die nach ihrem Zusammentritt (2. Jan. 1874) Castelarjeden Dank für seine energische Thätigkeit verweigertenund ihn zum Rücktritt zwangen, ließ das Schlimmstebefürchten: da ließ Serrano 3. Jan. durch den GeneralPavia die Versammlung auseinander sprengen und trat alsPräsident der Exekutivgewalt an die Spitze einer neuenRegierung, die sich vor allem die Beendigung des Karlistenkriegszum Ziel setzte. Der Kampf drehte sich um Bilbao, das die Karlistenseit dem Dezember 1873 belagerten. Zwar zwang Ser-

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Spanien (Geschichte bis 1885).

rano sie im Mai, die Belagerung aufzugeben; doch schlugen siedie Regierungstruppen unter Concha 25. bis 27. Juni bei Estella,und Don Karlos' Bruder drang wiederholt über den Ebro, im Julisogar bis Cuenca vor. Endlich bereitete Serrano für Anfang1875 einen energischen konzentrischen Angriff auf die Karlisten vorund verstärkte die Armee auf 80,000 Mann, als auch erplötzlich gestürzt wurde.

Die Regierung Alfons' XII. Neueste Zeit.

Nachdem die Versuche, einen fremden Fürsten auf denspanischen Thron zu erheben, gescheitert waren, das Experiment mitder Republik S. völliger Anarchie überliefert, Don Karlosaber durch seine enge Verbindung mit dem Ultramontanismus und seinebarbarische Kriegführung sich unmöglich gemacht hatte,blieb nur der älteste Sohn Isabellas, Alfons, der durch denVerzicht seiner Mutter vom 25. Juni 1870 Erbe derThronansprüche der jüngern bourbonischen Linie gewordenwar, als Kandidat der gemäßigt Liberalen für denThron übrig. Seine Erhebung erschien besonders den Offizierenals die einzige Rettung aus dem Chaos, und im Einverständnismit den einflußreichsten Generalen proklamierte MartinezCampos 29. Dez. 1874 in Sagunto Alfons XII. als König von S.Die Nordarmee und die Garnison von Madrid erklärten sichfür ihn, und Serrano legte sein Amt ohne Widerstandsversuchnieder. Das Haupt der alfonsistischen Partei, Canovas del Castillo,wurde an die Spitze eines liberal-konservativen Ministeriumsberufen, welches der König nach seinem Einzug in Madrid (14.Jan. 1875) bestätigte. Die neue mit Notabeln vereinbarteVerfassung hob zwar die Geschwornengerichte, die Zivilehe und dieLehrfreiheit auf und machte dem Klerus noch einige andreZugeständnisse, um dem Karlismus den Boden zu entziehen; dochversprach sie, ehrlich und mit Mäßigung gehandhabt, einefriedliche und freiheitliche Entwickelung. Der Karlistenkrieg wurdenun von den Generalen Quesada und Moriones nach einemsystematischen Plan und mit ausreichenden Streitkräftengeführt und durch die Eroberung von Vittoria (8. Juli 1875),von Seo de Urgel (26. Aug.) und Estella (19. Febr. 1876)glücklich beendet; Don Karlos trat 28. Febr. im Thal vonRoncesvalles auf französisches Gebiet über. Die Fuerosder baskischen Provinzen wurden aufgehoben. Die 20. Jan. 1876gewählten neuen Cortes, in denen die Regierung eine starkeMehrheit hatte, wurden 15. Febr. vom König eröffnet undgenehmigten 24. Mai die neue Verfassung. Der finanziellenZerrüttung beschloß der Finanzminister durch Suspensionder Zinszahlung für die Staatsschulden bis 1. Jan. 1877, vonda ab durch nur partielle Zahlung abzuhelfen. Der Aufstand in Cuba(s. d., S. 358) wurde Anfang 1878 endlich auch beschwichtigt,allerdings nur durch den Vertrag von Tanjon (10. Febr. 1878), inwelchem General Martinez Campos den Insurgenten Amnestie, Aufhebungder Sklaverei und wirtschaftliche Unabhängigkeit der Inselzugestehen mußte. Da Canovas sich weigerte, dies letztereZugeständnis vor den Cortes zu vertreten, trat er im März1879 zurück und überließ die Leitung desMinisteriums Martinez Campos, der jedoch die Genehmigung der vonihm vorgeschlagenen Reformen für Cuba nicht erreichte unddaher schon 7. Dez. 1879 seine Entlassung nahm. Canovas, wiederMinisterpräsident, brachte 1880 ein Gesetz über dieAufhebung der Sklaverei in Cuba in den Cortes durch; ausRücksicht auf die spanischen Finanzen blieben aber dieAusfuhrzölle daselbst sowie die Monopole zu gunsten desspanischen Handels und Gewerbes bestehen.

Da Martinez Campos nach seinem erfolglosen Ministerium zu denGegnern Canovas übertrat, so bildete sich in den Cortes ausden Parteien der Konstitutionellen und Zentralisten eineeinflußreiche liberal-dynastische Opposition unterFührung Sagastas, der König Alfons XII., um sich dieLiberalen nicht zu entfremden, im Februar 1881 die Führung derGeschäfte übertrug; Sagasta wurde Ministerpräsident,Martinez Campos Kriegsminister. Das neue Ministerium löste dieCortes auf und erlangte bei der Macht der Regierung über dieWahlen eine bedeutende Majorität in der Kammer wie im Senat.Der Finanzminister Camacho nahm sofort eine Umwandlung derteilweise hohe Zinsen tragenden Staatsschulden in eine einheitlichevierprozentige Staatsschuld vor und sicherte eine Reform des Tarifsdurch einen Handelsvertrag mit Frankreich (1882). Gleichwohl konntesich Sagasta nicht lange behaupten, auch nachdem er im Januar 1883sein Kabinett in liberalem Sinn umgestaltet hatte. Aus der Mitteder Konstitutionellen selbst wurde, besonders durch Serrano, dasVerlangen nach durchgreifenden Reformen, namentlich aber nachWiederherstellung der Verfassung von 1869, laut, das zuerfüllen Sagasta sich entschieden weigerte; im August 1883brachen in Badajoz, Barcelona, Seo de Urgel und andern Garnisonendes Nordens Soldatenaufstände aus, bei welchen die Republikmit der Verfassung von 1869 ausgerufen wurde. Der Königbeschloß, nachdem die Aufstände unterdrückt waren,die dynastische Linke in die Regierung zu ziehen, und berief imOktober 1883 Posada Herrera an die Spitze eines neuen Ministeriums,das eine Verfassungsrevision mit Einführung der Zivilehe, derGeschwornengerichte und des allgemeinen Stimmrechts versprach.Dasselbe scheiterte aber an der Opposition Sagastas, dessenAdreßentwurf, welcher die Politik der dynastischen Linkenentschieden tadelte, im Januar 1884 von den Cortes angenommenwurde. Der König übertrug daher wieder denLiberal-Konservativen unter Canovas das Ministerium.

Alfons XII. erstrebte neben dem Ziel, im Innern die monarchischgesinnten Parteien zu versöhnen und auf dem Boden derkonstitutionellen Monarchie zu vereinigen, in der auswärtigenPolitik die Wiederherstellung von Spaniens Ansehen undEinfluß in Europa. Zu diesem Zweck widmete er sich mit Eiferder Wiederherstellung und Verbesserung seiner Streitmacht zu Landund zur See; ferner suchte er eine Anlehnung an diemitteleuropäischen Mächte und unternahm im Sommer 1883eine Reise nach Österreich und Deutschland, wo er bei denKaisermanövern in Homburg von Kaiser Wilhelm mit besondernEhren aufgenommen und zum Chef eines Ulanenregiments ernannt wurde.Er wurde deswegen auf seiner Rückreise durch Frankreich inParis 29. Sept. aufs gröblichste beschimpft, aber durch einenbegeisterten Empfang in Madrid (2. Okt.) dafürentschädigt. Ein Besuch des deutschen Kronprinzen in S. imNovember bekundete die Achtung, die der König in Deutschlandgenoß. Mitten in eine Gärung, welche ein schrecklichesErdbeben in Andalusien, der Ausbruch der Cholera und dieEinführung der drückenden Verbrauchssteuern 1885 imspanischen Volk erzeugt hatten, fiel wie ein zündender Funkeim September die Nachricht, daß ein deutsches Kriegsschiffauf den Karolinen (s. d.) die deutsche Flagge geheißt habe:nicht bloß der Madrider Pöbel ließ sich zuWutausbrüchen gegen Deutschland und seine Gesandtschaft inMadrid hinreißen, sondern auch die Führer der Parteien,namentlich der von je zu Frankreich hinneigenden Ra-

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Spanierfeige - Spanische Litteratur.

dikalen, ja selbst die Minister ergingen sich, um ihrePopularität zu vermehren, in kriegerischen Prahlereien undDrohungen. Nur der König blieb fest in seinem Widerstand gegeneine verhängnisvolle Überstürzung undermöglichte hierdurch eine ehrenvolle Verständigung mitDeutschland. Leider starb er schon 25. Nov. 1885.

Alfons XII. hinterließ als Witwe seine zweite Gemahlin,Maria Christine, eine österreichische Erzherzogin, welchesofort als Regentin proklamiert wurde und 17.Mai 1886 einen Sohn,Alfons XIII., gebar. Die Veränderungen auf dem Thron vollzogensich, abgesehen von einigen durch Zorrilla angestiftetenrepublikanischen Militärrevolten in Cartagena und Madrid undvon Ränken Montpensiers, die aber wirkungslos blieben, ohneStörung. Canovas hielt es für nützlich, dieliberalen Parteien für die Erhaltung der Dynastie zuinteressieren, und empfahl daher der Regentin, an seiner StelleSagasta zum Ministerpräsidenten zu ernennen (27. Nov.).Derselbe verschaffte sich durch Neuwahlen die Mehrheit in denCortes, welche 10. Mai 1886 eröffnet wurden, dieEinführung von Geschwornengerichten genehmigten (7. Mai 1887)und die Beratung der vom Kriegsminister Cassola vorgelegtenHeeresreform mit allgemeiner Wehrpflicht in Angriff nahmen. DieEinnahmen wurden durch Verpachtung der Postdampferlinien und desTabaksmonopols vermehrt. Die Regentin verstand es, durch ihrwürdiges und kluges Benehmen die Achtung und Liebe des Volkesin demselben Grad zu gewinnen wie ihr verstorbener Gemahl. SpaniensZustände sind indes noch durchaus unfertig. Der alte klerikaleAbsolutismus ist zwar durch die Unfähigkeit seiner Vertreterund das Eindringen liberaler Ideen äußerlichgestürzt und lebensunfähig, aber im Geiste des Volkes sowenig überwunden und vertilgt, daß sich auch keineliberale Regierung auf die Masse des Volkes selbst stützenkann, sondern die Hilfe der Parteiführer und ehrgeizigenGenerale in Anspruch nehmen muß, die wieder ihrenSchützling ausnutzen, diskreditieren und schließlich insVerderben fortreißen. Im Bund mit andern Parteien ist jedePartei im stande, nach einigen Jahren das herrschende Regiment zustürzen.

[Litteratur.] Lembke, Geschichte von S. (Bd. 1, Hamb. 1831; Bd.2 u. 3 von Schäfer, Gotha 1844-1861; fortgesetzt vonSchirrmacher, das. 1881 ff.); Lafuénte, Historia general deEspaña (Madr. 1850-66, 30 Bde.; neue Ausg., Barcelona 1888,22 Bde.); Cavanilles, Historia de España (Madr. 1861-65, 5Bde.); Rico y Amat, Historia politica e parlamentaria deEspaña (das. 1860-62, 3 Bde.); Alfaro, Compendio de lahistoria d’España (5. Aufl., das. 1869); RosseeuwSaint-Hilaire, Histoire d’Espagne (Par. 1836-79, 14 Bde.);Gebhardt, Historia general de España (Madr. 1864, 7 Bde.);Havemann, Darstellungen aus der innern Geschichte Spaniens, 15.-17.Jahrh. (Götting. 1850); Fapia, Historia de la civilisaziond'España (Madr. 1840, 4 Bde.); Montesa u. Manrique, Historiade la legislazion etc. de España (das. 1861-64, 7 Bde.);Aschbach, Geschichte der Omaijiden in S. (2. Aufl., Wien 1860, 2Bde.); Derselbe, Geschichte Spaniens und Portugals zur Zeit derHerrschaft der Almorawiden und Almohaden (Frankf.1833-37, 2 Bde.);Dozy, Histoire des Musulmans de l'Espagne (Leid. 1861, 4 Bde.;deutsch, Leipz. 1873); Derselbe, Recherches sur l’histoire etla littérature de l’Espagne pendant le moyen-âge(3. Aufl., Leid. 1881, 2 Bde.); Prescott, History of Ferdinand andIsabella (deutsch, Leipz. 1842); Derselbe, History of the reign ofPhilipp II. of Spain (deutsch, das. 1856-59, 5 Bde.); Häbler,Die wirtschaftliche Blüte Spaniens im 16. Jahrhundert (Berl.1888); "Actas de las cortes de Castilla 1563-1713" (Madr. 1861-85);Morel-Fatio, L’Espagne au XVI. et au XVII. siècle(Heilbr. 1878); Baumgarten, Geschichte Spaniens zur Zeit derfranzösischen Revolution (Berl. 1861); Derselbe, GeschichteSpaniens vom Ausbruch der französischen Revolution bis aufunsre Tage (Leipz. 1865-71, 3 Bde.); Arteche y Moro, Guerra de laindependencia 1808-14 (Madr. 1868-83, Bd. 1-5); Hubbard, Histoirecontemporaine de l’Espagne (Par. 1869 bis 1883, 6 Bde.);Lauser, Geschichte Spaniens vom Sturz Isabellas bis zurThronbesteigung Alfonsos (Leipz. 1877, 2 Bde.); Borrego, Historiade las cortes de España durante el siglo XIX (Madr. 1885);Cherbuliez, L'Espagne politique 1868-73 (Par. 1874); Leopold,Spaniens Bürgerkrieg (Hannov. 1875); de Castro, Geschichte derspanischen Protestanten (deutsch, Frankf. 1866); Wilkens,Geschichte des spanischen Protestantismus im 16. Jahrhundert(Gütersl. 1887); Kayserling, Geschichte der Juden in S. (Berl.1861-67, 2 Bde.); Solvay, L’art espagnol (Par. 1886).

Spanierfeige (indische Feige), s. Opuntia.

Spaniol, feiner span. Schnupftabak, wird ausHavanablättern bereitet und mit einer roten Erde gefärbt;auch die Raupe des Frostschmetterlings.

Spaniolgeschmack (Spagnialgeschmack), s. Firnewein.

Spanische Artischocke, s. Cynara.

Spanische Fliege, s. Kantharide.

Spanische Kreide, s. Speckstein.

Spanische Kresse, s. v. w. Tropaeolum.

Spanische Litteratur. Die spanische Nationallitteratur,hervorgegangen aus dem durch heldenhafte Anstrengung erstarkteneigentümlichen Selbstgefühl eines Volkes, dessenPhantasie in den Erinnerungen einer thatenreichen Vergangenheitschwelgte, und durch Reichtum und Originalität der Produktionauf allen Gebieten der Dichtkunst gleich ausgezeichnet, reicht inihren Anfängen bis in die Zeit zurück, wo sich nach derEroberung des Landes durch die Araber die ersten christlichenStaaten im Norden der Halbinsel gebildet hatten. Von der altenechten Volksdichtung haben sich jedoch nur wenige Denkmälerund auch diese nicht in ihrer ursprünglichen Gestalt erhaltenkönnen, da sie Jahrhunderte hindurch nur im Munde des Volkesund in diesem stets sich verjüngend und veränderndfortlebte und erst aufgezeichnet wurde, als auch die Kunstpoesiediese Lieder ihrer Beachtung wert fand, d. h. zu Anfang des 16.Jahrh. Diese ältesten spanischen Volkslieder, bekannt unterdem Namen Romanzen, waren epischen oder episch-lyrischen Charaktersund hatten hauptsächlich die Thaten der Helden in demgroßen National- und Glaubenskampf gegen die Araber zumInhalt. Unter diesen Romanzen sind diejenigen, welche die Thatenund Schicksale des Cid el Campeador (gest. 1099) feierten,vorzugsweise berühmt. Die frühsten auf uns gekommenenSchriftdenkmäler rühren aus dem 13. Jahrh. her, und mitdieser Zeit beginnt die erste Periode der spanischenLitteratur.

Erste Periode.

Die s. L. erscheint in dieser Periode, welche bis zu derRegierung Johanns II. von Kastilien (1406) reicht, alsvolkstümlich-nationale mit vorherrschend epischer unddidaktischer Richtung. Das älteste auf uns

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Spanische Litteratur (bis zum 15. Jahrhundert).

gekommene Werk derselben ist das "Poema del Cid", eingrößtenteils auf alten Volksdichtungen beruhendes Eposin Form und Geist der französischen Chansons de geste, welchesin oft sehr malerischer Darstellung und kräftigen Zügen,wenn auch in noch ziemlich roher Form die Thaten und Abenteuer desNationalhelden schildert. Verschieden von ihm ist die"Crónica rimada del Cid" (s. Cid Campeador). Außerdemgehören hierher als frühste Erzeugnisse spanischerKunstpoesie unter dem Einfluß der kirchlich-ritterlichenZeitideen: das "Poema de los Reyes Magos" und die Legende von derMaria Egipciaca aus dem 13. Jahrh.), die Heiligen- undMarienlegenden des Geistlichen Gonzalo de Berceo (gestorben um1270), die Bearbeitung der ritterlichen Irrfahrten Alexanders d.Gr. ("Poema de Alexandro Magno") von Juan Lorenzo Segura, diespanische Bearbeitung des Romans "Apollonius von Tyrus" sowie die"Votos de pavon" (ebenfalls noch aus dem 13. Jahrh.) und einchronikenartiges Gedicht, das die Thaten des Grafen FernanGonzalez, des Stifters von Kastiliens Größe, besingt(aus dem 14. Jahrh.). Diese Gedichte sind teils in einreimigenAlexandrinerstrophen, teils in den nationalen Grundrhythmen derRedondilien (s. d.) abgefaßt. Noch in das 14. Jahrh. ist wohlauch die Abfassung der längern, epenartigen Romanzen von Karld. Gr. und seinen Paladinen zu setzen. Neben diesen vorwiegendepischen Dichtungen begann sich während der Regierung Alfonsdes Weisen von Kastilien (1252-84) eine didaktische Richtung derLitteratur zu entwickeln, deren Hauptrepräsentant KönigAlfons selber war. Er ließ die Landesgesetze aus derlateinischen Sprache in die Landessprache bertragen, und auf seineVeranlassung geschah die Abfassung einer Weltchronik und derGeschichte der Kreuzzüge ("La gran conquista de Ultramar"),abgedruckt in der "Biblioteca de autores españoles", Bd. 44)sowie einer spanischen Chronik, der berühmten "Crónicageneral" (Vallad. 1604), ebenfalls in kastilischer Sprache. Sowurde Alfons der eigentliche Schöpfer der spanischen Prosa.Von poetischen Werken schreibt man ihm außer dem sogen."Libro de las querellas", von dem sich nur einige Bruchstückeerhalten haben, ein didaktisches Gedicht alchimistischen Inhalts,das "Libro del tesoro o del candado", zu, das jedoch nach einigenspätern Ursprungs ist. Am wichtigsten sind seine ingalicischer Sprache verfaßten und provençalischenMustern nachgebildeten "Cantigas", Loblieder auf die JungfrauMaria, welche zum großen Teil in sechs- biszwölfzeiligen Versen bestehen und durch ihre Form diespätere Kunstlyrik der Spanier vorbereiten. Alfons' Beispielwirkte ermunternd auf seine Nachfolger. Sein Sohn Sancho IV.,genannt der Tapfere (gest. 1295), schrieb einmoralisierend-philosophisches Werk: "Los castigos e documentos",das Lebensregeln für seinen Sohn Ferdinand IV. enthielt, unddes letztern Sohn Alfons XI., genannt der Gute (gest. 1350), giltfür den Verfasser einer Reimchronik in Redondilienstrophen,wie er auch mehrere Werke in kastilischer Prosa abfassenließ, namentlich ein Adelsregister ("Becerro") und einJagdbuch ("Libro de monterias", hrsg. von Navarro 1878) sowiemehrere Chroniken (Ferdinands des Heiligen, Alfons' des Weisen,Sanchos des Tapfern etc., abgedruckt in dem Werk "Cronicas de losReyes de Castilla etc.", Bd. 1, Madr.1876). Der hervorragendsteunter den fürstlichen Autoren jener Zeit ist der Infant DonJuan Manuel (gest. 1347), am bekanntesten durch sein Werk "El condeLucanor" oder "Libro de Patronio", eine zum Teil aus orientalischenQuellen geschöpfte Rahmenerzählung, in welcher dem GrafenLucanor sein Ratgeber Patronio moralische und politischeRatschläge in Form von Novellen erteilt (s. Manuel 3). Beiweitem der genialste Dichter jener Periode war aber der Erzpriestervon Hita, Juan Ruiz (gest. 1351), Verfasser einesmerkwürdigen, allegorisch-satirischen Werkes inAlexandrinerversen ("Libro de cantares"), worin in der Weise JuanManuels Fabeln, Schwänke und Geschichten, fromme undLiebeslieder etc. aneinander gereiht sind, denen eine gemeinsameErzählung zu Grunde liegt, nur daß hier der Schwerpunktweniger in der moralischen Tendenz als in der naiv anmutigen undkunstvollen Darstellung liegt. Ein didaktisches Gedicht miteingewebten lyrischen Partien ist auch das wieder zumeist inAlexandrinern abgefaßte Buch über das Hofleben ("Rimadode palacio") des alten Chronisten und als Übersetzer desLivius berühmten Pedro Lopez de Ayala (gest. 1407). Ebensomacht sich in den Gedichten des Rabbi Don Santo, genannt "der Judevon Carrion", welcher für den König Peter den Grausamenvon Kastilien Ratschläge und Lebensregeln in Versenabfaßte, in dem Gedicht vom Totentanz: "Danza general de lamuerte", der ältesten Dichtung dieser Art, in der spanischenNachahmung der lateinischen "Rixa animae et corporis" u. a. diedidaktische Richtung geltend. Sämtliche bisher genannteGedichte sind in Bd. 57 ("Poetas castellanos, anteriores al sigloXV") sowie die hauptsächlichsten Prosawerke in Bd. 51("Escritores en prosa, anteriores al siglo XV") der erwähnten"Biblioteca de autores españoles enthalten. Die Ausbildungder damaligen historischen Prosa bekunden die Chroniken Ayalas,Juan Nuñez de Villaizans, die Prosachronik vom Cid, dieReisebeschreibung Ruy Gonzalez de Clavijos u.a. Auch die Abfassungdes "Amadis von Gallien" (s. Amadisromane), des Ahnherrn derzahllosen spanischen Ritterromane, gehört dem Schlußdieser Periode an.

Zweite Periode.

Mit der Regierung Johanns II. von Kastilien (1406-54) begann diezweite Periode der spanischen Nationallitteratur, welche bis zurRegierung Karls V., somit bis zum Schluß des Mittelalters,reicht. Der Sinn für die alten Volkspoesien warallmählich erloschen, und es kam eine reflektierte Dichtkunst,eine höfische Kunstlyrik nach dem Muster der Troubadourpoesiezur Entwickelung, welch letztere in limousinischer Mundart an denHöfen der Grafen von Barcelona und der Könige vonAragonien schon längst blühte. Zu der bereitsvorherrschenden didaktischen Richtung gesellten sich gelehrte,mythologische und allegorische Elemente, die schlichten Reime derVorzeit wurden mit verschlungenen Versmaßen vertauscht, undspitzfindige Geistesspiele und überflüssiger Schmucktraten an die Stelle der edlen Einfalt, welche die alten Poesienauszeichnete. Die Dichter dieser neuen Richtung gehörten fastalle den Hofkreisen an, und ihre Werke tragen einen gemeinsamenkonventionellen Charakter. Der Horizont ihrer immer wiederkehrendenpoetischen Ideen war ein enger, auf den Kreis höfischerGalanterie beschränkter und eine gewisse Monotonie daher dieunausbleibliche Folge dieser Armut an Ideen und Anschauungen. Zuden hervorragendsten und einflußreichsten unter diesenHofdichtern gehörten: Don Enrique de Aragon, Marques deVillena (gest. 1434), Verfasser didaktisch-allegorischer Dichtungenund einer Abhandlung über die Dichtkunst: "La gayacienzia"

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Spanische Litteratur (15. und 16. Jahrhundert).

und sein Schüler Marques de Santillana (gest. 1458), derdie ersten spanischen Sonette dichtete. Neben diesen sindhervorzuheben: Juan de Mena (gest. 1456; "El laberinto"), JorgeManrique (gest. 1479), Macias, genannt "der Verliebte", der ingalicischer Sprache dichtete, und sein Freund Juan Rodriguez delPadron, der auch eine Novelle: "El siervo", hinterließ;ferner: Garci-Sanchez de Badajoz, Alonzo de Cartagena (eigentlichAlfonso de Santa Maria), Diego de San-Pedro (um 1500), besondersdurch seinen halb metrischen, halb prosaischen Roman "El carcel deAmor" berühmt, Fernan Perez de Guzman (gest. 1470), Verfassergeistlicher Lieder, doch mehr noch als Geschichtschreiberhervorragend, Alvarez Alfonso de Villasandino, Francisco Imperialu. a. Die Werke dieser und vieler andrer Dichter sind gesammelt inden sogen. "Cancioneros" (Liederbüchern), namentlich im"Cancionero general" (zuerst Valenc. 1511), während die Werkeeines andern Dichterkreises, der sich um König Alfons V. vonAragonien scharte, in dem "Cancionero de Lope de Stuniga" enthaltensind (s. Cancionero). Sehr bemerkenswert ist die Ausbildung derspanischen Prosa in diesem Zeitraum. Eine Anzahl wichtigerChroniken behandelt die Geschichte nicht nur der verschiedenenRegenten, sondern auch bedeutender Privatpersonen. Unter diesensind das Leben des Feldherrn Pero Niño, Grafen von Buelna,von Gutierre Diez de Game, die Geschichte des ConnétableAlvaro de Luna, von unbekanntem Verfasser (1546), die spanischeChronik des Diego de Valera besonders bemerkenswert. Beachtungverdienen namentlich auch die biographischen Werke des genannten F.P. de Guzman ("Generaciones y semblanyas", Biographienberühmter Zeitgenossen) und des Hernando del Pulgar ("Losclaros varones de Castilia", 1500), in denen sich bereits einnennenswerter Fortschritt vom Chronikenstil zu pragmatischerDarstellung zeigt. Von Pulgar, dem hervorragendsten Prosaisten derPeriode, hat sich auch eine Anzahl Briefe erhalten, die, wie dergleichfalls erhaltene und anziehende, aber wegen seiner Echtheitangefochtene Briefwechsel des Leibarztes Johanns II., F. Gomez deCibdareal, einen nicht geringen Begriff vom Briefstil der damaligenZeit geben. Einen schätzenswerten Beitrag zur Sittengeschichtegab Alfonso Martinez de Toledo, Erzpriester von Talavera, in seinem"Corbacko" (zuerst 1499), einem Werk über die Sitten derWeiber von schlechtem Lebenswandel. Endlich fallen in diese Periodeauch die ersten Anfänge des spanischen Dramas, das sich ausländlichen Festspielen und den in Kirchen aufgeführtenMysterien (s. Auto) entwickelte. Hierher gehören die zum Teilgeistlichen Schäferspiele (Eklogen) des Juan del Encina (gest.1534), die Komödien Gil Vicentes (gest. um 1540), einesPortugiesen, der aber zum Teil in kastilischer Sprache schrieb,ferner der so berühmt gewordene dramatische Roman "Celestina"(in 21 Akten) von Fernando de Rojas (1500), der vielfacheNachahmungen hervorrief, und die von der Inquisition nachherverbotenen Schauspiele von Bartolome de Torres Naharro (in"Propaladia", 1517), die sich durch phantasievolle Erfindung undgewandten Versbau auszeichnen und in der Entwickelung desspanischen Theaters einen merklichen Fortschritt bekunden.

Dritte Periode.

Die dritte Periode reicht von der Begründung der spanischenUniversalmonarchie durch Karl V. im Anfang des 16. Jahrh. bis zumSchluß des 17. Jahrh. und begreift die allseitigeEntwickelung und höchste Blüte der spanischen Litteratursowie deren allmählichen Verfall, so gleichen Schritt haltendmit der Entwickelung der politischen und sozialen Zustände desReichs. Alles, was in der vorigen Periode sich vorbereitet hatte,kam in dieser zur Entwickelung, besonders infolge der politischenVerbindung Spaniens mit Italien, das seit der Eroberung Neapelsdurch Ferdinand de Cordova (1504) fast ein Jahrhundert hindurcheinen sehr bemerkbaren Einfluß äußerte.Altklassische und italienische Muster, die italienischenVersmaße, die Formen des Sonetts, der Stanze (ottave rime),Terzinen, Kanzonen etc. fanden in Spanien Nachahmung, ohnedaß dabei die spanische Poesie, welche nach wie vor einedurchaus volkstümliche Grundlage hatte, ihres nationalenCharakters verlustig ging. Überdies stand der italienischenSchule eine streng an den Nationalformen haltende Parteigegenüber, bis sich die schroffen Einseitigkeiten beiderParteien allmählich abgeschliffen hatten und aus derVerschmelzung beider nun in ihrer Art vollendete Kunstwerkehervorgingen. Der erste Dichter, welcher sich nach italienischenund altklassischen Mustern bildete, war Juan Boscan Almogaver ausBarcelona (gest. 1543); ihm ebenbürtig zur Seite standen seinFreund Garcilaso de la Vega aus Toledo (gest. 1536), der Petrarcader kastilischen Poesie genannt, und Diego Hurtado de Mendoza(gest. 1575), Dichter vortrefflicher Episteln, auch Verfasser desSchelmenromans "Lazarillo de Tormes" und sonst als Gelehrter undStaatsmann gleich ausgezeichnet. Von großem Einflußwurde der in kastilischer Mundart schreibende Portugiese Jorge deMontemayor (gest. 1561), der mit seiner "Diana" den (halb ausProsa, halb aus Versen bestehenden) Schäferromaneinführte, und mit dem sein Landsmann Sa de Miranda (gest.1588) sowie Pedro de Padilla in der pastoralen Poesie wetteiferten.Als Dichter schwungvoller, rhythmisch vollendeter Odenglänzten daneben Hernando de Herrera (gest. 1597) und LuisPonce de Leon (gest. 1591), dem die Verbindung altklassischerKorrektheit mit tief religiösem Gefühl amvorzüglichsten gelang. Außerdem sind Hernando deAcuña (gest. 1580), welcher zwischen dem italienischen unddem Nationalstil die rechte Mitte zu treffen wußte, und derLieder- und Madrigalendichter Gutierre de Cetina (gest. 1560) alsbegabte Anhänger der neuen Schule zu erwähnen. An derSpitze der Gegner des italienischen Stils und der Verteidiger deraltspanischen Naturpoesie stand Cristoval de Castillejo (gest.1556), dessen Romanzen und erotische Volkslieder echteHeimatlichkeit atmen, während seine Satiren oft zu sehrübertreiben. Unter seinen Parteigängern sind Antonio deVillegas und Gregorio Silvestre namhaft zu machen, die sich durchzierlichen Versbau auszeichneten, aber Castillejo nicht entferntgleichkamen. Endlich sei noch Francisco de Aldana (1578 in derSchlacht bei Alcazarquivir gefallen) erwähnt, dem dieZeitgenossen wegen der Hoheit seiner Gesinnung und seinerbilderreichen und glühenden Sprache den Beinamen desGöttlichen gaben. Nicht gleichen Schritt mit den lyrischenProduktionen hielt die epische Poesie der Spanier, derenGestaltungskraft auf diesem Gebiet sich in dem Heldengedicht vomCid erschöpft zu haben schien. Von den vielen neuern epischenVersuchen im 16. Jahrh., zu denen der Kriegsruhm Karls V. und dieEntdeckung von Amerika Anlaß gaben, den "Caroleen" und"Mexikaneen", ist nur eine zu nennen, welche sich durch echtepischen Geist und epische Unmittelbarkeit auszeichnet: die"Arau-

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Spanische Litteratur (16. Jahrhundert).

cana" des Alonso de Ercilla (gest. 1595), in welche derVerfasser einen Teil seiner eignen Lebensgeschichte verflochtenhat. Mit dem neubelebten Nationalbewußtsein war dabei auchbei den Kunstdichtern ein historisches oder ästhetischesInteresse an den alten Volksromanzen erwacht, die neu aufgezeichnetund gesammelt wurden. Auf diese Weise entstanden von der Mitte des16. bis zur Mitte des 17. Jahrh. eine Reihe von Romanzensammlungen("Romanceros"), die allerdings neben den echten alten epischenVolksromanzen eine Unzahl gemachter chronikenartiger oder reinlyrischer Produkte, Werke von Gelehrten und Kunstdichtern,enthalten. Die reichhaltigste dieser Sammlungen ist der 1604erschienene Romancero general" (s. Romanze).

Befruchtend wirkten die epischen Elemente der altenVolksromanzen in Verbindung mit der kunstmäßigausgebildeten Lyrik auf die Entwickelung der Comedia, desnationalen Dramas, des eigentlichen sprechenden Ausdrucks despoetischen Lebens der Nation. Dieses hatte gleich beim Beginnseiner Entwickelung in den bereits früher erwähntenDichtern Naharro und Gil Vicente die Repräsentanten derHauptrichtungen gefunden, die später eingeschlagen wurden,indem der erstgenannte mehr idealisierend zu den phantasiereichenSchöpfungen der heroischen Verwickelungs- undIntrigenstücke (comedias de ruido, comedias de capa y espada)anregte, der letztere aber der Vorläufer jener Dramatikerwurde, welche in der Darstellung des Volkslebens in seinerWirklichkeit ihre Aufgabe suchten. Letztern schlossen sichzunächst Lope de Rueda (um 1560), Verfasser der Stücke:"Comedia de las engañas" und "Eufemia", und Alonso de laVega sowie die zahlreichen Verfasser der sogen. Vor- undZwischenstücke (loas, pasos, farsas, entremeses, sainetes undcomedias de figuron) an. Neben diesen Gattungen bestanden diegeistlichen Schauspiele, aus denen zunächst das spanischeDrama hervorgegangen ist, fort und bildeten sich in der Folge nachverschiedenen Richtungen, als Autos sacramentales(Fronleichnamsspiele) und Autos al nacimiento (zur Feier der GeburtChristi), selbständig aus (s. Auto). Die gelehrtenKlassizisten versuchten zwar um die Mitte des 16. Jahrh. durchÜbersetzung und Nachbildung antiker Stücke auch dasspanische Drama nach den Mustern des klassischen Altertumsumzugestalten, und mehrere Dramatiker, z. B. Geronimo Bermudez, derunter dem Namen Antonio de Silva Tragödien mit Chörenschrieb, schlossen sich dieser antikisierenden Richtung an; alleinsie vermochten die volle originale Entwickelung des spanischenDramas nicht zu hemmen, und die begabtesten Dichter folgten baldausschließlich der nationalen Fahne. Zu diesen gehörtennamentlich: Juan de la Cueva (um 1580), Verfasser der Komödie"El infamador", der in seinem Buch "Exemplar poetico" auch einespanische Poetik aufstellte, Rey de Artieda, Dichter der "Amantesde Teruel", eines Stücks von hoher Schönheit, undCristoval de Virues (gest. 1610), dessen Tragödien (besonders"Semiramis" und "Cassandra") wahres tragisches Pathos und einkräftiger, ungezwungener Dialog nachzurühmen sind.

Die Entwickelung der spanischen Prosa blieb im 16. Jahrh. hinterden poetischen Fortschritten nicht zurück; durch das immerallgemeiner werdende Studium des Altertums gewann dieselbe anKlarheit, Kraft und Eleganz. Der erste, welcher sie auch fürdidaktische Werke, für die Darstellung philosophischerGedanken und Betrachtungen mit Erfolg anwandte, war Fernan Perez deOliva (gest. 1534), der Verfasser des gediegenen Werkes "Dialogo dela dignidad del hombre", zu welchem Francisco Cervantes de Salazareine nicht minder treffliche Fortsetzung lieferte, und seinemBeispiel folgte eine große Anzahl von Schriftstellern, vondenen nur Antonio de Guevara (gest. 1545) mit seinem Hauptwerk:"Relox de principes, o Marco Aurelio". einer Art didaktischenRomans, und seinen (zum größern Teil erdichteten)"Epistolas familiares" erwähnt sei. Auf dem Gebiet derGeschichtschreibung gab man den alten Chronikenstil jetztgänzlich auf und suchte die historische Kunst in pragmatischerDarstellung und schöner Form den Griechen und Römernabzulernen. Dieses Bestreben zeigt sich bereits bei denHistoriographen Karls V., Pero Mexia und Juan Ginez de Sepulveda(gest. 1574), entschiedener aber noch bei den eigentlichenVätern der spanischen Geschichtschreibung: Geronimo Zurita ausSaragossa (gest. 1580), Verfasser der wichtigen "Anales de lacorona de Aragon", welche später in dem Dichter Bartol.Leonardo Argensola einen Fortsetzer fanden, und Ambrosio de Morales(gest. 1591), der die von Florian de Ocampo begonnene GeschichteKastiliens mit Umsicht und Kritik weiterführte. Als das erstespanische Geschichtswerk aber von klassischem Wert muß dieGeschichte des Rebellionskriegs von Granada ("Historia de la guerrade Granada") des oben als Dichter erwähnten Diego de Mendoza(gest. 1575) genannt werden. Weiter sind zu erwähnen dieBerichterstatter über die Neue Welt: Fernandez de Oviedo, dereine "Historia general y natural de las Indias" (1535) schrieb, undder edle Las Casas (gest. 1566), dessen "Historia de las Indias"1876 zum erstenmal veröffentlicht wurde, namentlich aber derJesuit Juan de Mariana (gest. 1623), Verfasser einer "Historia deEspaña", die bis zur Thronbesteigung Karls V. (1516) reichtund rhetorische Kraft mit Anschaulichkeit der Charakteristik undfreimütiger Gesinnung verbindet. Eine Stelle in der spanischenLiteraturgeschichte beanspruchen auch die nach seiner Flucht ausSpanien geschriebenen, in klassischem Stil abgefaßten Briefedes berühmten Geheimschreibers Philipps II., Antonio Perez(gest. 1611), denen man die der heil. Teresa de Jesus (gest. 1582),obschon ihrer Art nach ganz verschieden von jenen, an die Seitestellen kann; ebenso die asketischen und religiösenErbauungsbücher von Fray Luis de Leon (Klostername desDichters Ponce de Leon) und dem Kanzelredner Fray Luis de Granada(gest. 1588), die Schriften ähnlicher Art von San Juan de laCruz und Malonde Chaide ("La conversion de Madalena") u. a. Auchder erste spanische Versuch eines historischen Romans, dievortreffliche "Historia de las guerras civiles de Granada" von G.Perez de Hita (um 1600), fällt in diese Zeit. In ihrerhöchsten Vollendung zeigte sich aber die kastilische Spracheerst in dem größten und tiefsinnigsten SchriftstellerSpaniens, Miguel de Cervantes Saavedra (1547-1616), der alleRichtungen der Zeit in sich vereinigte, aber über denselbenstand und nicht nur in seinem unübertroffenen satirisch -komischen Roman "Don Quijote", der dem herrschenden Unwesen derRitterromane den Todesstoß versetzte, und in seinen "Novelas"Meisterleistungen aufstellte, sondern auch den Schäfer- undden Liebesroman kultivierte und sogar auf dramatischem Gebiet mitseiner "Numancia" und den "Entremeses" Werke von nationalerBedeutung schuf.

Mit dem 17. Jahrh., in das Cervantes' "Don Qui-

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Spanische Litteratur (17. Jahrhundert).

jote" (1604) überleitet, tritt das spanische Drama in diePeriode seiner höchsten und glänzendsten Entwickelung,die bis fast zum Ausgang des Jahrhunderts dauert, und dieübergroße Zahl von Bühnendichtern, welche dieseZeit aufzuweisen hat, teilt sich in zwei große Gruppen, alsderen Mittelpunkt zwei der größten und fruchtbarstendramatischen Genien aller Zeiten: Lope de Vega Carpio (1562-1635)und Calderon de la Barca (1600-1681) glänzen. Von denAnhängern des ältern Lope nennen wir als diebedeutendsten: Perez de Montalvan (gest. 1638), Verfasser des langeZeit beliebten Schauspiels "Los amantes de Teruel" (ein Stoff, denfrüher bereits Artieda behandelt hatte) sowie geschichtlicherDramen, mit trefflicher Charakterschilderung (z. B. "Juand'Austria") und höchst eigentümlicher Autos ("Polifema");Tarrega ("La enemiga favorable"); Guillen de Castro (gest. 1638),dessen Hauptwerk: "Las mocedades del Cid", das Vorbild vonCorneilles "Cid" war; Gabriel Tellez, als Dichter den Namen Tirsode Molina führend (gest. 1648), nach Lope, der fruchtbarstespanische Schriftsteller, Verfasser von "El burlador de Sevilla",der ersten Dramatisierung der Don Juan Sage; Juan Ruiz de Alarcon(gest. 1639), ein origineller Dichter voll glühender Phantasieund plastischer Kraft, dessen "Tejedor de Segovia" und "Ganaramigos" unter die Meisterstücke der heroisch-romantischenGattung gehören (sein Lustspiel "La verdad sospechosa" wurdedas Vorbild von Corneilles "Menteur"); ferner: Luis Velez deGuevara (gest. 1646), der die Erscheinungen des äußernLebens in wirkungsvoller Weise darzustellen weiß undbesonders durch sein Drama "Mas pesa el rey que la sangre", eineVerherrlichung der Lehnstreue, berühmt ist; Antonio Mira deMescua (um 1630), dessen "Esclavo del demonio" Calderon in seiner"Andacht zum Kreuz" benutzt hat, u. a. Viele vortrefflicheStücke stammen auch aus der Zeit des Lope, deren Verfasserunbekannt geblieben sind, und die gewöhnlich unter dem Titel:"Comedias famosas par un ingenio de esta corte" angezeigt wurden;am meisten Aufsehen unter denselben erregte "El diablo prediador".Die genannten Dichter, ausgezeichnet durch reiche Erfindungsgabeund geniale Konzeption, sind denn die eigentlichen Schöpferdes spanischen Dramas, und sie schufen dasselbe aus rein nationalenElementen, aus volkstümlicher Begeisterung und frischer,glühender Phantasie. Da bei Calderon zu dieserOriginalität und sprudelnden Fülle noch diekünstlerische Reflexion und die sorgsamere Ausführung imeinzelnen hinzukamen, so erreichte in ihm das spanische Drama denGipfel der Vollendung. Die namhaftesten unter seinen Zeitgenossenund Nachfolgern sind: Agostin Moreto (gest. 1668), der wenigerdurch die Originalität und Kühnheit der Erfindung alsdurch sorgfältige Entwickelung fein ausgearbeiteterEntwürfe glänzt (Hauptwerk: "El valiente justiciero");Francisco de Rojas (um 1650), der sowohl im Intrigenstück alsin der Tragödie Ausgezeichnetes leistete (am populärsten:"Del rey abajo niguno", eine Schilderung des Konflikts zwischenKönigstreue, Ehre und Liebe); Matos Fragoso, durchliebenswürdige Wärme der Darstellung und Eleganz desStils ausgezeichnet (bestes Drama: "El villana en su rincon", einegelungene Bearbeitung des gleichnamigen Stückes von Lope), undJuan Bautista Diamant e (blühte um 1674), dessengeschichtliche Dramen (z. B. "El hijo, honrador de su padre", dasdie Geschichte des Cid zum Vorwurf hat, und "Judia de Toledo")historischer Geist und feines Verständnis beleben; Juan de laHoz Mota, dessen Lustspiel "El castigo de la miseria" allezeit einStolz der Spanier war; der oben genannte, auch als Dramendichterausgezeichnete Historiker Antonio de Solis (gest. 1686), von dessenheroischen Schauspielen besonders "El alcasar del secreto" und die"Gitanella de Madrid" zu den Lieblingsstücken damaliger Zeitgehörten; Antonio Enriquez Gomez (um 1650), Verfasserzahlreicher Komödien sowie lyrischer Gedichte und satirischerCharakterbilder in Prosa (s. unten); Agustin de Salazar (gest.1675), der sich wenigstens in einigen seiner Dramen, wie "Elegir alenemigo", und in dem feinen Sittengemälde "Segunda Celestina"als echter Dichter bewährte; Antonio de Leyba, Fernando deZarate, Cristoval de Monroy, Geronimo de Cuellar u. v. a. DerReichtum der spanischen Bühne jener Zeit ist in der Thatunübersehbar, und die ungeheure Wirkung, welche dieselbedauernd ausübte, lag darin, daß es der Geist und dieSeele des ganzen Volkes waren, welche in ihren Schöpfungenpulsierten und sie zum Gemeingut dieses Volkes machten. Gegen denAusgang des Jahrhunderts beginnt die dramatische Poesie endlich zuermatten, aber selbst die bereits der Verfallzeit angehörendenSchauspiele von Franc. Bances Cándamo (gest. 1709; "Por surey y por su dama", "Esclavo en grillos de oro "), Cañizares(gest. 1750), der mit sogen. Comedias de figuron (worin irgend einelächerliche Figur den Mittelpunkt bildet) seine Haupterfolgeerzielte, und Antonio Zamora (gest. 1730) atmen immer noch echtspanischen Geist. Mit dem durchaus volkstümlichen Drama konntesich die gelehrte Kunstpoesie im 17. Jahrh. weder an vielseitigerAusbildung noch an Beliebtheit messen.

Die phantasievolle Weise Lope de Vegas hatte in der LyrikEingang gefunden, wurde jedoch bald von einzelnen Dichtern durchgezierte und schwülstige Wendungen und Ausdrücke bis zurKarikatur verzerrt, und an die Stelle der Gedanken und Empfindungentraten leeres Gepränge hochtönender Worte, abenteuerlicheund gesuchte Bilder und Gleichnisse und geschraubte, in erhabeneDunkelheit gehüllte Phrasen. Der Hauptträger diesergeschmacklosen Richtung war Don Luis de Gongora (gest. 1627), derErfinder des sogen. Estilo culto und Begründer einer besondernDichterschule, der Gongoristen oder Kulturisten, die mit der Zeiteinen verderblichen Einfluß auf den Geschmack der Zeitausübte, und als deren ausgezeichnetstes Mitglied der durchsein tragisches Geschick bekannte Graf von Villamediana (ermordet1621) zu nennen ist. Von den Gongoristen unterschieden sich diesogen. Konzeptisten insofern, als sie das Hauptgewicht auf dengedanklichen Inhalt der Dichtung legten, der sich nicht selten insMystische verlor; an ihrer Spitze standen Felix de Arteaga (gest.1633) und Alonso de Ledesma (gest. 1623; "El monstruo imaginado").Die talentvollern Dichter gehörten gleichwohl zu den GegnernGongoras, obschon auch sie der herrschenden ModeZugeständnisse machen mußten, so die beiden BrüderLupercio Leonardo und Bartolome de Argensola (gest. 1613 und 1631),zwei Lyriker, die, Horaz und den Italienern nacheifernd, klassischeKorrektheit des Stils mit poetischem Gefühl undglücklichem Darstellungstalent verbinden; Estevan Manuel deVillegas (gest. 1669), als der erste unter den erotischen Dichternanerkannt; Francisco de Rioja (gest. 1659), Verfasservortrefflicher Lieder und Oden; Juan de Arguijo (um 1620), einzartsinniger Sonettensän-

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Spanische Litteratur (17. und 18. Jahrhundert).

ger, besonders bekannt durch sein Gedicht auf seine Leier;ferner Juan de Jauregui (gest. 1641), der Übersetzer vonTassos "Aminta" und Verfasser einer Dichtung: "Orfeo", in fünfGesängen; Francisco de Borja, Principe de Esquilache (gest.1658), mehr durch seine Romanzen und kleinern lyrischen Gedichteals durch seine größern Werke ("Napoles recuperada")hervorragend; Vicente Espinel (gest. 1634), der teils initalienischen Silbenmaßen, teils im altspanischen Stildichtete, auch eine neue Art eigentümlich gereimter Dezimen(die sogen. Espinelen) einführte. Vorzugsweise in derpastoralen und der epischen Dichtung glänzte Bernardo deBalbuena (gest. 1627), Verfasser des romantischen Heldengedichts"Bernardo" und des Schäferromans "El seglo de oro",während die "Selvas danicas" des Grafen Bernardino deRebolledo (gest. 1676), eine Art Epos, worin die ganze Geschichteund Geographie Dänemarks versifiziert vorgetragen wird, undandre ähnliche Werke desselben Verfassers das Herabsinken derspanischen Poesie zu nüchternem Formenwesen kennzeichnen. Alstrefflicher Lyriker, namentlich durch burleske Lieder und Romanzen("Jacaras") glänzte ferner Francisco Gomez de Quevedo (gest.1645), der auch auf andern Gebieten zu den ersten und geistvollstenAutoren gehört (s. unten). Von den übrigen Dichtern seiennoch flüchtig erwähnt: der humoristische und schalkhafteBalthasar de Alcazar (gest. 1606), Martin de la Plaza, derheldenhafte Gonzalo de Argote y Molina, Sänger patriotischerLieder, auch Geschichtschreiber; Francisco de Figueroa, genannt der"spanische Pindar"; Luis Barahona de Soto, Verfasser der "Lagrimasde Angelica", einer eleganten und langweiligen Fortsetzung des"Rasenden Roland", die ungewöhnlichen Beifall fand; Franciscode Medrano, Luis de Ulloa, der schon als Dramatiker erwähnteAgustin de Salazar (gest. 1675), der sich durch seine "Cythara deApolo" als blinder Anhänger des "Estilo culto" bewies; Agustinde Tejada, Pedro Soto de Rojas, Lopez de Zarate (gest. 1658),Verfasser des Epos "La invencion de la cruz"), die Nonne Ines de laCruz aus Mexiko u. a. Eine Sammlung lyrischer Gedichte des 16. und17. Jahrh., deren wesentliche Vorzüge in der hohen metrischenAusbildung der Formen und der durchdachten, fein zugespitztenKonzeption bestehen, enthält Bd. 42 der "Biblioteca de autoresespañoles".

Auf dem Gebiete der Prosa traten nach den glänzenden Werkendes Cervantes nur Leistungen von geringerm Belang hervor. DerRitterroman war, besonders in den zahllosen Nachahmungen des"Amadis", zur Karikatur herabgesunken; auch der Schäferroman,obwohl noch von zahlreichen Schriftstellern, darunter von Lope deVega ("Arcadia"), Luis Galvez de Montalvo ("Filida") u. a.,kultiviert, verlor mehr und mehr in der Meinung des Publiku*ms. Beiweitem größern Beifall fanden die Schilderungen derSitten und gesellschaftlichen Verhältnisse der Gegenwart,denen sich die vorzüglichsten Autoren jetzt mit Vorliebezuwandten und zwar teils in Form kleinerer Novellen, in welcherGattung Cervantes den Ton angegeben hatte, dem Geronimo SalasBarbadillo (gest. 1630), die Dramatiker Tirso de Molina("Cigarrales de Toledo") und Perez de Montalvan ("Para todos")nebst einer ganzen Reihe anderer, wie Francisco Santos Vargas,Ribera, Prado etc., darunter auch zwei Frauen: Mariana de Carbajal(um 1633) und Maria de Zayas (um 1650), mit mehr oder minderGlück nacheiferten; teils in jenen berühmtenSchelmenromanen nach dem Muster des "Lazarillo de Tormes" vonMendoza (s. oben), so in der witzigen "Historia del granTacaño" von Quevedo, in "Marcos de Obregon" von VicenteEspinel, in "Vida y hechos del picaro Gusman del Alfarache" vonMateo Aleman, in der "Picara Justina" von Franc. Lopez de Ubeda(Andres Perez), in der "Vida de Don Gregorio Guadaña" vonAnt. Enriquez Gomez; in der berüchtigten Selbstbiographie vonEstevanillo Gonzalez (1646) u. a. Eine dritte Reihe vonDarstellungen des spanischen Lebens bilden die Erzählungen injenem burlesk-phantastischen Stil, der zuerst von Quevedo in seinenfein, aber bitter satirischen "Sueños" und den witzigen"Cartas del caballero de la tentenaza" aufgebracht, dann von Velezde Guevaraz in seinem "Diablo cojuelo" u. a. weiter ausgebildetwurde. Mit der Zeit litt indessen auch die Prosa durch denEinfluß der Gongoristen und sank zu den Bizarrerien desEstilo culto herab; unter den Schriftstellern dieser Schule ist derbekannteste der Jesuit Baltazar Gracian (gest. 1658), von dessenSchriften besonders der "Criticon", eine Allegorie auf dasmenschliche Leben in Novellenform, und der einst vielbewunderte"Oraculo manual", eine Zusammenstellung von Regeln derWeltklugheit, zu erwähnen sind. Die Geschichtschreibung, derenAusbildung durch religiösen und politischen Druck in jederWeise behindert war, hat nach Mariana nur noch zwei Schriftstellervon Bedeutung aufzuweisen: Francisco Manuel de Melo (gest. 1665),der die Geschichte des Kriegs in Katalonien schrieb, und den schonals Dramatiker erwähnten Antonio de Solis, Verfasser einerGeschichte der Eroberung von Mexiko, die wie ein Heldengedicht inProsa gemahnt, aber an Befangenheit des Urteils und Mangel anObjektivität leidet.

Vierte Periode.

Die vierte Periode, welche von der Thronbesteigung der Bourbonen(1701) bis auf unsre Zeit reicht, ist charakterisiert durch dieHerrschaft des französischen Kunstgeschmacks und dieschließliche Wiedergeburt der spanischen Litteratur, die sichdurch Verschmelzung der nationalen Elemente mit dermodern-europäischen Bildung allmählich vollzog. Nachdemdie Litteratur lange Zeit in derselben Art von Marasmus gelegen, inwelchen die ganze Nation seit dem Tode des letzten undunfähigsten Habsburgers, Karls II., unter dessen Regierung derletzte Schimmer von Spaniens ehemaliger Größeverschwand, versunken war, kam gegen die Mitte des 18. Jahrh. durchdie bourbonische Dynastie ein neuer Geist, der französische,über die Pyrenäen, der bei der Verwilderung undErschöpfung des alten Nationalgeschmacks als einRegenerationsmittel bald Einfluß gewinnen mußte.Eingang verschaffte ihm namentlich Ignacio de Luzan (gest. 1754),der in seiner Schrift "La Poetica" (1737) diefranzösisch-klassische Kunstlehre erörterte und damitsofort begeisterte Anhänger fand. Unter ihnen haben namentlichdie Gelehrten L. J. Velasquez (gest. 1772) in seinen "Origenes dela poesia castellana" (1754) und Gregorio de Mayans (gest. 1782) in"Retorica" (1757) die Theorie Luzans weiter entwickelt.Gleichzeitig wirkte der Benediktinermönch Benito GeronimoFeyjoo (gest. 1764) durch seine "Cartas eruditas y curiosas"für Aufklärung des verdummten Volkes und Reform derWissenschaften, während etwas später unter deraufgeklärten Regierung Karls III. José Franc. de Isla(gest. 1781) in dem satirischen Roman "Fra Gerundio de Campazas"sogar gegen die Mißbräuche der Kirche zu Felde zog.Inzwischen war auch eine Reaktion des alten Nationalgeistesgegen

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Spanische Litteratur (18. und 19. Jahrhundert).

die Bestrebungen der Neuerer, der Gallizisten, eingetreten, undals Hauptverfechter desselben trat jetzt, wenn auch mehrtheoretisch als durch eigne Schöpfungen, der patriotische,aber blind eifernde Garcia de la Huerta (gest. 1787) auf.Gleichzeitig wußten Lopez de Sedano durch seinen "Parnasespañol", eine Sammlung der bemerkenswertesten Dichtungendes 16. und 17. Jahrh., und Tomas Antonio Sanchez durch eineAuswahl der ältesten spanischen Dichtungen sowie Sarmientodurch seine "Historia de la poesia español" die absoluteHerrschaft der Gallizisten zu verhindern und das Interesse fürheimische Poesie wieder anzuregen. Als der erste bedeutendereSchriftsteller der französischen Richtung ist Nicolas FernandoMoratin (gest. 1780) zu nennen, der als Epiker wie namentlich alsdramatischer Dichter thätig war; aus der großen Mengevon Dramatikern der nationalen Richtung ragt indessen nur derfruchtbare Ramon de la Cruz (gest. 1795), besonders durch seine vongenialem Humor erfüllten Sainetes (Zwischenspiele),glänzend hervor. Bald bildete sich wieder eine Dichterschule,nach ihrem Hauptsitz die "Schule von Salamanca" genannt, die einevermittelnde Stellung einnahm, insofern ihre Mitglieder gegen dieAnforderungen des Zeitgeistes nicht blind, aber doch patriotischgenug waren, um neben den modernen fremden auch die einheimischenMuster der guten Zeit zu berücksichtigen. Das eigentlicheHaupt dieser Schule war Juan Melendez Valdes (gest. 1817), der dieNation wieder zu enthusiasmieren wußte und auch dasphilosophische Element in die spanische Dichtung aufnahm; zu ihrenAnhängern gehörten: Nicasio Alvarez Cienfuegos (gest.1809), ein Dichter zarter und anmutiger Liebeslieder; JoséIglesias de la Casa (gest. 1791), besonders im Epigramm und inkleinen satirischen Gedichten ausgezeichnet; Tomas de Iriarte(gest. 1791), der die Fabel in die spanische Dichtkunsteinführte und darin in Felix Maria de Samaniego (gest. 1801)einen glücklichen Nachfolger fand; ferner die schonältern José de Cadalso (gest. 1782), Verfasser derSatire "Los eruditos á la violeta" und der "CartasMarruecas", und der Staatsmann und Patriot Gaspar Melchior deJodellanos (gest. 1811), ein hochbegabter Schriftsteller und reinerCharakter, der auf die Wiedergeburt der spanischen Litteratur vongroßem Einfluß war. Auch Pablo Forner (gest. 1797), derPater Diego de Gonzales (gest. 1794), Leon de Arroyal, GrafNoroña u. a., die zum Teil auch die Italiener nachahmten,dürfen der Dichterschule von Salamanca beigezählt werden.Strenger am französischen System hielt der talentvolle LeandroFernandez de Moratin (der jüngere, 1760-1828), besonders inseinen Lustspielen ("El si de las niñas"), die sich, wieauch seine übrigen Werke (Oden, Sonette, Epigramme, das Idyll"La ausencia" etc.) durch Anmut der Schreibart und Feinheit desGeschmacks auszeichen und mit verdientem Beifall aufgenommenwurden.

Die verhängnisvollen Ereignisse des 19. Jahrh., derUnabhängigkeitskrieg gegen die Besitzergreifung Spaniens durchNapoleon und die diesem folgenden Aufstände, übteneinerseits einen nachteiligen Einfluß auf die Litteratur, dasie die Muße zu litterarischen Arbeiten nahmen und diepolitischen Kämpfe und Debatten einen großen Teil dervorhandenen Talente verzehrten; anderseits wirkte aber der durchden Unabhängigkeitskrieg errungene Sieg über diefranzösische Usurpation wie in politischer, so auch inlitterarischer Hinsicht belebend, und der politische Anteil an derRegierung, den die Nation durch die innern Umwälzungen errang,trug zu ihrer allseitigern Geistesentwickelung bei und gab derLitteratur wieder eine mehr patriotische und selbständigeHaltung. Von den Schriftstellern und Gelehrten, welche sich an denpolitischen Kämpfen beteiligten, sei hier nur an Antonio deCapmany (gest. 1813), der staatsrechtliche Schriften sowie eine"Filosofia de elocuencia" und den "Tesoro de prosadoresespañoles" herausgab, den Nationalökonomen FlorezEstrada und die Publizisten Donoso Cortes, Conde de Toreno undJosé de Lara (gest. 1837), erinnert, welch letzterer, einerder vorzüglichsten Schriftsteller Spaniens (auch unter demNamen Figaro bekannt), seine Zeit mit all ihren Erscheinungen aufdem Gebiet des politischen wie des sozialen Lebens einer strengenKritik im Gewand originellen Humors und treffender Satire unterzog,aber auch als Dichter sich auf dem Felde des Romans und des Dramas("Macias", "No mas mostrador") berühmt machte. In derpoetischen Litteratur traten jetzt hauptsächlich zwei Parteieneinander gegenüber: die Klassiker, d. h. diejenigen, welchesich noch immer der französisch-klassischen Regel unterwarfen,andernteils aber auch solche, welche von dem Zurückgehen zuralten spanischen Nationalpoesie das Heil der Dichtkunst erwarteten,und die Romantiker, welche entweder fessellos den Antrieben ihresGenius folgten, oder sich der neu französischen Richtunganschlossen. Als Dichter der klassischen Richtung sind zu nennen:Manuel José Quintana (gest. 1857), Verfasser desTrauerspiels "Pelayo" (1805) und trefflicher Oden (aber auch alsHistoriker geschätzt); die Lyriker Juan Bautista de Arriaza(gest. 1837) und José Somoza; Juan Maria Maury, Verfasseranmutig-einfacher Romanzen wie auch größerer epischerGedichte; Felix José Reinoso (gest. 1842), der sich durchdas Epos "La inocencia perdida" und kleinere Poesien einen Namenerwarb; José Joaquin Mora, durch seine satirischen Fabelnund Romanzen ausgezeichnet; Serafin Calderon (gest. 1867), einleidenschaftlicher Anhänger der alten Nationalpoesie ("Poesiasdi un solitario"); Lopez Pelegrin; Tom. José GonzalezCarvajal (gest. 1834; "Libros poeticos de Santa Biblia") u. a.Viele der neuern Dichter schwankten auch zwischen der klassischenund romantischen Richtung, so: Alberto Lista (gest. 1848), gleichausgezeichnet als Dichter und Mathematiker ("Poesias sagradas","Poesias filosoficas", Romanzen etc.); der gefeierte StaatsmannAngelo de Saavedra, Herzog von Rivas (gest. 1865), der von derklassischen Schule zu den Romantikern überging, Verfasser derOde "El desterrado", der Dichtung "Florinda" sowie desRomanzencyklus "El moro exposito", und Francisco Martinez de laRosa (gest. 1862), in der lyrischen und didaktischen Dichtung wieim beschreibenden Epos ("Saragosa") und gleich Saavedra auch imDrama (s. unten) hervorragend; ferner Nicasio Gallego (gest. 1853),berühmt durch seine ergreifenden Oden und Elegien; derFabeldichter Pablo de Jerica, der Lyriker José Maria Roldan(gest. 1828), Manuel de Arjona, Verfasser trefflicher Fabeln,Epigramme und scherzhafter Erzählungen, Francisco de Castro u.a. An der Spitze der Romantiker steht José Zorrilla (geb.1818), der populärste Dichter des modernen Spanien, der sichvon der Poesie der Zerrissenheit und des Schmerzes zu einer heiternAuffassung des Lebens durchgearbeitet und auf fast allen Gebietender Dichtkunst (wir erinnern nur an seine "Cantos del trovador" undsein Drama "Don Juan Tenorio") Vortreffliches geleistet

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Spanische Litteratur (19. Jahrhundert).

hat. Neben ihm sind zu nennen: der exzentrische José deEspronceda (gest. 1842), ein Dichter der Verzweiflung ("Elcondenado á la muerte", "El mendiande", "El estudiante" u.a.); der schwermütige Nicomedes Pastor Diaz, dem diesüßesten und erhebensten Töne zu Gebote stehen;José Bermudez de Castro, in dessen Dichtungen ("El dia dedifuntos") sich wieder alle Schauer der Romantik finden; derphantastisch-fromme Jacinto Salas y Quiroja; der StaatsmannPatricio de la Escosura (gest. 1878), ein schwungvoller Lyriker desWeltschmerzes ("El bulto vestido de negro capuz"), dessen Talentsich aber noch glänzender in seinen historischen Romanen zeigt(s. unten); der sinnige Lieder- und Romanzendichter FranciscoPacheco u. a. Von den Dichtern der neuesten Zeit errangen vorandern Ramon de Campoamor (geb. 1817), der Verfasser der tiefpoetischen Gedichtsammlung "Doloras". aber auch dramatischerArbeiten, eines Epos: "Colon", und reizender "Novellen in Versen",und der "Poeta del pueblo", Antonio de Trueba (gest. 1889), mitseinem "Libro de los cantares" verdienten Beifall. Neben ihnenteilen sich Villergas, Campo-Arano, Enrique Gil, Gaspar BuenoSerrano und besonders Ventura Ruiz Aguilera (gest. 1881), Dichterberühmter "Elegias" und der "Legenda de Noche-Buena", sowieGaspar Nuñez de Arce (geb. 1834), Verfasser des Gedichts "Elvertigo" und der "Vision de Fray Martin", in die Gunst desPubliku*ms. Auch José Selgas, Manuel del Palacio, AdolfoBecquer und Curros Enriquez ("Aires da minha terra") müssenals Lyriker genannt werden. Als Satiriker fand José Gonzalezde Tejada, als Fabeldichter Miguel Augustin Principe und F.Baëza Anerkennung. Auch ein moderner "Romanceroespañol" von verschiedenen Verfassern ist erschienen (1873).Eine gediegene Blütenlese aus den Werken der Dichter des 19.Jahrh. bietet der "Tesoro de la poesia castellana", Bd. 3 (Madr.1876).

Was das Drama betrifft, so war seit den 30er Jahren dieHerrschaft des klassischen Geschmacks, der durch Moratin denjüngern für einige Zeit zur allgemeinen Geltung gelangtwar, im Sinken begriffen, und das spanische Theater trat in einStadium, welches ein Gemisch der extremsten Gegensätze bot.Namentlich ließ man sich von dem Taumel der sogen.romantischen Schule in Frankreich mit fortreißen, derenMißgebilde man in Übersetzungen oder in noch krassernNachbildungen mit Vorliebe auf die heimische Bühne brachte.Erst allmählich klärte sich das Chaos, die Besonnenernkehrten zu den altklassischen Formen zurück, die sie mit denAnforderungen der modernen Zeit zu vereinen suchten, und wenn sichauch die spanische Bühne bis auf den heutigen Tag noch nichtvöllig zur Selbständigkeit in einer bestimmten Richtunghervorgearbeitet hat, so gewinnen doch würdige, aus edlemStreben hervorgegangene Originalproduktionen immer mehr dieOberhand. Unter den Klassikern ragt vor allen Manuel Breton de losHerreros (1800-1873) hervor, der fruchtbarste Bühnendichterdes modernen Spanien, unter dessen den verschiedensten dramatischenGattungen angehörenden Arbeiten die Charakterkomödien, inwelchen er das Leben der Mittelklassen Spaniens schildert, denobersten Rang einnehmen. Unter seinen zahlreichen Nachahmern istTomas Rodriguez Rubi (geb. 1817) der begabteste. Zu denAnhängern der klassischen Schule gehörten auch dieLustspieldichter Francisco de Burgos (gest. 1845) und ManuelEduardo Gorostiza (geb. 1790); ferner Juan Eugenio Hartzenbusch(1806-80), einer der bedeutendsten Tragiker der Neuzeit, Verfasserdes Dramas "Los amantes de Teruel", dem sich seine späternArbeiten würdig anreihen. Von großerBühnengewandtheit zeugen die Stücke von Antonio GarciaGutierrez (gest. 1884), den besonders die Tragödie "ElTrovador" berühmt machte. Eine zwischen der klassischen undromantischen Richtung hin- und herschwankende Stellung nimmt deroben als Lyriker genannte Martinez de la Rosa ein, der Verfasserreizender und belieber Lustspiele ("La niña en casa y lamadre en la máscara" und "Los zelos infundados"), dessendramatische Begabung sich aber noch glänzender in seinenhistorischen Tragödien ("La conjurazion de Venecia") zeigt.Unter den vorzugsweise tragischen Dichtern ist der bedeutendsteAntonio Gil y Zarate (1793-1861), der, seinen Prinzipien nachAnhänger des Klassizismus, in der Praxis später zu denRomantikern überging, und unter dessen Stücken besonders"Carlos II el hechizado", "Rosmunda" und "Guzman el bueno"hervorzuheben sind. Entschieden romantische Richtung verfolgen inihren dramatischen Arbeiten der schon genannte A. de Saavedra,Herzog von Rivas, Verfasser des Lustspiels "Solaces de unprisionero" und des Dramas "Don Alvaro", und José Zorrilla,der Lieblingsdramatiker der Nation, von welchem wir hier nur "Elzapatero y el rey" und die Bearbeitung der Don Juan-Sage: "Don JuanTenorio", erwähnen wollen. Von den übrigen Dramatikern,besonders der neuesten Zeit, seien hier noch angeführt:Ventura de la Vega (gest. 1865), Gertrudis de Avellaneda (gest.1873; "Leoncia", "El principe de Viana"), der schon als Lyrikererwähnte Campoamor ("Dies irae", "Cuerdos y locos", "Elhonor"), Adelardo Lopez de Ayala (gest. 1879; "El hombre deestado", "El tanto por ciento", "Consuelo"), Luis Martinez deEguilaz (geb. 1833; "La cruz del matrimonio"), JoséEchegaray (geb. 1832; "La esposa del vengador", "En el seno de lamuerte", "El gran galeoto"), Nuñez de Arce ("Dendras dehonra", "El haz de leña"), Francisco Camprodon (gest. 1870;"Flor de un dia") und Tamayo y Baus ("La rica hembra"),vorzugsweise Dichter, welche das moderne Leben bald inrealistischer, bald in idealistischer Auffassung zur Darstellungbrachten. Sehr beliebt sind in der Neuzeit die echt spanischen, demVolksleben abgesehenen Possen (Sainetes), wie "La banda del rey"von Emilio Alvarez u. a. Eine gediegene Auswahl moderner Dramenerschien unter dem Titel: Joyas del teatro español del sigloXIX" (Madr. 1880-82).

Im Vergleich mit der dramatischen Litteratur blieb das Gebietdes Romans lange Zeit vernachlässigt; erst in der letzten Zeitbegann man dasselbe wieder eifriger anzubauen. Zunächstfolgten Übersetzungen und Nachahmungen französischer undenglischer Werke, dann aber auch spanische Originalromane und zwarin solcher Fülle, daß gegenwärtig auch bei denSpaniern der Roman, als das "Epos unsrer Zeit", nebst der Novellezur Lieblingsform litterarischer Produktion geworden und inverschiedenen Formen ausgebildet ist. Besondere Pflege erfuhr derhistorische und Sittenroman, als deren Hauptrepräsentantenunter den bereits angeführten Autoren genannt werdenmüssen: Larra ("El doncel de Don Enrique el Doliente"),Escosura ("El conde de Candespina" und "Ni rey, ni roque"),José de Espronceda ("Don Sancho Salaña"), SerafinCalderon ("Christianos y Moriscos"), Martinez de la Rosa ("Isa-

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Spanische Litteratur (Philosophie, Theologie, Rechts- u.Staatswissenschaft).

bel de Solis") und Gertrudis de Avellaneda ("Dos mugeres").Ungemeinen Erfolg hatten auf diesem Gebiet außerdem FernanCaballero (Cäcilia de Arrom, gest. 1877), die Begründerindes realistischen Romans in Spanien, und Antonio de Trueba (gest.1889) mit seinen zahlreichen Erzählungen ("Cuentoscampesinos", "Cuentos populares" etc.); ebenso Vicente PerezEscrich ("Cura de la Aldea", "La muger adultera", "Los angeles dela tierra" etc.), Manuel Fernandez y Gonzales (gest. 1888; "LosMondes de las Alpujarras", "La virgen de la Palma" etc.) und PedroAntonio de Alarcon (geb. 1833; "Sombrero de tres picos" und "Elescandalo"), denen wir aus neuester Zeit noch als die namhastestenErzähler anreihen: Juan Valera ("Pepita Jimenez", "DoñaLuz"), José Selgas ("La manzana de oro", "Dos rivales"),Cespedes, Perez Galdos, der den historischen Roman kultiviert,Castro y Serrano, Escamilla, die Schriftstellerinnen: Maria delPilar Sinués, Angela Grassi und Faustina Saez de Melgar("Inés"). Als interessanter Sittenschilderer bewährtesich Ramon de Mesonero (gest. 1882) in den Werken: "Manual deMadrid", "Escenas matritenses" u. a. Im übrigen wurde diespanische Prosa durch eine Reihe ausgezeichneter Historiker (s.unten) und berühmter Redner und Publizisten (wie Jovellanos,Augustin Arguelles, Alcalá-Galiano, Donoso Cortes, Martinezde la Rosa, Emilio Castelar u. a.) wie durch die kritischenArbeiten eines Gallardo, Salva, Lista, Hermosilla, Marchena etc. inihrer Ausbildung wesentlich gefördert. Groß ist auch dieZahl der Zeitschriften und Revuen, die, teilspolitisch-belletristischen, teils wissenschaftlichen Inhalts, inden letzten Jahrzehnten in Spanien aufgetaucht sind, und von denenhier als die reichhaltigsten und gediegensten nur die "Revista deEspaña", "Revista Contemporanea" und "Revista Europea"genannt seien.

Wissenschaftliche Litteratur.

Die wissenschaftlichen Leistungen vermochten sich in Spaniennicht so glänzend zu gestalten wie die Nationallitteratur.Insbesondere konnte sich in den philosophischen Wissenschaften einfreier, selbständiger Geist nie entwickeln, weil geistiger undweltlicher Despotismus höchstens ein scholastisches Wissen imDienste der positiven Theologie und Jurisprudenz duldete. DiePhilosophie ist fast bis auf die neuesten Zeiten auf derniedrigsten Stufe, der scholastisch-empirischen, stehen geblieben;nur Dialektik, Logik und mittelalterlicher Aristotelismus wurdenetwas kultiviert, da diese Disziplinen den Theologen als Waffe zurVerteidigung ihrer dogmatischen Subtilitäten dienenmußten. Erst im 19. Jahrh. hat auch Spanien einen wirklichenPhilosophen hervorgebracht, Jayme Balmes (gest. 1848), derschöne Darstellungsgabe mit metaphysischem Tiefsinn verband,im wesentlichen aber ebenfalls noch auf scholastischem Boden stand.Eine rege Thätigkeit entfaltete Spanien in den letztenJahrzehnten in der Aneignung philosophischer Meisterwerke desAuslandes durch Übertragung und Bearbeitung; soübersetzte M. de la Ravilla den Cartesius und Kant, Patriciode Azcarate den Leibniz, und Sans del Rio verpflanzte dieKrausesche Philosophie nach Spanien, die daselbst zahlreicheAnhänger fand. Auch Hegel ist viel bearbeitet worden, seitdemCastelar für ihn in Spanien Boden geschaffen. Vonphilosophischen Schriftstellern der Neuzeit sind sonst zu nennen:Lopez Muños, der Lehrbücher über Psychologie,Moralphilosophie und Logik schrieb; Mariano Perez Olmedo, EduardoA. de Bessón ("La lógica en cuadros sinopticos"),Giner de los Rios u. a. - Die wissenschaftliche Theologie bliebinfolge der Unbekanntschaft mit philosophischer Spekulation starrerDogmatismus im theoretischen, Kasuistik und Askese im praktischenTeil. Das ganze Mittelalter hindurch galt in der Theologie diescholastische Weisheit des Isidorus Hispalensis als ersteeinheimische Autorität. Im 15. und 16. Jahrh. machten zwar dieKardinäle Torquemada, der Großinquisitor, und Jimenez,der Regent, Miene, das Bibelstudium zu fördern, und sogarPhilipp II. unterstützte die von einem Spanier, AriasMontanus, in Angriff genommene Antwerpener Polyglotte. Aber imgrellen Kontrast zu dieser wenn auch vornehmlich des litterarischenRuhms wegen entwickelten, doch immerhin verdienstlichenThätigkeit steht es, wenn der Versuch, die Bibel dem Volkselbst zugänglich zu machen, sogar an einem sostrenggläubigen Priester wie Luis de Leon durch dieInquisition mit Kerker bestraft ward. Nur in der mystischen Askeseund in der Homiletik hat die gläubige Begeisterung der SpanierAusgezeichnetes geleistet. Hierher gehören unter andern diehomiletischen Schriften des Antonio Guevara (gest. 1545) und Luisde Granada (gest. 1588) sowie die mystisch-asketischen desKarmelitermönchs Juan de la Cruz (gest. 1591) und der heil.Teresa de Jesus (gest. 1582). Erst in den neuern Zeiten durften dietrefflichen Bibelübersetzungen von Torres Amat, von FelipeScio de San Miguel und Gonzalez Carvajal an die Öffentlichkeittreten und in einzelnen kirchenhistorischen und kirchenrechtlichenAbhandlungen tolerantere Ansichten verbreitet werden, wie in denSchriften von I. L. Villenueva, Blanco White (Leucado Doblado), I.Romo u. a. Sogar eine "Historia de los protestantes etc." (Cad.1851; deutsch, Frankf. 1866), von Adolfo de Castro verfaßt,wagte sich ans Licht, der sich neuerdings eine "Historia de losheterodoxos españoles" von Menendez Pelayo (1880 ff.)anschloß. Dagegen veröffentlichte Orti y Lara eineVerherrlichung der Inquisition ("La inquisicion"). Auftheologisch-philosophischem Gebiet erlangten neuerdings der Bischofvon Cordova, Ceferino Gonzalez, und der Erzbischof von Valencia, A.Monescillo, bedeutenden Ruf.

Auch im Fach der Rechts- und Staatswissenschaften ermangelte esan einer philosophischen Grundlage und an Freiheit der Diskussion.An Gesetzsammlungen und gesetzgeberischer Thätigkeit war inSpanien nie Mangel. Die ältesten Rechtsbücher, wie das"Fuero Juzgo" (Madr. 1815), reichen bis in die Zeit derGotenherrschaft zurück; dann sind besonders des KönigsAlfons X., des Weisen, legislatorische Arbeiten zu nennen: die"Leyes de las siete partidas" und das "Fuero real" (hrsg. Von derAkademie der Geschichte, das. 1847; neuerdings kommentiert vonJimenez Torres, das. 1877). Eine Sammlung aller spanischenGesetzbücher mit den Kommentaren der berühmtestenRechtsgelehrten erschien unter dem Titel: "Los codigosespañoles concordados y anotados" (Madr. 1847, 12 Bde.); die"Fueros" (Munizipalgesetze) begann Munoz zu sammeln (das. 1847).Wertvolle Arbeiten über die spanische Rechtsgeschichtelieferten Montesa und Manrique, auch Benvenido Oliver, der spezielldas katalonische Recht behandelte, während Soler und Rico yAmat ihre Aufmerksamkeit der Geschichte des öffentlichenLebens zuwendeten. Selbst die Rechtsphilosophie fand Bearbeiter inDonoso Cortes und Alcalá-Galiano sowie neuerdings inClemente Fernandez

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Spanische Litteratur (Geschichte, Geographie).

Elias und F. Giner, die freiern Ansichten Bahn brachen. EinePhilosophie des Familienrechts und Geschichte der Familie schriebManuel Alonso Martinez. In ironischem Gegensatz zu dem von jeher inSpanien herrschenden schlechten Staatshaushalt steht die seit derMitte des 18. Jahrh. mit Vorliebe betriebene theoretischeBearbeitung der Nationalökonomie; bereits zu Anfang des 19.Jahrh. konnte Semper die Herausgabe einer "Bibliotecaespañola economico-politica" unternehmen. Außer den im18. und zu Anfang des 19. Jahrh. berühmt gewordenenSchriftstellern Campomanes, Jovellanos, Cabarrus, wovon die beidenletztern klassisches Ansehen erhalten haben, haben sich späteraus diesem Gebiet besonders Canga-Arguelles (gest. 1843) und FlorezEstrada (gest. 1853; "Curso de economia politica") ausgezeichnet.Als hervorragende Arbeiten über Fragen des öffentlichenWohls werden die einer Frau, Arenal de Garcia Carrasco (in den"Publicaciones" der königlichen Akademie), gerühmt.

Besonders fleißig ist von den Spaniern das Gebiet derGeschichte bearbeitet worden. Von den alten Chroniken, zu denen mansich seit Alfons X. der Landessprache bediente, und denübrigen Geschichtswerken der frühern Zeit, in welchensich mit der stilistischen Vervollkommnung allmählich auch derSinn für pragmatische Auffassung entwickelte, wurden diewichtigsten schon oben bei der Nationallitteratur erwähnt. Im18. Jahrh. zeichneten sich der Marques de San Felipe (gest. 1726),der eine Geschichte des spanischen Erbfolgekriegs schrieb, HenriqueFlorez (gest. 1773; "España sagrada"), Juan BautistaMuñoz (gest. 1799) durch seine Geschichte der Entdeckung undEroberung Amerikas ("Historia de nuovo mundo") und Juan Franc.Masdeu (gest. 1817; "Historia critica de España") aus. Im19. Jahrh. glänzten zunächst Juan Antonio Conde (gest.1820), Verfasser der berühmten "Historia de la dominacion delos Arabes en España", und Manuel José Quintana(gest. 1857) durch seine "Vidas de Españoles celebres",während der vielverfolgte Verfasser der Geschichte derspanischen Inquisition, Llorente (gest. 1823), sein Werk im Auslandund in französischer Sprache schreiben mußte. BesonderesLob verdient die Thätigkeit der königlichen Akademie derGeschichte, die außer ihren "Memorias" zahlreicheQuellenschriften herausgab, an die sich dann andreUrkundensammlungen, namentlich die von Navarrete, Salva undBarranda begonnene, von Fuensanta del Valle, J. Sancho Rayon undFr. de Zabalburu fortgeführte "Coleccion de documentosineditos para la historia de España" (bis 1888: 91 Bde.),reihten. Am meisten wurde auch später die vaterländischeGeschichte bearbeitet, so namentlich von Modesto Lafuente (gest.1866), dessen "Historia general de España" alle frühernderartigen Werke übertrifft, von Zamorro y Caballero, Alf.Espinosa, Alfaro, Rico y Amat, Antonio Cavanilles (gest. 1864),dessen vortreffliche "Historia de España" leider unvollendetblieb, u.a. An diese Werke schließen sich die Arbeitenüber die spanische Kulturgeschichte von Tapia ("Historia de lacivilisacion de España"), Fernan Gonzalo Moron, Ramon deMesonero Romanos, Ad. de Castro (über die Kultur Spaniens im17. Jahrh.) u. a. sowie zahlreiche, zum Teil vorzüglicheProvinzial- und Lokalgeschichten, z. B. die "Historia deCataluña" von Balaguer, die "Historia de la villa de Madrid"von Sanguineti etc. Auch die Geschichte der ehemals spanischenKolonien hat neuerdings Bearbeiter gefunden, z. B. an Torrente ("Larevolucion moderna hispano-americana"), Mora ("Mexico y susrevoluciones"), Pedro de Angelis u. a., wie denn auch eineUrkundensammlung über die Entdeckung und Eroberung derselbenveröffentlicht wird. Von den zahlreichen sonstigenSpezialwerken seien nur erwähnt: Maldonados klassische"Historia de la guerra de independencia de España" (1833),des Grafen von Toreno "Historia del levantamiento etc. deEspaña" (1835), Carvajals "La España de los Borbones"(1843), San Miguels "Historia de Felipe II" (1844), Gomez Arteches"Historia de la guerra civil" (1868 ff.), Barrantes "Guerraspiraticas de Filipinas", Amador de los Rios' "Historia de losJudios de España", Castelars "La civilisacion en los cincoprimeros siglos del cristianismo" und "Historia del movimientorepublicano en Europa" u. a. Auf dem Gebiet der Literaturgeschichtebehauptet Amador de los Rios (gest. 1878) mit seiner(unvollendeten) "Historia critica de la literatura española"(1860 ff.) die erste Stelle, wenn sie auch den wissenschaftlichenAnforderungen der Neuzeit nicht voll gerecht wird. AndreÜbersichtswerke sowie Einzelstudien, zum Teil sehrverdienstlicher Art, liegen aus neuerer Zeit vor von J. Moratin("Origenes de teatro español"), Lista y Aragon ("Ensayosliterarios criticos"), Gil y Zarate ("Manual de literatura"),Martinez de la Rosa ("La poesia didactica, la tragedia y la comediaespañola"), Fernandez Guerra y Orbe ("Juan Ruiz deAlarcon"); von Abelino de Orihuela ("Poetas españoles yamericanos del siglo XIX"), Mila y Fontanals ("De la poesia heroicopopular castellana"), Balaguer ("Historia de los trovadores"),Valera ("Historia de la literatura española"), Canalejas,Revilla ("Principios de la literatura española"), Perojo,Espino ("Ensayo critico-historico del teatro español"),Villaamil y Castro, Valdes y Alas, Menendez Pelayo ("Historia delas ideas esteticas en España") u. a. In Bezug aufKunstgeschichte und Archäologie sind in erster Linie dieArbeiten von Cean-Bermudez und P. Madrazo hervorzuheben; danebenverdienen Contreras, Manjarres, Hurtado Villaamil etc., nichtminder die Veröffentlichungen der königlichen Akademieder schönen Künste, das von Rada y Delgado herausgegebene"Museo español de antiguedades", welches dieinteressantesten Kunst- und archäologischen Gegenständeder Halbinsel reproduziert, und die "Monumentos arquitectonicos deEspaña" ehrende Erwähnung. - Neben der Geschichte fandauch die Geographie bei den Spaniern sorgfältige Pflege, wozusie beizeiten durch ihre Eroberungen in fremden Weltteilen und ihreEntdeckungsreisen veranlaßt wurden. Aus früherer Zeitist vor allem die vortrefflich geschriebene "Historia de losdescubrimientos y viajes de los Españoles" von Navarreteanzuführen; aus der neuern seien die Schriften vonMiñano, Fuster und die lexikalischen Arbeiten von PascalMadoz und Mariana y Sanz sowie die "Geografia de España" vonMingote y Tarazona erwähnt. Anthropologische Schriften gabneuerdings Fr. Maria Tubino heraus.

Eine umfassende Sammlung spanischer Schriftsteller von denältesten Zeiten bis auf unsre Tage ist die von Rivadeneyraherausgegebene "Biblioteca de autores españoles" (Madr.1846-80, 70 Bde.); eine Sammlung meist neuerer belletristischerWerke enthält die "Coleccion de autores españoles" (bisjetzt 48 Bde., Leipz. 1860-86). Für die Herausgabe alter undseltener Werke sorgten vorzugsweise die "Coleccion de bibliofilosespañoles" (bis 1879: 19 Bde.) und die "Coleccion de librosespañoles

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd.

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Spanische Mark - Spanischer Erbfolgekrieg.

raros y curiosos" (bis jetzt 16 Bde., Madr. 1871-1884). Auf demGebiet der Bibliographie sind, von ältern Werken abgesehen,besonders Ferrer del Rios' "Galeria de la literaturaespañola" (Madr. 1845), Ovilo y Oteros' "Manual de biografiay de bibliografia de los escritores del siglo XIX" (Par. 1859, 2Bde.) und Gallardos (von Zarco del Valle und Rayon vermehrter)"Ensavo de una biblioteca española de lihros raros" (Madr.1863-66, 2 Bde.) sowie das "Diccionario bibliografico historico"von Muñoz y Romero (das. 1865), das "Diccionario general debibliografia española" von D. Hidalgo (1864-79, 6 Bde.) unddas "Boletin de la libreria" (Madr., seit 1874) namhaft zumachen.

Vgl. Bouterwek, Geschichte der spanischen Poesie undBeredsamkeit (Götting. 1804; span. Ausgabe, Madr. 1828, 3Bde.), fortgesetzt von Brinckmeier: "Die Nationallitteratur derSpanier seit Anfang des 19. Jahrhunderts" (Götting. 1850);Brinckmeier, Abriß einer dokumentierten Geschichte derspanischen Nationallitteratur bis zu Anfang des 17. Jahrhunderts(Leipz. 1844); Clarus, Darstellung der spanischen Litteratur imMittelalter (Mainz 1846, 2 Bde ); Ticknor, Geschichte derschönen Litteratur in Spanien (3. Aufl., New York 1872, 3Bde.; deutsch von Julius, Leipz. 1852, 2 Bde.; Supplementband vonWolf, das. 1867); v. Schack, Geschichte der dramatischen Litteraturund Kunst in Spanien (2. Ausg., Frankf. 1854, 3 Bde.;Nachträge, das. 1855); Lemcke, Handbuch der spanischenLitteratur (das. 1855-56, 3 Bde.); Wolf, Studien zur Geschichte derspanischen und portugiesischen Nationallitteratur (Berl. 1859);Dohm, Die spanische Nationallitteratur (das. 1867); Hubbard,Histoire de la littérature contemporaine en Espagne (Par.1875).

Spanische Mark, Land zwischen Frankreich und Spanien, dasjetzige Katalonien, Navarra und einen Teil von Aragonien, etwa biszum Ebro, umfassend, ward 778 von Karl d. Gr. erobert, 781 von denArabern wieder besetzt, 801-811 von Ludwig dem Frommen von neuemerobert und dann durch Grafen verwaltet. Die Hauptstadt warBarcelona.

Spanische Ohren, s. Hörmaschinen.

Spanische Leiter (friesische Reiter), etwa 4 m lange, 25cm starke Balken (Leib), durch welche kreuzweise an beiden Seitenzugespitzte Latten (Federn) gesteckt sind, die so nahe aneinanderstehen, daß niemand zwischen ihnen durchkriechen kann. Siewurden früher zum Sperren von Eingängen und Brückenin Festungen verwendet.

Spanischer Erbfolgekrieg 1701-1714. Da mit dem Tode deskinderlosen Königs Karl II. von Spanien das Erlöschendes habsburgischen Stammes in diesem Land in Aussicht stand, so wardie spanische Thronfolge ein Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeitfür die europäische Diplomatie bereits seit der Mitte des17. Jahrh. Von drei Seiten wurden Ansprüche auf die Nachfolgeerhoben. Ludwig XIV. von Frankreich, welcher bereits 1667 diespanischen Niederlande als Erbe seiner Gemahlin in seinen Besitz zubringen versucht hatte, verlangte den Thron für seinen EnkelPhilipp von Anjou, den zweiten Sohn des Dauphin, weil er (LudwigXIV.) ein Sohn der spanischen Infantin Anna von Österreich,Tochter Philipps III. von Spanien, und seine Gemahlin dieälteste Tochter des spanischen Königs Philipp IV. war;Kaiser Leopold I., ebenfalls Enkel Philipps III. und Gemahl derjüngern Tochter Philipps IV. Margareta-Theresia stützteseine Ansprüche für seinen zweiten Sohn, Karl, teils aufdiese verwandtschaftlichen Beziehungen, welche denen Ludwigs XIV.vorangingen, weil dessen Gemahlin ihren Erbansprüchen beiihrer Vermählung entsagt hatte, teils auf dieErbansprüche des Hauses Habsburg auf die spanische Monarchie.Außerdem wurden auch für den Kurprinzen Joseph Ferdinandvon Bayern, dessen Mutter Maria Antonia eine Tochter Leopolds I.und seiner spanischen Gemahlin war, Ansprüche auf denspanischen Thron erhoben, welche namentlich von denSeemächten, an deren Spitze Wilhelm III. von Oranien stand,begünstigt wurden, da diese die spanische Monarchie weder anFrankreich noch an Österreich fallen, höchstens dieitalienischen Nebenlande an sie verteilen wollten, wie auch einTeilungsvertrag vom 11. Okt. 1698 festsetzte. König Karl II.ernannte den bayrischen Prinzen testamentarisch zu seinemNachfolger in allen damals spanischen Landen. Als letzterer 6.Febr. 1699 plötzlich starb, schlossen Wilhelm III. und LudwigXIV. (2. März 1700) einen neuen Teilungsvertrag, wonach derErzherzog Karl die spanische Krone, Philipp von Anjou Neapel,Sizilien, Guipuzcoa und Mailand erhalten sollte. Da aber Leopold I.diesem Vertrag seine Zustimmung verweigerte, so hielt sich auchLudwig XIV. nicht an ihn gebunden. Am Hof zu Madrid wirkte derkaiserliche Gesandte Graf Harrach für den Erzherzog Karl, derfranzösische Gesandte Marquis v. Harcourt für Philipp vonAnjou. Letzterer trug endlich den Sieg davon, denn Karl II. setztedurch Testament vom 2. Okt. 1700 Philipp von Anjou zum Erben dergesamten spanischen Monarchie ein. Nach Karls II. Tod (1. Nov.1700) ergriff Philipp V. sofort Besitz von dem spanischen Thron undzog schon 18. Febr. 1701 in Madrid ein. Anfangs erhob nur KaiserLeopold Protest hiergegen und traf Anstalt zum Beginn des Kriegs inItalien. Erst als Ludwig XIV. deutlich seine Absicht kundgab, dieErwerbung der spanischen Monarchie zur Erhöhung vonFrankreichs Machtstellung zu verwerten und den Schiffen derSeemächte die Häfen Südamerikas und Westindiens zuverschließen, als französische Truppen dieholländischen Besatzungstruppen aus den Festungen derspanischen Niederlande vertrieben und der französischeKönig nach Jakobs II. Tode dessen Sohn als König JakobIII. von Großbritannien anerkannte, kam 7. Sept. 1701zwischen dem Kaiser und den Seemächten eine Tripelallianz zustande, welcher dann auch das Deutsche Reich und Portugalbeitraten. Zwar starb König Wilhelm III. 19. März 1702,indes blieben sowohl England unter Königin Anna, welche vonMarlborough und seiner Gemahlin beeinflußt wurde, als die vondem Ratspensionär Heinsius geleiteten Niederlande seinerPolitik getreu. Frankreich hatte nur die Kurfürsten von Bayernund Köln sowie den Herzog Viktor Amadeus II. von Savoyen zuVerbündeten.

Der Krieg wurde 1701 durch den kaiserlichen Feldherrn PrinzEugen von Savoyen in Italien eröffnet. Eugen schlug Catinat 9.Juli bei Carpi, den an Catinats Stelle getretenen unfähigenVilleroi 1. Sept. bei Chiari und nahm 1. Febr. 1702 den letzterndurch einen Überfall in Cremona gefangen. Dem neuenfranzösischen Feldherrn Vendôme gelang es indes, dieFortschritte der Kaiserlichen in Italien zu hemmen, auch nachdem1703 der Herzog von Savoyen auf die Seite des Kaisersübergetreten war. Am Niederrhein behauptete inzwischen dergroße englische Feldherr Marlborough die Oberhand gegen dieFranzosen: er eroberte die Festungen an der Maas und das ganzeKurfürstentum Köln. Am obern Rhein hatte der Prinz Ludwigvon Baden, dem der Marschall Villars gegenüberstand, 9. Sept.1702 Landau er-

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Spanischer Erbfolgekrieg.

obert und Villars, der bei Hüningen über den Rheinging, zum Rückzug genötigt; aber 1703 eroberten dieFranzosen Breisach (7. Sept.) und Landau (17.Nov.); fernervereinigte sich 12. Mai 1703 der Kurfürst von Bayern beiTuttlingen mit Villars, und beide drangen in Tirol ein. Zwar wurdensie durch die Erhebung der Tiroler unter großem Verlustwieder zurückgetrieben; aber da der ungeschickteösterreichische General Styrum sich 20. Sept. beiHöchstädt schlagen ließ und 13. Dez. Augsburg sichergeben mußte, so endete der Feldzug für dieVerbündeten im ganzen nicht günstig. Landau und Breisachgingen wieder an die Franzosen verloren. Auch fiel Anfang 1704Nassau in die Hände des Kurfürsten, und der Kaiser, dergleichzeitig einen Aufstand in Ungarn zu bekämpfen hatte, sahsich schon in seinen Erblanden bedroht.

Da trat 1704 die entscheidende Wendung ein. Prinz Eugen, den derKaiser an die Spitze des Hofkriegsrats gestellt hatte, faßteden Plan, durch einen kombinierten Angriff der beidenverbündeten Heere die bayrisch-französische Macht zuvernichten. Marlborough ging bereitwilligst auf diesen Plan ein undzog in Eilmärschen vom Niederrhein nach Schwaben. MarkgrafLudwig und er vereinigten ihre Truppen bei Ulm, nötigten durchWegnahme der Verschanzungen auf dem Schellenberg beiDonauwörth (2. Juli) den Kurfürsten und denfranzösischen General Marsin zum Rückzug nach Augsburg,und nachdem einerseits Tallard sich mit letzterm, anderseits Eugensich mit Marlborough vereinigt hatte (während der Markgraf vonBaden Ingolstadt belagerte), erlitt 13. Aug. 1704 dasfranzösisch-bayrische Heer bei Höchstädt (Blenheim)eine entscheidende Niederlage und verlor gegen 30,000 Mann an Totenund Verwundeten; Tallard selbst und 15,000 Mann wurden gefangen.Der Kurfürst mußte flüchten. Als Leopold I. 5. Mai1705 starb, setzte sein Sohn Joseph I. den Kampf mit Energie fort.Er beschwichtigte den ungarischen Aufstand, erwirkte dieAchtserklärung gegen die beiden wittelsbachischenKurfürsten und bemächtigte sich nach blutigerUnterdrückung einer Volkserhebung der bayrischen Lande. Am 23.Mai 1706 erfocht Marlborough bei Ramillies einen glänzendenSieg über die Franzosen unter Villeroi, besetzte Löwen,Mecheln, Brüssel, Gent und Brügge und ließüberall Karl III. als König ausrufen. Als infolge dieserNiederlage Vendôme aus Italien nach den Niederlanden berufenwurde, erhielt dadurch Eugen die Möglichkeit, von Verona ausdem von den Franzosen belagerten Turin zu Hilfe zu eilen und nachseiner Vereinigung mit dem Herzog von Savoyen den vereinigtenfranzösischen Generalen Marsin, Herzog von Orléans undLa Feuillade 7. Sept. vor Turin eine gänzliche Niederlagebeizubringen, infolge deren die Franzosen gemäß dersogen. Generalkapitulation vom 13. März 1707 ganz Italienräumen mußten. Nur am Oberrhein gelang es Villars, nachdem Tode des Markgrafen Ludwig (Januar 1707) die von denReichstruppen besetzten Stollhofener Linien zu durchbrechen und dassüdwestliche Deutschland brandschatzend zu durchziehen. Selbstin Spanien, wo die überwiegende Mehrheit der Nation dembourbonischen König Philipp V. anhing, gelang es demhabsburgischen Prätendenten, vorübergehende Erfolge zuerringen. Gleich im Anfang des Kriegs wurde von den Engländernund Holländern eine im Hafen von Vigo liegende spanischeFlotte zerstört; 1703 trat König Dom Pedro II. vonPortugal dem großen Bündnis bei, und 1704 erschienErzherzog Karl in Spanien, während die Engländer (3. Aug.1704) Gibraltar eroberten. Wirklich gelang es Karl, 1705 sich zumHerrn von Valencia, Katalonien und Aragonien zu machen; 2. Juli1706 wurde sogar Madrid von einem vereinigtenenglisch-portugiesischen Heer unter Galloway und Las Minas besetzt;allein da den Operationen der Verbündeten der Zusammenhangfehlte, so waren diese Erfolge nicht von Dauer, Madrid ging baldwieder verloren, und nach dem Sieg des Marschalls Berwick überdas englisch-portugiesische Heer bei Almanza (25. April 1707)fielen auch die südlichen Provinzen in die Hände PhilippsV.

Obwohl die Verbündeten auch auf den übrigenKriegsschauplätzen 1707 keine großen Erfolge errangen,machte sich in Frankreich die Erschöpfung der Hilssmittelschon so sehr geltend, daß Ludwig XIV. den Seemächtenden Verzicht auf Spanien anbot und nur die italienischen Landefür seinen Enkel beanspruchte. Indes noch war MarlboroughsEinfluß in England maßgebend, überdies hofften dieEngländer, Spanien unter Karl III. zu ihremausschließlichen Nutzen merkantil ausbeuten zu können.Die Seemächte waren mit Österreich darübereinverstanden, daß man nicht bloß aus dem Erwerb derganzen spanischen Monarchie für Österreich bestehen,sondern auch die Lage benutzen müsse, um FrankreichsVorherrschaft für immer zu brechen. Der Erfolg schien diesVorhaben zu begünstigen. Ein Versuch, den ein starkesfranzösisches Heer unter dem Herzog von Burgund undVendôme 1708 unternahm, um die spanischen Niederlandewiederzuerobern, wurde durch den Sieg Eugens und Marlboroughs beiOudenaarde (11. Juli) vereitelt und ganz Flandern und Brabant vonneuem unterworfen. Ludwig XIV. war jetzt sogar bereit, ausGrundlage des völligen Verzichts auf Spanien über einenFrieden zu verhandeln. Auch als die Verbündeten dieRückgabe des Elsaß mit Straßburg, derFreigrafschaft, der lothringischen Bistümer forderten, war derfranzösische Gesandte im Haag, Torcy, noch zu Unterhandlungenbereit. Erst die Zumutung, seinen Enkel selbst durchfranzösische Truppen aus Spanien vertreiben zu helfen, wiesLudwig XIV. mit Entschiedenheit zurück. Der Krieg in denNiederlanden wurde wieder aufgenommen; die blutige Schlacht beiMalplaquet (11. Sept. 1709) blieb zwar unentschieden, diefurchtbaren Verluste der Franzosen in derselben erschöpftenaber ihre Kräfte. Gleichzeitig siegte in Spanien derösterreichische General Starhemberg bei Almenara 27. Juli undSaragossa 20. Aug., und Karl zog 28. Sept. in Madrid ein.

Da, als Frankreichs Niederlage unabwendbar schien, als derÜbermut der Verbündeten keine Grenzen mehr kannte, tratenunerwartete Ereignisse ein, welche einen Umschwung zu gunstenLudwigs XIV. zur Folge hatten. Am 10. Dez. 1710 errangVendôme einen glänzenden Sieg über Starhemberg beiVilla Viciosa. Wichtiger war noch, daß in England dasWhigministerium durch ein Toryministerium verdrängt wurde,welches den Frieden möglichst rasch herzustellenwünschte, und daß 17. April 1711 Kaiser Joseph I. starb.Da nun dessen Bruder, der Prätendent für Spanien, alsKarl VI. Kaiser wurde, so fürchteten die andern Mächte,das Haus Habsburg möchte durch die VereinigungÖsterreichs mit Spanien zu mächtig werden. Zunächstknüpften die Engländer mit Ludwig XIV. geheimeUnterhandlungen an. Am 8. Okt. 1711 wurden die Präliminarienzu London unterzeichnet und trotz aller Gegenbemühungen desKaisers 29. Jan. 1712 der Friedenskongreß zu Utrechteröffnet. Marlborough wurde durch den Grafen Ormond, eineneifrigen Jakobiten, ersetzt, und dieser gewährte demPrinzen

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Spanischer Hopfen - Spanische Sprache.

Eugen nicht die nötige Unterstützung, so daß derMarschall Villars bei Denain 27. Juli 1712 wieder einige Erfolgeüber Eugen und die Holländer davontrug. Als Philipp V. 5.Nov. 1712 auf die Erbfolge in Frankreich für sich und seineNachkommen feierlichst verzichtete und diese Urkunde von LudwigXIV. bestätigt, also eine Union Spaniens mit Frankreichfür die Zukunft verhindert wurde, schlossen England und baldauch die Niederlande mit Frankreich Waffenstillstand, dem am 11.April 1713 der förmliche Abschluß des Friedens zuUtrecht folgte, dem auch Portugal, Savoyen und Preußenbeitraten; Kaiser und Reich weigerten sich, ihn anzuerkennen. DieBedingungen dieses Friedens waren folgende: Philipp V. erhältSpanien mit den außereuropäischen Besitzungen, welchesaber nie mit Frankreich vereinigt werden darf; Frankreich erkenntdie Thronfolge in England an und tritt an dieses dieHudsonbailänder, Neufundland und Neuschottland ab; von Spanienerhält England Gibraltar und Menorca sowie beträchtlicheHandelsvorteile im spanischen Amerika, Preußen bekommt dasOberquartier von Geldern und Neuchâtel mit Valengin, Savoyeneine Anzahl Grenzfestungen und die Insel Sizilien, Holland diesogen. Barrierefestungen (s. Barrieretraktat) und einengünstigen Handelsvertrag. So von den Verbündetenverlassen, konnten der Kaiser und Prinz Eugen nichts mehrausrichten, zumal die Reichsfürsten sich sehr saumselig undunzuverlässig zeigten. Der Marschall Villars nahm 20. Aug.1713 Landau, brandschatzte die Pfalz und Baden und eroberte 16.Nov. Freiburg i. Br., worauf er Eugen Friedensunterhandlungenanbot, welche auch 26. Nov. 1713 zu Rastatt eröffnet wurden.Am 7. März 1714 wurde der Friede zwischen Frankreich und demKaiser zu Rastatt abgeschlossen. Um auch das Deutsche Reich in denFrieden aufzunehmen, fand ein Kongreß zu Baden im Aargaustatt, wo der Rastatter Friede mit wenigen Änderungen 7. Sept.d. J. angenommen wurde. Hiernach bekam der Kaiser die spanischenNiederlande, Neapel, Mailand, Mantua und Sardinien; Frankreichbehielt von seinen Eroberungen nur Landau; die Kurfürsten vonBayern und Köln wurden in ihre Länder und Würdenwieder eingesetzt. Vergeblich verwendete sich der Kaiser fürdie treuen Katalonier, welche sich Philipp V. nicht unterwerfenwollten; seine Bemühungen waren fruchtlos, Barcelona wurde 11.Sept. 1714 von dem Marschall von Berwick erobert, und dieKatalonier verloren ihre alten Vorrechte und ständischenFreiheiten. Vgl. v. Noorden, Europäische Geschichte im 18.Jahrhundert, 1. Teil: Der spanische Erbfolgekrieg (Düsseld.1870-82, 3 Bde.); Lord Mahon, History of the war of the successionin Spain (Lond. 1832); de Reynald, Louis XIV et Guillaume III.Histoire des deux traités de partage et du testament deCharles II. (das. 1883, 2 Bde.); Courcy, La coalition de 1701contre la France (Par. 1886, 2 Bde.); Parnell. The war ofsuccession in Spain 1702-1711 (Lond. 1888); Arneth, Prinz Eugen vonSavoyen (Wien 1858, 3 Bde.); die Memoiren des Herzogs vonMarlborough (s. d. 1).

Spanischer Hopfen, s. Origanum.

Spanischer Kragen, s. Paraphimose.

Spanischer Pfeffer, s. Capsicum.

Spanischer Tritt, Reitkunst, s. Passage.

Spanische Spitzen, Spitzen aus Gold- und Silberdraht, mitPerlen und bunter Seide untermischt.

Spanische Sprache. Die s. S. gehört zu den romanischenSprachen und ist demnach eine Tochtersprache des Lateinischen,die aber von den verschiedenen Völkern, die im Lauf derJahrhunderte die Pyrenäische Halbinsel beherrschten, vieleElemente in sich aufgenommen hat. Die Ureinwohner Spaniens, imNorden die Kantabrer, im Süden die Iberer, vermischten sichfrühzeitig mit keltischen Stämmen, daher der NameKeltiberer. Ihre nationale Eigentümlichkeit und Sprache gingenin den römisch-germanischen Eroberungen und Einwanderungenfast gänzlich unter, und nur an den Pyrenäen bewahrteneinige kantabrische Stämme ihre Sitte und Sprache vorVermischung mit fremden Elementen. Diese in den baskischenProvinzen fortlebenden Überreste der alten spanischenVolkssprache sind unter dem Namen der baskischen Sprache, von denEinheimischen Escuara genannt, bekannt (s. Basken). In denübrigen Teilen Spaniens bildete sich, wie in den andernromanisierten Ländern, aus der Lingua latina rustica, derrömischen Volkssprache, die zugleich mit der römischenHerrschaft in die Pyrenäische Halbinsel eindrang, einenationale Umgangs- und Volkssprache mit eigentümlichenProvinzialismen, welche, als mit dem Verfall des römischenReichs und nach dem Einfall der germanischen Völker auch diepolitische und litterarische Verbindung mit Rom sich lockerte, nachund nach die allein übliche und allgemein verstandene wurde.Die den Römern in der Herrschaft folgenden Westgoten nahmenmit der römischen Sitte auch diese Sprache an und machten sieso sehr zu ihrer eignen, daß sie nur die zur Bezeichnung derihnen eigentümlichen Staats- und Kriegsinstitutionen, Waffenetc. nötigen Wörter aus ihrer Muttersprache beibehielten.Diese also ganz aus römischen Elementen hervorgegangene undnur mit einem germanischen Wörtervorrat bereicherte spanischeVolkssprache erhielt einen neuen Zusatz durch die Araber, mit denendie spanischen Goten fast 800 Jahre um den Besitz des Landeskämpften. Aber auch die Araber trugen nur zur Bereicherung desSprachstoffs, besonders in Bezug auf Industrie, Wissenschaften,Handel etc., bei und modifizierten höchstenseinigermaßen die Aussprache, ohne denorganisch-etymologischen Bau der Sprache wesentlich zuverändern. Die ältesten Spuren des Spanischen finden sichin Isidorus' "Origines"; die ältesten Denkmäler abergehören der zweiten Hälfte des 12. Jahrh. an. Unter denspanischen Dialekten ward der kastilische am frühsten zurSchriftsprache ausgebildet, und wie die Kastilier den Kern derNation ausmachten, ihre Litteratur die volkstümlichsteEntwickelung nahm, so wurde auch ihre Mundart die herrschende undendlich die fast ausschließliche Schriftsprache in Spanien,so daß sie die eigentliche s. S. geworden ist. Dieselbe wirdgegenwärtig, außer in Spanien und den zugehörigenInseln, noch in den ehemals spanischen LändernSüdamerikas, in Zentralamerika und Mexiko sowie zum Teil inden spanischen Kolonien (Cuba, Manila etc.) gesprochen. IhrAlphabet ist das lateinische. Die Vokale lauten ganz wie imDeutschen. Von den Konsonanten werden folgende eigentümlichausgesprochen: c (ß gelispelt), ch (tsch), g vor e und i (chrauh wie in Sprache), j (immer wie ch rauh), ll (lj), ñ(nj), z (immer wie ß gelispelt). Wie die Italiener die zustarke Aussprache der Römer milderten, so machten sie dieSpanier noch rauher. Sie vervielfältigten noch dieAspirationen auf x, j, g, h und f. Der schon ziemlich starkaspirierte Laut im Lateinischen verwandelt sich im Spanischen inden noch stärker aspirierten Laut h (lat. facere, span. hacer,machen); an die Stelle des mouillierten l tritt das

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Spanisches Rohr - Spanishtown.

stark aspirierte j (lat. Filius, span. hijo, Sohn), pl warddurch das mouillierte ll ersetzt (lat. planus, span. llano, eben),und für ct wird immer ch genommen (lat. factus, dictus, span.hecho, dicho, gemacht, gesagt). J ist, seitdem x nach der neuernOrthographie (von 1815) seinen Kehllaut verloren hat, derHauptkehlkonsonant der spanischen Sprache geworden; man schreibtjetzt allgemein Don Quijote, Mejico statt Don Quixote, Mexico.Gesetzgeber für die s. S. ward die Grammatik der spanischenAkademie (zuerst 1771). Neuere Hilfsmittel zur Erlernung derselbensind für Deutsche die Grammatiken von Franceson (4. Aufl.,Berl. 1855), Fuchs (das. 1837), Kotzenberg (2. Aufl., Brem. 1862),Brasch (Hamb. 1860), Pajeken (2. Aufl., Brem. 1868), Lespada (2.Aufl., Halle 1873), Montana (2. Aufl., Stuttg. 1875), Funck (8.Aufl., Frankf. 1885), Schilling (2. Aufl., Leipz. 1884), Wiggers(2. Aufl., das. 1884). Die vorzüglichstenWörterbücher lieferten: die spanische Akademie (Madr.1726-39, 6 Bde.; hrsg. von V. Salvá, 12. Aufl., Par. 1885)und Dominguez (6. Ausg., Madr. 1856, 2 Bde.); ein neues begann R.Cuervo (das. 1887 ff., 6 Bde.). Für Deutsche sind zuempfehlen: Franceson (12. Aufl., Leipz. 1885), Kotzenberg (Brem.1875), Booch-Arkossy (6. Aufl., Leipz. 1887, 2 Bde.), Tollhausen(das. 1886). Den Versuch eines etymologischen Wörterbuchsmachten Covarrubias (Madr. 1674), Cabrera (das. 1837), Monlau (2.Aufl., das. 1882), R. Barcia (das. 1883, 5 Bde.) und L. Eguilaz(Granada 1880). Wichtige Beiträge zur Etymologie enthältDiez' "Etymologisches Wörterbuch der romanischen Sprachen" (4.Aufl., Bonn 1878). Die historische Grammatik der spanischen Sprachebehandelt Diez' "Grammatik der romanischen Sprachen" (5. Aufl.,Bonn 1882) und P. Försters "Spanische Sprachlehre" (Berl.1880). Die Orthographie wurde von der Akademie in einem besondern"Tratado" (zuletzt Madr. 1876) festgestellt.

Spanisches Rohr (Stuhlrohr, Rotang, Rattans), dieschlanken Stämme und Triebe mehrerer Arten der PalmengattungCalamus (s. d.), werden in allen Wäldern des IndischenArchipels, besonders auf Borneo, Sumatra und der MalaiischenHalbinsel, gewonnen und, nachdem sie durch eine Kerbe in einem Baumgezogen und dadurch von Oberhaut, Blättern und Stachelnbefreit worden, in Bündeln von 100 Stück in den Handelgebracht. Die größte Verwendung findet das SpanischeRohr in China und Japan, wo man es zu unzähligenGebrauchsgegenständen verarbeitet, auch als Tauwerk aufSchiffen benutzt. Man unterscheidet wohl helleres, dünnes Rohrals weibliches (Bindrotting) von dem stärkern, dunklern mitenger stehenden Knoten als männlichem (Handrotting); letztereswird auch zu Spazierstöcken benutzt. Das sogen. gereinigteSpanische Rohr ist durch Schaben oder durch Schleifen auf besondernMaschinen von den Knoten befreit. In den europäischenHafenstädten verarbeitet man es durch Zerschneiden, Spalten,Hobeln und Ziehen zu Stuhl- und Korsettrohr, Rieten fürWebstühle etc. Die dünnsten, schnurenförmigenStreifen heißen Schnur- oder Putzrohr und werden in derPutzmacherei benutzt. Stuhlrohr wird oft durch Schwefeln gebleicht.Sehr viel Rohr wird für die Korbmacherei gefärbt,lackiert und vergoldet. Abfälle dienen als Polster- undScheuermaterial. Durch besondere Bearbeitung gewinnt man ausSpanischem Rohr ein Fischbeinsurrogat, das Wallosin, zuSchirmstäben.

Spanische Wand, eine bewegliche Schutzwand, welche auseinem hölzernen oder metallenen Gestell besteht, überwelches Zeug, Tapeten, Leder u. dgl. gespannt ist; findet alsBettschirm, zur Scheidung von Räumen, als Schutzwand gegenWind u. dgl. Verwendung. Das Holz wird bisweilen mit Lacküberzogen und bunt bemalt oder vergoldet.

Spanische Weide, s. v. w. Ligustrum.

Spanische Weine, zum Teil vorzügliche Weine, welchedem Burgunder, Roussillon und Languedoc vergleichbar sind und dieseselbst in mancher Hinsicht übertreffen; seit dem Altertumberühmt, behaupteten sie im ganzen Mittelalter ihrÜbergewicht und besitzen es heute noch in verschiedenenLändern, wie in England und Nordamerika. Alle spanischenProvinzen treiben Weinbau, doch sind die Produkte dernördlichen kaum über ihre Grenzen hinaus bekannt. Imallgemeinen leidet der spanische Weinbau durch die Indolenz undNachlässigkeit der Produzenten, und die gewöhnlichenspanischen Weine stehen sehr tief unter der Erwartung, zu welcherKlima und Lage berechtigen. Die südspanischen Weinemüssen für den Export, namentlich über See, mitSpiritus versetzt werden, den man vielfach ebenfalls aus Mostbereitet. Die vorzüglichsten spanischen Weine sindLikörweine, und unter diesen ist der berühmteste derweiße Jereswein (Sherry), demselben schließen sich an:die ebenbürtigen, sehr süßen Pajareteweine (vondenen der beste auch Malvasier heißt); der Malagawein (s.d.), der berühmte Likörwein Tinto di Rota (Tintillo),stark, mit vieler Wärme, sehr dunkel, süß undtonisch wirkend; die Manzanillaweine mit starkem Geruch undGeschmack nach Kamillen, von den Barros und Arenas zwischen Jeresund San Lucar, der Montilla (der dem Amontillado-Sherry den Namengegeben hat), der Rancio von Peralta in Navarra, der Alicante (vinogeneroso) aus Valencia, ein renommierter Magenwein, mit sehrausgesprochenem aromatischen Boukett, der bei uns als "echterMalaga" meist arzneilich benutzt wird, der Pedro Ximenez vonVittoria in Viscaya, der dunkel granatfarbige Grenacho vom Campo diCarinena in Aragonien, der Muskat von San Lucar in Andalusien, derMoscatel von Fuencaral in Neukastilien, der Malvasia von Pollentiaauf Mallorca, die Muskatweine von Borja in Aragonien und von Sitgesin Katalonien. Gewöhnliche markige Rotweine nach Art derfranzösischen liefert Spanien nur wenige von hervorragendemWerte. Der beste ist der von Olivanza in Estremadura, derValdepeñas in Kastilien, der Manzanores aus der Mancha,einer der leichtesten und angenehmsten spanischen Weine etc. Ausdem nordöstlichen Spanien wird Ebro-Port vielfach fürechten Portwein verkauft; er ist aber rauher, minderkörperreich und geistig.

Spanische Wicke, Pflanze, s. Lathyrus.

Spanischfliegenpflaster, s. Kantharidenpflaster.

Spanischfliegensalbe, s. Kantharidensalbe.

Spanischgelb, s. v. w. Auripigment.

Spanischweiß, s. v. w. Wismutweiß.

Spanish stripes (spr. spännisch streips),hellfarbige leichte Tuche aus Zephyrwolle, die in Deutschlandfür den Export nach Asien fabriziert werden.

Spanishtown (spr. spännischtaun, Santiago de laVega), Hauptstadt der britisch-westind. Insel Jamaica infruchtbarer Alluvialebene, am Cobre und 8 km vom Hafen von Kingstongelegen, mit (1880) 8000 Einw. Um den King's Square, in dessenMitte eine Statue Lord Rodneys steht, liegen das Ständehaus,der Palast des Gouverneurs und die Regierungsgebäude, alle inaltkastilischem Stil. S. wurde 1534 von Diego Kolumbusgegründet.

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Spanner - Sparbutter.

Spanner (Geometridae, Phalaenidae), Familie aus derOrdnung der Schmetterlinge, Insekten von mittlerer oder geringererGröße, mit schmächtigem, zartem Körper,großen, breiten, meist matt und trübe gefärbten, inder Ruhe flach ausgebreiteten Flügeln, borstenförmigen,häufig gekämmten Fühlern, schwach entwickelterRollzunge und meist wenig hervortretenden Tastern, ruhen am Tag anversteckten Orten und fliegen des Nachts. Die Raupen zeichnen sichdurch den eigentümlichen spannenmessenden Gang aus, wie ihnder Mangel der vordern Bauchfußpaare bedingt. Sie bilden beimGehen eine Schleife nach oben und ruhen auch oft in dieserStellung, oder indem sie sich nur mit den Afterfüßen aneinem Zweig festhalten und ihren dünnen, glatten Körperfrei in die Luft erheben. Sie verpuppen sich in einem lockernGespinst über oder in der Erde, auch wie die Tagfalter oderohne Gespinst in der Erde. Man kennt gegen 1800 Arten aus allenWeltteilen, von denen viele bei massenhaftem Auftretenschädlich werden. Der große Frostspanner(Blatträuber, Waldlindenspanner, Hibernia defoliaria L., s.Tafel "Schmetterlinge II"), 4-4,5 cm breit, auf denweißgelben Vorderflügeln mit zwei sattbraunen Binden undrotgelben Flecken, zuweilen ganz rotgelb, auf denHinterflügeln weißlich, schwärzlich bestäubt,fliegt im Oktober und November, vorherrschend im mittlern undsüdöstlichen Deutschland. Das ungeflügelte,ockergelbe, schwarz gefleckte Weibchen steigt am Stamm empor, wirdhier befruchtet und legt 400 Eier einzeln oder in kleinen Gruppenan Knospen von Obstbäumen, Buchen, Eichen, Birken, welche dielichtgelbe Raupe mit rotbraunem Rückenstreif und Kopfwährend ihrer Entfaltung ausfrißt. Sie verpuppt sich imJuli in einer mit wenigen Seidenfäden ausgekleidetenErdhöhle. Eine zweite gelbe Art (H. aurantiaria L., s. Tafel"Schmetterlinge II") fliegt gleichzeitig. Der kleine Frostspanner(Blütenwickler, Obst-, Winterspanner, Reifmotte, Larentia[Cheimatobia, Acidalia] brumata L., s. Tafel "Schmetterlinge II"),2-2,4 cm breit, auf den Vorderflügeln licht graugelb, feingewässert und mit dunklern Wellenlinien gezeichnet, auf denHinterflügeln weißlichgelb mit schwarzenRandpünktchen, fliegt im November und Dezember. Das graueWeibchen, das zum Fliegen untaugliche Stümpfe mit dunklerQuerbinde besitzt, legt seine Eier an die Knospen vonObstbäumen, Eichen, Buchen und andern Laubbäumen, auch anRosen; die gelblichgrüne Raupe, mit zwei weißenRückenlinien und hellbraunem Kopf, erscheint im erstenFrühjahr, bespinnt die Knospen, welche sie ausfrißt, undist der gefährlichste Feind für unsre Obstbäume. Sieverpuppt sich im Juni in einem losen Kokon flach unter derErdoberfläche. Als Gegenmittel benutzt man fußtiefesUmgraben des Bodens um die Baumstämme, Anlegen vonPapierringen um den Stamm, welche mit Teer oder besser mit demsogen. Brumataleim bestrichen sind, gut anschließen und vonOktober bis Dezember klebrig erhalten werden müssen, um das amStamm aufsteigende Weibchen zu fangen. Der Kiefernspanner(Föhrenspanner, Spanner, Fidonia piniaria L., s. Tafel"Schmetterlinge II"), 3,5 cm breit, mit schwarzbraunenFlügeln, die beim Männchen ein hellgelbes oderweißliches, beim Weibchen ein hoch rotgelbes Mittelfeldbesitzen, fliegt im Mai und Juni im Kiefernwald und legt seine Eierbesonders im Stangenholz an die Nadeln. Die gelblichgrüneRaupe, mit weißem Mittelstrich, dunkeln Seitenstreifen undgelben Streifen über den Füßen, erscheint im Juli,frißt den Stumpf der zur Hälfte abgebissennen Nadeln undverpuppt sich im Oktober unter Moos und Streu am Fuß desBaums. Als Gegenmittel ist nur das Aufsuchen der Puppenerfolgreich. Der Stachelbeerspanner (Harlekin, Zerene grossulariataL.), 4 cm breit, mit goldgelbem, schwarzfleckigem Leib,weißen, schwarz gefleckten Flügeln, von denen dievordern an der Wurzel gelb sind und zwischen zwei Punktreihen einegoldgelbe Mittelbinde besitzen; er fliegt im Juli und August, dasWeibchen legt die Eier in kleinen Gruppen an die Blätter vonStachel- und Johannisbeersträuchern, Pflaumen,Aprikosenbäumen, Weiden, Kreuzdorn. Die oberseits weiße,schwarz gefleckte, unterseits dottergelbe Raupe erscheint imSeptember, überwintert unter Laub, frißt imnächsten Jahr bis Juni und verpuppt sich unter einigenFäden an einem Blatt oder Zweig. Der Birkenspanner (Amphidasysbetularia L., s. Tafel "Schmetterlinge II"), 5 cm breit,milchweiß, schwarz gesprenkelt, findet sich überall inEuropa, seine einem dürren Zweig ähnliche Raupe lebt aufBirken, Ebereschen und andern Laubhölzern, zieht aber dieEiche vor und verpuppt sich im September oder Oktober in der Erde.Der Schmetterling fliegt im Mai und Juni. Vgl. Guenée,Species général des Lépidoptères, Bd. 9u. 10 (Par. 1857).

Spannkraft, s. Dampf und Gase.

Spanntag, die Leistung eines Gespanns Zugtiere in einemArbeitstag; z. B. 1 Hektar wurde gepflügt in zwei Spanntagenund zwei Knechtstagen heißt: die Fertigung der Arbeiterforderte die Thätigkeit zweier Gespanne und zweierKnechte.

Spannung, der Zustand eines elastischen Körpers, inwelchem seine Teilchen durch eine von außen wirkende Kraftaus ihrer ursprünglichen Lage gebracht sind und in dieselbezurückkehren, sobald die Kraft aufhört zu wirken (s.Elastizität), daher das Kraftmaß, mit welchem eiserneKonstruktionsteile auf Druck oder Zug in Anspruch genommen werden.Elektrische S., s. Elektrizität; S. der Gase und Dämpfeist das Streben derselben nach Ausdehnung, wodurch sie auf die sieumgebenden Körper einen Druck ausüben (s. Gase undDampf).

Spannnngsenergie, s. Kraft, S. 133.

Spannungsgesetz, Voltasches, s. Galvanismus, S. 877.

Spannungsirresein, s. Katatonie.

Spannungskoeffizient, s. Ausdehnung, S. 111.

Spannungsreihe, s. Elektrische S.

Spannweite (Spannung, Sprengung), die Entfernung derWiderlager eines Gewölbes von einander, auch die Tragweite derBalkendecken oder die lichte Tiefe eines Raums (Zimmertiefe).

Spanten, die Rippen eines Schiffs (s. d., S. 455).

Sparadrap (franz., spr. -drá), s.Bleipflaster.

Sparagmit, s. Grauwacke.

Sparassis Fr. (Strunkschwamm), Pilzgattung aus derUnterordnung der Hymenomyceten, mit fleischigem, vertikalaufrechtem, strauchartig ästigem Fruchtkörper, dessenÄste blattförmig zusammengedrückt und auf ihrerganzen glatten Oberfläche mit dem Hymenium überzogensind. S. crispa Fr. (echter Ziegenbart) besitzt einen in der Erdeverborgenen, dicken, fleischigen Stamm, welcher oben in zahlreichegelappte, gekräuselte Äste übergeht und daher einenrundlich kopfförmigen Rasen bildet, wächst auf Sandbodenin Nadelwäldern im mittlern und nördlichen Europa und istsehr wohlschmeckend.

Sparbanken, s. Sparkassen.

Sparbutter, s. v. w. Kunstbutter, s. Butter, S. 697.

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Spargel - Sparkassen

Spargel (Asparagus L.), Gattung aus der Familie derAsparageen (Smilaceen), ausdauernde Kräuter od.Halbsträucher mit sehr verzweigten, oft windenden Stengeln,sehr kleinen, schuppenförmigen, fleischigen bis häutigenBlättern u. in den Achseln derselben mit Büschelnkleiner, meist nadelartiger, steriler, blattartiger Zweige,kleinen, zwitterigen oder diözischen Blüten aufgegliedertem Stiel und kugeliger, häufig nur einsamiger Beere.Etwa 100 Arten in den warmen und gemäßigten Regionen,die meisten am Kap. Der gemeine S. (A. officinalis L.) treibt ausdem Rhizom fleischige, saftige, mit fleischigen Niederblätternspiralig besetzte, weißliche oder blaßrötlicheSprosse, die sich über der Erde in dem verzweigten,grünen, 0,6-1,5 m hohen, glatten Stengel verlängern. Dieblattartigen Zweige sind nadelförmig, glatt, die Beerenscharlachrot. Der S. wächst in Süd- und Mitteleuropa,Algerien und Nordwestasien, besonders an Flußufern, und wirdin mehreren Varietäten als Gemüsepflanze kultiviert. Erverlangt eine warme Lage und einen lockern, sandigen Boden, dernötigen Falls drainiert werden muß, da auch nur imWinter bleibende Nässe verderblich wirkt. Zur Anlage derSpargelbeete hebt man vor Eintritt des Winters die Erde 1,9 m breitund einen Spatenstich tief aus, gräbt dann Rinder- oderHofmist und zwar doppelt soviel wie zu einer gewöhnlichenstarken Düngung unter und steckt in Entfernungen von 0,6-0,9 mPfähle, an welchen man von der ausgegrabenen oder von andrerguter Erde Hügel macht, deren Spitze den obern Rand des Beetserreichen kann. Auf diesen Hügeln breitet man die ein- biszweijährigen Spargelpflanzen (Klauen) sorgfältig aus undbedeckt sie mit Erde. Vorteilhaft ist eine weitere Mistbedeckungdes ganzen Beets, welche nur die Köpfe der Hügelfreiläßt, worauf man dann das Ganze so weit mit Erdebedeckt, daß die Köpfe der Pflanzen etwa 3 cm tief zuliegen kommen. Im Herbst schneidet man die Stengel 16 cm hoch ab,lockert das Beet und bedeckt es 8-10 cm hoch mit altem Mist. ImFrühjahr wird das Gröbere fortgenommen und der Rest mitErde mehrere Zentimeter hoch bedeckt. Im dritten Jahr erhöhtman die Beete mit fetter, sandiger Erde so stark, daß diePflanzen 16 cm tief liegen. Man kann jetzt anfangen, S. zu stechen;doch ist es besser, nur einzelne Stengel und nur bis Anfang Junifortzunehmen. Die Beete geben dann 25 Jahre lang guten Ertrag; manbraucht sie nur im Frühjahr zu lockern und im Herbst stark mitMist, im Sommer mit Jauche, im Frühjahr mit Asche und Kali zudüngen. Der S. enthält 2,26 Proz. eiweißartigeKörper, 0,31 Fett, 0,47 Zucker, 2,80 sonstige stickstofffreieSubstanzen, 1,54 Cellulose, 0,57 Asche, 92,04 Proz. Wasser; erwirkt harntreibend, in größern Mengen genossen alsAphrodisiakum und erzeugt wohl auch Blutharnen. Früher war dieWurzel offizinell; die Samen hat man als Kaffeesurrogat verwertet.Columella gedenkt in seinem Buch "De re rustica" auch des Spargels.Andre Spargelarten hat man als Zierpflanzen benutzt; interessantist der blätterlose, dornige Asparagus horridus, in Spanienund Griechenland. Vgl. Göschke, Die rationelle Spargelzucht(3. Aufl., Berl. 1889); Burmester u. Bültemann, Spargelbau(Braunschw. 1880); auch die Schriften von Brinckmeier (Ilmenau1884) und Kremer (Stuttg. 1887).

Spargelerbse, s. Tetragonolobus.

Spargelfliege, s. Bohrfliege.

Spargelklee, s. v. w. Luzerne, s. Medicago; auch s. v. w.Tetragonolobus.

Spargelkohl (Broccoli), s. Kohl.

Spargelstein, spargelgrüner Apatit (s. d.).

Spargilium (lat.), Spreng-, Weihwedel.

Spargiment (ital.), ausgestreutes Gerücht;Umständlichkeit, sich sperrendes Zieren.

Sparherd, s. Kochherde, S. 906.

Spark, s. Spergula.

Sparkalk, s. Gips, S. 355.

Sparkarten, s. Sparkassen, S. 104.

Sparkassen (Sparbanken, engl. Saving banks, spr. ssehwingbänks) sind Kreditanstalten, welche den Zweck haben, wenigerbemittelten Leuten die sichere Ansammlung und zinstragende Anlegungkleiner erübrigter Geldsummen zu ermöglichen undhierdurch den Spartrieb in weitern Kreisen des Volkes zu pflegenund zu fördern. Dadurch, daß diese Kassen ihren Inhaberngrundsätzlich oder gesetzlich keinen Gewinn abwerfen sollen,unterscheiden sich dieselben von andern ähnlich eingerichtetenKreditanstalten. Solche Kassen sind (und zwar vorzugsweise vonGemeinden als Gemeindeanstalten oder in der Art, daß dieGemeinde die Bürgschaft für die Kasse übernahm unddie Verwaltung derselben unter die Aufsicht derGemeindebehörden stellte, später auch vonPrivatgesellschaften und Fabrikanten) seit dem vorigen Jahrhundertin großer Zahl ins Leben gerufen worden. Die erste wurde 1765zu Leipzig als "Herzogliche Leihkasse" errichtet. Hierauf folgte1778 eine von einer Privatgesellschaft in Hamburg gegründeteAnstalt, welcher zuerst der Name Sparkasse beigelegt wurde; fernerdie in Oldenburg 1786, Kiel 1796 sowie in Bern und Basel. Die ersteenglische Sparkasse wurde 1798 in London von einerPrivatgesellschaft als Wohlthätigkeitsanstalt errichtet; inFrankreich folgte Paris 1818, in Preußen Berlin in demselbenJahr, in Österreich Wien 1819, in Schweden Stockholm 1821, inItalien Venetien und die Lombardei 1822 und 1823, von welcher Zeitab die S. sich rasch in den europäischen Kulturländernverbreiteten. Damit diese Anstalten ihren Zweck möglichstvollständig erfüllen, und um zu verhüten, daßdieselben nicht zu sehr von bemittelten Klassen benutzt werden, isteine obere Grenze für die jeweilig erfolgende einzelneEinlage, dann auch eine solche für das Gesamtguthabenfestgesetzt, welche nicht überschritten werden darf. Dergeringste Betrag der Einlagen ist in Deutschland meist auf 1 Mk.bemessen. Jeweilig nach Ablauf eines Jahrs werden die inzwischenaufgewachsenen und nicht erhobenen Zinsen dem Kapital zugeschlagen.Jeder Einleger erhält ein Sparkassenbuch, in welchem dieEinlagen fortlaufend vermerkt und erfolgende Rückzahlungenabgeschrieben werden. Kleinere Summen werden sofortzurückgezahlt, für größere dagegen ist eineverschieden bemessene Kündigungsfrist angesetzt. DasGesamtguthaben wird gegen Rückgabe des Sparkassenbuchszurückgezahlt. Da S. viel dazu benutzt werden, um fürbestimmte Zwecke Summen anzusparen, so hat man auch Vorsorgegetroffen, daß Rückzahlungen nur zu bestimmten Zeitenerfolgen, so bei den Mietsparbüchern am ortsüblichenMietzahlungstag. Kuntze (Plauen) empfiehlt zu dem Zweck dieEinführung von "gesperrten Sparkassenbüchern" mit festenRückzahlungsfristen. Um die Benutzung der S. auch fürsolche zu erleichtern, welche nach andern Orten verziehen, wurdedie Bildung von Kommunalverbänden derart befürwortet,daß jede Kasse die Einlagebücher andrer übernehmenund weiterführen soll, indem die Einlagen Abziehender an dieSparkasse des neuen Aufenthaltsortes überwiesen werden. Danach den meisten Statuten Aus-

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Sparkassen.

zahlungen ohne Prüfung der Berechtigung des Inhabersstattfinden, so ist zum Schutz gegen Verluste durch Diebstahl einesorgfältige Aufbewahrung der Sparkassenbücher geboten.Als S. pflegt man auch solche Kassen zu bezeichnen, welche inWirklichkeit nur Einzahlungs- oder Markenverkaufsstellen sind.Letztere dienen dem Zwecke, ganz kleine Summen anzusammeln, umdieselben, wenn sie eine gewisse Höhe erreicht haben, an andreKreditanstalten oder sogen. Hauptsparkassen abzuführen, welchewerbende Anlegung und Verwaltung besorgen. Diese Verwaltung ist inverschiedenen Ländern gesetzlich geregelt, so in Frankreichl822 und 1835; in Preußen durch ein Regulativ von 1838,welches dem Gedanken der Selbstverwaltung in weitem MaßRechnung trägt, jedoch mit der Maßgabe, daß ebensowie in Bayern, Baden, Sachsen etc. die Statuten deröffentlichen, unter Staatsaufsicht zu stellenden S. derstaatlichen Genehmigung bedürfen; in England seit 1817, wo manden Charakter der S. gesetzlich dadurch gewahrt hat, daß denLeitern derselben (trustees) der Bezug einer Entschädigungoder eines Gewinns untersagt wurde. Die deutschen S. legen dieihnen anvertrauten Summen teils gegen Hypotheken aufGrundstücke und Gebäude an, die Gemeindesparkasseninsbesondere gegen im Gemeindebezirk oder in dessen nähererUmgebung bestellte Hypotheken, teils kaufen sie sichereWertpapiere, dann geben sie auch Darlehen gegen Wechsel undFaustpfand, endlich auch bis zu einer bestimmten Summe gegenHandschein und höhern Zins unter Gestellung eines Bürgen.Die englischen S. kaufen meist Staatspapiere an. Diefranzösischen S. sind gesetzlich gehalten, die Einlagen beider staatlichen Caisse des dépôts et consignations imKontokorrentverhältnis zu hinterlegen; ihre Forderungen bildendaher, soweit sie nicht in Bezugsrechte auf ewige Rentenumgewandelt werden, einen Teil der schwebenden Schuld des Staats.Durch diese Zentralisierung des Sparkassenwesens ist zwar letzteresaußerordentlich vereinfacht; die einzelnen S. tragen mehr denCharakter einfacher Zahlungs- und Rechnungsstellen. Dagegenkönnen durch die enge Beziehung zu den schwebenden Schulden,den S., wie dies schon in Frankreich der Fall gewesen,Verlegenheiten erwachsen. Überhaupt bedürfen die S.,sobald sie nur gut verwaltet werden, weniger einen Rückhaltdurch wechselseitige Verbindung oder durch Gründung einer ArtZentralsparkasse, weil bei denselben nicht wie bei Banken inschlechten Zeiten die Rückforderungen anzuschwellen pflegen.Die in einzelnen Ländern vorkommende Verbindung von S. mitPfandhäusern ist nicht zweckmäßig, weil in gutenZeiten mehr Geld den S. zuströmt und die Pfandhäuserkeine Gelegenheit haben, dasselbe unterzubringen, während inschlechten Zeiten der Geldbedarf der Pfandhäuser durch die S.nicht gedeckt werden kann. Ihre Verwaltungskosten decken die S.dadurch, daß sie einen niedrigern Zins geben, als sieerhalten. Überschüsse werden zunächst zur Bildungeines Reservefonds, dann für gemeinnützige Zwecke(Altersprämien für treue Dienstboten etc.) verwandt. BeiGemeindesparkassen ist vielfach (so in Preußen, Baden) zuderartigen Verwendungen staatliche Genehmigung erforderlich.

Schon 1798 tauchte in England der Gedanke auf, S. mit Schulen zuverbinden; derselbe wurde 1834 an der Stadtschule zu Le Mansverwirklicht. Dann bestanden schon Anfang dieses Jahrhundertseigentliche Schulsparkassen in Thüringen (Apolda) und am Harz(Goslar). Seit 1866 wirkte Professor F. Laurent (s. d.) zu Gent inunermüdlicher Weise für Einführung solcher Schul-oder Jugendsparkassen. Den Erfolgen, welche er erzielte, ist es zuverdanken, daß diese Kassen in Belgien, Frankreich, Englandu. Italien, wo ihnen durch das Gesetz vom 27. Mai 1875 großeVergünstigungen zugestanden wurden, dann in Österreichund in einigen Teilen von Deutschland (besonders im KönigreichSachsen, dann in Schleswig-Holstein) große Verbreitunggefunden haben. Bei diesen Kassen sammelt der Lehrer dieBeiträge der Kinder, bis dieselben einen Betrag von derHöhe erreicht haben, daß die Einlage in eineöffentliche Sparkasse erfolgen kann. Nun kann, währenddie Ersparnisse der einzelnen Kinder hierfür noch nichtgenügen, doch die Gesamtsumme zureichen und einstweilenverzinslich angelegt werden. Der auf diesem Weg erzielte Gewinnkann zur Deckung kleiner Verwaltungskosten, fürPrämiierung von Schülern oder auch zur Verteilung nachMaßgabe der Einlagen verwandt werden. Durch dieSchulsparkassen soll der Trieb zum Sparen und zurSelbstbeherrschung schon in der frühen Jugend gerade in denKreisen geweckt und genährt werden, für deren Lage dieseTugenden von der höchsten Bedeutung sind. Dagegen sind dieSchulsparkassen besonders in deutschen Lehrerkreisen einemgroßen Widerstand begegnet. Man machte gegen dieselbengeltend, daß gerade bei den untern Klassen den Kindern garkeine Möglichkeit zum Sparen geboten sei, und daß dieseAnstalten die schlimmern Leidenschaften der Habsucht und des Neidesbereits bei den Kindern entflammten und großzögen.

Nach einer Mitteilung des Vereins für Jugendsparkassen gabes in Deutschland 1881: 842 Kassen in 157 Städten und 548Dörfern. Es waren an denselben beteiligt: 1250 Lehrer und61,940 Schüler mit 640,000 Mk. Einlagen. Man zähltein

Frankreich Kassen Bücher Einlagen

1877 8033 176040 2,98 Mill. Frank

1881 14372 302841 6,40 " "

1885 23222 488624 11,29 " "

Italien Lehrer Schüler Bücher Einlagen

1876 522 11935 7289 32049 Lire

1880 3240 40956 19056 174597 "

1885 3451 65062 376345 "

Ungarn Schulen Lehrer Schüler Einlagen

1880 141 222 7333 54647 Guld.

1882 354 565 19273 114734 "

1886 581 926 28256 113264 "

Vgl. Laurent, Conférence sur l'épargne (1866);Wilhelmi, Die Schulsparkassen (Leipz. 1877); A. de Malarce, DieSchulsparkasse (Berl. 1879); Elwenspöck, Die Jugendsparkasse(Memel 1879); Senckel, Jugend- und Schulsparkassen (Frankf. a. O.1882); Derselbe, Zur Sparkassenreform (1884).

Um in weitern Kreisen der Bevölkerung die Ansammlung vonganz kleinen Beträgen zu ermöglichen, werden inDeutschland seit 1880, damals angeregt durch Kaufmann Schwab inDarmstadt, Pfennigsparkassen nach dem Vorbild der englischen Pennysaving banks gegründet. Es sind dies einfache Sammelstellenfür Beträge von 10 Pfennig und weniger, für welche,wenn eine Summe von 1 Mk. erreicht ist, ein Sparkassenbuch von derHauptsparkasse ausgestellt wird. Die Ansammlung erfolgt unterVerwendung von Sparmarken und Sparkarten oder Sparbüchern. DieMarken, meist in gleicher Höhe, oft auch in verschiedenenWertstufen, werden gewöhnlich durch Vermittelung vonLadengeschäften verkauft und auf den vorbezeichneten Stellender Sparkarten aufgeklebt. Sobald letztere ausgefüllt sind,werden dieselben an bestimmten Stellen oder

105

Sparkassenversicherung - Sparrenkopf.

auch nur bei der Hauptsparkasse gegen Quittung eingeliefert. DenZwecken besonderer Kreise dienen die Fabriksparkassen (s. d.);dagegen sind für die allgemeinste Verbreitung bestimmt dieseit 1861 in mehreren Ländern eingeführten Postsparkassen(s. d.). Es wurden gezählt an S. (ohne Postsparkassen):

Einleger Einlagen Auf ein Buch

Mill. Mk. Mark

Großbritannien und Irland (1885) .... - 927 -

Italien (1885) .... 1189167 764 642

Österreich (1886) ... 2018695 1792 887

Frankreich (1885) ... 4926391 1770 359

Schweiz (1886) .... 745335 411 495

Es war in

die Zahl das Guthaben durchschnittlich

der Einleger der Einleger auf ein Buch

(Konten) Mark Mark

Preußen 1874 2061199 987237180 478

" 1885 4209453 2260933912 537

Bayern 1874 299277 70253440 235

" 1885 464545 130859355 282

Sachsen 1874 686733 232203831 338

" 1884 1199556 4076210 0 340

Baden 1874 141781 83297384 588

" 1884 215646 175727111 815

Hessen 1874 84491 40225356 476

" 1884 160745 90588725 564

Meiningen 1885 33525 18200000 543

Ein Einleger (Sparkassenbuch) kam in

Bayern (1885) auf 11,6 Einw. = auf 100 Einw. 8,6 Sparer

Baden (1884) " 7,1 " = " 100 " 13,5 "

Preußen (1886) " 6,4 " = " 100 " 14,8 "

Hessen (1884) " 5,9 " = " 100 " 16,8 "

Sachsen (1884) " 2,7 " = " 100 " 37,7 "

Auf den Kopf der Bevölkerung entfiel ein Einlagebetrag:1885 in Bayern von 24,7 Mk., in Preußen von 79,8 Mk.,1884 in Hessen von 94,7 Mk., in Baden von 109,7 Mk., in Sachsen von128,0 Mk. Während im Königreich Sachsen auf 84 qkm eineSparkasse entfällt, gehören in Preußen 289, inBayern 273, in England 493, in Österreich 914 und in Italien951 qkm dazu. Vgl. Hermann, Über S. (Münch. 1835); Vidal,Des caisses d'épargne (Par. 1844); Konst. Schmidt undBrämer, Das Sparkassenwesen in Deutschland (Berl. 1864);Lewins, History of banks for savings in Great Britain and Ireland(Lond.1866); "Verhandlungen des 14. volkswirtschaftlichenKongresses in Wien 1873"; Engel, Ein Reformprinzip für S. (inder "Zeitschrift des Preußischen Statistischen Büreaus"1868); "Statistique internationale des caisses d'épargne"(bearbeitet von Bodio, Rom 1876); die Verhandlungen des PariserKongresses für Wohlfahrtseinrichtungen (1878); "Beiträgezur Statistik der S. im preußischen Staat" (Berl. 1876);Selle, Die preußischen S. (Lüdenscheid 1879); Spittel,Die deutschen S. (Gotha 1880); Kuntze, S. und Gemeindefinanzen(Berl. 1882); Bahrt, Die Kontrolle und Hilfseinrichtungen bei S.(2. Aufl., Leipz. 1882); Seedorff, Die Sparkassenbuchführung(Hannov. 1887); Thiele, Die städtische Sparkasse zu Berlin inihrer Einrichtung (Berl. 1887). Seit 1876 erscheint in Wien alsOrgan für internationales Sparkassenwesen die von C. Menzelgeleitete "Österreichisch-Ungarische Sparkassenzeitung".

Sparkassenversicherung, Bezeichnung der Geschäfteeiner als Nebenbranche von einigenLebensversicherungsgesellschaften eingeführten Art Sparkasse(s. d.), welche gegen Leistung einer bestimmten Reihe vonJahreseinzahlungen nach Ablauf festgesetzter Zeit ein bestimmtesKapital zu gewähren hat, und welcher alle Merkmale derVersicherung fehlen, wenn nicht, wie das ausnahmsweise bei derEinrichtung der Lebensversicherungsgesellschaft Friedrich Wilhelmder Fall ist, ausbedungen wird, daß zwar das Kapital erstnach Ablauf bestimmter Jahre ausgezahlt werde, dieJahreseinzahlungen aber aufhören sollen, wenn der Versicherteetwa vorher sterben würde. In diesem Falle liegt eineVerbindung von Sparkasse mit der Versicherung vor (vgl.Versicherung).

Sparks, Jared, nordamerikan. Geschichtschreiber, geb. 10.Mai 1789 zu Willington im Staat Connecticut, war eine ZeitlangPrediger einer Unitariergemeinde zu Boston, redigierte von 1823 bis1830 die Vierteljahrsschrift "North American Review", ward 1839Professor der Geschichte an der Harvard-Universität zuCambridge im Staat Massachusetts und war 1849-52 derenPräsident; starb 14. März 1866 daselbst. Unter seinenzahlreichen Schriften sind hervorzuheben: "Life of John Ledyard"(Cambr. 1828; deutsch, Leipz. 1829); "Diplomatic correspondence ofthe American revolution" (Boston 1829-31, 12 Bde.); "Life ofGoverneur Morris" (das. 1832, 3 Bde.); "Life of Washington, withdiaries" (1839, 2 Bde.; deutsch von Raumer, Leipz. 1839); "Libraryof American biography" (New York 1834-47, 25 Bde.) und"Correspondence on the American revolution" (das. 1853, 4 Bde.).Auch gab er die Werke G. Washingtons (New York 1834-38, 12 Bde.,mit Biographie) und Benj. Franklins (1836-40, 10 Bde.) heraus undführte dessen Selbstbiographie bis zu dessen Tod fort(Sonderausg. 1844). Vgl. Mayer, Memoir of Jared S. (Baltimore1867); Ellis, Memoir of J. S. (Cambr. 1869).

Sparmarken, s. Sparkassen, S.104, und Postsparkassen.

Sparmotor, s. Feuerluftmaschinen.

Sparnacum, früherer Name von Epernay (s. d.).

Sparprämie, s. Arbeitslohn, S. 759.

Sparr, altes märk. Adelsgeschlecht, das noch jetztin einem gräflichen Zweig in Pommern blüht; besonders im17. Jahrh. war es zahlreich, und viele Offiziere in den Heerenverschiedener Monarchen gingen aus ihm hervor. Bemerkenswert: OttoChristoph, Freiherr von S., brandenburg. Generalfeldmarschall, geb.1605 zu Prenden bei Bernau, trat 1626 in das kaiserliche Heer unterWallenstein, kämpfte von 1638 bis 1648 als Oberst einesRegiments meist am Rhein, ward 1648 kurkölnischerGeneralfeldwachtmeister und nahm Lüttich ein. Er trat 1649 indie Dienste des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg,dessen Heer, namentlich die Artillerie, er organisierte, entschied30. Juli 1656 durch seinen Angriff auf die polnische Reiterei denSieg bei Warschau, ward 1657 Generalfeldmarschall, befehligte diebrandenburgischen Hilfstruppen in der Schlacht bei St. Gotthardt;starb 9. Mai 1668. Er errichtete in der Marienkirche zu Berlin dasschöne Denkmal am Erbbegräbnis seiner Familie mit seinemeignen knieenden Standbild. Im J. 1889 ward das 16.preußische Infanterieregiment nach ihm benannt. Vgl. v.Mörner, Märkische Kriegsobersten des 17. Jahrh. (Berl.1861).

Sparren, s. Dachstuhl; in der Heraldik s.Heroldsfiguren.

Sparrenkopf, das freie, meist profilierte Ende einesSparrens, s. Dachstuhl; in der antiken Baukunst die unter derHängeplatte des Gebälks befindlichen Kragsteine oderKonsölchen.

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Sparrm. - Sparta.

Sparrm., bei naturwissenschaftl. Namen Abkürzungfür A. Sparrmann, geb. 1747, Begleiter Cooks, gest. 1787 alsProfessor in Upsala (Zoolog).

Sparta, im Altertum Hauptstadt der peloponnes. LandschaftLakonien, lag auf den letzten Ausläufern des Taygetos unddicht am rechten Ufer des Eurotas, mit dem sich hier dieFlüßchen Önos und an der Südseite der StadtKnakion und Tiasa vereinigten, und bestand aus verschiedenenweitläufigen, gartenreichen Quartieren, welche zusammen einenUmfang von etwa 9 km hatten. Die Einwohnerzahl mag sich zur Zeitder Blüte auf 40-50,000 belaufen haben. Früher hatte dieStadt gar keine Mauern, da die Bürger ihr als solche dienensollten; erst der Tyrann Nabis legte eine Mauer an, die zwar balddarauf von den Achäern zerstört, aber auf Befehl derRömer wiederhergestellt und noch in byzantinischer Zeiterneuert wurde. S. hatte auch keine eigentliche Akropolis, sonderndiesen Namen führte nur einer der Hügel der Stadt, aufdessen Spitze neben andern der Tempel der Athene Chalkioikos stand.Von den einzelnen Quartieren (Komen) wird Pitana im NO. als dasschönste genannt. Hier war die Agora mit denVersammlungsgebäuden der Gerusia und der Ephoren, der von derpersischen Beute erbauten persischen Halle und dem großen,mit weißem Marmor überkleideten Theater, von welchemsich noch einige Überreste erhalten haben. Andre Plätzeim W. der Stadt, an der Straße nach Messene, waren der Dromosmit 2 Gymnasien und der mit Platanen bepflanzte Platanistas, wo dieJünglinge zu ringen pflegten. Die Stadt hatte außer denangeführten noch zahlreiche andre Tempel und Monumente, welchePausanias nennt, deren Lage sich aber heute nicht mehr nachweisenläßt. Überreste alter Bäder finden sichnordwestlich und südöstlich vom Theater, Reste eineralten Brücke über den Eurotas an der heutigenStraße nach Argos und Tegea. Erst die Anlage der StadtMisthra (s. d.), westlich von S., veranlaßte ihreVerödung. Die jetzige Stadt S. (s. Sparti), erst 1836gegründet, nimmt den südlichen Teil des alten S. ein.

[Geschichte.] Als älteste Einwohner werden die Pelasgergenannt; frühzeitig gründeten die PhönikerNiederlassungen an der Küste Lakoniens, um die dorthäufigen Purpurschnecken zu sammeln. Diesen folgtenkleinasiatische Griechen, Leleger genannt, und Einwanderer vonNorden her. Die durch die Einwanderungen vermehrte undveränderte Bevölkerung wird in der ältestenÜberlieferung unter dem Namen "Achäer"zusammengefaßt. Ihr sagenhaftes Herrschergeschlecht waren dieTyndariden, dann die Atriden (der Atride Menelaos). Infolge derDorischen Wanderung (1104 v. Chr.) kam S. an die Dorier (s. d.).Nach der gewöhnlichen Sage fiel Lakonien den beidenSöhnen des Aristodemos, Eurysthenes und Prokles, zu. InWirklichkeit war die erste dorische Eroberung eineunvollständige. Die Achäer behaupteten sich in einemgroßen Teil Lakoniens; die Dorier setzten sich zunächstbloß am rechten Ufer des Eurotas fest, wo sie als festeNiederlassung S. gründeten. Von hier aus breiteten sie sichallmählich über die übrigen Gemeinden aus undvermischten sich mit den Achäern, deren ursprünglicheEbenbürtigkeit auch daraus sich ergibt, daß eins derspartanischen Königsgeschlechter, die Agiaden, achäischwar. Diese unfertigen Zustände stürzten den Staat in eineVerwirrung, aus der ihn erst die Gesetzgebung des Lykurgos (s. d.),welche freilich so, wie sie bestand, nicht auf einmal angeordnet,sondern allmählich entstanden ist, herausriß. Dieserstellte den innern Frieden her und begründete danach eine neueStaatsordnung auf der Vorherrschaft und strengen Organisation derdorischen Bevölkerung, der Spartiaten. Diese wurden in derMitte des Landes vereinigt und 4500 (später 9000) gleicheAckerlose unter sie verteilt, über welche sie weder durch Kaufoder Verkauf, noch durch Schenkung oder Testament freiverfügen durften. Sie waren in die drei Phylen der Hylleer,Pamphyler und Dymanen, diese wieder in zehn Oben geteilt und anRang und Rechten einander gleich. Außer den Spartiaten gab esnoch zwei untergeordnete Klassen der Bevölkerung,Periöken und Heloten. Die Periöken (Lakedämonier)waren persönlich frei, aber ohne Anteil am Stimmrecht in derVolksversammlung und an den Ehrenrechten, leisteten Zins an denStaat und wurden mit den Spartiaten zur Verteidigung desVaterlandes aufgeboten. Die Heloten waren Leibeigne des Staats undwurden hauptsächlich dazu verwandt, die Ländereien derSpartiaten zu bebauen und letztere im Krieg als Leichtbewaffnete zubegleiten. Zur Zeit der Blüte Spartas zählte man anEinwohnern ungefähr 40,000 Spartiaten, 120,000 Periökenund 200,000 Heloten. Die Verfassung war eine aristokratische. Ander Spitze des Staats standen die zwei Könige. Ihnen zur Seitestand der Rat der Alten, die Gerusia, mit Einschluß derbeiden Könige, die aber nur je eine Stimme hatten, aus 30Mitgliedern, den Ältesten der Oben, bestehend. DieVolksversammlung (Agora) hatte nur die Anträge des Rats derAlten (später auch der Ephoren) entweder anzunehmen oder zuverwerfen, nicht aber selbst Anträge zu stellen. DieKönige gelangten nach Erbrecht und Erstgeburt zur Regierung.Durch Wohnung, Ländereien, ihnen zukommende Lieferungen vonOpfervieh und Beute etc. vor allen andern Bürgernausgezeichnet, waren sie Oberpriester, Feldherren und Richter. Aberihre Macht, in älterer Zeit nicht genau begrenzt, warspäterhin, namentlich nach dem Aufkommen der Ephoren (s. d.)seit den Messenischen Kriegen, sehr beschränkt.Möglichste Gleichheit der Bürger, kriegerischeTüchtigkeit und ausschließliches Interesse derselbenfür des Staats Macht und Ruhm hervorzubringen, war der Zweckder Lykurgischen Gesetzgebung. Der Spartiate gehörte nichtsich, sondern dem Staat an; daher war das Leben ein fast durchausöffentliches: Jagden, Leibesübungen, Teilnahme an denVolksversammlungen, an Opfern und feierlichen Chören,Zuschauen bei den gymnastischen Spielen der Jugend u. dgl.füllten, wenn nicht Krieg war, die Zeit des Tags aus. Gewerbeund Künste, Schiffahrt und Handel zu treiben, galt einesSpartiaten für unwürdig. Bereicherung durch Handel wardurch das Gesetz, bloß eiserner Münzen sich zu bedienen,ausgeschlossen. Auch die Erziehung war durchaus Sache des Staats,öffentlich und gemeinschaftlich und bildete ein künstlichgegliedertes System; ihr vorherrschender Zweck war körperlicheKräftigung und Abhärtung, selbst bei der weiblichenJugend, und Gewöhnung an streng militärischen Gehorsam.Durch Übung in der Kürze des Ausdrucks (Lakonismus)gewann der junge Spartiate jene Intensität und Sammlung desGeistes, jene gedrungene und kernige Persönlichkeit, die ihnauszeichnete; durch Erlernung dorischer Nationallieder wurdeBegeisterung für das Vaterland geweckt. Damit nicht vonaußen Gefährliches sich einschleiche, durfte keinSpartaner ohne ausdrückliche Erlaubnis ins Ausland reisen;Fremde wurden nur eingelassen, wenn sie mit den Behörden zuverhandeln hatten, und durften nicht länger als nötigverweilen. Der

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Sparta (Geschichte).

Staat wachte über Einfachheit in dem Bau und derEinrichtung der Häuser, über die Kleidung, über dieZucht der Frauen, selbst über die Musik. Die Männer(immer je 15) mußten sich, um jeden Luxus im Essen zuverhindern, zu gemeinsamen einfachen Mahlzeiten (Pheiditien oderSyssitien) vereinigen. Die Ehe war geboten, und es fandöffentliche Anklage statt gegen die, welche gar nicht,spät oder unpassend sich verehelichten. Eine kinderlose Ehewurde gar nicht als solche angesehen, sondern ihre Auflösungvom Staat verlangt. Mißgestaltete und schwächlicheKinder wurden, nachdem sie den Ältesten des Geschlechtsvorgezeigt worden waren, in den Schluchten des Taygetos ausgesetzt,d. h. als Periökenkinder erzogen, während Kinder vonPeriöken und Heloten, wenn sie spartiatische Erziehunggenossen und von einem Spartiaten adoptiert waren, mit Erlaubnisder Könige in die Doriergemeinde aufgenommen werden konnten;dieselben hießen Mothaken. Durch das Übergewicht derdorischen Spartiaten wurde Lakonien erst zu einem dorischen Staatgemacht. Das gesteigerte Stammesgefühl traf zusammen mit dernur auf kriegerische Tüchtigkeit und Thatkraft gerichtetenLebensordnung, um den Eroberungsgeist in den Spartanern zu erweckenund zu nähren.

Der erneuerte Kampf mit den alten Einwohnern hatte dievöllige Unterwerfung derselben zur Folge. DurchGrenzstreitigkeiten entstanden die Kriege mit Messenien (s. d.),die mit der Unterjochung dieses Landes endigten. Langwierige Kriegehatte S. mit Arkadien zu führen. Erst um 600 v. Chr. gewannendie Spartaner die Oberhand und zwangen Tegea zur Anerkennung ihrerHegemonie, die sich damals bereits über den größtenTeil des Peloponnesos erstreckte. Die Olympischen Spiele waren dasgemeinschaftliche Fest der unter Spartas Oberhoheit vereinigtenStaaten. Mit Klugheit und Umsicht waren die Spartaner daraufbedacht, durch Erhaltung der alten staatlichen Ordnungen in denNachbarländern, namentlich durch Bekämpfung der Tyrannis,ihren politischen Einfluß zu befestigen, und wurden hierbeivon der delphischen Priesterschaft unterstützt. Beim Beginnder Perserkriege scharte sich ganz Griechenland um die Spartaner,welche den Oberbefehl führten, aber sich in denselben wenigRuhm erwarben; aus Eifersucht auf Athen nahm S. am Kampf beiMarathon nicht teil, und nur gezwungen schlug es die Schlacht beiSalamis; sein Glanzpunkt war die Aufopferung des Leonidas undseiner Dreihundert bei den Thermopylen. Die Fortführung desKampfes in größerm Maßstab und die Gründungeines großen hellenischen Gemeinwesens unter spartanischerHegemonie vertrug sich nicht mit der auf strenge Abgeschlossenheitberechneten Verfassung Spartas. So überließ es, wennauch von Neid erfüllt, die Führung der Griechen imSeekrieg den kühnern thatkräftigern Athenern, zumal esvon innern Erschütterungen heimgesucht wurde. Einen Aufstandder Arkadier und der mit diesen verbündeten Argiverdämpfte S. zwar glücklich; aber ein Aufstand derMessenier (464-455) lähmte des Staats Kraft im Innern undzwang ihn sogar, bei Athen Hilfe zu suchen. Als S. ein Hilfskorps,welches Kimon von Athen 461 zuführte, schimpflichzurückschickte, entstand offener Bruch zwischen beidenStaaten. Um den Athenern im Norden ein Gegengewicht zu beschaffen,stellte S. durch den Sieg bei Tanagra 457 Thebens Hegemonie inBöotien her. Die Schlacht bei Önophyta vernichtete aberdiese wieder, und 450 ward unter dem Einfluß friedfertiggesinnter Staatsmänner ein fünfjährigerWaffenstillstand und 445 ein 30jähriger Friede zwischen Athenund S. geschlossen, in welchem beide Staaten sich den Besitz ihrerHegemonie garantierten. Der tiefer liegende Gegensatz jedochzwischen dem ionischen und dem dorischen, dem demokratischen undaristokratischen Element sowie der Neid der auf Athens Macht undBlüte eifersüchtigen Verbündeten Spartas, namentlichKorinths und Thebens, ließen es zu keiner dauerndenVersöhnung kommen, und im Peloponnesischen Krieg (431-404)fand der schroffe Gegensatz seinen Ausdruck. S. ging aus demselbenals Sieger und scheinbar mächtiger hervor, als es je zuvorgewesen war. Alle frühern Bundesgenossen Athens waren ihmzugefallen; aber im Innern geschwächt und durch Beseitigungweiser Gesetze der Grundlagen seiner Verfassung beraubt, verstandes nicht, den gewonnenen Besitz mit Mäßigung undKlugheit zu behaupten. Gewalt und Treulosigkeit waren dieGrundsätze der Politik eines Lysandros und Agesilaos.Überall wurden unter Spartas bewaffnetem Schutz oligarchischeVerfassungen eingerichtet, die feindlichen Parteien mit blutigerGewalt unterdrückt. Ein Hauptziel der spartanischen Politikwar die Wiedergewinnung der kleinasiatischen Küste, welche imPeloponnesischen Krieg den Persern preisgegeben worden war. Deshalbunterstützten die Spartaner den jüngern Kyros gegenArtaxerxes und sandten 399 Thimbron, dann Derkyllidas und zuletztAgesilaos mit Heeresmacht nach Kleinasien. Aber die glänzendenErfolge des letztern vermochten nicht, die Stellung Spartas imMutterland zu sichern. Auf Anstiften der Perser verbündetensich Athen, Theben, Korinth, Argos u. a. gegen S., und es entstand395 der sogen. Korinthische Krieg (s. d.), den S. durch den mitPersien vereinbarten Antalkidischen Frieden (387) beendete. Es gabdie kleinasiatischen Griechen den Barbaren preis und hoffte, durchdas Verbot aller Bünde zwischen griechischen Staaten seineHerrschaft dauernd zu begründen. Es zwang Theben, seineStädte freizugeben, Argos, seine Besatzung aus Korinthzurückzuziehen, und schaltete im Peloponnes alsunumschränkter Herr. Die Besetzung der Kadmeia in Theben (382)führte jedoch den Sturz von Spartas unwürdigerGewaltherrschaft herbei. Theben erkämpfte sich 379 seineFreiheit und die Hegemonie über Böotien wieder. In demKampf, den S. nunmehr gegen Athen und Theben unternahm, verlor esan ersteres seine Herrschaft zur See, und die Schlacht bei Leuktra(371) erschütterte auch seine Macht zu Lande für immer.Epameinondas verwüstete 369 Lakonien, vernichtete seineHegemonie über den Peloponnes, machte Messenienselbständig und brachte so S. an den Rand des Verderbens, ausdem es auch der Tod des Epameinondas nicht erretten konnte.

Die von Lykurg gegebene Verfassung war im Lauf der Zeituntergraben worden, und der Verkehr mit dem üppigen Persienund dem asiatischen Griechenland hatte verderbend auf dieeinheimische Sitte eingewirkt. S. wurde eine der reichstenStädte Griechenlands. Infolge der immerwährenden Kriegesank aber die Zahl der männlichen Bevölkerung, und zurZeit des Aristoteles stellte es nicht viel über 1000 Hopliten.Wenn dieser Stand der Bevölkerung von selbst dieVermögensgleichheit aufheben mußte, so wurde dieseStörung noch mehr gefördert durch das Gesetz des EphorenEpitadeus, welches durch Schenkung oder Testament frei überdas Ackerlos zu verfügen gestattete. Die Verfassung gingallmählich in eine engherzige, selbstsüchtige Oligarchieüber. Im Innern krank und seiner Bundesgenossen beraubt,

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Sparta, Herzog von - Spartieren.

konnte sich S. seit der Schlacht bei Leuktra nie wieder zuseinem frühern Einfluß erheben. Alexander d. Gr.versagten sie zwar die Heeresfolge, aber König Agis II. machte330 einen fruchtlosen Versuch, die makedonische Herrschaft zustürzen. Die Spartaner mußten sogar, um sich gegen neueAngriffe des Demetrios (296) und des Pyrrhos (272) zuschützen, ihre Stadt stark befestigen. Die Spartiatenwürdigten sich zu Mietlingen des Auslandes herab. Zur Zeit desKönigs Agis III. war ihre Zahl auf 700 geschmolzen. Dieschwindende Volkszahl und die überhandnehmende Sitte derMitgiften machten das Mißverhältnis im Besitz immergrößer. Agis' III. (244-240) Versuch, die LykurgischeVerfassung wiederherzustellen, scheiterte. Kleomenes III. begannnach seinem ruhmreichen Kriege gegen die Achäer 226 seineReformen mit dem Sturz der Ephoren und der Verbannung deroligarchischen Gegner. Ohne weiteres Hindernis wurden die Schuldengetilgt, die Bürgerschaft durch Aufnahme von Periöken auf4000 gebracht, die Ländereien unter sie neu verteilt und dieLykurgische Zucht wieder eingeführt. Auch die Hegemonie imPeloponnes und in Griechenland wollte Kleomenes seinem Vaterlandwieder erkämpfen, und schon war er nach der Eroberung vonArgos nahe daran, an die Spitze des Achäischen Bundes zutreten, als Antigonos Doson, von Aratos herbeigerufen, 221 in derSchlacht bei Sellasia die Macht des kaum verjüngten Staatsbrach. S. mußte sich an Antigonos ergeben, der sofort dieReformen wieder aufhob und das Ephorat wiederherstellte. Der Staattrat dem Achäischen Bund bei, behielt aber im übrigenseine Unabhängigkeit. In dem Usurpator Machanidas (211-207)erhielt S. seinen ersten Tyrannen; er hob das Ephorat auf, trat alsunumschränkter Herr auf und machte sich an der Spitze seinerSöldnerscharen im Peloponnes furchtbar, doch fiel er schon 207gegen Philopömen bei Mantineia. Die Regierung seinesNachfolgers Nabis (206-192) war eine fast ununterbrochene Reihe vonKriegen und ein Gewebe von verräterischer Politik. Nach derErmordung des Nabis durch die Ätolier (192) gewannPhilopömen S. wieder für den Achäischen Bund, aberder alte Haß der Spartaner gegen die Achäer blieb. AlsS. 188 vom Bund abfiel und sich unter römischen Schutzstellte, rückte Philopömen vor S., ließ dieHäupter der Empörung hinrichten, die Mauernniederreißen und die fremden Söldner sowie die von denTyrannen unter die Bürger aufgenommenen Heloten entfernen. S.mußte nun achäische Einrichtungen annehmen. Rom sah zu,wie sich die Achäer und Spartaner gegenseitig durch ihreStreitigkeiten entkräfteten, bis der geeignete Zeitpunkt zumEingreifen gekommen war. Nach der Vernichtung des AchäischenBundes und der Unterwerfung von ganz Griechenland (146) teilte S.das ziemlich leidliche Los der übrigen griechischen Staaten;ja, es soll den Spartanern von den Römern besondere Ehre zuteil geworden sein: sie blieben frei und leisteten keine andern alsFreundschaftsdienste. Unter den Kaisern nach Augustus blieb denLakedämoniern kaum noch ein Schatten von Freiheit. DieLykurgischen Einrichtungen bestanden noch bis ins 5. Jahrh. fort;erst das Christentum verdrängte die letzten Reste derselben.Vgl. Manso, Sparta (Leipz. 1800-1805, 3 Tle.); O. Müller, DieDorier (2. Aufl., Bresl. 1844, 2 Bde.); Lachmann, Die spartanischeStaatsverfassung in ihrer Entwickelung und ihrem Verfall (das.1836); Trieber, Forschungen zur spartanischen Verfassungsgeschichte(Berl. 1871); Gilbert, Studien zur altspartanischen Geschichte(Götting. 1872); Busolt, Die Lakedämonier und ihreBundesgenossen (Leipz. 1878, Bd. 1); E. v. Stern, Geschichte derspartanischen und thebanischen Hegemonie (Dorp. 1884);Fleischanderl, Die spartanische Verfassung bei Xenophon (Leipz.1888).

Sparta, Herzog von, Titel des griech. KronprinzenKonstantin (geb. 2. Aug. 1868), des ältesten Sohns desKönigs Georg von Hellas.

Spartacus, Anstifter des Sklavenkriegs und Führer indemselben, 73-71 v. Chr., Thraker von Geburt, früher einfreier Mann, ward römischer Sklave und kam in dieGladiatorenschule zu Capua. Er entfloh 73 aus dieser mit etwa 70Genossen, brachte am Vesuv einem Legaten des Prätors P.Varinius eine völlige Niederlage bei, schlug noch zwei andreLegaten und dann auch den Prätor selbst, worauf durch denallgemeinen Zulauf von Sklaven sich bald ein Heer von mehr als100,000 Mann um ihn sammelte. Mit diesen trat er 72 den Marsch nachNorden an, um sie über die Alpen nach ihrer Heimat, Gallienund Thrakien, zurückzuführen. Ein Teil des Heers, dersich unter Führung des Crixus von ihm trennte, wurde am BergeGarganus in Apulien geschlagen; er selbst aber brachte den beidenKonsuln des Jahrs, Gnäus Lentulus und L. Gellius, die ihm denWeg verlegen wollten, schwere Niederlagen bei und schlug auch denProkonsul Gajus Cassius bei Mutina. Nun wurde er aber von seinemHeer, in dem die Beutelust von neuem erwachte, genötigt,wieder nach Süden umzuwenden. In Rom aber beauftragte man 71den Prätor M. Licinius Crassus mit Führung des Kriegs.Diesem gelang es, S. in der Südwestspitze von Italieneinzuschließen; er bahnte sich zwar durch seine Tapferkeitden Weg durch die feindlichen Linien, aber nun wurde ein Teil desHeers, der sich wiederum von ihm getrennt hatte, geschlagen undvöllig aufgerieben, und er selbst ward von seinen Leuten widerseinen Willen zur Schlacht gezwungen, in der er unterlag und tapferkämpfend fiel; 60,000 Sklaven sollen darin getötet und6000 Gefangene auf der Straße zwischen Capua und Romgekreuzigt worden sein. Pompejus, von Spanien zurückkehrend,vertilgte den letzten Rest der Sklaven.

Spartel, Kap (Cabo Espartel, Râs Ischberdil),Vorgebirge an der Küste Marokkos, am Westeingang derStraße von Gibraltar, 314 m hoch, bildet die Nordwestspitzevon Afrika. Es ist das Cotes promontorium der Alten.

Sparten ("die Gesäeten"), im griech. Mythus die ausden von Kadmos gesäeten Drachenzähnen entsprossenengeharnischten Männer und ihre Nachkommen (s. Kadmos); auchdichterischer Name für die gesamten Thebaner.

Sparterie (franz.), Flechtwerk, s. Geflechte.

Sparti (Neu-Sparta), Hauptstadt des griech. NomosLakonia, 1836 auf der Stelle von Alt-Sparta durchÜbersiedelung der Bewohner von Misthra (s. d.) gegründet,Sitz eines Erzbischofs, mit einem Gymnasium, kleinemAltertümermuseum, regelmäßigen Straßen undgleichförmigen, dem Klima wenig angemessenen, meistzerstreuten Häusern, schön, aber ungesund gelegen. S.hatte 1879 mit dem Nachbardorf Psychiko zusammen 3595 Einw.

Spartianus, Älius, einer der Scriptores historiaeAugustae (s. d.), lebte gegen Ende des 3. Jahrh. n. Chr. unterDiokletian, Verfasser der Biographien der Kaiser Hadrian, Verus,Julian, Septimius Severus, Pescennius Niger, Caracalla undGeta.

Spartiaten, die dorischen Vollbürger in Sparta.

Spartieren (ital.), das Umschreiben der in Stim-

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Spartium - Spateisenstein.

men gedruckten oder geschriebenen ältern Kompositionen inmoderne Partitur (spartito).

Spartium L. (Besenginster, Pfriemen), Gattung aus derFamilie der Papilionaceen, Sträucher mit langen,rutenförmigen, eckig gefurchten Ästen, wenig zahlreichengedreiten, am obern Teil auch einfachen Blättern undgestielten Blüten in Trauben oder Ähren. S. scoparium L.(Sarothamnus vulgaris Wimm., Besenpfriemen, Besenkraut), ein 3 mhoher Strauch, bisweilen mit echtem Stamm, ziemlich geradeaufsteigenden, grünen Ästen, kleinen, rundlichen,behaarten Blättchen, goldgelben Blüten in Trauben undschwärzlichen Hülsen, in Mitteleuropa, liefert in denÄsten Material zu Besen; auch hat man die Blüten zumFärben und die Knospen als Kapernsurrogat benutzt. Er gedeihtvortrefflich auf sandigem, schlechtem Boden und wird auf solchembisweilen als Futterpflanze, zu forstlichen Zwecken und als Heckeangepflanzt; anderseits wird er im Forstbetrieb auch einlästiges Unkraut. Mehrere Varietäten kultiviert man alsZiersträucher. Ein in der Pflanze enthaltenes Alkaloid,Spartein, wird bei Herzschwäche und organischen Herzfehlernwie Digitalis benutzt. S. junceum L. (Sparthiantus junceus Lk.,wohlriechende Pfriemen, Binsenpfriemen, spanischer Ginster), einhoher Strauch mit wenigen einfachen, sehr schmalen Blättern,gelben, wohlriechenden Blüten in schlaffer Ähre undlangen, schmalen Hülsen, in den Mittelmeerländern,liefert in den zähen, biegsamen Ästen Material zuFlechtwerk, außerdem Bastfasern zu Geweben. Als Zierstrauchhält er bei uns nur schwierig aus. Schon im Altertum wurdediese Pflanze zu Schiffsseilen, Decken, Schuhen benutzt, auch dieFaser zu Geweben verarbeitet.

Spartivénto, Kap (im Altertum Herculispromontorium), die Südspitze des italienischen Festlandes imIonischen Meer; zwischen hier und Melito landete Garibaldi 25. Aug.1862.

Sparto, s. Esparto.

Spasimo di Sicilia (ital.), die nach dem Kloster SantaMaria dello Spasimo in Palermo benannte, jetzt im Museum zu Madridbefindliche Kreuztragung Christi von Raffael (s. d., S. 551).

Spask, 1) Kreisstadt im russ. Gouvernement Rjäsan,am Spaskischen See im Thal der Oka, ein armer Ort mit (1885) 4383Einw. -

2) Kreisstadt im russ. Gouvernement Kasan, an der Besdna(Nebenfluß der Wolga), mit Getreidehandel und (1885) 3227Einw. -

3) Kreisstadt im russ. Gouvernement Tambow, am Stadenez, hateinige Fabrikthätigkeit, Handel mit Getreide, Hanf, Flachs,Leinsaat, Pottasche, Borsten, Wolle und Leder (nach Moskau, Rybinskund Rostow) und (1885) 5484 Einw.

Spasmus (griech.), Krampf; daher spasmodisch, spastisch,s. v. w. krampfhaft.

Spasowicz (spr. -witsch), Wladimir, poln.Litterarhistoriker, geb. 16. Jan. 1829 zu Rzeczyca (GouvernementMinsk), studierte in Petersburg die Rechte, war bis 1862 Professordes Strafrechts an der dortigen Universität, dann Dozent ander Rechtsschule daselbst. Infolge seines "Lehrbuchs desKriminalrechts" (Petersb. 1863, russ.) verlor er jedoch dieseStelle und wirkt seit 1866 als namhafter Advokat in Petersburg,besonders bekannt durch sein Auftreten als Verteidiger in denHochverrats- und Nihilistenprozessen. S. ist seit 1876 Herausgeberder in Warschau erscheinenden Monatsschrift "Ateneum",verfaßte in der "Geschichte der slawischen Litteraturen" vonPipin den die polnische Litteratur betreffenden Teil (deutsch,Leipz. 1883) und schrieb zahlreiche Monographien über diesesFach. S. gilt als das Haupt einer Partei, welche einepolnisch-russische Verständigung auf liberaler Grundlageanstrebt; dafür wirbt er namentlich, allerdings mit geringemErfolg, in der 1883 von ihm begründeten polnischenWochenschrift "Kraj", die in Petersburg erscheint.

Spat, alte bergmännische Bezeichnung fürMineralien mit deutlicher Spaltbarkeit.

Spat (Spath), chronische Gelenkentzündung mitKnochenauflagerung (Exostose, Spaterhöhung) an der innernSeite des Sprunggelenks und zwar an den beiden unternArtikulationen desselben. Bei vielen Pferden entsteht der S. alseine unbedeutende Abnormität, welche den Gebrauch nichtbeeinträchtigt. Oft aber bedingt derselbe eine Lahmheit, wobeider leidende Schenkel schneller und etwas zuckend gehoben, wenigerweit nach vorn und nicht so fest aufgesetzt wird. Dieser abnormeGang wird bei fortgesetzter Bewegung weniger merklich, tritt aber,nachdem das Pferd einige Zeit ruhig gestanden, sofort wiederhervor. Nach und nach steigert sich das Lahmgehen, das Tier trittbei beginnender Bewegung nur mit der Spitze des Hufs auf und hinktoft die ersten Schritte auf drei Beinen. Manchmal läßtdieses Lahmgehen nach Jahresfrist von selbst nach und hörtwohl auch ganz auf, doch nicht, ohne eine gewisse Steifigkeit imSprunggelenk zu hinterlassen. Der Knochenauswuchs entwickelt sichzuweilen erst einige Wochen nach Beginn des Lahmgehens. An derinnern Sprunggelenkfläche, nahe dem Schienbein, als kleine,kaum bemerkbare Erhöhung sitzend, nimmt er nach und nach anUmfang und Höhe zu, und zwar fühlt er sich, als mit demKnochen in Verbindung stehend, hart an. Bei einigen Pferden beginntder S. mit einer intensiven Entzündung der Gelenkkapsel, sodaß die Tiere eine Zeitlang noch keine Spaterhöhung,wohl aber die Symptome der Spatlahmheit bekunden (unsichtbarer S.).Bei längerer Dauer des Lahmgehens tritt oben am Schenkel inder Regel Schwund ein. Der S. entwickelt sich vorzugsweise beijungen Tieren zwischen dem 3. und 6. Jahr, selten später, undzwar besonders infolge von übermäßigenAnstrengungen. Schwäche der Sprunggelenke disponiert dazu.Vollständige Heilung ist insofern nicht möglich, als sichdie zerstörte Gelenkfläche nicht wiederherstellen und dievorhandene Knochenauflagerung nicht beseitigen läßt. Nurdem Lahmgehen kann abgeholfen werden und zwar durch Anwendung einesscharfen Pflasters oder des Brenneisens, vorzugsweise aber durchdie Operation des Spatschnitts; nach jeder Behandlung muß demTier ununterbrochene mehrwöchentliche Ruhe gegönntwerden. Vgl. Dieckerhoff, Pathologie und Therapie des S. (Berl.1875).

Spataugenkalk, s. Kreideformation, S. 183.

Spateisenstein (Eisenspat, Siderit, vulgär:Stahlstein, Flinz), Mineral aus der Ordnung der Carbonate,kristallisiert rhomboedrisch, oft mit sattelförmig oderlinsenartig gekrümmten Flächen (s. Tafel "Mineralien undGesteine", Fig. 3), findet sich häufig derb in klein- undgroßkörnigen Aggregaten, selten in kleintraubigen undnierenförmigen Gestalten (Sphärosiderit), häufig indichten und feinkörnigen, thonhaltigen Varietäten, welcheteils in runden oder ellipsoidischen Nieren, teils in stetigfortsetzenden Lagen und zuweilen rogensteinähnlich ausgebildetsind (thoniger Sphärosiderit). Er ist durchscheinend,gelblichgrau bis erbsengelb, mit Glas- bis Perlmutterglanz,während die Zersetzung, namentlich die sehr gewöhnlicheUmwandlung in Brauneisenstein, dunklere Farbennüancen undUndurchsichtigkeit erzeugt

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Spatel - Specht.

(Blau-, Braunerz). Härte 3,5-4,5, spez. Gew. 3,7-3,9. S.ist wesentlich kohlensaures Eisenoxydul FeCO3 mit 48,3 Proz. Eisen,enthält aber ganz gewöhnlich Mangan, Magnesium, Calciumund Zink nicht sowohl als Verunreinigungen wie als isomorpheBeimischungen, durch welche Übergänge zu den mit S.isomorphen Mineralspezies Manganspat, Magnesit, Kalkspat undZinkspat gebildet werden. Solche Mittelspezies sind: Oligonspat(mit bis 20 Proz. Mangan), Sideroplesit (mit 6-7 Proz. Magnesium),Pistomesit (mit 12 Proz. Magnesium), Zinkeisenspat (mit 14-20 Proz.Zink). Kommt im thonigen Sphärosiderit außer Thon nochKohle hinzu (Kohleneisenstein, Blackband der Engländer), soentstehen schwarze, glanzlose, gewöhnlich dickschieferigeMassen mit 35-78 Proz. Eisencarbonat. Der Verwitterung zuEisenhydroxyd ist der S. so leicht ausgesetzt, daßgewiß viele Brauneisensteine auf diesem Weg entstanden sind,wie denn sehr häufig das Ausgehende vonSpateisensteingängen als den Atmosphärilienzugänglich in Brauneisenstein umgewandelt ist. S. bildetGänge, Nester und Lager in verschiedenen Formationen; der(echte) Sphärosiderit tritt als Zersetzungsprodukt inHohlräumen basaltischer Gesteine, der thonige S. inFlözen, meist der Steinkohlenformation, dem Rotliegenden oderder Braunkohlenformation angehörig, auf. Hauptfundortefür kristallisierten und derben S. sind: Lobenstein imReußischen, Freiberg in Sachsen, Klausthal am Harz,Müsen bei Siegen, Eisenerz in Steiermark, Hüttenberg inKärnten; des Sphärosiderits: Steinheim bei Hanau undDransberg bei Göttingen; des thonigen Spateisensteins und desKohleneisensteins: Westfalen, Banat, England und Schottland. AlleVarietäten des Spateisensteins (mit Ausnahme des nur inkleinen Mengen vorkommenden echten Sphärosiderits) sindhöchst wichtige Eisenerze; sie sind das Haupterz inSteiermark, bei Müsen etc.; thonige Sphärosiderite undnamentlich Kohleneisensteine, für welche die engeVerknüpfung mit dem zur metallurgischen Verwendung notwendigenBrennmaterial besonders günstig ins Gewicht fällt, werdenin Westfalen, Belgien, England, Schottland verhüttet.

Spatel (Spachtel, franz. Amassette), ein kleiner Spaten;ein messerklingenartiges, vorn abgestumpftes Werkzeug zumUmrühren von Flüssigkeiten, zum Streichen von Pflastern,zum Verkitten von Fugen etc.; auch Malerinstrument, womit dieFarben auf dem Mahlstein oder auf der Palette zusammengescharrt undgemischt, auch bisweilen zur Erzielung einer pastosen Wirkungdirekt auf die Leinwand aufgetragen werden.

Spatenkultur, die Bearbeitung des Bodens mit dem Spaten,der Grabgabel oder Haue, besonders gebräuchlich im Garten,aber auch auf dem Acker (Feldgärtnerei), wo sie höhernErtrag gewährt als die Bearbeitung mit dem Pflug, aber auchmehr Zeit und Kraft in Anspruch nimmt und daher nur da vorteilhaftist, wo der Bauer mit seiner Familie die Feldarbeit allein zubewältigen vermag, bei großer Ertragsfähigkeit desBodens oder bei hohem Preis der Bodenprodukte. Ingrößern Wirtschaften wird S. nur ausnahmsweise, z. B.beim Möhrenbau, angewandt.

Spatenrecht (Spaderecht, Spatelandsrecht, Jusligonarium), s. Deich, S. 622.

Spätgang, der Gang des Wildes gegen Morgen überden gefallenen Tau.

Spätgeburt, eine Geburt, resp. ein Kind, welchesnach dem Ablauf der gewöhnlichen Schwangerschaftsdauer, d. h.nach 280 Tagen, vom Tag der Befruchtung an gerechnet, geboren wird.Nach den vorliegenden Beobachtungen kann die S. bis vier Wochennach dem normalen Termin erfolgen, ist jedoch ziemlich selten. DieS. gilt im Todesfall des Erzeugers unter Umständen nachrömischem Recht nicht als ehelich; doch ist diese Regel nureine Praesumtio juris und läßt Gegenbeweis zu, der durchärztliches Gutachten zu begründen sein wird.

Spatha (griech.), s. v. w. Blütenscheide, s.Blütenstand, S. 79.

Spatha (lat.), eine Art Schwert (s. d.).

Spatium (lat.), Raum, Zwischenraum; auch s. v. w. Frist,z. B. S. deliberandi, Bedenkzeit. In der Buchdruckerei heißenSpatien die feinsten Ausschließungen (s. Buchdruckerkunst, S.558); in der Musik der Raum zwischen den einzelnen Linien desNotenliniensystems.

Spatula, s. Enten, S.671.

Spatz, s. Sperling.

Spavénta, Bertrando, ital. Philosoph, geb. 1817 ineinem Dorf der Provinz Chieti, widmete sich mit Eifer dem Studiumder deutschen Sprache und Philosophie, wurde 1859 zum Professor derPhilosophie an der Universität zu Modena, 1860 an der zuBologna ernannt und trat zuerst hervor mit der Schrift "Lafilosofia di Kant e la sua relazione colla filosofia italiana"(Turin 1860), in welcher er den Nachweis zu führen suchte,daß Rosmini trotz seiner polemischen Stellung zu Kant doch imWesen seiner Spekulation und in deren Ergebnissen mit demKritizismus des deutschen Philosophen zusammenhänge. Nachdemer noch "Carattere e sviluppo della filosofia italiana" (Mod. 1860)veröffentlicht, erhielt er 1861 eine Professur der Philosophiezu Neapel, die er noch heute bekleidet. Sein energisches Eintretenfür die deutsche Philosophie und die Kritik, die er an denphilosophischen Systemen seiner eignen Nation übte, hatten ihmnamentlich in orthodoxen Kreisen zahlreiche Gegner erweckt. Erantwortete diesen in einer Einleitung, die er seinenöffentlichen Vorträgen in Neapel vorausschickte und dieer dann auch 1862 im Druck veröffentlichte. Bald danacherschien sein Hauptwerk: "La filosofia di Gioberti" (Neap. 1863).Hierauf folgten die kleinern Abhandlungen: "Le prime categoriedella logica di Hegel" (Neap. 1864); "Spazio e tempo nella primaforma del sistema di Gioberti" (das. 1865); "Il concetto dell'opposizione e lo Spinozismo" (das. 1867); "La scolastica eCartesio" (das. 1867); "Saggi di critica filosofia, politica ereligiosa" (Studien über Giordano Bruno, Campanella, Mamianietc., das. 1867). Spaventas eignes System ("Principj di filosofia",Neap. 1867) steht im wesentlichen auf dem Standpunkt Hegels, dessenentschiedenster Vorkämpfer in Italien er mit Augusto Vera bisheute geblieben ist. Er veröffentlichte noch: "Paolottismo,positivismo, razionalismo" (Bolog. 1868); "Studî sull' eticadi Hegel" (Neap. 1869); "Idealismo o realismo" (das. 1874); "Lalegge del più forte" (das. 1874). Viermal wurde S. insitalienische Parlament gewählt. Vgl. Siciliani, Gli Hegelianiin Italia (Bolog. 1868). -

Sein Bruder Silvio, eine Zeitlang Minister der öffentlichenArbeiten des Königreichs Italien, beschäftigte sichebenfalls mit deutscher Philosophie.

Speaker (engl., spr. spih-), Sprecher, im englischenParlament Vorsitzender des Unterhauses.

Specht, Friedrich August Karl von,Militärschriftsteller, geb. 23. Sept. 1802 zu Brandenburg,trat nach sehr ungenügender Erziehung mit 14 Jahren in denkurhessischen Militärdienst, wurde 1822 Leutnant, kam 1847 alsHauptmann in den General-

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Spechte - Spechter.

stab, machte 1849 den Feldzug gegen Dänemark mit und wurdenach Beendigung desselben zum Oberstleutnant, 1854 zum Generalmajorbefördert. Infolge einer Duellaffaire mit dem General v.Haynau 1863 wurde S. als Kommandant nach Fulda versetzt. 1866 zurDisposition gestellt, lebte er bis 1872 in Marburg und Eisenach, woer 12. Juli 1879 starb. Er galt als Hauptvertreter der liberalenPartei in Hessen, gehörte auch 1850 zu den verfassungstreuenOffizieren und forderte damals seinen Abschied. Er schrieb: "DasKönigreich Westfalen und seine Armee im Jahr 1813 sowie dieAuflösung desselben durch den russischen General Czernicheff"(Kass. 1848); "Geschichte der Waffen" (Berl. 1868-77, 3 Bde.; Bd. 4u. 5 noch unvollendet); "Das Festland Asien-Europa und seineVölkerstämme, deren Verbreitung, der Gang ihrerKulturentwickelung mit besonderer Berücksichtigung derreligiösen Ideen" (das. 1879).

Spechte (Picidae), Familie aus der Ordnung derKlettervögel, gestreckt gebaute Vögel mit starkem,geradem, meißelförmig zugeschärftem, auf demRücken scharfkantigem Schnabel, welcher meist so lang oderlänger als der Kopf ist, dünner, langer, platter,horniger, weit vorstreckbarer Zunge mit kurzen Widerhaken am Ende,mittellangen, etwas abgerundeten Flügeln, unter derenSchwingen die dritte und vierte am längsten sind,keilförmigem Schwanz, dessen Steuerfedern steife, spitzeSchaftenden besitzen, kurzen, starken Füßen mit langen,paarig gestellten Zehen und großen, starken, scharfen,halbmondförmigen Nägeln. S. sind mit Ausnahme Neuhollandsüber alle Erdteile verbreitet. Sie leben ungesellig inWäldern, Baumpflanzungen und Gärten, scharen sich nurausnahmsweise, besonders in der Strich- und Wanderzeit, zu starkenGesellschaften, vereinigen sich aber bisweilen mit kleinenStrichvögeln, denen sie zu Führern werden. Sie bewegensich fast nur kletternd, hüpfen auf dem Boden ungeschickt undfliegen ungern weit. Sie suchen ihre Nahrung, diehauptsächlich aus Kerbtieren besteht, hinter Baumrinde, welchesie, an den Bäumen aufwärts kletternd, mit dem Schnabelabmeißeln. Einige fressen auch Beeren und Sämereien undlegen selbst Vorratskammern an. Die Stimme ist ein kurzer,wohllautender Ruf; mit dem Schnabel bringen sie außerdem einim Wald weithin schallendes Knarren hervor, vielleicht um Kerbtiereaufzuscheuchen und hervorzulocken, vielleicht als Herausforderungzu Kampf und Streit. Sie nisten stets in selbstgezimmerten, nur miteinigen Spänen ausgekleideten Baumhöhlen und legen 3-8weiße Eier, welche von beiden Geschlechtern ausgebrütetwerden. Die S. gehören durch Vertilgung schädlicherInsekten, und indem sie in morschen Bäumen Höhlungen alsNiststätten für Höhlenbrüter erzeugen, zu dennützlichsten Waldvögeln. Sie wählen zur Herstellungdes Brutraums regelmäßig nur Bäume mit morschemKern, fressen freilich Waldsämereien, Ameisen, auch wohlBienen und berauben bisweilen junge Stämmchen ringsum derRinde; doch kommt dies gegenüber dem großen Nutzen,welchen sie gewähren, kaum oder nur unter besondernVerhältnissen in Betracht.

Der Schwarzspecht (Luderspecht, Holz-, Hohlkrähe,Tannenroller, Dryocopus martius Boie), 50 cm lang, 75 cm breit,mattschwarz, am Oberkopf (Männchen) oder Hinterkopf (Weibchen)rot, mit gelben Augen, hellgrauem Schnabel und grauenFüßen, findet sich in Mittel- und Nordeuropa und in ganzAsien südlich bis zum Himalaja in großen Waldungen,weniger in gut geordneten Forsten, als Standvogel, ist bei unsselten geworden und meidet die Nähe menschlicher Wohnungen. Erist sehr munter und gewandt, fliegt besser als die andern Arten,nährt sich besonders von Roßameisen und ihren Puppensowie von allen Larven, die im Nadelholz leben, und meißelt,um diese zu erlangen, oft große Stücke aus denBäumen und Stöcken heraus. Die Bruthöhle wird meistin Buchen und Kiefern angelegt und ist etwa 40 cm tief bei 15 cmDurchmesser; im April legt das Weibchen 3-5 porzellanweißeEier, s. Tafel "Eier I".

Der Buntspecht (Rot-, Schildspecht, Dendrocopus major Koch, s.Tafel "Klettervögel"), 25 cm lang, 48 cm breit, ist oberseitsschwarz, unterseits gelbgrau, mit gelblichem Stirnband,weißen Wangen, Halsstreifen, Schulterflecken undFlügelbändern, schwarzen Streifen an der Halsseite, amHinterkopf und Unterbauch rot; die Augen sind braunrot, Schnabelund Füße grau. Er findet sich in Europa und Nordasien,besonders in Kiefernwäldern, erscheint im Herbst und Winter inden Gärten und streift dann auch mit Meisen und andernVögeln umher; er nährt sich von allerlei Kerbtieren,besonders von den unter der Rinde der Nadelhölzer lebendenKäfern, von Nüssen und Beeren, namentlich auch vonFichten- und Kiefernsamen, zu dessen Gewinnung er oft in einen Astein Loch hackt, um den Zapfen darin festzuklemmen. Zur Anlegungseiner Bruthöhle bevorzugt er weiche Holzarten, doch beginnter viele Höhlungen auszuarbeiten, bevor er eine einzigevollendet. Er legt 4-6 weiße Eier. In der Gefangenschaft ister sehr unterhaltend und gewöhnt sich bald an einErsatzfutter.

In den Laubwaldungen der Ebene gesellt sich zu ihm der etwaskleinere Mittelspecht (Dendrocopus medius Koch), welcher fastausschließlich von Kerbtieren lebt, und ebendaselbst findetsich auch der Kleinspecht (Grasspecht, Sperlingsspecht, Piculusminor Koch) von nur 16 cm Länge, welcher wohlausschließlich Kerbtiere frißt und am liebsten inWeiden brütet. In der Gefangenschaft ist auch er sehrunterhaltend.

Der Grünspecht (Grasspecht, Picus viridis L.), 31 cm lang,52 cm breit, ist auf der Oberseite hochgrün, auf derUnterseite hell graugrün, im Gesicht schwarz mit rotem(Männchen) Wangenfleck, am Oberkopf und Nacken rot, amBürzel gelb, Ohrgegend, Kinn und Kehle weißlich, dieSchwingen sind braunschwarz, gelblich oder bräunlichweißgefleckt, die Steuerfedern grüngrau, schwärzlichgebändert; die Augen sind bläulichweiß, Schnabelund Füße bleigrau. Er bewohnt Europa und Vorderasien,bevorzugt Gegenden, in denen Baumpflanzungen mit freien Streckenwechseln, schweift im Winter weit umher, erscheint auch oft inGärten, bewegt sich mehr und geschickter als die andern S. amBoden, hämmert weniger an Bäumen als die andern S., suchtviele Würmer und Larven auf dem Boden, bevorzugt die roteAmeise, plündert Bienenstöcke, frißt auch zuweilenVogelbeeren. Er legt 6-8 weiße Eier (s. Abbildung auf Tafel"Eier I", Fig. 3 u. 4). In der Gefangenschaft ist erstürmisch, unbändig und schwer zu erhalten. Vgl.Malherbe, Monographie des Picides (Par. 1859, 4 Bde.); Sundevall,Conspectus avium Picinarum (Stockh. 1866); Altum, Unsre S. und ihreforstliche Bedeutung (Berl. 1878); Homeyer, Die S. und ihr Wert inforstlicher Beziehung (2. Aufl., Frankf. 1879).

Spechter, altdeutsches Trinkgefäß von hoher,cylindrischer Form aus grünem Glas, mit und ohne Fuß.Ursprünglich glatt und mit farbiger Emailmalerei verziert,wurden die S. auch in eiserne Modelle geblasen, wodurch sie mitparallelen oder spiralförmigen Streifen gerieft wurden oderauch vier-

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Spechthausen - Speckstein.

eckige, in Reihen angeordnete Erhöhungen erhielten (s.Abbildung). Erst später wurden Buckel und Knöpfeangeschmelzt.

[Spechter.]

Spechthausen, Fabrikort im preuß. RegierungsbezirkPotsdam, Kreis Oberbarnim, südwestlich von Eberswalde, hateine Papierfabrik, in welcher der größte Teil derdeutschen Staatspapiere angefertigt wird, u. (1885) 275 Einw.

Spechtmeise, s. Kleiber.

Spechtwurzel, s. Dictamnus.

Special, Species (lat.), s. Spezial, Spezies.

Species facti (lat., Thatbericht), Erzählung desThatbestandes bei einem Rechtsfall, namentlich der bei einermilitärgerichtlichen Untersuchung von dem mit Strafgewaltausgestatteten Vorgesetzten des Angeschuldigten an denGerichtsherrn erstattete Bericht, welcher die dabei in Betrachtkommenden Thatumstände darlegt.

Specifica (lat.), s. Spezifische Arzneimittel.

Specimen (lat.), Probe, Probearbeit.

Speck (Lardum), das feste und derbe Fett, welches sichzwischen der Haut und dem Fleisch mancher Tiere, namentlich derSchweine (im geräucherten Zustand wichtiger Handelsartikel),dann auch der Robben und Walfische (dient zur Darstellung vonThran) ansetzt.

Speckbacher, einer der Anführer des TirolerAufstandes von 1809, geb. 13. Juli 1767 auf dem Hof Gnadenwald,zwischen Innsbruck und Hall, verbrachte seine Jugend teils alsWildschütz, teils als Landwirt und kämpfte schon 1797,1800 und 1805 gegen die Franzosen; vom Gut seiner Frau hießer der "Mann vom Rinn". Einer der Vertrauten des Sandwirts Hofer,überfiel er 12. April 1809, am Tag des Ausbruchs derInsurrektion, die bayrische Garnison zu Hall, nahm mit dem dortigenKronenwirt Joseph Straub die von Innsbruck entkommene bayrischeKavallerie gefangen, focht hierauf in den Treffen vom 25. und 29.Mai, welche Tirol zum zweitenmal befreiten, bei der Blockade vonKufstein in den Treffen vom 4., 6. und 7. Aug., einenzehnjährigen Sohn an der Seite, und in der Schlacht am Isel13. Aug., nach welcher der Marschall Lefebvre Tirol räumenmußte. Nachdem sich auch das Salzburger Gebirgsland erhoben,errang S. im September bei Lofer und Luftenstein bedeutendeVorteile, ward aber l6. Okt. bei Melleck geschlagen, wobei seinSohn in Gefangenschaft fiel. S. floh darauf von Alp zu Alp, verbargsich eine Zeitlang unter Schnee und Eis in einer Höhle und wardann sieben Wochen lang in seinem eignen Stall verborgen, bis erendlich im Mai 1810 über die Gebirge nach Wien gelangte. Hiererhielt er die Pension eines Obersten und den Auftrag, die fürdie Tiroler im Temesvárer Banat neugestiftete KolonieKönigsgnad einzurichten, die aber bald bei der Ungunst derVerhältnisse ein klägliches Ende nahm. Nach dem Ausbruchdes Kriegs von 1813 wagte er sich wieder nach Tirol und leistetehier, obwohl es zu keiner entscheidenden Waffenthat kam, trefflicheDienste. Dafür zum Major ernannt, starb er 28. März 1820in Hall und ward 1858 in der Innsbrucker Hofkirche neben Hofer undHaspinger beigesetzt. Vgl. Mayr, Der Mann vom Rinn und dieKriegsereignisse in Tirol (Innsbr. 1851); Knauth, Jos. S., derJugend erzählt (Langensalza 1868).

Speckentartung, s. Amyloidentartung.

Speckkäfer (Dermestini Latr.), Käferfamilie ausder Gruppe der Pentameren, kleine Käfer von länglich oderkurz ovalem Körper mit kurzen, zurückziehbaren, gekeultenFühlern, gesenktem, mehr oder weniger einziehbarem Kopf, meisteinem einzelnen Stirnauge und kurzen, einziehbaren Beinen, lebenauf Blüten oder in morschen Bäumen, die meisten aber antoten Tierstoffen, welche von den Larven benagt werden. Man trifftsie daher besonders in naturhistorischen Sammlungen und Pelzlagern,wo sie oft großen Schaden anrichten. Beim Angreifen stellensie sich durch Anziehen der Beine und Fühler tot. Die Larvensind langgestreckt, cylindrisch oder breit gedrückt, an derOberfläche mit langen, aufgerichteten, nach hintengewöhnlich zu dichten Büscheln vereinigten Haarenbesetzt, mit kurzen Fühlern, meist sechs Nebenaugen und kurzenBeinen, nähren sich von abgestorbenen tierischen Stoffen; beider Verpuppung platzt ihre Haut nur auf dem Rücken und bleibtals Puppenhülse bestehen. Der S. (Dermestes lardarius L.), 7,6mm lang, schwarz, auf den Flügeldecken mit breiter,hellbrauner, schwarz gepunkteter Querbinde, überall inHäusern, auf Taubenschlägen, in Sammlungen und im Freienan Aas. Ebendaselbst findet sich seine unterseits weiße,oberseits braune Larve. Der Pelzkäfer (Attagenus pellio L.),4-5 mm lang, schwarz oder pechbraun, oberhalb schwarz behaart, mitje einem weißhaarigen Punkt auf den Flügeldecken, findetsich in Blüten des Weißdorns, der Doldenpflanzen etc.,auch in Häusern, wo die Larve besonders Pelz- undPolsterwaren, wollene Teppiche etc. zerstört. In Sammlungenhausen am schlimmsten die Larven des Kabinettkäfers (Anthrenusmuseorum L), 2,5 mm lang, dunkelbraun, mit drei undeutlichen,graugelben Flügelbinden, und des A. varius Fab., gelb, mitdrei weißlichen Wellenbinden. Der Himbeerkäfer (Byturustomentosus L.), 4 mm lang, durch dicht anliegende Behaarunggelbgrau, an Fühlern und Beinen rotgelb, legt seine Eier anunreife Himbeeren, in welchen sich die dunkelgelbe, auf demRücken braungelbe, am Hinterleibsende in zwei nach obengekrümmte, braunrote Dornspitzchen auslaufende Larve(Himbeermade) entwickelt. Sie verpuppt sich in Holzritzen in einerelliptischen Hülle, und die Puppe überwintert.

Speckkrankheit, s. v. w. Amyloidentartung.

Speckleber, s. Leberkrankheiten, S. 599.

Speckmaus, s. v. w. gemeine Ohrenfledermaus.

Speckmelde, s. Mercurialis.

Speckmilz, s. Milzkrankheiten.

Specköl, s. v. w. Schmalzöl, s. Schmalz.

Speckstein (Steatit, Schmeerstein), Mineral aus derOrdnung der Silikate (Talkgruppe), bildet diekryptokristallinischen Varietäten des Talks (s. d.). Was alssogen. Specksteinkristalle beschrieben worden ist, sindAfterkristalle nach Quarz, Dolomit, Spinell etc. Der S. findet sichderb, eingesprengt, die nierenförmigen oder knolligen Massensind weiß mit rötlichen, grünlichen und gelblichenNüancen, matt, nur im Striche glänzend, an den Kantendurchscheinend. Er fühlt sich fettig an, hängt aber nichtan der Zunge. Die geringe Härte (1,5) des ungeglühtenMaterials steigert sich nach dem Glühen bis zu derFähigkeit, Glas zu ritzen. Spez. Gew. 2,6-2,8. S. ist einMagnesiumsilikat H2Mg3Si4O12. Er bildet bei Göpfersgrünunweit Wunsiedel im Fichtelgebirge ein Lager zwischenGlimmerschiefer und Granit, welche Gesteine sich an der Grenzegegen den S. in einer eigentümlichen halben Umwandlung zu S.befinden, die theoretisch ebenso schwierig zu erklären ist wiedie

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Speckter - Spee.

Entstehung der meisten der oben erwähnten Pseudomorphosen.Außerdem findet sich S. bei Lowell in Massachusetts und beiBriançon. S. ist schneidbar und wird auf der Drehbank zuPfeifenköpfen, säurefesten Stöpseln etc.verarbeitet. Er dient auch zum Zeichnen auf Tuch, Seide und Glas(spanische, Briançoner, venezianische, Schneiderkreide), zumEntfetten von Zeugen, zur Darstellung von Schminke, alsPoliermaterial für Spiegel, als Einstreupulver in Stiefel undHandschuhe, als Schmiermittel von Maschinenteilen, als Zusatz zurPorzellanmasse und Seife, gebrannter S. zu Lavagasbrennern und zuWasserleitungsröhren. Abfall von der Verarbeitung wird zuGabbromasse benutzt. Chinesischer S., s. Agalmatolith.

Speckter, 1) Erwin, Maler, geb. 18. Juli 1806 zu Hamburg,bildete sich in München unter Cornelius und widmete sich seit1824 in Italien vorzugsweise der religiösen Malerei. Dochmalte er auch Landschaften mit Staffa*ge und Architekturen undhinterließ eine bedeutende Anzahl von Zeichnungen. Er starb23. Nov. 1835. Aus seinem Nachlaß erschienen die "Briefeeines deutschen Künstlers aus Italien" (Leipz. 1846, 2Bde.).

2) Otto, Zeichner und Radierer, Bruder des vorigen, geb. 9. Nov.1807 zu Hamburg, machte sich zuerst durch Lithographien (unterandern den Einzug Christi von Overbeck) bekannt und widmete sichdann der Illustration von Büchern durch Arabesken, Vignettenund Figurenbilder. So illustrierte er: Luthers "KleinenKatechismus"; Böttigers "Pilgerfahrt der Blumengeister"; Kl.Groths "Quickborn"; Eberhards "Hannchen und die Küchlein";Reuters "Hanne Nüte"; den "Gestiefelten Kater" u. a. Diegrößte Verbreitung fanden seine Bilder zu Heys "50Fabeln für Kinder". Er starb 29. April 1871 in Hamburg.

Spectator (lat., auch engl., spr. specktéhter,"Zuschauer"), Titel einer berühmten von Addison (s. d.)herausgegebenen Wochenschrift.

Speculum (lat.), Spiegel; in der Chirurgie meiströhrenförmiges, vorn oder seitlich offenes Instrument,welches in Körperhöhlen eingeführt wird, um tiefereTeile der Besichtigung und Behandlung zugänglich zu machen, z.B. der Mutterspiegel, Ohren-, Kehlkopfspiegel etc.

Spedition (ital. Spedizione. franz. Expedition),Beförderung von Waren, die nicht direkt an ihrenBestimmungsort verladen werden; dann überhaupt dieÜbernahme und Ausführung von Aufträgen zur Besorgungder Versendung von Gütern; Speditionshandel, dergewerbsmäßige Betrieb solcher Geschäfte. Einderartiger Gewerbebetrieb heißt Speditionsgeschäft; dochwird der letztere Ausdruck auch für den einzelnen Vertraggebraucht, welchen jemand gewerbsmäßig abschließt,um im eignen Namen für fremde Rechnung Güterversendungdurch Frachtführer (Eisenbahnen, Fuhrleute, Lastboten,Flußschiffer, Fährenbesitzer etc.) oder Schiffer, d. h.Seeschiffsführer, ausführen zu lassen. WerSpeditionsgeschäfte gewerbsmäßig ausführt,heißt Spediteur (franz. expéditeur, entrepreneur,commissionnaire pour le transport). Derselbe haftet für jedenSchaden, welcher aus der Vernachlässigung der Sorgfalt einesordentlichen Kaufmanns bei der Empfangnahme und Aufbewahrung desGutes, bei der Wahl der Frachtführer, Schiffer oderZwischenspediteure und überhaupt bei der Ausführung dervon ihm übernommenen Versendung der Güter entsteht. Erhat nötigen Falls die Anwendung dieser Sorgfalt zu beweisen.Das französische Recht läßt ihn sogar unbedingt bisan die Grenze der "höhern Gewalt" (s. d.) haften. Dagegen hater eine Provision (Speditionsprovision, Speditionsgebühren,Spesen) sowie die Erstattung dessen zu fordern, was er an Auslagenund Kosten oder überhaupt zum Zweck der Versendung alsnotwendig oder nützlich aufgewendet hat. Wegen dieserForderungen sowie wegen der dem Versender auf das Gut geleistetenVorschusse hat er ein Pfandrecht an dem Gut, sofern er dasselbenoch in seinem Gewahrsam hat oder in der Lage ist, darüber zuverfügen. Geht das Speditionsgut durch die Hände mehrererSpediteure (Zwischenspediteure), um an denauftragsmäßigen Bestimmungsort zu gelangen, so hat dernachfolgende Spediteur das Pfandrecht nicht bloß für diebei ihm erwachsenen, sondern auch für die bei demvorausgehenden Spediteur bereits entstandenen Kosten geltend zumachen. Dem letzten Spediteur (Abrollspediteur) liegt daher dieGeltendmachung des Pfandrechts im Interesse aller Kosten ob, diebei sämtlichen Spediteuren entstanden, welche mit demSpeditionsgut befaßt worden sind. Der Spediteur kannübrigens den Transport des Gutes auch selbst übernehmen,selbst ausführen oder durch seine Angestellten ausführenlassen, wofern ihm dies vertragsmäßig nichtausdrücklich untersagt ist. Das Speditionsgeschäft,welches sonst mit dem Kommissionsgeschäft (s. d.) verwandtist, geht alsdann in das Frachtgeschäft über, und derSpediteur kann neben den Speditionskosten auch die Fracht in Ansatzbringen. Vgl. Deutsches Handelsgesetzbuch, Art. 379 bis 389; Codede commerce, Art. 96-102.

Spee, Friedrich von, Dichter, aus dem adligen Geschlechtder S. von Langenfeld, geb. 22. Febr. 1591 zu Kaiserswerth amRhein, wurde im Jesuitengymnasium zu Köln erzogen, trat 1610selbst in den Jesuitenorden und lehrte dann mehrere Jahre hindurchin Köln schöne Wissenschaften, Philosophie undMoraltheologie. Im Auftrag seines Ordens ging er 1627 nach Franken,wo er die Obliegenheit hatte, die zum Tod verurteiltenvermeintlichen Hexen und Zauberer auf dem letzten Gang zubegleiten. Aus den tief erschütternden Erkenntnissen diesesBerufs, die sein Haar ergrauen machten, erwuchs seine Schrift"Cautio criminalis s. Liber de processu contra sagas" (Rinteln 1631u. öfter, auch ins Holländische und Französischeübersetzt), worin er zuerst den Hexenwahn im katholischenDeutschland mutvoll und nachdrücklich bekämpfte.Später wurde S. nach Westfalen gesendet, um hier dieGegenreformation durchzuführen. Sein Wirken war erfolgreich,aber für ihn selbst unheilvoll: es wurde ein Mordanfall aufihn gemacht, der ihn elf Wochen in Hildesheim ans Krankenbettfesselte. 1631 nach Köln zurückberufen, war er wieder alsProfessor der Moraltheologie thätig und kam zuletzt nachTrier, wo er an einem Fieber, das er sich im Lazarett bei derPflege der Kranken zugezogen, 7. Aug. 1635 starb. Seine erst nachseinem Tod erschienene Sammlung geistlicher Lieder:"Trutz-Nachtigall" (Köln 1649; neue Ausgabe von Brentano,Berl. 1817; von Balke, Leipz. 1879; von Simrock, Heilbr. 1875)gehört trotz mannigfaltiger Nachahmung der manieristischenItaliener, die der Zeit eigentümlich war, nach Inhalt und Formzu den besten Leistungen der deutschen Litteratur des 17. Jahrh.und atmet die milde, schlichte Frömmigkeit und Innigkeit desDichters. Weniger bedeutend ist sein in Prosa geschriebenes, abermit schönen Liedern durchwebtes "Güldenes Tugendbuch"(Köln 1647; neue Ausg., Freiburg 1887). Vgl. Diel, F. v. S.(Freiburg 1872).

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Speech - Speichern.

Speech (engl., spr. spihtsch), Sprache, Rede.

Speed (engl., spr. spihd'), Geschwindigkeit, z. B. einesEisenbahnzugs, eines Pferdes etc.

Speer, Urwaffe der Germanen, symbolisch das Zeichen derMacht, aus welchem das Zepter hervorging. Der S. diente zumStoß, vorzugsweise zum Wurf (Wurfspeer) und bestand aus einerHolzstange mit 30-40 cm langer, breiter, zweischneidigerEisenspitze. Um 600 n. Chr. wurde der S. Ger genannt und war auchWaffe der Reiter. Die langobardischen Reiter waren berühmteGerwerfer; das 841 bei Fontenay veranstaltete Speerrennen war derUrsprung der Hastiludien. Später entstanden aus dem S. derSpieß und die Pike (s. d.).

Speer, Berg, s. Appenzeller Alpen.

Speerfeier (Speerfreitag), s. Lanzenfest.

Speerkies, s. Markasit.

Speerreiter, s. Lanciers.

Speetonclay (spr. spiht'n-kleh). s. Kreideformation, S.183.

Speiche, Teil eines Rades, s. Rad; in der Anatomie einerder Unterarmknochen, s. Arm.

Speichel (Saliva), das Sekret der Speicheldrüsen (s.d.). Der S. reagiert alkalisch und enthält durchschnittlich0,5 Proz. feste Bestandteile. Unter den letztern sindhervorzuheben: Mucin, Eiweißstoffe und ein diastatischesFerment, das Ptyalin (Speichelstoff), welches Stärkemehl inZucker überführt. Er ist in den Speicheldrüsen oderderen Ausführungsgängen nicht frei enthalten, sondernentsteht erst aus einer von den Speicheldrüsen geliefertenMuttersubstanz bei Zutritt der Luft. Die Speichelabsonderungerfolgt nur, wenn die an die Speicheldrüsen tretenden Faserndes sympathischen Nervs und des Angesichtsnervs direkt oderreflektorisch gereizt werden. Je nach den Drüsen, welche denS. liefern, unterscheidet man Parotidenspeichel,Submaxillarspeichel und Sublingualspeichel. In der Mundhöhlefindet sich ein Gemisch dieser verschiedenen Speichelarten mitMundschleim vor; es wird als gemischter S. bezeichnet. Mit derSpeichelbildung gehen morphologische Veränderungen derDrüsenzellen Hand in Hand; weiter ist mit ihr eine sobedeutende Wärmebildung verknüpft, daß das mitgroßer Heftigkeit der Drüse entströmendevenöse Blut nicht selten um 1-1,5°C. wärmer ist alsdas Karotidenblut. Die in 24 Stunden abgesonderte Menge desSpeichels bei erwachsenen Menschen wird auf 1,5 kg geschätzt.Eine zeitweise verstärkte Sekretion wird meist aufreflektorischem Weg durch besondere Einflüsse hervorgerufen,zunächst als Folge von Reizungen der Geschmacksnerven durch indie Mundhöhle eingeführte Geschmacksstoffe, ferner alsFolge von Reizungen der Tastnerven der Mundhöhle, derGeruchsnerven und Magennerven. Auch beim Kauen und Sprechen sowiedurch die dem Brechakt vorausgehenden heftigen Bewegungen der Mund-und Schlundmuskeln wird die Speichelabsonderung vermehrt. Endlichgeschieht dies auch durch die Vorstellung von Speisen, besondersbei Hungernden, sowie krankhafterweise durch gewisse Arzneimitteletc. (s. Speichelfluß). Der S. löst die löslichenSubstanzen der Nahrungsmittel auf, mischt sich mit den trocknenSpeisen zu einem feuchten Brei und macht diese zum Abschlucken wiefür die Magenverdauung geeignet; endlich wirkt er durch seinenGehalt an Ptyalin verdauend auf die Kohlehydrate (s.Verdauung).

Speichelbefördernde Mittel (Ptyalagoga, Salivantia),Arzneimittel, welche eine vermehrte Speichelabsonderung bewirken.Hierher gehören die Quecksilberpräparate, Gold, Jod,Blei, Spießglanz, Kupfer, Arsenik, Chlormittel,Königswasser und vor allem das Pilokarpin (s. Pilocarpus).

Speicheldrüsen (Glandulae salivales), diedrüsigen Organe zur Absonderung des Speichels (s. d.), alsosowohl Bauch- als Mundspeicheldrüsen, im engern Sinngewöhnlich nur die letztern. Diese liegen durchaus nicht immerim oder am Mund, sondern bei niedern Tieren zuweilen weit nachhinten in der Brust, ergießen jedoch ihre Absonderung stetsin den Mund oder wenigstens in den Anfang der Speiseröhre.Manchmal sind sie zu mehreren Paaren vorhanden und haben dann auchwohl zum Teil die Bestimmung als Giftdrüsen. Bei denVögeln und Säugetieren kann man, abgesehen von derBauchspeicheldrüse (s. d.), fast allgemein drei Gruppen von S.unterscheiden: die Unterzungen-, Unterkiefer- undOhrspeicheldrüsen (s. d.). Doch fehlen sie den Walengänzlich, den Robben nahezu, sind dagegen bei Pflanzenfressernam stärksten entwickelt. S. auch Tafel "Mundhöhle etc.",Fig. 1.

Speicheldrüsenentzündung, s.Ohrspeicheldrüsenentzündung.

Speichelfluß (Salivatio, Ptyalismus), krankhaftvermehrte Absonderung des Speichels, kommt bei allenEntzündungszuständen der Mundschleimhaut in mehr oderminder hohem Grad vor, ferner bei Vorhandensein vonGeschwüren, namentlich Krebsen der Zunge und Wange, ganzbesonders aber nach übermäßiger Einführung vonQuecksilber in den Organismus. Am häufigsten werden solcheMenschen vom S. ergriffen, welche viel mitQuecksilberpräparaten umzugehen haben und in einer mitQuecksilberdämpfen geschwängerten Atmosphäre atmen(z. B. die Bergleute in Quecksilberminen, die Arbeiter inSpiegelfabriken). Auch die unvorsichtige undübermäßige Anwendung von Quecksilberpräparatenzu medizinischen Zwecken kann S. hervorrufen. S. wird fernererzeugt durch den Genuß einer Abkochung vonJaborandiblättern oder des in denselben enthaltenen AlkaloidsPilokarpin. S. wird herabgesetzt bei Entzündungs- undVerschwärungszuständen durch fleißigeAusspülung des Mundes mit desinfizierenden Wässern:Lösung von chlorsaurem und übermangansaurem Kali u.dgl.

Speichelstoff, s. Speichel.

Speichern (Spicheren), Pfarrdorf im deutschen BezirkLothringen, Kreis Forbach, hat 880 Einw. Hier fand 6. Aug. 1870eine Schlacht zwischen Deutschen und Franzosen statt. Nach demunbedeutenden Gefecht bei Saarbrücken 2. Aug. hatte das 2.französische Korps (Frossard) auf den Höhen von S.,südlich von Saarbrücken, ein Lager aufgeschlagen und dienatürliche Verteidigungsfähigkeit seiner Stellung nochdurch Schützengräben und Batterieeinschnittekünstlich erhöht; namentlich der festungsartige Rote Bergund das massive Dorf Stieringen-Wendel waren vortreffliche, kaumangreifbare Stützpunkte der Stellung. Dennoch griffen dieVortruppen der ersten und zweiten deutschen Armee, als sie 6. Aug.die Saar überschritten, diese Stellung an, zuerst die BrigadeFrançois von der 14. Division (Kameke), dann die 5., 13. und16. Division; General v. François erstürmte den RotenBerg mit dem 39. und 74. Regiment, fand dabei aber selbst den Tod.Die brandenburgischen Regimenter der 5. Division eroberten diewaldigen Hänge rechts und links am Roten Berg, währendgleichzeitig Stieringen-Wendel den Franzosen entrissen wurde.Hierauf trat Frossard, der vergeblich auf Hilfe, namentlich vom 3.Korps (Bazaine), gewartet, den Rückzug nach Saargemündan.

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Speidel - Speier.

Sein Verlust belief sich auf 320 Tote, 1660 Verwundete und 2100Gefangene, zahlreiches Lagergerät und Armeevorräte. DiePreußen verloren 850 Tote und 4000 Verwundete.

Speidel, Wilhelm, Klavierspieler und Komponist, geb. 3.Sept. 1826 zu Ulm, erhielt seine Ausbildung am MünchenerKonservatorium, bereiste darauf als Virtuose allegrößern Städte Deutschlands, ward 1854Musikdirektor in seiner Vaterstadt und drei Jahre späterLehrer an dem von ihm mitbegründeten Konservatorium inStuttgart, in welcher Stellung er bis 1874 thätig war. Imgenannten Jahr begründete er ein eignes Musikinstitut, nahmaber 1884 seine Thätigkeit am Konservatorium wieder auf.Zugleich ist er seit 1857 Dirigent des Stuttgarter Liederkranzes.Als Komponist hat sich S. durch zahlreiche Klavierwerke (Trios,Sonaten, Charakterstücke), Lieder, Männer- und gemischteChöre sowie Orchestersachen vorteilhaft bekannt gemacht. -

Sein Bruder Ludwig, geb. 11. April 1830 zu Ulm, ist namhafterFeuilletonist und Theaterkritiker an der "Neuen Freien Presse" inWien.

Speier (Speyer), ehemals reichsunmittelbares Bistum imoberrheinischen Kreis, umfaßte 1542 qkm (28 QM.) mit 55,000Einw. Der Bischof hatte ein Einkommen von 300,000 Gulden und imReichsfürstenrat auf der geistlichen Bank zwischen denBischöfen von Eichstätt und Straßburg seinen Sitz,auf den oberrheinischen Kreistagen die zweite Stelle. Er warSuffragan des Erzbistums Mainz. Der fränkische KönigDagobert I. soll zu Anfang des 7. Jahrh. das Bistum S. neuerrichtet haben, doch ist erst Bischof Principius zwischen 650 und659 urkundlich beglaubigt. Durch den Revolutionskrieg kamen 661 qkm(12 QM.) am linken Rheinufer an Frankreich, später an Bayern,der Rest am rechten Ufer, mit der ehemaligen bischöflichenResidenz Bruchsal, 1803 an Baden. Durch das Konkordat von 1817wurde das Bistum wiederhergestellt und der Erzdiözese Bambergüberwiesen; sein Sprengel erstreckt sich über diebayrische Rheinpfalz. Vgl. Remling, Geschichte der Bischöfe zuS. (Mainz 1852-54, 2 Bde. und 2 Bände "Urkundenbuch");Derselbe, Neuere Geschichte der Bischöfe zu S. (Speier1867).

Speier (Speyer), Hauptstadt des bayr. RegierungsbezirksPfalz und ehemalige freie Reichsstadt, an der Mündung desSpeierbachs in den Rhein, Knotenpunkt der LinienSchifferstadt-Germersheim und S.-Heidelberg der BayrischenStaatsbahn, 105 m ü. M., hat breite, aberunregelmäßige Hauptstraßen und trotz ihres hohenAlters doch im allgemeinen nur wenige altertümlicheGebäude. Das merkwürdigste unter denselben ist der Dom,dessen Bau von Konrad II., dem Salier, 1030 begonnen und 1061 unterHeinrich IV., der 1064 noch die Afrakapelle hinzufügte,vollendet ward. Er ist im Rundbogenstil von roten Sandsteinquadernaufgeführt, hat eine Länge von 147 m, eine Breite imQuerschiff von 60 m und 4 Türme. Das 12 Stufen über dasSchiff sich erhebende Königschor enthält dieGrabmäler von acht deutschen Kaisern (Konrad II., HeinrichIII., Heinrich IV. u. Heinrich V., Philipp von Schwaben, Rudolf vonHabsburg, Adolf von Nassau und Albrecht I.) und das der Bertha, derGemahlin Heinrichs IV., das der Beatrix, der zweiten GemahlinFriedrichs I., sowie ihrer Tochter Agnes. Das Innere schmückenprachtvolle Fresken (32 große Kompositionen, 1845-54 vonSchraudolph ausgeführt). In der Vorhalle (Kaiserhalle) sindseit 1858 die acht großen Standbilder der hier begrabenenKaiser aufgestellt (größtenteils von Fernkornausgeführt). Die untere Kirche (Krypte) stützen massiveniedrige Säulen. In den Anlagen um den Dom sind der Domnapf,welcher früher vor dem Dom stand und den bischöflichenImmunitätsbezirk begrenzte, die Antikenhalle, ehemals eineSammlung römischer Altertümer bergend, der Ölberg(eine mit eingemeißelten bildlichen Darstellungen der LeidenChristi, Blätterwerk und anderm Zierat geschmückteSteinmasse), das Heidentürmchen, dessen Unterbauwahrscheinlich aus der Römerzeit stammt, dieKolossalbüste des Professors Schwerd und die des frühernRegierungspräsidenten v. Stengel hervorzuheben. Nachdem derDom schon 1159 und 1289 durch Feuersbrünste gelitten, wurde er6. Mai 1540 von einem bedeutenden Brand heimgesucht, aber binnen 18Monaten wiederhergestellt. Die ärgste Zerstörungrichteten indessen die Franzosen 31. Mai 1689 an: eine Feuersbrunstzerstörte die drei westlichen Türme und das Gebäudeselbst bis auf die Umfassungsmauern, sogar die altenKaisergräber wurden aufgerissen und die Gebeine umhergestreut.Erst in den Jahren 1772-84 ward der Dom wieder aufgebaut, aberschon 1794 von den Franzosen abermals demoliert und in einHeumagazin verwandelt. Nachdem durch den König Maximilian I.seine Herstellung erfolgt war, konnte er 19. Mai 1822 wiedereingeweiht werden. Später wurden auch die westlichenTürme mit dem Umbau und Neubau der Fassade wieder ersetzt undder alte Kaiserdom wieder eingeweiht. Außer dem katholischenDom hat S. noch 2 evangelische und 2 kathol. Kirchen. Aus alterZeit stammen noch: das Altpörtel (Alta porta), bereits 1246erwähnt, jetzt Stadtturm mit Uhr, und die Überreste einesalten Judenbades sowie des Retschers, eines alten, wohlbischöflichen Palastes, der 1689 mit der sogen. Neuen Kirche,dem Gymnasium etc. zerstört wurde. Gegenwärtig wird derBau einer neuen Kirche (Retscher- oder Protestationskirche)vorbereitet. Das alte Kaufhaus, ein prächtiger Bau undfrüher das Haus der Münzer, ist im alten Stilwiederhergestellt und um ein Stockwerk erhöht und enthältjetzt das Oberpostamt. Die Einwohnerzahl betrug 1885 mit derGarnison (3 Pionierkompanien Nr. 2) 16,064 (darunter ca. 8100Katholiken, 7400 Evangelische und 532 Juden). Die Industriebeschränkt sich auf Buntpapier-, Tabaks-, Zigarren-, Leim-,Zucker-, Bleizucker- und Essigfabrikation, Bierbrauerei, Gerberei,Ziegelsteinbrennerei, Wein- und Tabaksbau, Schiffahrt etc. Derlebhafte Handel wird unterstützt durch eineReichsbanknebenstelle, eine Filiale der Bayrischen Notenbank undandre Geldinstitute. S. ist Sitz einer Kreisregierung, einesBezirksamtes, Amtsgerichts, Oberpostamtes, Forstamtes, einesBischofs, eines evangelischen Konsistoriums etc., hat einGymnasium, eine Realschule, ein Lehrerseminar, einePräparandenschule, ein bischöfliches Klerikal- und einKnabenseminar, ein Waisenhaus, eine Erziehungsanstalt fürverwahrloste Kinder, eine Diakonissenanstalt etc. Ferner befindensich dort ein städtisches Museum, eine Bildergalerie, eineBibliothek und ein botanischer Garten mit Baumschule. - S. ist dasrömische Noviomagus, die Stadt der Nemeter, und hießseit dem 7. Jahrh. Spira. Um 30 v. Chr. wurde die Stadt

[Abb.: Wappen von Speier.]

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Speierbach - Speiseröhre.

von den Römern erobert und befestigt. Von den Alemannen zuEnde des 3. und Anfang des 4. Jahrh. mehrmals zerstört, wurdesie von den Kaisern Konstantin und Julian wiederhergestellt, hatteaber im 5. Jahrh. von den Einfällen der Vandalen und Hunnenwieder viel zu leiden. Im 6. Jahrh. ging die Stadt an die Franken,843 an das ostfränkische Reich über. Neben dembischöflichen Schultheißen, dem die niedereGerichtsbarkeit zustand, hatte hier bis 1146 ein königlicherBurggraf seinen Sitz. Damals ging auch dies Amt auf den Bischofüber, bis es zu Anfang des 13. Jahrh. wieder von der Stadterworben wurde, was dann zu langwierigen Streitigkeiten mit demBischof führte. Nachdem schon Heinrich V. eine Ratsverfassunggegeben hatte, welche Philipp von Schwaben 1198 bestätigte,schwang sich S. im 13. Jahrh. zur freien Reichsstadt empor, erwarbjedoch kein Gebiet und zählte im 14. Jahrh. kaum 30,000 Einw.Als Sitz des Reichskammergerichts, das 1513 nach S. kam und, nurzeitweilig verlegt, bis 1689 hier seinen Sitz hatte, erhielt dieStadt großen Ruf. Als Reichsstadt hatte sie unter denReichsstädten der rheinischen Bank den fünften Platz,auch Sitz und Stimme auf den oberrheinischen Kreistagen. Unter denReichstagen, welche zu S. (meist in einem Gebäude desRatshofs) gehalten wurden, sind besonders die von 1526 (vgl.Friedensburg, Der Reichstag zu S. 1526, Berl. 1887) und von 1529wichtig, von denen der erste die Ausführung des Wormser Ediktsvertagte, der zweite die Einigung der Evangelischen zu einerProtestationsschrift (daher "Protestanten") veranlaßte.Städtetage haben 1346 und 1381 stattgefunden. Der Friede zu S.1544 enthielt den Verzicht des Hauses Habsburg auf die Krone vonDänemark-Norwegen. Im Dreißigjährigen Krieg wurdedie Stadt 1632-35 abwechselnd von den Schweden, den Kaiserlichenund den Franzosen erobert. Durch Kapitulation wurde sie 1688wiederum an die Franzosen übergeben, die sie aber 1689 (imMai) beim Anrücken der Alliierten wieder räumten, nachdemsie die Festungswerke geschleift und die Stadt zum Teilniedergebrannt hatten. Anfang Oktober 1792 wurde die Stadt von denFranzosen unter Custine eingenommen und gebrandschatzt. Von 1801bis 1814 war S. die Hauptstadt des franz. Depart. Donnersberg,wurde aber 1815 bayrisch. Vgl. Geissel, Der Kaiserdom zu S. (Mainz1826-28, 3 Bde.); Zeuß, Die freie Reichsstadt S. vor ihrerZerstörung (Speier 1843); Remling, Der Speierer Dom (Mainz1861); Derselbe, Der Retscher in S. (das. 1858); Weiß,Geschichte der Stadt S. (Speier 1877); Hilgard, Urkunden zurGeschichte der Stadt S. (Straßb. 1885).

Speierbach, Flüßchen im bayr. RegierungsbezirkPfalz, entspringt auf dem Oselkopf unweit Kaiserslautern undfällt bei Speier in den Rhein. Hier im spanischenErbfolgekrieg Sieg der Franzosen unter Tallard über das zumEntsatz von Landau ausgesandte niederländische Hilfskorpsunter dem Grafen von Nassau-Weilburg und dem Erbprinzen von Hessen(15. Nov. 1703). Die Redensart: "Revanche für S." wird aufletztern zurückgeführt, der damit Tallardbegrüßt haben soll, als dieser später nach derSchlacht bei Höchstädt gefangen vor ihn geführtwurde.

Speierling, s. Sorbus.

Speigatten, Löcher in der Schiffswand, durch welchedas Wasser vom Deck nach der See abfließen kann; auch dieÖffnungen in den Verbandteilen eines Schiffs, durch welche dasLeckwasser nach den Pumpen geleitet wird.

Speik, blauer, s. Primula.

Speischlange, s. Brillenschlange.

Speise, ein auf Hüttenwerken bei Schmelzprozessenentstehendes, aus Arsen- und Antimonmetallen bestehendes Produktvon weißer Farbe und größerer Dichtigkeit alsdiejenige der Leche (s. Lech), unter welchen sich die S. beigleichzeitiger Entstehung beider Produkte absetzt. ZurSpeisebildung, d.h. zur Verbindung mit Arsen und Antimon, sindbesonders Nickel, Kobalt und Eisen geneigt; doch finden sich in denSpeisen auch Gold, Silber und Kupfer. Dieselben werden entwederabsichtlich erzeugt (Nickel- und Kobaltspeisen), oder sie fallenals Nebenprodukte (Kupfer- und Bleispeise), die man ungern sieht,weil sich aus denselben die nutzbaren Metalle meist nur mitgrößeren Verlusten darstellen lassen. Glockenspeisenennt man die zur Glockengießerei angewendete Legierung (s.Glocken). S. auch s. v. w. Mauerspeise, s. Mörtel.

Speiseapparate, s. Dampfkesselspeiseapparate.

Speisebrei, s. Chymus.

Speisegesetze, die vom mosaischen und talmudischen Gesetzgegebenen, die Reinheit und durch diese die Heiligkeit derIsraeliten bezweckenden religiösen Vorschriften hinsichtlichder Nahrungsmittel. Der Pentateuch gibt 3. Mos. 11 und 5. Mos. 14als reine, zum Genuß erlaubte Tiere an: 1) von denVierfüßern die, welche gespaltene Klauen haben undwiederkäuen, 2) von den Wassertieren nur die Fische, welcheSchuppen und Floßfedern haben, verbietet dagegen dieRaubvögel und Kriechtiere. Von Insekten ward die Heuschreckegegessen. Verboten war und ist ferner der Blutgenuß, derGebrauch des für den Altar bestimmten Opferfettes, dieVermischung von Fleisch mit Milch oder Butter (gegründet aufdie Bibelstelle: "Du sollst das Lämmlein nicht in der MutterMilch kochen"), das Genießen eines Gliedes eines nochlebenden Tiers. Die Schenkel der Vierfüßer dürfenerst gebraucht werden, nachdem die Spannader daraus entfernt ist(1. Mos. 32, 32). Säugetiere und Vögel müssen nachbesonderm Ritus (s. Schächten) geschlachtet, ihr Fleischmuß vor dem Gebrauch zur Entfernung des Bluts entadert(geporscht, getriebert), in Wasser gelegt und gesalzen (koschergemacht) werden. Von neugeerntetem Getreide durfte vor Ablauf desTags, an welchem ein Omer (Mäßchen) Gerste von derselbenErnte im Tempel geweiht worden, nichts genossen werden. Verbotenwar auch der Genuß von Trauben und andern Fruchtgattungen,welche vermischt gepflanzt worden waren, von allen Früchten,welche ein Baum in den ersten drei Jahren trug, von Wein, der denGötzenbildern als Opfer dargebracht worden war, und vomgesäuerten Brot während des Passahfestes. Alle diese S.waren bei den Talmudisten Gegenstand einer sehr kompliziertenKasuistik.

Speisepumpe, s. Dampfkesselspeiseapparate.

Speiseröhre (Schlund, Oesophagus), derjenige Teildes Vorderdarms, welcher die Verbindung zwischen Mund und Magenherstellt und die Speisen in letztern zu befördern hat. Beiden Fischen ist sie sehr weit und geht allmählich in den Magenüber; ähnliches gilt von manchen Amphibien und Reptilien;bei den Vögeln ist gewöhnlich ein Teil von ihr zurBildung eines Kropfes (s. d.) erweitert; dagegen findet beiSäugetieren eine scharfe Trennung derselben vom Magen statt.Beim Menschen (s. Tafel "Eingeweide II", Fig. 1 und 3, und"Mundhöhle", Fig. 2) speziell ist sie ein häutiger, etwafingerdicker, aber stark ausdehnbarer Kanal, dessen Wändeplatt aufeinander liegen, wenn nicht gerade ein Bissen durch ihnhindurchgeht. Zwischen der Luftröhre und der

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Speisesaft - Spektralanalyse.

Wirbelsäule tritt die S. in den Brustraum ein, läuftneben der rechten Seite der absteigenden Brustaorta bis zumZwerchfell und gelangt durch einen Spalt des letztern in derHöhe des neunten Brustwirbels in die Bauchhöhle, wos iesich zum Magen erweitert. Die S. besteht aus einer Schleimhaut undeiner umgebenden Muskelhaut. Krankheiten der S. sind selten, meistmit Schlingbeschwerden und Schmerzen im Rücken verbunden.Leichtere Entzündungen kommen vor als Fortsetzungen einesRachenkatarrhs oder entzündlicher Mundkrankheiten, z. B. derSchwämmchen. Schwere Entzündungen der Schleimhaut tretenein bei Vergiftungen mit ätzenden und scharfen Substanzen(Ätzkali, Schwefelsäure etc.) und beim Genuß sehrheißer Speisen. Die wichtigste Krankheit der S. ist derKrebs, welcher in der S. stets primär unter der Form dessogen. Kankroids auftritt und zwar am häufigsten am Eingangvom Schlund zur S., am Eingang der S. zum Magen und zwischen diesenbeiden Orten an der Engigkeit im mittlern Dritteil, wo der linkeBronchus die S. kreuzt (s. Tafel "Halskrankheiten", Fig. 4). DerKrebs ist selten eine umfängliche Geschwulst, welche die S.bis zum Verschluß verengert, meist ist er als fressendesGeschwür vorhanden, welches zwar gleichfalls Verengerungenbedingt, außerdem aber noch dadurch gefährlich wird,daß die Wand der immerhin nicht sehr dicken Röhredurchbrochen werden kann. Hierbei kommt es leicht vor, daßeine freie Verbindung mit einem Brustfellsack hergestellt wird, sodaß die verschluckten Speisen in diesen gelangen undtödliche Brustfellentzündung veranlassen; ferner sindFälle beobachtet worden, in denen die Luftröhre oder einBronchus geschwürig zerstört und die Speisen direkt indie Lungen geschluckt wurden, in noch andern bewirkte eine krebsigeDurchwachsung der Aorta plötzlichen Tod durch Blutsturz. EineHeilung des Krebses der S. kommt nicht vor. In den Fällen,deren Hauptsymptom die Striktur (Verengerung) ist, muß, wiebei Narbenschrumpfung nach Ätzung, die Behandlung invorsichtiger Erweiterung der Striktur durch Bougies und inErnährung durch die Schlundsonde bestehen. Fremde Körperin der S. bilden nicht selten Gelegenheit zu operativemEinschreiten. Man muß versuchen, diese mit geeignetenInstrumenten, "Münzenfänger" etc., herauszuholen, odersie in den Magen hinabstoßen. Nur in verzweifeltenFällen schreitet man zur Eröffnung der S. durch denSpeiseröhrenschnitt (griech. Ösophagotomie), indem manvon außen durch die Haut und Muskeln des Halses dieSpeiseröhre eröffnet. Diese Operation ist schwierig undnicht gefahrlos; sie wird auch ausgeführt, wenn nachSchwefelsäure- oder Laugevergiftungen oder im Gefolgekrebsiger Zerstörungen solche Verengerungen derSpeiseröhre entstanden sind, daß nicht einmalflüssige Nahrung in den Magen gelangt und der Tod durchVerhungern droht.

Speisesaft, s. Chylus.

Speiseventil etc., s. Dampfkesselspeiseapparate.

Speisewalzen, an Maschinen die das Materialzuführenden Walzenpaare.

Speisewasser, das zur Versorgung eines Dampfkesselsdienende Wasser.

Speiskobalt (Smaltin, Smaltit), Mineral aus der Ordnungder einfachen Sulfuride, kristallisiert regulär, findet sichauch derb, eingesprengt und in mannigfaltig gruppierten Aggregaten,ist zinnweiß bis grau, mitunter bunt angelaufen oder durchbeginnende Zersetzung zu Kobaltblüte an der Oberflächerot gefärbt. Härte 5,5, spez. Gew. 6,4-7,3, besteht ausKobaltarsen CoAs2 mit 28,2 Proz. Kobalt, enthält aber meistauch Eisen, Nickel und Schwefel. In bestimmten Varietäten wirdder Gehalt an Nickel so bedeutend, daß dieselben eher demChloanthit (s. d.) zuzuzählen sein würden, währendman die eisenreichen als graue Speiskobalte (Eisenkobaltkiese) vonden weißen als den wesentlich nur Kobalt führendentrennt. Ein bis zu 4 Proz. Wismut enthaltendes Mineral wird alsWismutkobaltkies unterschieden. S. kommt meist auf Gängen,seltener auf Lagern der kristallinischen Schiefer und derKupferschieferformation vor und ist das wichtigste Erz zurBlaufarbenbereitung, wobei Nickel und weißer Arsenik alsNebenprodukte gewonnen werden. Hauptfundorte sind: Schneeberg,Annaberg und andre Orte im sächsisch-böhmischenErzgebirge, Richelsdorf und Bieber in Hessen, Dobschau in Ungarn,Allemont in Frankreich, Cornwall und Missouri.

Speiteufel, Pilz, s. Agaricus III.

Speke (spr. spihk), John Hanning, engl. Reisender, geb.14. Mai 1827 zu Jordans bei Ilchester in Somerset, stellte sich dieAufgabe, die Nilquellen aufzufinden, und unternahm 1854 mit Burtondie Bereisung des Somallandes, wobei er von den Eingebornen schwerverwundet wurde. Im folgenden Jahr beteiligte er sich an demKrimkrieg; später (1857-59) treffen wir ihn mit Burton wiederin Afrika, wo er Ende Juli 1858 den Ukerewe oder Victoria Nyanzaentdeckte. Mit J. A. Grant unternahm er 1860 von Sansibar aus eineneue Reise, von der er 1863 wieder zu Gondokoro am obern Nileintraf, und die ihm die Überzeugung brachte, daß derWeiße Nil den Ausfluß jenes Sees bilde. S. ist somitals der Entdecker der Nilquellen anzusehen. Er starb 15. Sept. 1864durch einen unglücklichen Schuß auf der Jagd bei Bath inEngland. Die Resultate seiner Reisen sind niedergelegt im "Journalof the discovery of the source of the Nile" (Lond. 1863, 2 Bde.;deutsch, Leipz. 1864, 2 Bde.).

Spektabilität (v. lat. spectabilis, "ansehnlich"),auf einigen Universitäten Titel der Dekane der philosophischenFakultät.

Spektakelstück (Ausstattungs- oderSonntagsstück), jedes mit Zügen, Tänzen, Gefechtenetc. ausgestattete Schauspiel, dessen Wirkung vorzüglich aufdie große Masse des Publiku*ms berechnet ist.

Spektral (lat.), auf das Spektrum (s. d.)bezüglich.

Spektralanalyse (hierzu Tafel "Spektralanalyse"),Untersuchung des Spektrums des von einem Körper ausgesendetenoder von ihm durchgelassenen Lichts in der Absicht, die stofflicheBeschaffenheit des Körpers zu ergründen. Zur Beobachtungdes Spektrums dienen die verschiedenen Arten der Spektroskope. ImBunsenschen Spektroskop (Fig. 1, S. 118) steht ein FlintglasprismaP, dessen brechender Winkel 60° beträgt, mit vertikalerbrechender Kante und in der Stellung der kleinsten Ablenkung aufeinem gußeisernen Stativ. Gegen das Prisma sind dreihorizontale Röhren A, B und C gerichtet. Die erste (A), dasSpaltrohr oder der Kollimator, trägt an ihrem dem Prismazugekehrten Ende eine Linse a (Fig. 2), in deren Brennpunkt sichein vertikaler Spalt l befindet, der vermittelst einer in Fig. 1sichtbaren Schraube enger oder weiter gestellt werden kann; die voneinem Punkte des erleuchteten Spalts ausgehenden Lichtstrahlenwerden durch die Linse a, weil sie aus deren Brennpunkt kommen, mitder Achse des Rohrs A parallel gemacht, treffen, nachdem sie durchdas Prisma abgelenkt worden, ebenfalls unter sich parallel auf dieObjektivlinse b des Fernrohrs B und werden durch diese in ihrerBrennebene rv in dem Punkt r ver-

117a

Spektralanalyse

Spektren der Fixsterne und Nebelflecke, verglichen mit demSonnenspektrum und den Spektren einiger Nichtmetalle.

Spektren der Alkali- und Erdalkali-Metalle. Nach Bunsen undKirchhoff.

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Spektralanalyse (Apparatbeschreibung).

einigt. Sind die durch den Spalt einfallenden Strahlen hom*ogenrot, so entsteht bei r ein schmales rotes Bild des vertikalenSpalts; gehen aber auch violette Strahlen von dem Spalt aus, sowerden diese durch das Prisma stärker abgelenkt und erzeugenein violettes Spaltbild bei v. Dringt weißes Licht, das sichbekanntlich (s. Farbenzerstreuung) aus unzählig vielenverschiedenfarbigen und verschieden brechbaren Strahlenartenzusammensetzt, durch den Spalt ein, so legen sich die unzähligvielen entsprechenden Spaltbilder in ununterbrochener Reihenfolgenebeneinander und bilden in der Brennebene des Objektivs einvollständiges Spektrum r v, welches nun durch das Okular o wiemit einer Lupe betrachtet wird. Im Spektrum des Sonnenlichts oderTageslichts (s. die Tafel) gewahrt man mit großerSchärfe die Fraunhoferschen Linien (s. Farbenzerstreuung). Umdas Spektrum mit einer Skala vergleichen zu können, trägtein drittes Rohr C (das Skalenrohr) an seinem äußernEnde bei s eine kleine photographierte Skala mit durchsichtigenTeilstrichen, an seinem innern Ende dagegen eine Linse c, welche umihre Brennweite von der Skala entfernt ist. Durch eine Lampenflammewird die Skala erleuchtet. Die von einem Punkte der Skalaausgehenden Strahlen, durch die Linse c parallel gemacht, werden ander Oberfläche des Prismas auf die Objektivlinse o desFernrohrs reflektiert und von dieser in dem entsprechenden Punktihrer Brennebene vereinigt. Durch das Okular schauend, erblickt mandaher gleichzeitig mit dem Spektrum ein scharfes Bild der Skala,das sich an jenes wie ein Maßstab anlegt. Die Skala istwillkürlich festgestellt. Eine von Willkür freie Skalamüßte nach den Wellenlängen der verschiedenfarbigenStrahlen eingeteilt sein. Da aber die Wellenlängen fürdie Fraunhoferschen Linien bekannt sind, so kann man für jedesSpektroskop mit willkürlicher Skala leicht eine Tabelle odereine Zeichnung entwerfen, aus welcher für jeden Teilstrich diezugehörige Wellenlänge abgelesen werden kann.

Die unmittelbare Vergleichung zweier Spektren verschiedenerLichtquellen wird durch das Vergleichsprisma (Fig. 3)ermöglicht, ein kleines gleichseitiges Prisma a b, welches,indem es die untere Hälfte des Spalts m n verdeckt, in diesekein Licht der vor dem Spalt aufgestellten Lichtquelle F (Fig. 1),wohl aber durch totale Reflexion auf dem Weg L r t (Fig. 4) dasLicht der seitlich aufgestellten Lichtquelle L (f, Fig. 1)eindringen läßt. Man erblickt alsdann im Gesichtsfeldunmittelbar übereinander die Spektren beider Lichtquellen.Läßt man Tageslicht auf das Vergleichsprisma fallen, sokönnen die Fraunhoferschen Linien seines Spektrums gleichsamals Teilstriche einer Skala dienen. Wegen der Ablenkung, die dasPrisma hervorbringt, bilden Spaltrohr u. Fernrohr des BunsenschenSpektroskops einen dieser Ablenkung entsprechenden Winkelmiteinander, u. die Visierlinie des Instruments ist geknickt. Durchpassende Zusammensetzung von Flint- und Crownglasprismen kann manaber sogen. geradsichtige Prismenkombinationen (à visiondirecte) herstellen, durch welche die Ablenkung der Strahlen, nichtaber die Farbenzerstreuung aufgehoben wird, und mit ihrer Hilfegeradsichtige Spektroskope konstruieren, welche die Lichtquelledirekt anzuvisieren erlauben. Ein solches ist das in Fig. 5 innatürlicher Größe dargestellte BrowningscheTaschenspektroskop; s ist der Spalt, C die Kollimatorlinse, p deraus 3 Flint- und 4 Crownglasprismen, die mittels Ka-

[Fig. 1.]

Fig. 1 u. 2. Bunsens Spektroskop.

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Spektralanalyse (Ergebnisse und praktische Verwendung).

nadabalsams aneinander gekittet sind, zusammengesetztePrismenkörper und O die Öffnung fürs Auge.

Eine vollständigere Ausbreitung des Farbenbildes, als durchein solches einfaches Spektroskop möglich ist, wird erzieltdurch eine Reihe hintereinander gestellter Prismen. Schon Kirchhoffbediente sich eines zusammengesetzten Spektroskops mit vierFlintglasprismen. Littrow zeigte, daß man die Wirkung einesjeden Prismas verdoppeln kann, indem man die Strahlen mittelsSpiegelung durch dieselbe Prismenreihe wieder zurücksendet;dabei werden die Prismen unter sich u. mit dem Beobachtungsfernrohrdurch einen Mechanismus derart verbunden, daß sie sich, wenndas Fernrohr auf irgend eine Stelle des Spektrums gerichtet wird,von selbst (automatisch) auf die kleinste Ablenkung für diebetreffende Farbe einstellen. Vorteilhaft wendet man statteinfacher Prismen Prismensätze an, welche beigrößerer Dispersion kleinere Ablenkung und geringernLichtverlust geben. Zur Beobachtung der Protuberanzen, der Flecke,der Chromosphäre, der Korona etc. der Sonne hat man besondereSpektroskope, welche statt des Okulars an das astronomischeFernrohr angeschraubt werden, so daß das von dem Objektivdesselben entworfene Sonnenbild auf die Spaltfläche desSpektroskops fällt und der Spalt auf beliebige Teile diesesSonnenbildes eingestellt werden kann. Da das Bild eines Fixsternsim Fernrohr nur als ein Lichtpunkt erscheint, so würde seinSpektrum einen sehr schmalen Streifen bilden, in welchem, weil dieAusdehnung in die Breite fehlt, dunkle Linien nicht wahrgenommenwerden könnten; dieselben werden jedoch wahrnehmbar beiAnwendung einer geeigneten Cylinderlinse, welche das schmaleSpektrum in die Breite dehnt. Das Prisma der Spektroskope kann auchdurch ein Gitter (s. Beugung) ersetzt werden (Gitterspektroskope).Das Taschenspektroskop von Ladd unterscheidet sich von demBrowningschen bloß dadurch, daß es statt desPrismensatzes ein photographiertes Gitter enthält.

Weißglühende feste Körper sowie die hellleuchtenden Flammen der Kerzen, Lampen und des Leuchtgases, inwelchen feste Kohlenteilchen in weißglühendem Zustandschweben, geben kontinuierliche Spektren, in welchen alle Farbenvom Rot bis zum Violett vertreten sind. Die Spektren glühenderGase und Dämpfe dagegen bestehen aus einzelnen hellen Linienauf dunklem oder schwach leuchtendem Grunde, deren Lage undGruppierung für die chemische Beschaffenheit desgasförmigen Körpers charakteristisch ist. Bringt man z.B. in die schwach leuchtende Flamme eines Bunsenschen Brenners einein das Öhr eines Platindrahts (Fig. 1) eingeschmolzene Probeeines Natriumsalzes (etwa Soda oder Kochsalz), so färbt sichdie Flamme gelb, und im Spektroskop erblickt man eine schmale gelbeLinie am Teilstrich 50 der Skala. Diese Linie ist für dasNatrium charakteristisch und verrät die geringsten Spurendieses Elements; noch der dreimillionste Teil eines MilligrammsNatriumsalz kann auf diesem Weg nachgewiesen werden. Vonähnlicher Empfindlichkeit ist die Reaktion des Lithiums,dessen Spektrum durch eine schwache orangegelbe und eine intensivrote Linie sich kennzeichnet. Kalisalze geben ein schwacheskontinuierliches Spektrum mit einer Linie im äußerstenRot und einer andern im Violett. Bunsen, welchem mit Kirchhoff dasVerdienst gebührt, die S. zu einer chemischenUntersuchungsmethode ausgebildet zu haben, fand aufspekralanalytischem Weg die bis dahin unbekannten Metalle Rubidiumund Cäsium auf, und andre Forscher entdeckten mittelsderselben Methode das Thallium, Indium und Gallium. Die Temperaturder Bunsenschen Flamme, in welcher die Salze der Alkali- undErdalkalimetalle leicht verdampfen, reicht zur Verflüchtigungandrer Körper, namentlich der meisten schweren Metalle, nichtaus. In diesem Fall bedient man sich des RuhmkorffschenFunkeninduktors, dessen Funken man zwischen Elektroden, welche ausdem zu untersuchenden Metall verfertigt oder mit einer Verbindungdesselben überzogen sind, überschlagen läßt.Auch die Spektren der schweren Metalle sind durchcharakteristische, oft sehr zahlreiche helle Linien ausgezeichnet;im Spektrum des Eisens z. B. zählt man deren mehr als 450. UmSalze, die in Flüssigkeiten gelöst sind, imInduktionsfunken zu glühendem Dampf zu verflüchtigen,bringt man ein wenig von der Flüssigkeit auf den Boden einesGlasröhrchens, in welchen ein von einer Glashülleumgebener Platindraht eingeschmolzen ist, der mit seiner Spitze nurwenig über die Oberfläche der Flüssigkeithervorragt; der Induktionsfunke, welcher zwischen diesem und einemzweiten von oben in das Röhrchen eingeführten Platindrahtüberschlägt, reißt alsdann geringe Mengen derLösung mit sich und bringt sie zum Verdampfen. Um ein Gasglühend zu machen, läßt man die Entladung desInduktionsapparats mittels der eingeschmolzenen Drähte a und bdurch eine sogen. Geißlersche Spektralröhre (Fig. 6)gehen, welche das Gas in verdünntem Zustand enthält.Befindet sich z. B. Wasserstoffgas in der Röhre, so leuchtetihr mittlerer enger Teil mit schön purpurrotem Lichte, dessenSpektrum aus drei hellen Linien besteht, einer roten, welche mitder Fraunhoferschen Linie C, einer grünblauen, die mit F, undeiner violetten, die nahezu mit G zusammenfällt. Vielkomplizierter ist das Spektrum des Stickstoffs, welches aus sehrzahlreichen hellen Linien und Bändern besteht.

Eine wichtige technische Anwendung hat die S. bei derGußstahlbereitung durch den Bessemer-Prozeß gefunden.Die aus der Mündung des birnförmigen Gefäßes,in welchem dem geschmolzenen Gußeisen durch einenhindurchgetriebenen Luftstrom ein Teil seines Kohlenstoffs entzogenwird, hervorbrechende glänzende Flamme zeigt im Spektroskopein aus hellen farbigen Linien bestehendes Spektrum, welches imLauf des Prozesses sich ändert, und an dem gesteigerten Glanzgewisser grüner Linien den Augenblick erkennenläßt, in welchem die Oxydation des Kohlenstoffs dengewünschten Grad erreicht hat und der Gebläsewindabgestellt werden muß. Auch die dunkeln Absorptionsstreifenauf hellem Grund,

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Spektralanalyse (Bedeutung für die Astronomie etc.).

welche farbige Körper im Spektrum des durchgelassenenTages- oder Lampenlichts hervorbringen, sind für die chemischeBeschaffenheit dieser Körper charakteristisch und gestatten,dieselben spektralanalytisch zu erkennen. Das Spektroskop kanndaher in vielen Fällen dazu dienen, die Echtheit oderVerfälschung von Nahrungsmitteln, Droguen etc. nachzuweisen.Das Mikrospektroskop, ein mit einem Prismensatz ausgerüstetesMikroskop, gestattet, diese Untersuchungsmethode auf die kleinstenMengen anzuwenden. Auch in die gerichtliche Medizin hat die S.Eingang gefunden, weil sie die geringsten Mengen Blut nachzuweisenvermag.

Die spektroskopische Untersuchung der Absorptionsspektren kannsogar dazu dienen, die Menge der in einer Lösung enthaltenenfärbenden Substanz zu ermitteln (quantitative S.). Zu diesemZweck besteht der Spalt (nach Vierordt) aus einer obern und unternHälfte, deren jede unabhängig von der andern enger undweiter gemacht werden kann. Tritt nun z. B. durch die obereHälfte des Spalts das ungeschwächte Licht, durch dieuntere das durch die absorbierende Substanz gegangene Licht ein, soerblickt man im Gesichtsfeld unmittelbar übereinander zweiSpektren und bewirkt nun durch Verengerung der obernSpalthälfte, daß irgend eine Farbe in beiden Spektrendie gleiche Helligkeit zeigt. Die Lichtstärken dieser Farbenin den beiden Strahlenbündeln verhalten sich dann umgekehrtwie die durch Mikrometerschrauben zu messenden Spaltbreiten. Dieabsorbierende Wirkung einer und derselben gelösten Substanzsteigt aber mit der Konzentration; man kann daher aus der durch einsolches Spektrophotometer bewirkten Messung der Lichtstärkenunter Berücksichtigung des bekannten Absorptionsgesetzes aufdie Menge der Substanz schließen. Bei andernSpektrophotometern (Glan) wird die Schwächung des einenStrahlenbündels durch Polarisation bewirkt.

Schon Fraunhofer hatte beobachtet, daß die helle gelbeLinie des Natriumlichts dieselbe Stelle im Spektrum einnimmt wiedie dunkle Linie D des Sonnenlichts. Kirchhoff zeigte nun,daß ein gas- oder dampfförmiger Körper genaudiejenigen Strahlengattungen absorbiert, welche er imglühenden Zustand selbst aussendet, während er alleandern Strahlenarten ungeschwächt durchläßt. Bringtman z. B. eine Spiritusflamme, deren Docht mit Kochsalz eingeriebenist, zwischen das Auge und ein Taschenspektroskop und blickt durchletzteres nach einer Lampenflamme, so sieht man das umgekehrteSpektrum des Natriums, d. h. die Natriumlinie erscheint dunkel aufhellem Grund, weil die Natriumflamme für Strahlen von derBrechbarkeit derer, welche sie selbst aussendet, undurchsichtig,für alle andern Strahlen aber durchsichtig ist. Bei genauerVergleichung der Fraunhoferschen dunkeln Linien mit den hellenLinien irdischer Stoffe stellte sich nun heraus, daß einesehr große Anzahl jener mit diesen genau übereinstimmt;so hat z. B. jede der mehr als 450 hellen Linien des Eisens ihrdunkles Ebenbild im Sonnenspektrum. Es erscheint demnach KirchhoffsSchluß berechtigt, daß die Sonne ein glühenderKörper ist, dessen Oberfläche, die Photosphäre,weißes Licht ausstrahlt, welches an und für sich einkontinuierliches Spektrum geben würde, und daß diePhotosphäre rings von einer aus glühenden Gasen undDämpfen bestehenden Hülle von niedrigerer Temperatur (derChromosphäre) umgeben ist, durch deren absorbierende Wirkungdie Fraunhoferschen Linien hervorgebracht werden. Die S. desSonnenlichts gibt uns demnach Aufschluß über diechemische Zusammensetzung der Sonnenatmosphäre. Dievergleichenden Untersuchungen über die Spektren der Sonne undirdischer Stoffe sind in ausgedehnten sorgfältigen Zeichnungenniedergelegt; diejenige Kirchhoffs stellt das prismatische Spektrumdar und ist auf eine willkürliche Skala bezogen. Späterhat Angström unter Mitwirkung von Thalen ein 3,5 m langes Bilddes Gitterspektrums entworfen, in welches die Linien nach ihrenWellenlängen eingetragen sind. Für die brechbaren Teiledes Spektrums vom Grün an und insbesondere auch für dieultravioletten Strahlen erhält man das Spektralbild stattdurch mühsame Zeichnung leicht auf dem Weg der Photographie.Besonders schön und ausgedehnt ist die von Rowland mit Hilfeeines Reflexionsgitters hergestellte Photographie des Spektrums.Den ultraroten Teil des Spektrums hat Becquerel unter Zuhilfenahmevon Phosphoreszenz gezeichnet, und Abney ist es gelungen, auch dieroten und ultraroten Strahlen zu photographieren. - Außer denunzweifelhaft der Sonne angehörigen Spektrallinien gewahrt manim Sonnenspektrum noch andre dunkle Linien, welche erst durch dieabsorbierende Wirkung der Erdatmosphäre entstanden sind unddeshalb atmosphärische Linien heißen. DieFraunhoferschen Linien A und B erscheinen um so dunkler, je tieferdie Sonne steht, und verraten dadurch ihren irdischen Ursprung;nach Angström rühren sie wahrscheinlich von derKohlensäure unsrer Atmosphäre her. Andre dunkle Linienund Bänder zwischen A und D, namentlich ein Band unmittelbarvor D, sind dem Wasserdampf der Atmosphäre zuzuschreiben. Mannennt sie Regenbänder, weil sie durch ihr Dunklerwerdenbevorstehende Niederschläge ankündigen. - Der Mond unddie Planeten, welche mit erborgtem Sonnenlicht leuchten,müssen natürlich ebenfalls die Fraunhoferschen Linienzeigen. Das Spektrum des Mondes stimmt mit demjenigen der Sonnevollkommen überein, ein neuer Beweis dafür, daß derMond keine Atmosphäre hat. Venus, Mars, Jupiter und Saturndagegen lassen in ihren Spektren deutlich den Einfluß ihrerAtmosphären erkennen, welche unzweifelhaft Wasserdampfenthalten. Die Spektren der Fixsterne zeigen, ähnlichdemjenigen unsrer Sonne, dunkle Linien, welche jedoch unter sichund von denen im Sonnenspektrum zum Teil verschieden sind. ImAldebaran z. B. vermochte Huggins Natrium, Magnesium, Calcium,Eisen, Wismut, Tellur, Antimon, Quecksilber und Wasserstoffnachzuweisen, wovon weder Wismut noch Tellur auf unsrer Sonnevorkommen; Beteigeuze enthält dieselben Elemente wieAldebaran, mit Ausnahme von Quecksilber und Wasserstoff. Auch dieFarben der Sterne erklären sich aus der Beschaffenheit ihresSpektrums. Von den beiden Sternen z. B., welche den Doppelsternß [beta] im Schwan bilden, erscheint der eine gelbrot, weildunkle Linien hauptsächlich im Blau und Rot seines Spektrumsauftreten, der andre blau, weil das Rot und Orange seines Spektrumsmit dicht gedrängten dunkeln Linien erfüllt ist.Über die Einteilung der Fixsterne nach ihrem spektralenVerhalten s. Fixsterne, S. 325. Als im Mai 1866 der bisher nurteleskopisch sichtbare Stern T im Sternbild der NördlichenKrone fast plötzlich bis zur zweiten Größeaufleuchtete, zeigte sein Spektrum auf kontinuierlichem, mitdunkeln Linien durchzogenem Grund mehrere helle Linien, von denenzwei (C und F) dem Wasserstoff angehörten, und welche nachzwölf Tagen, nachdem der Stern von der zweiten bis zur achtenGröße herabgesunken war, wieder verschwunden waren. DasAufleuchten des Sterns erklärt sich demnach

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Spektralapparate - Spekulation.

durch einen vorübergehenden Ausbruch glühendenWasserstoffs. Über die Spektren der Kometen und Nebelflecke s.d.

Wenn eine Lichtquelle mit großer Geschwindigkeit, welchemit derjenigen des Lichts vergleichbar ist, sich uns nähertoder von uns entfernt, so müssen von jeder hom*ogenenLichtsorte, welche sie aussendet, im ersten Fall mehr, im letztenFall weniger Schwingungen pro Sekunde auf das Auge oder das Prismatreffen, als wenn die Lichtquelle stillstände. Da aber dieFarbe und die Brechbarkeit eines hom*ogenen Lichtstrahls durch dieAnzahl seiner Schwingungen bedingt sind, so muß jene imerstern Fall etwas erhöht, im letztern Fall etwas erniedrigtsein, d. h. die Spektrallinie, welche dieser Strahlenartentspricht, wird nach dem violetten Ende des Spektrums verschobenerscheinen, wenn die Lichtquelle sich nähert, dagegen nachdemroten Ende, wenn die Lichtquelle sich entfernt. Man nennt diesenSatz, welcher für jede Wellenbewegung gilt und fürSchallschwingungen direkt nachgewiesen ist, das DopplerschePrinzip. Als Huggins die Linie F des Siriusspektrums mit dergleichnamigen Wasserstofflinie einer Geißlerschen Röhreverglich, konstatierte er eine meßbare Verschiebung dererstern gegen die letztere nach dem roten Ende hin und berechnetedaraus, daß sich der Sirius mit einer Geschwindigkeit von 48km pro Sekunde von der Erde entfernt. In dieser Weise könnenmittels des Spektroskops Bewegungen wahrgenommen und gemessenwerden, welche in der Gesichtslinie selbst auf uns zu oder von unsweg gerichtet sind, während ein Fernrohr nur solche Bewegungenwahrzunehmen gestattet, welche senkrecht zur Gesichtslinieerfolgen. So hat Lockyer aus den eigentümlichen Verschiebungenund Verzerrungen, welche die dunkle Linie F des Sonnenspektrums unddie helle Linie F der Chromosphäre bisweilen zeigen, denSchluß ziehen können, daß in derSonnenatmosphäre Wirbelstürme wüten, derenGeschwindigkeit gewöhnlich 50-60, ja manchmal 190 kmbeträgt, während die heftigsten Orkane unsrerErdatmosphäre höchstens eine Geschwindigkeit von 45 m inder Sekunde erreichen. Vgl. Schellen, Die S. (3. Aufl., Braunschw.1883); Roscoe, Die S. (deutsch von Schorlemmer, 2. Aufl., das.1873); Zech, das Spektrum und die S. (Münch. l875); Vogel,Praktische S. irdischer Stoffe (2.Aufl., Nördling. 1888);Lockyer, Das Spektroskop (deutsch, Braunschw. 1874); Derselbe,Studien zur S. (deutsch, Leipz. 1878); Vierordt, Quantitative S.(Tübing. 1875); Klinkerfues, Die Prinzipien der S. und ihreAnwendung in der Astronomie (Berl. 1878); Kayser, Lehrbuch der S.(das. 1883).

Spektralapparate (lat.), optische Apparate zur Erzeugungund Beobachtung des Spektrums: Spektrometer und Spektroskop.

Spektralfarben, die Farben des Spektrums (s. d.).

Spektrometer (lat.-griech.), Apparat zur genauen Messungder Ablenkung der verschiedenen hom*ogenen farbigen Strahlen einesdurch ein Prisma oder Gitter entworfenen Spektrums. DasMeyersteinsche S. (s. Figur) ist ähnlich eingerichtet wie dasBunsensche Spektroskop (s. Spektralanalyse), und die Wirkungsweiseder entsprechenden Teile ist die nämliche. Das Spaltrohr unddas Fernrohr sind nach der Mitte des Tischchens gerichtet, aufwelchem das Prisma (oder das Gitter etc.) aufgestellt wird. Zweigeteilte Kreise, ein kleinerer und ein größerer, sindunabhängig voneinander um ihre vertikalen Achsen drehbar; derletztere dreht sich mit dem Fernrohr und gestattet, an denfeststehenden Nonien die jeweilige Ablenkung der am Fadenkreuz desFernrohrs erscheinenden Spektrallinie abzulesen, während dererstere. das Prisma tragende durch eine Klemme festgehalten wird.Läßt man dagegen den größern Kreisfeststehen, während man durch das ebenfalls feststehendeFernrohr das an einer Prismenfläche gespiegelte Spaltbildanvisiert, und dreht nun den kleinern Kreis samt dem von ihmgetragenen Prisma, bis das an der zweiten Prismenflächegespiegelte Spaltbild am Fadenkreuz erscheint, so erfährt manaus der Drehung, welche man am Nonius des kleinern Kreises abliest,den brechenden Winkel des Prismas; das S. spielt in diesem letzternFall die Rolle eines Reflexionsgoniometers (s. Goniometer). DasInstrument liefert demnach bequem und sicher die beiden Daten, denbrechenden Winkel und die kleinste Ablenkung, welche zur Berechnungder Brechungsverhältnisse (s. Brechung des Lichts)erforderlich sind. Vgl. Meyerstein, Das S. (2. Aufl., Götting.1870).

[Abb: Meyersteins Spektrometer.]

Spektrophon (lat.-griech.), s. Radiophonie.

Spektroskop (lat.-griech.), s. Spektralanalyse.

Spektrum (lat., "Gespenst"), das Farbenbild, in welcheszusammengesetztes Licht durch Dispersion mittels eines Prismas oderdurch Beugung ausgebreitet wird; s. Farbenzerstreuung,Spektralanalyse.

Spekulation (lat.) hat in den verschiedenenphilosophischen Schulen eine verschiedene Bedeutung, indem mandarunter bald ein streng begriffmäßiges(wissenschaftliches) Denken und Erkennen, bald ein vonvernünftigem Reflektieren absehendes visionäres Schauenversteht. In letzterer Bedeutung nahmen die S. zuerst dieNeuplatoniker und neuerlich die Schulen des transcendentalen undabsoluten Idealismus auf. Die Hegelsche Schule versteht unter S.dasjenige Denken, welches streng methodisch alle Gegensätzeund Widersprüche in den Begriffen in höhere Einheitenaufzulösen sucht. Herbart stellt der spekulativen Philosophiedie Aufgabe, die in der Erfahrung enthaltenen Widersprüchedarzulegen und mittels logischer Bearbeitung der Begriffe zubeseitigen. - Im gewöhnlichen Leben, insbesondere im Handel,nennt man S. jede auf die Durchführung sol-

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Spekulationsverein - Spencer.

cher Unternehmungen gerichtete Erwägung, bei welchen dererwartete Gewinn durch Eintritt oder Ausbleiben von Ereignissenbedingt ist, die von dem Willen des Unternehmers (Spekulanten)selber unabhängig sind. Eine jede Unternehmung beruht mehroder weniger auf spekulativer Grundlage, und die S. ist als eineBerücksichtigung zukünftiger Möglichkeiten an undfür sich eine unerläßliche Bedingung geordneterBedarfsdeckung und eines geregelten Wirtschaftslebens. Zuunterscheiden von der soliden S. ist das Spekulationsmanöver,welches unter Benutzung monopolistischer Stellung durch Aufkauf und"Erwürgen" (Vorschreibung harter Bedingungen fürbedrängte Schuldner) oder auch durch betrügerischeAnpreisung, unzulässige Verteilung zu hoher Dividenden etc.die Preise künstlich zu verändern sucht.Spekulationspapiere sind solche Wertpapiere, welche starkenKursschwankungen unterworfen und daher zur Gewinnerzielung aus Kaufund Verkauf sehr geeignet sind. Über Spekulationskauf vgl.Börse, S. 235.

Spekulationsverein (franz. Association en participation),s. Gelegenheitsgesellschaft.

Spekulativ (lat.), auf Spekulation gerichtet,bezüglich, begründet; spekulieren, sich mit Spekulationenbeschäftigen.

Spello, Stadt in der ital. Provinz Perugia, KreisFoligno, an der Eisenbahn Florenz-Foligno-Rom, mit 2 alten Kirchen(mit Gemälden von Pinturicchio und Perugino), einemKonviktkollegium und (1881) 2419 Einw.; das alte Hispellum, wovonnoch ansehnliche Reste vorhanden sind.

Spelt, s. Spelz.

Spelter, s. v. w. Zink.

Spelunke (lat.), Höhle; höhlenartige, dunkle,versteckte Räumlichkeit.

Spelz (Spelt, Dinkel, Dinkelweizen, Triticum Spelta L.),Pflanzenart aus der Gattung Weizen, mit vierseitiger, wenigzusammengedrückter, lockerer Ähre, meistvierblütigen Ährchen und breit eiförmigen,abgeschnittenen, zweizähnigen Deckspelzen, gibt beim Dreschennicht Körner, sondern nur die von der Spindel abgesprungenenÄhrchen (Vesen). Der Dinkel, aus Mesopotamien und Persienstammend, wurde schon von den alten Griechen kultiviert und ist dieZea der Römer, wird auch seit alter Zeit in Schwaben und derSchweiz als Brotfrucht gebaut (der Lech scheidet ziemlich scharfdas Roggen- vom Spelzland). Er ist dem Weizen in mancher Hinsichtvorzuziehen, hat aber trotzdem wenig Verbreitung gefunden, weil dieVesen besondere Mahleinrichtungen fordern und das Dinkelbrot schonam dritten Tag Risse bekommt. Der S. enthält im Mittel 11,02Proz. eiweißartige Körper, 2,77 Fett, 66,44Stärkemehl und Dextrin, 5,47 Holzfaser, 2,21 Asche und 12,09Proz. Wasser. Das Amelkorn (Gerstendinkel, Reisdinkel, Zweikorn,Emmer, Ammer, Sommerspelz, T. amyleum Ser., T. dicoccum Schrk.),mit zusammengedrückter, dichter Ähre, zweizeiligstehenden, meist vierblütigen Ährchen mit zweiKörnern und zwei Grannen und schief abgeschnittenen, an derSpitze mit einem eingebogenen Zahn, auf dem Rücken mithervortretendem Kiel versehenen Deckspelzen, wird im Dinkelgebietund in Südeuropa seit alters her hauptsächlich alsSommerfrucht gebaut und liefert vortreffliche Graupen undvorzügliches Pferdefutter, aber rissiges Gebäck. DasEinkorn (Peterskorn, Blicken, Pferdedinkel, in ThüringenDinkel, T. monococcum L.), mit zusammengedrückter Ähre,meist dreiblütigen, reif nur einkörnigen, eingrannigenÄhrchen und an der Spitze mit einem geraden, zahnförmigenEnde des Kiels und zwei seitlichen geraden Zähnen versehenenDeckspelzen, wird im Gebirge auf magerm Boden gebaut, gibt dort nurdas dritte Korn und wird als treffliches Pferdefutter verwertet.Einkorn ist das in der Bibel vorkommende Kussemeth, aus welchemSyrer und Araber ihr Brot machten. Es hat wenig Verbreitunggefunden.

Spelzblütige, s. Glumifloren.

Spelzen, die Deckblätter der Ährchen (s. d.),besonders bei den Gräsern.

Spencemetall (Eisenthiat), ein von Spence angegebeneszusammengeschmolzenes Gemisch von Schwefeleisen, Schwefelzink,Schwefelblei mit Schwefel, ist metallähnlich, dunkelgrau, fastschwarz, vom spez. Gew. 3,5-3,7; es ist sehr zäh, etwaselastisch, die Zugfestigkeit beträgt 45 kg pro 1 qcm, esleitet die Wärme schlecht und schmilzt bei 156-170°. Aufder Bruchfläche ist es dem Gußeisen ähnlich, undder Ausdehnungskoeffizient scheint sehr klein zu sein. BeimErstarren dehnt es sich wie Wismut und Letternmetall aus, liefertsehr scharfe Abgüsse und eignet sich zur Verbindung von Gas-und Wasserröhren. Im Vergleich mit andern metallischenSubstanzen widersteht das S. den Säuren und Alkalien sehr gut,auch nimmt es hohe Politur an und verliert diese nicht unter demEinfluß der Witterung. Es läßt sich auch sehr gutbearbeiten, und bei seinem niedrigen Preis und dem geringenspezifischen Gewicht stellt sich die Benutzung ungemein billig. Daes von Wasser nicht angegriffen wird, eignet es sichvorzüglich zur Herstellung von Wasserzisternen, wegen desschlechten Wärmeleitungsvermögens zur Bekleidung vonWasserröhren, die es auch vor Rost schützt. In chemischenFabriken dürfte das S. vielfach als Surrogat des Bleiesverwendbar sein; auch eignet es sich als Verbindungsmittel fürEisen mit Stein oder Holz, zum hermetischen Verschluß vonFlaschen und Büchsen, zum Einhüllen von Früchten undLebensmitteln, zu Zeugdruckwalzen, Zapfenlagern, Gußformen,als Unterlage von Klischees etc. S. bildet auch ein gutes Materialfür Kunstguß und Klischees, es gibt die feinsten Detailsaußerordentlich scharf wieder, und durch geeignete Behandlungkann man den Gegenständen eine dunkelblaue Farbe oder eineGold- oder Silber- oder eine der grünen Bronzepatinaähnliche Farbe geben. Die Gußformen können ausMetall, Gips, selbst aus Gelatine bestehen, da das S. schnell genugerstarrt, um einen scharfen Abguß zu liefern, bevor noch dieForm zerstört wird.

Spencer, 1) Georg John, Graf, engl. Bibliophile, geb. 1.Sept. 1758 als Sohn des Lords S., der 1761 zum Viscount Althorp und1765 zum Grafen S. erhoben wurde, machte seine Studien auf derUniversität zu Cambridge, bereiste dann Europa und wurde nachseiner Rückkehr in das Parlament gewählt. Nach dem Todseines Vaters trat er 1783 in das Oberhaus ein, wurde 1794 zumersten Lord der Admiralität ernannt, zog sich dann 1801 mitPitt zurück, übernahm aber in Fox' und GrenvillesMinisterium auf kurze Zeit von neuem das Staatssekretariat desInnern und lebte seitdem in Zurückgezogenheit, bis er 10. Nov.1834 starb. Durch Ankauf der Büchersammlung des Grafen vonRewiczki 1789 hatte er den Grund zu einer Bibliothek gelegt, die erin der Folge durch umfassende und kostspielige Neuerwerbungen zurgrößten und glänzendsten Privatbüchersammlungvon ganz Europa erhob. Sie zählt über 45,000 Bändeund befindet sich zum größ-

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Spencer-Churchill - Spener.

ten Teil auf dem Stammsitz der Familie zu Althorp inNorthamptonshire, der Rest in London. Über den Reichtumderselben an ältesten Buchdruckereierzeugnissen und erstenKlassikerausgaben vgl. Dibdin, Bibliotheca Spenceriana (Lond. 1814,4 Bde.). Auch eine reichhaltige Gemäldesammlung hatte S.angelegt, welche Dibdin in Bd. 1 seines Werkes "Aedes Althorpianae"(Lond. 1822) beschreibt, während er in Bd. 2 als Nachtrag zuder "Bibliotheca Spenceriana" eine Beschreibung der kostbarsten,1815-1822 noch angeschafften alten Drucke gibt.

2) John Charles, Graf von, brit. Staatsmann, bekannter unter demNamen Lord Althorp, geb. 30. Mai 1782, trat nach Vollendung seinerStudien zu Cambridge 1803 ins Unterhaus und war unter Fox undGrenville Lord des Schatzes. Er stand auf seiten der Whigs. ImMinisterium Grey (1830) wurde er Kanzler der Schatzkammer und galtin allen finanziellen und staatswirtschaftlichen Fragen alsAutorität. Er legte auch 2. Febr. 1833 dem Unterhaus dieirische Kirchenreformbill vor, welche der Appropriationsklauselwegen im Kabinett selbst eine Spaltung hervorrief. Als er 1834durch den Tod seines Vaters Mitglied des Oberhauses ward,mußte er sein Schatzkanzleramt niederlegen und widmete sichfortan landwirtschaftlicher Beschäftigung. Später trat erzu der Anticornlawleague. Er starb 1. Okt. 1845. Vgl. Le Marchant,Memoirs of John Charles Viscount Althorp, third Earl of S. (Lond.1876).

3) Frederick, vierter Graf von, Bruder des vorigen, geb. 14.April 1798, trat in den Marinedienst, zeichnete sich in derSchlacht von Navarino aus, erbte 1845 Titel und Güter seinesBruders, war vom Juli 1846 bis September 1848 Lord-Oberkammerherr,avancierte 1852 zum Konteradmiral und übernahm Anfang 1854 alsNachfolger des Herzogs von Norfolk das Amt eines Lord-Steward; erstarb 27. Dez. 1857.

4) John Poynty, fünfter Graf von, brit. Staatsmann, Sohndes vorigen, geb. 27. Okt. 1835, erzogen zu Harrow und Cambridge,war bis zum Tod seines Vaters (27. Dez. 1857) für NorthamptonMitglied des Unterhauses, wo er sich der liberalen Parteianschloß, und trat dann in das Oberhaus ein. Von 1859 bis1861 war er Oberkammerherr (groom of the stole) des Prinzen Albertund bekleidete dann von 1862 bis 1867 das gleiche Amt in derHofhaltung des Prinzen von Wales. Als im Dezember 1868 Gladstoneein neues Ministerium bildete, wurde S. zum Vizekönig vonIrland ernannt, nahm aber im Februar 1874 beim Sturz der liberalenPartei seine Entlassung. Im neuen Gladstoneschen Kabinett (1880-85)erhielt er erst das Amt eines Präsidenten des Geheimen Rats,dann 1882 das des Vizekönigs von Irland und übernahm 1886auf kurze Zeit wieder das Präsidium des Geheimen Rats.

5) Herbert, engl. Philosoph, geb. 1820 zu Derby, wurde vonseinem Vater, einem Lehrer der Mathematik, und seinem Oheim ThomasS., einem liberalen Geistlichen, erzogen, zuerst Zivilingenieur,sodann Journalist und (von 1848 bis 1859) Mitarbeiter an dem von J.Wilson herausgegebenen "Economist", an der "Westminster" und"Edinburgh Review" und andern Zeitschriften, endlichphilosophischer Schriftsteller und Begründer eines eignenSystems, das er als Evolutions- oder Entwickelungsphilosophiebezeichnete. Seine erste bedeutende Schrift war eine Statistik derGesellschaft unter dem Titel: "Social statics" (1851, 1868) nebsteinem Auszug daraus: "State education self defeating" (1851),welcher die "Principles of psychology" (1855) folgten; 1860 beganner nach dem Vorbild von Comtes "Cours de philosophie positive" einezusammenhängende Folge von philosophischen Werken ("System ofsynthetic philosophy"), in welchen "nach ihrer natürlichenOrdnung" die Prinzipien der Biologie, Psychologie, Sociologie undMoral entwickelt werden sollen. Die bisher erschienenen Bändederselben umfassen: "First principles" (1862, 5. Aufl. 1884;deutsch von Vetter, Stuttg. 1876-77), "Principles of biology"(1865, 2 Bde.), eine Umarbeitung der "Principles of psychology"(1870; 3. Aufl. 1881, 2 Bde.), "Principles of sociology" (1876-79,2 Bde.; deutsch von Vetter, Stuttg. 1877 ff.), "Ceremonialinstitutions" (1879), "Political institutions" (1882),"Ecclesiastical institutions" (1885) und "The data of ethics"(1879). Außerdem veröffentlichte S.: "Education:intellectual, moral and physical" (1861, 16. Aufl.1885; deutsch vonSchultze, 3. Aufl., Jena 1889); "Essays, scientific, political andspeculative" (1858 bis 1863, 2 Bde.; 4. Aufl. 1885, 3 Bde.);"Classification of the sciences" (1864, 3. Aufl. 1871); "Recentdiscussions in science, philosophy and morals" (1871); "Study ofsociology" (1873, 14. Aufl. 1889; deutsch von Marquardsen, Leipz.1875, 2 Bde.); "Descriptive sociology" (mit Callier, Scheppig undDuncan, 1873 ff, 6 Bde.); "The rights of children and the trueprinciples of family government" (1879) u. a. Vgl. Fischer,Über das Gesetz der Entwickelung auf physisch-ethischem Gebietmit Rücksicht auf Herbert S. (Würzb. l875); Guthrie, OnSpencer's unification of knowledge (Lond. 1882); Michelet, SpencersSystem der Philosophie (Halle 1882).

Spencer-Churchill, s. Marlborough 3-6).

Spencer-Gewehr, s. Handfeuerwaffen, S. 107.

Spencergolf, großer, tief in das Land eindringenderGolf der Kolonie Südaustralien, zwischen der Eyria- und derYorkehalbinsel. Seine Küsten enthalten eine Reihemittelmäßiger Häfen, der bedeutendste an seinerNordspitze ist Port Augusta, nächstdem Port Pirie, PortBroughton und Wallaroo. An seinem Südwestende bildet PortLincoln einen der vortrefflichsten Häfen der Welt, leiderbietet aber das Land in seiner Umgebung dem Ansiedler sehrwenig.

Spendieren (ital.), freigebig sein, zum besten geben,schenken; spendabel, freigebig.

Spener, Philipp Jakob, der Stifter des Pietismus, geb.13. Jan. 1635 zu Rappoltsweiler im Oberelsaß, widmete sich zuStraßburg theologischen Studien, war 1654-56 Informatorzweier Prinzen aus dem Haus Pfalz-Birkenfeld und besuchte seit 1659noch die Universitäten Basel, Genf und Tübingen. DerAufenthalt in Genf war insofern für seine spätereEntwickelung von Bedeutung, als er hier zu Labadie (s. d.) unddamit zum reformierten Pietismus in Beziehung trat. Aber seinInteresse galt damals mehr der Heraldik; Früchte seiner daraufbezüglichen Studien waren: "Historia insignium" (1680) und"Insignium theoria" (1690), welche Werke in Deutschland diewissenschaftliche Behandlung der Heraldik begründeten. 1663ward S. Freiprediger zu Straßburg, 1664 daselbst Doktor derTheologie, 1666 Senior der Geistlichkeit in Frankfurt a. M. Indieser Stellung begann er, durchdrungen von dem Gefühl,daß man in Gefahr stehe, das christliche Leben über demBuchstabenglauben zu verlieren, seit 1670 in seinem Haus miteinzelnen aus der Gemeinde Versammlungen zum Zweck der Erbauung(collegia pietatis) zu halten, welche 1682 in die Kirche verlegtwurden. Seine reformatorischen Ansichten vom Kirchentum sprach eraus in seinen "Pia desideria, oder herz-

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Spengel - Spenser.

liches Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahrenevangelischen Kirche" (Frankf. 1675; neue Ausg., Leipz. 1846) undin seiner "Allgemeinen Gottesgelahrtheit" (Frankf. 1680), wozuspäter noch seine "Theologischen Bedenken" (Halle 1700-1702, 4Bde.; in Auswahl das. 1838) kamen. Der große Streit überden Pietismus (s. d.) war schon entbrannt, als S. 1686Oberhofprediger in Dresden wurde. Bald ward er in denselbenpersönlich verwickelt, als er gegenüber dem HamburgerPrediger Mayer und dessen Genossen seine Freunde in Schutz nahm.1695 entbrannte der Kampf zwischen S. und dem Pastor Schelwig inDanzig, der jenem nicht weniger als 150 Häresien vorwarf.Unterdessen aber war S. mit der theologischen Fakultät inLeipzig und später auch mit dem Kurfürsten Johann GeorgIII., dem er als Beichtvater in einem Briefe Vorstellungen wegenseines Lebenswandels gemacht, zerfallen und hatte 1691 einen Rufals Propst und Inspektor der Kirche zu St. Nikolai und Assessor desKonsistoriums nach Berlin angenommen, wo er seine Wirksamkeit unterfortdauernden Angriffen seitens der orthodoxen Lutheranerfortsetzte. Leider fehlte es ihm an Energie, um sich scharf gegendie Ausschreitungen seiner Gesinnungsgenossen, insbesondere gegendie Visionen und Offenbarungen des pietistischen Frauenkreises inHalberstadt, auszusprechen. Während die 1694 gestifteteUniversität Halle ganz unter seinem Einfluß stand,ließ die theologische Fakultät zu Wittenberg 1695 durchden Professor Deutschmann 264 Abweichungen Speners von derKirchenlehre zusammenstellen, und letzterm gelang es nicht, durchseine "Aufrichtige Übereinstimmung mit der AugsburgerKonfession" die Gegner zu beschwichtigen. Selbst nach seinem Tod(5. Febr. 1705) wurde der Streit bis gegen die Mitte desJahrhunderts fortgeführt. Behauptete doch der RostockerProfessor der Theologie, Fecht, daß man S. wegen seiner"unmäßigen und unersättlichen Neuerungslust" nichtals einen "Seligen" bezeichnen dürfe. Vgl. Hoßbach,Phil. Jak. S. und seine Zeit (3. Aufl., Berl. 1861); Thilo, S. alsKatechet (das. 1840); Ritschl, Geschichte des Pietismus, Bd. 2(Bonn 1881).

Spengel, Leonhard, Philolog, geb. 24. Sept. 1803 zuMünchen, gebildet daselbst, studierte, nachdem er diePrüfung für das Lehramt am Gymnasium glänzendbestanden, seit 1823 in Leipzig und Berlin, wurde 1826 Lektor, 1830Professor an dem alten Gymnasium seiner Vaterstadt und war danebenseit 1827 Privatdozent an der Universität und zweiter Vorstanddes philologischen Seminars. 1842 ging er als ordentlicherProfessor nach Heidelberg, kehrte 1847 als solcher nachMünchen zurück und starb dort hochgeehrt 9. Nov. 1880. Erwar seit 1835 Mitglied der bayrischen, seit 1842 auch derpreußischen Akademie der Wissenschaften. Seine litterarischeThätigkeit erstreckte sich besonders auf die griechischeRhetorik und Aristoteles. Von den Arbeiten der erstern Art nennenwir: "Συναγωγητεχνων s. artium scriptores ab initiisusque ad editos Aristotelis de rhetorica libros" (Stuttg. 1828),"Anaximenis ars rhetorica" (Zürich u. Winterthur 1844),"Rhetores graeci" (Leipz. 1853-56, 3 Bde.); von denen der letztern:"Aristotelische Studien" (Münch. 1864-68, 4 Tle.),"Aristotelis Ars rhetorica" (Leipz. 1867, 2 Bde.) sowie "AlexandriAphrodisiensis quaestionum naturalium et moralium ad Aristotelisphilosophiam illustrandam libri IV" (Münch. 1842), "Incertiauctoris paraphrasis Aristotelis elenchorum sophisticorum" (das.1842), "ΔεξιππουφιλοσοφουΠλατωνικουεις τας'Αριστοτελουςκατηγοριαςαποριαι τεκαιλυσεις" (das. 1859),"Themistii Paraphrases Aristotelis librorum" (Leipz. 1866, 2 Bde.),"Eudemi Rhodii Peripatetici fragmenta quae supersunt" (Berl. 1866,2. Ausg. 1870). In seinen vielseitigen Aufsätzen, die meist inden "Abhandlungen der bayrischen Akademie" erschienen sind, hat ersich auch um die herculaneischen Rollen sowie um die richtigeBeurteilung einzelner Autoren gegenüber einerübertriebenen Lobpreisung große Verdienste erworben. Vonanderweitigen Ausgaben sind hervorzuheben: "M. Terentii Varronis delingua latina libri" (Berl. 1826; neu hrsg. von seinem Sohn AndreasS., das. 1885); "C. Caecilii Statii deperditarum fabularumfragmenta" (Münch. 1829). Vgl. Christ, Gedächtnisrede aufLeonh. v. S. (Münch. 1881).

Spengler (Spängler), s. v. w. Klempner.

Spengler, Lazarus, geistlicher Liederdichter, geb. 1479zu Nürnberg, ward nach beendeten Rechtsstudien 1507Ratsschreiber daselbst, that viel für Durchführung desReformationswerks in seiner Vaterstadt und ward von derselben zumReichstag nach Worms sowie zu dem nach Augsburg gesandt; starb 7.Sept. 1534. Von ihm sind die Lieder: "Durch Adams Fall ist ganzverderbt" und "Vergebens ist all Müh' und Kost". Sein Lebenbeschrieben Engelhardt (Bielef. 1855) und Pressel (Elbers.1862).

Spennymoor (spr. -muhr), Stadt in der engl. GrafschaftDurham, südlich von Durham, mit Kohlengruben, Eisenhüttenund (1881) 5917 Einw.

Spenser, Edmund, engl. Dichter, geb. 1553 zu London,vielleicht aus vornehmer, sicher unbemittelter Familie, studiertebis 1576 im Pembroke College zu Cambridge, lebte dann in einer derherrlichen Grafschaften des Nordens und kam 1578 nach London, wo ermit Sir Philip Sidney und durch diesen mit dem Grafen von Leicesterbekannt wurde. Er scheint sich um ein Hofamt beworben, auch, wieeine Stelle in seinem "Mother Hubbard's tale" zeigt, dieEnttäuschungen des Hoflebens gekostet zu haben. 1580begleitete er den Statthalter von Irland, Lord Grey, alsSekretär nach Dublin. Sie blieben nur zwei Jahre, doch erhieltS. 1586 in der Grafschaft Cork Landgebiet und lebte fortan, wenigeBesuche in London abgerechnet, ausschließlich dort aufKilcolman Castle, meist als Beamter der Regierung, zuletzt alsClerk des Rats von Munster thätig. Mit den Verhältnissender Insel vertraut, schrieb er 1596 für die Regierung dasdialogische "A view of the present state of Ireland". Dem balddarauf ausbrechenden Aufstand fiel er zum Opfer: sein Haus wurdeverbrannt, er selbst gezwungen, mit seiner Familie nach London zufliehen. Hier starb er 13. Jan. 1599 und ward in derWestminsterabtei begraben, wo ihm die Gräfin Dorset 1620 einDenkmal setzte. Seinen Ruhm dankt S. zwei größernDichtungen. "The shepherd's calendar", Ph. Sidney gewidmet,umfaßt zwölf Hirtengedichte, jedes einem Monatentsprechend; die Schäfer klagen ihren Liebesschmerz,erörtern religiöse Fragen, preisen die Königin. "TheFaery Queen" ist ein romantisch-allegorisches Epos nach dem MusterAriosts und Tassos. Die 3 ersten Bücher erschienen 1590 undwurden der Königin gewidmet, welche die vielen Schmeicheleiendes Dichters mit einer jährlichen Pension von 50 Pfd. Sterl.erwiderte. Die nächsten 3 Bücher wurden 1596veröffentlicht. Es sollten noch 6 andre folgen, doch blieb zuihrer Abfassung dem Dichter weder Ruhe noch Zeit; nur Fragmentesind erhalten. Jedes Buch beschreibt ein Abenteuer, das ein Ritteram Hof der Feenkönigin besteht, und feiert gleichzeitig dieThaten irrender Ritterschaft

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Spenzer - Spergula.

und den Triumph einer Tugend. Aber die Allegorie geht nochweiter: unter der Maske der Feen und Ritter verbirgt der DichterPersonen seiner Zeit. Das Metrum ist die sogen. Spenserstanze (s.Stanze), die Sprache schwungvoll, doch nicht frei von Archaismen.Außer diesen Werken schrieb S. Elegien, Sonette und Hymnen.Die beste Ausgabe seiner Werke lieferte Collier (Lond. 1861, 5Bde.). Vgl. Craik, S. and his poetry (Lond. 1871, 3 Bde.); DeanChurch, E. S. (2. Aufl., das. 1887).

Spenzer (Spencer, Spenser), nach seinem Erfinder, LordSpencer (unter Georg III.), benanntes eng anschließendesÄrmeljäckchen.

Speranskij, Michael, Graf, russ. Staatsmann undPublizist, geb. 1. Jan. 1772 zu Tscherkutino im GouvernementWladimir, besuchte die geistliche Akademie zu Petersburg, war1792-97 an derselben Professor der Mathematik und Physik und ward1801 vom Kaiser Alexander I. zum Staatssekretär beim Reichsraternannt. In dieser Stellung verfaßte er die wichtigstenStaatsschriften jener Periode, organisierte 1802 das Ministeriumdes Innern, sodann auch den Reichsrat neu und trat 1808 an dieSpitze der Gesetzkommission, welche ihm einen festernGeschäftsgang verdankt. 1808 ward er Kollege desJustizministers und Staatsrat und 1809 zum Wirklichen Geheimen Raternannt, 1812 aber auf Verdächtigungen hin zuerst nach NishnijNowgorod, dann nach Perm in die Verbannung geschickt. Schon 1814ward er aber in den Staatsdienst zurückberufen und erhielt dasGouvernement der Provinz Pensa und 1819 das Generalgouvernement vonSibirien. Hier wirkte er besonders segensreich für dasSchicksal der Verbannten und Angesiedelten, bis er im März1821 zum Mitglied des Reichsrats ernannt wurde. Kaiser Nikolausbeauftragte ihn mit der Sammlung des russischen Gesetzbuchs. Diesveranlaßte ihn zu dem gediegenen "Précis de notionshistoriques sur la réformation du corps de lois russes,etc." (Petersb. 1833). Zuletzt in den Grafenstand erhoben, starb er23. Febr. 1839 in Petersburg. Vgl. M. Korff, Leben des Grafen S.(St. Petersb. 1861, 2 Bde.; russisch).

Seine Tochter Elisabeth von Bagrejew-S., geb. 17. Dez. 1799 zuPetersburg, hat sich als Schriftstellerin bekannt gemacht. Siefolgte 1812 ihrem Vater in die Verbannung nach Nishnij Nowgorodsowie 1819 nach Sibirien und verheiratete sich dort mit Herrn v.Bagrejew, mit dem sie nach Petersburg zurückkehrte. ZurEhrendame der Kaiserin Elisabeth ernannt, wurde sie der Mittelpunkteines auserlesenen Kreises von Gelehrten, Künstlern undStaatsmännern, zog sich aber nach dem Tod ihres Vaters (1839)auf ihre Güter in der Ukraine zurück. Der Tod ihreseinzigen Sohns veranlaßte sie zu einer Pilgerfahrt nachJerusalem, die sie in dem Werk "Les pelerins russes" (Brüssel1854, 2 Bde.) beschrieb. Sie starb 4. April 1857 in Wien. Sieschrieb noch: "Méditations chrétiennes"; "La vie dechâteau en Ukraine"; Briefe über Kiew, kleineErzählungen u. a. Vgl. Duret, Un portrait russe (Leipz.1867).

Speránza (ital.), Hoffnung (als Zurufüblich).

Speratus, Paul, Beförderer der Reformation undgeistlicher Liederdichter, geb. 13. Dez. 1484, aus demschwäbischen Geschlecht der von Spretten, studierte zu Parisund in Italien Theologie und wirkte für Verbreitung derReformation in Augsburg, Würzburg, Salzburg und seit 1521 inWien, von wo er sich, infolge einer Predigt über dieMönchsgelübde nicht mehr vor dem Ketzergericht sicher,zuerst nach Ofen, dann nach Iglau begab. Hier wie dort vertrieben,kam er 1524 nach Wittenberg, wo er Luther in seiner Sammlungdeutscher geistlicher Lieder unterstützte. 1525 ward erHofprediger beim Herzog Albrecht von Preußen inKönigsberg und 1529 Bischof von Pomesanien, als welcher ersich um die Organisation des evangelischen Kirchenwesens inPreußen verdient machte. Er starb 17. Dez. 1551 inMarienwerder. Von ihm stammt unter andern das Lied "Es ist das Heiluns kommen her etc." Sein Leben beschrieben Cosack (Braunschw.1861), Pressel (Elberf. 1862), Trautenberger ("S. und dieevangelische Kirche in Iglau", Brünn 1868).

Sperber (Nisus Cuv.), Gattung aus der Ordnung derRaubvögel, der Familie der Falken (Falconidae) und derUnterfamilie der Habichte (Accipitrinae), Vögel mitgestrecktem Leib, kleinem Kopf, zierlichem, scharfhakigem,undeutlich gezahntem Schnabel, bis zur Schwanzmitte reichendenFlügeln, in denen die vierte und fünfte Schwinge dielängsten sind, langem, stumpf gerundetem Schwanz und hohen,schwachen Läufen mit äußerst scharf bekralltenZehen. Beide Geschlechter sind gleich gefärbt. Der S.(Finkenhabicht, Schwalben-, Sperlings-, Stockstößer,Sprinz, Schmirn, N. communis Cuv., s. Tafel "Raubvögel"),(Weibchen) 41 cm lang, 79 cm breit, oberseits schwärzlichaschgrau, unterseits weiß mit rostroten Wellenlinien undStrichen, fünf- bis sechsmal schwarz gebändertem und ander Spitze weiß gesäumtem Schwanz, blauem Schnabel mitgelber Wachshaut, goldgelbem Auge und blaßgelbenFüßen, findet sich in Europa und Mittelasien, streichtim Winter umher und geht bis Nordafrika und Indien. Er bewohntbesonders Feldgehölze, oft in der Nähe von Ortschaften,kommt auch in die Städte, hält sich meist verborgen, gehthüpfend und ungeschickt, fliegt aber schnell und gewandt; erist ungemein mutig und dreist und verfolgt alle kleinen Vögel,welche ihn als ihren furchtbarsten Feind fliehen, wagt sich aberauch an Tauben und Rebhühner. Er nistet in Dickichten nichtsehr hoch über dem Boden, am liebsten auf Nadelhölzernund legt im Mai oder Juni 3-5 weiße, graue odergrünliche, rot und blau gefleckte Eier (s. Tafel "Eier I"),welche das Weibchen allein ausbrütet. Der S. ist ein sehrschädlicher Raubvogel und verdient keine Schonung. In derGefangenschaft wird er durch seine Scheu, Wildheit undGefräßigkeit abstoßend; im südlichen Ural, inPersien und Indien aber ist er ein hochgeachteter Beizvogel.

Sperberfalke, s. v. w. Habicht.

Sperberkraut, s. Sanguisorba.

Sperbervogelbeere, s. Sorbus.

Spercheios, Fluß, s. Hellada.

Sperenberg, Dorf im preuß. RegierungsbezirkPotsdam, Kreis Teltow, am Ursprung der Notte, 42 km südlichvon Berlin, durch eine Militäreisenbahn mit der BahnlinieBerlin-Dresden verbunden, hat eine evang. Kirche, bedeutendeGipssteinbrüche, Gipsmühlen und (1885) 971 Einw. 1867ward hier unter dem Gips ein Steinsalzlager in einer Tiefe von 89 merbohrt; die Bohrungen setzte man bis zu einer Tiefe von 1334 mfort, ohne das untere Ende des Lagers zu erreichen.Wärmemessungen, welche man im Bohrloch anstellte, ergaben beifast stetiger Zunahme in der Tiefe 51° C. Eine Ausbeutung desSteinsalzlagers ist für die nächste Zeit nicht inAussicht gestellt. 4 km südlich von S., durch Eisenbahnverbunden, ein großer Artillerieschießplatz.

Spergula L. (Spergel, Spörgel, Spark,Knöterich), Gattung aus der Familie der Karyo-

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Sperling - Sperlingsvögel.

phyllaceen, ein- oder zweijährige, zweigabelig oderwirtelig ästige Kräuter mit scheinbarquirlständigen, fädigen Blättern, endständigen,ausgespreizten Doldentrauben und fünfklappiger Kapsel mitrunden, geflügelten Samen. Der gemeine Spergel (Ackerspergel,Mariengras, S. arvensis L.), bisweilen 60-90 cm hoch, mitunterseits längsfurchigen Blättern, weißenBlüten und schwarzen, warzigen, schmal berandeten Samen,wächst bei uns auf sandigen Feldern im Getreide, erreichtzumal auf Leinfeldern eine bedeutende Größe und wirdbesonders in dieser Varietät (S. maxima) am Niederrhein und imMünsterland seit mehreren Jahrhunderten gebaut. Er gedeiht ingutem Sandboden bei hinreichender Feuchtigkeit vortrefflich undeignet sich auch auf geringem Boden noch zur Weide. Er nimmt denBoden nicht in Anspruch, verbessert ihn vielmehr, bleibt alsBrachfrucht für Futter nicht über zwei Monate im Acker,gibt vorzügliches Futter für Kühe, als Heu auchfür Schafe und wird von Pferden in jeder Beschaffenheit gerngefressen. Das Spergelheu ist dem besten Wiesenheu gleich zuachten, auch die Spergelsamen haben nicht unbedeutendenNährwert. Die Aussaat pro Hektar beträgt 19-20 kg, derErtrag 8-12 hl Samen oder 1500-2000 kg Kraut; ein Hektoliter wiegt58-62 kg; die Keimfähigkeit der Samen dauert drei Jahre.

Sperling (Spatz, Passer L.. Pyrgita C.), Gattung aus derOrdnung der Sperlingsvögel, der Familie der Finken(Fringillidae) und der Unterfamilie der eigentlichen Finken(Fringillinae), meist gedrungen gebaute, sehr einfach gefärbteVögel mit starkem, dickem, kolbigem Schnabel, welcher anbeiden Kinnladen etwas gewölbt ist, kurzen, stämmigenFüßen mit schwachen Nägeln und mittellangen Zehen,kurzen, stumpfen Flügeln, unter deren Schwingen die zweite bisvierte die Spitze bilden, und kurzem oder mittellangem, am Endewenig oder nicht ausgeschnittenem Schwanz. Der Haussperling (P.domesticus L.), 15-16 cm lang, 24-26 cm breit, ist auf dem Scheitelgraublau, auf dem Mantel braun mit schwarzen Längsstrichen,auf den Flügeln mit gelblichweißer Querbinde, an denWangen grauweiß, an der Kehle schwarz, am Unterkörperhellgrau. Das Auge ist braun, der Schnabel schwarz, im Winterhellgrau, der Fuß gelbbräunlich. Beim Weibchen ist Kopfund Kehle grau, und über dem Auge verläuft ein blaßgraugelber Streifen. Der S. bewohnt den ganzen Norden der AltenWelt südlich bis Nordafrika und Südasien, ist inNordamerika, Australien, Neuseeland und auf Java akklimatisiert,hält sich überall zu den Menschen und nistet auch stetsin unmittelbarer Nähe der Ortschaften, bez. in denHäusern selbst, soweit ihm dadurch Gelegenheit zu sorgenloserErnährung geboten wird, und entfernt sich kaum jemals weit vonder Ortschaft, in welcher er geboren wurde. Er ist einer derklügsten Vögel und durch den Verkehr in der Nähe desMenschen nur noch listiger, verschlagener geworden. SeineBewegungen sind ziemlich plump, auch sein Flug weder geschickt nochausdauernd. Höchst gesellig, trennt er sich nur in derBrutzeit in Paare, und oft steht ein Nest dicht neben dem andern.Er brütet mindestens dreimal im Jahr, das erste Mal schon imMärz, baut ein kunstloses Nest in Höhlungen inGebäuden, Baumlöchern, Starkasten, Schwalbennestern, imUnterbau der Storchnester, im Gebüsch und auf Bäumen undlegt 5-8 bläulich- oder rötlichweiße, braun undaschgrau gezeichnete Eier, welche Männchen und Weibchen 13 bis14 Tage bebrüten. Die Jungen schlagen sich sofort nach demAusfliegen mit andern in Trupps zusammen, welche bald zuFlügen anwachsen, denen sich nach der Brütezeit auch dieAlten zugesellen. Der S. nährt sich vorzugsweise vonSämereien, besonders Getreide, beißt die Knospen derObstbäume ab, benascht auch das Obst und kann bei massenhaftemAuftreten in Kornfeldern, Getreidespeichern und Gärten undauch dadurch recht schädlich werden, daß er Stare,Meisen und andre nützliche Vögel verdrängt. Hier undda, besonders in Italien, wird er gern gegessen. Der Feldsperling(Holz-, Wald-, Rohr-, Bergsperling, P. montanus L.), etwas kleinerals der vorige, am Oberkopf rotbraun, an der Kehle schwarz, auchmit schwarzem Zügel und Wangenfleck, sonst am Kopf weiß,auf der Unterseite hellgrau, auf den Flügeln mit zweiweißen Querbinden, bewohnt Mittel- und Nordeuropa,Mittelasien und Nordafrika, dringt bis über den Polarkreisvor, ersetzt in Indien, China, Japan den Haussperling und ist inAustralien und auf Neuseeland akklimatisiert worden. Er bevorzugtdas freie Feld und den Wald und kommt nur im Winter auf dieGehöfte. Er nistet zwei- bis dreimal im Jahr inBaumlöchern, legt 5-7 Eier, welche denen des Haussperlingsähnlich sind, und erzeugt mit dem letztern angeblichfruchtbare Junge.

Sperlingskauz, s. Eulen, S. 906.

Sperlingsstößer, s. Sperber.

Sperlingsvögel (Passeres, hierzu Tafeln"Sperlingsvögel I u. II"), die artenreichste Ordnung derVögel, Nesthocker von gewöhnlich kleinem Körper, mitSchnabel ohne Wachshaut und mit Wandel-, Schreit- oderKlammerfüßen. Sie leben meist in Gesträuch und aufBäumen, fliegen vortrefflich und bewegen sich auf dem Bodenhüpfend, seltener schreitend. Ihre Nester sind meist kunstvollgebaut; gebrütet wird ein- bis dreimal im Jahr und zwar vonbeiden Geschlechtern. Viele S. sind an dem untern Kehlkopf derLuftröhre (s. Vögel) mit einem besondern Singapparatversehen, welcher aus zwei Paar Stimmbändern und einer Anzahlzu ihrer Regulierung dienender Muskeln besteht und in verschiedenemMaß ausgebildet ist. Man teilt nach diesem Charakter die S.wohl in Singvögel (Oscines) und Schreivögel (Clamatores)ein. Sehr verschieden ist der Schnabel geformt, bald breit, flachund tief gespalten, bald kegelförmig, bald dünn undpfriemenförmig etc. - Die Anzahl der lebenden Artenbeträgt gegen 5700, die in 870 Gattungen und 51 Familiengestellt werden; fossile S. sind nur aus den jüngstenSchichten (Diluvium) bekannt. Ganz oder nahezu kosmopolitisch sindnur wenige Familien (Schwalben, Raben, Bachstelzen, Drosseln); inSüdamerika findet sich fast ein Drittel aller Arten vor. DieGruppierung der Familien ist bei den Autoren mehr oder wenigerwillkürlich, da die natürlichenVerwandtschaftsbeziehungen noch nicht bekannt sind; es genügtdaher hier eine Aufzählung der wichtigsten.

1) Drosseln (Turdidae), Körper kräftig, Kopfgroß, Hals kurz, Schnabel gerade, mit seichter Kerbe vor derSpitze, Flügel mittellang. Etwa 25 Gattungen mit 230 Arten;fehlen in Neuseeland. Man zerfällt sie in mehrereUnterabteilungen: Wasserstare, Drosseln und Spottdrosseln.

2) Sänger (Sylviidae), Schnabel dünn,pfriemenförmig, Flügel mittellang, Gefieder weich,Außenzehe meist lang. Über 70 Gattungen mit etwa 650Arten; fehlen in Amerika südlich von Brasilien. Von den 7Unterfamilien sind bemerkenswert die Flüevögel,Sänger (Laubsänger, Gartensänger, Goldhähnchenund Grasmücke), Schilfsänger, Nachtigallen (Nachtigall,Rotkehlchen, Blaukehlchen und Rotschwanz) und Steinschmätzer(Steinschmätzer, Steindrossel und Wiesenschmätzer).Letztere beiden Gruppen werden vielfach zu den Drosselngerechnet.

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Sperlingsvögel I.

126b

Sperlingsvögel II.

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Sperma - Sperrgetriebe.

3) Zaunkönige oder Schlüpfer (Troglodytidae), Schnabelschlank, pfriemenförmig, Flügel kurz, gerundet, Lauflang. Etwa 20 Gattungen mit über 90 Arten; hauptsächlichin Amerika verbreitet.

4) Baumläufer (Certhiidae), Schnabel schlank und lang,Hinterzehe lang und scharf bekrallt, Schwanz zuweilen mitStemmfedern, die beim Klettern an den Bäumen Verwendungfinden. 5 Gattungen mit 17 Arten; hauptsächlich in Europa undAsien.

5) Spechtmeisen (Sittidae), ähnlich den vorigen, dochSchwanz stets weich. 6 Gattungen mit über 30 Arten; fehlen inMittel- und Südamerika sowie im tropischen Afrika(Kleiber).

6) Meisen (Paridae), Schnabel kurz, fast kegelförmig,Flügel und Schwanz mittellang. 14 Gattungen mit über 90Arten; zahlreich in der Alten Welt und in Nordamerika.

7) Pirole (Oriolidae), Schnabel lang, kegelförmig,Flügel lang, Schwanz mittellang. 5 Gattungen mit 40 Arten; inder Alten Welt.

8) Fliegenfänger (Muscicapidae), Schnabel kurz, hakig,Flügel lang. Über 40 Gattungen mit gegen 280 Arten;fehlen in Amerika gänzlich.

9) Würger (Laniidae), Körper kräftig, Schnabelhakig, stark gezahnt, Schwanz meist lang. RäuberischeVögel; etwa 20 Gattungen mit 150 Arten, fehlen nur inSüd- und Mittelamerika sowie auf Neuseeland; am zahlreichstenin Afrika.

10) Raben oder Krähen (Corvidae), Körper sehrkräftig, Schnabel stark und groß, am Grund mitBartborsten, Flügel mittellang, Füße groß. 30Gattungen mit etwa 200 Arten; fast kosmopolitisch (fehlen nur aufNeuseeland). Von den 5 Unterfamilien sind bemerkenswert dieHäher und Raben (Tannenhäher, Elster und Rabe).

11) Paradiesvögel (Paradiseidae), Schnabel lang, schlank,Flügel und Schwanz mittellang, jedoch einzelne Flügel-oder Schwanzfedern oft enorm verlängert, Füßekräftig, Zehen groß. Etwa 20 Gattungen mit über 30Arten; nur in Australien und auf den benachbarten Inseln(Paradiesvögel und Kragenvogel).

12) Honigsauger (Meliphagidae), Schnabel meist lang und spitz,Flügel mittellang, Schwanz lang und breit, Füßekurz, Zunge vorstreckbar, an der Spitze pinselförmig. Holenaus den Blumen Insekten und Nektar hervor. Über 20 Gattungenmit 140 Arten; nur in Australien und den benachbarten Inseln sowiePolynesien.

13) Sonnenvögel (Nectariniidae), Schnabel lang, spitz,Flügel kurz, Füße ziemlich lang, Zungevorstreckbar, röhrenförmig. Lebensweise wie bei dervorigen Familie. 11 Gattungen mit über 120 Arten; in denheißen Gegenden der Alten Welt.

14) Seidenschwänze (Ampelidae), Schnabel kurz, Flügelziemlich lang. 4 Gattungen mit 8 Arten; Europa, Nordasien, Nord-und Mittelamerika.

15) Schwalben (Hirundinidae), Schnabel ziemlich kurz, mit sehrweiter Spalte, Flügel lang, Schwanz gabelig, Zehen meist lang.9 Gattungen mit über 90 Arten; kosmopolitisch, sogar im hohenNorden.

16) Stärlinge oder Trupiale (Icteridae), Schnabel lang,kegelförmig, Flügel spitz, Schwanz lang, abgerundet,Füße stark, mit langer Hinterzehe, Gefieder meistschwarz mit gelb oder orange. 24 Gattungen mit 110 Arten; nur inAmerika (Trupial, Kuhvogel).

17) Tanagriden oder Tangaren (Tanagridae), Schnabel mit Zahn,Flügel mittellang, Beine kurz, Hinterzehe lang. Fruchtfresser.Über 40 Gattungen mit gegen 300 Arten; in ganz Süd- sowiedem östlichen Teil von Nordamerika.

18) Finken (Fringillidae), Schnabel meist kegelförmig,stets am Grund mit einem Wulst, Flügel und Schwanz mittellang,Beine meist kurz. Über 80 Gattungen mit gegen 500 Arten, diein eine Anzahl Unterfamilien verteilt werden; fehlen nur inAustralien, den benachbarten Inseln und Polynesien. Bemerkenswertsind die Ammern, Kreuzschnäbel, Gimpel (Girlitz undKanarienvogel), Finken (Kernbeißer, Sperling, Fink, Leinfink,Hänfling, Stieglitz, Zeisig und Grünfink) undPapageifinken (Kardinal).

19) Webervögel oder Weberfinken (Ploceidae), Schnabelstark, kegelförmig, Flügel meist mittellang, Schwanzmeist kurz, bauen vielfach beutelförmige Nester. Etwa 30Gattungen mit 250 Arten; in den Tropen Asiens und Afrikas sowie inAustralien und Polynesien, aber nicht auf Neuseeland.

20) Stare (Sturnidae), Schnabel ziemlich, lang, stark,Flügel lang, spitz, Schwanz meist lang, Beine kräftig,Hinterzehe lang. Etwa 30 Gattungen mit 130 Arten; in der AltenWelt, mit Ausnahme jedoch des australischen Festlandes (Star,Madenhacker und Hirtenstar).

21) Lerchen (Alaudidae), Schnabel mittellang, gerade,Flügel lang und breit, Schwanz kurz, Hinterzehe mit langer,gerader Kralle. 15 Gattungen mit 110 Arten; fast nur in der AltenWelt mit Ausnahme Australiens, besonders in Südafrika.

22) Bachstelzen (Motacillidae), Schnabel schlank, ziemlich lang,Flügel und Schwanz lang. 9 Gattungen mit 80 Arten; mitAusnahme Polynesiens überall verbreitet.

23) Königswürger (Tyrannidae), Schnabel stark, langund breit, Flügel lang, spitz, Beine stark. Über 70Gattungen mit gegen 330 Arten; nur in Amerika.

23) Schwätzer oder Schmuckvögel (Cotingidae), Schnabelziemlich groß, Spitze hakig, Flügel lang, spitz, Beinekurz. Etwa 30 Gattungen mit über 90 Arten; in den TropenAmerikas, hauptsächlich in den Wäldern desAmazonenstroms.

24) Leierschwänze (Menuridae), Schnabel mittellang,Flügel kurz, Beine lang, Schwanz mit sehr langen Federn, vondenen die äußern leierartig geschwungen sind. Nur dieGattung Menura mit 2 Arten; im südlichen und östlichenAustralien.

Sperma (griech.), Same; S. ceti, Walrat.

Spermatien, bei Rostpilzen, Kernpilzen und Flechten inbesondern Behältern, den Spermagonien, entstehende sehrkleine, häufig stabförmige oder ovale Zellen, welche inder Regel nicht keimfähig sind und bisweilen, z. B. bei denFlechten, die Rolle männlicher Befruchtungselemente spielen.Auch bei den Florideen unter den Algen kommen S. vor, sie entstehenhier als kugelige oder birnförmige, unbewegliche Körperin den Antheridien und haften bei der Befruchtung dem weiblichenOrgan an (vgl. Algen und Pilze).

Spermatitis (griech.), Samenstrangsentzündung.

Spermatophoren (griech., Samenpatronen), Portionen vonSamenfäden, in besonderer, oft sehr komplizierterUmhüllung, welche bei manchen Tieren, wieKopffüßern, Grillen etc., vom Männchen gebildetwerden und bei der Begattung in die Weibchen gelangen, in derenGeschlechtsorganen die Umhüllung platzt oder sichauflöst, so daß die Samenfäden frei werden.

Spermatorrhöe (griech.), s. v. w.Samenfluß.

Spermatozoiden (Spermatozoen, Antherozoiden, griech.,Samentierchen, Samenfäden), die geformten Elemente desmännlichen Befruchtungsstoffs bei den Tieren; s. Same. - Inder Botanik bewegliche, in den männlichen Geschlechtsorganenbei vielen Thallophyten, allen Muscineen und denGesäßkryptogamen entstehende Formelemente vonverschiedener Gestalt, welche aus besondern Mutterzellen austreten,sich mittels Wimpern im Wasser frei bewegen und zuletzt in dieEizelle der weiblichen Geschlechtsorgane eindringen, um dieselbe zubefruchten (s. Algen, Moose und Gefäßkryptogamen).

Spermestes, Amadine; Spermestinae, s. v. w.Prachtfinken.

Spermogonium (lat.), bei Rostpilzen, Kernpilzen undFlechten Behälter, die in ihrer Höhlung an besondernFäden kleine, häufig stabförmige oder ovale Zellen,die Spermatien (s. d.), abschnüren.

Spermöl, s. v. w. Walratöl.

Spermophilus, Zieselmaus.

Sperrfort, s. Festung, S. 186.

Sperrgesetz, Zollgesetz, welches dann erlassen wird, wenneine Zollerhöhung in Aussicht steht, zur Verhütung einergrößern Einfuhr von Waren, welche durch dasbevorstehende Gesetz mit einem Zoll oder mit einem höhern Zollbelegt werden sollen; auch Bezeichnung für das sogen.Brotkorbgesetz (s. d.).

Sperrgetriebe (Schaltwerk), ein Mechanismus zurHervorbringung einer ruck- oder absatzweise erfolgenden Bewegungderart, daß zwischen zwei Bewegungsperioden eineunbeabsichtigte Bewegung entweder nur nach einer bestimmtenRichtung oder

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Sperrgut - Spessart.

[Fig. 1. Laufendes Sperrgetriebe.]

nach jeder Richtung hin ausgeschlossen ist (einseitige,bez. vollständige Sperrung). S., bei welchen nur eineeinseitige Sperrung stattfindet, heißen laufende S., solchemit vollständiger Sperrung dagegen ruhende S. Ein laufendes S.in seiner einfachsten Form zeigt Fig. 1. Dasselbe besteht aus einemSperrrad S, in dessen Zähne die um einen festen Punkt drehbareSperrklinke K (Sperrhebel, Sperrkegel, Sperrzahn) unter derEinwirkung einer Feder so eingreift, daß das Rad zwar in derPfeilrichtung herumgedreht werden kann (wobei die Sperrklinkeüber die schrägen Flächen der Zähnehinweggleitet), an einer Drehung nach der andern Seite jedoch durchdie einfallende und sich gegen die geraden Zahnflächenstemmende Sperrklinke gehindert wird. Um die Achse des Rades S istnoch ein Hebel drehbar, der mit einer Sperrklinke K1 versehen ist.Wird der Hebel an seinem Griff H hin u. her bewegt, so gleitet beider dem Pfeil entgegengesetzten Bewegung die Klinke K1 überdie Zähne des nach derselben Richtung hin durch die Klinke Kgesperrten Rades S hinweg. Bei einer darauf folgenden Drehung desHebels H in der Richtung des Pfeils fällt jedoch seine KlinkeK1 in das Sperrrad ein u. nimmt dasselbe mit herum. Derartigelaufende S. haben eine außerordentlich großeVerbreitung, ganz besonders als Vorrichtungen zum Vorrückendes Werkzeugs gegen das Arbeitsstück oder umgekehrt, fernerbei Zählwerken, Hubzählern, Rechenstiften, alsAufziehvorrichtung, bei Musikwerken, als Hebewerkzeug beiWagenwinden etc.

Als ein ruhendes S. zeigt sich das sogen. Einzahnrad (Fig. 2).Hierbei ist S ein Sperrrad, welches zur Sperrung mitkreisförmigen Ausschnitten k versehen ist, währendzwischen je zwei derselben eine Zahnlücke l zur Fortbewegungangebracht ist. In die Ausschnitte k legt sich eine genauhineinpassende Scheibe E, die im allgemeinen am Rand glattbearbeitet ist und nur an einer Stelle einen Zahn mit zweibenachbarten Lücken hat (daher der Name Einzahnrad). DasSperrrad wird so lange an jeder Bewegung nach rechts oder linksverhindert werden, als sich der kreisförmige Teil von E ineinem der Ausschnitte k befindet. Sobald man jedoch die Scheibe Eso dreht, daß der Zahn z mit der benachbarten (linken oderrechten) Lücke des Rades S in Eingriff kommt, so bewegt sich Snach rechts oder links um einen Ausschnitt herum, wird jedoch imnächsten Augenblick durch die in den Ausschnitt eintretendePeripherie von E wieder festgehalten. Dieses Einzahnrad findetunter anderm Verwendung an den Federgehäusen der Federuhrenals Schutzvorrichtung gegen das übermäßigeAufziehen, wobei zwischen zwei der Lücken l die Radperipherievoll kreisförmig stehen gelassen ist, so daß das Radnach rechts und links immer nur bis zu dieser Stelle gedreht werdenkann. In etwas abgeänderter Form erscheint das Einzahnrad alssogen. Johanniterkreuz. Hierbei wird der Zahn z durch einen zurEbene des Rades E senkrecht stehenden Stift ersetzt, welcher inentsprechende Schlitze des Rades S greift.

[Fig. 2. Ruhendes Sperrgetriebe.]

Sind vier solche Schlitze vorhanden, so erhält Rad S dasAussehen eines Johanniterkreuzes. Statt des einen Zahns zkönnen auch mehrere nebeneinander liegende Zähneangebracht sein, für welche dann im Rad S eine entsprechendeAnzahl nebeneinander liegender Lücken l vorhanden seinmuß. Auf dem Prinzip des Einzahnrades beruhen die sogen.französischen Schlösser, nur wird hier zur Sperrung nichtdie ungezahnte Peripherie von E, sondern ein besonderer Sperrzahn(die sogen. Zuhaltung) benutzt, welcher jedesmal von dem den Zahn zersetzenden Schlüssel erst ausgehoben sein muß, bevordie Bewegung von S (welches bei Schlössern in der Regel durcheinen geradlinig geführten Riegel ersetzt ist) erfolgenkann.

Sperrgut, s. Maßgüter und Gut, S. 946.

Sperrsystem, das staatswirtschaftliche System, welchesdurch Verbote, hohe Zölle etc. das Inland gegen fremdeLänder absperrt.

Sperrventil, in der Orgel eine Klappe im Hauptkanal,welche den Zugang des Windes zum Windkasten völlig absperrtund durch einen besondern Registergriff regiert wird.

Sperrvögel (Hiantes Brehm), Ordnung der Vögel:Schwalben, Segler, Nachtschwalben, Schwalme.

Sperrzeug, s. Jagdzeug.

Spervogel, Dichter des 12. Jahrh., wahrscheinlichbürgerlichen Standes und aus Oberdeutschland gebürtig.Die Handschriften unterscheiden einen ältern und einenjüngern S., ohne jedoch ihre Gedichte zu trennen. Letzterebestehen in Liedern (Weihnachts- und Osterlieder), lehrhaftenSprüchen, Fabeln etc. (hrsg. von Gradl, Prag 1869). Vgl.Henrici, Zur Geschichte der mittelhochdeutschen Lyrik (Berl.1876).

Spes, bei den Römern Personifikation der "Hoffnung",besonders auf Ernte- und Kindersegen; ward dargestellt als einschlankes Mädchen, auf den Zehen leicht hinschwebend, in derRechten eine Blume, im Typus den altertümlichen Bildern dervoll gekleideten Aphrodite gleichend, zur Seite die Krähe, dasSymbol der langen Dauer. Eine inschriftlich gesicherte Statue derS. besitzt die Villa Ludovisi in Rom.

Spesen (ital.), Auslagen, Unkosten; im engern Sinnallerlei Nebenkosten, wie diejenigen an Abgaben, Sensarie,Provision, Verpackung etc. Im weitern Sinn überhaupt alleAusgaben, welche einem Handelsgeschäft erwachsen, wieHandlungsspesen (Ausgaben an Lohn, Miete etc.), Reisespesen; soinsbesondere auch die Auslagen und Gebühren, welche fürdie Besorgung fremder Geschäfte berechnet werden, wienamentlich die S. des Spediteurs (s. Spedition), dessendarüber ausgestellte spezifizierte Rechnung Spesennota genanntwird, und die sogen. Inkassospesen, welche für dasEinkassieren einer fremden Forderung in Ansatz kommen. VonSpesennachnahme spricht man, wenn Spesen des Spediteurs nachHerkommen oder Verabredung vom Frachtführer, der denWeitertransport besorgt, erhoben und von diesem dann beiAblieferung des Gutes eingezogen werden.

Spessart (Speßhart, im Nibelungenlied Spechteshart,"Spechtswald"), Waldgebirge im westlichen Deutschland, liegtinnerhalb des Bogens, welchen der Main von der Mündung derFränkischen Saale und der Sinn bei Gemünden bis zurMündung der Kinzig bei Hanau macht, und wird im N. durch dieKinzig vom Vogelsberg und im NO. durch die Sinn von der Rhöngeschieden. Seine äußersten Verzweigungen erstreckensich bis gegen Salmünster, Schlüchtern und Brückenauhin. Er gehört größtenteils zum bayrischenRegierungsbezirk Unterfranken, zum Teil auch

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Spessartin - Spezia.

zum preußischen Regierungsbezirk Kassel und erscheint alswaldiges Massengebirge mit abgerundeten, wenig über dieGesamthöhe sich erhebenden Kuppen. Der Hauptrücken ziehtsich von Süden, Miltenberg gegenüber, 75 km lang nach N.bis zur Quelle der Aschaff in der Gegend von Schlüchtern undsteigt zu einer Höhe von 450-600 m an. Hier sind derEngelsberg bei Großheubach (mit Kapuzinerkloster) und der 615m hohe Geiersberg, die höchste Erhebung des ganzen Gebirges,nördlich vom Rohrbrunner Paß, durch welchen dieStraße von Aschaffenburg nach Würzburg führt,während die Eisenbahn das Gebirge weiter nördlich vonAschaffenburg ostwärts nach Gemünden durchschneidet. DieHauptmasse des Spessarts besteht aus Granit, Gneis undGlimmerschiefer mit aufgelagertem roten und gefleckten Sandstein.An den untern Abhängen bebaut, ist der S. auf den Höhenmit prachtvollem Eichen- und Buchenwald bedeckt. Deräußere Saum längs des Mains, namentlich im W., wirdals Vorspessart, das innere, aus dicht zusammenschließendenBergen bestehende Waldgebirge, welches keine breite Bergebeneaufweist, als Hochspessart, die plateauartige Absenkung gegen dieKinzig und Kahl hin, welche auch das sogen. Orber Reisig (s. d.),mehrere mit Eichengebüsch bedeckte Anhöhen, bis zur StadtOrb umfaßt, als Hinterspessart bezeichnet. Die Bewohnerbeschäftigen sich viel mit Verarbeitung des Holzes, namentlichzu Faßdauben. Der Bergbau ist nicht bedeutend. Eine Salineist zu Orb in Betrieb; auch gibt es mehrere Glashütten. Aufder Scheide der nach W. und O. dem S. entfließendenGewässer zieht sich vom Engelsberg über den Geiersbergbis zum Orber Reisig der uralte Eselspfad (ähnlich demRennstieg im Thüringer Wald). Unter den zahlreichenBächen des Spessarts sind die Sinn, Lohr, Hafenlohr, Elsawa,Aschaff, Bieber und Kahl die ansehnlichsten. Erst neuerdings ist esdem Spessartklub gelungen, die Aufmerksamkeit der Reisenden auf dieSchönheiten dieses bisher wenig besuchten Gebirgeshinzulenken. Vgl. Behlen, Der S. (Leipz. 1823-27, 3 Bde.); Schober,Führer durch den S. etc. (Aschaffenb. 1888); Herrlein, Sagendes S. (2. Aufl., das. 1885): Welzbacher, Spezialkarte vom S.,1:100,000 (5. Aufl., Frankf. 1885).

Spessartin, s. Granat.

Spetsä (Spezzia, Petsa, im Altertum Pityussa), einezum griech. Nomos Argolis und Korinth gehörige Insel,östlich am Eingang des Golfs von Nauplia, 17 qkm (0,30 QM.)groß, mit steinigem, wenig fruchtbarem Boden und (1879) 6899Einw. Auf der Nordostküste liegt der gleichnamige Hauptort,mit guter Reede, einer Marineschule und (1879) 6495 Einw.Südlich von S. die unbewohnte Insel Spetsopulon (2 qkm), wodie Venezianer 1263 über die Griechen siegten.

Speusippos, griech. Philosoph, Schwestersohn des Platon,geboren zwischen 395 und 393 v. Chr., trat nach Platens Tod (347)an dessen Stelle in der Akademie, zog sich aber nach acht Jahrenwieder zurück und machte seinem Leben freiwillig ein Ende(jedenfalls vor 334). In seiner Lehre sich im ganzen eng an Platonanschließend, soll er nur darin von ihm abgewichen sein,daß er zwei Kriterien der Wahrheit, eins für dasDenkbare und eins für das sinnlich Wahrnehmbare, aufstellte.Seine zahlreichen Schriften sind sämtlich verloren gegangen.Vgl. Fischer, De Speusippi Atheniensis vita (Rastatt 1845);Ravaisson, Speusippi placita (Par. 1838).

Spey (spr. speh), Fluß in Schottland, entspringtauf dem Grampiangebirge in der Landschaft Badenoch, fließtdurch ein wildromantisches Thal und mündet bei Garmouth in dieNordsee. Er ist 154 km lang, wird aber erst kurz vor seinerMündung schiffbar.

Speyer, Stadt, s. Speier.

Spezereien (ital. spezierie, franz. épiceries),Gewürzwaren, würzige, wohlriechende Pflanzenstoffe.

Spezia, Kreishauptstadt in der ital. Provinz Genua, imHintergrund des tiefen Golfs von S., Station der EisenbahnGenua-Pisa, ist der seit 1861 im Bau begriffene großeKriegshafen Italiens an herrlicher Bucht, welche die ganzeitalienische Flotte aufnehmen kann, und deren Höhen nebst deram Eingang liegenden Insel Palmaria mit starken Forts besetzt sind.Der Hafen umfaßt 4 große Docks, 2 innere Hafenbassins,Schiffswerften und ein Arsenal. Auch befinden sich hier einegroße Eisengießerei, Kabelfabrik,Maschinenbauwerkstätte, Bleiweiß-, Leder- undSegeltuchfabriken u. a. Der Handelshafen ist gleichfallsvortrefflich (1887 liefen 2585 Schiffe von 362,627 Ton. ein) undbedarf zu seiner Belebung nur der Vollendung der in Angriffgenommenen Eisenbahn über die Apenninen nach Parma. Die Stadthat (1881) 19,864 Einw. Sie ist Sitz einesMarinedepartementkommandos, eines Hafenkapitanats, mehrererKonsulate (darunter auch eines deutschen) und hat eine Schulefür Nautik und Schiffbau, ein Lyceum und Gymnasium und einetechnische Schule. Wegen seines milden Klimas, seiner Seebäderund seiner herrlichen Umgebung ist S. von Fremden (auch im Winter)viel besucht. Am Hafen befinden sich schöne Promenaden. Hier(im Fort Varignano) wurde Garibaldi 1862 nach seiner Verwundung amAspromonte und 1867 nach der verunglückten Unternehmung widerRom eine Zeitlang gefangen gehalten. Die Umgegend lieferttreffliches Olivenöl; westlich von S., bei Vernazzo,wächst der berühmte Wein Cinque-Terre. Östlich vonS. liegen die Ruinen der alten Stadt Luna, nach welcher der Golf imAltertum Portus Lunae hieß.

[Situationsplan von Spezia.]

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd.

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Spezial - Spezifisches Gewicht.

Spezial (lat.), das Einzelne, Besondere betreffend, meistin Zusammensetzungen gebraucht, z. B. Spezialkarte (im Gegensatz zuGeneral-); als Hauptwort s. v. w. Vertrauter, Busenfreund, auchSpezereihändler. Spezialien, Einzelheiten, besondereUmstände.

Spezialakten, s. Generalien.

Spezialetat, s. Etat.

Spezialhandel, s. Handelsstatistik, S. 99.

Spezialinquisition, s. Strafprozeß.

Spezialisation (lat.), in der Morphologie die Ausbildungder Organe für einen besondern, beschränkternWirkungskreis, um die dafür passende Arbeit in höhererVollkommenheit zu liefern. Im Gegensatz hierzu steht eineallgemeinere, noch den verschiedensten Zwecken dienstbare,ursprüngliche Organisation. Die S. prägt sich am meistenin den Sinnesorganen, dem Gebiß und in der Bildung derEndgliedmaßen aus. So sind die fünfgliederigenFüße der Vierfüßer, solange Finger und Zehenfrei sind, in der Regel zu den verschiedensten Thätigkeitenals Greif-, Schreit-, Kletterfüße etc. brauchbar; sinddagegen die Zehen durch Flug- oder Schwimmhaut (z. B. beiFledermäusen und Robben) verbunden oder vermindert sich dieZehenzahl (bei den Huftieren) auf zwei oder ein Glied, so haben wirspezialisierte Organe, die nur noch als Flug-, Schwimm- undLauffüße brauchbar sind, aber diese Arbeit dafür inhöchster Vollkommenheit leisten. Vgl. Arbeitsteilung.

Spezialisieren (franz.), im einzelnen und besondernanführen, bestimmen.

Spezialist (franz.), einer, der einem besondern Fach derWissenschaft sich ausschließlich widmet, z. B. einSpezialarzt für Halsleiden etc.

Spezialität (lat.), Einzelheit, Besonderheit;Spezialfach eines Wissens oder einer Thätigkeit. Im Pfandrechtversteht man unter dem Prinzip der S. den Grundsatz, wonach nur anbestimmten einzelnen Vermögensgegenständen und nicht andem ganzen Vermögen einer Person ein Pfandrecht bestelltwerden kann (s. Hypothek).

Spezialmandat (Spezialvollmacht), s. Mandat.

Spezialtarife, s. Eisenbahntarife.

Spezialwaffen (Spezialtruppen), ein nicht feststehenderBegriff, durch den meist die Waffen außer Infanterie undKavallerie bezeichnet werden.

Speziell (lat.), s. v. w. spezial (s. d.), besonders,einzeln, im Gegensatz zu generell und universell.

Spezies (lat. species), Erscheinungsform, Gestalt, Bild,Schein (z. B. sub specie, unter dem Schein; sub utraque specie,unter beiderlei Gestalt); in der Naturwissenschaft s. v. w. Art; inder Technik und Pharmazie Bezeichnung für Waren, Gewürze,Spezereien, besonders Mischungen aus zerschnittenen vegetabilischenSubstanzen, wie Species aromaticae, aromatische Kräuter (s.d.), S. ad decoctum lignorum, Holztrank (s. d.), S. laxantesSt.-Germain, St.-Germainthee (s. Sennesblätter), S.pectorales, Brustthee (s. d.); in der Arithmetik (vier S.)Bezeichnung der vier Grundrechnungsarten: Addition, Subtraktion,Multiplikation u. Division; auch s. v. w. Speziesthaler.

Spezieskauf, Kauf genau bestimmter einzelnerGegenstände; s. Gattungskauf.

Speziesthaler (Spezies, harter Thaler), in mehrerenStaaten, zuletzt noch in Österreich, ausgeprägteSilbermünze. Der österreichische S. war bis zurMünzkonvention von 1857 die Einheit der österreichischenMünze, = 2 Konventionsgulden = 4,20 Mark; 10österreichische S. = 1 kölnische Mark fein Silber. Derdänische S. = 4,551 Mark. In Norwegen ist der S. derselbe wiein Dänemark, er wird seit 1. Jan. 1874 zu 4 Kronen à 30Skillinge oder à 100 Öre = 400 Öre gerechnet.

Spezifikation (lat.), Aufzählung von Einzelheiten,die ein Ganzes bilden; in der Rechtssprache die Verfertigung einerneuen Sache aus einem vorhandenen Stoff und zwar so, daß sichder letztere nicht wiederherstellen läßt.

Spezifisch (lat.), in der Physik Bezeichnung einerEigenschaft, welche einem bestimmten Stoff seiner Natur nachzukommt, eigen ist, z. B. spezifisches Gewicht, spezifischeWärme, spezifisches Volumen.

Spezifische Arzneimittel (Specifica), besonders wirksameMittel, von denen man früher annahm, daß sie die alsEinheit gedachte Krankheit bekämpften und nur auf dieerkrankten Organe wirkten, während man jetzt weiß,daß auch diese Arzneien auf alle Gewebe Einflußüben und nur einzelne derselben besonders stark betreffen. Alss. A. gelten Quecksilber gegen Syphilis, Chinin gegen Wechselfieberetc.

Spezifische Energie, s. Sinne, S. 993.

Spezifisches Gewicht (Dichte, Dichtigkeit) einesKörpers ist die Zahl, welche angibt, wie vielmal derKörper schwerer ist als ein gleiches Volumen Wasser von 4°C. Man findet demnach das spezifische Gewicht eines Körpers,wenn man sein absolutes Gewicht durch das Gewicht eines gleichenVolumens Wasser dividiert. Bezeichnet man mit s das spezifischeGewicht des Körpers, mit p sein absolutes Gewicht und mit vdas absolute Gewicht eines gleich großen Raumteils Wasser, soist s = p/v, folglich auch v = p/s und p = v s. Wenn, wie bei demmetrischen Maßsystem, das Gewicht der Volumeinheit Wasser zurGewichtseinheit gewählt ist (1 g = dem Gewicht von 1 ccmWasser bei 4° C.), so drückt die Zahl v, welche dasGewicht des gleichen Wasservolumens (in Grammen) angibt, zugleichdas Volumen des Körpers (in Kubikzentimetern) aus. Wirkönnen daher obige Beziehungen auch wie folgt aussprechen: manfindet das spezifische Gewicht eines Körpers, wenn man seinabsolutes Gewicht durch sein Volumen dividiert; man findet seinVolumen, indem man das absolute durch das spezifische Gewichtdividiert; das absolute Gewicht eines Körpers ergibt sich,wenn man sein Volumen mit seinem spezifischen Gewichtmultipliziert. Das spezifische Gewicht eines Körpers kanndemnach auch bezeichnet werden als das Gewicht der Volumeneinheit.Um das spezifische Gewicht eines Körpers zu bestimmen, brauchtman nur nebst seinem absoluten Gewicht noch sein Volumen oder, wasdasselbe ist, das Gewicht eines gleich großen Volumens Wasserzu ermitteln. Bei Flüssigkeiten geschieht dies mit Hilfe desPyknometers (Tausendgranfläschchens, Dichtigkeitsmessers),eines 8-20 ccm fassenden Glasfläschchens (Fig.1), desseneingeriebener Stöpsel aus einem StückThermometerröhre verfertigt ist, damit bei etwanigerErwärmung ein Teil der Flüssigkeit durch die feineÖffnung austreten könne, ohne den Stöpsel zu hebenoder das Gefäß zu gefährden. Wägt man dastarierte Fläschchen zuerst mit der Flüssigkeit, deren s.G. bestimmt werden soll, sodann mit Wasser gefüllt, soerfährt man das spezifische Gewicht durch Division des erstenGewichts durch das zweite. Auch zur Bestimmung des spezifischenGewichts fester Körper kann das Pyknometer gebraucht werden.Man wägt zuerst das Fläschchen mit Wasser gefüllt,legt den in

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Spezifisches Gewicht.

Stückchen von Schrotgröße zerkleinertenKörper auf die nämliche Wagschale und bestimmt seinabsolutes Gewicht. Wirft man nun die Stückchen in dasFläschchen, so muß notwendig so viel Wasserausfließen, als von den hineingeworfenen Stückchenverdrängt wird, und man erfährt nun durch eine abermaligeWägung, wieviel ein dem Volumen der Körperstückchengleiches Volumen Wasser wiegt. Eine andre gleichfallsvorzügliche Methode der Bestimmung des spezifischen Gewichtsgründet sich auf das sogen. Archimedische Prinzip, wonachjeder in eine Flüssigkeit getauchte Körper so viel vonseinem Gewicht verliert, wie die verdrängteFlüssigkeitsmenge wiegt. Man bedient sich hierzu der sogen.hydrostatischen Wage (s. Hydrostatik, S.842), deren eine Wagschalekürzer aufgehängt und unten mit einem Häkchenversehen ist, woran man mittels eines möglichst dünnenDrahts den zu untersuchenden Körper aufhängt, um ihnzuerst wie gewöhnlich in der Luft und dann, nachdem er in einuntergestelltes Gefäß mit Wasser eingetaucht ist,nochmals im Wasser zu wägen. Die Gewichte, welche man imletztern Fall von der ersten Wagschale wegnehmen oder auf diekürzer aufgehängte Wagschale zulegen muß, um dasgestörte Gleichgewicht wiederherzustellen, geben das Gewichtder verdrängten Wassermenge an, mit welchem man nur in dasabsolute Gewicht des Körpers zu dividieren braucht, um sein s.G. zu erfahren. Ist der Körper in Wasser löslich, sotaucht man ihn in eine andre Flüssigkeit, in welcher er sichnicht löst, und bestimmt seinen Gewichtsverlust; ist dasspezifische Gewicht derselben bekannt, so findet man durch eineeinfache Rechnung den Gewichtsverlust, welchen er im Wassererlitten haben würde. Einen Körper, welcher spezifischleichter ist als Wasser und daher in demselben nicht untertaucht,verbindet man mit einem schwerern Körper, dessenGewichtsverlust bereits bestimmt ist. Auch das spezifische Gewichtvon Flüssigkeiten läßt sich mittels derhydrostatischen Wage leicht finden. Man bringt nämlich einenunter der kürzern Wagschale aufgehängten beliebigenKörper, z. B. ein Glasstück, in der Luft durch eine aufdie andre Wagschale gelegte Tara ins Gleichgewicht und bestimmt nunseinen Gewichtsverlust zuerst in der zu untersuchendenFlüssigkeit und dann in Wasser; jener Verlust, durch diesendividiert, gibt das gesuchte spezifische Gewicht. DerGewichtsverlust, welchen ein und derselbe Körper inverschiedenen Flüssigkeiten erleidet, ist dem spezifischenGewicht offenbar proportional. Auf diesen Satz gründet sichdie Mohrsche Wage (Fig. 2), welche das spezifische Gewicht vonFlüssigkeiten sehr rasch und bequem zu bestimmen erlaubt. Andem einen Arm des Wagebalkens hängt mittels eines feinenPlatindrahts das Senkgläschen A, ein zugeschmolzenes, zum Teilmit Quecksilber gefülltes oder ein kleines Thermometerenthaltendes Glasröhrchen, welches durch die Wagschale Bgerade im Gleichgewicht gehalten wird. Die Gewichte bestehen aushakenförmig gebogenen Messingdrähten P, von denen zweijedes genau so viel wiegen, wie der Gewichtsverlust desSenkgläschens im Wasser ausmacht, während ein drittes1/10 P, ein viertes 1/100 P wiegt. Der Wagebalken, an welchem dasSenkgläschen hängt, ist in 10 gleiche Teile geteilt. Willman nun das spezifische Gewicht einer Flüssigkeit bestimmen,so bringt man dieselbe in das Standgefäß CC und tauchtdas Senkgläschen in sie ein. Ist die Flüssigkeit z. B.konzentrierte Schwefelsäure, so muß man, um dasGleichgewicht herzustellen, das eine Gewicht P an das Ende h desWagebalkens, das andre Gewicht P bei 8, das Gewicht 1/10 P bei 4und das Gewicht 1/100 P wieder bei 8 anhängen und hat hiermitdas spezifische Gewicht der Schwefelsäure = 1,848 gefunden.Über die Bestimmung des spezifischen Gewichts durchAräometer, welche sich ebenfalls auf das Archimedische Prinzipgründen, s. d. In einer zweischenkeligen Röhre(kommunizierende Röhren) b e d (Fig.3) halten sich zweiFlüssigkeiten das Gleichgewicht, wenn ihre von derTrennungsschicht a c aus gerechneten Höhen a b und c d sichumgekehrt verhalten wie ihre spezifischen Gewichte; alsdannüben sie nämlich auf die im gleichen Niveau gelegenenQuerschnitte a und c, unterhalb welcher die Flüssigkeitsmengea e c für sich schon im Gleichgewicht ist, gleichen Druck aus.Befindet sich z. B. in dem einen Schenkel und in der BiegungQuecksilber, im andern Schenkel Wasser, so ist im Fall desGleichgewichts die Höhe c d der Quecksilbersäule 13,6malgeringer als diejenige der Wassersäule a b, woraus sich dieZahl 13,6 als s. G. des Quecksilbers ergibt. Darauf gründetsich Musschenbroeks Aräometer (Hygroklimax), welches in derForm, die Ham ihm gegeben hat, in Fig. 4 dargestellt ist. ZweiGlasröhren sind oben durch eine Metallröhre, an die einmit einem Hahn verschließbares, nach oben gerichtetesRöhrchen angesetzt ist, verbunden und tauchen mit ihrenoffenen Enden in zwei Gläser, deren eins Wasser, das andre diezu untersuchende Flüssigkeit enthält. Verdünnt mandurch Saugen an dem Röhrchen die innere Luft undschließt den Hahn, so werden die Flüssigkeiten durch denäußern Luftdruck in die Röhren gehoben, und mankann ihre Höhen, nachdem mittels Schrauben dieFlüssigkeitsoberflächen in den Gläsern auf dasgleiche Niveau gebracht sind, an der Skala ablesen; die Höheder Wassersäule, durch die Höhe der andernFlüssigkeit-

[Fig. 2. Mohrsche Wage.]

[Fig. 3. Kommunizierende Röhren.]

[Fig. 4. Musschenbroeks Aräometer.]

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Spezifisches Gewicht - Spezifische Wärme.

säule dividiert, gibt das spezifische Gewicht der letztern.Über die Bestimmung des spezifischen Gewichtspulverförmiger Körper s. Stereometer.

Um das spezifische Gewicht eines Gases zu bestimmen, wird einGlasballon von 8-10 Lit. Inhalt, dessen Hals mittels einerMessingfassung, die durch einen Hahn verschließbar ist, aufdie Luftpumpe geschraubt werden kann, möglichst luftleergepumpt und nun gewogen. Alsdann füllt man ihn bei 0° mitdem trocknen Gas und wägt ihn nochmals. Der Unterschied derbeiden Gewichte ist das Gewicht des Gases bei 0° und dem geradeherrschenden Barometerstand und braucht nur durch das zuvor genauermittelte Volumen des Ballons dividiert zu werden, um dasspezifische Gewicht des Gases für diesen Druck zu liefern. MitHilfe des Mariotteschen Gesetzes kann daraus leicht das spezifischeGewicht bei dem Normalbarometerstand von 760 mm gefunden werden.Überhaupt müssen bei der Bestimmung des spezifischenGewichts der Gase Temperatur, Druck und andre Umständesorgfältige Berücksichtigung finden. Um die Korrektionwegen des Gewichtsverlustes, welchen der Ballon durch die umgebendeatmosphärische Luft erleidet, zu umgehen, hing Regnault an denandern Wagebalken einen ganz gleichen Glasballon, dessenäußeres Volumen dem des ersten vollkommen gleich gemachtwar. Da die spezifischen Gewichte der Gase, auf Wasser bezogen,durch sehr kleine Zahlen ausgedrückt sind, so nimmt manfür sie gewöhnlich die Luft als Einheit. Ein sehrsinnreiches Verfahren zur Bestimmung der spezifischen Gewichte derGase wurde von Bunsen auf den Satz gegründet, daß dieAusströmungsgeschwindigkeit der Gase den Quadratwurzeln ausihren spezifischen Gewichten umgekehrt proportional sind, oder, wasdasselbe ist, daß ihre spezifischen Gewichte sich verhaltenwie die Quadrate der Ausströmungszeiten gleicher Volumina. DasGas befindet sich in der Glasröhre A A (Fig. 5), die sich obenin ein Röhrchen B verengert, in welches bei v ein dünnesPlatinplättchen mit einer feinen Öffnung eingeschmolzenist, aus der nach Wegnahme des Stöpsels s das Gasausströmt. Die Röhre A A wird, während derStöpsel aufgesetzt ist, so tief in das Quecksilber desStandgefäßes C C hinabgedrückt, daß dieSpitze r des gläsernen Schwimmers D D genau im Niveau desQuecksilbers erscheint. Wird nun der Stöpsel weggenommen, sobeginnt das Gas auszuströmen, und man braucht nun nur die Zeitzu beobachten, welche von der Wegnahme des Stöpsels anvergeht, bis die am Schwimmer angebrachte Marke t dasQuecksilberniveau erreicht hat. Hat man z. B. auf diese Weisegefunden, daß gleiche Raumteile von atmosphärischer Luftund von Knallgas bez. 117,6 und 75,6 Sekunden zum Ausströmengebrauchen, so ist das spezifische Gewicht des Knallgases, auf Luftbezogen, = 75,6² : 117,6² = 0,413.

Über die Bestimmung des spezifischen Gewichts derDämpfe s. Dampfdichte.

[Fig. 5. Bunsens Apparat zur Bestimmung des spezifischenGewichts der Gase.]

Spezifische Wärme (Wärmekapazität), dieWärmemenge, welche 1 kg eines Körpers bedarf, um sich um1° C. zu erwärmen. Gleiche Massen verschiedener Stoffeerfordern für die gleiche Temperaturerhöhung einen sehrungleichen Aufwand von Wärme. Will man z. B. 1 kg Wasser und 1kg Quecksilber von 0° auf 100° erwärmen, so bemerktman leicht, daß bei gleicher Wärmezufuhr das Quecksilberviel rascher die gewünschte Temperatur erreicht als dasWasser. Ja sogar, wenn man von beiden Flüssigkeiten je 1 Lit.nimmt, also dem Gewicht nach 13,6mal soviel Quecksilber als Wasser,wird man bei jenem mit einer Heizflamme das Ziel schnellererreichen als bei diesem mit zwei ebensolchen Flammen. Erkaltet einwarmer Körper wieder auf seine ursprüngliche Temperatur,so gibt er die Wärmemenge, welche er vorher zu seinerErwärmung verbraucht hatte, an seine Umgebung wieder ab; manwird daher, indem man diese Wärmeabgabe beobachtet, zugleichden zur Erwärmung nötigen Wärmebedarf kennen lernen;alle Verfahrungsarten zur Ermittelung der "spezifischen Wärme"der Körper beruhen in der That aus der Bestimmung der beimErkalten abgegebenen Wärmemenge. Erwärmen wir drei gleichschwere Kugeln von Kupfer, Zinn und Blei in siedendem Wasser auf100° u. bringen sie rasch auf eine Wachsscheibe, so fälltdie Kupferkugel sehr bald durch das Loch, das sie aufgeschmolzenhat, die Zinnkugel dringt tief in die Scheibe ein, während dieBleikugel nur ganz wenig einsinkt. Es ist hierdurchaugenfällig, daß das Kupfer die größteWärmemenge abgegeben hat und demnach unter diesen Metallen diegrößte s. W. besitzt, das Zinn eine mittlere, das Bleidie kleinste. Genaueres über das Verhältnis derspezifischen Wärmen dieser Körper erfahren wir jedochdurch diesen Versuch nicht; hierzu wäre es notwendig, dieabgegebenen Wärmemengen wirklich zu messen, d. h. in"Wärmeeinheiten "auszudrücken. Als Einheit derWärmemenge oder Wärmeeinheit hat man diejenigeWärmemenge festgesetzt, welche erforderlich ist, um 1 kgWasser um 1° C. zu erwärmen, oder, was dasselbe ist, manhat die s. W. des Wasser = 1 angenommen. Vorrichtungen zur Messungvon Wärmemengen nennt man Kalorimeter. Um die s. W. einesKörpers nach dem Schmelzverfahren zu bestimmen, kann dasEiskalorimeter von Lavoisier und Laplace (Fig. 1) dienen. Dasselbebesteht aus drei sich der Reihe nach umhüllendenBlechgefäßen, von denen das innerste c siebartigdurchlöchert ist oder auch nur aus einem Drahtkorb besteht.Der Zwischenraum a a zwischen dem äußersten und mittlernGefäß sowie der hohle Deckel des letztern

[Fig. 1 Eiskalorimeter von Lavoisier und Laplace.]

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Spezifische Wärme.

werden mit Eisstücken gefüllt, die dazu dienen, dieWärme der äußern Umgebung von dem Raum b b zwischendem mittlern und innersten Gefäß, der ebenfalls mitEisstücken gefüllt ist, abzuhalten; das in dem Raum a adurch die äußere Wärme erzeugte Schmelzwasserfließt durch den Hahn d ab. Bringt man nun einen Körpervon bekanntem Gewicht und bekannter Temperatur (z. B. eine in denDämpfen siedenden Wassers auf 100° erhitzte eiserne Kugel)in das innerste Gefäß, so wird derselbe, indem er vondieser Temperatur auf 0° erkaltet, eine gewisse Menge Eisschmelzen, welche man durch Wägung des durch den Hahn eabgelaufenen Schmelzwassers ermittelt. Da man nun weiß,daß zur Schmelzung von 1 kg Eis 80 Wärmeeinheitenerfordert werden (s. Schmelzen), so kann man leicht dieWärmemenge berechnen, welche jener Körper bei seinemErkalten abgegeben hat, und erfährt sonach auch dieWärmemenge, welche derselbe für 1 kg und für 1°C. enthielt, d. h. seine s. W. Das weit genauere Eiskalorimeter vonBunsen gründet sich auf die Thatsache, daß beimSchmelzen des Eises eine Zusammenziehung stattfindet, indem dasentstandene Schmelzwasser einen kleinern Raum einnimmt als das Eis(s. Ausdehnung). In das weitere Glasgefäß W (Fig. 2),welches sich unten in das umgebogene und wieder aufsteigendeGlasrohr Q Q fortsetzt, ist das Probierröhrchen weingeschmolzen; das Gefäß W wird mit luftfreiem Wassergefüllt, welches durch das im untern Teil von W und in derRöhre befindliche Quecksilber Q Q abgesperrt ist. Indem mantief erkalteten Weingeist durch das Proberöhrchen strömenläßt, umkleidet sich dasselbe mit einer Eishülle E.Wirft man nun einen auf bekannte Temperatur erwärmtenKörper in das Proberöhrchen, welches etwas Wasser von0° enthält, so wird etwas Eis geschmolzen, infolge dereintretenden Raumverminderung tritt mehr Quecksilber in dasGefäß W, und in dem engen Glasröhrchen q, welchesmittels eines Korks in das Rohr Q eingesetzt ist, zieht sich derQuecksilberfaden zurück; aus der Größe seinerVerschiebung ergibt sich die Menge des entstandenen Schmelzwassersund demnach auch die von dem Körper an das Eis abgegebeneWärmemenge.

Vermischt man 1 kg Wasser von 10° mit 1 kg Wasser von50°, so zeigt die Mischung, wenn alle Wärmeverlustevermieden wurden, die mittlere Temperatur von 30°. Das eineKilogramm Wasser gab nämlich, indem es von 50° auf 30°erkaltete, die 20 Wärmeeinheiten ab, welche notwendig waren,um das andre Kilogramm Wasser von 10° auf 30° zuerwärmen. Mischt man dagegen 1 kg Wasser von 10° mit 1 kgTerpentinöl von 60°, so zeigt das Gemisch nur etwa24°. Um die 14 Wärmeeinheiten zu liefern, welche zurErwärmung des einen Kilogramms Wasser von 10° auf 24°erforderlich waren, mußte also das Kilogramm Terpentinölum 36° erkalten; umgekehrt werden diese 14 Wärmeeinheitenauch wieder hinreichen, um 1 kg Terpentinöl um 36° zuerwärmen. Zur Erwärmung von 1 kg Terpentinöl um1° sind daher 14/36 oder 0,4 Wärmeeinheiten erforderlich,oder 0,4 ist die s. W. des Terpentinöls. Um diesesMischungsverfahren mit der erforderlichen Genauigkeitauszuführen, bediente sich Regnault der in Fig. 3 gebildetenVorrichtung. Der obere Teil wird von drei einander umhüllendenBlechcylindern gebildet, deren innerster A oben durch einen Kork,in welchem ein Thermometer steckt, unten durch einen leichtabnehmbaren Blechdeckel verschlossen ist. In der Mitte von Ahängt an einem durch den Kork gehenden Faden einringförmiges Drahtkörbchen, welches den zu untersuchendenKörper, entweder in Stücken oder in dünnwandigeGlasröhrchen eingeschmolzen, aufnimmt und in seiner innernHöhlung das Gefäß des Thermometerseinschließt. In den Raum B wird aus einem seitlichaufgestellten Dampfkessel durch die Röhre a Wasserdampfeingeleitet, welcher den Körper auf 100° erwärmt unddurch die Röhre c wieder abströmt. Ist diese Temperaturerreicht, so wird nach Wegnahme des untern Deckels dasDrahtkörbchen in das mit einer gewogenen Wassermengegefüllte Wasserkalorimeter D herabgelassen und dieMischungstemperatur beobachtet, woraus sich die von dem Körperan das Wasser abgegebene Wärmemenge und sonach auch seine s.W. leicht ableiten läßt. Durch einen mit kaltem Wasser dd angefüllten Blechmantel ist das Kalorimeter D vorErwärmung von dem Dampfkessel oder dem Dampfraum B B hergeschützt.

Ein drittes Verfahren zur Bestimmung der spezifischenWärme, das besonders von Dulong und Petit angewendeteAbkühlungsverfahren, gründet sich auf den Satz, daßein erwärmter Körper im luftleeren Raum, wo er nur durchWärmestrahlung sich abkühlen kann, unter sonst gleichenäußern Umständen um so langsamer erkaltet, eine jegrößere Wärmemenge er enthält; bei gleicherTemperaturerniedrigung verhalten sich hiernach die vonverschie-

[Fig 2. Eiskalorimeter von Bunsen.]

[Fig. 3. Wasserkalorimeter von Regnault.]

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Spezifizieren - Sphaerococcus.

denen Körpern abgegebenen Wärmemengen wie dieAbkühlungszeiten.

Die spezifischen Wärmen der Körper nehmen mithöherer Temperatur zu, indem sie sich einem festen Endwertnähern; zwischen 0° und 100° ist indessen dieÄnderung so gering, daß man die s. W. innerhalb dieserGrenzen als unveränderlich betrachten kann.

Die spezifischen Wärmen einiger Grundstoffe sind:

Aluminium 0,214

Schwefel 0,203

Eisen 0,114

Kupfer 0,095

Zink 0,095

Silber 0,057

Zinn 0,056

Jod 0,054

Antimon 0,051

Quecksilber 0,033

Platin 0,032

Blei 0,031

und diejenigen einiger Flüssigkeiten:

Alkohol 0,566

Glycerin 0,555

Benzin 0,392

Chloroform 0,233

Die s. W. des Eises ist 0,505.

Dulong und Petit entdeckten das wichtige Gesetz, daß diespezifischen Wärmen der festen chemischen Elemente(Grundstoffe) sich umgekehrt verhalten wie ihre Atomgewichte, sodaß das Produkt aus Atomgewicht und spezifischer Wärmefür alle diese Körper unveränderlich dasnämliche und zwar nahezu gleich 6 ist. Das Dulong-Petit*cheGesetz läßt sich sonach auch folgendermaßenaussprechen: die durch die Atomgewichte ausgedrückten Mengender festen Elemente bedürfen zu gleicherTemperaturerhöhung gleich großer Wärmemengen, oder:die Atomwärmen der Grundstoffe sind gleich. Neumann wiesferner nach, daß auch die spezifischen Wärmen chemischerVerbindungen von ähnlicher Zusammensetzung im umgekehrtenVerhältnis der Atomgewichte stehen, und Kopp stellte den Satzauf, daß die Molekularwärme einer chemischen Verbindunggleich der Summe der Atomwärmen ihrer Elemente sei (vgl.Wärme).

Die luftförmigen Körper bedürfen zurErwärmung gleicher Raumteile auch gleicher Wärmemengen;und da nach dem Gesetz von Avogadro alle Gase bei gleichem Druckund gleicher Temperatur in gleichen Raumteilen gleich vieleMoleküle enthalten, so folgt, daß alle Gase gleicheMolekularwärme haben. Eine gegebene Gewichtsmenge eines Gasesverbraucht bei gleicher Temperaturerhöhung einegrößere Wärmemenge, wenn sie bei gleichbleibendemDruck sich ausdehnt, als wenn sie unter Steigerung des Drucks ihrenRauminhalt unverändert beibehält, d. h. die s. W. beikonstantem (unverändertem) Druck ist größer alsdiejenige bei konstantem Volumen; für atmosphärische Luftbeträgt jene 0,2377, diese 0,1686. Für alle Gase ist dasVerhältnis der spezifischen Wärme bei konstantem Druck zuderjenigen bei konstantem Volumen das gleiche, nämlich = 1,41(vgl. Wärme).

Spezifizieren (lat.), im einzelnen angeben.

Speziös (lat.), in die Augen fallend, vonschöner Erscheinung; auch s. v. w. durch den Scheintäuschend, scheinbar.

Spezzia, Insel, s. Spetsä.

Sphacelarieen, Familie der Algen aus der Ordnung derf*ckoideen; s. Algen (11), S. 345.

Sphacelia, s. Mutterkorn.

Sphacelus, feuchter Brand, s. Brand, S. 313.

Sphagnaceen, Ordnung der Moose (s. d., S. 791).

Sphagnum Ehrh. (Torfmoos), Moosgattung aus der Ordnungder Sphagnaceen, charakterisiert durch aufrechte, cylindrische,beblätterte Stengel mit zweierlei Zweigen: gerade abwärtsgerichteten, dem Stengel dicht anliegenden und schief abstehendenoder aufrechten, an der Spitze des Stengels schopfartiggehäuften. Die weiblichen Blüten stehen endständigauf aufrechten Zweigen, die männlichenkätzchenförmig an den Spitzen schiefer Zweige. Mit denauch sonst ähnlichen Laubmoosen stimmt die Gattung in der miteinem Deckel aufgehenden Büchse überein, unterscheidetsich aber durch den Mangel der Borste und durch die an der Spitzezerreißende, daher die Büchse anfangs scheidenartigumgebende Haube. Die Blätter bestehen aus großen,leeren, lufthaltigen, mit Verdickungsfasern versehenen, durch weitePoren nach außen geöffneten Zellen, zwischen denen sehrenge, chlorophyllhaltige Zellen liegen, daher diese Moose vonbleicher Farbe sind und vermittelst der porösen Zellen, wieein Schwamm, Wasser einsaugen. Es sind ansehnliche,weißliche, bräunliche oder rötliche, in hohen,elastisch schwammigen Polstern wachsende Moose, welche in einigen20 Arten über die Erde verbreitet sind und zu den wichtigstenTorfpflanzen gehören, indem sie von der Ebene bis in diealpinen Gebirgshöhen, auf Torfsümpfen, in morastigenWäldern und auf feuchten Felsen gesellig in ausgedehntenBeständen wachsen und wesentliche Erzeuger des Torfs sind. Sieerhalten in Wäldern und Gebirgen die Feuchtigkeit des Bodens.Die häufigsten der zwölf deutschen Arten sind daskahnblätterige Torfmoos (S. cymbifolium Ehrh.), mitkahnförmigen, an der Spitze kappenförmigenZweigblättern, und das spitzblätterige Torfmoos (S.acutifolium Ehrh.), mit lang zugespitzten, an der Spitze gestutztenund gezahnten, länglich-eiförmigen Blättern. Vgl.Warnstorff, Die europäischen Torfmoose (Berl. 1881).

Sphakioten, Volksstamm, s. Kreta.

Sphakteria (jetzt Sphagia), griech. Insel im IonischenMeer, an der Westküste von Messenien (Bai von Pylos), 5 kmlang, schmal und felsig. Während des Peloponnesischen Kriegswurde S. 425 v. Chr. von 420 Spartanern besetzt, aber nach72tägiger Verteidigung den Athenern unter Kleonübergeben, wobei 292 Spartaner in deren Gewalt fielen.

Sphalerit, s. Zinkblende.

Sphäre (griech.), Kugel; in der Geometrie dieKugeloberfläche (daher Sphärik, die Lehre von den Figurenauf der Kugel); in der Astronomie s. v. w. Himmelskugel,Weltkörper, dann Kreis, Kreisbahn (der Planeten); bildlich s.v. w. Bereich, Geschäfts-, Wirkungskreis, Erkenntniskreis;Lebensstellung.

Sphärenmusik, s. Harmonie der Sphären.

Sphärisch, auf der Kugel, eine Figur auf derOberfläche einer Kugel gelegen.

Sphärischer Exzeß, s. Kugel.

Sphärístik (griech.), Kunst des Ballspiels(s. d.).

Sphaerococcus Grev. (Knopftang), Algengattung aus derFamilie der Florideen, mit meist dichotom verzweigtem, rundem oderzusammengedrückt linealischem, knorpeligem oder heutigemThallus und eingesenkten, aber knopf- oder warzenförmighervorragenden Früchten (Cystokarpien), ist gegenwärtignach dem innern Bau der letztern in eine Anzahl Gattungen zerteiltworden. Chondrus crispus Lyngb. (S. crispus Ag., gemeinerKnorpeltang, Gallertmoos, Carragaheenmoos, irländischesPerlmoos), 7-32 cm lang, 0,2-2,7 cm breit, zusammengedrücktlinealisch oder keilförmig, an den Spitzen wiederholt dichotomgeteilt und kraus, knorpelig, rot oder violett, wächst anSteinen in den europäischen Meeren, wird vorzüglich anden Küsten der nördlichen Länder gesammelt undgetrocknet als Carragaheen (s. d.) in den Handel gebracht. AusGracilaria lichenoides Ag. (S. lichenoides Ag., Ceylonmoos), mit7-11 cm langem, zwirnfadendickem, dichotom ästigem,gallertigem Thallus, im Indischen Meer, auf Ceylon und Java,bereiten die Japaner eins ihrer gewöhnlichstenNahrungsmittel

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Sphäroid - Sphinx.

(Dschin-Dschen). Dasselbe gilt von den ähnlichen Arten:Euchema spinosum Ag. (S. spinosus Ag.), E. gelatinae Ag. (S.gelatinus Ag.) und E. speciosum Ag., in den Meeren Indiens undAustraliens, welche auch nach Europa (s. Agar-Agar) in den Handelkommen. Auch Gracilaria lichenoides, im Indischen Meer und imStillen Ozean, wird gegessen.

Sphäroid (griech., "kugelähnlich"), bei denalten Geometern der Körper, welcher durch Umdrehung einerEllipsenfläche um eine der beiden Achsen erzeugt wird. Ist adie halbe Rotationsachse, b die andre Halbachse (vgl. Ellipse), soist das Volumen des Körpers = 3/4 a² b ^π (^π =3,1416, vgl. Kreis), gleichgültig, ob a größer oderkleiner als b ist. Schon Archimedes hat dies bewiesen.Gegenwärtig nennt man den Körper (und ebenso die ihnbegrenzende Fläche) ein Rotationsellipsoid (vgl.Ellipsoid).

Sphäroidaler Zustand, s. LeidenfrostscherTropfen.

Sphärolithe, die kugeligen Aggregate, welche invielen Gesteinen eine besondere kugelige oder sphärolithischeStruktur hervorrufen, und die man, je nachdem sie selbststrukturlos sind oder eine radialfaserige Zusammensetzung erkennenlassen, und je nach der Natur der gruppierten Elemente mitverschiedenen Namen (Kumulite, Globosphärite,Belonosphärite, Felsosphärite, Granosphärite)belegt. Tafel "Mineralien und Gesteine" zeigt in Fig. 16 und 17sphärolithische Struktur in körnigem und in glasigemGestein. Speziell nennt man S. die kugeligen, aber schon deutlichkristallinischen Ausscheidungen in gewissen Perlsteinen (s. d.),von den aus bloßer Glasmasse bestehenden kugeligenKörnern der meisten Perlsteine zu unterscheiden. Gesteine,welche fast nur aus solchen Sphärolithen zusammengesetzt sindund beinahe gar keine glasige Zwischenmasse erkennen lassen,heißen Sphärolithfels. Lokal und genetisch sinddieselben mit den Pechsteinen oder den Perlsteinen engverknüpft.

Sphärolithischer Aphanit, s. Blatterstein.

Sphärologie (griech.), Kugellehre, Lehre von derKugelgestalt der Weltkörper.

Sphärometer (griech., "Kugelmesser"), Instrument zurBestimmung der Gestalt der Linsengläser und zur Messung derDicke dünner Blättchen, welche die bekannten farbigenErscheinungen im polarisierten Licht zeigen, besteht nach der ihmvon Cauchoix gegebenen Einrichtung im wesentlichen aus einer miteinem Dreifuß verbundenen Mikrometerschraube, derenkreisförmiger Kopf eine Teilung besitzt.

Sphärometrie (griech.), Kugelmessung.

Sphäropleen, Ordnung der Algen (s. d., S. 343).

Sphärosiderit, s. Spateisenstein.

Sphen, s. Titanit.

Sphendone (griech.), Schleuder; auch eine in der Mittebreite Haarbinde der griechischen Frauen, die dergestalt um denKopf gebunden wurde, daß das Haar ringsum in Ringelnherabfiel.

Sphenoide, vierflächige Kristallgestalten, Hemiederder quadratischen oder rhombischen Pyramide; vgl. Kristall, S.232.

Sphenophyllum, s. Lykopodiaceen, S. 6.

Sphingidae (Schwärmer), Familie aus der Ordnung derSchmetterlinge (s. d.).

Sphinkter (griech.), Schließmuskel (s. d.).

Sphinx, Schmetterlingsgattung aus der Familie derSchwärmer (Sphingidae oder Crepuscularia), zu welcher derWindig, Liguster-, Kiefernschwärmer u. a. gehören.

Sphinx, Name oft kolossaler Steinbilder, gewöhnlichaus Granit oder Porphyr, auch Kalkstein, von Löwengestalt mitMenschenkopf, liegend auf Postament, die Vorderbeine vorwärtsgestreckt, die Hinterbeine untergeschlagen. Diese phantastischenGebilde stammen aus dem Orient: aus Assyrien (Palast zu Nimrud undPortal von Chorsabad) und insbesondere aus Ägypten. Hierstanden sie meist am Eingang des Tempels, doch auch einzeln. Dieägyptischen Sphinxbilder sind immer männlichenGeschlechts und dienen meist zur Darstellung eines Königs,weshalb sie die Uräusschlange vor der Stirn tragen. Diekolossalste ist die S. bei den Pyramiden von Gizeh, aus dem Felsengehauen, 55 m lang, an 20 m hoch, aus der ältesten Zeit derägyptischen Geschichte vor Cheops stammend (s. Tafel "BaukunstIII", Fig. 1). Diese merkwürdige Bildung entsprach demselbenHang zum Mystizismus, der auch die Götterbilder mitTierköpfen versah. Auch bei den Sphinxen beschränkte mansich nicht auf Mischung der Löwengestalt mit der menschlichen,sondern setzte auch wohl Widder- (Kriosphinxe, s. Tafel"Bildhauerkunst I", Fig. 2) und Sperberköpfe auf. Imallgemeinen betrachtete man die Sphinxe als die mystischenHüter und Schutzgeister der Tempel und Totenwohnungen. GanzeAlleen von riesigen Sphinxen führten oft zum Eingang desTempels. Mannigfaltiger nach Gestalt und Bedeutung erscheinen dieSphinxe in Griechenland, wo sie immer als weibliche Gestaltenaufgefaßt werden. Ursprünglich ein geflügelterLöwenkörper mit Kopf und Brust einer Jungfrau (s.Abbildung), wurden sie später von Dichtern und Künstlernin den abenteuerlichsten Gestalten dargestellt, z. B. als Jungfraumit Brust, Füßen und Krallen eines Löwen, mitSchlangenschweif, Vogelflügeln, oder vorn Löwe, hintenMensch, mit Geierkrallen und Adlerflügeln, und zwar nichtimmer liegend, sondern auch in andern Stellungen. Berühmt istdie thebaische S. im böotischen Mythus, Tochter des Typhon undder Schlange Echidna, welche jedem, der ihr nahte, das Rätselaufgab: Welches Geschöpf geht am Morgen auf vierFüßen, am Mittag auf zweien, am Abend auf dreien? Wer esnicht lösen konnte, mußte sich vom Felsen in den Abgrundstürzen. Ödipus deutete es richtig auf den Menschen,worauf sich die S. vom Berg herabstürzte. Von der griechischenKunst aus der ägyptischen und orientalischen frühzeitigübernommen und eigentümlich (immer weiblich) umgebildet,galt hier die S. als Sinnbild des unerbittlichen Todesgeschicks undward daher auf Gräbern oft dargestellt (vgl. Bachofen,Gräbersymbolik der Alten, Bas. 1859). Auch an altchristlichenKirchen kommen die Sphinxe manchmal vor. Wieder angewendet wurdensie von der Spätrenaissance, insbesondere häufig aber vonder Barockkunst, die mit denselben Eingänge zu Palästen,Gärten u. dgl. verzierte.

[Sphinx (Berliner Museum).]

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Sphragid - Spiegel.

Sphragid, s. Bolus.

Sphragistik (griech.), Siegelkunde, s. Siegel.

Sphragmit, s. Grauwacke.

Sphygmograph (griech., "Pulsschreiber"), Instrument, mitHilfe dessen sich die Pulsbewegung bleibend in Gestalt einer Kurvedarstellen läßt, an welcher man alleEigentümlichkeiten der Pulsbewegung genau studieren kann. Beiallen Sphygmographen setzt die abwechselnd sich ausdehnende undkontrahierende Arterie ein kleines Plättchen in Bewegung,welches wiederum aus einen langen Hebelarm wirkt. Dieser Hebelarmschreibt die Bewegung der Arterienwand in vergrößertemMaßstab auf einen Streifen Papier, welcher durch ein Uhrwerkin gleichmäßige Bewegung versetzt und vor der Spitze desHebelarms vorbeigeführt wird. Auf dem Papier bilden sich diePulsbewegungen in Gestalt einer je nach der Art des untersuchtenPulses mannigfach modifizierten Wellenlinie ab. Kennt man dieGeschwindigkeit, mit welcher das Papier an der Hebelspitzevorübergeht, so kann man die Dauer einer Pulswelle berechnen;außerdem kann man an der Kurve das allmähliche An- undAbsteigen der Pulswellen, ihre Aufeinanderfolge etc. genauverfolgen. Für physiologische Forschungen ist der S. ein ganzunentbehrliches Hilfsmittel. Vgl. Dudgeon, The s., its history anduse (Lond. 1882).

Sphygmophon (griech.), ein mit galvanischer Batterie undTelephon verbundener federnder Stromunterbrecher welcher, auf dieArterie gesetzt, den Pulsschlag u. seine Modifikationen lauthörbar macht.

Sphyrna, Hammerfisch.

Spiauter (Spialter, holländ.), s. v. w. Zink.

Spica (lat.), Ähre, eine Form des Blütenstandes(s. d.); spicatus, in eine Ähre zusammengestellt.

Spiccato (ital.), deutlich gesondert (musikal.Vortragsbezeichnung).

Spicheren, s. Speichern.

Spicilegium (lat.), Ährenlese.

Spicknadel, eine Nadel mit zweimal gespaltenem Kopf,dient zum Einziehen von Speckstreifen in Braten (Spicken).

Spicknarden, s. Valeriana.

Spicula (lat.), s. Ährchen.

Spiegel, Körper mit glatter Oberfläche, welchezur Erzeugung von Spiegelbildern benutzt werden. Man unterscheidetPlanspiegel mit vollkommen ebener und Konvex- und Konkavspiegel mitgekrümmter Spiegelfläche, wendet aber imgewöhnlichen Leben meist Planspiegel an. Als solche benutzteman im Altertum, zum Teil schon in vorgeschichtlicher Zeit, runde,polierte, gestielte Metallscheiben aus Kupfer (Ägypter,Juden), Bronze (Römer, besonders brundusische S.), Silber,Gold (seit Pompejus, Gold auch schon bei Homer). Manche Legierungengeben eine besonders stark spiegelnde Oberfläche und werdendeshalb als Spiegelmetall (s. d.) zusammengefaßt. AuchGlasspiegel kamen früh in Gebrauch; man benutzte dazuobsidianartige, dunkle, undurchsichtige Massen mit glatter,polierter Oberfläche, welche in die Wand eingelassen wurden.Vielleicht aber kannte man schon zur Zeit des AristotelesGlasspiegel, deren Rückseite mit Blei und Zinn belegt war.Sichere Nachrichten über diese S. hat man indes erst aus dem13. Jahrh. Man schnitt sie in Deutschland aus Glaskugeln, dieinwendig mit geschmolzener Bleiantimonlegierung überzogenworden waren. Im 14. Jahrh. kamen die mit Blei-, dann mitZinnamalgam belegten ebenen S., wie wir sie jetzt benutzen, inGebrauch. Zur Darstellung derselben breitet man auf einerhorizontalen, ebenen Steinplatte ein Blatt kupferhaltige Zinnfolie(Stanniol) aus, dessen Größe die des Spiegels etwasübertrifft, übergießt es 2-3 mm hoch mitQuecksilber, welches mit dem Zinn ein Amalgam bildet, schiebt diepolierte und sorgfältig gereinigte Glasplatte so über dieZinnfolie, daß ihr Rand stets in das Quecksilber taucht,beschwert sie dann mit Gewichten, gibt der Steinplatte eine ganzgeringe Neigung, damit das überschüssige Quecksilberabfließt, und legt den S. nach 24 Stunden mit derAmalgamseite nach oben auf ein Gerüst, welches manallmählich mehr und mehr neigt, bis der S. schließlichsenkrecht steht. Nach 8-20 Tagen ist er verwendbar. 50 qdcmerfordern 2-2,5 g Amalgam, welches aus etwa 78 Zinn und 22Quecksilber besteht. In neuerer Zeit benutzt man vielfachSilberspiegel, d. h. auf der Rückseite versilbertesSpiegelglas, wie es zuerst von Drayton 1843 vorgeschlagen wurde.Zur Versilberung sind viele Vorschriften gegeben worden; dochberuhen alle darauf, daß man eine Silberlösung mit einemreduzierend wirkenden Körper vermischt und mit der zuversilbernden Glasfläche in Berührung bringt. Das Silberschlägt sich dann auf das Glas nieder und wird zum Schutz miteinem Anstrich aus Leinölfirnis und Mennige überzogen,auch wohl zunächst galvanisch verkupfert. Bei Herstellunggrößerer S. gießt man dieVersilberungsflüssigkeit auf die Glasplatte, welche auf einemgußeisernen Kasten liegt, der mit Wasser gefüllt ist undeine Dampfschlange enthält, um die Platte erwärmen zukönnen. Kleinere Platten stellt man je zwei mit demRücken aneinander reihenweise in dieVersilberungsflüssigkeit. Auf 1 qm Glas kann man 29-30 gSilber ablagern. Diese Silberspiegel, deren Fabrikation erst seit1855 durch Petitjean und Liebig, welche zweckmäßigeVersilberungsflüssigkeiten angaben, praktische Bedeutunggewann, sind billiger als die belegten; größere abersind schwer herzustellen, und über die längereHaltbarkeit fehlen noch Erfahrungen. Man hat auch Platinspiegelhergestellt, für welche man nur auf einer Seite geschliffenenGlases bedarf. Man trägt die Mischung von Platinchlorid mitLavendelöl, Bleiglätte und borsaurem Bleioxyd auf dasGlas auf und brennt das ausgeschiedene Metall ein. Da das Platin ander Luft nicht anläuft, so halten sich diese S. sehr gut, undder Metallüberzug ist so dünn, daß das Glasdurchsichtig bleibt. Über Herstellung etc. des Spiegelglasess. Glas, S.322. Vgl. Benrath, Glasfabrikation (Braunschw. 1875);Cremer, Fabrikation der Silber- und Quecksilberspiegel (Wien 1887).- Die für die Toilette der Frauen bestimmten Handspiegel desAltertums wurden am Griff und auf der Rückseite der Scheibekünstlerisch verziert, auf letzterer bei den Griechen,Römern etc. meist mit eingravierten mythologischen u.genrehaften Darstellungen geschmückt (Fig. 1-3). Antike S.sind

[Fig. 1-3. Römische Handspiegel.]

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Spiegel - Spiegelinstrumente.

zahlreich in den verschütteten Vesuvstädten und in denGräbern gefunden worden. Eine Spezialität bilden dieetruskischen S., welche ebenfalls mit Darstellungen aus demetruskischen Götterkreis und mit Inschriften versehen sind(Fig. 4). Sie wurden von E. Gerhard ("Die etruskischen S.", Berl.1843-68, 4 Bde.; fortgesetzt von Klügmann und Körte 1884ff.)beschrieben. Die antike Grundform des Handspiegels erhielt sichdas ganze Mittelalter und die Folgezeit hindurch bis jetzt. Nurwurde die Spiegelfläche nicht bloß oval, sondern auchrund, viereckig und vielseitig gestaltet, von einem mehr oderminder reichverzierten Rahmen eingefaßt und in derRückseite mit Schnitzwerk, Reliefarbeit etc. geschmückt.Die Einfassung des Handspiegels, dessen Spiegelfläche anfangsnoch meist aus Metall, dann aus Glas bestand, wurde in Holz,Elfenbein, Metall und andern Materialien ausgeführt. ZurRenaissancezeit trugen die Damen Handspiegel am Gürtel. ImMittelalter kamen auch Taschenspiegel und S. zum Aufhängen anWänden auf, die seit dem 16. Jahrh. immer größerwurden und sich nach der Erfindung des Spiegelglases (1688) zu denvon der Decke bis zum Fußboden reichenden Trümeausentwickelten. Im Mittelalter waren Venedig und Murano dieHauptsitze der Spiegelfabrikation, welche die ganze kultivierteWelt mit venezianischen Spiegeln versorgten. Die Einrahmung derWandspiegel, welche anfangs durch gekehlte Leisten, späterdurch reich ornamentiertes Schnitzwerk erfolgte, wurde einbesonderer Zweig der Möbeltischlerei. Doch wurden früherund werden gegenwärtig noch in Venedig und Murano Wandspiegelmit Rahmen aus geschliffenem und geblasenem Glas angefertigt.Solche Rahmen werden häufig aus naturalistischen farbigenBlumen (Rosen u. dgl.) und Rankenwerk gebildet.

In übertragenem Sinn bezeichnet S. überhaupt jedeglatte, glänzende Fläche (z. B. Eis-, Wasserspiegel);sodann in der Weidmannssprache den hellen Fleck um das Weidloch derHirsche und Rehe, auch den weißen oder metallglänzendenFleck auf den Flügeln der Enten sowie den weißenSchulterfleck des Auer- und Birkwildes; ferner einen Teil derHinterseite des Schiffs (s. Heck); in der Struktur des Holzes dieMarkstrahlen (s. Holz, S. 669) etc. Da endlich der S. als Symbolder Selbstprüfung und des Gewissens, als Emblem der Wahrheitdient, so ist das Wort auch häufig als Titel fürbelehrende Schriften, besonders moralischen, pädagogischen undpolitischen Inhalts, worin Musterbilder zur Nacheiferungaufgestellt werden, verwendet worden, z. B. Fürstenspiegel,Jugendspiegel, Ritterspiegel, Laienspiegel, die GesetzsammlungenSachsenspiegel und Schwabenspiegel etc.

[Fig.4. Etruskischer (sogen. Semele-) Spiegel]

Spiegel, medizinisches Instrument, s. Speculum.

Spiegel, Friedrich (von), namhafter Orientalist, derbedeutendste Kenner des Zendavesta, geb. 11. Juli 1820 zuKitzingen, widmete sich in Erlangen, Leipzig und Bonnorientalischen Sprachstudien, durchforschte 1842-47 dieBibliotheken zu Kopenhagen, London und Oxford und ist seit 1849Professor der orientalischen Sprachen an der UniversitätErlangen. Nachdem er durch seine Ausgaben des "Kammavâkya"(Bonn 1841) und der "Anecdota palica" (Leipz. 1845) dem Studium derdamals noch wenig bekannten Pâlisprache und dessüdlichen Buddhismus einen wesentlichen Dienst geleistethatte, konzentrierte er seine Forschungen auf die iranischenSprachen und die Zoroastrische Religion und lieferte namentlicheine kritische Ausgabe der wichtigsten Teile des Zendavesta samtder alten Pehlewiübersetzung derselben und einevollständige Verdeutschung, die erste wissenschaftlicheÜbertragung dieses wichtigen Religionsbuchs (Leipz. 1852-63, 3Bde.), der er einen "Kommentar über das Avesta" (das. 1865-69,2 Bde.) und eine "Grammatik der altbaltrischen Sprache" (das. 1867)folgen ließ. Außerdem veröffentlichte er eine"Chrestomathia persica" (Leipz. 1845), die erste "Grammatik derPârsisprache" (das. 1851), eine "Einleitung in dietraditionellen Schriften der Parsen" (das. 1856-60, 2 Bde.), "Diealtpersischen Keilinschriften im Grundtext, mit Übersetzung,Grammatik und Glossar" (das. 1862, 2. Aufl. 1881), "Erân, dasLand zwischen dem Indus und Tigris" (Berl. 1863), "Arische Studien"(Leipz. 1873). Gewissermaßen das Fazit all seiner Forschungenzieht er in seiner "Erânischen Altertumskunde" (Leipz.1871-78, 3 Bde.), welcher die "Vergleichende Grammatik deralterânischen Sprachen" (das. 1882) und das Werk "Die arischePeriode und ihre Zustände" (das. 1887) folgten. Zahlreichekleinere Arbeiten, z. B. über die iranische Stammverfassung,über das Leben Zoroasters u. a., veröffentlichte er inden Abhandlungen der königl. bayrischen Akademie, in den"Beiträgen zur vergleichenden Sprachforschung", in der"Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft" undandern Zeitschriften.

Spiegelberg, Otto, Mediziner, geb. 9. Jan. 1830 zu Peinein Hannover, studierte am Collegium Carolinum zu Braunschweig, dannin Göttingen, habilitierte sich 1853 daselbst als Privatdozentund ging dann auf eine längere Studienreise nach England. 1861folgte er einem Ruf als Professor der Geburtshilfe undGynäkologie nach Freiburg, 1864 nach Königsberg und 1865nach Breslau, wo er 10. Aug. 1881 starb. Er begründete mitCredé das "Archiv für Gynäkologie" und schrieb eingroßes "Lehrbuch der Geburtshilfe" (2. Aufl., Lahr 1880).Spiegelbergs Verdienste bestehen in der Einführung derErrungenschaften der neuern Gynäkologie in die Praxis, in dersichern Diagnostik, in der präzisen Indikationenstellung undder Anbahnung radikaler operativer Heilung von bis dahin fürschwer oder nicht heilbar erachteten Krankheiten, wodurch er dieGynäkologie zur erfolgreichen Nebenbuhlerin der Chirurgieerhob.

Spiegelfasern, s.v.w. Markstrahlen, s. Holz, S. 669.

Spiegelgranaten, kleinere Granaten, welche ingrößerer Zahl mit Einem Wurf aus großenMörsern geworfen wurden.

Spiegelinstrumente, Vorrichtungen zum Messen von Winkelnmit gewöhnlich zwei Spiegeln, von denen der eine nur halbhoch(zum Durchsehen, Okularspiegel), der andre in ganzer Fläche(Objektivspiegel) mit Amalgam belegt ist. Entweder stehen beidefest einander schräg gegenüber auf der hohen Kante, oderder eine ist drehbar. Der vom Beobach-

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Spiegelkreis - Spiegelung.

tungsobjekt B ausgehende Strahl trifft den Objektivspiegel, wirdvon ihm in den Okularspiegel und von diesem in das demOkularspiegel gegenübergestellte Beobachterauge O gelenkt. Beiparallelen Spiegelflächen sind Eingangsstrahl (in denObjektivspiegel) und Ausgangsstrahl (aus dem Okularspiegel insAuge) ebenfalls parallel, der Winkel beider Strahlen gleich Null,d. h. man sieht durch den Glasteil des Okularspiegels das Objekt Bim Original und darunter im Spiegelteil desselben Spiegels dasselbeObjekt im Bild. Sind die Spiegelflächen divergierend gestellt,so bilden Ein- und Ausgangsstrahl einen doppelt so großenWinkel als die beiden Spiegel. Man kann, auf diesem Satzfußend, also den Winkel AOB messen, welchen die Sehstrahlendes Auges O direkt über den Okularspiegel nach einem Objekt Amit dem eingespiegelten Objekt B bilden (wobei das Instrumentselbst im Vergleich zu der Länge der Absehlinien im Feld alsunendlich klein, gleich einem Punkt O gedacht werden kann, d. h.die Parallaxe des Instruments fällt weg). Es kommt also daraufan, den Divergenzwinkel beider Spiegel oder, wenn einer davonfeststeht, den Achsendrehungswinkel des andern zu kennen; diesgeschieht mittels eines an der Achse befestigten Radius (Alhidade),der an einem Gradbogen der Grundfläche des Instruments entlanggeführt wird.

1) Unvollkommene S. Beide Spiegel stehen in Kapsel fest, sodaß ∠ AOB nur = 1 Rechten ist, so haben wir den a)einfachen Winkelspiegel oder Spiegelwinkel; zum Absehen undAbstecken rechter Winkel (z. B. Ordinatenabsteckung von einerGrundlinie aus); b) Spiegelrichtmaß (équerre àmiroir): Mehrere Spiegel sind so vereinigt, daß man 15°,30, 45, 60, 90° absehen kann. Das Instrument muß dichtans Auge gehalten werden, ohne es zu drehen, und ist zu beobachten,ob die Objektpunkte A und B genau im Okularspiegel senkrechtuntereinander erscheinen A (Original)/B (im Spiegelbild). [Aüber B]

2) Vollkommene S. a) Ist der auf dem "Körper" angebrachteGradbogen ein Sechstelkreis, so haben wir den Spiegelsextanten (s.d.), analog den Spiegelquadranten, -Oktanten, und bei Vollkreisenden Spiegelkreis. b) Ist mit der die Objektivspiegeldrehunganzeigenden Alhidade mittels mechanischer Konstruktion ein Linealso verbunden, daß man im stande ist, unmittelbar nach derMessung mit dem so geöffneten Instrument den gemessenen Winkelauch graphisch aufzutragen, so haben wir den Reflektor;verschiedene Konstruktionen sind: der Douglassche, besser derHornersche Reflektor, doch beide nur zum Krokieren geeignet. c) Istnur für graphische Auftragung gesorgt, während derGradbogen zum Ablesen wegfällt, so erscheint der graphischeSpiegelwinkel. Sollen mit diesen Instrumenten nicht nurHorizontalwinkel, sondern auch Vertikalwinkel gemessen werden, somuß die eine Absehlinie entweder in eine natürlicheHorizontfläche (Wasserspiegel) gelegt, oder einkünstlicher Horizont (Quecksilber) zur Kontrolle deswagerechten Winkelschenkels geschafft werden (z. B. bei denPolhöhemessungen, zur Ermittelung der geographischen Breite,oder bei Höhenmessungen). Vielfache Mängel der Spiegelhaben dazu geführt, auch gut geschliffene Glasprismen, welcheeine totale Reflexion hervorbringen, statt der Spiegel zu verwenden(Prismeninstrumente). Dazu gehören: der Prismenkreis vonPistor, der jetzt viel statt des Sextanten verwendet wird, dasWinkelprisma von Ertel, das Prismenkreuz von Bauernfeind.

Spiegelkreis, s. Prismenkreis und Spiegelinstrumente.

Spiegelmetall, Kupferzinnlegierungen (Bronze), welchesich durch weiße Farbe, Härte und höchstePoliturfähigkeit auszeichnen. Ein altrömisches S.enthielt 71-72 Kupfer, 18-19 Zinn, 4-4,5 Antimon und Blei, einchinesischer Metallspiegel 80,8 Kupfer, 9,1 Blei, 8,4 Antimon. EinS. von unübertrefflich weißer Farbe erhält man ausgleichen Teilen Platin und Stahl, ein andres platinhaltiges S.besteht aus 350 Kupfer, 165 Zinn, 20 Zink, 10 Arsen, 60 Platin.Vgl. Bronze, S. 460.

Spiegelrichtmaß, s. Spiegelinstrumente.

Spiegelrinde, Eichenrinde, die noch nicht mit Borkebedeckt ist.

Spiegelsextant, Instrument zu Höhen- undDistanzmessungen, besteht aus einem Kreissektor von etwas über60°, um dessen Mittelpunkt sich eine Alhidade dreht. Dieseträgt an dem einen Ende über dem Mittelpunkt desKreissektors einen Spiegel, welcher senkrecht auf der Ebene desSektors steht. Ein andrer, kleinerer Spiegel steht gleichfallssenkrecht auf der Ebene des Sektors und ist zugleich so an demSextanten befestigt, daß er mit dem großen Spiegelparallel steht, wenn die Alhidade auf den Nullpunkt der Teilungweist. Die obere Hälfte des letztern Spiegels ist nicht mitAmalgam belegt, so daß ein Lichtstrahl von einem entferntenObjekt durch den Spiegel unmittelbar in das Auge des Beobachtersoder in das gewöhnlich dabei angebrachte kleine Fernrohr,statt dessen für nahe Gegenstände eine bloßeRöhre ohne Gläser gebraucht wird, gelangt. Will man denWinkelabstand zweier Objekte messen, so visiert man mit demFernrohr durch den zweiten Spiegel nach dem einen Objekt und bringtdurch Drehung der Alhidade das Spiegelbild des andern Objekts indem ersten Spiegel auf den zweiten, bis beide Objekte in derselbenRichtung stehen. Sobald sie sich im Fernrohr decken, ist derWinkel, welchen beide Spiegel miteinander machen, oder der Bogen,welchen die Alhidade durchlaufen hat, gleich der Hälfte desgesuchten Winkels, den beide Gegenstände im Auge desBeobachters machen. Der Bequemlichkeit halber ist aber der Umfangdes Spiegelsextanten in halbe Grade geteilt, welche für ganzeGrade gerechnet werden. Die erste Idee zu diesem dem Seefahrerunentbehrlichen Instrument verdankt man Newton; Hadley aber brachteden ersten Spiegelsextanten wirklich zu stande, daher er auch alsdessen Erfinder gilt. Praktisch ist der durch Breithauptverbesserte englische Dosensextant. Eine Verbesserung desSpiegelsextanten ist der Reflexionskreis, welcher statt desKreissektors einen ganzen Kreis von 15-25 cm Durchmesser und stattdes zweiten Spiegels ein Prisma enthält. Bei SteinheilsPrismenkreis sind beide Spiegel durch Prismen ersetzt. Aufdemselben Prinzip beruhen der veraltende katoptrische Zirkel unddie Reflektoren (s. Spiegelinstrumente).

Spiegelteleskop, s. v. w. katoptrisches Fernrohr. s.Fernrohr, S. 151.

Spiegelung, regelmäßige Zurückwerfung(Reflexion) des Lichts. Fällt ein Lichtstrahl fn (Fig. 1) aufeinen Spiegel s s' (so nennt man jede glatte Fläche), so wirdein Teil desselben in ganz bestimmter Richtung n d von derFläche in den vor ihr befindlichen Raum zurückgeworfen.Um die Richtungen des einfallenden (fn) und deszurückgeworfenen Strahls (nd) bequem zu bezeichnen, denkt mansich auf der spiegelnden Fläche in dem Punkt n, wo dereinfallende Strahl dieselbe trifft, eine Senkrechte, dasEinfallslot, errichtet. Die durch den einfallenden Strahl und dasEinfallslot gelegte Ebene (die Ebene der

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Spiegelung.

Zeichnung), welche senkrecht steht auf der spiegelndenFläche, heißt die Einfallsebene; sie wird, weil siestets auch den zurückgeworfenen Strahl enthält, auchZurückwerfungs- oder Reflexionsebene genannt. Die Richtungendes einfallenden und des zurückgeworfenen Strahles werdenbestimmt durch den Einfallswinkel (Inzidenzwinkel) i und denZurückwerfungswinkel (Reflexionswinkel) r, welche jeder dieserStrahlen mit dem Einfallslot bildet. Der Zurückwerfungswinkelist stets dem Einfallswinkel gleich. Ein auf einen Spiegelsenkrecht auffallender Strahl (p n) wird in sich selbst (nach n p)zurückgeworfen.

Aus diesem Gesetz folgt unmittelbar, daß alle Strahlen(lr, lr'... Fig. 2), welche, von einem hellen Punkt l ausgehend,auf einen ebenen Spiegel (Planspiegel) treffen, von demselben sozurückgeworfen werden (rs, r's'...), als kämen sie voneinem Punkt l', welcher auf der von dem Lichtpunkt aus auf denSpiegel gezogenen Senkrechten lpl' ebenso weit hinter derspiegelnden Ebene liegt, wie der Lichtpunkt l vor derselben. EinAuge, das sich vor dem Spiegel (z. B. in s'') befindet,empfängt daher die zurückgeworfenen Strahlen gerade so,als ob der Punkt l', von dem sie auszugehen scheinen, selbst einheller Punkt wäre; es sieht in (d. h. hinter) dem Spiegel inder Richtung s''l' den Punkt l' als Bild des vor dem Spiegelbefindlichen Punktes l. Jedem Punkt eines leuchtenden oderbeleuchteten Gegenstandes entspricht in derselben Weise einBildpunkt hinter dem Spiegel, und aus der Gesamtheit allerBildpunkte entsteht das Spiegelbild des Gegenstandes, welchesdiesen mit einer Treue nachahmt, die sprichwörtlich gewordenist. Um dieses Bild im Geist (oder in einer Zeichnung) zuentwerfen, denke man sich von jedem Punkte des Gegenstandes eineSenkrechte auf die Spiegelebene gezogen und hinter derselben umebensoviel verlängert, als jener Punkt vor ihr liegt. Wirsehen daher, wenn wir in einen Spiegel blicken, unser eignes Bild,getreu in Größe, Gestalt und Farbe, ebenso weit hinterdem Spiegel, als wir selbst vor demselben stehen; aber völliggleich ist das Spiegelbild seinem Original doch nicht; dennkönnten wir die Person, welche aus dem Spiegel herausschaut,hinter demselben hervortreten lassen, so würden wir bemerken,daß sie unsre rechte Hand an ihrer linken Seite hat, unddaß überhaupt unsre rechte Seite ihre linke Seite ist,und umgekehrt. Ebenso werden die Buchstaben in dem Spiegelbildeines Buches von rechts nach links gehen und nicht von links nachrechts wie in dem Buch selbst.

Da die zurückgeworfenen Strahlen von dem Bild hinter einemSpiegel gerade so ausgehen wie von einem wirklich dort befindlichenGegenstand, so kann jedes Spiegelbild einem zweiten Spiegelgegenüber wieder die Rolle eines Gegenstandes spielen; beiAnwendung zweier Spiegel, deren spiegelnde Flächen einanderzugewendet sind, entstehen daher außer den beidenunmittelbaren Spiegelbildern (erster Ordnung) noch solche zweiter,dritter und höherer Ordnung, welche aber wegen derLichtverluste bei den wiederholten Zurückwerfungen immerlichtschwächer werden. Bringt man z. B. eine brennende Kerzezwischen zwei einander parallel gegenüberhängendeSpiegel, so erblickt man in jedem eine unabsehbare Reihe vonKerzenflammen, welche sich in unendlicher Ferne zu verlierenscheint. Die Zahl der Bilder wird eine begrenzte, wenn die beidenSpiegel einen Winkel miteinander bilden (Winkelspiegel, Fig. 3).Die Spiegel MO und RN liefern von dem zwischen ihnen befindlichenGegenstand A die Bilder erster Ordnung B und B1. Indem das Bild Bhinter dem ersten Spiegel seine Strahlen dem zweiten Spiegelzusendet, entwirft dieser ein Bild zweiter Ordnung C1 und ebensoder erste Spiegel ein Bild C des Bildes B1. Damit ist aber fürden in der Zeichnung angenommenen Winkel von 72° die Anzahl derBilder erschöpft. Ein zwischen die Spiegel blickendes Auge Osieht die Bilder nebst dem Gegenstand auf einem um denKreuzungspunkt der beiden Spiegel beschriebenen Kreisregelmäßig angeordnet, und zwar trifft auf jedenWinkelraum, welcher dem Winkel der beiden Spiegel gleich ist, jeein Bild. Das Auge O sieht daher den Gegenstand so vielmal, alsdieser Winkel in dem ganzen Umfang enthalten ist. Auf dieregelmäßige Anordnung der Bilder der Winkelspiegelgründet sich die anmutige Wirkung des Kaleidoskops (s.d.).

Eine kugelförmig gekrümmte Schale, welche auf ihrerInnenseite glatt poliert ist, bildet einen Hohlspiegel(Konkavspiegel). Der Mittelpunkt der Hohlkugel, von welcher dieSchale ein Abschnitt ist, heißt der Krümmungsmittelpunktoder geometrische Mittelpunkt und jede durch ihn gezogene geradeLinie eine Achse desselben; unter ihnen wird diejenige, welche dieSchale in ihrem mittelsten tiefsten Punkte (dem optischenMittelpunkt des Spiegels) trifft, als Hauptachse bezeichnet. Jederlängs einer Achse sich fortpflanzende Strahl (Achsenstrahl)trifft senkrecht auf den Spiegel und wird daher in sich selbstzurückgeworfen. Läßt man ein Bündel parallelerSonnenstrahlen (Fig. 4) auf einen Hohlspiegel fallen, so werdendieselben in Form eines Lichtkegels zurück-

[Fig. 1. Zurückwerfung des Lichts.]

[Fig. 2. Entstehung des Bildpunktes bei einem ebenenSpiegel.]

[Fig. 3. Winkelspiegel.]

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Spiegelung.

geworfen, dessen Spitze F vor dem Spiegel auf der mit deneinfallenden Strahlen parallelen Achse liegt. Dieser Punkt F, durchwelchen sämtliche auf den Spiegel parallel mit der Achsetreffende Strahlen hindurchgehen, heißt der zu dieser Achsegehörige Brennpunkt. Auf einem Papierblättchen, welchesman an seine Stelle bringt, erscheint er als weißer Fleck vonblendender Helligkeit, bis das Papier unter der kräftigenWärmewirknng der vereinigten Strahlen Feuer fängt unddadurch zeigt, daß der Name "Brennpunkt" ein wohlverdienterist. Wegen dieser Wirkung nennt man den Hohlspiegel auchBrennspiegel. Der Brennpunkt liegt auf jeder Achse gerade in derMitte zwischen dem Spiegel und dessen Krümmungsmittelpunkt,oder die Brennweite ist die Hälfte des Kugelhalbmessers.

Jeder Strahl, welcher nicht durch den Kugelmittelpunkt (C, Fig.4) geht, trifft schräg auf die Spiegelfläche und wird sozurückgeworfen, daß er mit dem an seinem Einfallspunktauf der Spiegelfläche errichteten Einfallslot beiderseitsgleiche Winkel bildet. Das Einfallslot ist aber jedesmal der vomKrümmungsmittelpunkt zum Einfallspunkt gezogeneKugelhalbmesser. Man bemerkt nun leicht, daß dieKugelhalbmesser, d. h. die Einfallslote, in demselben Maßestärker zur Achse geneigt sind, als die Punkte des Spiegels,zu denen sie gehören, weiter von der Achse abstehen. Deshalbmuß auch jeder mit der Achse parallele Strahl in demMaße stärker gegen die Achse zu aus seinerursprünglichen Richtung abgelenkt werden, als er weiterentfernt von der Achse auf den Spiegel trifft. Aus diesemVerhalten, welches die Fig. 4 deutlich wahrnehmen läßt,erklärt es sich, warum sämtliche auf den Hohlspiegelparallel zur Achse treffende Strahlen nach der Zurückwerfungdurch einen und denselben Punkt gehen müssen. Befindet sich imBrennpunkt F eine Lichtquelle, so werden ihre auf den Spiegeltreffenden Strahlen, indem sie dieselben Wege in entgegengesetzterRichtung einschlagen, parallel zu der Achse zurückgeworfen.Fällt von einem Lichtpunkt a (Fig. 5), der zwischem demBrennpunkt F und dem Kugelmittelpunkt C liegt, einStrahlenbüschel auf den Spiegel, so treffen die einzelnenStrahlen jetzt minder schräg auf den Spiegel, als wenn sie ausdem Brennpunkt kämen, und werden daher auch weniger stark vonder Achse weggelenkt; sie laufen daher nach der Zurückwerfungnicht mit der Achse parallel, sondern schneiden sie jenseit desMittelpunktes C und zwar, da ihre Ablenkung um so größerist, je weiter der getroffene Spiegelpunkt von der Achse absteht,in einem einzigen Punkt A, welchen man das Bild des Punktes anennt. Bringt man nach A einen Lichtpunkt, so müssen seineStrahlen, indem sie sich auf denselben Bahnen in entgegengesetzterRichtung bewegen, im Punkt a zusammentreffen. Die Punkte a und Agehören also in der Weise zusammen, daß jeder das Bilddes andern ist, und heißen deshalb zusammengehörige oderkonjugierte Punkte. Ist ein Lichtpunkt (A, Fig. 6) um weniger alsdie Brennweite F vom Spiegel entfernt, so vermag dieser die zustark auseinander fahrenden Strahlen nicht mehr in einem vor demSpiegel gelegenen Punkt zu vereinigen, sondern diezurückgeworfenen Strahlen gehen jetzt auseinander, jedoch so,als ob sie von einem hinter dem Spiegel gelegenen Punkt aausgingen. Da umgekehrt Strahlen, welche nach dem hinter demSpiegel gelegenen Punkt a hinzielen, im Punkt A vor dem Spiegelvereinigt werden, so sind auch in diesem Fall die Punkte A und aals zusammengehörige (konjugierte) zu betrachten.

Da jedem Punkt eines leuchtenden oder beleuchteten Gegenstandes,der sich vor einem Hohlspiegel befindet, ein auf derzugehörigen Achse gelegener Bildpunkt entspricht, so entstehtaus der Gruppierung sämtlicher Bildpunkte ein Bild desGegenstandes. Befindet sich z. B. ein Gegenstand A B (Fig. 7)zwischen dem Brennpunkt F und dem Krümmungsmittelpunkt C, soliegt das Bild des Punktes B auf der Achse B C in b, dasjenige desPunktes A auf der Achse A C in a u.s.f. Es entsteht daher jenseit Cein umgekehrtes vergrößertes Bild a b. Wäre a b einGegenstand, welcher um mehr als die doppelte Brennweite vom Spiegelentfernt ist, so würde derselbe ein umgekehrtes verkleinertesBild in A B zwischen dem Brennpunkt F u. dem Kugelmittelpunkt Cliefern. Man erkennt aus der Zeichnung, daß Bild u.Gegenstand einander ähnlich sind, u. daß ihreGrößen sich zu einander verhalten wie ihre Abständevom Spiegel. Je weiter sich der Gegenstand vom Spiegel entfernt,desto näher rückt sein Bild dem Brennpunkt. Das Bildeines unermeßlich weit entfernten Gegenstandes, z. B. einesGestirns, entsteht im Brennpunkt selbst. Der helle Fleck imBrennpunkt eines Hohlspiegels, auf den man die Sonnenstrahlenfallen läßt (s. oben), ist eigentlich nichts andres alsein kleines Bild der Sonne.

Diese Bilder unterscheiden sich nun sehr wesentlich von denBildern, welche die ebenen Spiegel liefern. Sie entstehennämlich dadurch, daß die von einem jeden Punkte desGegenstandes ausgehenden Strahlen in einem Punkt vor dem Spiegelwirklich vereinigt oder gesammelt werden; ein solches Bild kanndaher auf einem Schirm aufgefangen werden und erscheint aufdemselben, nach allen Seiten hin sichtbar, wie ein in den zartestenFarben ausgeführtes Gemälde. Bilder dieser Art nennt mandeswegen

[Fig. 4. Brennpunkt eines Hohlspiegels.]

[Fig. 5. Reeller Bildpunkt.]

[Fig. 6. Virtueller Bildpunkt.]

[Fig. 7. Entstehung eines reellen Bildes bei einemHohlspiegel.]

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Spiegelversicherung - Spiel.

wirkliche (reelle) oder Sammelbilder. Die Bilder der ebenenSpiegel dagegen entstehen durch Strahlen, welche vor dem Spiegelauseinander gehen und sich zerstreuen, indem sie von hinter derSpiegelfläche liegenden Punkten auszugehen scheinen, undwerden nur gesehen, wenn diese Strahlen unmittelbar in das Augedringen. Sie werden daher scheinbare (virtuelle) oderZerstreuungsbilder genannt. Auch die reellen Bilder derSammelspiegel (so nennt man häufig die Hohlspiegel)können ohne Auffangsschirm unmittelbar wahrgenommen werden,wenn man das Auge in den Weg der Strahlen bringt, welche nach derVereinigung von den Punkten des Bildes aus wieder auseinandergehen. Das Bild scheint alsdann vor dem Spiegel in der Lust zuschweben.

Sammelbilder liefert ein Hohlspiegel nur von Gegenständen,welche um mehr als die Brennweite von ihm abstehen. Von einem demSpiegel nähern Gegenstand (A B, Fig. 8) kann derselbe, weildie von jedem Punkt kommenden Lichtstrahlen nach derZurückwerfung auseinander gehen, nur noch ein scheinbares Bild(a b) entwerfen, welches einem in den Spiegel blickenden Augeaufrecht hinter der Spiegelfläche und größer alsder Gegenstand erscheint. Die Figur zeigt den Gang derLichtstrahlen im gegenwärtigen Fall. Wegen dieservergrößernden Wirkung werden die Hohlspiegel auchVergrößerungsspiegel genannt und zu Zwecken der Toilette(als Rasierspiegel) verwendet.

Jede auf der äußern gewölbten Seite polierteKugelfläche bildet einen Konvexspiegel oderZerstreuungsspiegel. Da ein solcher die von einem Punkt (B, Fig. 9)ausgehenden Strahlen stets so zurückwirft, daß sie voneinem hinter dem Spiegel liegenden Punkt b noch stärker alsvorher auseinander gehen, so kann derselbe von einem Gegenstand A Bnur ein scheinbares oder Zerstreuungsbild a b liefern, welcheshinter dem Spiegel in aufrechter Stellung gesehen wird. Da das Bildstets kleiner ist als der Gegenstand, so nennt man dieKonvexspiegel auch Verkleinerungsspiegel und verwendet sie ihrerniedlichen Bilder wegen als Taschentoilettenspiegel. - Bezeichnet adie Entfernung des Lichtpunktes, b diejenige des Bildpunktes voneinem Konkav- oder Konvexspiegel und f seine Brennweite, so giltdie Gleichung: 1/a + 1/b = 1/f. Hieraus ergibt sich, wenn derBildpunkt virtuell ist, die Größe b negativ; fürKonvexspiegel ist die Brennweite f negativ zu nehmen, fürHohlspiegel positiv. Alles von den kugelförmig gekrümmtenoder sphärischen Spiegeln bisher Gesagte gilt jedoch nur, wennihre Öffnung klein ist. Bei Hohlspiegeln vongrößerer Öffnung werden z. B. die parallel zurAchse in der Nähe des Randes auffallenden Strahlen nach einemPunkte der Achse gelenkt, welcher dem Spiegel näher liegt alsder für die näher der Mitte auffallenden Strahlengültige Brennpunkt, ein Fehler, der dadurch vermieden werdenkann, daß man dem Spiegel eine parabolische Gestalt gibt. Mannennt daher diesen Fehler die "Abweichung wegen der Kugelgestalt"oder die sphärische Aberration. Die Lehre von der S.(Reflexion oder regelmäßigen Zurückwerfung) desLichts wird Katoptrik genannt. Über Brennlinie s. d. Überdie Erklärung der S. aus der Wellenbewegung s. d.

[Fig. 8. Entstehung eines virtuellen Bildes bei einemHohlspiegel.]

[Fig. 9. Konvexspiegel.]

Spiegelversicheruug, s. Glasversicherung.

Spiegelversuch, s. Fresnels Spiegelversuch.

Spiegelwinkel, s. Spiegelinstrumente.

Spiek, Pflanze, s. Spik.

Spiekeroog, Insel in der Nordsee, an der Küste vonOstfriesland, zum preuß. Regierungsbezirk Aurich, KreisWittmund gehörig, 14 qkm groß, hat hohe Dünen,Viehzucht, Seehundsfang, Fischerei, ein aufblühendes Seebadund (1885) 243 evang. Einwohner. Vgl. Nellner, Die Nordseeinsel S.(Emden 1884).

Spiel, eine Beschäftigung, die um der in ihr selbstliegenden Zerstreuung, Erheiterung oder Anregung willen, meist mitandern in Gemeinschaft, vorgenommen wird. Man teilt die Spiele ambesten ein in Bewegungsspiele, zu denen unter andern die Ball-,Kugel-, Kegel- und Fangspiele gehören, und in Ruhespiele, diesolche zur Schärfung der Beobachtung und der Aufmerksamkeit,zur Betätigung von Witz und Geistesgegenwart, also die meistenunsrer sogen. Gesellschaftsspiele, dazu Karten-, Brettspiele, dasSchach u. a., umfassen. Glücksspiele (s. d.), um Gewinnbetrieben, fallen nicht unter diesen Begriff des Spiels. Wenngleichmanche Spiele über viele Völker der Erde verbreitet sind,so ist doch im ganzen die Art der Spiele eines Volkes bezeichnendfür seinen Charakter wie für seine Bildungsstufe. Das S.beruht daher meist auf volkstümlicher oder örtlicherSitte; es kann aber auch pädagogisch und planmäßigzur Förderung leiblicher oder geistiger Kräfte benutztwerden. Der Wert des Spiels in letzterer Hinsicht, den schonGesetzgeber und Philosophen des Altertums erkannt hatten, istbesonders durch die von Rousseau, den Philanthropisten, Pestalozziund Fröbel (s. Kindergärten) ausgehenden erzieherischenBestrebungen zur Geltung gekommen. Die Bewegungsspiele hat auch dieTurnkunst, insbesondere das Schulturnen, in ihren Bereich gezogen.Großer Wert wird diesen Spielen in England beigelegt, wo anallen Unterrichts- und Erziehungsanstalten bis zu denUniversitäten hinauf Wettspiele im Schwange sind. InDeutschland hat der preußische Kultusminister vonGoßler der Sache der Jugendspiele durch seinen Erlaßvom 27. Okt. 1882 erfreulichen Aufschwung gegeben. Vgl. Schaller,Das S. und die Spiele (Weim. 1851); Lazarus, Über die Reizedes Spiels (Berl. 1883); insbesondere die Spielsammlung von GutsMuths (7. Aufl., hrsg. von Schettler, Hof 1885); Jakob,Deutschlands spielende Jugend (3. Aufl., Leipz. 1883); Kohlrauschund Marten, Turnspiele, Wettkämpfe, Turnfahrten (3. Aufl.,Hannov. 1884); Kupfermann, Turnunterricht und Jugendspiele (Bresl.1884); Georgens, Das S. und die Spiele der Jugend (Leipz. 1884);Köhler, Die Bewegungsspiele des

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Spiel - Spielhagen.

Kindergartens (8. Aufl., Weim. 1888); Wagner,Illustriertes Spielbuch für Knaben (10. Aufl., Leipz. 1888);Gayette-Georgens, Neues Spielbuch für Mädchen (Berl.1887); Wolter, Das S. im Hause (Leipz. 1888). ÜberGesellschafts- u. Unterhaltungspiele im allgemeinen vgl.Alvensleben, Handbuch der Gesellschaftsspiele (8. Aufl., Weim.1889); "Encyklopädie der Spiele" (3. Aufl., Leipz.1878);Georgens, Illustriertes Familien-Spielbuch (das. 1882). - Bei denAlten nahmen die großen öffentlichen Kampfspiele (s. d.)die oberste Stelle ein, aber auch gesellige Spiele hatten sie innicht geringer Zahl, namentlich die Griechen, so bei Gelagen denWeinklatsch (s. Kottabos), das bei Griechen und Römern sehrbeliebte Ballspiel (s. d.) und Würfelspiel (s. Würfel),das Richterspiel der Kinder etc. Ein Brettspiel (petteia), nach derSage eine Erfindung des Palamedes, erscheint bereits bei Homer alsUnterhaltung der Freier in Ithaka ("Odyssee", I, 107); doch fehltuns nähere Kunde über die Art der griechischenBrettspiele. Unserm Schach- oder Damenspiel scheint das sogen.Städtespiel ähnlich gewesen zu sein. Von denverschiedenen Gattungen der römischen Brettspiele sindeinigermaßen bekannt der ludus latrunculorum(Räuberspiel), eine Art Belagerungsspiel, wobei die Steine inBauern und Offiziere geteilt waren und es galt, die feindlichenSteine zu schlagen oder festzusetzen, und der ludus duodecimscriptorum, das S. der 12 Linien, bei welchem auf einem in zweimal12 Felder geteilten Wurfbrett das Vorrücken der 15 jeweißen und schwarzen Steine durch die Höhe des jedem Zugvorangehenden Würfelwurfs bestimmt wurde. Sehr beliebt war imAltertum das Fingerraten, noch heute in Italien verbreitet alsMoraspiel (s. Mora). Vgl. Grasberger, Erziehung und Unterricht imklassischen Altertum (Würzb. 1864-81, 3 Tle.); Becq deFouqiers, Les jeux des anciens (2. Aufl., Par. 1873); Ohlert,Rätsel und Gesellschaftsspiele der alten Griechen (Berl.1886); Richter, Die Spiele der Griechen und Römer (Leipz.1887). - Aus der deutschen Vorzeit wird als vornehmstes Volksspielder Schwerttanz erwähnt, neben welchem Steinstoßen,Speerwerfen, Wettlaufen beliebt waren. Auch das Kegeln und dasstets mit Leidenschaft betriebene Würfelspiel sind uralt.Während das Landvolk an diesen Spielen festhielt, wandten sichdie höfischen Kreise der Ritterzeit vorwiegend denKampfspielen zu, aus denen sich unter fremdem Einfluß dieeigentlichen Ritterspiele (Tjost, Buhurt, Turnier) entwickelten.Daneben wurde das Ballspiel (von der weiblichen Jugend) und alsbeliebteste Verstandesspiele das Brettspiel und das Schachspiel(seit dem 11. Jahrh.) eifrig betrieben. In der spätern Zeitdes Mittelalters trat, namentlich in den Städten, das Spielenum Geld in den Vordergrund. Vgl. Schultz, Das höfische Lebenim Mittelalter, Bd. 1 (2. Aufl., Leipz. 1889); Kriegk, DeutschesBürgertum im Mittelalter (Frankf. 1868 u. 1871); Weinhold, Diedeutschen Frauen im Mittelalter (2. Aufl., Wien 1882).

Spiel (Stoß), in der Jägersprache der Schwanzdes Fasans sowie des Auer- und Birkwildes.

Spielart, s. Art.

Spielbanken, s. Glücksspiele.

Spielbein, s. Standbein.

Spielberg, 1) ehemalige Festung, s. Brünn. -

2) Berg im Frankenjura, s. Hahnenkamm.

Spielhagen, Friedrich, hervorragenderRomanschriftsteller, geb. 24. Febr. 1829 zu Magdeburg als Sohneines preußischen Regierungsrats, verbrachte seine Jugend inStralsund und ward an diesem Teil der Ostseeküste und auf derInsel Rügen im eigentlichsten Wortsinn heimisch, so daßdiese Landschaften den Hintergrund für beinahe alle seinespätern poetischen Schöpfungen abgeben. Nachdem er dasGymnasium zu Stralsund absolviert, studierte er von 1847 an, dieursprünglich geplanten medizinischen Studien bald aufgebend,Philologie und Philosophie zu Bonn, Berlin und Greifswald, wareinige Zeit Hauslehrer in einer aristokratischen Familie und ging1854 nach Leipzig, um sich als Dozent an der Universität zuhabilitieren. Seine litterarischen Studien und Beschäftigungenführten ihn inzwischen um so ausschließlicher auch demlitterarischen Beruf zu, als er die Unvereinbarkeit einerphilologischen Dozentenkarriere und poetischer Bestrebungenerkannte. Neben kritischen Essays trat er mit vorzüglichenÜbertragungen, z. B. von Emersons "EnglischenCharakterzügen" (Hannov. 1858), Roscoes "Lorenzo von Medici"(Leipz. 1859), Michelets Werken: "Die Liebe" (das. 1859), "DieFrau" (das. 1860) und "Das Meer" (das. 1861) sowie mit der Sammlung"Amerikanische Gedichte" (das. 1859, 3. Aufl. 1871), hervor. DieHauptsache aber blieb die eigne Produktion. Die Novelle "KlaraVere" (Hannov. 1857) und das graziöse Idyll "Auf derDüne" (Hannov. 1858) wurden nur von kleinen Kreisen als Probeneines ungewöhnlichen Talents beachtet. Eine um soglänzendere Aufnahme fand der erste größere Romandes Autors: "Problematische Naturen" (Berl. 1860, 4 Bde.; 12.Aufl., Leipz. 1887), mit seiner abschließenden Fortsetzung:"Durch Nacht zum Licht" (Berl. 1861, 4 Bde.; 10. Aufl. 1885).Dieser Roman gehörte durch Originalität der Erfindung,durch psychologische Feinheit der Charakteristik, höchsteLebendigkeit des Kolorits und eine in den meisten Partienkünstlerisch vollendete Darstellung zu den besten deutschenRomanproduktionen der Neuzeit und lenkte die Aufmerksamkeit dergebildeten Lesewelt dauernd auf den Autor. S. war inzwischen 1859von Leipzig nach Hannover übergesiedelt, hatte dort dieRedaktion des Feuilletons der "Zeitung für Norddeutschland"übernommen und sich verheiratet. Ende 1862 nahm er seinendauernden Wohnsitz in Berlin, von wo aus er größereReisen (nach der Schweiz, Italien, England, Paris etc.) unternahm,redigierte hier kurze Zeit die "Deutsche Wochenschrift" und dasDunckersche "Sonntagsblatt", trat mehrfach mit öffentlichenVorträgen auf, konzentrierte sich aber zuletzt immerausschließlicher auf die Produktion. Auch von der Herausgabevon Westermanns "Illustrierten deutschen Monatsheften", die er 1878übernommen, trat er 1884 wieder zurück. Sein zweitergroßer Roman: "Die von Hohenstein" (Berl. 1863, 4 Bde.; 6.Aufl. 1885), der die revolutionäre Bewegung des Jahrs 1848 zumHintergrund hatte, eröffnete eine Reihe von Romanen, welchedie Bewegungen der Zeit und zwar ebensowohl die zufälligen undäußerlichen wie die wirklich tief eingreifenden undechte Menschennaturen wahrhaft bewegenden zu spiegeln unternahmen.War hierdurch ein gewisses Übergewicht des tendenziösenElements gegenüber dem poetischen unvermeidlich, und standendie Romane: "In Reih und Glied" (Berl. 1866, 5 Bde.; 5. Aufl. 1880,2 Bde.) und "Allzeit voran!" (das. 1872, 3 Bde.; 6. Aufl. 1880) wiedie Novelle "Ultimo" (Leipz. 1873) allzu stark unter der Herrschaftmomentan in der preußischen Hauptstadt herrschenderInteressen, Erscheinungen und Stimmungen, welche der Dichter mitall seiner Kunst nicht zur Poesie zu erheben vermochte, so erwiesenandre freiere Schöpfungen den Gehalt, die

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Spielhonorar - Spielkarten.

Lebensfülle und die künstlerische Reife desSpielhagenschen Talents. Neben der Novelle "In der zwölftenStunde" (Berl. 1862), den unbedeutendern: "Röschen vom Hof"(Leipz. 1864), "Unter den Tannen" (Berl. 1867), "Die Dorfkokette"(Schwer. 1868), "Deutsche Pioniere" (Berl. 1870), "Das Skelett imHause" (Leipz. 1878) u. den Reiseskizzen: "Von Neapel bis Syrakus"(das. 1878) schuf S., unabhängig von den momentanenTagesereignissen oder sie nur in ihren großen, allgemeinempfundenen Wirkungen auf das deutsche Leben darstellend, dieRomane: "Hammer und Amboß" (Schwerin 1868, 5 Bde.; 8. Aufl.1881), "Was die Schwalbe sang" (Leipz. 1872, 2 Bde.; 6. Aufl. 1885)und "Sturmflut" (das. 1876, 3 Bde.; 5. Aufl. 1883), ein Werk, worinder Dichter, besonders im ersten und letzten Teil, auf der vollenHöhe seiner Darstellungskraft und Darstellungskunst steht; denRoman "Platt Land" (das. 1878); die feine, in Motiven undDetaillierung etwas allzusehr zugespitzte Novelle "Quisisana" (das.1879) sowie die neuesten Romane: "Angela" (das. 1881, 2 Bde.),"Uhlenhans" (das. 1884, 2 Bde.), "Was will das werden" (das. 1886,3 Bde.), "Noblesse oblige" (das. 1888), "Ein neuer Pharao" (1889)u. a. Nur in den kleinern Werken: "Deutsche Pioniere" und "Noblesseoblige", streifte S. vorübergehend das Gebiet des historischenRomans, sonst schöpfte er Handlungen und Gestalten aus derjüngsten Vergangenheit und unmittelbaren Gegenwart. Mit demnach einer eignen Novelle (7. Aufl., Leipz. 1881) bearbeiteten undan mehreren Theatern erfolgreich aufgeführten Schauspiel "Hansund Grete" (Berl. 1876) wendete sich der Dichter auch derBühne zu. Größern Erfolg hatte das Schauspiel"Liebe für Liebe" (Leipz. 1875), in dem die Kritik nebennovellistischen Episoden einen wahrhaft dramatischen Kernanerkannte. Neuerdings brachte er die Schauspiele: "Gerettet"(Leipz. 1884) und "Die Philosophin" (das. 1887). Von S. erschienenaußerdem: "Vermischte Schriften" (Berl. 1863-l868, 2 Bde.),"Aus meinem Skizzenbuch" (Leipz. 1874), "Skizzen, Geschichten undGedichte" (das. 1881), und "Beiträge zur Theorie und Technikdes Romans" (das. 1883). Von seinen "Sämtlichen Werken", dieauch die bis dahin zerstreuten innigen und formschönenGedichte des Autors enthalten, erschienen bisher 18 Bände(Leipz. 1875-87). Vgl. Karpeles, Friedr. S. (Leipz. 1889).

Spielhonorar, am Theater die dem Darsteller für seinjedesmaliges Auftreten festgesetzte, in der Gage nicht mitinbegriffene Summe. Der Brauch stammt aus Frankreich und warbereits im 18. Jahrh. in Deutschland eingeführt.

Spielhuhn, s. v. w. Birkhuhn.

Spielkarten, länglich-viereckige Blätter vonsteifem Papier, welche auf einer Seite mit Figuren und Zeichen vonbesonderer Bedeutung bemalt sind, und die in bestimmtzusammengesetzter Anzahl "ein Spiel Karten" bilden, mittels dessenman eine große Menge von Hasard- und Unterhaltungsspielenausführt. Absehend von der früh und selbständigentstandenen chinesischen Karte (bemalte Holz- oderElfenbeintäfelchen), unterscheidet man zwei Hauptgattungen:die Tarock- und die Vierfarbenkarte. Alle Formen der Tarockkarte,ältere wie neuere, bieten 21 besondere Bilder (Tarocks), derenRang durch aufsteigende Ziffern bezeichnet ist, ferner einenHarlekin von der Größe des ganzen Blattes (denSküs) und 4 Reiterbilder (Kavalls). Von Vierfarbenkarten gibtes drei Arten, als deren gemeinschaftliches Merkmal gilt, daßdieselben Wertzeichen viermal in einem Spiel unter verschiedenerAuszeichnung (Farben) vorhanden sind. Die Trappola- oderTrappelierkarte, die älteste der in Deutschlandeingeführten Karten, kam wahrscheinlich aus Italien. Siebesteht aus viermal 13 Blättern: Re, Cavallo, Fante, Zehn,Neun, Acht, Sieben, Sechs, Fünf, Vier, Drei, Zwei und Asso mitden Emblemen Spade (Schwerter), Coppe (Kelche), Denari (Pfennige)und Bastoni (Stöcke). Meist braucht man von diesen Karten 40(Zehn, Neun, Acht werden abgelegt). In der schlesischenTrappelierkarte fehlen Sechs, Fünf, Vier, Drei; sie hat also36 Blätter. Die deutsche Karte zählt 32 Blätter, vondenen je acht Daus (As), König, Ober, Unter, Zehn, Neun, Achtund Sieben darstellen und durch die Farben Eicheln (Eckern),Grün, Rot (Herzen) und Schellen unterschieden sind. Diefrüher noch vorhandenen Sechsen sind jetzt fast in allenGegenden aus der deutschen Karte geschwunden. Die jetzt wohl ammeisten verbreitete französische Karte (Whistkarte) von 52Blättern hat Treff (schwarze Kleeblätter), Pik (schwarzeLanzenspitzen), Coeur (rote Herzen) und Karo (rote Vierecke) zuUnterscheidungszeichen und besteht aus König, Dame, Bube undder Zahlenfolge Eins bis Zehn (52). In Süddeutschland, wo manvielfach französische Karten benutzt, heißen die vierFarben Kreuz (Treff), Schippen (Pik), Herz (Coeur) und Eckstein(Karo). Der Ursprung der S. bedarf noch sehr der Aufhellung. Zwarnicht eigentliche S., aber doch ähnlichen Zwecken dienendeelfenbeinerne und hölzerne, mit Figuren bemalte Täfelchenhatten die Chinesen und Japaner schon längst, ehe die Kartenbei uns bekannt waren. Wer sie in Europa eingeführt hat,darüber wissen wir nichts Sicheres. Die erste sicherbeglaubigte Erwähnung der S. datiert aus dem Jahr 1392, wo derSchatzmeister Karls VI. von Frankreich in seinem Ausgabebuch eineZahlung für drei Spiele Karten in Gold und Farben an den MalerJacquemin Gringonneur verzeichnet hat. Die S. können alsonicht erst, wie behauptet worden, zur Unterhaltung für dengeisteskranken König Karl erfunden worden sein. Wahrscheinlichist es, daß die Sarazenen die S. in Europa eingeführthaben. Die ältesten S. wurden gemalt, oft mit Aufwandgroßer Kunstfertigkeit. Besonders waren die deutschenKartenmacher, welche um 1300 bereits Innungen gebildet zu habenscheinen, berühmt. Nachdem die Erfindung der Holzschneidekunstund des Kupferstichs schrankenlose Vervielfältigungermöglicht hatte, stieg der Export billiger Karten ausDeutschland außerordentlich, besonders entwickelten Ulm,Augsburg und Nürnberg eine gewinnreiche Kartenindustrie. Wegenihrer Bedeutung für die Entstehungsgeschichte der Typographie,wegen der Trachtenbilder, welche auf ihnen erhalten sind, nachwelcher Richtung hin spätere Abarten der französischenKarte besonders interessantes Material liefern, sind die S.früherer Zeiten von besonderm kulturgeschichtlichen Interesseund werden darum gesammelt (Sammlung von Weigel in Leipzig, hrsg.das. 1865; "Die ältesten deutschen S. des königlichenKupferstichkabinetts zu Dresden", hrsg. von Lehrs, Dresd. 1885, u.a.). Bei der großen Beliebtheit, deren sich das Kartenspielbei den gebildeten Nationen erfreut, ist auch heute dieKartenfabrikation ein wichtiger Industriezweig, besonders inFrankreich und Deutschland (Stralsund, Hamburg, Kassel, Naumburg a.S., Frankfurt a. M, München, Stuttgart, Ravensburg, Ulm, Mainzetc.). In den meisten Ländern unterliegen die S. einerStempelsteuer (s. unten). Die Kartenspiele, deren Zahl sich insUnübersehbare vermehrt

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Spielkartenstempel - Spiera.

hat, sind teils Glücksspiele (s. d.), teils sogen. Kammer-oder Kommerzspiele, bei welch letztern nicht bloß dasGlück, sondern auch die Geschicklichkeit und dieVerstandeskräfte der Spielenden ausschlaggebend sind. Diebeliebtesten Kartenspiele sind das englische Whist, ferner Skat,Solo, Boston, Mariage etc. Die S. dienen ferner zuKartenkunststücken, wovon die interessantesten auf gewissenKunstgriffen (Volteschlagen), einige auf Berechnung arithmetischerVerhältnisse, alle auf Geschwindigkeit und Geschicklichkeit inder Handhabung beruhen. Endlich ist das Kartenschlagen oderKartenlegen, die Kunst der Kartomantie, welche arabischen Ursprungssein soll, noch gegenwärtig eins der beliebtesten Mittel,vorzüglich bei den Frauen aus den niedern Volksschichten, umden Schleier der Zukunft zu lüften, und ist besonders bei denZigeunern zu einem Haupterwerbsmittel ausgebildet worden. Dieberühmteste Kartenschlägerin der Neuzeit war dieLenormand (s. d.). Theoretisch behandelten die Kunst FrancescoMarcolini in seinen "Sorti" (Vened. 1540) und der PariserKupferstichhändler Aliette unter dem Anagramm Etteila im"Cours théorétique et pratique du livre de Thott"(Par. 1790). Die wichtigsten Werke über die Geschichte der S.sind: J. B. Thiers, Traité des jeux (Par. 1686); Breitkopf,Versuch, den Ursprung der S. etc. zu erforschen (Leipz. 1784);Leber, Jeux des tarots et des cartes numérales (Par. 1844,mit 100 Kupfern); Singer, Researches into the history of playingcards (Lond. 1848); Chatto, Origin and history of playing cards(das. 1848); Taylor, History of playing cards (das. 1865); Merlin,Origine des cartes à jouer (Par. 1869). Anweisung zurErlernung sämtlicher Kartenspiele geben die "Encyklopädieder Spiele" (3. Aufl., Leipz. 1879) und Opel (Erf. 1880). Vgl. auchSchröter, Spielkarte und Kartenspiel (Jena 1885); SignorDomino, Das Spiel, die Spielerwelt und die Geheimnisse derFalschspieler (Bresl. 1886).

Spielkartenstempel, eine unter Anwendung der Abstempelungvon Spielkarten erhobene Aufwandsteuer. Ein solcher wurde mit derfür Sicherung des Eingangs erforderlichen Beaufsichtigung undKontrollierung der Fabrikation und des Handels 1838 inPreußen eingeführt, nachdem bis dahin der Staat denAlleinhandel mit Spielkarten sich vorbehalten hatte. Eine solcheSteuer bestand auch in den meisten andern deutschen Ländern,seit 1878 ist an deren Stelle der S. als Reichsabgabe getreten (30u. 50 Pf. vom Spiel). Ertrag 1888/89: 1,066 Mill. Mk. Ein solcherStempel besteht auch in Österreich (30 und 15 Kr. vom Spiel)und in England (seit 1828: 1 Schilling, seit 1862: 3 Pence vomSpiel). Frankreich sichert sich die richtige Erhebung derSpielkartensteuer (50 u. 57 Cent.) dadurch, daß der Staat dennur am Sitz von Steuerdirektionen gestatteten Fabriken das fürdie Hauptseiten der Karten erforderliche Papier liefert. DieEinfuhr ausländischer Karten ist verboten; wo sie auf Grundvon Verträgen zugelassen ist, wird von solchen Karten nebendem Stempel noch ein Zoll erhoben. England erhebt einejährliche Lizenzgebühr vom Verkäufer vonSpielkarten, daneben besteht ein S. In Griechenland hat der Staatseit 1884 das Monopol der Erzeugung und des Verkaufs.

Spielleute (Spilman), im Mittelalter Bezeichnung fürdie fahrenden Sänger, Musikanten, Gaukler etc., welche um Geldihre Künste vorführten (s. Fahrende Leute). Jetztheißen S. (Signalisten) die Tamboure und Hornisten derInfanterie im deutschen Heer, deren je zwei bei der Kompanie sind,und die für ihre Ausbildung unter dem Bataillonstambour (beimersten Bataillon jedes Regiments Regimentstambour genannt) stehen.Reservespielleute sind je zwei Mann pro Kompanie, welche imGebrauch der Instrumente ausgebildet werden, aber sonst Dienst mitder Waffe thun.

Spielmarke, s. Jeton.

Spieloper, eine Oper mit lustspielartiger Handlung undleichter, gefälliger Musik, im Gegensatz zur ernstendramatischen Musik der großen Oper.

Spielpapiere, s. v. w. Spekulationspapiere (s.Spekulation).

Spieluhr, ein Uhrwerk, welches zu bestimmten Zeiten, etwanach Ablauf einer Stunde, ein oder mehrere musikalische Stückespielt. Bei den Glockenspieluhren, welche früher nicht seltenmit Turmuhren verbunden wurden, schlagen kleine, durch eine Stift-oder Daumenwalze gehobene Hämmer in bestimmter Abwechselungtaktmäßig an abgestimmte Glocken. In ähnlicherWeise wurden auch Flötenwerke und Harfensaiten mit Uhrwerkenin Verbindung gebracht. Gegenwärtig sind die sogen.Stahlspielwerke (Carillons) am gebräuchlichsten, welche sichin einem kleinen Raum (in Taschenuhren, Dosen, Albums etc.)unterbringen lassen. Sie bestehen aus abgestimmten Stahlfedern,welche durch die Stifte einer mittels des Uhrwerks in Umdrehungversetzten Walze geschnellt werden. Befindet sich ein solchesSpielwerk in einer Uhr, so ist dasselbe von dem Gang- undSchlagwerk derselben ganz unabhängig, indem esselbständig durch ein Gewicht oder eine Feder getrieben wird,und es findet eine Verbindung zwischen beiden nur in der Weisestatt, daß das Uhrwerk in bestimmten Zeiten das Spielwerkauslöst, d. h. seine Triebkraft frei macht, worauf letzteressofort zu spielen beginnt und damit fortfährt, bis es durchdie Arretierung wieder zum Stillstehen gebracht wird. DieStahlspielwerke werden hauptsächlich in der Schweizangefertigt.

Spielwaren, Arbeiten aus verschiedenen Stoffen (Metall,Elfenbein, Knochen, Holz, Pappe, Papiermaché, Leder, Wachs,Kautschuk etc.) zur Unterhaltung und Beschäftigung der Kinder,gegenwärtig Gegenstand eines bedeutenden Industriezweigs, derfür die ganz ordinären bis mittelfeinen Artikel seinenHauptsitz im sächsischen Erzgebirge (Seiffen,Grünhainichen etc.), in Oberammergau und in der Rauhen Alb inWürttemberg, für mittelfeine bis feinere Waren inSonneberg und Umgegend in Thüringen, für noch bessere undbeste Qualität in Nürnberg, Stuttgart und Berlin hat.Nürnberg und Stuttgart konkurrieren in hochfeiner Wareerfolgreich mit Paris. Die Gesamtproduktion Deutschlandsschätzt man auf 400,000 Ztr. im Wert von 30-36 Mill. Mk. DieHerstellung von S. reicht zurück bis in dieprähistorische Zeit. In den bronzezeitlichen Pfahlbauten derWestschweiz wurden bronzene und irdene Gegenständeausgegraben, die den heutigen Kinderrappeln ähneln undoffenbar demselben Zweck wie diese gedient haben. ÄhnlicheObjekte wurden auch in Schlesien, der Mark Brandenburg etc.,Spielwürfel aus Knochen oder Bronze zu La Tène (s.Metallzeit, S. 528), unweit Este und zu Sackrau (bei Breslau)ausgegraben. Die in alten Gräbern aufgefundenen Sprungbeine(astragali) von Schafen, Ziegen und Kälbern haben nach Bollezum Knöchelspiel gedient.

Spiera, Francesco, "der Apostat", geboren um 1498, warals Rechtsgelehrter zu Citadella bei Padua 1542 evangelischgeworden, schwor aber, von der Inquisition bedroht, 1547 diegewonnene Überzeugung

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Spieren - Spill.

ab, um sofort ein Opfer rasender Verzweiflung zu werden. Sein1548 erfolgtes trauriges Ende war entscheidend für denÜbertritt des P. P. Vergerio (s. d.). Sein Leben beschriebenComba (ital., Flor. 1872) und Rönneke (Hamb. 1874).

Spieren, die Rundhölzer des Schiffs, besondersdiejenigen zum Ausspannen der Leesegel an ihrem untern Liek;unbearbeitete Hölzer, welche Schiffe zum Ersatz zerbrechenderRaaen und Stengen mitnehmen.

Spierlingsvogelbeere, s. Sorbus.

Spierstaude (Spierstrauch), s. Spiraea.

Spieß, Stoßwaffe mit langem Schaft unddünner Eisenspitze, s. v. w. Pike (s. d.).

Spieß, 1) Christian Heinrich, Schriftsteller aufdem Gebiet des niedern Romans, geb. 1755 zu Freiberg i. S., warlängere Zeit Mitglied einer wanderndenSchauspielergesellschaft und wurde darauf als Wirtschaftsbeamterauf dem Schloß Betzdiekau in Böhmen angestellt, wo er17. Aug. 1799 starb. Anfangs schrieb er Schauspiele; späterlieferte er besonders Romane, jede Messe einige Bände (z. B."Der alte Überall und Nirgends", Geistergeschichte, 1792; "DasPetermännchen", 1793; "Der Löwenritter", 1794; "Diezwölf schlafenden Jungfrauen", 1795, etc.), die wohl nochjetzt in den untern Schichten der Gesellschaft Leser finden undsich insgemein durch wüste Erfindung und platteAusführung charakterisieren. Vgl. Appell, Die Ritter-,Räuber- und Schauerromantik (Leipz. 1859).

2) Adolf, Begründer einer neuen Richtung des Schulturnens,geb. 3. Febr. 1810 zu Lauterbach am Vogelsberg, wuchs in Offenbachauf und widmete sich mehr und mehr der Pflege und Förderungder Leibesübungen, nachdem er das anfänglich ergriffeneStudium der Theologie aufgegeben hatte. 1833-44 an den Schulen vonBurgdorf im Kanton Bern, dann 1844-48 in Basel angestellt,entfaltete er hier eine erfolgreiche, eigenartige Thätigkeitals Turnlehrer und Schriftsteller. 1848 zur Leitung des hessischenSchulturnens nach Darmstadt berufen, wirkte er in dieser Stellungmit weit über die Grenzen dieses Landes hinausgehendem Erfolg,bis ihn 1855 ein von früh an in ihm keimendes Lungenleiden,dem er 9. Mai 1858 erlag, von seiner Thätigkeitzurückzutreten zwang. S.' Verdienst ist es, die Gebiete derFreiübungen (s. d.) und Ordnungsübungen (s. d.) fürdie Turnkunst erschlossen und systematisch erschöpft sowie dieBetriebsform der Gemeinübungen auch für andre Turngebieteeingeführt zu haben. Auch hat er dem Mädchenturnen zuerstentscheidend Bahn gebrochen und überhaupt ein eigentlichesSchulturnen erst ins Leben gerufen. Sein Hauptwerk ist diesystematische "Lehre der Turnkunst" (Basel 1840-46, 4 Tle.; 2.Aufl. 1867-85). Zur Anleitung für den Schulturnunterricht istbestimmt sein "Turnbuch für Schulen" (Basel 1847-51, 2 Tle.;2. Aufl. von Lion, 1880-89). S.' "Gedanken über die Einordnungdes Turnwesens in das Ganze der Volkserziehung" (Basel 1842) sindmit anderm zusammengefaßt nebst Beiträgen zu seinerLebensgeschichte in seinen "Kleinen Schriften über Turnen"(hrsg. von Lion, Hof 1872). Vgl. Waßmannsdorff, ZurWürdigung der Spießschen Turnlehre (Basel 1845).

Spießbock, s. Antilopen, S. 640.

Spießbock, Käfer, s. Bockkäfer.

Spießbürger, ursprünglich arme, nur mitSpießen bewaffnete Bürger als Fußsoldaten; jetztverächtliche Bezeichnung für engherzige, beschränkteKleinbürger.

Spieße, s. Geweih.

Spießer, in der Jägersprache dereinjährige Hirsch; Spießbock, das einjährigemännliche Reh, solange es Spieße trägt, was auchbisweilen noch bei ältern Stücken der Fall ist (s.Geweih).

Spießglanz, s. v. w. Antimon;Spießglanzbleierz, s. v. w. Bournonit;Spießglanzbutter, s. v. w. Antimonchlorid;Spießglanzkönig, s. v. w. Antimon.

Spießglas, s. v. w. Antimon.

Spießglassilber, s. Antimonsilber.

Spießlein (Wurf), in Nürnberg s. v. w.fünf Stück.

Spießlerche, s. Pieper.

Spießrecht (Recht der langen Spieße), dasRecht der Landsknechtsregimenter, schwere Verbrechen selbstabzuurteilen, sowie der Rechtsgang dabei.

Spießrutenlaufen (Gassenlaufen), militär.Leibesstrafe, welche früher wegen schwerer Vergehen durchKriegs- oder Standgericht über gemeine Soldaten verhängtwurde, und bei deren Ausführung, unter Aufsicht vonOffizieren, ein oder mehrere hundert Mann mit vorgestelltem Gewehreine etwa 2 m breite Gasse bildeten, welche der bis zum Gürtelentblößte Verurteilte mit auf der Brustzusammengebundenen Händen und eine Bleikugel zwischen denZähnen haltend, um "sich den Schmerz zu verbeißen",mehrmals langsam bei Trommelschlag durchschreiten mußte.Hierbei erhielt er von jedem Soldaten mit einer Hasel- oderWeidenrute (Spieß- oder Spitzrute) einen Schlag auf denRücken. Bei der Kavallerie wurden, in Preußen bis 1752,statt der Ruten Steigbügelriemen (daher Steigriemenlaufen)verwendet. Um den Verurteilten am schnellen Gehen zu hindern,schritt ein Unteroffizier mit ihm vor die Brust gehaltenerSäbelspitze voran. Ein sechsmaliges S. durch 300 Mann an 3Tagen mit Überschlagen je eines Tags wurde der Todesstrafegleich geachtet, hatte aber auch gewöhnlich den Tod zur Folge.Konnte der Verurteilte nicht mehr gehen, so wurde er auf Strohgelegt und erhielt dann die festgesetzte Anzahl von Streichen.Diese barbarische Strafe wurde in Preußen 1806, inWürttemberg 1818, in Österreich 1855, in Rußlanderst 1863 abgeschafft. Ähnliche Strafen waren auch bei denRömern im Gebrauch, s. Fustuarium. Bei den Landsknechten (s.d.) war es das "Recht der langen Spieße", aus dem das S.hervorging.

Spießtanne, s. Cunninghamia.

Spik, s. v. w. Lavandula Spica; s. auch Valeriana.

Spiköl (Spicköl), s. Lavendelöl.

Spilanthes Jacq. (Fleckblume), Gattung aus der Familieder Kompositen, meist behaarte, einjährige Kräuter miteinfachen, gegenständigen Blättern und einzeln stehenden,gelben Blütenköpfen. Von den mehr als 40 Arten in denTropen der Alten und Neuen Welt wird S. oleracea Jacq., dieParakresse, in den Tropen als Salat- und Gemüsepflanze, beiuns als Zierpflanze kultiviert. In Südeuropa benutzt man siegegen Skorbut und bei uns eine aus dem Kraut bereitete Tinktur(Paraguay-Roux) gegen Zahnschwerz.

Spilimbergo, Distriktshauptstadt in der ital. ProvinzUdine, am Tagliamento, hat ein altes Schloß, eine Kirche mitGemälden von Pordenone u. a., Seidenfilanden, Handel und(1881) 1732 Einw.

Spill, Vorrichtung zum Einwinden der Ankerkette, zumEinholen von Trossen, wenn ein Schiff verholt werden soll, oder zumHeben schwerer Lasten. Ein S. besteht aus einer eisernen, beiGangspillen vertikal, bei Bratspillen horizontal gelagerten Welle(mit einer Armatur aus Gußeisen zur Aufnahme der Ankerketteund aus Holz zum Umlegen von Trossen) und dem Spillkopf, welchermit Öff-

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd.

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Spillage - Spindler.

nungen zum Einstecken der Spillspaken versehen ist, mit derenHilfe man den Apparat in Rotation versetzt. Palldaumen oderSperrklinken verhindern, daß das S. sich rückwärtsdreht. Auf Dampfschiffen wird das S. gewöhnlich durch einekleine Dampfmaschine in Bewegung gesetzt. In neuerer Zeit werdendie Spille vielfach ganz aus Eisen gebaut.

Spillage (spr. -ahsche), Verlust an auf Schiffenbeförderten Waren infolge mangelhafter Verpackung.

Spillbaum, s. Evonymus.

Spille, im Altdeutschen s. v. w. Spindel oder Kunkel,daher die deutschrechtlichen Ausdrücke: Spillgelder,Spilllehen, Spillmage, Spillseite u. dgl.

Spillgelder, s. Nadelgeld.

Spilling, s. Pflaumenbaum.

Spilllehen (Kunkellehen), ein Lehen, welches auch aufFrauen vererblich war.

Spillseite (Spindelseite, Spillmagen), im altdeutschenRecht die Verwandten mütterlicherseits im Gegensatz zu derSchwertseite oder den Schwertmagen (s. d.), den Verwandten von derSeite des Schwerts, dem Mannesstamm. Vgl. Mage.

Spilographa, s. Bohrfliege.

Spin., Abkürzung für Max von Spinola, Graf vonTassarolo, geb. 1780 zu Toulouse, gest. 1857 auf Tassarolo beiGenua (Entomolog).

Spina (lat.), Dorn, Stachel, Gräte; auchRückgrat (S. dorsi); in der altrömischen Rennbahn dieniedrige Mauer, an deren Enden die zu umkreisenden Ziele standen(s. Circus). S. bifida, Rückgratsspalte (s.d.).

Spinacia Tourn. (Spinat), Gattung aus der Familie derChenopodiaceen, einjährige, aufrechte, kahle Kräuter mitabwechselnden, gestielten, dreieckig ei- oderspießförmigen, ganzrandigen oder buchtig gezahntenBlättern, diözischen Blüten in geknäueltenWickeln, die der weiblichen Pflanze meist unmittelbar in denBlattachseln, die der männlichen zu unverbrochenen, terminalenund achselständigen Scheinähren geordnet. Vierorientalische Arten. S. oleracea L. (gemeiner Spinat), 30-90 cmhoch, soll durch die Araber zuerst nach Spanien gebracht und vondort weiter verbreitet worden sein. Man kultiviert ihn jetzt alsGemüsepflanze in zwei Varietäten, als Sommerspinat(großer, holländischer Spinat, S. oleracea inermisMönch), mit länglich-eirunden oder stumpf dreieckigenBlättern und glattem Fruchtperigon, und als Winterspinat (S.oleracea spinosa Mönch), mit spießförmigzweizähnigen Blättern und stachligem Fruchtperigon. DieseVarietät säet man im Herbst und schneidet sie imFrühjahr; den Sommerspinat bevorzugt man alsSommergewächs, weil er weniger leicht in Samen schießt.Die Blätter liefern ein zartes Gemüse, welches mildabführend wirkt. Es enthält 2,189 eiweißartigeKörper, 0,292 Fett, 0,058 Zucker, 2,378 sonstigestickstofffreie Substanzen, 0,551 Cellulose, 1,152 Asche, 93,380Wasser. In Griechenland füllt man Gebäck mit Spinat undeinigen Gewürzkräutern als Fastenspeise; in Frankreichverbäckt man den Samen zu Brot.

Spinalis (lat.), was auf das Rückgrat Bezug hat,daher Medulla s., das Rückenmark; Spinalkrankheiten, dieKrankheiten des Rückenmarks.

Spinalmeningitis, Entzündung derRückenmarkshäute.

Spinalnerven, s. Rückenmark.

Spinalneuralgie (Spinalirritation), die im Verlauf derRückenmarksnerven auftretenden Schmerzen, sind entwederbedingt durch anatomisch nachweisbare Erkrankungen 1) derWirbelkörper, z. B. bei Frakturen der Wirbelknochen, durchVerrenkungen oder Quetschungen der Bandscheiben, durcheingedrungene Geschosse oder knöcherne Auswüchse, welcheauf das Rückenmark oder die aus diesem entspringendenEmpfindungsnerven einen Druck ausüben; 2) durchEntzündungen oder Geschwulstbildungen in denRückenmarkshäuten, welche sich z. B. bei denhäufigen syphilitischen Erkrankungen auch auf die Scheide derNerven fortsetzen; 3) durch Entzündungen, Geschwülste,Entartungen des Rückenmarks selbst; S. ist daher einregelmäßiges Symptom der Rückenmarksschwindsucht.Diese große Gruppe von Fällen bietet der ärztlichenDiagnose gewöhnlich keine besondere Schwierigkeit, da die S.als solche nur Teilerscheinung ist neben Lähmungen,Krampfzuständen und andern schweren, oft tödlichenKomplikationen, so daß demnach die S. bei der Behandlung nurals Symptom berücksichtigt wird. Als reine Neurose kommt dieS. vor bei Personen, welche durch voraufgegangene schwereGemütsbewegungen, körperliche oder geistigeÜberanstrengungen, Exzesse aller Art in ihrer Gesundheit tieferschüttert sind. Neben dem Gefühl von Kriebeln, Taubseinoder Kälte in der Haut des Rückens und derExtremitäten klagen die Kranken überRückenschmerzen, welche besonders bei Druck auf dieDornfortsätze lebhaft werden (Irritatio spinalis),während Lähmungen meistens fehlen oder nur inuntergeordnetem Grad auftreten. In diesen Fällen ist die S.eine bloße Funktionsstörung des spinalen Nervensystems,welche gewöhnlich Teilerscheinung einer allgemeinenNervenschwäche ist, kein bedrohliches Symptom darstellt,sondern bei geeigneter Behandlung verschwindet (s.Nervenschwäche).

Spinalsystem (Vertebralsystem), das Rückenmark mitden von ihm ausgehenden Nerven.

Spinat, Pflanzengattung, s. Spinacia; englischer oderewiger S., s. v. w. Rumex Patientia: neuseeländischer S., s.v. w. Tetragonia expansa; wilder S., s. Atriplex.

Spina ventosa (lat.), s. Winddorn.

Spinazzola, Stadt in der ital. Provinz Bari, KreisBarletta, mit 6 Kirchen und (1881) 10,353 Einw.; Geburtsort desPapstes Innocenz XII.

Spindel, in der Technik ein langer, dünner, an einemoder an beiden Enden zugespitzter Körper, wie er seit altersbeim Spinnen benutzt wird; dann jede dünne stehende Welle(Bohrspindel, Schraubenspindel etc.), auch die Welle der Unruhe inden Spindeluhren. In der Botanik heißt S. (Rhachis) dieHauptachse der Ähre (s. Blütenstand, S. 80).

Spindelbaum, Pflanzengattung, s. Evonymus.

Spindelsträucher, s. Celastrineen.

Spindeluhr, s. Uhr.

Spindler, Karl, Romanschriftsteller, geb. 16. Okt. 1796zu Breslau, ward in Straßburg erzogen. Das juristischeStudium gab er auf, nachdem er sich dem französischenKriegsdienst durch Flucht entzogen, und wurde Schauspieler, bis erin der Pflege seines außerordentlichen Erzählertalentsseinen eigentlichen Beruf erkannte. Er lebte nacheinander in Hanau,Stuttgart, München, zuletzt in Baden-Baden und starb 12. Juli1855 in Bad Freiersbach. Unter seinen zahlreichen Romanen (neueAusg., Stuttg. 1854 bis 1856, 95 Bde.; Auswahl 1875-77, 14 Bde.)sind die bedeutendsten: "Der Bastard" (Zürich 1826, 3 Bde.;aus der Zeit Kaiser Rudolfs II.), "Der Jude" (Stuttg. 1827, 4 Bde.;eine Sittenschilderung aus der ersten Hälfte des 15. Jahrh.),"Der Jesuit" (das. 1829, 3 Bde.), "Der Invalide" (das. 1831, 5Bde.) und "Der König von Zion" (das. 1837, 3 Bde.),

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Spinell - Spinnen.

deren Vorzüge ihm einen der ersten Plätze unter dendeutschen Erzählern anweisen. 1829 erschien unter seinerRedaktion die "Damenzeitung", 1830-49 das Taschenbuch"Vergißmeinnicht".

Spinell, Mineral aus der Ordnung der Anhydride, findetsich in gewöhnlich kleinen, regulären Kristallen, einzelnein- oder aufgewachsen, sehr häufig, namentlich aufsekundärer Lagerstätte, in Kristallfragmenten u.Körnern. S. ist meist rot, auch braun, blau, grün undschwarz. Der rote wird beim Erhitzen vorübergehend grün,dann farblos, nach dem Erkalten aber wieder rot. Die lichtgefärbten Spinelle sind durchsichtig, die dunklerndurchscheinend bis undurchsichtig, alle glasglänzend.Härte 8, spez. Gew. 3,5-4,1. Der rote, durchsichtige (edle) S.ist ein Magnesiumaluminat MgAl2O4, wahrscheinlich durch etwas Chromgefärbt. Eine blaue Abart enthält bis 2,5 Proz. Eisen,der grasgrüne Chlorospinell 6-10 Proz. Eisen und etwasKupferoxyd als färbendes Prinzip, während der schwarze S.(Pleonast, Ceylanit) nach der Formel (Mg,Fe),(Al,Fe)2O4zusammengesetzt ist. Edler S. (s. Tafel "Edelsteine", Fig. 14)findet sich fast nur auf sekundärer Lagerstätte, inCeylon, Ostindien und Australien, der blaue zu Aker inSödermanland. Chlorospinell entstammt einem Chloritschiefervon Slatoust; Pleonast tritt in Silikatgesteinen und Kalken oderauch lose auf, so besonders am Monzoniberg in Südtirol, amVesuv, auf Ceylon, zu Warwick und Amity in New York. S. ist eingeschätzter Edelstein und besitzt in seinen gesättigtponceauroten Varietäten etwa den halben Wert einesgleichgroßen Diamanten. Tiefroter S. kommt auch alsRubinspinell, licht rosenroter als Rubinbalais (Balasrubin),violetter als Almandinspinell und gelbroter als Rubicell (Rubicill)in den Handel. Die zuletzt genannten drei Sorten stehen den edlenSpinellen an Wert bedeutend nach. Kochenille- und blutroter S.kursiert wohl auch als Goutte de Sang ("Blutstropfen"). Pleonastedienen als Trauerschmuck. Eine Anzahl von Mineralspezies, dereneinzelne Glieder als isomorphe Körper untereinander engverknüpft sind, faßt man als Spinellgruppe zusammen. Siekristallisieren sämtlich im regulären System, amhäufigsten in Oktaedern und oktaedrischen Zwillingen, nach demsogen. Spinalgesetz und sind übereinstimmend nach derallgemeinen Formel RII(RIV2)O4 [s. Bildansicht] zusammengesetzt.Die folgende Tabelle gibt die wichtigsten Spezies der Gruppe unddie Elemente, welche sich an der Zusammensetzung beteiligen, in derReihenfolge ihres Vorwaltens in der betreffenden Verbindung :

Arten | RII | (R2)VI

Edler Spinell . . . . | Mg, vielleicht Cr | Al

Blauer Spinell . . . . | Mg | Al, Fe

Chlorospinell . . . . . | Mg, etwas Cu | Al, Fe

Pleonast . . . . . . | Mg, Fe | Al, Fe

Pikotit . . . . . . . | Fe, Mg | Al, viel Cr

Chrompikotit . . . . . | Fe, Mg | Cr, zurücktret. Al

Hercynit . . . . . . | Fe, wenig Mg | Al

Automolit (Gahnit, Zinkspinell) | Zn | A1

Kreittonit . . . . . . | Zn, Fe, Mg | Al, Fe

Dysluit . . . . . . | Zn, Fe, Mn | Al, Fe

Franklinit. . . . . . | Zn, Fe, Mn | Fe, Mn

Chromit (Chromeisenerz) | Fe, Mg, Cr | Cr, Al, Fe

Magneteisen (Magnetit) . | Fe | Fe

Talkeisenstein. . . . . | Fe, Mg | Fe

Jacobsit . . . . . . | Mn, Mg | Fe, Mn

Magnoferrit (Magnesioferrit) | Mg | Fe

Uranpecherz . . . . . | U | U

Spinellan, s. Nosean.

Spinelltiegel, s. Schmelztiegel.

Spinett (franz. Epinette), veraltetes Tasteninstrument,kleines Klavicimbal (s. Klavier, S. 816).

Spingole, s. Espingole.

Spinndrüsen, bei Insekten, Spinnen und einigenandern Tiergruppen diejenigen Organe, welche einen zu feinenFäden ausziehbaren, rasch erhärtenden Saft absondern undso den Stoff für die bekannten Spinnweben, Kokons und andrederartige Gebilde liefern. Die Larven (Raupen) von Insekten habenzwei sehr lange S., die im Hinterleib liegen und ihren Inhalt dichtam Mund ergießen; bei den Spinnen hingegen münden die S.am Hinterende des Körpers aus. Auch die Byssusdrüse derMuscheln (s. d.) wird wohl als Spinndrüse bezeichnet.

Spinnen, s. Spinnentiere.

Spinnen (hierzu Doppeltafel "Spinnmaschinen"), aus kurzenFasern durch Zusammendrehen beliebig lange Fäden (Gespinst,Garn, s. d.) erzeugen. Damit das Garn die größteGleichmäßigkeit und Festigkeit bekommt, müssen dieFasern nicht nur vor allen etwanigen Verunreinigungen sowie kurzenHärchen befreit, sondern auch gleichmäßig verteiltund in eine parallele Lage gebracht, demnach also gewissenVorbereitungsarbeiten unterworfen werden, bevor das eigentliche S.stattfinden kann. Je nachdem die verschiedenen Operationen von derHand mit einfachen Werkzeugen oder von mechanischen Vorrichtungenausgeführt werden, unterscheidet man Hand- undMaschinenspinnerei.

1) Die Handspinnerei,

durch die Maschinen fast verdrängt, wird nur noch von denLandbewohnern zum S. des Flachses und der Wolle benutzt, zeigt aberbereits deutlich die der Spinnerei zu Grunde liegendenHauptoperationen. Der gehechelte Flachs oder die gewaschene undgekratzte Wolle werden um einen hölzernen Stock (Rocken) a(Textfig. 1) gewunden, den die Spinnerin neben sich aufstellt oderin den Gürtel steckt. Das Ordnen der Fasern bewirkt sie durchAusziehen derselben mit der einen Hand, während sie mit derandern die Spindel am obern Ende dreht, an welchem der Faden miteiner Schlinge in einem Häkchen oder einemschraubenförmigen Einschnitt so befestigt ist, daß dieDrehung auf ihn übertragen wird. Die Spindel b besteht auseinem hölzernen (selten eisernen) Stäbchen von 20-30 cmLänge, das etwa 8 cm vom untern Ende seine größteStärke, 0,8-1,5 cm, hat u. sich von da aus nach beiden Endenzuspitzt. Etwas unter der stärksten Stelle befindet sich einekleine Schwungmasse c (Wirtel) aus Zinn oder Horn, in denältesten Zeiten aus einem durchbohrten Stein bestehend, durchwelche die Drehung der Spindel länger erhalten wird, nachdemsie losgelassen und, an dem sich bildenden Faden hängend,allmählich zur Erde sinkt. Ist dies geschehen, so wird derFaden

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Spinnen (Hand-, Maschinenspinnerei).

vom obern Ende der Spindel abgelöst, aufgewickelt und vonneuem festgehakt, die Spindel gedreht etc. Viel nutzbringender istdas S. mit dem Spinnrad (Handrad oder Trittrad), durch welches diebeiden Operationen des Drehens und Aufwickelns der Hand abgenommenwerden, während nur das Ordnen der Fasern (Ausziehen)derselben überlassen bleibt. Bei dem Handrad (Textfig. 2) wirddie frei schwebende Spindel a durch das von der rechten Hand an derKurbel b gedrehte Rad c mittels Schnur ohne Ende in Umdrehungversetzt, während man in der linken das Spinnmaterial (meistWolle) hält und in geeigneter Menge durch die Finger gleitenläßt. Zunächst wird der Faden gedreht, indem manihn in der Richtung 1, d. h. unter stumpfem Winkel, gegen dieSpindel hält und sich allmählich mit der linken Hand vonder Spindel entfernt; hierauf bringt man ihn in die Richtung 2,wodurch er aufgewickelt wird. Bei dem Trittrad (Textfig. 3) isteine Spindel x y vorhanden, die an beiden Enden gelagert und bei ymit einem sogen. Kopfe versehen ist, welcher der Länge nacheine Durchbohrung mit einem Seitenloch sowie zwei Flügel a abesitzt. Auf der Spindel befindet sich eine hölzerne Spule bzum Aufwickeln des Garns i i. Die Spindel x y erhält nun durchdie Schnurrolle r (Wirtel) und die Schnur s, die Spule b durch dieSchnurrolle u und die Schnur t, beide von dem durch denFußtritt f, Schubstange e und Kurbel d in Umdrehungversetzten Schwungrad c aus eine Drehbewegung. Der bei y durch denKopf gehende, von dem Spinnrocken kommende Faden i wirdzunächst durch diese Bewegung gedreht, dann aber überkleine Häkchen des Flügels auf die Spule b geleitet. Danun letztere entweder einen kleinern oder größern Wirtelu hat als die Spindel, also mehr oder weniger Umdrehungen als diesemacht, so muß dadurch das Garn aufgewickelt werden. Umhierbei ein regelmäßiges Bewickeln der Spule zubewirken, wird der Faden der Reihe nach über andreHäkchen geleitet.

2) Die Maschinenspinnerei, welche jetzt die Regel bildet,erzeugt das Garn in der Weise, daß das Fasermaterialzunächst zum Zweck der Reinigung und Anordnung eine Reihe vonMaschinen durchläuft, die dasselbe als einzusammenhängendes Band abliefern, welches Vorgarn genannt unddurch allmähliche Verfeinerung und Drehung in Garn (Feingarn)verwandelt wird.

A. Baumwollspinnerei. Die zum Verspinnen bestimmte Baumwolle (s.d.) kommt in sehr stark zusammengepreßten Ballen in dieSpinnereien und muß zur Abscheidung der Schmutzteilegeöffnet werden. Dies erfolgt in dem Wolf (Öffner,Willow), der sehr verschieden konstruiert, aber in neuester Zeithauptsächlich in der durch Fig. 4 dargestellten Einrichtungdes vertikalen, konischen Willows angewendet wird. Auf dervertikalen Achse a a befinden sich 6-8 runde Blechscheiben 1-6, miteiner Anzahl von Stäben c versehen, welche mit der Achse a asich mit großer Geschwindigkeit (1000- 1200 Umdrehungen inder Minute) drehen. Die durch den Kanal A zugeführte Baumwollewird von diesen Schlägern gefaßt und gewaltsam gegen denkonischen Korb o p geschleudert, welcher siebartig durchbrochen istund daher den groben Staub durchläßt, der sich in derKammer K K ansammelt und zeitweilig entfernt wird. Der feinereStaub dahingegen wird durch eine Trommel E abgesondert, derenInneres mit dem Ventilator G in Verbindung steht, der dasselbeaussaugt. Obige Trommel G ist nun mit einem Drahtgewebeüberspannt, gegen welches durch den Luftzug die aufgelockerteBaumwolle fliegt, um sich von dem Staub zu trennen, der in dasSiebinnere und zum Staubturm H gejagt wird. Infolge einer langsamenDrehung der Siebtrommel gelangt die Baumwolle durch D auf das Tuchohne Ende F, welches sie, im hohen Grad gelockert, aus der Maschineauswirft. Unmittelbar auf dieses Öffnen folgt eine noch weitergehende Auflockerung und Reinigung in der gewöhnlich doppeltenSchlag- oder Flackmaschine (Batteur), deren Einrichtung Fig. 5 imLängsschnitt zeigt. Das Wichtigste an dieser Maschine sind dieSchlagvorrichtungen, welche sich in den Kasten c und e befinden undaus einer Welle bestehen, an der mittels Arme zwei Lineale(Schläger) t t befestigt sind, die sich mit einerGeschwindigkeit von etwa 1500 Umdrehungen in der Minute drehen. DieBaumwolle wird nun auf das Tuch ohne Ende a gelegt und von diesemeinem Walzenpaar (Speisewalzen) b übergeben, an dem dieSchläger sehr nahe vorbeifliegen, und das sich so langsamdreht, daß auf etwa 1 mm des vorgeschobenen Materials 1Schlag kommt. Der bei diesem Schlagen frei werdende Staub fliegtzum Teil durch die Roste r d, zum Teil durch die Siebtrommel d mitVentilator k, während die Baumwolle erst auf der Siebtrommel dgesammelt und dann von dieser den Speisewalzen e1 zugeschoben wird,um in e noch einmal geschlagen, durch Rost s, Siebtrommel f f mitVentilator m gereinigt zu werden. Aus f f gelangt sie zu denPreßwalzen g und endlich auf eine durch i i gedrehte Walze hzum Aufwickeln zu einem Wickel. Da die Baumwolle mindestens zwei-,oft mehrere Male auf der Schlagmaschine bearbeitet werdenmuß, so findet man gewöhnlich solche doppelteSchlagmaschinen und benutzt zwei derselben hintereinander. Dabeilegt man mehrere Wickel (1, 2, 3) der ersten Schlagmaschine auf dasSpeisetuch a der zweiten sogen. Wattenmaschine, wodurch eineMischung und die

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Spinnmaschinen.

Fig. 23 Wollkämme

Fig. 10. Häkchenstellung der Walzenkarde

Fig. 4 Konischer Wolf

Fig. 9. Deckelkratze

Fig. 11. Walzenkarde (Seitenansicht).

Fig. 5. Schlagmaschine.

Meyers Konv.-Lex., 4. Aufl.

Bibliogr. Institut in Leipzig.

Zum Artikel »Spinnen«.

148b

Spinnmaschinen.

Fig. 15. Mulemaschine

Fig. 13. Vorspinnmaschine (Flyer).

Fig. 19. Waterspinnmaschine für Flachs.

Fig. 16. Selbstspinner (Self-actor)

148c

Spinnmaschinen.

Fig. 21. Reißwolf.

Fig. 20. Schlagwolf.

Fig. 17. Ringspindel

Fig. 24. Igelstrecke.

Fig. 18. Anlegemaschine.

Fig. 22. Florteiler.

Fig. 12. Streckwerk.

Fig. 14. Waterspinnmaschine für Baumwolle.

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Spinnen (Baumwollspinnerei).

Bildung einer regelmäßigen Watte erzielt wird(Duplieren). Der Abschluß der Reinigung und Auflockerungerfolgt sodann durch das Kratzen oder Krempeln auf derKratzmaschine (Krempel, Karde), deren wesentlichster Teil derAuflockerungsapparat ist, welcher der ausgiebigen Wirkung wegen auszwei Systemen von hakenartigen Zähnchen besteht, die aushartem Draht, knieförmig gebogen, durch Lederstreifen gestecktsind, so daß sie in großer Zahl dicht nebeneinanderstehen und den Kratzenbeschlag (Textfig. 6) bilden. ZurVerdeutlichung des Vorganges dienen die untenstehenden Fig. 7 u. 8,welche Stücke eines Kratzenbeschlags in den zwei verschiedenenStellungen zeigen. Denkt man sich in b b (Textfig. 7) Fasern und aa nach links bewegt, so erfolgt gar keine Wirkung oder einAufrollen des Materials zwischen den Kratzflächen; bewegt sichaber a a nach rechts, so findet ein Vorgang wie beim Kämmen,d. h. ein Kratzen, statt, welches in seiner Wirkung noch vermehrtwird wenn sich zugleich b b nach links bewegt. Geht in Textfig. 8 bb nach links, so spießt es die Wolle von a a auf,während bei der umgekehrten Bewegung, oder wenn a a sich nachlinks begibt, die Fasern in a a hängen bleiben. Bei dieserHäkchenstellung kann man also, je nach der Wahl der relativenBewegungsrichtung, die Fasern beliebig von einem Beschlag in denandern überführen (Abnehmen, Wenden). ZurBethätigung dieser Werkzeuge ist nun ein System stets aufeiner großen cylindrischen Trommel (Tambour) von etwa 1 mDurchmesser angebracht, während das zweite System entweder aufLatten sitzt, welche die Trommel konzentrisch umgeben und dieDeckel (Deckelkarde) bilden, oder auf passend gelagerten kleinernWalzen (Igel) angebracht ist (Walzenkarde). Die Einrichtung derDeckelkratze zeigt Fig. 9. Die von der zweiten Schlagmaschinekommende Watte wird bei a eingelegt, durch die drehende Walze ballmählich wieder abgewickelt und über die Platte c denSpeisewalzen e übergeben, aus welchen sie von der sogen.Vorwalze f herausgezogen und an die große Trommel Tabgeliefert wird. Diese dreht sich nun mit großerGeschwindigkeit (100- bis 160mal in der Minute) und kratzt dasMaterial mit Hilfe der Deckel d d, dasselbe zugleich in einäußerst zartes Vlies verwandelnd, welches vermittelstder mit Kratzenbeschlag garnierten Trommel K von der Trommel Tabgenommen wird (Abnehmer, Kammtrommel). Zur Entfernung des Vliesesaus dieser Trommel K dient ein Kamm k (Hacker), welcher, durch eineschnell umlaufende Kurbel m auf und ab bewegt, das Vlies aushackt.Da letzteres sehr zart ist, so zieht man es bei n seitwärtszusammen und leitet es durch einen Trichter t, in dem es dieGestalt eines Bandes erhält, welches, zwischen den Walzen qnoch zusammengepreßt, durch den Kopf u in den Topf p geleitetwird, in dem es sich in Spiralen ablagert, welche durch einen in uangebrachten Drehapparat gebildet werden. Statt der Deckelkratzenverwendet man ihrer größern Leistung wegen jetzt ebensovielfach die Walzenkarden (Igelkrempel), deren Häkchenstellungneben der Haupttrommel a Fig. 10 zeigt, wo b Arbeiter und c Wenderheißen, und deren Konstruktion aus Fig. 11 hervorgeht. Um diegroße Trommel T liegen die Arbeiter a und dazwischen diekleinern Wendern, welche fortwährend die in a sitzen bleibendeBaumwolle von a auf T übertragen (wenden), um die Wirkung zuerhöhen. Die Wickel werden wie bei der Deckelkarde durch dieWalze z abgewickelt, von dem Zufuhrapparat b c auf die Vorwalze dund von dieser auf die Trommel T gebracht, sodann durch die Walzen1, 2, 3 gleichmäßiger verteilt, zwischen T und agekratzt, um endlich auf die Kammwalze K mit Hacker k und auf dieWickelwalze q zu gelangen, oder durch einen Trichter die Bandformzu gewinnen. Die Drehung der Arbeiter erfolgt durch eine endlose,durch das Gewicht g gespannte Kette s von der Scheibe 7, dieDrehung der Wender w, n sowie der Walzen d, 1, 2 und 3 durch Riemenr, t, u und Riemenscheiben 5 auf der Achse 4 und 12 auf der Achse Bvon der großen Trommelwelle A aus. Von 7 wird zugleich dieBewegung durch Kegelräder 8, 9, 10 auf c und weiter auf zübertragen. In der Regel wird die Baumwolle zweimal gekratzt:auf der Vorkarde und nach Behandlung auf der Lappingmaschine aufder Feinkarde, in welchem Fall mehrere Bänder der Vorkardezusammengewickelt und als Bandwickel auf die Feinkarde gebrachtwerden. Um im Band eine vollständig gleiche, gestreckte,parallele Lage und gleiche Verteilung der Fasern zu bekommen,passieren sie eine Reihe von Walzen in der Weise, daß immerso viel Bänder vereinigt werden (Duplieren), als jedes Bandverlängert (gestreckt) wird. Dazu dient ein Streckwerk(Laminirstuhl, Strecke), dessen Einrichtung (Fig. 12) folgende ist.In einem passenden Bock liegen vier Walzenpaare 1, 2, 3, 4, die dieBänder A dadurch verlängern, daß sie der Reihe nachvon 4 nach 1 größere Umdrehgeschwindigkeiten, z. B. aufdas Sechsfache gesteigert, erhalten. Die Oberwalzen sind mit Lederüberzogen und durch Gewichte q q auf die geriffeltenUnterwalzen gepreßt. Die (z. B. 6) gestreckten undvereinigten Bänder laufen als ein Band A durch eine Platte h,Walzen c und den drehenden Kopf T in die Kanne D D, welche sichdurch eine Schnecke s mit Schneckenrad r um die Achse dreht, um demBande die Spirallage zu geben (Drehkanne). Wegen derGleichmäßigkeit des Bandes muß die Strecke sofortstillstehen, wenn ein Band reißt. Dazu dienen der Hebel z y xund die Platte h (Bandwächter), die

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Spinnen (Baumwollspinnerei).

von dem Band gehalten werden und sofort mit x oder p gegen dieZähne des Rades a fallen, wenn das Band bei b oder hreißt. Durch die Arretierung von a wird dann sofort dieStrecke abgestellt. In dem gestreckten und duplierten Band sind dieFasern so verteilt und gelagert, daß dasselbe durch weitereStreckung und Drehung in Garn überführt werden kann. Dergroßen Lockerheit halber muß diese Operation aber ingewissen Abstufungen so erfolgen, daß die Zusammendrehungzunächst dem Band nur eine Festigkeit erteilt, welche dasWeiterstrecken nicht hindert; dadurch entsteht das Vorgarn(Vorgespinst). Zur Erzeugung desselben dient der Flyer oder dieSpindelbank, welche die früher üblichen Vorspinnmaschinen(Röhrchen-, Eklipsmaschine, Jackmaschine etc.) fastvollständig verdrängt hat. Der Flyer, welcher in mehrerenGrößenabstufungen (Grob-, Mittel-, Fein-, Feinfein- undDoppelfeinflyer) nacheinander in Verwendung kommt, erhältzuerst das Band aus den Kannen der Streckmaschinen, wickelt aberdas Vorgarn auf Spulen, so daß vom Grobflyer abwärts dasGarn auf Spulen gewickelt in die Maschine gelangt. Das Wesen einesFlyers zeigt Fig. 13 der Tafel. Von den Spulen a a läuft dasVorgarn in das Streckwerk b, von hier zu den Spindeln c c, mit denFlügeln d, welche durch die am Fuß angebrachtenKegelräder k in Umdrehung versetzt werden und dadurch dem GarnDraht geben. Indem das Garn zugleich durch den hohlenFlügelarm d und den Finger f auf die Spule e geleitet undletztere um die Spindel vermittelst schiefer Kegelräder igedreht wird, wickelt es sich auf die Spule, welche aus einemhölzernen Rohr besteht und behufs regelmäßigerBewickelung mit der sogen. Spulenbank (Wagen) g innerhalb derFlügel auf und ab steigt, bis sie gefüllt ist, um nachAbheben des Flügels von der Spindel abgezogen u. dernächstfolgenden Maschine übergeben zu werden. Ein sehrsinnreicher, aber komplizierter Mechanismus mitDifferenzialräderwerk (Differenzialflyer) regelt dieAufwickelbewegung, welche sich nach jeder Garnschicht ändernmuß. - Nachdem das Vorgarn den letzten (Fein-) Flyer etwa inder Dicke eines gewöhnlichen Bindfadens verlassen hat,empfängt dasselbe die endgültige Streckung und Drehungzur Verwandlung in Garn auf den Feinspinnmaschinen, die entwedernach dem Prinzip des Spinnrades oder des Handrades (s. S. 148)konstruiert sind und danach Watermaschinen oder Mule heißen.Die Watermaschine (Fig. 14) wird immer doppelt gebaut, d. h. es istan derselben ein Träger (Aufsteckrahmen) für zwei Reihenmit Vorgarn gefüllter Spulen a a, zwei Reihen Streckwerke b bund Spindeln mit Flügeln und Spulen vorhanden. Das Garn gehtvon a nach b, sodann gestreckt durch ein Führungsauge n nachdem Flügel c und von diesem gedreht auf die Spule zwischen demFlügel zum Aufwickeln. Die 120 Spindeln n o werden von den mitden Wellen g g sich drehenden Trommeln x x vermittelst Schnüres und Wirtel t 3600-4500mal in der Minute gedreht, während dieSpulenbank t mit den Stangen f f auf und nieder geht. Zu dem Zweckwerden die letztern in den Büchsen z und y geführt undvon den Schienen m m getragen, welche an Ketten k k hängen,die über die Rollen r r laufen und an den Winkeln e ebefestigt sind, welche sich mit Rollen gegen eine Herzscheibe dlegen, die eine solche Form hat, daß sie bei ihrergleichmäßigen Drehung die Hebel und dadurch die Stangenf f abwechselnd auf und ab bewegt. Die Aufwickelung des Garnserfolgt durch ein Zurückbleiben der Spulen infolge einerstarken Reibung auf der Bank t. Sämtliche Bewegungen gehen voneiner der Wellen g aus, die direkt angetrieben wird, durchZahnräder die Bewegung dem Streckwerk und durch das Zahnrad 2,Schnecke 3, Schneckenrad 4, Welle h und Schneckengetriebe 5 u. 6der Herzscheibe d mitteilt. Während bei der WatermaschineStreckung, Drehung und Aufwickelung gleichzeitig und ununterbrochenvor sich gehen, sind bei der Mulemaschine diese Operationengetrennt. Sie besteht nämlich (Fig. 15 der Tafel) aus einemfesten Gestell A mit Aufsteckrahmen für die mit Vorgarngefüllten Spulen a a sowie Streckwerk b und einem Wagen B mitden Spindeln c, mit denen das Garn h verbunden ist. In der erstenPeriode fährt der Wagen etwa 2 m vom Gestell weg aus,während sich sowohl die Streckwalzen b als die Spindeln cdrehen, um das Garn zu spinnen. In der nun folgenden zweitenPeriode fährt der Wagen dem Gestell zu ein, während dasStreckwerk stillsteht, um das gesponnene Garn aufzuwickeln, zuwelchem Zweck ein Draht gesenkt wird, der in Bügeln güber sämtlichen Fäden der Maschine liegt und deshalbauch durch Bewegung der Bügel g sämtliche (600-700)Fäden in die zum Aufwickeln erforderliche Lage zu den Spindelnbringt (Aufwindedraht). Bei den ersten Mulemaschinen führteein Arbeiter sämtliche beim Einfahren stattfindende Bewegungenaus, weshalb die Zahl der gleichzeitig gesponnenen Fäden 300nicht überschritt. Die jetzigen Mulemaschinen arbeitendahingegen mit wenig Ausnahmen selbstthätig (Selbstspinner,Selfactor), indem nicht nur die Bewegungen, sondern namentlich dieso wichtige und äußerst schwierige Regulierung von einerStelle aus erfolgt; daher ist es möglich, sie mit 800-1100Spindeln auszustatten. Einen Überblick über denhöchst komplizierten Mechanismus eines Selfaktors gewährtFig. 16 der Tafel. Die Transmissionsriemenscheibe I sitzt fest aufder Welle A und dreht einerseits durch Kegelräder die Streckenb, anderseits die große Schnurrolle R. Von b aus setzt sichdie Drehung fort durch die Räder 1, 2, 3, 4 auf die Scheibe M,welche vermittelst der am Wagen B befestigten, durch M1 gespanntenWagenschnur W den Wagen ausfährt. Gleichzeitig dreht die um Rund R1 gelegte, um Führungsrollen h und die Trommel f laufendeSchnur s s die Trommel f und somit durch Schnüre e e dieSpindeln c. Das Einfahren des Wagens erfolgt von der um A drehbarenRiemenscheibe I I aus durch Stirn- und Kegelräder i k, Welle lund Schnecke m vermittelst der zweiten um m1 gespannten Wagenschnurw1, die sich auf die Schnecke aufwickelt, um abwechselnd dieGeschwindigkeit zu vergrößern und zu verkleinern, weilder Wagen anfangs beschleunigt und dann verzögert wird. ZurBildung des Garnkörpers (Kötzer) senkt sich der Aufwinderg, während ein zweiter, unten hinlaufender Draht g1(Gegenwinder) die Fäden gespannt hält, damit sie keineKnoten bekommen. Der Winder g wird dadurch bewegt, daß dieStange o mit einer Nase unter die Zahnstange z schnappt und sichdadurch hebt und senkt, daß ihre Rolle p auf einer an- undabsteigenden Schiene q q q (Formplatte) rollt; züberträgt diese Vertikalbewegung durch ein Zahnrad aufeine Welle, an welcher die Arme g befestigt sind. Beim Ausfahrenschnappt o wieder aus, wobei ein Gewicht in Wirkung tritt, das mitder Kette r g hebt und z senkt. Zur Bewegung der Spindeln c zumZweck der Kötzerbildung dient der sogen. Quadrant Q, welcherdurch ein mit M1 verbundenes Zahnrad, das in den Zahnquadranten y1eingreift, hin und her bewegt wird

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Spinnen (Flachsspinnerei etc.).

und diese Bewegung vermittelst der Kette t undZwischenräder auf die Trommel f überträgt. Durch dieQuadrantenschraube u u wird diese Aufwindebewegung aufs genauestegeregelt, da durch sie der Angriffspunkt y der Kette beliebigeingestellt werden kann. Neben den Water- und Mulemaschinen kommtimmer mehr die Ringspindelbank in Aufnahme, deren Wesen Fig. 17erkennen läßt. Der Faden gelangt zu der Spule S voneiner Führungsöse a und einer kleinen Klammer b (Fliege),welche den Kopf des Ringes r r umfaßt. Indem nun die Spindelmit der Spule S durch den Wirtel w in Drehung versetzt wird,erhält der Faden zwischen a und b Draht, während dieFliege b zugleich auf dem Ring r r hinläuft und dadurch dasAufwickeln des Fadens bewirkt. Die Verteilung des Fadens überdie ganze Spule erfolgt durch Auf- und Abbewegung der Ringbank Rwie bei der Watermaschine.

B. Flachspinnerei. Das Verspinnen des Flachses (s. d.) beginntdamit, daß man Bündel des je nach der Feinheit des Garnsweniger oder mehr (bis fünfmal) gehechelten Flachses, sogen.Risten, zu einem Band vereinigt, wozu die in Fig. 18 skizzierteAnlegemaschine dient. Dieselbe besteht der Hauptsache nach aus zweiWalzenpaaren bei C und A mit einem dazwischenliegendenHechelapparat E (Nadelstabstrecke). Das Einziehwalzenpaar C, dessenOberwalze o durch ein Gewicht q mit 150 kg auf die untere Walzegepreßt wird, empfängt die auf einem Zuführtuchregelmäßig ausgebreiteten Risten über die Platte b,um sie den bei E sichtbaren, in der Pfeilrichtung bewegtenHechelstäben zu übergeben, welche sie demStreckwalzenpaar A zutragen, dessen Oberwalze o mit 550 kg durchdas Gewicht q belastet ist. Da die Streckwalzen A sich schnellerdrehen als C, so wird der Flachs nicht nur gestreckt, sondern auchfortgesetzt gehechelt und zu einem Band vereinigt, das überdie sogen. Bandplatte B durch das Abzugswalzenpaar F in eine Kannegeleitet wird. Zu bemerken ist noch, daß die Schaber n und mdie Oberwalzen, eine rauhe Walze mit rotierender Bürste dieuntere Streckwalze von Fasern frei halten, daß ein Gewicht pdie untere Abzugswalze nachgiebig in der Schwebe hält, unddaß die Hechelstäbe ihre obere Vorwärts- und untereRückwärtsbewegung durch Schrauben erhalten(Schraubenstrecke). Auf ganz ähnlichen Maschinen (Durchzug,Flachsstreckmaschinen) mit immer feiner werdenden Hecheln erfolgtdann ein weiteres Strecken und Duplieren der Bänder undhierauf die Verwandlung in Vorgarn auf einer Vorspinnmaschine,welche sich von dem Flyer (s. oben) nur durch das Streckwerkunterscheidet, welches genau so eingerichtet ist wie bei derAnlegemaschine. Zum Feinspinnen dienen ausschließlichWatermaschinen, welche oft die Einrichtung haben, welche Fig. 19zeigt. Bei a werden die Spulen mit Vorgarn aufgesteckt; b und dsind die Streckwalzen mit Zwischenwalzen c c zum Leiten des Garnes;die Flügelspindeln werden von der Schnurtrommel e durch dieSchnüre f und Wirtel g gedreht, die Spulen h stecken lose aufden Spindeln und erhalten die zum Aufwickeln erforderliche Bremsungdurch eine mit dem Gewicht i belastete Schnur, welche in einer umden untern Spulenrand laufenden Nute liegt. Das Heben und Senkender Spulen erfolgt wie bei der oben beschriebenen Watermaschine. Umden Flachsfasern im Augenblick des Zusammengehens dieeigentümliche Sturheit zu benehmen und dadurch ein sehrglattes, schönes Garn spinnen zu können, führt manjetzt ganz allgemein das Garn vor der Drehung durch einen Trog mitetwa 80° warmem Wasser (Naßspinnen), der vor den Spindelnliegt. Solche Garne müssen gehaspelt und dann noch getrocknetwerden.

C. Hanfspinnerei stimmt ganz mit der Flachsspinnereiüberein.

D. Hede- (Werg-) Spinnerei unterscheidet sich von derFlachsspinnerei nur durch die Bildung des ersten Bandes, welchenach Art der Baumwollspinnerei auf einer groben Walzenkardevorgenommen wird.

E. Jutespinnerei erfolgt nach zwei verschiedenen Methoden. Nachder einen werden die 2-3 m langen Risten in kürzere, 760 mmlange Teile zerschnitten und dann genau wie Flachs verarbeitet, d.h. gehechelt, auf der Anlege in ein Band verwandelt, gestreckt,dupliert, in Vorgarn übergeführt und auf Watermaschinentrocken versponnen. Diese in England vorwiegend für feinereGarne gebrauchte Methode liefert das sogen. gehechelte oderJute-Linen-Garn und verarbeitet nur ausgesuchte Fasern. Die zweiteMethode, welche in Deutschland und Österreich allgemeineingeführt ist, liefert das sogen. kardierte oder Towgarn,weil die Fasern auf Karden bearbeitet und in Hede (Tow) verwandeltwerden. In beiden Fällen geht dem Verspinnen eineVorbereitungsarbeit voran, welche ein Geschmeidigmachen der Fasernbezweckt und darin besteht, daß man die aufgestapelten Ristenmit Wasser und Thran besprengt, um sie einzuweichen(Einweichprozeß), und dann in einer Maschine quetscht, in der20-40 Paar grob geriffelte Walzen auf einem horizontalen odercylindrischen Gestell nebeneinander liegen und infolge einerdrehenden Bewegung die Juteristen durchziehen, welche dabei derartgeknetet werden, daß sie diese Quetschmaschine weich undgeschmeidig verlassen. Nur die Wurzelenden bleiben mitunter hartund müssen abgerissen werden, was auf der Schnippmaschinegeschieht, welche mit einer Hechelmaschine Ähnlichkeit hat.Nach dem Quetschen gelangen die bandartig zusammenhängendenFasern auf eine Walzenkratze (Fig. 11) mit grobem Beschlag, um inkurze Faser zertrennt zu werden, welche sich zu einem Bandvereinigen und in eine Kanne einlegen. Nach zweimaligem Kratzenfolgt das Duplieren und Strecken auf 3-5 Nadelstabstrecken (Fig.18), darauf die Bildung des Vorgarns auf Flyern und das Feinspinnenauf Watermaschinen (trocken), wie beim Flachsspinnen angegebenist.

F. Wollspinnerei umfaßt die Herstellung von Streichgarn,Kammgarn und Halbkammgarn aus Wolle von verschiedenerBeschaffenheit (s. Wolle), welche zunächst gewaschen,gespült und getrocknet wird. Die Streichwolle erfährtsodann eine gründliche Auflockerung im Wolf, der als Schlag-und Reißwolf angewendet wird. Ersterer hat in der Regel diein Fig. 20 skizzierte Einrichtung. Auf zwei Wellen a a befindensich sechs Reihen von je sechs Stäben, welche mit den Wellenin der Pfeilrichtung sich mit 500-600 Umdrehungen in der Minutedrehen, die durch das Tuch c zugeführte Wolle von demWalzenpaar d e empfangen, durcheinander schlagen und aus hherauswerfen, während die Schmutzteile durch die Roste g f undf e fliegen. Der Reißwolf (Fig. 21) besteht der Hauptsachenach aus einer großen sich drehenden Trommel a, derenOberfläche mit 5 cm langen radialen Zähnen besetzt ist,welche die auf das Zufuhrtuch z gelegte Wolle aus dem durchVerteilungswalze u, Speisewalze m und Klaviatur o gebildetenSpeiseapparat herausreißen, zerteilen und bei q aus demGehäuse werfen, während der Schmutz durch den Rost p inden Raum k fällt. Nach dem Wolfen oder

152

Spinnen (Woll-, Seidenspinnerei; Geschichtliches).

während desselben wird die Streichwolle mit Olivenöloder Petroleumrückständen gefettet, damit sie geschmeidigwird (Schmälzen). In diesem Zustand gelangt sie zum Krempeln,Kardätschen oder Streichen auf die Kratzmaschine (Krempel), umeinen Pelz (Vlies, Fell) zu bilden, in dem die Fasernregelmäßig angeordnet sind, und durch dessen Teilungeinzelne Bänder entstehen, die ohne weiteres Vorgarn liefern.Zum Krempeln dienen ausschließlich Walzenkratzen, 2-4malhintereinander, welche mit einer Vorrichtung verbunden sind, diedas vom Hacker abgenommene Vlies in Bänder teilen.Gewöhnlich besteht ein solcher Florteiler nach Fig. 22 auseiner Anzahl (z. B. 120) Riemchen ohne Ende, welche abwechselnd umdie Walzen a und b sowie oqt und rpm laufen, das durch den Hacker Kvon der Kammwalze T genommene Vlies c in 120 Bänder zerlegenund diese durch A und B sowie Führer l auf Spulen leiten,welche in vier Reihen C, D, E, F angeordnet sind. Die Apparate Aund B bestehen aus zwei kurzen Riemen ohne Ende, welche sich nichtnur in der Richtung des Pfeils zum Transport der Bänderdrehen, sondern auch in der Richtung der Walzenachsen sehr schnellhin und her bewegen und dadurch die Bänder kräftig rollen(Würgeln, Nitscheln) und auf diese Weise sofort in Vorgarnüberführen, das ohne weiteres auf Mulemaschinen oder aufder Ringbank zu Feingarn versponnen wird.

Die Kammwolle wird nach dem Entschweißen zuerst einemProzeß unterworfen, der die parallele Lage der Wollhaare, dieAusscheidung kurzer Haare (Kämmlinge), die Bildung einesBandes (Kammzug) bezweckt und Kämmen genannt wird. Man benutztdazu entweder ein Paar heiß gemachter Handkämme(Wollkämme, Fig. 23), indem man eine Portion weniggeölter Wolle in einen der Kämme einschlägt, mit demzweiten kämmt und dann mit der Hand auszieht, dieselbezugleich in ein kurzes Band verwandelnd, das mit andern vereinigtwird, oder die Kammmaschine, welche die Handarbeit in vollkommenerWeise nachmacht, aber sehr kompliziert ist. Das aus einzelnenkurzen Zügen gebildete Band erhält eine weitereGleichförmigkeit durch Strecken und Duplieren auf sogen.Igelstrecken, welche (Fig. 24) aus zwei Paar Streckwalzen A und Bbesteht, zwischen welchen eine mit Stacheln besetzte Walze Eangebracht ist. Die Kammzüge treten aus Kannen D über dieSchiene a in die Strecke, werden von E zurückgehalten, um dieFasern glatt zu streichen, im Trichter t vereinigt und durch dasVorziehwalzenpaar C in die untergestellte Kanne D' geliefert. ZurEntkräuselung und Entölung passieren sie dann in einerPlättmaschine eine Seifenlösung und eine Reiheheißer Walzen. Das Verspinnen der Streckbänder zu Garnerfolgt stufenweise, indem erst Vorgarn auf dem Flyer oder einerStrecke mit Würgelzeug (Fig. 13), darauf das Feingarn aufWater- oder Mulemaschinen, neuerdings auch auf der Ringspindelbankhergestellt wird. Die Halbkammgarnspinnerei, welchehauptsächlich die Kämmlinge verarbeitet, benutzt zumAnordnen der Fasern die Krempel und die Igelstrecken, zumVorspinnen die Strecke mit Würgelzeug und zum Feinspinnen dieWatermaschine.

G. Seidenspinnerei beschränkt sich auf die Verarbeitung vonSeidenabfall und heißt demgemäß auchFlorettspinnerei. Sie beginnt damit, daß man die Abfälle(Strusi, Bourrette, Flockseide etc.) einem Macerationsprozeßzur Zerstörung des Seidenleims unterwirft, wozu ein Verweilenin warmem (60-70°) Wasser während 3-7 Tagen ausreicht,dann folgt ein Waschen mit warmem Wasser in einem Stampfwerk, einAusschleudern in einer Zentrifuge und ein Trocknen in luftigen,warmen Räumen. Zur weitern Verarbeitung feuchtet man die Massemit Seifenwasser schwach an und öffnet sie in einer ArtReißwolf. Von hier gelangen sie auf eine Kämmaschine zurAbscheidung kurzer und zur Parallellegung der langen Fasern. Dieletztern werden auf einer Anlege (Fig. 18) gemischt und in Vlieseverwandelt, welche vermittelst einer sogen. Wattenmaschine (einerArt Nadelstabstrecke) zu Bändern verzogen werden, die nunmehrauf Nadelstabstrecken eine weitere Streckung und Duplierungerhalten, um sodann auf einer Spindelbank mit Nadelstäben inVorgarn überzugehen, das auf Waterspinnmaschinen zuFlorettgarn fertig gesponnen wird. Der größte Teil derFlorettgarne kommt übrigens gezwirnt in den Handel.

Geschichtliches.

Das S. gehört zu den ältestenHandbeschäftigungen, wie neben erhaltenen Resten von Gewebenaus gesponnenem Garn aus den Nachrichten der ältestenSchriftsteller hervorgeht. Insbesondere nehmen Wollengewebe undsomit -Gespinste schon im Altertum einen hohen und unter allenGespinsten den ersten Rang an, denn unmittelbar auf die Bekleidungmit Tierfellen folgt jene mit Geweben aus Wollgarn. Zum S. bedienteman sich derjenigen einfachen Geräte, die noch heutzutage beivielen Völkern angetroffen werden, nämlich des Wockensoder Rockens und der Spindel in der oben beschriebenen Art, wiebesonders aus alten Vasenbildern (Textfig. 25) undWandgemälden zu entnehmen ist. Als Erfinderin der Wollarbeitgalt Athene und als Ort der Erfindung Athen. Auch die Zubereitungdes Flachses war im Altertum bekannt. 1530 erfand Joh. Jürgenin Watenbüttel bei Braunschweig das Trittrad, welches langsamVerbreitung fand. Im vorigen Jahrhundert tauchten die erstenBemühungen auf, den Spinnprozeß mittels Maschinen zuvollziehen. Die wichtigste Erfindung, die der Streckwalzen, wurde1738 Lewis Paul in England patentiert, der sie mitFlügelspindeln des Spinnrades in Verbindung brachte und so dieerste Spinnmaschine 1741, die zweite mit 250 Spindeln 1743 durchEsel in Bewegung setzte. Diese Maschine wurde von Arkwright invielen Teilen verbessert, sodann durch noch andreVorbereitungsmaschinen, Kratzmaschine mit Bandabgabe,Streckmaschine mit Duplierung und eine Vorspinnmaschine,

152a

Spinnentiere.

Ufer-Spindelassel

(Pycnogonum littorale). 3/i

(Art. Ufer-Spindelassel.)

Bekränzte Webspinne (Theridium redimitum), nat. Gr a Eier,b Augenstellung. (Art. Spinnentiere.)

Violettroter Holzbock

(Ixodes reduvius). 5/i.

(Art. Zecken.)

Krätzmilbe des Menschen

(Sarcoptes scabiei). 80/i.

(Art. Milben.)

Bücherskorpion (Chelifer cancroides), starkvergrößert.

(Art. Bücherskorpion.)

Feldskorpion (Scorpio occitanus) uch mit den Kämmen u.Luft

Nat. Gr. (Art. Skorpione.)

Haarbalgmilbe

(Demodex folliculorum)

600/i. (Art. Milben.)

Männchen der Apulischen Tarantel-

(Tarantula Apuliae). Nat. Gr. (Art. Tarantel.)

Männchen der Gestreckten Strickerspinne (Tetragnathaextensa), nat. Gr. a Augenstellung.

(Art. Spinnentiere.)

Käsemilbe (Tyroglyphus siro). 80/i.

(Art. Milben.)

^A«,Jema), nat. Gr. b Augenstellung, inkeKieferfühler der Kreuzspinne T. (Art. Kreuzspinne.)

a Weibliche Kreuzspinne

c Fußspitze der Hausspinne

Weibchen der Hausspinne (Tegenaria domestica), nat. Gr. aAugenstellung.

(Art. Spinnentiere.)

Gemeine Wasserspinne (Argyroneta aquatica), etwasvergrößert, a Nest, b Augenstellung. (Art.Spinnentiere.)

Weibchen der Umherschweifenden Krabbenspinne (Thomisusviaticus), im Hintergrund Fäden schießend. B/2. (Art.Spinnentiere.)

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl.

Bibliographisches Institut in Leipzig.

Zum Artikel »Spinnentiere«..

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Spinnendistel - Spinnentiere.

ergänzt und 1775 durch Wasserkraft betrieben, woher ihreBezeichnung Watermaschine rührt. Um dieselbe Zeit erfandHargreaves in Standhill die nach seiner Tochter genannteJennymaschine, die statt der Streckwalzen die sogen. Presse (zweizusammengepreßte horizontale Latten) besaß, welche dasBand festhielt, während die nach Art des Handradeskonstruierten Spindeln vertikal auf einem bewegten Wagen standen,das Ausziehen und Drehen besorgten und beimRückwärtsfahren das gedrehte Produkt aufwickelten. Im J.1779 endlich vereinigte Crompton in Firnwood das Streckwerk derWatermaschine mit dem Spinnwerk der Jennymaschine zu jenerMaschine, welche unter dem Namen Mule (Maulesel, als Bastardzwischen der Water- und Jennymaschine), später, namentlich vonRoberts zu Manchester 1825, als Selfaktor ausgebildet, als diegrößte Erfindung auf dem Gebiet der Spinnerei zu geltenhat, da sie das S. der feinsten Garne gestattet, wozu dieWatermaschine ungeeignet ist. Um das Jahr 1830 erfand Jenks inAmerika die sogen. Ringspindel, welche die Grundlage der immer mehrin Aufnahme kommenden Ringspindelbank bildet. Erst nachdem diemechanische Baumwollspinnerei zu hoher Entwickelung gekommen war,vollzog sich ein ähnlicher Prozeß auf den Gebieten derFlachs- und Wollspinnerei, wenn auch viel langsamer, weil dieBeschaffenheit dieser Materialien bezüglich der mechanischenVerarbeitung bedeutend größere Schwierigkeiten bietet,die zum Teil noch jetzt nicht überwunden sind. Die wichtigsteErfindung machte hier Girard in Paris durch Lösung der vonNapoleon I. 1810 gestellten Ausgabe, "den Flachs auf Maschinen zuspinnen", indem er noch in demselben Jahr ein Patent auf eineFlachsfeinspinnmaschine erhielt, welche in der Anwendung vonHechelkämmen zum Ausziehen als auch in der Benutzung vonWasser (Naßspinnen) die Lösung des Problems darbot undin der Grundlage unverändert geblieben ist. In derKammwollspinnerei war die Erfindung der Kämmmaschineepochemachend, welche nach unzähligen, zum Teilbeachtenswerten Versuchen erst 1829 von Opelt zu Hartau und Wieckzu Schlema brauchbare Gestalt annahm, bis einerseits Lister undDonisthorpe (1850), anderseits Heilmann und Schlumberger zuMühlhausen (1851) die schwierige Aufgabe desMaschinenkämmens auf zwei verschiedenen Wegen glänzendlösten. Vgl. B. Nieß, Baumwollspinnerei (2. Aufl., Weim.1885); Leigh, Science of modern cotton spinning (3. Aufl., Lond.1875, 2 Bde.); Grothe, Technologie der Gespinstfasern, Bd. 1 (Berl.1877); Lohren, Kämmmaschinen (Stuttg. 1875); Kronauer, Atlasder Spinnerei und Weberei (2. Aufl., Hannov. 1878); Marshall, Derpraktische Flachsspinner (deutsch, Weim. 1888); Pfuhl, Die Jute undihre Verarbeitung (Berl. 1888); Hoyer, Spinnerei und Weberei (2.Aufl., Wiesb. 1888).

Spinnendistel, s. Cnicus.

Spinnentiere (Arachniden, Arachnida, hierzu Tafel"Spinnentiere"), Klasse der Gliederfüßler (Arthropoden),meist kleine Tiere von sehr mannigfacher Gestalt. Kopf und Brustsind bei ihnen gewöhnlich zu Einem Stück, dem sogen.Cephalothorax, verschmolzen. Die vordern, als Kiefer verwendetenGliedmaßen des Kopfes, die Kieferfühler, entsprechenvielleicht den Fühlern der Insekten, dienen aber nicht alssolche, sondern als Kiefer und enden oft mit einer Schere(Skorpione) oder Klaue (Spinnen); auch das zweiteGliedmaßenpaar, die Kiefertaster, hat im allgemeinenähnlichen Bau und ähnliche Verwendung. Es folgen dannvier Paar Beine, von denen nur selten das erste als Taster undKiefer zugleich fungiert, gewöhnlich jedoch gleich denübrigen zum Laufen dient. Diese Beine bestehen aus sechs odersieben Gliedern. Der Hinterleib ist äußerst verschiedenund hat seine Zusammensetzung aus Ringen (Segmenten) nur noch beiden Skorpionen und ihren nächsten Verwandten bewahrt, ist beiden Spinnen einfach rundlich und durch einen dünnen Stiel mitdem Cephalothorax verbunden, bei den Milben sogar mit diesemverschmolzen. Er trägt keine Beine. Auch der innere Bau istbei den einzelnen Ordnungen der S. sehr verschieden. DasNervensystem ist meist in Gehirn und Bauchmark geschieden,letzteres auch wohl in eine Reihe Nervenknoten (Ganglien) getrennt,gewöhnlich jedoch zu einer einzigen Nervenmasse verschmolzen.Die Augen sind unbeweglich und stehen, 2-12 an der Zahl, auf derOberseite des Cephalothorax; Gehörorgane sind nicht mitSicherheit bekannt; zum Tasten dienen die Kiefertaster und dieEnden der Beine. Der Darmkanal läuft meist geradlinig vom Mundzum After und zerfällt in eine engere Speiseröhre undeinen weitern, meist mit seitlichen Blindsäcken versehenenDarm; häufig läßt sich an letzterm der Anfang alsMagen unterscheiden. Speicheldrüsen, Leber und Harnorgane inverschiedener Form sind fast immer vorhanden. Kreislaufsorganefehlen nur bei den niedersten Milben, bei den übrigen liegtdas Herz gewöhnlich als mehrkammerigesRückengefäß im Hinterleib; es besitzt seitlicheSpaltöffnungen zum Eintritt des Bluts und häufigArterienstämme am vordern und hintern Ende. BesondereAtmungsorgane fehlen gleichfalls bei manchen Milben völlig undsind im übrigen Tracheen (s. d.), in welche die Luft durchLuftlöcher (Stigmen) eintritt. Mit Ausnahme der Tardigraden(s. unten) sind die S. getrennten Geschlechts. Die Männchen,oft durch äußere Merkmale unterschieden, besitzenpaarige Hodenschläuche, aber in der Regel keine eignenBegattungsorgane, so daß mitunter so entfernt gelegeneGliedmaßen wie die Kiefertaster der Spinnen dieÜbertragung des Samens auf das Weibchen übernehmen.Letzteres hat einen unpaaren oder paarige Eierstöcke, derenEileiter meist gemeinschaftlich am Anfang des Hinterleibsausmünden. Die meisten S. legen Eier, die sie zuweilen inSäcken bis zum Ausschlüpfen der Jungen mit sichherumtragen. Letztere haben meist schon die Form der ausgewachsenenTiere; wenige durchlaufen eine wahre Metamorphose. Die Lebensdauerder S. ist nicht wie die der Insekten eine beschränkte; siehäuten sich auch noch nach Eintritt der Zeugungsfähigkeitin bestimmten Zeiträumen und sind zu wiederholten Malenfortpflanzungsfähig. Sie besitzen ein zähes Leben, sodaß manche monatelang ohne Nahrung existieren können,und eine bedeutende Reproduktionskraft, welche sich z. B. imWiederersatz verlorner Beine äußert. Sie nährensich meist vom Raub andrer Gliedertiere, besonders der Insekten,die sie meist nur aussaugen; unter den niedrigsten Formen lebeneinige parasitisch an Wirbeltieren; wenige nähren sich vonpflanzlichen Säften. Fast sämtlich sind sie Landtiere,welche sich vielfach am Tag verborgen halten und nur nachts aufRaub ausgehen. Sie sind über den ganzen Erdkreis verbreitet,doch finden sich in den heißern Zonen die meisten undgrößten Arten. Die nicht besonders zahlreichen fossilenArten gehen bis in das Steinkohlengebirge zurück (z. B. dieSkorpiongattung Cyclophthalmus, s. Tafel "SteinkohlenformationI").

Man teilt die S. in sechs oder mehr Ordnungen ein (diefrüher hierher gestellten Krebsspinnen, Pan-

154

Spinnentiere.

topoda oder Pycnogonidae, sind als selbständige Gruppenicht mit eingerechnet), nämlich: 1) Gliederspinnen(Arthrogastra), welche durch ihren gegliederten Hinterleib und auchden innern Bau noch am meisten der ursprünglichen Form der S.zu entsprechen scheinen, während alle übrigen S. mehroder weniger abgeändert sind. Zu ihnen gehören unterandern die Skorpione (s. Gliederspinnen). 2) Echte Spinnen oderSpinnen im engern Sinn (s. unten). 3) Milben (Acarina), schon starkrückgebildete Formen, die aber noch deutlich ihreZugehörigkeit zu den Spinnentieren verraten. 4) Tardigraden.5) Zungenwürmer, beides, namentlich aber die letztern,Ordnungen von eigentümlichstem Bau.

Die Tardigraden (Tardigrada) sind kleine, sich langsam bewegendeTiere mit wurmartigem Körper, der nicht in Cephalothorax undAbdomen geschieden ist, mit saugenden und stechenden Mundteilen undvier Paar kurzen, stummelförmigen Beinen. Herz und Tracheenfehlen ganz. Sie sind Zwitter und legen die Eier während derHäutung in die abgeworfene Haut ab; sie leben zwischen Moosund Algen, auf Ziegeln in Dachrinnen, zum Teil auch im Wasser,nähren sich von kleinen Tieren und können nach langemEintrocknen durch Befeuchten wieder ins Leben gerufen werden.Hierher gehören nur wenige Arten, unter andern dasBärtierchen (Arctiscon tardigradum).

Die Zungenwürmer oder Pentastomiden (Linguatulidae),früher allgemein zu den Eingeweidewürmern gerechnet, sinddurch Parasitismus außerordentlich rückgebildete,milbenartige S. mit wurmförmigem, geringeltem Körper,verkümmerten Mundwerkzeugen und Beinen, an deren Stellen zweiPaar Klammerhaken getreten sind, ohne Augen und ohne besondereAtmungs- und Kreislaufsorgane, mit einfachem Darm. BeideGeschlechter (das Weibchen ist bedeutend größer als dasMännchen) hausen im erwachsenen Zustand in den Luftwegen vonWarmblütern und Reptilien. Das hierher gehörigePentastomum taenioides Rud. (Textfig. 1), dessen Männchen 8 cmund dessen Weibchen nur 2 cm lang wird, lebt in den Nasen-, Stirn-und Kieferhöhlen des Hundes und Wolfs; seine Embryonengelangen mit dem Nasenschleim auf Pflanzen und von da in den Magender Kaninchen, Hasen, Ziegen, Schafe, seltener Rinder und Katzen,auch wohl des Menschen; sie schlüpfen aus, durchbohren dieDarmwandungen, gehen in die Leber, kapseln sich hier ein unddurchlaufen nach Art der Insektenlarven eine Reihe vonVerwandlungen, durchbohren später die Kapsel und gelangen indie Leibeshöhle ihrer Wirte, kapseln sich aber, wenn siedaraus nicht bald befreit werden, wieder ein und sterben ab (siesollen indes auch durch Lunge und Luftröhre auswandern).Gelangen sie mit dem Fleisch ihres Wirtes in die Rachenhöhledes Hundes, so dringen sie in die benachbarten Lufträume undwerden in 4-5 Monaten geschlechtsreif. Mit zahlreichen Pentastomenbehaftete Hunde zeigen oft starke Anfälle von Tob- undBeißsucht, die leicht mit Tollwut verwechselt werdenkönnen. Der junge Zungenwurm, früher als eigne Art (P.denticulatum, Textfig. 2) beschrieben, kann in Lunge und Leberseines Wirtes furchtbare Verheerungen anrichten, auch beizahlreichem Auftreten den Tod veranlassen.

Die Spinnen oder Webspinnen (Araneina) haben einenungegliederten, gestielten und stark hervortretenden Hinterleib.Ihre großen Kieferfühler enden mit einer wie die Klingeeines Taschenmessers einschlagbaren Klaue, an deren Spitze derAusführungsgang einer Giftdrüse mündet, deren Saftin die durch die Klaue geschlagene Wunde fließt und kleinereTiere fast augenblicklich tötet. Die Unterkiefer tragen einenmehrgliederigen Taster, beim Weibchen von der Form einesverkürzten Beins, beim Männchen mit aufgetriebenem, alsBegattungsorgan dienendem Endglied. Die vier meist langen,übrigens bei den einzelnen Gattungen sehr verschieden gebautenBeinpaare enden mit zwei kammartig gezahnten Krallen, oft noch mitkleiner unpaarer Afterkralle oder einem Büschel gefiederterHaare. An der Bauchseite des Hinterleibs liegt dieGeschlechtsöffnung, und seitlich von ihr befinden sich diebeiden Spaltöffnungen der sogen. Lungensäckchen,öfters auch noch ein zweites Stigmenpaar. Den After umgeben amEnde des Hinterleibs vier oder sechs Spinnwarzen, aus denen dieAbsonderung der Spinndrüsen hervortritt. Letztere sindbirnförmige, cylindrische oder gelappte Schläuche; ihrSekret gelangt durch Hunderte feiner Röhrchen nachaußen, erhärtet an der Luft schnell zu einem Faden undwird unter Beihilfe der Fußklauen zu dem bekannten Gespinstverwebt. Das Nervensystem besteht aus dem Gehirn und aus einergemeinsamen Brustganglienmasse. Hinter dem Stirnrand stehen acht,seltener sechs kleine Punktaugen in einer nach den Gattungen undArten verschiedenen Anordnung. Der Darmkanal zerfällt inSpeiseröhre, Magen mit fünf Paar Blindschläuchen undDarm, in welchen die Lebergänge und zwei verästelteHarnkanäle münden. Der Lebersaft wirkt ähnlich demder Bauchspeicheldrüse der höhern Wirbeltiere. DieAtmungsorgane sind meist eigentümliche sogen.Fächertracheen oder Tracheenlungen (s. Tracheen), auchLungensäckchen genannt; doch finden sich außerdem auchwohl noch gewöhnliche Tracheen. Das Blut fließt auseinem pulsierenden, im Hinterleib gelegenenRückengefäß durch Arterien nach denGliedmaßen und dem Kopf, umspült zurückkehrend dieLungensäckchen und tritt durch drei Paar seitlicheSpaltöffnungen in das Rückengefäß zurück.Alle Spinnen legen Eier und tragen sie häufig in besondernGespinsten mit sich herum. Die Männchen haben einen Hinterleibvon geringerm Umfang als die Weibchen; das verdickte

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Spinnfaserpflanzen.

Cannabis sativa (Hanf), a Weibliche uud b männlichePflanze. (Art. Hanf.)

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl.

Bibliographisches Institut in Leipzig.

Zum Artikel »Spinnfaserpflanzen«.

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Spinner - Spinnfasern,

Endglied der Kiefertaster ist löffelförmigausgehöhlt und enthält einen spiralig gebogenen Fadennebst hervorstreckbaren Anhängen. Bei der Begattung fülltdas Männchen dies Glied mit Samen und führt es in dieweibliche Geschlechtsöffnung ein, wo sich ein besonderesBehältnis zur Aufbewahrung des Samens (Samentasche) befindet.Zuweilen leben beide Geschlechter friedlich nebeneinander inbenachbarten Gespinsten oder selbst eine Zeitlang in demselbenGespinst; in andern Fällen stellt das stärkere Weibchendem schwächern Männchen wie jedem andern Tier nach, undselbst bei der Begattung ist dieses gefährdet. DieEntwickelung im Eie ist insofern interessant, als der Embryo eineZeitlang einen deutlich aus 10 bis 12 Segmenten bestehendenHinterleib besitzt, an dem sich auch die Anlagen vonGliedmaßen zeigen, die aber im weitern Verlauf samt derGliederung wieder verschwinden. Die ausschlüpfenden Jungenerleiden keine Metamorphose, bleiben aber bis nach der erstenHäutung im Gespinst der Eihüllen. - Alle Spinnennähren sich vom Raub: die vagabundierenden überfallen dieTiere im Lauf oder Sprung; andre bauen Gespinste, welche bei denverschiedenen Gattungen sehr wesentlich voneinander abweichen undzum Fang von Insekten dienen; oft finden sich in der Nähederselben röhren- oder trichterartige Verstecke zum Aufenthaltder Spinnen. Die meisten Spinnen ruhen am Tag und jagen in derDämmerung. Junge Spinnen erzeugen im Herbst lange Fäden(sogen. Alterweibersommer, s. d.), mittels welcher sie sich hoch indie Luft erheben, vielleicht um sich zur Überwinterung angeschützte Orte tragen zulassen.

Man kennt mehrere tausend Arten Spinnen; fossil finden sie sichnamentlich in Bernstein eingeschlossen vor. Man ordnet sie in zweigrößere Gruppen: 1) Vierlunger (Tetrapneumones), mit 4Lungensäcken und 4 Stigmen, 4, selten 6 Spinnwarzen. Hierhernur die Familie der Vogelspinnen (Theraphosidae), s. Vogelspinne.2) Zweilunger (Dipneumones), mit 2 Lungensäcken und 2 oder 4Stigmen (in diesem Fall führt das hintere Paar zuTracheenstämmen), stets 6 Spinnwarzen. Sie zerfallen inmehrere kleinere Gruppen: a) Springspinnen (Saltigradae), b)Wolfsspinnen (Citigradae), unter andern mit der Gattung Lycosa(Tarantel, s. d.), c) Krabbenspinnen (Laterigradae), unter andernmit der Gattung Thomisus (umherschweifende Krabbenspinne, T.viaticus C. L. Koch), d) Röhrenspinnen (Tubitelariae), zudenen Tegenaria (Hausspinne, T. domestica L.) und Argyroneta(gemeine Wasserspinne, A. aquatica L.) gehören, e) Webspinnen(Retitelariae) mit der Gattung Theridium (bekränzte Webspinne,T. redimitum L.), f) Radspinnen (Orbitelariae) mit der GattungTetragnatha (gestreckte Strickerspinne, T. extensa Walck.) undEpeira (Kreuzspinne, s. d.).

Vgl. Walckenaer und Gervais, Histoire naturlle des Insectesaptères (Par. 1836-47, 4 Bde.); Walckenaer, Histoirenaturelle des Aranéides (das. u. Straßb. 1806); Hahnund Koch, Die Arachniden (Nürnb. 1831-49, 16 Bde.); Koch,Übersicht des Arachnidensystems (das. 1837-50); Lebert, Bauund Leben der Spinnen (Berl. 1878).

Spinner (Bombycidae), Familie aus der Ordnung derSchmetterlinge (s. d.).

Spinnerin am Kreuz, eine von H. v. Puchsbaum 1451 erbautegotische Denksäule südlich vor Wien (s.Betsäulen).

Spinnfasern (hierzu Tafel "Spinnfaserpflanzen"),vegetabilische oder animalische Gebilde, die sich zur Verarbeitungauf Gespinste und Gewebe eignen und daher fest, geschmeidig undwomöglich bleichbar sein müssen. Die Zahl der tierischenS. ist verhältnismäßig gering. Vongrößerer Bedeutung sind nur Wolle, Seide und die Haareeiniger Ziegen, des Alpako u. der Vicunna, das Kamelhaar undPferdehaar. Viel größer ist die Zahl der vegetabilischenS., welche auch in ihrer Natur und Beschaffenheit viel mehrvoneinander abweichen. Wir finden darunter Haargebilde,Gefäßbündel undGefäßbündelbestandteile. Die erstern sind fastausschließlich Samenhaare, wie die Baumwolle, die Wolle derWollbäume und die vegetabilische Seide; viele S. setzen sichaus den Gefäßbündeln der Blätter, Stämmeoder Wurzeln monokotyler Pflanzen zusammen, wie derneuseeländische Flachs, die Agavefaser, die Aloefaser und dieAnanasfaser, der Manilahanf und die Tillandsiafaser. Amhäufigsten werden aber Gefäßbündelbestandteiledikotyler Pflanzen als S. benutzt. Hanf, Flachs, Jute, Sunn etc.sind Bastbündel oder Fragmente von solchen aus denGefäßbündeln der Stengel der betreffendenStammpflanzen. Die Farbe der S. ist sehr verschieden: Schwarz,Braun, bei den vegetabilischen ins Gelbe, Grüne, Grauegeneigt, auch Weiß; sie sind glanzlos bisseidenglänzend, zum Teil sehr hygroskopisch, so daßwenigstens bei den animalischen (Seide, Wolle) im Handel derWassergehalt der Ware in besondern Anstalten(Konditionierungsanstalten) festgestellt zu werden pflegt. Aberauch Baumwolle, welche lufttrocken 6,5 Proz. Feuchtigkeitenthält, kann über 20 Proz., Manilahanf sogar über40 Proz. Wasser aufnehmen. Die Hygroskopizität der S. wechseltbei den Kulturvarietäten einer und derselben Pflanze undsteigt bisweilen bei derselben Faser, wenn diese beim Lagern an derLuft dunkler wird. Über die Festigkeit der S. liegenvergleichbare Angaben bis jetzt nicht vor; weitaus am festesten istSeide, die übrigen zeigen die mannigfachsten Abstufungen derZerreißbarkeit. Die chemische Zusammensetzung dervegetabilischen S. ist eine sehr gleichartige; die Hauptsubstanzbildet überall Cellulose, und die Fasern, welche nur ausletzterer bestehen, sind biegsam, geschmeidig und fest,während diejenigen, bei denen außer Cellulose nochHolzsubstanz oder ähnliche Stoffe auftreten, spröde undbrüchig erscheinen und erst nach Entfernung derselben weicherund biegsamer werden. Eine solche Vervollkommnung der Fasern wirdz. B. durch den Prozeß des Bleichens erreicht; doch ist dieweiße Farbe einer Faser keineswegs ein Beweis, daß siefrei von Holzfaser sei. Selbst sehr geringe Mengen von letztererkann man durch Betupfen mit einer Lösung von schwefelsauremAnilin nachweisen, welche die Holzsubstanz bräunt. Alle S.,die der Hauptmasse nach aus Cellulose bestehen, werden durch Jodund Schwefelsäure blau gefärbt und durchKupferoxydammoniak aufgelöst; die übrigen, denengrößere Mengen von Holzsubstanz oder andern organischenStoffen anhaften, werden durch ersteres Reagens gelb oder braunoder grün bis blaugrün gefärbt und durchKupferoxydammoniak entweder nicht verändert, oder nur untermehr oder minder deutlicher Quellung gebläut. Alle S.enthalten mineralische Stoffe und lassen daher beim VerbrennenAsche zurück. Die tierischen S. weichen in ihrerZusammensetzung vollständig von den vegetabilischen ab: sieenthalten sämtlich Stickstoff und unterscheiden sich sehrbestimmt von den vegetabilischen durch ihr Verhalten beimVerbrennen, indem sie vor der Flamme gleichsam schmelzen und unterVerbreitung eines übeln Geruchs eine schwammige Kohlehinterlassen, während die Pflan-

156

Spinnmaschine - Spinola.

zenfasern bis auf die Asche vollständig und ohne Geruchverbrennen. Eine Unterscheidung der einzelnen tierischen undvegetabilischen S. ist nur durch methodische Prüfung mittelsdes Mikroskops und chemischer Reagenzien möglich; letztereaber leisten im allgemeinen für die rohen Fasern nicht vielund für die gebleichten, welche sämtlich aus reinerCellulose bestehen, naturgemäß sehr wenig odernichts.

Pflanzen, welche zur Darstellung von Gespinsten taugliche Fasernliefern, finden sich in zahlreichen Familien und bilden, soweit siegrößere Wichtigkeit besitzen, den Gegenstandausgedehnter Kulturen. Die wichtigsten Spinnfaserpflanzen (vgl.beifolgende Tafel) gehören zu den Malvaceen (Gossypium-Artenliefern die Baumwolle, Hibiscus-Arten den Gambohanf; auch sindAbelmoschus tetraphyllus, Sida retusa, Thespesia lampas und Urenasinuata zu erwähnen), den Kannabineen (Hanf von Cannabissativa), Lineen (Flachs, Linum usitatissimum), Tiliaceen (Jute vonCorchorus-Arten), den Urtikaceen (Chinagras und Ramé vonBoehmeria-Arten, Nesselfasern von Urtica-Arten), den Palmen(Arenga, Caryota, Piassava von Attalea funifera, Kokosfaser vonCocos nucifera etc.), den Musaceen (Manilahanf von Musa-Arten), denBromeliaceen (Agavefasern von Agave-Arten, Ananasfaser von Ananassasativa, Silkgras von Bromelia karatas, Tillandsiafaser vonTillandsia usneoides), den Asphodeleen (neuseeländischerFlachs von Phormium tenax), den Papilionaceen (Sunn von Crotalariajuncea, auch Spartium-Arten). Erwähnung verdienen ferner: dieBombaceen mit den Bombax-Arten Eriodendron anfractuosum und OchromaLagopus, die Datisceen mit Datisca cannabina, die Kordiaceen mitCordia latifolia, die Asklepiadeen mit Beaumontia grandiflora,Calotropis gigantea, Asclepias-Arten etc., welche sämtlichvegetabilische Seide liefern, die Moreen mit Broussonetia-Arten,die Pandaneen mit Pandanus odoratissimus und die Gramineen mit demEspartogras (Stipa tenacissima). Weitaus die größteBedeutung von allen haben aber Baumwolle, Flachs und Hanf, welchensich noch die Jute anschließt. Die übrigenSpinnfaserpflanzen, zum Teil seit alter Zeit in Gebrauch, haben inder neuern Industrie doch erst angefangen, einen Platz sich zuerobern, was der Jute, in gewissem Grad auch dem Chinagras,Ramé, der Piassava, der Agavefaser, dem Manilahanf, derKokosfaser und einigen andern bereits gelungen ist undvoraussichtlich noch weiter gelingen wird. Beherrscht Nordamerikadurch seine Baumwolle das ganze Gebiet, so wird es doch anMannigfaltigkeit der dargebotenen Fasern weit übertroffen vonAsien, speziell von Indien, woher wir wohl die wichtigstenBereicherungen auch ferner noch zu erwarten haben. Vgl. Royle, Thefibrous plants of India (Lond. 1855); Wiesner, Beiträge zurKenntnis der indischen Faserpflanzen (Sitzungsberichte der WienerAkademie, Bd. 62); Derselbe, Rohstoffe des Pflanzenreichs (Leipz.1873); Richard, Die Gewinnung der Gespinstfasern (Braunschw.1881).

Spinnmaschine s. Spinnen, S. 148 f.

Spinnrad s. Spinnen, S. 148 f.

Spinnstube (auch Lichtstube), der ehemals auf dem flachenLand und namentlich in den Gebirgsgegenden weitverbreiteteGebrauch, die langen Winterabende gemeinsam in geselligerHandarbeit hinzubringen. Die S. wird abwechselnd auf dem einen oderandern Hof abgehalten, die Frauen und Mädchen spinnen, dieBurschen machen Musik, oder es werden Volkslieder gesungen, Hexen-und Gespenstergeschichten erzählt und allerlei Kurzweil dabeigetrieben. Wegen der dabei vorkommenden Ausschreitungen insittlicher Beziehung mußten in verschiedenen Ländern"Spinnstubenordnungen", d. h. polizeiliche Regelungenbezüglich der Zeit und Dauer des Beisammenseins, erlassenwerden, ja im Bereich des ehemaligen Kurhessen wurden sie bereits1726 gänzlich verboten. In Nachahmung dieser alten Dorfsittewurden im Palast Emanuels d. Gr. zu Evora, wo die glänzendstePeriode des portugiesischen Hoflebens sich abspielte, die vonmehreren Dichtern geschilderten "portugiesischen Spinnstuben"(Seroëns de Portugal) abgehalten.

Spinnwebenhaut (Arachnoïdea), die mittlere Hirnhaut(s. Gehirn, S. 2).

Spinnwurm, s. Wickler.

Spinola, 1) Ambrosio, Marchese de los Balbazes, span.General, geb. 1571 zu Genua aus altem ghibellinischen Geschlecht,zeichnete sich seit 1599 mehrfach in den Diensten KönigPhilipps III. von Spanien aus und unterstützte mit einem Korpsvon 9000 Mann alter italienischer und spanischer Truppen, nach Artder frühern Condottieri, den Erzherzog Albrecht vonÖsterreich bei der Belagerung von Ostende (1602-1604). Hieraufzum Generalleutnant und Kommandierenden aller in den Niederlandenkämpfenden spanischen Truppen ernannt, stand er seit 1605 demPrinzen Moritz von Oranien in Flandern gegenüber; dochvermochte keiner einen wesentlichen Vorteil zu erlangen. 1620 vonSpanien zur Unterstützung des Kaisers Ferdinand II. gegen dieprotestantischen Reichsfürsten abgesandt, drang er im Augustan der Spitze von 23,000 Mann in die Pfalz ein und eroberte vieleStädte, ward aber 1621 in die Niederlande berufen, wo erwieder gegen Moritz kämpfte. Durch Entlassung der meuterischenitalienischen Truppen geschwächt, konnte er den Krieg trotzder Eroberung Jülichs (1622) nur lau fortsetzen und erst imSommer 1624 die Belagerung von Breda unternehmen, welchen Platz er2. Juni 1625 endlich zur Übergabe zwang. Seitdemkränkelnd, mußte er den Oberbefehl niederlegen. Nur nocheinmal trat er 1629 in Italien auf, indem er in dem Streit um dasErbe des Markgrafen von Mantua die Franzosen aus Montferratvertrieb und sie in Casale einschloß. Er starb 25. Sept. 1630in Castelnuovo di Scrivia. Vgl. Siret, S., épisode du tempsd'Albert et d'Isabelle (Antwerp. 1851).

2) Christoph Rojas de, Vertreter des Gedankens der Unionzwischen Katholiken und Protestanten, aus Spanien gebürtig,trat in den Franziskanerorden, ward 1685 Beichtvater derösterreichischen Kaiserin und 1686 Bischof vonWiener-Neustadt. Seine Unionspläne, zu deren Durchführunger die meisten deutschen Residenzen (1676 und 1682) aufsuchte,fanden Anklang am hannöverschen Hof; der Philosoph Leibniz undder Abt Molanus ließen sich in nähere Verhandlungen mitihm ein (1683). Seine Schrift "Regulae circa christianorum omniumecclesiasticam reunionem" bot als Zugeständnisse vonkatholischer Seite an: deutschen Gottesdienst, Laienkelch,Priesterehe, Aufhebung der Tridentiner Beschlüsse bis zumZusammentritt eines neuen Konzils etc., forderte dagegen von denProtestanten Unterordnung unter die katholische Kirchenverfassungnebst Anerkennung des päpstlichen Primats. Gegen diese Basisder Verhandlungen erklärte sich Bossuet, während InnocenzXI. dieselbe anzunehmen nicht abgeneigt war. Der Tod Spinolas(1695) raubte diesem unionistischen Unternehmen seinen ebensotiefreligiösen wie geschäftsgewandten Leiter.

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Spinös - Spinoza.

Spinös (lat.), dornig; schwer zu behandeln.

Spinoza (eigentlich d'Espinosa), Baruch (Benedikt),berühmter Philosoph, geb. 24. Nov. 1632 zu Amsterdam als Sohnjüdischer Eltern portugiesischen Ursprungs, ward zum Rabbinergebildet, aber seiner freien Religionsanschauungen wegen aus derGemeinde ausgestoßen, verließ seine Vaterstadt undließ sich nach wechselndem Aufenthalt im Haag nieder, wo er,um seine Unabhängigkeit zu bewahren, sich seinen Unterhaltdurch Unterrichterteilung und durch Schleifen optischer Gläsererwarb. Eine ihm vom Kurfürsten von der Pfalz angeboteneProfessur zu Heidelberg sowie eine ihm von seinem Freund Simon deVries zugedachte Erbschaft schlug er aus gleichem Grund aus undstarb arm, unvermählt und unberühmt 21. Febr. 1677 inScheveningen an der Lungenschwindsucht. Über die innereEntwicklung seines Gedankenkreises weiß man wenig. Einerseitsist die talmudistische Vorschulung, anderseits das Studium derCartesianischen Schriften in Anschlag zu bringen. Die ersteJugendarbeit Spinozas war eine verhältnismäßigunselbständige Darstellung der Cartesianischen Prinzipien nachseiner Lieblingsmethode, der geometrischen des Eukleides. Hierauffolgte der "Theologisch-politische Traktat" ("Tractatustheologico-politicus") und zwar anonym (1670). Das epochemachendeHauptwerk, die "Ethik" ("Ethica"), obgleich seinen Hauptzügennach als ursprünglich in holländischer Spracheabgefaßter, erst neuerlich (durch van Vloten) wiederaufgefundener Traktat "Von Gott und dem Menschen" in früherZeit vollendet, wurde erst nach seinem Tod von seinem Freunde, demArzt Ludwig Mayer, herausgegeben. Zwei unvollendete, ebenfallsnachgelassene Schriften, der "Politische Traktat" u. die"Abhandlungen über die Verbesserung des Verstandes" ("Deintellectus emendatione"), kamen hinzu. Spinozas epochemachende"Ethik" ist der Form nach, im Gegensatz zu der analytischen(regressiven, von den Folgen auf die Gründezurückgehenden) Denkweise des Descartes, in synthetischer(progressiver, von dem ersten Grund zu den äußerstenFolgerungen fortschreitender) Darstellung und nach der Methode desEukleides in Grundbegriffen, Axiomen, Theoremen, Demonstrationenund Korollarien abgefaßt, wodurch sie (gleich ihrem Vorbild)den Anschein unumstößlicher Gewißheitempfängt. Dem Inhalt nach stellt dieselbe gleichfalls einenGegensatz zum Cartesianismus dar, indem an die Stelle derdualistischen eine monistische Metaphysik tritt. SpinozasPhilosophie knüpft daher zwar an die des Descartes (s. d.) an,aber nur, um dessen System der Form und dem Inhalt nach aufzuheben.Dieselbe ist mit ihrer Vorgängerin zwar darübereinverstanden, daß Geist, dessen Wesen im Denken, undMaterie, deren Wesen in der Ausdehnung besteht, einen(qualitativen) Gegensatz bilden, jener ohne das Merkmal derAusdehnung, diese ohne das des Denkens gedacht werden kann. Aber S.leugnet, daß derselbe ein Gegensatz zwischen Substanzen(Dualismus) sei, sondern setzt ihn zu einem solchen zwischenbloßen "Attributen" einer und derselben Substanz (Monismus)herunter. Da nämlich aus dem Begriff der Substanz, d. h. einesWesens, das seine eigne Ursache (causa sui) ist, folgt, daßes nur eine einzige geben kann, so können Geist und Materie(die zwei angeblichen Substanzen des Cartesianismus, zwischenwelchen ihres Gegensatzes halber keine Wechselwirkung möglichsein soll) nicht selbst Substanzen, sondern sie müssenAttribute einer solchen (der wahren und einzigen Substanz) sein,welche an sich weder das eine noch das andre ist. Diese (einzige)Substanz, welche als solche mit Notwendigkeit existiert, und zuderen Natur die Unendlichkeit gehört, nennt S. Gott (deus),dasjenige, was der Verstand (intellectus) von derselben als derenWesen (essentia) ausmachend erkennt, Attribut, die Substanz selbstbestehend aus unendlichen Attributen, deren jedes (nach seinemWesen) deren ewige und unendliche Wesenheit ausdrückt. Zweiderselben (die einzigen, deren S. Erwähnung thut) sind nunDenken und Ausdehnung (dieselben, welche, nach Descartes, als Wesendes Geistes und der Materie diese zu zweierlei entgegengesetztenSubstanzen machen sollten); unter dem erstern aufgefaßt,erscheint die Substanz dem Intellekt als das unendliche Denkende(als unendliche Geisteswelt), unter dem zweiten aufgefaßt,als das unendlich Ausgedehnte (als unendliche Stoffwelt); beidesind, da außer Gott keine andre Substanz existiert, derSubstanz nach identisch (keine qualitativ entgegengesetztenSubstanzen mehr, daher der Cartesianische Einwand gegen dieMöglichkeit der Wechselwirkung zwischen Geist und Materie,Seele und Leib, beseitigt erscheint). Das unendliche (als solchesunbestimmte) Denken zerfällt durch (inhaltliche) Bestimmung inunzählig viele Gedanken (Ideen); die unendliche (als solcheunbegrenzte) Ausdehnung zerfällt durch (räumliche)Begrenzung in unzählig viele Stoffmassen (Körper), diesich untereinander ebenso gegenseitig ausschließen, als sich(in stetiger Reihenfolge) gegenseitig berühren. S. bezeichnetdieselben als Modi, d. h. als Affektionen der Substanz, die Ideenals solche, insofern die Substanz unter dem Attribut der denkenden,die Körper als solche, insofern sie unter dem Attribut derausgedehnten Wesenheit vorgestellt wird. Da beide Attribute derSubstanz nach identisch sind, das unendliche Denken aber der Summealler einzelnen Denkbestimmungen (Ideen), die unendliche Materieder Summe aller einzelnen begrenzten Stoffteile (Körper)gleich ist, so müssen auch diese beiden in ihrer stetigenReihenfolge untereinander (der Substanz nach) identisch und kannzwischen der (idealen) Gesetzmäßigkeit des Ideenreichsund der (mechanischen) Gesetzmäßigkeit derKörperwelt kein Gegensatz vorhanden sein. S. stellt dahernicht nur den Satz auf, daß aus dem unendlichen Wesen Gottes(als natura naturans) Unendliches auf unendlich verschiedene Weisefolge (als natura naturata), sondern auch den weitern, daßdie Folge und Verknüpfung der Ideen (die ideale) und jene derSachen (die reale Weltordnung) eine und dieselbe (ordo et connexioidearum idem est ac ordo et connexio rerum) seien. Folge deserstern ist, daß die Gesamtsumme der Wirkungen Gottes (dieWelt der Erscheinungen) ihrer Beschaffenheit sowohl als ihrerVerknüpfung nach als eine unabänderliche, von Ewigkeither feststehende, weil in der ewigen und unwandelbaren Natur Gottes(der alleinen Substanz) als Ursache begründete, angesehenwerden muß. Folge des zweiten ist, daß die im Reich desGeistes waltende sittliche) von der das Reich der Materie regelnden(mechanischen) Gesetzlichkeit nicht verschieden, das dieErscheinungen der Natur ausnahmslos beherrschende Kausalgesetzdaher auch das die Erscheinungen des Geistes bestimmende sei. Sowenig in der Körperwelt eine Wirkung ohne (zwingende) Ursache,so wenig ist in der Geisteswelt ein Willensentschluß ohne(nötigendes) Motiv (und daher keine indeterministischeWillensfreiheit) möglich. Die (geistigen wiekörperlichen) Erscheinungen selbst als Entfaltung der(all-einen) Substanz sind weder das Werk einer Vorsehung (da dieSubstanz als solche

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Spinster - Spirale.

weder Intelligenz noch Willen besitzt, von einem "Weltplan" odergar einer "Wahl" zwischen mehreren Weltplänen nicht die Redesein kann) noch eines blinden Verhängnisses (da die SubstanzUrsache ihrer selbst und von nichts außer ihr abhängigist). Die Beschaffenheit und Reihenfolge derselben sind nicht durchZweck-, sondern lediglich durch wirkende Ursachen bestimmt;dieselben sind weder nützlich (gut) noch schädlich(schlecht), sondern einfach notwendig. Als solche ist die Weltweder die beste noch die schlechteste unter (mehreren)möglichen, sondern die einzig mögliche. Die Erkenntnisdieser unabänderlichen Weltordnung ist es, welche den Weisenvom Thoren scheidet. Während der letztere vom Weltlauf dieErfüllung seiner Wünsche hofft oder deren Gegenteilfürchtet, erkennt der erstere, daß jener unabhängigvon diesen unabänderlich feststeht und daher weder Hoffnungnoch Furcht einzuflößen vermag. Die philosophischeErkenntnis besteht darin, die Dinge zu schauen, wie Gott sie schaut(unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit, sub specie aeternitatis,gleichsam "aus der Vogelperspektive"), d. h. jedes Einzelne (Idee,Körper, Ereignis) im Zusammenhang als Glied des (unendlichen)Ganzen. Die philosophische Gemütsstimmung besteht einerseitsin der Resignation, d. h. in der Ergebung, welche aus derErkenntnis der Notwendigkeit, anderseits in der (intellektuellen)Liebe zu Gott, welche aus der Erkenntnis der (ursprünglichen)Göttlichkeit des Weltlaufs entspringt. Da die eine wie dieandre Wissen, d. h. Erkenntnis des (metaphysischen) Wesens der Welt(als Entfaltung Gottes), voraussetzt, so bildet die(pantheistische, richtiger akosmistische) Metaphysik dieunentbehrliche Vorbedingung zu der (affekt- und leidenschaftslosen)Ethik Spinozas. Sowohl um dieses ihres echt philosophischenErgebnisses in praktischer wie um ihres auf den Zusammenhang desGanzen als Weltorganismus gerichteten Blicks (den übrigensLeibniz zum mindesten im gleichen Grad besaß) intheoretischer Hinsicht halber hat die Philosophie Spinozas, dieanfänglich nur in Holland einen kleinen Kreis vonAnhängern fand (de Vries, Mayer u. a.), ein Jahrhundertspäter bei Größen ersten Ranges, wie Lessing,Jacobi, Herder, Goethe u. a., Bewunderung, bei Fichte, Schelling,Hegel mehr oder weniger eingestandene Nachahmung gefunden. Am 14.Sept. 1880 ist ihm im Haag ein Denkmal (von Hexamer) errichtetworden. Für die Erläuterung seiner (selbst von seinenFreunden oft mißverstandenen) Lehre ist sein ziemlichumfangreicher Briefwechsel wichtig. Eine vollständige Ausgabeder Werke Spinozas wurde von Paulus veranstaltet (Jena 1802, 2Bde.); eine andre von Gfrörer im "Corpus philosophorum optimaenotae", Bd. 3 (Stuttg. 1830), enthält sämtliche Werkeohne die hebräische Grammatik. Korrekter als die erstgenannte,aber ohne die Biographie des Colerus ist die Ausgabe von Bruder(Leipz. 1843-46, 3 Bde.); die neueste ist die von J. van Vloten undLand (Haag 1882, 2 Bde.). Deutsche Übersetzungen lieferten B.Auerbach (2. Aufl., Stuttg. 1871, 2 Bde.), welcher diefranzösische von Saisset (2. Aufl., Par. 1861, 3 Bde.)vorzuziehen ist, und neuerlich Kirchmann und Schaarschmidt in der"Philosophischen Bibliothek". Den "Tractatus de deo et homine"(hrsg. von van Vloten, Amsterd. 1862, und mit Einleitung vonGinsberg, Leipz. 1877) hat Sigwart (Tübing. 1870) ins Deutscheübersetzt und erläutert. Über die S. betreffendeLitteratur vgl. van der Linde, S. (Göttingen 1862); überdessen Philosophie: Sigwart, Der Spinozismus, historisch undphilosophisch erläutert (Tübing. 1839); Thomas, S. alsMetaphysiker (Königsb. 1840); Saintes, Histoire de la vie etdes ouvrages de S. (Par. l842); Trendelenburg, HistorischeBeiträge zur Philosophie, Bd. 2 und 3 (Berl. 1855-67); K.Fischer, Geschichte der neuern Philosophie (Bd. 1, Abt. 2);Camerer, Die Lehre Spinozas (Stuttg. 1877); Baltzer, SpinozasEntwickelungsgang (Kiel 1888); Ginsberg, Briefwechsel des S.(Leipz. 1876, mit der Biographie von Colerus). B. Auerbachbehandelte das Leben Spinozas in einem Roman.

Spinster (engl.), lediges Frauenzimmer.

Spintherismus (griech.), das Funkensprühen.

Spintisieren, grübeln, fein ausspinnen.

Spintrien (lat.), Gemmen oder Münzen mitunzüchtigen Darstellungen.

Spion (ital.), s. Kundschafter.

Spira, Johannes de (Johann von Speier), wahrscheinlicheiner der deutschen Buchdrucker, die nach der Eroberung von Mainz1462 auswanderten und die Buchdruckerkunst weiter verbreiteten. Erwar der erste Typograph zu Venedig und zugleich auch der erste"privilegierte Buchdrucker". Seine ersten Werke sind: Ciceros"Epistolae" und Plinius' "Historia naturalis" (Vened. 1469). SeineAusgabe des Tacitus, zugleich die erste dieses Schriftstellers, istdas erste mit arabischen Blattziffern bezeichnete Buch (vgl.Antiqua). Nach seinem 1470 zu Venedig erfolgten Tod führtesein Bruder Wendelin de S. die Offizin bis 1477 fort; dieserdruckte die erste Ausgabe der Bibel in italienischer Sprache nachder Übersetzung von Malermi.

Spiraea L. (Spierstrauch, Spierstaude), Gattung aus derFamilie der Rosaceen, Sträucher und Kräuter mitgefiederten oder ganzen Blättern, ohne oder mitNebenblättern, in endständigen Ähren, Trauben,Rispen oder Doldentrauben stehenden Blüten und mehrsamigerBalgkapsel. S. ulmaria L. (Krampfkraut, Wurmkraut,Mädelsüß, Geißbart, Wiesenkönigin),60-120 cm hoch, mit unterbrochen fiederteiligen Blättern,großen Nebenblättern, in Trugdolden stehenden,weißen Blüten und spiralförmig gedrehten, kahlenFrüchtchen, wächst in Europa und Nordasien an feuchtenStellen. Die Blüten liefern ein ätherisches Öl,welches salicylige Säure enthält. Dasselbe gilt von S.filipendula L. (Erdeichel, Haarstrang), deren Früchtchen nichtspiralig gedreht und behaart sind, und an deren langen,fadenförmigen Wurzeln erbsengroße Knollen hängen.Diese Art wächst auf trocknen Wiesen und in Wäldern undwar, wie die vorige, früher offizinell. Gegen 40 andre Artenaus Südeuropa, Asien und Nordamerika sind beliebteZiersträucher.

Spiräaceen, Unterfamilie der Rosaceen.

Spirabel (lat.), atembar, verdunstbar.

Spiraculum (lat.), Luftloch, Öffnung.

Spirale (lat., Spiral-, irrtümlich auchSchneckenlinie), ebene krumme Linie, die um einen festen Punkt Ounendlich viele Umläufe macht. Die einfachste ist die vonArchimedes untersuchte, welche von einem Punkt P beschrieben wird,der sich mit gleichförmiger Geschwindigkeit auf einer durch Ogehenden Geraden bewegt, während letztere sichgleichförmig um O dreht. Es ist also der Abstand O P = rproportional dem Drehungswinkel Phi (r=a *^Phi, wenn a konstantist). Man kann dieselbe zur Teilung der Winkel benutzen, welche aufdie Teilung einer Geraden zurückgeführt wird. AndreSpiralen sind: die Fermatsche (r² = a²*^Phi), diehyperbolische oder reciproke (r*^Phi = a), die logarithmische

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Spiralgefäße - Spiritismus.

(r = ac*^Phi, c wie a konstant). Mit dem Namen S. bezeichnet manauch bisweilen räumliche Kurven; es bedeutet z. B.cylindrische oder konische S. den Durchschnitt einerSchraubenfläche mit einer Cylinder- oder Kegelfläche(richtiger cylindrische oder konische Schraubenlinie),sphärische S. die Linie, welche ein Punkt auf der Kugelbeschreibt, wenn seine Länge und Breite proportional sind.

Spiralgefäße, s. Gefäße (derPflanzen).

Spiralklappe, s. Darm.

Spiralpumpe, Wasserfördermaschine, welche 1746 vonWirz in Zürich erfunden wurde. Sie besteht (s. Fig.) aus einemum eine horizontale Welle A spiralförmig gewundenen RohrDEFGHJKL, welches an dem Wasser schöpfenden Ende Ctrichterförmig erweitert ist (zu dem sogen. Horn) und mit demandern Ende in das hohle Ende der Welle mündet. Eine zwischendem Wellenende und dem Steigrohr N eingeschaltete StopfbüchseM ermöglicht einen dichten Verschluß während derDrehung der Welle. Ist nun der Apparat mit den zu unterst gelegenenTeilen der Schraubenwindungen in ein Wasserbassin getaucht, so wirdvon dem Horn bei der Drehung der Welle Wasser geschöpft,solange seine Mündung sich unter Wasser befindet, bei weitererUmdrehung tritt so lange Luft ein, bis das Horn wieder ins Wassertaucht. Während der dazu erforderlichen einmaligen Umdrehungist das zuerst geschöpfte Wasser, da es wegen seiner Schwerebestrebt ist, immer den zu unterst gelegenen Teil der Schraubeeinzunehmen, um einen Schraubengang in dem Rohr vorgerückt,die ihm folgende Luft wird durch das bei einem zweiten Eintauchendes Horns aufgenommene Wasser abgesperrt, und so geht es fort, bisdas ganze Schlangenrohr in den untern Teilen seiner Windungen mitWasserquantitäten gefüllt ist, die zwischen sich in denobern Teilen der Windungen Luftsäulen einschließen, diebis jetzt nur die Spannung der äußern Atmosphärebesitzen. Sobald nun weiter gedreht wird, will Wasser in dasSteigrohr treten und übt deshalb auf die Flüssigkeit imRohr einen Druckwiderstand aus, durch welchen die einzelnenFlüssigkeitssäulen in den Schraubengängenentsprechend in die Höhe getrieben werden und nun mitdemselben Druck auf die Flüssigkeit im Steigrohrzurückwirken können. Dabei wird zunächst von derzuletzt aufgenommenen Wassersäule CD, ihrer barometrischenNiveaudifferenz entsprechend, auf die ihr vorangegangeneLuftsäule DE gedrückt, welche den erhaltenen Druck mitHilfe der sich daran schließenden Wassersäule EF auf diefolgende Luftsäule FG überträgt; aber auch diezweite Wassersäule EF übt auf letztere in derselben Weisewie die erste einen Druck aus, so daß sich der Druck auf diezweite Luftsäule aus dem Druck der beiden nachgeschöpftenWassersäulen zusammensetzt. In gleicher Weise summieren sichdie Wasserdrucke bis zur letzten Windung, und der hier herrschendeDruck entspricht derjenigen Druckhöhe, bis zu welcher dieMaschine fördern kann. Diese S. ist nur in wenigen Exemplarenausgeführt, wohl aber hat man sie in geeigneter Umformung zurErzeugung von Gebläsewind benutzt, indem man am Ende derSchraube eine Vorrichtung anbrachte, welche zwar die Luft aufnimmtund in die Windleitung treibt, aber das Wasser unten entweichenläßt (vgl. Gebläse).

[Spiralpumpe.]

Spiranten (lat.), s. Lautlehre, S. 571.

Spirato (ital., "zu Ende gegangen"), in derHandelssprache s. v. w. im verflossenen Monat oder Jahr.

Spirdingsee, Landsee im preuß. RegierungsbezirkGumbinnen, im N. von Johannisburg, mit seinen Verzweigungen 118 qkm(2,14 QM.) groß, liegt 117 m ü. M., fließt durchden Pissek (Pysz) zum Narew ab, ist tief und fischreich,enthält vier Inseln (auf einer derselben das eingegangene FortLyck) und steht gegen N. mit dem Löwentin- und Mauersee durchdie Masurischen Kanäle in schiffbarer Verbindung.

Spirifer, s. Brachiopoden.

Spiriferensandstein, s. Devonische Formation.

Spirillum Ehrb. (Schraubenbakterie), früher Gattungder Spaltpilze, nach neuern Untersuchungen als Entwickelungsformvon Bakterien (s. d. u. Tafel) erkannt. Man rechnet zu denSpirillen diejenigen krummen Bacillen, bei welchen ein Auswachsenzu schraubenartig gewundenen und sich in derselben Formvermehrenden Fäden beobachtet wird. Dahin gehören derKommabacillus der Cholera, das S. von Finkler und Prior bei Choleranostras, das S. (Spirochaete) bei Rückfallfieber, das S.(Spirochaete) des Zahnschleims etc.

Spiritismus (neulat., auch Spiritualismus, aber dann zuunterscheiden von der gleichnamigen philosophischen Richtung), derin der Neuzeit wieder stark entwickelte Glaube, daß nicht nurdie Geister der abgeschiedenen Menschen fortleben, sonderndaß auch ein beständiger und leichter Verkehr mit ihnenmöglich sei. Ein solcher Verkehr kann aber angeblich nur vonwenigen Auserwählten unmittelbar gepflogen werden, welche alsMittelspersonen (Medien) den Geistern eine Art dünnenKörpers zu leihen vermögen, damit sich dieselben"materialisieren" und unsern gröbern Sinnen bemerklich machenkönnen. Der menschliche Geist, ein persönliches,immaterielles Wesen, wäre nach dieser Theorie von einembesondern, die niedern tierischen Funktionen leitenden, imKörper verteilten ätherischen Fluidum, dem Perisprit,gleichsam aufgelöst und durch dieses Vehikel erst demKörper zeitweise verbunden, könne aber auch schon imLeben denselben gelegentlich verlassen (Verzückung,Doppeltgehen etc.) und Fernwirkungen ausüben, namentlich beiden Medien, deren Geist nur sehr lose "verzellt" ist. Von jenerseelischen Hülle des Geistes sollen nun die Medien einengewissen Überfluß besitzen, eine Aura desselben um sichverbreiten und davon den überall im Raum verteilten Geisternso viel abgeben können, daß diese sich für kurzeZeit den Sterblichen offenbaren können. Ihre Manifestationenund Materialisationen geschehen angeblich durch Erscheinen imDunkeln in ganzer Gestalt oder wenigstens als leuchtende Händeoder Gesichter und sollen, wenn selbst das Auge nicht im standesein sollte, das zarte Lichtgebilde zu erkennen, wenigstens auf derphotographischen Platte ihre Spur zurücklassen. DieGeisterphotographie bildet in Amerika ein schwunghaft betriebenesGeschäft, welches kaum dadurch gelitten hat, daß eineroder der andre dieser Künstler vor Gericht den groben Betrugeingestand, wie der Photograph Buguet in Paris (1875). In neuererZeit sind dazu noch die Abdrücke der Geisterhände inMehlschüsseln oder in Gips gekommen. Eine andre Art derOffenbarung

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Spirito - Spiritualismus.

ist diejenige durch Musik, die wichtigste von allen aber diedurch mechanische Wirkungen, weil man darauf eine Verkehrsmethode,eine wirkliche Unterhaltung mit den Geistern basiert. Die Antwortenwerden entweder durch eigentümliche Klopftöne imSitzungstisch oder in andern Möbeln etc. gegeben, um dadurchdie Folge der Buchstaben festzustellen, oder kürzer mit demManulektor oder Psychographen (s. d.) direkt geschrieben. An dessenStelle ist in neuester Zeit namentlich durch das Medium Slade dieunsichtbare Niederschrift der Antwort auf eine unter den Tisch oderhinter den Rücken gehaltene Schiefertafel getreten. JedesMedium hat in der Regel seine besondere Art, zu "arbeiten", und manunterscheidet danach Klopfmedien, Schreibmedien etc. DieSpiritisten geben allgemein zu, daß die Geisterantworten oftungemein albern, zuweilen auch neckisch sind; aber sieerklären sich dies dadurch, daß es auch unwissende,unorthographisch schreibende und boshafte Geister gebe. Weiteremechanische Leistungen der Geister sind: die Entfesselungengebundener Medien, Knotenknüpfen in beiderseits festgehaltenenSchnüren, Ineinanderbringen hölzerner Ringe, die auseinem Stück bestehen, das Erheben der Möbel und andrerschwerer Gegenstände (s. Tischrücken), Transportierungenderselben, Schweben der Medien und ähnliche Manifestationen,in denen besonders das Medium Home sehr geschickt gewesen seinsoll. Zum Gelingen dieser Versuche gehören in der Regelbesondere Vorbedingungen, so z. B., daß die Teilnehmer einerSoiree durch Berühren der Hände eine Ketteschließen, um angeblich eine Ansammlung und Zirkulation jenesFluidums zu erzeugen und damit das Medium zu unterstützen,welches durch Ausgabe seines Perisprits oft gänzlicherschöpft werden soll. Manche Versuche gelingen auchbloß im Dunkeln, weil das Licht angeblich dieMaterialisationen hindert. Der in vielen Fällen selbst denberühmtesten Medien (Home, Slade u. a.) nachgewiesene Betrughindert die große Gemeinde der Spiritisten nicht, der Sacheferner ihr Zutrauen zu schenken. Was die Geschichte diesermerkwürdigen Bewegung betrifft, so fanden sich ähnlichePraktiken schon seit alten Zeiten in China, Indien, Griechenlandund Rom, woselbst man zum Teil in sehr ähnlicher WeiseGeisterschriften und Orakel zu erlangen wußte; aber derneuere Anstoß ging von dem quäkerischen Sektenwesen mitseinem Geister- und Erleuchtungsglauben aus, welches sich seitJahrhunderten in Amerika ausgebreitet hat. Die Geschwister Fox zuHydesville bei New York sind die Entdecker der Geisterklopferei(1849). Fast gleichzeitig damit begann das Tischrücken (s. d.)für die spiritistischen Anschauungen Propaganda zu machen.Diese "Offenbarungen" gewannen in Amerika in der That sehr baldzahlreiche Anhänger, die eine förmliche Kirche bildetenund ihre Überzeugungen durch eine große MengeZeitschriften und Broschüren stärkten. Man erzähltvon vielen Millionen; doch lassen sich solche Angabenbegreiflicherweise nicht kontrollieren, wenn auch zugegeben werdenmuß, daß die höhern Klassen infolge einernatürlichen Reaktion gegen die herrschenden materialistischenund sozialistischen Lehren der Gegenwart den S. überall mitoffenen Armen aufnehmen und in ihm zum Teil das einzigeRettungsmittel der Gesellschaft sehen. In Amerika wirkten alsspiritistische Schriftsteller insbesondere Andreas Jackson Davisdurch eine Unzahl von Offenbarungen triefender Schriften (z. B."Der Reformator", "Der Zauberstab", "Die Prinzipien der Natur"etc.), Richter Edmonds, Prof. Hare, Owen ("Das streitige Land") u.a. In Philadelphia soll auf Grund eines größern Legatssogar eine Professur für spiritistische Philosophie errichtetwerden. In Europa wollte der S. lange Zeit keinen Eingang gewinnen,und bloß einzelne Medien, wie Home, zogen in deneuropäischen Hauptstädten umher, um in hohen undallerhöchsten Privatzirkeln "Sitzungen" abzuhalten. DurchAllan Kardec in Paris nahm die Sache mehr den Charakter der reinenMagie, durch den Baron Güldenstubbe, der in seiner "PositivenPneumatologie" 194 Totenbriefe aus allen Zeiten und in denverschiedensten Sprachen veröffentlichte, denjenigen derNekromantie und durch den Rendanten Hornung in Berlin das Anseheneiner Burleske an. In neuerer Zeit sind indessen in Englandnamhafte Naturforscher, wie Wallace, der Mitbegründer derDarwinschen Theorie und Verfasser der spiritistischen Schriften:"Die wissenschaftliche Ansicht des Übernatürlichen" und"Eine Verteidigung des modernen S.", sowie der Chemiker Crookes("Der Spiritualismus und die Wissenschaft") dafür eingetretenund haben sehr viele Bekehrungen im Gefolge gehabt. In Deutschlandsind erst durch die Bemühungen des russischen StaatsratsAksakow und seines litterarischen Gehilfen Wittig diese Lehrenheimisch geworden, sofern dieselben, in ihrem Vaterland gesetzlichan solchen Bestrebungen verhindert, bei uns eine spiritistischeZeitschrift ("Psychische Studien", Leipz. 1874 ff.)begründeten und Anregung zur Bildung von Vereinen gaben.Schriftstellerisch haben außerdem M. Perty. Zöllner, K.du Prel, Baron Hellenbach u. a. in dieser Richtung gewirkt, undeine neue Monatsschrift: "Die Sphinx" (hrsg. vonHübbe-Schleiden, Hamb. 1886 ff.), dient der weiternAusbreitung. Ob dieser von der streng kirchlichen wie von derliberalen und fortschrittlichen Presse gleich lebhaft angefeindetenBewegung irgend welche nicht durch die bekannten Kräfteerklärbare Thatsachen zu Grunde liegen, wie Hare, Wallace undCrookes behaupten, oder ob eine noch ununtersuchteNerventhätigkeit, resp. das sogen. Od (s. d.), wie andrewollen, dieselben erklären kann, oder ob alles aufbewußter und unbewußter Täuschung beruht, mag derZukunft anheimgestellt bleiben. Vgl. A. Aksakow und K. Wittig,Bibliothek für Spiritualismus (Leipz. 1867-77, bisher 14Bde.); Dixon, Neuamerika (a. d. Engl., Jena 1868); Perty, Derjetzige Spiritualismus (Leipz. 1877); J. H. Fichte, Der neueSpiritualismus (das. 1878); Zöllner, WissenschaftlicheAbhandlungen (das. 1877-81, 4 Bde.); K. du Prel, Philosophie derMystik (das. 1885); Hellenbach, Geburt und Tod (Wien 1885); A.Bastian, In Sachen des S. (Berl. 1886); polemische Schriften vonWundt, Vogel, Nagel, E. v. Hartmann u. a. Über diegewöhnlichen Betrügereien und Entlarvungen der Medienhaben Home (1877), der später selbst wegen Betrug undErbschleicherei verurteilt wurde, und Erzherzog Johann vonÖsterreich (1884) geschrieben.

Spirito (ital.), Geist; con s., mit Feuer.

Spiritualen (neulat.), Sittenaufseher in denPriesterseminaren; dann Partei der strengern Franziskaner (s.d.).

Spiritualis (lat.), geistig, dem Materiellenentgegengesetzt; daher Spiritualien, geistige oder geistlicheAngelegenheiten, Glaubenssachen.

Spiritualisieren (franz.), begeistern; vergeistigen,spiritualistisch auffassen oder gestalten.

Spiritualismus (lat.), dasjenige metaphysisch-psycholog.System, welches die menschliche Seele für ein rein geistigesoder absolut immaterielles Wesen

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Spiritualität - Spiritus.

erklärt (vgl. Pneumatismus). Dann auch s. v. w. Spiritismus(s. d.).

Spiritualität (lat.), s. v. w. Geistigkeit imGegensatz zur Körperlichkeit (Materialität). Vgl.Seele.

Spirituell (lat.), geistig, geistreich, geistlich.

Spirituosen (lat.), geistige, berauschendeGetränke.

Spiritus (lat.), das Wehen des Windes, die bewegte Luft;der Atem, Hauch und, weil dieser als das Belebende (Geistige) desKörpers oder als das erzeugende (Lebens-) Prinzip desselbengedacht wurde, alles Feine, Dünnflüssige, Flüchtige,das zugleich auf den Organismus anregend, belebend einwirkt; daherauch der flüchtige Teil des Weins (Weingeist, vgl. denfolgenden Artikel). S., S. vini rectificatissimus, Alcohol vini,Spiritus vom spez. Gew. 0,830-0,834 (91,2-90 Proz.); S. dilutus, S.vini rectificatus, Mischung aus 7 Teilen Spiritus und 3 TeilenWasser vom spez. Gew. 0,892-0,896 (67,5-69,1 Proz.); S. aethereus,s. Hoffmannsche Tropfen; S. aetheris chlorati, S. salis dulcis, S.muriatico-aethereus, versüßter Salzgeist, s.Salzäther; S. aetheris nitrosi, S. nitri dulcis, S. nitrico-(nitroso-) dulcis, versüßter Salpetergeist, s.Salpetrige Säure; S. ammoniaci caustici Dzondii, alkoholischeAmmoniaklösung; S. Angelicae compositus, zusammengesetzterEngelwurzelspiritus, Destillat von 75 Spiritus und 125 Wasserüber 16 Angelikawurzel, 4 Baldrianwurzel, 4 Wacholderbeeren.Man zieht 100 Teile ab und löst darin 2 Teile Kampfer; S.camphoratus, Lösung von 1 Teil Kampfer in 7 Teilen Spiritusund 2 Teilen Wasser; S. Cochleariae, Löffelkrautspiritus,Destillat (4 Teile) von 3 Teilen Spiritus und 3 Teilen Wasserüber 8 Teile frisches blühendes Löffelkraut; S.ferri chlorati aethereus, s. Bestushewsche Nerventinktur; S.Formicarum, Ameisenspiritus; S. Frumenti, Kornbranntwein; S. fumansLibavii, Zinnchlorid; S. Juniperi, Wacholderspiritus, Destillat (20Teile) von 15 Teilen Spiritus und 15 Teilen Wasser über 5Teilen Wacholderbeeren; S. Lavandulae, Lavendelspiritus, Destillat(20 Teile) von 15 Spiritus und 15 Wasser über 5Lavendelblüten; S. Melissae compositus, Karmelitergeist; S.Menthae crispae, Krauseminzessenz, und S. Menthae piperitae,Pfefferminzessenz, Lösung von 1 Teil Krauseminz-, resp.Pfefferminzöl in 9 Teilen Spiritus; S. Mindereri, s.Essigsäuresalze; S. nitri, Salpetersäure; S. nitridulcis, s. S. aetheris nitrosi; S. nitri fumans, rauchendeSalpetersäure; S. Rosmarini, S. anthos, Rosmarinspiritus, ausRosmarin wie Wacholderspiritus bereitet; S. saponatus,Seifenspiritus; S. salis, Salzsäure; S. salis ammoniacicausticus, Ammoniakflüssigkeit; S. salis dulcis, s. S.aetheris chlorati; S. Serpylli, Quendelspiritus, aus Quendel wieWacholderspiritus bereitet; S. Sinapis, Senfspiritus; S. viniCognac, Kognak; S. sulfuratus Beguini, Lösung vonSchwefelammonium; S. terebinthinae, Terpentinöl; S. vini,Alkohol; S. vitrioli, verdünnte Schwefelsäure. -

In der Grammatik der griech. Sprache bezeichnet S. den starkenoder scharfen und den gelinden oder schwachen Hauch (s. asper unds. lenis), der über jeden Vokal oder Diphthong zu Anfang einesWortes gesetzt und im ersten Fall durch das Zeichen ^?, im zweitendurch ^? [s. Bildansicht] ausgedrückt wird. Vgl. den Artikel"H".

Spiritus (hierzu Tafel "Spiritusfabrikation"), mehr oderweniger reiner Alkohol, aus zuckerhaltigen Flüssigkeiten durchDestillation gewonnen. Früher, als noch der S.größtenteils zum Genuß in der Form von Branntwein(s. d.) bereitet wurde, war die Spiritusfabrikationhauptsächlich Branntweinbrennerei. Der neuere Betriebunterscheidet sich von letzterer durch das Arbeiten ingrößerm Maßstab und auf alkoholreichereDestillate. Im allgemeinen nennt man solche durch Destillationerhaltene Flüssigkeiten Branntweine, welche zum Getränkbestimmt sind und 30-50 Volumprozent Alkohol enthalten; die zuandern Zwecken dienenden, bis über 90 Volumprozent Alkoholenthaltenden, ebenso gewonnenen Flüssigkeiten heißen S.Bei dem Branntwein hat der je nach dem Ursprung (und zum Teil derBereitungsweise) verschiedene Geruch und Geschmack Einflußauf den Handelswert, der wesentliche Bestandteil ist aber stets derberauschend wirkende Alkohol, und beim S. kommt letzterer allein inBetracht, die fremden, riechenden Stoffe, welche als Nebenproduktebei der Alkoholbildung auftreten, werden möglichstvollständig entfernt. Das Produkt heißt dann gereinigterS. (Sprit). Die Darstellung aller dieser Produkte begreift imallgemeinen zwei wesentlich verschiedenartige Arbeiten: dieHerstellung einer alkoholhaltigen Flüssigkeit und dieAbscheidung des Branntweins oder S. aus dieser mittelsDestillation. Die alkoholhaltige Flüssigkeit wird stets durchGärung einer zuckerhaltigen gewonnen. Die Darstellung derletztern aber ist je nach dem zu verarbeitenden Rohmaterial einesehr verschiedene. Als solches kommen nämlich in Betracht: a)feste oder flüssige Stoffe, welche Zucker fertig gebildetenthalten; hierher gehören namentlich Zuckerrüben,Maisstengel, Sorghum, alle Arten Obst und Beeren, Melasse undSirupe sowie andre Rückstände oder Abfälle derZuckerfabrikation, Trester, Honig u. a.; b) Stoffe, welche zwarkeinen Zucker, wohl aber Stärkemehl enthalten, welches durchEinwirkung von Malz (Diastase) in Zucker (Maltose)übergeführt werden kann; dazu gehören: Wurzeln undKnollen, namentlich Kartoffeln (Topinambur), Getreide aller Art,Mais, manche Leguminosen und andre Samen.

Verarbeitung zuckerhaltiger Rohstoffe.

Die zuckerhaltigen Rohstoffe brauchen nur in eine für dieVergärung brauchbare Form (Lösung von bestimmterKonzentration) versetzt zu werden, um durch den Einfluß derHefe in Alkohol und Kohlensäure zu zerfallen. Diestärkemehlhaltigen Stoffe hingegen können erst diegärungsfähigen Zuckerlösungen ergeben, wenn sie derVerzuckerung durch Malz unterlegen haben. Obwohl es viel einfachererscheint, die bereits zuckerhaltigen Rohstoffe zu verwenden,richtet sich doch die Wahl derselben weniger hiernach als nach derBesteuerungsart des betreffenden Landes. Aus diesem Grund wird indem größten Teil Deutschlands, dort, wo der Raum,welchen die gärende Flüssigkeit einnimmt, als Maßfür die zu bezahlende Steuer gilt, derjenige Rohstoff ammeisten benutzt, welcher die am meisten zuckerhaltigen Maischenliefert, d. h. also diejenigen, bei welchen aus einem bestimmtenMaß gärender Maischen am meisten S. gewonnen werdenkann. Dies sind die stärkemehlhaltigen Rohstoffe Getreide,Mais und die Kartoffeln, von zuckerhaltigen nur die Melasse.Ausnahme bilden nur diejenigen Teile Deutschlands, in denen eineandre Besteuerung noch herkömmlich ist, welche dieVerarbeitung von allerhand Obstarten im Kleinbetrieb gestattet.Sollte hier die Steuer nach dem Gärraum bezahlt werden, sowürde der Verbrauch der bezeichneten Rohstoffe unmöglich,weil der Betrieb zu teuer werden würde. Die Benutzung des ingrößten Mengen (im Klima des mittlern Europa, namentlichin Deutschland) zu habenden zuckerhaltigen Rohstoffs, derZuckerrübe, hat in Deutschland selbst in

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Spiritus (aus zuckerhaltigen und stärkehaltigenStoffen).

den Teilen, wo nicht der Gärraum besteuert wird, keineVerbreitung finden können. In Frankreich, wo ein andresSteuersystem herrscht, unter welchem es vorteilhaft ist, wenigergehaltreiche Flüssigkeiten zur Vergärung undSpiritusgewinnung zu benutzen, ist die Verwendung derZuckerrüben zur Spiritusgewinnung in manchen Gegenden sehrverbreitet, vielfach in der Weise, daß man, je nach Handels-und Preisverhältnissen der Jahrgänge, dieRübenernten zur Zuckerfabrikation oder zur Spiritusbereitungbenutzt. Als zuckerhaltiger Rohstoff kommt für Deutschland nurdie Melasse in Betracht, aber auch diese wird jetzt vielfachvorteilhafter auf Zucker als auf S. verarbeitet. Aus Traubenweinwerden namentlich im südlichen Frankreich die gesuchtestenTraubenbranntweine (Franzbranntweine) gewonnen, obwohl immer nurdann, wenn die Verwertung dieses alkoholreichern Produkts einehöhere als die des Weins ist (Rückstände von derWeinbereitung werden stets in ähnlicher Weise verarbeitet).Die Darstellung des zum Branntweinbrennen bestimmten Weins verlangtnicht dieselbe Sorgfalt wie die des Trinkweins, sie zielt aufmöglichste Ausbeutung an Alkohol von reinem Geschmack; die Artdes Abbrennens (s. unten) und der Aufbewahrung ist auf denGeschmack des Produkts von wesentlichem Einfluß. DieRückstände der Weinbereitung liefern denTresterbranntwein, die bei der Gärung abgeschiedene Hefe denDrusenbranntwein.

Aus zuckerhaltigen Stoffen werden in möglichst einfacherWeise Flüssigkeiten hergestellt, welche den gesamten Zuckerdes Rohmaterials in Lösung enthalten, worauf durch Zusatz vonHefe die Gärung eingeleitet wird, bei welcher der Zucker inAlkohol und Kohlensäure zerfällt. Melasse wird unterZusatz von etwas Schwefel- oder Salzsäure und unterErwärmung zu einer Flüssigkeit von 12-25 Proz. Gehaltverdünnt und bei geeigneter Temperatur mit der Hefe(Hefenmaische, Kunsthefe) versetzt. Zur Darstellung von Rum werdenRückstände von der Darstellung des Zuckers aus Zuckerrohrmit Wasser und Schwefelsäure oder Schlempe zuFlüssigkeiten von 14-16 Proz. Gehalt verdünnt und mitHefe zur Gärung gestellt; bisweilen wird Zuckerrohrsaftzugesetzt. Von Obst oder süßen Früchten werdenÄpfel und Birnen, Kirschen, Zwetschen, Brombeeren,Heidelbeeren, Holunderbeeren u. a. benutzt. Aus Äpfeln undBirnen wird durch Zermalmen oder Reiben, aus den andernFrüchten durch teilweises Zerstampfen ein Brei hergestellt unddieser entweder ausgepreßt, oder, und zwar meistenteils,unmittelbar in Tonnen gefüllt, in denen die Masse bald inGärung kommt. In manchen Gegenden, z. B. im Schwarzwald,bildet die Obstbrennerei eine eigentümliche ländlicheIndustrie, die von vielen Tausenden in kleinerm undgrößerm Maßstab betrieben wird; es werden aus deneinzelnen Obstarten ebenso viele verschiedene und zum Teil sehrgeschätzte Trinkbranntweine dargestellt, die durch ganzbestimmten Geschmack gekennzeichnet sind. Nachdem die Gärungbegonnen, werden die Tonnen nach der erfahrungsmäßigbesten Zeit dicht verschlossen und so lange an einem kühlenOrt aufbewahrt, bis die Reihe des Abbrennens an sie kommt; dasAbbrennen dauert das ganze Jahr hindurch, so daß manches Obstein Jahr, Zwetschen auch wohl zwei Jahre und mehr in der Tonneverbleiben; die Dauer dieser überaus langsamen Gärung istvon bestimmtem Einfluß auf die Eigenschaften, namentlich aufdie Klarheit, des Erzeugnisses. Zuckerrüben liefern nebeneinem hohen Spiritusertrag von der Bodenfläche eingeschätztes Viehfutter als Rückstand. Nach Champonnoiswerden die Rüben auf einer Schneidemaschine in Stückegeschnitten, aus diesen wird der Saft durch Auslaugen mitsäurehaltigem Wasser oder mit Schlempe gewonnen und mit Hefeoder mit Hefe enthaltendem, gärendem Rübensaft in raschverlaufende Gärung versetzt. Nach Leplay wird der Saft nichtabgeschieden, sondern innerhalb der gleichfalls in Stückegeschnittenen Rüben dadurch in Gärung versetzt, daßman sie unter einem Zusatz von etwas Schwefelsäure ingärenden Rübensaft bringt. Im erstern Fall wird derRübensaft, im letztern werden die Rübenschnitte alssolche nach Vollendung der Gärung (also nach 1-2 Tagen) derDestillation behufs Abscheidung des Alkohols unterworfen.

Verarbeitung stärkehaltiger Rohstoffe.

Die Verarbeitung der stärkemehlhaltigen Rohstoffe ist inDeutschland von größter volkswirtschaftlicher Bedeutung.Hauptmaterial ist die Kartoffel, welche für großeLänderstrecken mit sandigem Boden das hauptsächlichsteLandesprodukt bildet, aber bei ihrem niedrigen Preis hoheTransportkosten nicht erträgt. Die Umwandlung in ein teureres,verhältnismäßig weniger Gewicht besitzendes unddaher Frachtkosten leicht ertragendes Produkt erscheint um sovorteilhafter, als dabei ein Nebenprodukt, die Schlempe,entfällt, welche ein höchst wertvolles Futtermittelfür Milchtiere ist. Hierin liegt begründet, daß dieSpiritusfabrikation selten als selbständigeGroßindustrie auftritt, sondern ein landwirtschaftlichesGewerbe bildet, welches eine große Viehhaltungermöglicht, so daß der ärmere Boden starkgedüngt werden kann und bei der intensiven Bearbeitung, welchedie Kartoffel erfordert, so wesentlich verbessert wird, daßauch der Getreidebau sich lohnend erweist. Hierbei ist nun aber zubeachten, daß die Kartoffeln zur Verzuckerung desStärkemehls des Malzes und ebenso zur Erzeugung desnötigen Gärmittels der Gerste in solchem Verhältnisbedürfen, daß man auf die Kartoffelernte von je zweioder drei die Gerstenernte von einem Morgen Landes nötig hat.Es muß also die erforderliche, zum Gerstenbau geeigneteLandoberfläche zur Verfügung stehen, oder es mußGerste von außen eingeführt (gekauft) werden. Dazu kommtin neuerer Zeit die Aufnahme des Maiskorns in den Brennereibetriebund eine solche Hebung der Verkehrsmittel, daßgegenwärtig große Mengen Kartoffeln nach entferntenLändern transportiert werden. Die Beurteilung derSpiritusindustrie muß also gegenwärtig wesentlich anderslauten als ehemals. Von Getreide werden vorzugsweise Roggen undMais (bei uns hauptsächlich als Zusatz zu Kartoffeln),außerdem auch Gerste und zuweilen Weizen und Reis auf S.verarbeitet. Wie in der Bierbrauerei werden diese Rohstoffe in derWeise mit Malz behandelt, daß durch die in letztermenthaltene Diastase das Stärkemehl in Dextrin und Zuckerverwandelt wird. Abweichungen ergeben sich aber insofern, als beider Bierbrauerei Dextrin erhalten bleiben soll, während dieSpiritusfabrikation eine möglichst vollständigeVergärung bezweckt. Das bei der Verzuckerung desStärkemehls durch Malz neben Zucker (Maltose) gebildeteDextrin ist in der Zeitspanne, welche in der Praxis der Brennereifür die Alkoholgärung eingehalten wird, als direktunvergärbar zu betrachten, und doch vergärt es, indemnach der Zersetzung der Maltose durch die Hefe die aus demVerzuckerungsprozeß noch aktiv zurückgebliebene Diastasenunmehr auch das Dextrin in gärungsfähigen Zuckerverwandelt. Es ist mithin sehr wesentlich, in der Maische nochDiastase für die

162a

Spiritusfabrikation.

Fig. 1. Lacambres Maischapparat (Querschnitt).

Fig. 3. Hollefreunds Apparat (Querschnitt)

Fig. 4. Hollefreunds Apparat (Grundriß).

Fig. 2. Kartoffelmaischapparat (Durchschnitt).

Fig. 7. Hentschels Apparat (Durchschnitt).

Fig. 6. Pauckscher Apparat (Durchschnitt).

Meyers Konv.- Lexikon, 4. Aufl.

Zum Artikel : Spiritus K.

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Spiritus (Maischverfahren).

Alkoholgärung zu erhalten. Die nachwirkende Kraft derDiastase wird zerstört durch zu hohe Temperatur und durch inder gärenden Maische vorhandene Milchsäure.

Bei der Verarbeitung von Getreide auf Kornbranntwein wird einGemenge von Roggen mit Weizen- oder Gerstenmalz oder Weizen mitGerstenmalz, und zwar 1 Teil Malz auf 2-3 Teile ungemalztesGetreide, möglichst fein geschroten, um eine vollständigeEinwirkung der Stoffe aufeinander zu erreichen, und eingemaischt.In England zieht man wie bei der Bierbrauerei eine wirklicheWürze, in Deutschland dagegen läßt man die ganzeMaische mit den Trebern gären. Bei der Maischraumsteuer liegtes im Interesse des Brenners, den Maischraum möglichstauszunutzen und eine möglichst konzentrierte Maischeherzustellen, anderseits ist eine vollständige Verzuckerungund Vergärung nur bei einer gewissen Verdünnung derMaische möglich. Man hat früher mit 8 Teilen Wassergearbeitet und ist bis auf 3,75 herabgegangen, hält jetzt aberdas Verhältnis von 1 : 4,5 für das vorteilhafteste.Kartoffeln werden gewaschen, mit Dampf gekocht, zerkleinert und mitGerstenmalz (bisweilen unter Zusatz von Roggenmalz) gemaischt. Auf100 Teile Kartoffeln rechnet man 3-5 Teile Gerste (als Malz). DieKonzentration der Maische wird etwas stärker genommen als beimGetreide, indem man auf 1 Teil Trockensubstanz 4,5, 4 und selbstnur 3 Teile Wasser nimmt. Es ist klar, daß der großeWassergehalt der Kartoffeln bei diesem Verhältnis in Abzuggebracht wurde. Als Regel für die anzuwendenden Temperaturenhat sich ergeben, daß beim Maischen mit dem Malz 61°nicht überschritten werden soll, u. daß 20 Minuten zurVerzuckerung ausreichen.

Maischverfahren.

Das Maischen wird in kleinern Brennereien durch Handarbeit, ingrößern mittels Maischmaschinen bewirkt, dieerforderliche Temperatur teils durch Erhitzen des zum Maischenverwendeten Wassers, teils durch Einleiten von Dampf erzielt. Beider Handarbeit wendet man zum gründlichen DurcharbeitenMaischhölzer, bei der Maschinenarbeit ähnlicheVorrichtungen an, wie sie bei der Kartoffelbrennerei üblichsind (s. unten). In Belgien und Frankreich wird vielfach derLacambresche Maischapparat (s. Tafel, Fig. 1) benutzt, welcher diebeste Durchmaischung und die Herstellung jeder Temperatur invorteilhafter Weise gestattet. Es ist ein liegender, obenabgeschnittener und offener, an beiden Enden durch Seitenwändegeschlossener, etwa 2 m langer Cylinder von Eisenblech mitRührwerk und Mantel. a ist der innere, zur Maischarbeitdienende Raum, b der Raum zwischen Cylinder und Mantel, e eineÖffnung zum Einlassen, d ein Ablaßrohr für Dampfoder Wasser, e' das Ablaßrohr für die fertige Maische.Ein Rührwerk, dessen Achse die Mitte des Cylinders einnimmt,hat eine Anzahl eine Schraubenlinie darstellender, mit eisernenRechen, Rahmen und Querstäben oder Gittern versehener Arme undmacht etwa 25 Umdrehungen in der Minute, so daß einevollkommene, beliebig lange fortzusetzende Durcharbeitung der Massegeschieht, während der den Zwischenraum b durchströmendeDampf die Erhitzung bewirkt. Die gewaschenen Kartoffeln werden nachdem ältern Verfahren mittels frei einströmenden Dampfesin (meist hölzernen) Bottichen (Dampffässern) gekocht,noch heiß mittels Quetschwalzen oder mittels andrerVorrichtungen zerdrückt und dann unter Zusatz derverhältnismäßigen Quantität Wasser mit dem(meistens Grün-) Malz vermischt; dieses Einmaischen geschiehtauf verschiedene Weise, je nachdem man die ganze Menge Malz undKartoffeln zugleich maischt oder die Kartoffeln in kleinernAnteilen zu dem vorher eingemaischten Malz bringt oder endlich dieKartoffeln in kleinern Mengen ebenfalls mit Anteilen des Malzesmischt, bis die Masse jedesmal durch die Zuckerbildungdünnflüssig geworden ist. Die Einrichtung der zumEinmaischen der Kartoffeln angewandten Maischbottiche ist eine sehrmannigfaltige; ein Beispiel zeigt Fig. 2 der Tafel. a ist dasKartoffeldampffaß, b der hölzerne Trichter, mittelsdessen die entleerten Kartoffeln zwischen die Quetschwalzen d dgeleitet werden; diese sind durch die Schraube e gegeneinanderverstellbar und erhalten ihre Bewegung durch c; diezerdrückten Kartoffeln fallen in den Bottich g, in dem sichein durch p q, r n bewegtes, um die auf dem Lager m ruhende Achse osich drehendes Rührwerk befindet, welches aus dem Arm t undaus Rahmen mit Querstäben u s besteht, die sich währenddes Umlaufs der Mittelachse um ihre eigne horizontale Achse s sdrehen. f h sind Röhren für Wasser und Dampf, k i derAblaß für die fertige Maische, l ein Ventil zum Reinigendes Bottichs.

Nach den neuern Maischverfahren werden die Kartoffeln sowie auchGetreide und besonders in neuerer Zeit auch Mais, letzterer ineingequelltem Zustand, in geschlossenen Gefäßen untereinem Druck von 2-3 Atmosphären und bei der demselbenentsprechenden höhern Temperatur gedämpft, hierauf,vollends zerkleinert, in geeigneten Kühlapparaten auf dieZuckerbildungstemperatur gebracht, bei welcher das Zusetzen desMalzes und hierauf die Umwandlung des Stärkemehls in Zuckererfolgt, dann einige Zeit, wie bei dem ältern Verfahren,dieser Einwirkung überlassen und schließlich durch einezweite Abkühlung auf die Gärungstemperatur gebracht.Zweck dieser Art zu arbeiten ist ein vollständigeresAufschließen und Löslichmachen der Stärke in Formvon Zucker und folgerichtig eine höhere Ausbeute an S., unddieser Zweck wird in so sicherer Weise erreicht, daß man dasältere Verfahren durch eine ganze Reihe auf demselben Grundberuhender, in der Ausführung jedoch verschiedener Verfahrenallmählich ersetzt. Das erste dieser Verfahren war dasHollefreundsche, bei welchem nach dem Erhitzen der Kartoffeln aufdie angegebene Höhe eine plötzliche Verminderung desLuftdrucks durch Kondensation des Dampfes und eine Luftpumpeangewandt und die Masse zugleich energisch umgerührt wird.

Fig. 3 und 4 der Tafel stellen einen in dieser Weise wirkendenApparat dar. A ist der auf dem Gestell L ruhende eiserneMaischcylinder mit dem auf der Achse o sitzenden Rührwerk C,dem Mannloch b und dem Dom B, D der Kondensator mit der Luftpumpe.Das Rührwerk wird durch die Teile K M f betrieben. DieKartoffeln werden nebst etwas Wasser durch das Füllloch aeingeschüttet, worauf alles fest verschlossen und durch dasRohr o s i mit den Ventilen k l Dampf zugelassen wird, welcherdurch die kleinern Rohre mit Ventilen k k k in den Cylindergelangt. Nachdem in diesem die gewünschte Spannung undTemperatur eingetreten, wird das Rührwerk eine Zeitlang inThätigkeit gesetzt, sodann der Dampf abgesperrt und durchÖffnung von m der im Cylinder vorhandene durch das Rohr p insFreie entlassen, worauf die Temperatur auf 100° und dieSpannung auf 0 herabgehen. Hierauf wird die Luftpumpe in Betriebgesetzt und durch p und Q Wasser bei D in den Kondensatoreingelassen. Hierdurch finden eine rasche Verminderung des Druckesim In-

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Spiritus (Maischmaschinen).

nern des Apparats unter den der Atmosphäre und einHerabgehen der Temperatur statt. Sobald die zur Zuckerbildunggeeignetste erreicht ist, wird durch Öffnen desVerbindungshahns H das mit Wasser zu einem feinen Brei angemachte,im Bottich E befindliche Grünmalz in den Cylinder A (infolgeder hierin hervorgebrachten Luftverdünnung) eingesaugt und mitdem Kartoffelbrei durch das Rührwerk wohl vermischt. Nun wirddie Luftpumpe stillgestellt, der Cylinder geöffnet und dieMasse unter jeweiligem Umrühren der Zuckerbildungüberlassen; ist diese vollendet, so wird die Maische auf denKühlschiffen oder in einem mit dem Apparat verbundenenKühler auf die Gärungstemperatur abgekühlt.

Ähnlich ist der Apparat von Bohm, der aber ohne Luftpumpearbeitet und das Kühlen der heißen Maische durch eineVerbindung von Rühr- und Kühlvorrichtung bewirkt. DasRührwerk besteht aus flachen cylindrischen Gefäßenaus Eisenblech, die an ihren Flächen messerartigeVorsprünge tragen und auf einer hohlen Achse derartigangebracht sind, daß das Kühlwasser durch die Cylindergehen und durch die ein Doppelrohr vorstellende hohle Achse wiederaustreten kann. Von außen wird die Kühlung des Apparatsdurch Aufspritzen von kaltem Wasser bewirkt. Dasselbe Ziel wie dievorigen Apparate, aber mit den einfachsten Mitteln, verfolgt derHenzesche Dämpfer, der, wie Textfigur 1 zeigt, nur einverbessertes Dampffaß ist, in welchem die Einwirkunghöher gespannter und entsprechend heißerer Dämpfemöglich ist, eine Einwirkung, welche bis zum Austritt derMasse aus dem Dämpfer dauert, wobei diese durch den gespanntenDampf in außerordentlich feiner Verteilung in das eigentlicheMaischgefäß geblasen wird. Der eiserne Cylinder A istmit dem konischen Bodenansatz B versehen, welcher in das Ablauf-oder vielmehr Ausblaserohr C übergeht. D D' sind dieEinlaßröhren für den Dampf, d ein Verschlußzum Reinigen des Ausblaserohrs, e das durch das Handrad fverstellbare Ventil zum Regulieren des Ausblasens. Das Mannloch adient zum Einfüllen der Kartoffeln und wird dann dichtverschlossen; b ist ein Sicherheitsventil. Wenn die Einwirkung deshoch gespannten Dampfes auf die im Dämpfer befindlichenKartoffeln beendet ist, werden diese durch Öffnen des Ventilsin einem passenden, mit Rührwerk versehenen Maischbottichausgeblasen, in welchem bereits ein Teil des zur Verzuckerungerforderlichen Malzes, mit Wasser zu einem Brei angerührt,sich befindet. Bei langsamem Ausblasen reicht die Verdunstung derzerstäubenden Masse aus, diese auf dieZuckerbildungstemperatur abzukühlen. Indessen sind dieMaischbottiche meist mit Vorrichtungen versehen, welche dieerforderliche Abkühlung durch Wasserströmungen bewirken.Wenn das Ausblasen beendet ist, wird das noch fehlende Malzzugesetzt, die Zuckerbildung abgewartet und dann die verzuckerteMaische vollends zur Gärtemperatur gebracht, und zwar entwederunter Anwendung der oben bezeichneten Wasserkühlung oder inderselben Art wie bei der ältern Arbeitsweise, nämlichauf Kühlschiffen mit Hand- oder Maschinenbetrieb. DerHenzesche Dämpfer ist mehrfach verbessert worden. DurchModifizierung der Dampfeinströmung hat man eine wirbelndeBewegung des zu dämpfenden Materials erreicht, und diese hatsich namentlich bei Verarbeitung von Mais und Roggen in demursprünglich nur für Kartoffeln konstruiertenDämpfer bewährt. Um beim Ausblasen eine vollkommnereZerkleinerung des Materials zu erreichen, wurden verschiedeneVorrichtungen angebracht; man ging aber in derselben Richtung nochweiter und konstruierte Nachzerkleinerungsapparate, welche eine bisdahin nicht gekannte feine Zerteilung des Materialsherbeiführen. Der Apparat von Ellenberger ist dem sogen.Holländer der Papierfabriken nachgebildet und demBrennereibetrieb angepaßt. Die gar gedämpfte Kartoffel-oder Getreidemasse wird ausgeblasen und fällt auf die 200malin der Minute sich drehende Trommel des Holländers, derenZähne, wie die der Grundplatte, eine besondere Form haben. DerApparat arbeitet anerkanntermaßen vorzüglich und istsehr verbreitet. Beim Dämpfen von Mais und Getreide wirdaußerdem der Dämpfer selbst mit einem sehr wirksamenRührwerk an horizontaler Achse versehen. Eine hervorragendeStellung nimmt der Apparat von Paucksch (Fig. 5 u. 6 der Tafel)ein. Außer dem eigentümlich gestalteten Dämpferbesitzt derselbe einen Vormaischbottich, der aus einemschalenförmigen Unterteil mit cylindrischem Aufsatz besteht.Auf dem Boden ist der Zentrifugal-Maisch- und Zerkleinerungsapparatangebracht; er besteht aus einer festliegenden Grundplatte undeinem Flügelrad als Läufer, welches 300-400 Umdrehungenmacht. Vermöge seiner Einrichtung saugt er die Maische durchvier Öffnungen ein und wirft sie nach dem Mahlenseitwärts aus. Ein Rührwerk ist nicht vorhanden, derMaischraum daher frei und so für die Beobachtung derTemperatur zugänglich. Die Bewegung der Maische ist eineäußerst heftige und doch zugleich eine höchstregelmäßige, die Wirkung gründlich. Die kleinenApparate werden mit Mantel für Wasserkühlungeingerichtet. Der Maischapparat von Hentschel (Fig. 7 der Tafel)hat ebenfalls eine ausgezeichnete Maischwirkung. Er besteht auseinem doppelwandigen Vormaischbottich mit trichterförmigemdoppelten Boden und einem eigentümlichen Zerkleinerungs- u.Maischapparat. Durch das unter diesem befestigteSchneckengehäuse mit aufgeschraubtem Mahlring und die aufrechtstehende rotierende Welle, auf welcher der gerippteZerkleinerungskonus gemeinschaftlich mit den ansaugenden Schneckenfestsitzt, wird die Maische in Bewegung gesetzt. Das aus demDämpfer ausgeblasene Maischgut fällt in dieschüsselförmige Vertiefung des Zerkleinerungsapparats,wird von diesem in parabolischer Richtung ausgeworfen, gleitet ander innern Wandung des Bodens herab und wird durch den-

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Spiritus (Verarbeitung der Maische).

trichterförmigen Boden der anhängenden Schneckezugeführt und im Zerkleinerungsapparat vermahlen. Die Bewegungist eine so lebhafte, daß die im Bottich befindliche Maischein eine starke Rotation versetzt wird. Die innere Wandflächeist mit Rippen versehen, und wenn die Maischekühlungbeabsichtigt wird, werden außer der Wandkühlung nochKühlröhren angewendet.

Kein Zweig der Spiritusfabrikation hat in der neuern Zeit sobedeutende Fortschritte gemacht wie die Verarbeitung des Maises inden Hochdruckapparaten. Man bringt die ganzen Körner in denHenzedämpfer, welcher auf 100 kg Mais 130-200 kg Wasserenthält, kocht bei offenem Mannloch unter lebhafter Bewegungdes Maises eine Stunde lang, schließt dann das Mannloch,dämpft wieder eine Stunde unter steigendem Druck, zuletzt eineViertelstunde bei wenigstens drei Atmosphären und blästendlich unter diesem Druck aus. Soll der Mais mit Kartoffelnverarbeitet werden, so maischt man ihn, nachdem er abgekühltist, für sich ein, verteilt ihn mit der erforderlichen Hefeauf zwei oder drei Gärbottiche und setzt die Kartoffelmaischezu. Auch Roggen wird jetzt in ganzen Körnern imHenzedämpfer verarbeitet. Während bei dem alten Verfahrendurchschnittlich 18,7 Proz. Stärke unvergoren blieben, betrugder Verlust bei Hollefreund 6,9, bei Bohm 7,2, bei Henze, beiEllenberger 4,6-6,6 Proz. 1 kg Stärkemehl gibt theoretisch71,7 Literprozent (s. unten) Alkohol; da jedoch thatsächlichnur 94 Proz. dieser Menge in Rechnung gezogen werden können,so ergeben sich als erreichbarer Maximalbetrag nur 67,4 Literproz.In der Praxis erhielt man nach dem alten Verfahren 45,3 Proz., nachHenze 48,4, nach Hollefreund 50,5 und nach Bohm 53,8 Proz.

Verarbeitung der Maische.

Die verzuckerte Maische muß so schnell wie möglichauf die zum Hefengeben und zum Einleiten der Gärungerforderliche Temperatur (12-17°) abgekühlt werden. Diesgeschah früher auf Kühlschiffen, flachenGefäßen von solcher Größe, daß dieMaische darin nur eine dünne Schicht bildet, derenAbkühlung noch durch Umrühren und starken Luftwechselbefördert wird. In neuerer Zeit wendet man häufigerkaltes Wasser und Eis in Oberflächen- oderRöhrenkühlern oder in Rührwerken mit hohlenSchaufeln an. In dem oben erwähnten LacambreschenMaischcylinder wird kaltes Wasser durch den Zwischenraum bgeleitet, während das Rührwerk in Thätigkeit ist. Indem Kühlapparat von Hentschel (Textfigur 2) wird die durch denFülltrichter a in den Kühltrog c c einfallende Maischevon der sich drehenden kupfernen Spirale e erfaßt und derAusgangsöffnung k zugeführt. Das Kühlwasser trittdurch das Rohr m in die Hohlwelle d, aus dieser in die Spirale eund fließt bei k wieder ab. Um auch die Wandungen des Trogsfür eine möglichst vollkommene Kühlung nutzbar zumachen, ist der Trog doppelwandig und wird durch das Rohr l in denHohlraum Wasser geleitet. Ein kleinerer Teil des austretendenKühlwassers bewirkt schließlich auch noch eine innereKühlung der Hohlwelle d. Die wasserführende Spirale istaus einzelnen Scheiben hergestellt, die nur teilweise eintauchenund daher auch eine Kühlung durch Verdunstung bewirken.

Die auf die eine oder die andre Weise erhaltenengärungsfähigen Flüssigkeiten, d.h. im wesentlichenTraubenzuckerlösungen von passender Verdünnung undTemperatur, sollen nunmehr unter dem Einfluß der Hefe sozersetzt werden, daß der Zucker möglichstvollständig in entweichende gasförmige Kohlensäureund zurückbleibenden, in der Flüssigkeit als Lösungzu erhaltenden Alkohol zerfällt. Am einfachsten setzt man denMaischen die als Nebenprodukt andrer Gewerbe (Bierbrauerei)erhaltene Oberhefe oder in besondern Gewerben bereitete Hefe(Bierhefe, Branntweinhefe, Preßhefe) zu. Nicht immer aber istdieselbe in der erforderlichen Menge und Beschaffenheit zuerhalten, und es ist daher in denjenigen Ländern, in welchendie Steuergesetze kein Hindernis bilden, allgemein an Stellederselben die Kunst- oder Maischhefe (s. Kunsthefe) getreten.Dieses Verfahren ist in Deutschland und Österreich allgemeinsowohl in Melasse- als in Getreide- und Kartoffelbrennereienüblich, obwohl in der Art der Herstellung und Fortführungdieser Nebenmaische sehr vielfach verschiedene Methoden befolgtwerden. Dagegen wird in Frankreich und Belgien fast nur Bier- oderPreßhefe benutzt. Man rechnet auf 100 kg 1 bis 2 Lit. breiigeHefe oder 0,75-1 kg Preßhefe. In allen Fällen wird dieGärung der Hauptmaische in großen hölzernen, meistoffenen Gefäßen, Bottichen, bewirkt, und man sucht es soeinzurichten, daß sie möglichst energisch undvollständig und in derjenigen Zeitdauer (in 1-3 Tagen)verläuft, welche unter den bestehenden Steuergesetzen als dievorteilhafteste erscheint. Die Temperatur steigt dabei bedeutendund dient ebenso wie die Abnahme der Dichtigkeit (infolge derstattfindenden Zersetzung des Zuckers) als ein Erkennungsmittelfür den Verlauf und die Beendigung der Gärung. Die durchdie Gärung erzielte alkoholhaltige Flüssigkeit, dieweingare Maische, enthält außer Alkohol verschiedeneMengen fremder Stoffe, von denen der Alkohol getrennt werdenmuß. Diese fremden Bestandteile rühren teils von demRohmaterial her, welches ja nicht reiner Zucker war und also nichtvöllig in Alkohol oder Kohlensäure übergeführtwerden kann, teils sind es Nebenprodukte der Gärung selbst.Der Gehalt an reinem Weingeist beträgt durchschnittlich 5-10Proz. Denselben in konzentrierter Gestalt und frei von denübrigen Bestandteilen der Maische zu erhalten, ist der Zweckder Destillation (s. d.), des Abtreibens oder Abbrennens. ReinesWasser kocht bei 100° C., reiner Alkohol bei 78,3°. DerSiedepunkt

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Spiritus (Darstellung des Trinkbranntweins).

eines Gemisches von Alkohol und Wasser liegt zwischen diesenbeiden Punkten und ist im allgemeinen um so höher, je geringerder Alkoholgehalt desselben ist. Wird ein solches der Destillation,d. h. dem Kochen in einem Apparat, unterworfen, welcher dievollständige Wiederverdichtung des gebildeten Dampfes in einemandern Teil des Apparats durch Abkühlung gestattet, soerhält man aus dem Dampf eine Flüssigkeit, ein Destillat,welches im Verhältnis zum Wasser mehr Alkohol enthält alsdie siedende Flüssigkeit. Der einfachste Destillationsapparat,bei welchem der aus der kochenden weingaren Maische sichentwickelnde Dampf sofort vollständig verdichtet wird, liefertein alkoholarmes Produkt (Lutter, Läuter, Lauer), aus welchembei abermaliger Destillation (Rektifikation) ein alkoholreicheresProdukt erhalten werden kann. Die verschiedenen Apparate, welchegegenwärtig bei der Spiritusfabrikation in Anwendung sind,liefern sofort ein alkoholreiches Produkt (bis 95 Proz.) undführen die Verdichtung des letzten alkoholreichen Dampfes insehr verschiedener Weise und mit sehr verschieden gestaltetenApparatteilen aus. Bei dem einfachsten Destillationsapparat benutztman zur Verdichtung der Dämpfe kaltes Wasser, bei denvollkommnern aber Maische, die bei dieser Verwendungvorgewärmt wird; anderseits schaltet man zwischen Blase undKühler Verstärkungsvorrichtungen (Verdampfer undNiederschlagsvorrichtungen) ein und trifft Vorkehrungen, um denvollständigen Abtrieb (namentlich durch Anwendung zweierBlasen) zu sichern. In Deutschland war Pistorius der erste, welcherzwei Brennblasen statt einer anwandte und mit den BlasenRektifikatoren und Dephlegmatoren auf sehr zweckmäßigeWeise verband. Wenn man von einem normal konstruierten Apparatverlangt, daß man mit seiner Hilfe nicht nur allen Alkoholaus der Maische, sondern denselben auch möglichst reinkonzentriert und zwar mit dem geringsten Aufwand an Zeit,Arbeitslohn und Brennstoff erhalte, so muß man anerkennen,daß der Apparat von Pistorius viel leistet. Es wird ihmdeshalb in Norddeutschland (viel weniger in Süddeutschland, womehr der Gallsche Apparat eingeführt ist) meist der Vorzug vorandern Brennapparaten gegeben, zu deren Konstruktion derPistoriussche Apparat in vielen Fällen der Ausgangspunkt war(vgl. Destillation, S. 721).

Sehr gebräuchliche Apparate sind ferner: der PistoriusscheApparat mit direkter Feuerung, der Pistoriusschesäulenförmige Apparat, der Gallsche Wechselapparat,außerdem die Apparate von Neumann, Dorn, Egrot, Siemens undbesonders auch der kontinuierlich arbeitende Apparat von Ilges, derbeim ersten Abtrieb S. von mindestens 94 Proz. liefert (s.Destillation, S. 723). Eine besondere Art der zusammengesetztenApparate bilden die namentlich von Savalle gebauten Säulen-oder Kolonnenapparate, welche besonders in Frankreich und Belgienin außerordentlicher Anzahl verbreitet sind, und derenHauptteil die verschiedenen Arten Verdampfungskapseln bilden. DieSäulenapparate sind meistens für kontinuierlichen Abtriebeingerichtet und enthalten in vielen Fällen keine eigentlicheBlase. Die Verstärkungseinrichtungen sind bei denselbenvielfach nicht sehr ausgeprägt, und sie werden dann nur zurHerstellung von 35-50proz., oft sogar nur von 25proz. Destillatenbenutzt. Sie sind vorzugsweise für starken,fabrikmäßigen Betrieb bestimmt und setzen, wenn 80proz.S. erzeugt werden soll, eine zweite Destillation oder dieHinzufügung von in Frankreich und Belgien nicht üblichenVerstärkungseinrichtungen voraus. Ein in Frankreichverbreiteter Apparat für kontinuierlichen Betrieb ist endlichder von Derosne verbesserte von Cellier-Blumenthal (s.Destillation,. S. 722). Es ist der älteste dieser Art und warursprünglich nur für die Destillation von Wein (s. oben)bestimmt; doch dient er jetzt auch zur Destillation von anderngegornen dünnen oder klaren Flüssigkeiten, wie z. B.Rübensaft. Für dicke Maischen, wie die in Deutschland zuverarbeitenden, ist er nicht verwendbar.

Um Trinkbranntwein zu erhalten, wird in zweierlei Weiseverfahren: Ein Teil des aus verschiedenen Rohstoffen erzeugtenalkoholischen Destillats von 80-82 Proz. (Rohspiritus) wirdunmittelbar mit Wasser auf die verlangte Branntweinstärkeverdünnt, zuweilen durch eine Filtration über Holzkohlein geringem Maß von den in dem Rohspiritus stets alsNebenprodukt der Gärung enthaltenen, unangenehm riechenden undschmeckenden Fuselölen gereinigt und außerdemöfters mit aromatischen, bittern etc. Stoffen versetzt. Indieser Weise werden nur sehr unreine und fuselig schmeckendeBranntweine erhalten. Reinere und ganz reine Branntweine bereitetman aus 90-94proz. Sprit, wie derselbe durch Verfeinerung(Raffinierung) des Rohsprits erhalten wird. Die reinsten in dieserWeise erzielten Produkte sind das Material, aus welchem dieLiköre und sonstige zusammengesetzte weingeistigeGetränke fabriziert werden. Die weitaus größereMenge eigentlichen Trinkbranntweins wird aber so erhalten,daß man die gewünschte geringe Stärke des Produkts(40-50 Proz.) unmittelbar durch Destillation solcher Maischenerzielt, welche eigens zu diesem Zweck hergestellt werden, und auswelchen dann eigentlicher, reinerer S. nicht gewonnen wird. DieseArt, Trinkbranntwein darzustellen, ist in allen Länderngebräuchlich, jedoch je nach dem Geschmack des Publiku*ms undder Art des Rohmaterials verschieden. Der Absatz des Branntweinsist an den durch Herkommen und Gewohnheit beliebten Geschmackdesselben gebunden, und es haben sich demnach in den verschiedenenGegenden etwas abweichende Branntweinbrennerei-Methodenherausgebildet, welche, Verbesserung durchweg verschmähend,darauf gerichtet sind, dem Produkt gewisse Beimengungen (meist zuden oben erwähnten Fuselölen gehörig) in sehrgeringem Verhältnis zu erhalten, welche den besondern, von demdes reinen, verdünnten Alkohols abweichenden Geschmackbedingen. So wird z. B. in Deutschland in kleinen Brennereien ausder vergornen Weizen- und Gerstenmalzmaische zuerst durch Abtriebin der einfachen Blase über freiem Feuer Lutter dargestelltund aus diesem durch eine zweite Destillation in derselben WeiseBranntwein von der gewünschten Stärke gewonnen. InBelgien wird der sogen. Genever sowohl in kleinen als in kolossalenfabrikmäßigen Brennereien aus Roggenmaische erhalten,welche man zuerst mittels eines kontinuierlich arbeitendenSäulenapparats mit ununterbrochenem Dampfbetrieb zu Lutter vonetwa 30-35 Proz. abbrennt. Dieser Lutter wird dann ausnahmslos inganz einfachen Blasen ohne jede Verstärkung über freiemFeuer abgetrieben und so Branntwein von der gewünschtenStärke erhalten. Wacholder wird nicht zugesetzt. Der Abtriebdes Obstbranntweins aus den verschiedenen Obstmaischen (s. oben)geschieht im Kleinbetrieb (z. B. im Schwarzwald)ausschließlich in ganz kleinen, einfachen kupfernen Blasen,welche auf freiem Feuer erhitzt werden. Es wird zwei- oder dreimalgebrannt, also zuerst aus der Maische (durch

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Spiritus (Benutzung, Ausbeute, Produktionsstatistik).

das Rauchbrennen) 15-20proz. Lutter, dann aus diesem (durch dasLäutern) mittels derselben Blase das fertige Produkt erhalten.Zuweilen wird noch ein drittes Mal geläutert. Weinbranntwein,Franzbranntwein, Kognak werden in Frankreich aus Wein, entwedermittels des Apparats von Cellier, Blumenthal und Derosne (s. oben)oder auch mittels der einfachen, im Wasser- oder Dampfbad erhitztenBlase, erhalten. Für die feinern Branntweine wird derNachlauf, d. h. der gegen Ende des Abtriebs kommendeschwächere Branntwein, wegen seines geringern Geschmacksgetrennt aufgefangen.

Wie schon angedeutet, enthält das Destillat aller weingarenMaischen flüchtige Stoffe, die demselben einen besondernGeschmack geben und unter dem Namen Fuselöle (s. d.)zusammengefaßt werden. Sie sind weniger flüchtig alsWasser und treten erst in der letzten Periode der Destillation auf.Außerdem kommen noch andre riechende und schmeckende Stoffevor, welche, leichter flüchtig als Alkohol, bei derDestillation zuerst erscheinen und hauptsächlich aus Aldehydbestehen. Um den Branntwein oder Rohspiritus von diesen Stoffen zubefreien (denselben zu raffinieren), behandelt man ihn zuweilen mitHolzkohle; meistens aber wird zugleich mit Herstellung von starkemS. (die Rektifikation zu Ware von 90 und mehr Prozenten) eineTrennung der zu Anfang, Mitte und Ende der nochmaligen Destillationzu erhaltenden Produkte vorgenommen und so, unter Benutzung derverschiedenen Flüchtigkeit der bezeichneten Stoffe, ein reinesProdukt, der Sprit, erhalten. Das Verfahren stellt also imwesentlichen eine unterbrochene Destillation dar; die Apparate sindhauptsächlich Säulenapparate mit Blase und kräftigenVerstärkungseinrichtungen. Man erhält Vorlauf, reinstenSprit von etwa 90-93 Proz., und dann Nachlauf, die getrenntaufgefangen werden. Alle Kühlvorrichtungen derDestillationsapparate endigen mit einem sogen. Verschluß(Ablauf, Glocke). Ein solcher (Textfig. 3) besteht z. B. aus einerzweischenkeligen Röhre t t, welche bei s an das Ende derSchlange p p befestigt ist. Der eine Schenkel erweitert sich obenzu einem mit einer Glasglocke bedeckten Trichter w mit demAbfluß v und enthält ein Alkoholometer, so daß mandie Beschaffenheit des Destillats beständig beobachten kann.Das Rohr x dient zum Entweichen von Luft aus dem Apparat und vonKohlensäure aus der Maische. Soll das Destillat je nach seinerReinheit nach verschiedenen Behältern geleitet werden, so sindweniger einfache Verschlüsse erforderlich. Der Ablauf vonSavalle (Textfig. 4) gestattet nicht nur die Beobachtung desAlkoholgehalts des Destillats und die beliebige Ableitung, sondernauch das Abmessen der in einer gewissen Zeit geliefertenFlüssigkeit. b ist das Zuflußrohr vom Kühlapparat,c der Ansatz für den Ablauf mit dem Probehähnchen d; dieVerschlußglocke e enthält ein Aräometer und dieMeßröhre, welche durch den Boden der die Glocketragenden Schale l hindurchgeht. f ist die Öffnung fürden Abfluß, g die Verteilungskugel mit den Leitungen h i knach den verschiedenen Behältern. Der zuströmende S.fließt durch f ab, steigt aber teilweise nach e, übt vonhier aus einen Druck auf den Abfluß durch f und setzt sichmit diesem ins Gleichgewicht. Die Größe der Öffnungf wird durch besondere Versuche so reguliert, daß die Zahlenan der Meßröhre den Abfluß in einer bestimmtenZeit ergeben. Steigt die Flüssigkeit in e, so fließtdurch f mehr S. ab, weil der Druck größer wird. Wenn derBrennapparat und der Kühler gleichmäßig arbeiten,erscheint der Stand der Flüssigkeit in e vollkommen ruhig undunveränderlich; jede Unregelmäßigkeit im Betriebwird hier sofort erkannt.

Man benutzt S. zu Getränken (Branntwein, Likör), alsLösungsmittel zur Darstellung von Tinkturen, Firnissen,Parfümen, Extrakten, Alkaloiden, auch in der Färberei undRübenzuckerfabrikation, ferner zur Bereitung von Essig,Äther, Chloroform, Chloralhydrat, zusammengesetztenÄthern, Aldehyd, Knallsäuresalzen, Soda, Pottasche,Teerfarben und vielen andern Präparaten, zum Konservierenfäulnisfähiger Substanzen, als Brennmaterial, zumFüllen von Thermometern, zur Regeneration alterÖlgemälde, als Arzneimittel etc. - Was die Ausbeutebetrifft, so sollten Stärkemehl 56,78 Proz., Rohrzucker 53,8,Traubenzucker 51,1 Proz. Alkohol liefern, thatsächlich abererhält man weniger, z. B. aus Rohrzucker nur 51,1 Proz.Alkohol. In der Praxis liefern:

100 kg Gerste . . 44,64 Liter S. von 50 Proz. Tr.

100 " Gerstenmalz 54,96 " " " 50 " "

100 " Weizen . . 49,22 " " " 50 " "

100 " Roggen . . 45,80 " " " 50 " "

100 " Kartoffeln . 18,32 " " " 50 " "

Multipliziert man die Literzahl mit dem Alkoholgehalt inVolumprozenten, so erhält man Literprozente. Ein metrischerZentner Gerste liefert danach 2232, Gerstenmalz 2748, Weizen 2461,Roggen 2290, Kartoffeln 916 Literprozent Alkohol. Nach solchenLiterprozenten rechnet man im deutschen Spiritushandel, und zwarnimmt man 10,000 Literprozent (100 Lit. à 100 Proz.) alsEinheit an und bezieht auf sie die Preisnotierungen.

Über die Alkoholproduktion liegen zuverlässige Angabennicht vor. Der jährliche Verbrauch auf den Kopf derBevölkerung betrug 1881-85 in:

Liter Alkohol | Lit. 45% Branntwein

Italien . . . 0,9 | 2,0

Norwegen . . 1,7 | 3,8

Finnland . . 2,2 | 4,9

Großbritannien 2,7 | 6,0

Österreich-Ungarn . . . 3,5 | 7,7

Frankreich . . 3,8 | 8,4

Schweden . . 3,9 | 8,7

Deutschland 4,1 | 9,1

Schweiz . . 4,6 | 10,2

Rußland (europ.) . . 4,7 | 10,4

Belgien . . 4,7 | 10,4

Niederlande 4,7 | 10,4

Dänemark . 8,9 | 19,8

Verein. Staaten 2,6 | 5,8

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Spiritus familiaris - Spittler.

Seit 1875 zeigt sich eine Steigerung des Alkoholverbrauchs inFrankreich von 2,9 auf 3,8, in Rußland von 4,0 auf 4,7, inÖsterreich-Ungarn, Belgien blieben die Verbrauchszifferndieselben, in den Niederlanden, Großbritannien, Finnland,Deutschland ist eine geringe, in Schweden und Norwegen einebeträchtliche Abnahme zu verzeichnen. 95 Proz. desproduzierten S. sollen zum Genuß verbraucht werden.

Alkoholische Getränke waren schon in den ältestenZeiten bei vielen Völkern bekannt, aber erst im 8. Jahrh.gewann man durch Destillation von Wein einen S. In dennördlichen Ländern war bis zum Ende des 18. Jahrh. derKornbranntwein allein herrschend. Die ersten Versuche mitKartoffeln scheinen 1775 in Schweden angestellt worden zu sein, und1796 wurde in Franken Kartoffelbranntwein gewonnen. Wichtigkeiterlangte die Kartoffelbrennerei aber erst seit 1810, und 20 Jahrespäter war die Kartoffel in Deutschland das Hauptmaterialfür die Branntweingewinnung. Infolge der Kartoffelkrankheitwandte man sich wieder mehr dem Getreide, dann aber auch dem Mais,der Melasse und den Zuckerrüben zu. Zur Verarbeitung derKartoffel gaben der ältere und der jüngere Siemens 1818und 1840 zweckmäßige Apparate an. Die altenDestillierblasen wurden vielfach verbessert, durch direkten Dampfgeheizt (Gall 1829) etc. Zusammengesetzte Destillierapparatekonstruierten Adam und Solimani in Nîmes (1801), Pistorius(1816), Cellier-Blumenthal und Derosne (1818), Dorn (1819), Schwarz(1833), Siemens (1850) etc. Die von Lowitz 1790 entdeckteEigenschaft der Kohle, das Fuselöl zu absorbieren, wurdeschnell in die Praxis eingeführt. Die neuesten Fortschrittebetreffen die gründlichere Aufschließung des Materialsdurch gespannte Dämpfe und Zerkleinerungsapparate vor demMaischen (Hollefreund, Bohm, Henze), namentlich aber ist dieSpiritusfabrikation auch durch wissenschaftliche Untersuchungenüber den Gärungsprozeß, die Ernährung der Hefeund durch Verbesserung der analytischen Methoden gefördertworden. Das Laboratorium und die Versuchsstation der deutschenSpiritusfabrikanten in Berlin hat wesentlich beigetragen, fürdie Spiritusfabrikation eine wissenschaftlich begründete Basiszu gewinnen. Vgl. Stammer, Die Branntweinbrennerei und derenNebenzweige (Braunschw. 1875); Derselbe, Wegweiser in derBranntweinbrennerei (das. 1876); Märcker, Handbuch derSpiritusfabrikation (4. Aufl., Berl. 1886); Böhm,Branntweinbrennereikunde (9. Aufl., das. 1885); Gumbinner,Anleitung zur Spiritusfabrikation (das. 1882); Bersch, DieSpiritusfabrikation und Preßhefebereitung (das. 1881);Ulbricht und Wagner, Handbuch der Spiritusfabrikation (Weim. 1888);Freiesleben, Der Brennereibau (Berl. 1885); "Zeitschrift fürSpiritusindustrie" (das.).

Spiritus familiaris (neulat.), ein vertrauter dienstbarerGeist, Hausgeist.

Spirochaete Ehrb., früher Gattung der Spaltpilze,deren angebliche Arten wie die nahe verwandten Spirillen alsEntwickelungsformen von Bakterien erkannt sind.

Spirometer (griech.), von Hutchinson angegebener Apparat,welcher dazu dient, das Luftquantum zu bestimmen, welches beimAtmen aus den Lungen entweicht. Das S. stimmt im Prinzip mit demgewöhnlichen Gasometer (s. d.) überein. Die durch einenSchlauch unter die Glocke des Gasometers geleitete ausgeatmete Lufthebt die durch Gegengewichte äquilibrierte Glocke und kanndirekt an einer Skala gemessen werden.

Spirre, s. Blütenstand, S. 82.

Spirsäure, s. Salicylsäure.

Spital (lat., Spittel), s. v. w. Hospital.

Spital, Marktflecken im österreich. HerzogtumKärnten, an der Drau und der Bahnlinie Marburg-Franzensfeste,ist Sitz einer Bezirkshauptmannschaft und eines Bezirksgerichts,hat ein Schloß des Fürsten Porzia, Holzstofffabrikationund (1880) 1832 Einw.

Spitalfields (spr. spittelfihlds), Stadtteil im O.Londons, in welchem sich die aus Frankreich eingewandertenhugenottischen Seidenweber niederließen, deren Nachkommenteilweise noch jetzt dort wohnen.

Spithead (spr. spitt-hedd), s. Portsmouth.

Spitta, Karl Johann Philipp, geistlicher Liederdichter,geb. 1. Aug. 1801 zu Hannover, studierte in GöttingenTheologie und ward, nachdem er verschiedene andre Stellen bekleidethatte, 1853 Superintendent zu Peine im Hildesheimischen, dann imJuli 1859 Superintendent in Burgdorf, wo er 28. Sept. d. J. starb.Außer einzelnen Predigten veröffentlichte er: "Psalterund Harfe" (Leipz. 1833 u. öfter), eine in zahlreichenAuflagen verbreitete Sammlung geistlicher, für häuslicheErbauung bestimmter Lieder, die durch Vollendung der Form,Innigkeit und wahrhaft christliches Gepräge zu den bestenderartigen Produkten der Neuzeit gehören. Noch erschienen vonihm: "Nachgelassene geistliche Lieder" (5. Aufl., Brem. 1883).Spittas Leben beschrieb Münkel (Leipz. 1861). -

Sein Sohn Philipp, geb. 27. Dez. 1841 zu Wechold bei Hoya inHannover, seit 1875 Dozent der Musikgeschichte an der Hochschulefür Musik (seit 1882 deren stellvertretender Direktor) sowieUniversitätsprofessor für Musikwissenschaft undSekretär der Akademie der Künste zu Berlin, hat sichdurch seine Biographie "Johann Sebastian Bach" (Leipz. 1873-79, 2Bde.; engl., Lond. 1884) sowie durch eine Gesamtausgabe derOrgelwerke Buxtehudes und der Werke von H. Schütz bekanntgemacht. Kleinere Schriften von ihm sind: "Über J. S. Bach"(Leipz. 1879) und "Ein Lebensbild Robert Schumanns" (das. 1882).Mit Chrysander und Adler gibt er seit 1885 die "Vierteljahrsschriftfür Musikwissenschaft" (Leipz.) heraus.

Spittler, Ludwig Timotheus, Freiherr von, berühmterGeschichtschreiber und Publizist, geb. 11. Nov. 1752 zu Stuttgart,widmete sich in Tübingen und Göttingen theologischen undhistorischen Studien, ward 1778 Repetent am theologischen Seminarzu Tübingen und 1779 Professor der Philosophie zuGöttingen, wo er sich als Lehrer der Geschichte großenRuf erwarb, kehrte aber 1797 als Präsident derOberstudiendirektion und Wirklicher Geheimer Rat in sein Vaterlandzurück; 1806 ward er auch zum Kurator der UniversitätTübingen und Minister ernannt und zugleich in denFreiherrenstand erhoben. Er starb 14. März 1810. Von seinenSchriften sind zu bemerken: "Geschichte des kanonischen Rechts bisauf die Zeiten des falschen Isidor" (Halle 1778); "Grundrißder Geschichte der christlichen Kirche" (Götting. 1782; 5.Aufl. von Planck, 1813); "Geschichte Württembergs unter denGrafen und Herzögen" (das. 1783); "Geschichte desFürstentums Hannover" (das. 1786); "Entwurf der Geschichte dereuropäischen Staaten" (Berl. 1793, 2 Bde.; 3. Aufl. vonSartorius, 1823); "Geschichte der dänischen Revolution 1660"(das. 1796). Seine geistreich skizzierten "Vorlesungen überdie Geschichte des Papsttums" wurden mit Anmerkungen von Gurlitt(Hamb. 1828), seine "Geschichte der Kreuzzüge" (das. 1827) unddie "Geschichte der Hierarchen von Gregor VII. bis auf die Zeit derReformation"

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Spitzbergen - Spitzen.

von K. Müller (das. 1828) herausgegeben. Seinesämtlichen Werke gab sein Schwiegersohn K. v. Wächter(Stuttg. 1827-37, 15 Bde.) heraus. S. verband mit ernsterQuellenforschung philosophischen Geist und lichtvolle Darstellungbei sinnreicher Kürze, hellen politischen Blick und Sicherheitdes Urteils. Vgl. Planck, Über S. als Historiker(Götting. 1811).

Spitzbergen, Inselgruppe im Nördlichen Eismeer,zwischen 76° 27'-80° 50' nördl. Br. und10°-32½° östl. L. v. Gr., nordöstlich vonGrönland, dem es früher zugerechnet wurde, währendNordenskjöld 1868 den untermeerischen Zusammenhang von S. mitSkandinavien nachwies. Die Gruppe besteht aus der Hauptinsel,Westspitzbergen (39,540 qkm oder 718 QM.), dem von voriger durchdie Hinlopenstraße getrennten Nordostland (10,460 qkm oder190 QM.), dem Edgeland oder Stans-Foreland (5720 qkm oder 104 QM.),der Barentsinsel, König Karls-Land, Prinz Karls-Vorland undvielen kleinern Eilanden, welche ein Gesamtareal von 70,068 qkm(1273 QM.) einnehmen. Die Inselgruppe ist im Sommer von Eisschollenumgeben, im Winter von festen Eismassen eingeschlossen; nurlängs der Westküste ist das Meer fast das ganze Jahrhindurch von Eis frei. Die Nordküste wird in den meistenJahren durch den auch an ihr vorüberziehenden Golfstromverhältnismäßig früh vom Treibeis befreit,wogegen die Ostseite von einem Polarstrom bestrichen wird. DieHauptinseln steigen mit steilen Ufern aus dem Meer auf und sind imInnern mit einer 100 m dicken Schicht Landeis bedeckt, aus welcherscharfe Bergspitzen (daher der Name) bis zu 1390 m hervorragen. DieHauptgebirgsart ist Granit; von vulkanischen Produkten findet sichder sogen. Hyperit vor, daneben Jurakalksteine, Kreide und andreSedimentärgebilde. Die mittlere Jahrestemperatur beträgtunter 79° 53' nördl. Br. (Mosselbai) -9,56° C., diedes kältesten Monats (Februar) -22,69°, die des Juli+4,55°. Das Klima ist also bedeutend milder als in Nordamerikaunter weit südlichern Breiten, was dem Golfstrom zuzuschreibenist. Die Vegetation ist äußerst dürftig, da dieErdrinde nur während weniger Wochen im Sommer, wo die Sonnenicht untergeht, von Eis und Schnee frei ist; von baumartigenGewächsen finden sich nur zwei einige Zoll hohe Weidenarten.Überhaupt hat man 96 Arten von Phanerogamen und etwa 250Kryptogamen beobachtet. Kruciferen und Gramineen herrschen vor.Fließende Wasser gibt es nur zur Zeit der Schneeschmelze. VonLandsäugetieren kommen vor: das Renntier (sehr zahlreich), derEisbär, der braune Bär (?, selten), der Blaufuchs, aberkein Lemming; dagegen sind die Küsten reich an Walrossen undRobben. Im W. fanden sich früher viele Walfische, deren Zahljedoch durch die beständige Verfolgung auf ein Geringesgesunken ist. Jetzt jagt man an den Küsten neben denFlossenfüßern besonders den Weißfisch und eineHaifischart (Haakjärring). Von Vögeln kennt man 28 Arten,von denen das Schneehuhn (Lagopus hyperboreus) der einzigeStandvogel ist. An Insekten hat man bisher 23 Arten entdeckt. DasMineralreich bietet Granit (reich an edlen Granaten), Graphit,Bleiglanz, Eisen, Marmor u. Braunkohlen. Eingeborne oder auch nuransässige Bevölkerung hat keine der Inseln; doch habensich bisweilen einzelne russische Jäger mehrere Jahre lang aufdenselben aufgehalten, und während der Sommermonate werden sievon Fangfischern besucht, wenn auch nicht mehr so zahlreich wiefrüher. Im 17. und 18. Jahrh. war die Gruppe der Sammelplatzaller Walfischfänger, und an den Küsten wurden um dasPrivilegium des Walfischfangs und Robbenschlags zwischenEngländern, Holländern, Dänen und Franzosen vielfachblutige Kämpfe ausgefochten. Jetzt macht keine derseefahrenden Nationen Ansprüche auf den Besitz der Gruppe. S.wurde 1596 von den Holländern Barents, Heemskerk und CornelisRyp entdeckt. Näher erforscht wurden die Inseln in neuererZeit unter andern von Scoresby (1817-18), Parry (1827), derRecherche-Expedition (1838 ff.), Lamont (1858 und später),Karlsen (seit 1859), v. Heuglin (1870), Tobiesen (seit 1865), LeighSmith (1871-72), besonders aber von den schwedischen Expeditionenunter Torell und Nordenskjöld (1858-73). S. Karte"Nordpolarländer". Vgl. außer den Berichten in"Petermanns Mitteilungen": Nordenskjöld, Die schwedischenExpeditionen nach S. und Bären-Eiland (Jena 1869); Heuglin,Reisen nach dem Nordpolarmeer 1870-71 (Braunschw. 1872-74, 3Bde.).

Spitzbeutel, s. Filtrieren, S. 263.

Spitzblume, s. Ardisia.

Spitzbogen, s. Bogen und Gewölbe.

Spitzbogenstil, ungenaue Benennung für gotischerStil, s. Baukunst, S. 496.

Spitze, in der Heraldik, s. Heroldsfiguren.

Spitzeder, Adele, s. Dachauer Banken.

Spitzel, in Süddeutschland s. v. w.Geheimpolizist.

Spitzeln, Kartenspiel, eine Art Solo unter dreien, wirdmit mancherlei Abweichungen gespielt. Erforderlich ist dazu einePikettkarte, aus welcher man 1) alles Karo (bez. Schellen) bis aufdie Sieben und 2) die Coeur- (rote) Acht entfernt hat. So bleiben 8Blätter für jeden. Man spielt entweder in den schlechtenFarben oder in "Kouleur" (Karo). Die ständigen Trümpfe:Spadille, Manille, Baste gelten wie im gewöhnlichen Solo; inKouleur gibt es also nur 3 Trümpfe. Zum Gewinn eines Spielsgehören wenigstens 5 Stiche. Wenn alle passen, wird"gespitzelt" ("gestichelt"), d.h. man spielt ohne Trumpf, undderjenige, welcher den letzten Stich macht, verliert. Gerade diesefür das Spiel charakteristische Regel wird aber oft durchKarteneinwerfen oder durch ein Points-Spiel ersetzt. Im letzternFall zählt man die Karten von Daus bis Zehn herab der Reihenach 5, 4, 3, 2 und 1. Jeder sucht soviel Points wie möglichzu bekommen. Wer über 15 hat, bekommt von jedem denÜberschuß vergütet, und wer die wenigsten Augenhat, muß an beide bezahlen, selbst wenn der zweite nicht bis15 gekommen ist.

Spitzen (Kanten), zarte Geflechte mit durchsichtigemGrund und einem aus dichter liegenden Fäden gebildeten Muster,werden entweder mit Klöppeln (Kissenspitzen, Dentelles) odermit der Nadel (Points) gefertigt. Zum Klöppeln bedarf maneines Polsters (Klöppelsacks), welches im Erzgebirgewalzenförmig und drehbar, in Belgien und Frankreich viereckigund flach gewölbt ist; auf dem Sack liegt derKlöppelbrief, ein Streifen Papier, auf welchem das Muster inNadelstichen vorgezeichnet ist. Die Klöppel sind etwa 10 cmlange Holzstäbchen, auf welchen der zu verarbeitende Zwirnaufgewickelt (und im Erzgebirge durch eine übergeschobenePapierhülse geschützt) ist; die Löcher desMusterbriefs werden bei der Arbeit mit Nadeln besteckt und dieFäden durch Hin- und Herwerfen der Klöppel, welche vonder Walze herabhängen oder auf dem belgischen Kissen liegen,zwischen den Nadeln verflochten. In dem Maß, wie die Arbeitfortschreitet, werden aus der fertigen Spitze die Nadeln ausgezogenund in die folgenden offenen Löcher des Briefs gesteckt. Istdie Spitze Ellenware, so kann die Arbeit auf der rotierenden Walzebeliebig

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Spitzen - Spitzenglas.

oft rund herum fortgehen. Genähte S. werden entweder aufeinem Gewebe, Tüll, Marly etc., oder auf einem für diesenZweck mit dem Klöppel oder der Nadel hergestelltenSpitzengrund aufgenäht. Das Muster ist auf ein Blatt starkesPapier (früher Pergament) gezeichnet; die Nadel folgt denUmrissen und umschnürt diese der Befestigung halber nocheinmal. Ist das Muster fertig, so wird das Papier weggerissen.Durch noch stärkern, sowohl breitern als plastischheraustretenden Umriß zeichnet sich die Guipurespitze aus;Guipure ist ein dicker Faden oder ein Streifen von dünnemPergament oder Kartenpapier, welcher mit dem Faden ganz umwundenist. Seit Anfang unsers Jahrhunderts besteht neben derHandspitzenindustrie die Fabrikation der S. auf Maschinen, sodaß man wohl Handspitzen (echte) und Maschinenspitzen(unechte) unterscheidet. Wenn nun auch feststeht, daß dieSpitzenmaschine eine große Mannigfaltigkeit in ihrenProdukten und eine erstaunliche Ähnlichkeit mit den echten S.zu erzeugen vermag, so nehmen die Maschinenspitzen in Bezug aufWechsel und schöne Formgestaltung des Erzeugnisses doch immernur einen zweiten Rang ein, da sie ausschließlichNachahmungen der Handspitzen sind. Bei den applizierten S. wird dasgeklöppelte Muster auf feinen Maschinengrund aufgenäht;bei den tamburierten ist der Grund und zum Teil auch das Muster ausder Maschine erzeugt und die Ergänzung durch Handarbeitausgeführt. Nach dem Material unterscheidet man seidene S.,speziell Blonden, welche in Schwarz und Weiß vorkommen,leinene S. (alle echten S.), baumwollene (die englischenMaschinenspitzen) und wollene (Mohairspitzen). Die Anfertigung derS. mag in eine sehr frühe Zeit zurückreichen, doch istüber ihren Ursprung nichts bekannt. Vielleicht entwickelte siesich aus Flecht- und Knüpfwerk, welches in der auf alterÜberlieferung beruhenden Hausindustrie namentlichsüdlicher Länder noch heute vorkommt und mit der Nadelspäter auf einen durchbrochenen Grund übertragen wurde.In Italien wurden um die Mitte des 15. Jahrh. nachweislich schonNadelspitzen gefertigt, und man gibt an, daß die Kunstdorthin von Byzanz oder dem sarazenischen Sizilien gekommen sei.Man unterscheidet Reticellaspitzen (s. d.), venezianische oderReliefspitzen (s. d.), Rosenspitzen (s. d.) u. a. Der englischeAusdruck Lace findet sich zur Zeit Richards III., und 1545 werdenin Frankreich Dentelles erwähnt. Älter scheint dieSpitzenklöppelei in den Niederlanden zu sein; doch liegen auchdafür keine bestimmten Zeugnisse vor. In Deutschland wurdediese Industrie durch Barbara v. Elterlein (aus Nürnbergstammend) eingeführt, welche 1553 als Gattin des BergherrnUttmann zu Annaberg in Sachsen starb. Die alten italienischenNadelspitzen wurden besonders in Venedig und Mailand hergestellt;in Genua und Albissola wurde geklöppelt. Im 17. Jahrh.gelangte die Spitzenindustrie durch den Venezianer Vinciolo nachFrankreich, und gewisse Städte, wie Sedan, Alençon,wurden schnell berühmt als Sitze derselben, zumal seit LudwigXIV. sie lebhaft begünstigte. Alençoner S. werdendurchaus mit der Nadel gearbeitet; die Fabrikation, welchewiederholt dem Erlöschen nahe war, wurde immer wiederemporgebracht, zuletzt durch Napoleon III. Argentan, Chantilly,Valenciennes, Lille lieferten ebenfalls berühmte S. In denNiederlanden entwickelte sich die Klöppelarbeit sehr lebhaftund kann noch heute als ein Hauptfaktor des Nationalwohlstandes inBelgien betrachtet werden. Die Brüsseler S. sind in jederBeziehung die feinsten von allen; ihre Vorzüge sindbegründet durch die Güte des belgischen Flachses, dieFeinheit des aus diesem gewonnenen Zwirns und die ererbteGeschicklichkeit der Arbeiterinnen. Der Netzgrund (réseau)der Brüsseler S. wird jetzt von der Maschine geliefert(Bobbinet), während man ihn früher nähte oderklöppelte. Mechelner S. werden in Einem Stück auf demPolster gearbeitet und besitzen nach Art des Plattstichseingewirkte Blümchen. Andre Sitze der belgischenSpitzenindustrie sind Gent und Brügge (points de duch*esse).Von Hugenotten lernten die Holländer feinere Leinenspitzenmachen, doch gelangte diese Industrie dort nicht zu der Bedeutungwie in den südlichen Provinzen. Im Erzgebirge verbreitete sichdas Klöppeln sehr schnell, und seit dem Anfang des 17. Jahrh.trugen schottische Händler die sächsischen undböhmischen S. in alle Länder. Seit Einführung derMaschinenarbeit hat gerade diese einst so blühende Industriesehr stark gelitten, weil sie sich im allgemeinen auf so einfacheErzeugnisse beschränkte, die sehr leicht durch Maschinenarbeitnachgeahmt werden konnten. Jetzt werden im Erzgebirge (weiteres s.d.) und in Böhmen die verschiedensten S. dargestellt, und umdie Hebung der Industrie bemühen sich zahlreicheKlöppelschulen (Schneeberg, Gassengrün, Bleistadt u. a.).Auch im Hirschberger Kreis ist seit 1855 die Spitzenindustrieeingeführt worden. In vielen andern Gegenden Deutschlandssowie in Genf und Neuchâtel erblühte dieselbe durchHugenotten, doch nur auf kurze Zeit. Französische undniederländische Flüchtlinge wurden auch in England dieBegründer der Spitzenfabrikation. Zuerst ahmte manvorzüglich Valencienner und Brüsseler S. nach,gegenwärtig werden alle möglichen Stile gepflegt. Honitonin Devonshire arbeitet mit der Nadel auf Brüsseler Grund,vornehmlich Zweige mit Blättern und Blüten, welche jetztmeist in Guipure ausgeführt werden. Die Maschinenarbeit hatder Spitzenmacherei außerordentlich geschadet, sie bringtschöne Arbeit in unbegrenzter Menge zu mäßigenPreisen hervor; doch ist das Glatte und Regelmäßige derArbeit den zarten Effekten der Ausführung schädlich, undniemals kann sie mit den durch die Hand geschaffenen Meisterwerkenkonkurrieren. Spanische S. werden aus Gold- und Silberdrahthergestellt, der mit bunter Seide und kleinen Perlen untermischtist. In den skandinavischen und slawischen Ländern werdenmeist grobe Leinen- und Litzenspitzen angefertigt, inRußland, Siebenbürgen, Rumänien u. a. von derHausindustrie. Vgl. Palliser, History of lace (3. Aufl., Lond.1875); Séguin, La dentelle. Histoire, description,fabrication, bibliographie (Par. 1874); Ilg, Geschichte undTerminologie der alten S. (Wien 1876); Hans Sibmacher, Stick- undMusterbuch (nach der Ausgabe von 1597 hrsg. vomÖsterreichischen Museum für Kunst und Industrie, 3.Aufl., das. 1882, und von Wasmuth, Berl. 1885; nach der 4. Ausg.von 1604 hrsg. von Georgens, das. 1874); Wilhelm Hoffmann,Spitzenmusterbuch (nach der Ausgabe von 1607 hrsg. vomÖsterreichischen Museum, Wien 1876); Derselbe,Originalstickmuster der Renaissance (das. 1874); v. Braunmühl,Technik u. Entwickelung der Spitzen (in der Zeitschrift "Kunst undGewerbe", Nürnb. 1882); Raßmussen, Klöppelbuch(Kopenh. 1884); Jamnig u. Richter, Technik der geklöppeltenSpitze (Wien 1886 ff.). Auch gab Cocheris in Paris eine Reiheseltener Spitzenmusterbücher aus der BibliothèqueMazarin und Eitelberger 50 Blatt der schönsten Muster ausdeutschen und italienischen Musterbüchern des 16. Jahrh. (Wien1874) heraus.

Spitzenglas, s. v. w. Fadenglas, s. Millefiori.

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Spitzengrund - Spitzmäuse.

Spitzengrund, s. Spitzen.

Spitzenkatarrh, Katarrh der Lungenspitzen.

Spitzenpapier, durch Pressen und Ausschlagenspitzenähnlich gestaltetes Papier, dient besonders zuManschetten für Bouketts.

Spitzenschnitt, in der Heraldik, s. Heroldsfiguren.

Spitzer, Daniel, Wiener Feuilletonist, geb. 3. Juli 1835zu Wien, studierte daselbst die Rechte, war kurze Zeit alsKonzipist bei der Wiener Handelskammer beschäftigt und begannseine litterarische Laufbahn mit volkswirtschaftlichen Artikeln undeinzelnen Beiträgen für die Witzblätter Wiens. Seinesatirischen Aufsätze, welche er von 1865 an als "WienerSpaziergänge" in der "Neuen Freien Presse" zuveröffentlichen begann, fanden außergewöhnlicheTeilnahme und begründeten seinen Ruf. Ein Teil dieser an diepolitisch-sozialen oder litterarischen Hauptereignisse des Tagsanknüpfenden Feuilletons wurde unter dem Titel: "WienerSpaziergänge" (6 Bde., mehrfach aufgelegt) gesammeltherausgegeben. Die Novellen: "Das Herrenrecht" (Wien 1877) und"Verliebte Wagnerianer" (das. 1878), die ebenso zahlreiche Auflagenerlebten, sind gleichfalls nur als Satiren, nicht als wirklicheErzählungen aufzufassen; an ihrem Erfolg hatten diepikant-lüsternen Elemente jedenfalls so viel Anteil wie diehumoristischen.

Spitzfuß, s. Pferdefuß.

Spitzgang, s. Mühlen, S. 849.

Spitzgeschoß, s. v. w. Langgeschoß, s.Geschoß.

Spitzharfe, s. Harfe.

Spitzhengst (Klopfhengst), männliches Pferd, beiwelchem eine oder beide Hoden nicht im Hodensack, sondern in derBauchhöhle liegen und nicht zur vollständigenEntwickelung gelangen. Die Kastration des Spitzhengstes ist nichtohne Gefahr, gelingt aber bei geschickter Ausführung oft. DieMeinung, daß der S. eine größere Anlage zurBösartigkeit habe als Hengste mit normalen Hoden, beruht aufIrrtum.

Spitzhörnchen (Tupaiidae), s. Insektenfresser.

Spitzkasten, s. Aufbereitung, S. 53.

Spitzkeimer, s. Monokotyledonen.

Spitzklette, s. Xanthium.

Spitzkugeln, Geschosse gezogener Handfeuerwaffen mitkegelförmiger Spitze.

Spitzlerche, s. Pieper.

Spitzmäuschen (Apion Herst.), Käfergattung ausder Gruppe der Kryptopentameren und der Familie derRüsselkäfer (Curculionina), sehr kleine, birnförmigeKäferchen mit dünnem, fadenförmigem Rüssel,dünnen, nicht geknieten Fühlern, welche in einem ovalenund zugespitzten Knopf enden, punktförmigem Schildchen undkürzern oder längern Flügeldecken, welche denHinterleib ganz bedecken. Man kennt ca. 300 Arten, welche imSonnenschein lebhaft umherfliegen und Blüten und junges Laubder verschiedensten Pflanzen benagen. Die Larven leben meist in denSamen von Leguminosen, seltener im Mark von Krautstengeln. A.apricans Herbst., 2 mm lang, schwarz, leicht metallischglänzend, an der Fühlerbasis, den Hüften undSchenkeln rotgelb, ist überall häufig auf Wiesen; dasWeibchen legt die Eier an den Blütenstand des Klees, dessenSamen die Larven auf einzelnen Feldern bisweilen fastvollständig vernichten. Die Larven verpuppen sich zwischen denBlüten des Köpfchens, und bald darauf schlüpft derKäfer aus, welcher überwintert.

Spitzmäuse (Soricidea Gerv.), Familie aus derOrdnung der Insektenfresser, kleine Säugetiere vom Habitus derRatten und Mäuse, mit schlankem Leib, langem Kopf, gestrecktemSchnauzenteil, sehr vollständigem Gebiß, meist kleinenAugen und Ohren und eigentümlichen Drüsen an den Seitendes Körpers oder an der Schwanzwurzel. Die S. finden sich inder Alten Welt und Amerika und sind durch Vertilgungschädlicher Insekten sehr nützlich. Sie zerfallen in zweiUnterfamilien: eigentliche S. (Soricina) und Bisamspitzmäuse(Myogalina). Die Waldspitzmaus (Sorex vulgaris L., s. Tafel"Insektenfresser"), 6,5 cm lang, mit 4,5 cm langem,gleichmäßig behaartem Schwanz, ist rotbraun, an denSeiten lichter, unterseits gräulichweiß, mit obendunkelbraunem, unten bräunlichgelbem Schwanz und langen,schwarzen Schnurren, findet sich weitverbreitet in Europa, in derEbene und im Gebirge, am häufigsten in feuchten Wäldern,an Flüssen und Teichen; sie kommt im Winter in Ställe,Scheunen und Wohnhäuser und lebt in selbstgegrabenen oderschon vorhandenen unterirdischen Gängen. Sie ist sehrlichtempfindlich und jagt daher nur nachts. Außer Insektenund Würmern frißt sie auch Mäuse und S. Sie istungemein gewandt, höchst gefräßig und blutgierig,durchaus ungesellig und wirft zwischen Mai und Juli im Mauerwerkoder unter hohlen Baumwurzeln in einem selbstgebauten Nest 5-10Junge. Sie riecht sehr stark moschusartig, wird deshalb von derKatze zwar getötet, aber nicht gefressen; nur einigeRaubvögel, Storch und Kreuzotter verschlingen sie. Ehemalsgalt sie als sehr heilkräftig und, wie z. B. noch jetzt inEngland, als höchst giftig. Die Zwergspitzmaus (S. pygmaeusPall.), das kleinste Säugetier diesseit der Alpen, 4,6 cmlang, mit 3,4 cm langem Schwanz, oberseits dunkel graubraun, an denSeiten mit gelblichem Anflug, unterseits weißgrau, findetsich in fast allen Ländern Europas, in Nordasien undNordafrika, in Wäldern und in der Nähe von Gebüschund hat wesentlich dieselbe Lebensweise wie die vorige. DieHausspitzmaus (Crocidura Araneus Wagn., s. Tafel"Insektenfresser"), 7 cm lang, mit 4,5 cm langem Schwanz, aus demPelz deutlich hervortretenden Ohren und langen, zerstreut stehendenWimperhaaren auf dem Schwanz, oberseits braungrau, unterseitshellgrau, bewohnt Nordafrika und fast ganz Europa, besonders Felderund Gärten, jagt morgens und abends auf allerlei kleine Tiere,siedelt sich gern in Gebäuden an und benascht Fleisch, Speckund Öl. Das Weibchen wirft 5-10 Junge, welche schon nach sechsWochen ziemlich erwachsen und selbständig sind. DieWimperspitzmaus (C. etrusca Wagn.), 4 cm lang, mit 2,5 cm langemSchwanz, neben einer Fledermaus das kleinste Säugetier, mitverhältnismäßig sehr großer Ohrmuschel, isthellbräunlich, lebt in den Mittelmeerländern und amSchwarzen Meer, am liebsten in Gärten und Gebäuden. DieWasserspitzmaus (Crossopus fodiens Wagn., s. Tafel"Insektenfresser"), 6,5 cm lang, mit 5,3 cm langem Schwanz, mitsteifen Borstenhaaren ringsum an den Füßen und Zehen undmit einem Kiel von ebensolchen Borstenhaaren längs der Mitteder Unterseite des Schwanzes, ist oberseits schwarz, unterseitsweißlich, aber vielfach in der Farbe ändernd, findetsich zuweilen in erstaunlicher Menge in Mittel- und Südeuropaund in einem Teil Asiens, bewohnt fließende und stehendeGewässer besonders gebirgiger Gegenden, geht auch auf Felderund in Gebäude, gräbt sich unterirdische Gänge,benutzt aber auch solche von Mäusen und Maulwürfen,erscheint an Orten ohne Störung auch am Tag, schwimmtvortrefflich, wobei ihr die Borstenhaare gute Dienste leisten, undbleibt dabei vollständig trocken. Sie ist im Verhältniszu ihrer Größe das furchtbarste Raubtier, frißtnamentlich auch Lurche, Fische, Vögel und kleine

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Spitzpocken - Spohr.

Säugetiere und wird dadurch der Teichwirtschaftschädlich. Das Weibchen wirft in einem kleinen Kessel, der mitMoos ausgekleidet wurde, 6-10 Junge. In der Gefangenschaft sind sieschwer zu erhalten.

Spitzpocken, s. Windpocken.

Spitzsäule, s. v. w. Obelisk.

Spitzschwanz, s. v. w. Pfriemenschwanz, s. Madenwurm.

Spitzstein, s. Diamant, S. 931.

Spitzweg, Karl, Maler, geb. 5. Febr. 1808 zuMünchen, war anfangs Apotheker, studierte dann von 1830 bis1832 auf der Universität in München und wendete sich erstum 1835 der Kunst zu, in welcher er sich als Autodidakt durchStudien nach ältern Meistern, insbesondere durch Kopien nachden Niederländern ausbildete. Zur malerischen Darstellungwählte er das spießbürgerliche Leben seiner Zeit ingemütvoller und humoristischer Auffassung und mit Hervorhebunggewisser Typen (Stadtgardisten, Nachtwächter, fahrendeKünstler, Invaliden, Sonderlinge, Gelehrte, Klausner), maltedaneben aber auch romantisch gehaltene Landschaften mitphantastischer Staffa*ge. Er bevorzugte dabei besonders dieMondscheinbeleuchtung. Dem kleinen Format seiner Bilder entsprachendie sorgsame Durchführung und die feine Charakteristik derFiguren. Seine Hauptwerke sind: der arme Poet, Zauberer und Drache,die reisende Künstlergesellschaft, schlafender Wachtposten beiMondschein, der Bücherantiquar, der Gelehrte imDachstübchen, der Kommandant, der Hypochonder, derSonntagsjäger, der Nachtwächter und die Serenade. Seit1844 war er Mitarbeiter an den "Fliegenden Blättern", welcheer mit zahlreichen humoristischen Zeichnungen versah. Er starb 23.Sept. 1885. Vgl. E. Spitzweg, Die S.-Mappe (Münch. 1887).

Spitzwegerich, s. Plantago (lanceolata).

Spitzahnornament, eine im normännischen undromanischen Baustil vorkommende Gliedbesetzung (s. Abbildung).

Spix, Johann Baptist von, Naturforscher und Reisender,geb. 9. Febr. 1781 zu Höchstadt a. d. Aisch, studierte in denSeminaren zu Bamberg und Würzburg Theologie, wandte sich dannzur Medizin und wurde 1811 Konservator der zootomischen Sammlungenin München. 1817 ging er mit Martins nach Brasilien, kehrte1820 nach Europa zurück und starb 13. März 1826 inMünchen. Er schrieb: "Geschichte und Beurteilung aller Systemein der Zoologie" (Nürnb. 1811); "Cephalogenesis" (Münch.1815); "Reise nach Brasilien" (fortgesetzt von Fr. v. Martius, das.1823 bis 1831, 3 Bde. mit Karten und Kupfern) und mehrerePrachtwerke über Affen, Fledermäuse, Reptilien undVögel, die er in Brasilien gesammelt hatte (1824 bis 1825 mitandern Zoologen vollendet).

Spizza (slaw. Spiz), Gemeinde in der dalmatischenBezirkshauptmannschaft Cattaro, im äußersten SüdenÖsterreichs, am Adriatischen Meer, mit Hafen und (1880) 1521vorwiegend albanesischen Bewohnern. S. wurde durch den BerlinerFrieden 1878 von der Türkei an Österreich abgetreten.

Splanchnici (nervi s.), Eingeweidenerven.

Splanchnologie (griech.), Eingeweidelehre, Teil derAnatomie (s. d.).

Spleen (engl., spr. splihn, "Milzsucht"), Form vonMelancholie mit Hypochondrie, welche oft zum Selbstmord führt.Esquirol findet die Ursachen derselben zur Zeit der Pubertätin einer unbestimmten, im Grund geschlechtlichen, unbefriedigtenSehnsucht, beim reifern Alter im Aufgeben einer geregeltenThätigkeit, in Übersättigung mit Vergnügungenetc. Die Behandlung des Spleens muß zuerst diekörperlichen Verhältnisse berücksichtigen,hinsichtlich deren sich meist Verdauungsstörungen vorfinden,und die geistige Verstimmung durch zweckmäßigepsychische Behandlung, besonders durch geregelte Thätigkeit,zu heben suchen.

Spleißofen, s. Kupfer, S. 320.

Splen (lat.), Milz; Splenalgie, Milzstechen; Splenitis,Milzentzündung.

Splendid (lat.), glänzend, prächtig,prachtliebend, viel aufgehen lassend; beim Buchdruck s. v. w. weit,geräumig gesetzt (Gegenteil: kompreß).

Splint (Splintholz), s. Holz, S. 669; im Bauwesen s. v.w. Schließe, s. Anker, S. 597.

Splintkäfer, s. Borkenkäfer.

Splissen, die Vereinigung zweier Tauenden, welche zu demZweck aufgedreht werden, so daß die einzelnen Kardeele oderGarne frei liegen; letztere werden demnächst mit Hilfe desMarlpfriems zwischen die Kardeele der nicht aufgedrehten Teile derTaue gearbeitet, derart, daß die fertige Splissung keinenwesentlich größern Durchmesser erhält als dasübrige Tau.

Splißhorn, ein als Gefäß zumMitführen von Talg benutztes Kuhhorn, welches, am Gurtgetragen, neben dem Messer und Marlpfriem, dessen Spitze vor demGebrauch mit Talg eingefettet wird, das Handwerkszeug der Taklerund Matrosen bildet.

Splitter, Dorf im preuß Regierungsbezirk Gumbinnen,westlich bei Tilsit, mit Stolbeck zusammenhängend, hat (1885)770 Einw.; hier 30. Jan. 1679 siegreiches Gefecht der Brandenburgergegen die Schweden.

Splügen (roman. Speluga), ein Hochgebirgspaßder Graubündner Alpen (2117 m), zwischen dem Tambo- undSurettahorn, verbindet den Hinterrhein mit dem Liro(Nebenfluß der Adda), also Bodensee und Comersee, und wardschon zur Römerzeit benutzt. Über den S. führteMacdonald (27. Nov. bis 4. Dez. 1800) die französischeReservearmee. Später (1812 bis 1822) unternahm dieösterreichisch-lombardische Regierung den Bau derSplügenstraße, die vom Graubündner Dorf S. (1450 m)bis Chiavenna (317 m) 38 km lang, überall 4,5 m breit ist undeine größere Zahl von Galerien und Zufluchtsstättenenthält. Erbauer war Karl Donegani. Seit längerer Zeitist der S. auch als Paß für eine ostschweizerischeAlpenbahn in Aussicht genommen.

Spodium (lat.), s. v. w. Beinschwarz oder Knochenkohle;weißes S., s. v. w. Knochenasche.

Spodumen, Mineral, s. Triphan.

Spohr, Ludwig, Violinspieler und Komponist, geb. 5. April1784 zu Braunschweig als das älteste Kind eines Arztes, der1786 als Physikus nach Seesen am Harz versetzt wurde, zeigtefrüh musikalisches Talent, so daß er schon in seinemfünften Jahr gelegentlich in den musikalischenAbendunterhaltungen der Familie mit seiner Mutter Duette singenkonnte, und wurde mit zwölf Jahren nach Braunschweiggeschickt, um bei gleichzeitigem Gymnasialunterricht sich in derMusik auszubilden. Hier wurden Kunisch und später Maucourtseine Violinlehrer, während ihn der Organist Hartung, jedochnur kurze Zeit, in der Komposition unterrichtete. Nach Spohrseigner Versicherung war dies die einzige Unterweisung, die ihm inHarmonielehre und Kontrapunkt je zu teil geworden, so daß eralso die bedeutenden Fähigkeiten, welche er gerade auf diesemGebiet besaß, hauptsächlich dem eignen Fleiß zudanken hatte.

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Spöl - Spoleto.

15 Jahre alt, wurde er vom Herzog von Braunschweig, zumKammermusikus ernannt und erhielt zugleich das Versprechen,daß der Herzog ihn zu weiterer Ausbildung noch irgend einemgroßen Meister übergeben wolle. Die Wahl fiel endlichauf Franz Eck in München, als dieser eben im Begriff war, eineKunstreise nach Rußland anzutreten. S. begleitete ihn undkehrte erst im Juli 1803 nach Braunschweig zurück. Hier trafer Rode an, dessen Spiel nachhaltigen Einfluß auf seineweitere Entwickelung übte. Spohrs Ruf als ausgezeichneterViolinvirtuose verbreitete sich nun infolge einiger Kunstreisen sorasch, daß er schon 1805 die Konzertmeisterstelle in Gothaerhielt. In dieser Stellung verblieb er, nachdem er sich ein Jahrspäter mit der Harfen- und Klaviervirtuosin Dorette Scheidlerverehelicht hatte, abgesehen von mehreren mit seiner Gattinunternommenen Kunstreisen, bis 1813, in welchem Jahr er einem Rufals Kapellmeister des Theaters an der Wien folgte. Zwistigkeitenmit dem Direktor desselben, Grafen Pálffy, waren dieUrsache, daß er dies Amt bereits nach zwei Jahren niederlegteund wiederum Kunstreisen antrat, die sich diesmal auch auf dieSchweiz, Italien und Holland erstreckten, bis er im Winter 1817 dieKapellmeisterstelle am Theater in Frankfurt a. M. übernahm.Hier brachte er 1818 seine Oper "Faust" und 1819 "Zemire und Azor"zur Aufführung, welche beide enthusiastischen Beifall fanden;gleichwohl verließ S. schon im September d. J. Frankfurt undbegab sich von neuem auf Kunstreisen nach Belgien, Paris und 1820nach London. Nach viermonatlichem Aufenthalt ruhmgekröntzurückgekehrt, ließ er sich in Dresden nieder, erhieltjedoch schon im folgenden Jahr auf Veranlassung K. M. v. Webers dieBerufung als Hofkapellmeister nach Kassel und trat im Januar 1822in sein neues Amt ein. Größere Virtuosenreisen unternahmer von nun an nicht mehr; dagegen entfaltete er dieersprießlichste Thätigkeit zur Hebung der musikalischenZustände Kassels, insofern er sowohl das Orchester zu einerzuvor nie gekannten Höhe hob, als auch außerdem einenGesangverein für Oratorienmusik gründete. Nicht minderbedeutend war seine Thätigkeit als Lehrer und Komponist. Inersterer Eigenschaft wurde er das Haupt einer Violinschule, wie sieDeutschland seit Franz Benda nicht besessen, und von allen TeilenEuropas strömten ihm die Schüler zu. Gleichzeitigentwickelte er eine erstaunliche Produktionskraft auf allenGebieten der Komposition und bethätigte sich als Dirigentzahlreicher Musikfeste in Deutschland und England. Auch der Verlustseiner Gattin (1834), für den er in einer zweiten Ehe mit derKlavierspielerin Marianne Pfeiffer nur einen annäherndenErsatz fand, vermochte seinen Arbeitseifer und seine Pflichttreuenicht zu vermindern, so wenig wie die kleinlichen Schikanen, die erspäter von seinem Fürsten zu erdulden hatte, diesnamentlich nach dem Jahr 1848, obwohl er das Jahr zuvor durch dieErnennung zum Generalmusikdirektor ausgezeichnet war. 1857 gegenseinen Wunsch und mit teilweiser Entziehung seines Gehaltspensioniert, blieb er bis zu seinem Tod 22. Okt. 1859 als Menschwie als Künstler ein Gegenstand der allgemeinen Verehrung. AlsKomponist hat S. die musikalische Litteratur auf jedem ihrerGebiete durch Meisterwerke von unvergänglichem Wertbereichert. Auf dem der dramatischen Musik wurde er neben K. M. v.Weber und Marschner der Hauptvertreter der romantischen Oper, wenner auch hinsichtlich des szenisch Wirksamen hinter diesen beidenzurücksteht und infolgedessen seine Opern, mit Ausnahme von"Jessonda", noch zu seinen Lebzeiten von den deutschen Bühnenverschwanden. Auch in seinen Oratorien: "Die letzten Dinge", "DerFall Babylons" u. a. folgt er zu ausschließlich seinemsubjektiven Naturell, um auf die Nachwelt zu wirken, wiewohl hierseine Neigung zum Elegischen und das konsequente Festhalten eineserhabenen Pathos sowie endlich der für alle seine Arbeitencharakteristische, nicht selten in Überfülle ausartendeReichtum der Modulation die Wirkung weniger beeinträchtigenals in seinen Opern. Unbedingte Bewunderung verdienen seinezahlreichen, ausnahmslos durch Adel der Empfindung und formaleAbrundung hervorragenden Instrumentalwerke, sowohl fürOrchester als für Kammermusik, unter den erstern dieSymphonien in C moll und "Die Weihe der Töne", unter denletztern die Quintette und Quartette, sowohl fürStreichinstrumente allein als mit Klavier. Den größtenund verdientesten Erfolg aber haben die speziell für seinInstrument geschriebenen Werke gehabt, und seine 15 Violinkonzerte,darunter namentlich das 7., 8. ("in Form einer Gesangsszene") und9., sowie seine Violinduette, endlich seine großeViolinschule stehen noch heute an klassischem Wertunübertroffen da. Vgl. Spohrs "Selbstbiographie"(Götting. 1860-61, 2 Bde.; bis 1838 von ihm selbst geschriebenund von da bis zu seinem Tod von den Angehörigenergänzt); v. Wasielewski, Die Violine und ihre Meister (2.Aufl., Leipz. 1883); Malibran, Louis S., sein Leben und Wirken(Frankf. a. M. 1860); Schletterer, Louis S. (Leipz. 1881).

Spöl, Fluß, s. Livigno (Val di).

Spoleto, Kreishauptstadt in der ital. Provinz Perugia(Umbrien), an der Eisenbahn Rom-Foligno-Ancona, auf einemHügel (dem Krater eines erloschenen Vulkans) unfern derreißenden Maroggia, über deren Thal ein 69 m hoher, 209m langer Aquädukt mit altem Brückenweg führt, hatein schönes Kastell (jetzt Strafhaus), viele Kirchen (darunterdie Kathedrale mit Fresken von Filippo Lippi), zahlreicheAltertümer, ansehnliche Paläste (Kommunalpalast mitkleiner Gemäldesammlung), ein schönes Theater und (1881)7696 Einw., die Fabrikation von Hüten, Leder, Wollenstoffen,Bereitung von Konserven, Getreide-, Wein- und Ölbau sowieHandel mit diesen Produkten betreiben. S. hat ein Lyceum,Gymnasium, Seminar, eine technische Schule, ein Konviktkollegium,eine Bibliothek, eine wissenschaftliche Akademie und ist Sitz einesErzbischofs, eines Unterpräfekten und eines Handelsgerichts. -S. hieß im Altertum Spoletium und war eine der ansehnlichstenStädte Umbriens, die 242 v. Chr. eine römische Kolonieward und sich 217 standhaft gegen Hannibals Angriffe verteidigte.Von den Goten unter Totilas zerstört, ward sie von Narseswieder aufgebaut und dann von den Langobarden zur Hauptstadt einesLehnsherzogtums gemacht, das einen großen Teil Mittelitaliens(Umbrien, Sabiner- und Marsenland, Fermo und Camerino)umfaßte und auch unter fränkischer Herrschaft bestehenblieb. Herzog Guido von S. ward 891 Kaiser, ebenso sein SohnLambert 898. Mit Konrad dem Schwaben erlosch das selbständigeHerzogtum. Durch Kaiser Heinrich II. wurde S. mit Toscanavereinigt, war nach Mathildens von Tuscien Tod (1115) Gegenstanddes Streits zwischen Kaiser und Papst und nur vorübergehendSitz eines kaiserlichen Markgrafen. Seit dem 13. Jahrh.gehörte das Herzogtum nebst der Mark Fermo zum Kirchenstaat,seit 1861 gehört es zum Königreich Italien. Vgl. Sansi,Storia del comune di S. (Foligno 1879).

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Spoliation - Spontini.

Spoliation (lat.), Beraubung.

Spolien (lat. Spolia), die dem Feind von denrömischen Soldaten in der Schlacht entrissene Beute an Waffen,Schmuck etc., welche den Tempel sowie das Vestibulum und Atrium desHauses, namentlich der siegenden Feldherren, schmückte undstets an dem Haus blieb, auch wenn es den Besitzer wechselte.Besonders berühmt waren die Spolia opima ("fette Beute"), diedem feindlichen Feldherrn abgenommen waren und dem JupiterFeretrius auf dem Kapitol geweiht wurden. Auch die ehedem in denKirchen aufgehängten ritterlichen Ehrenzeichen (Schild, Helmetc.) der Kirchenpatrone sowie die Güter geistlicher, ohneTestament verstorbener Personen werden S. genannt (vgl.Spolienrecht).

Spolienklage, s. Besitz.

Spolienrecht (Jus spolii), das von den deutschen Kaisernehedem in Anspruch genommene und bis auf Friedrich II.ausgeübte Recht, den Nachlaß verstorbener Bischöfeeinzuziehen. Auch die Landes- und Grundherren nahmen im Mittelalterdem Nachlaß von katholischen Geistlichen gegenüberzuweilen ein S. in Anspruch, und auch von Päpsten undBischöfen ist es ausgeübt worden.

Spoliieren (lat.), berauben, plündern.

Sponde (lat.), Bettgestell, Bettstatt.

Spondeus, ein aus zwei langen Silben (- -) bestehenderVersfuß, der anfänglich bei den Libationen (Spondä)der Griechen, wobei man eine langsame und ernste Melodie liebte,dann aber namentlich mit dem Daktylus abwechselnd im Hexameterangewendet wurde.

Spondias L., Gattung aus der Familie der Anakardiaceen,Bäume mit unpaarig gefiederten Blättern, unansehnlichenBlüten und fleischigen, pflaumenähnlichen Früchten.Von den etwa zehn tropischen Arten liefert S. Mombin L. (S.purpurea Mill., Mombinpflaumenbaum), in Südamerika undWestindien, die beliebten Mombinpflaumen oder otahaitischenÄpfel, zum Räuchern dienendes Amra- oder Aruraharz undHolz zu Pfropfen. S. lutea L. hat gelbe, herbe Früchte, dieals Arzneimittel dienen, und liefert Acajouholz. S. mangifera Pers.(Amrabaum), auf Malabar und Koromandel, mit ebenfallsgenießbaren Früchten, liefert auch Amraharz. S. dulcisForst., auf den Südseeinseln, liefert dieCytherenäpfel.

Spondieren (lat.), geloben, besonders vonEhegelöbnissen gebraucht.

Spondylarthrokace (Spondylitis), s. v. w.Wirbelentzündung, s. Pottsches Übel.

Spondylus (lat.), Wirbelknochen.

Spongiae, Schwämme (s. d.); S. ceratae,Wachsschwämme, mit geschmolzenem gelben Wachs getränkteund scharf ausgedrückte Schwämme; S. compressae,Preßschwämme, durch Umschnüren mit Bindfaden starkkomprimierte Schwämme, werden wie die vorigen ihresQuellungsvermögens halber zu unblutigen Erweiterungen,namentlich des Uteruskanals und des Muttermundes, benutzt, inneuerer Zeit aber meist durch Laminaria digitata ersetzt.

Spongiös (lat.), schwammig; spongiöseKnochensubstanz, die weiche, am macerierten Knochen poröseSubstanz in den Knochenenden im Gegensatz zu der festenKnochenrinde und dem weichen Mark.

Spongitenkalk (Scyphienkalk), fossile Schwämmeenthaltender Kalk; s. Juraformation.

Sponheim (Spanheim), früher reichsunmittelbareGrafschaft im oberrhein. Kreis, zwischen dem Rhein, der Nahe undder Mosel, zerfiel in S.-Kreuznach und S.-Starkenburg oder dievordere und hintere Grafschaft. Der Stammvater des gräflichenGeschlechts ist Eberhard, um 1044; sein Sohn Stephan gründete1101 unweit seiner Burg die Abtei S. auf dem Gauchsberg. Nach demTod Gottfrieds II. (1232) begründeten seine Söhne JohannI. die Linie S.-Starkenburg, Simon II. S.-Kreuznach, währendHeinrich 1248 in der Grafschaft Sayn den Zweig S.-Blankenbergstiftete, welcher sich bald in die Zweige S.-Heinsberg undS.-Lewenberg teilte und im 15. Jahrh. erlosch. Johanns I. zweiterSohn, Gottfried, ist der Stammvater der Grafen von Sayn undWittgenstein (s. d.). Bei dem Aussterben der Kreuznacher Linie 1416fiel ein Fünftel der Grafschaft an Kurpfalz, vier Fünftelan die Starkenburger Grafen. Als auch diese 1437 ausstarben, fielenihre Besitzungen an Baden und die Pfalz. Nach langwierigenStreitigkeiten mit der Pfalz wurde im Teilungsvertrag von 1708Birkenfeld an Pfalz-Zweibrücken überwiesen, fiel jedoch1776 an Baden zurück, während Kreuznach bei Kurpfalzverblieb. 1801 kam die ganze Grafschaft an Frankreich, 1814 anPreußen, das 1817 einen Teil davon, das FürstentumBirkenfeld, an Oldenburg abtrat.

Sponsalien (lat.), s. Verlöbnis.

Sponsieren (lat.), liebeln, um ein Mädchen werben,buhlen; Sponsierer, Freier, Buhler.

Sponsor (lat.), Bürge; auch s. v. w. Pate.

Sponsus (lat.), Bräutigam; Sponsa, Braut.

Spontan (lat.), von selbst, ohne äußereEinwirkung erfolgend; daher Spontaneität,Selbstthätigkeit, das Vermögen, von selbst und nichtinfolge besonderer Anregung thätig zu sein.

Spontini, Gasparo, Komponist, geb. 14. Nov. 1774 zuMajolati bei Jesi (Mark Ancona), erhielt seine Ausbildung zu Neapelim Konservatorium della Pietà, wo er von Sala im Kontrapunktunterrichtet wurde, und debütierte 1796 in Rom mit der Oper "Ipuntigli delle donne", welche mit Beifall aufgenommen wurde. DiesemWerk folgte für verschiedene italienische Theater eine Reihevon Opern, die sich jedoch von dem damals in Italienlandläufigen Stil in nichts unterschieden. In Paris, wohin ersich 1803 wandte, vermochte er anfangs keine Anerkennung zu findenund mußte durch Gesangstunden sein Leben fristen, bis er 1804mit der einaktigen Oper "Milton" die Aufmerksamkeit des Publiku*mserregte. S. hatte sich mittlerweile den Stil Glucks angeeignet undverwendete ihn zum erstenmal in seiner "Vestalin" (Text von Jouy),welche 15. Dez. 1807 zur Aufführung kam. Der Erfolg war einvollständiger, und das Nationalinstitut erkannte dem Meisterden von Napoleon I. gestifteten Preis von 10,000 Frank zu. Die 1809folgende Oper "Ferdinand Cortez" fand gleichfalls enthusiastischeAufnahme. Im nächsten Jahr erhielt S., nachdem er schon 1805Direktor der Kammermusik der Kaiserin Josephine geworden war, dieDirektion des italienischen Theaters im Odéon, woselbst erzum erstenmal in Paris Mozarts "Don Juan" zur Aufführungbrachte. Intrigen verleideten ihm jedoch bald genug dieses Amt, erlegte es deshalb nach zwei Jahren wieder nieder. Mit dem Sturz desKaiserreichs verlor S. auch seine Stellung bei Hof und wardemgemäß für die folgenden Jahre lediglich auf seinTalent und seine Arbeiten für die Bühne angewiesen. Seinnächstes großes Werk: "Olympia", ging im Dezember 1819zum erstenmal in Szene, fand jedoch nicht den entschiedenen Beifallwie die beiden vorhergehenden Opern. S. folgte daher um so liebereiner Aufforderung des Königs von

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Sponton - Sporenfink

Preußen, der ihn 1820 als Generalmusikdirektor nach Berlinberief. Hier entfaltete S. während seiner mehr als20jährigen unbeschränkten Herrschaft über dieOpernbühne eine auf alle Zweige des Opernwesens sicherstreckende Thätigkeit, die so erfolgreich war, daß erdas seiner Leitung anvertraute Institut auf eine weder vor nochnach ihm erreichte Höhe brachte; allein die drei "Hofopern",welche er in Berlin noch schrieb ("Nurmahal", "Alcidor" und "Agnesvon Hohenstaufen"), blieben hinter seinen drei vorhergegangenenWerken weit zurück. Zudem schuf er sich durch sein häufigschroffes Auftreten eine große Anzahl von Feinden, und diehieraus sich entspinnenden litterarischen Fehden, die ihn fast ineinen Prozeß wegen Majestätsbeleidigung verwickelthätten und schließlich bei Gelegenheit einer von ihmgeleiteten Aufführung des "Don Juan" zu einer gegen ihngerichteten stürmischen Demonstration des Publiku*msführten, veranlaßten ihn 1842, sein Amt niederzulegenund nach Paris zurückzukehren. 1844 unternahm er eine Reisenach Italien, wo ihn der Papst zum Grafen Sant' Andrea ernannte.1847 wollte sich S. auf Wunsch des Königs von Preußennochmals nach Berlin begeben, um dort einige seiner Opern zudirigieren, allein ein Gehörübel verhinderte ihn daran.Infolge der politischen Wirren kehrte er endlich 1848 fürimmer in sein Vaterland zurück, wo er 24. Jan. 1851 in seinemGeburtsort starb. S. ist einer der Hauptrepräsentanten derunter dem Einfluß des Napoleonischen Kaiserreichsentstandenen heroischen Oper, die trotz alles Aufwandesäußerer Effektmittel doch unter seinen Händen zueinem Kunstwerk ersten Ranges wurde. Hinsichts des Adels derMelodie, der Reinheit der Deklamation und der Konsequenz in derAusführung seiner Charaktere steht er von allen Komponistender französischen Großen Oper Gluck am nächsten,und er ist von keinem seiner Nachfolger auf diesem Gebiet erreichtworden. Vgl. Robert, G. Spontini (Berl. 1883); R. Wagner,Erinnerungen an S. ("Gesammelte Schriften", Bd. 5).

Sponton (spr. spongtóng, Esponton, franz.), eineHalbpike nach Art der Hellebarde (s. Abbildung), wurde bis zuAnfang dieses Jahrhunderts von den Offizieren der Infanterie nebendem Degen als Paradewaffe geführt. Der S. der Unteroffiziere,auch Partisane genannt, war länger, etwa 2,5 m lang, undhieß mit ersterm Kurzgewehr im Gegensatz zur längernPike (s. d.).

Sporaden, Inselgruppe im Ägeischen Meer und zwar imGegensatz zu den Kykladen (s. d.) diejenigen Inseln, welche im N.,O. und Süden um dieselben "zerstreut" an der Küste vonKleinasien und Thessalien liegen. Die S. zerfallen in dieNordsporaden (Skiathos, Skopelos, Chilidromia, Pelagonisi, Skyrosund mehrere kleinere), die Ostsporaden (Nikaria, Patinos, Lero,Kos, Rhodos nebst vielen kleinern) und die Südsporaden (Theraoder Santorin, Amurgos, Astypaläa oder Stampalia, Ios oderNio, Karpathos, Kasos und mehrere kleinere). Letztere werden vonmanchen Neuern (wie auch offiziell) zu den Kykladen gezähltund die Ostsporaden dann als Südsporaden bezeichnet. Die S.sind meist mit Bergen bedeckt, die sich durch ihre schroffen Formenauszeichnen; vielen fehlt die Bewässerung; diebewässerten zeichnen sich durch große Fruchtbarkeit aus.Die alten Griechen bezeichneten als S. im engern Sinne nur die imIkarischen Meer von Rhodos bis Nikaria (Ikaria) gelegenen Inseln.Bei der Trennung Griechenlands von der Türkei blieben nur diezunächst der Küste von Kleinasien liegenden Ostsporadenbei letzterm Land, während die Nord- und die meistenSüdsporaden an Griechenland fielen. S. Karte"Griechenland".

Sporadisch (griech., "zerstreut"), in der Medizin vonKrankheiten gebraucht, welche nur einzelne Individuen ergreifen, imGegensatz zur Epidemie; auch sonst s. v. w. vereinzeltvorhanden.

Sporangium (lat., Keimfrucht), bei den Kryptogamen dieBehälter der Sporen, welche entweder, wie bei vielen Algen undPilzen, einfache Zellen darstellen, in denen durch Zellbildungzahlreiche ruhende Sporen oder Schwärmsporen (im letztern FallZoosporangien genannt) entstehen, oder kapselartige Behältersind, welche eine aus Zellen zusammengesetzte Wand besitzen und imInnern meist durch Vierteilung aus Mutterzellen die Sporenerzeugen, wie bei den Moosen, Farnkräutern etc.

Sporck, Johann von, kaiserl. General, geb. 1595 zuWesterloh bei Delbrück im Bistum Paderborn, Sohn eines armesEdelmanns, trat als gemeiner Soldat in das ligistische Heer, in demer den Dreißigjährigen Krieg mitmachte, ward 1639bayrischer Reiteroberst, vollführte im November 1643 einenglücklichen Handstreich gegen das französische Heer undzeichnete sich 1645 in der Schlacht bei Jankau aus. AlsGeneralwachtmeister beteiligte er sich im Juli 1647 an dem VersuchJohanns v. Werth, das bayrische Heer dem Kaiser nach Böhmenzuzuführen, wurde nach dessen Mißlingen vomKurfürsten Maximilian für einen Verrätererklärt, trat in kaiserliche Dienste, ward zumösterreichischen Freiherrn ernannt und mit Gütern inBöhmen beschenkt. Er focht dann als Reitergeneral unterMontecuccoli 1657-60 gegen die Schweden in Polen undSchleswig-Holstein, in der Schlacht bei St. Gotthardt 1. Aug. 1664gegen die Türken, worauf er zum Reichsgrafen ernannt wurde,und 1674-75 gegen die Franzosen am Rhein. Er starb 6. Aug. 1679 aufseinem Gut Herman-Mestiz in Böhmen. Vgl. Rosenkranz, GrafJohann v. S. (2. Ausg., Paderb. 1854). Fr. Löher hat seinLeben in einem Epos behandelt.

Sporco (ital., "unrein"), s. v. w. Brutto (s. d.).

Sporen (Sporae, Keimkörner), bei den Kryptogamen diezur Vermehrung dienenden, den Samen der Phanerogamen analogenKörper, welche aber einzelne Zellen oder aus wenigen Zellenzusammengesetzt sind und nie einen Embryo enthalten, wie die Samender Blütenpflanzen. Sie sind in der Regel mikroskopisch klein,treten aber meist massenhaft auf. Ihre Entstehung undBeschaffenheit sind in den einzelnen Klassen, Ordnungen undFamilien der Kryptogamen verschieden; man nennt die durchAbschnürung auf Basidien entstehenden S. Basidio- oderAkrosporen, oft auch Konidien oder Stylosporen, die inSporenschläuchen sich bildenden S. Askosporen oderThekasporen, die in Sporangien entstehenden nackten, d. h. nichtvon einer Zellhaut umhüllten, mittels schwingender Wimpern imWasser frei beweglichen S. Schwärmsporen oder Zoosporen.

Sporenfink, s. Ammer, S. 489

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Sporenfrucht - Spottdrossel.

Sporenfrucht, s. Sporocarpium.

Sporenorden, s. Goldener Sp*rn.

Sporenschlacht (Journée des éperons),Bezeichnung sowohl der Schlacht (1302) bei Courtrai (s. d.) als derzweiten (1513) bei Guinegate (s. d.).

Sporenschlauch (Ascus, Theca), bei Pilzen und Flechtendiejenigen meist keulen- oder schlauchförmigen Mutterzellenvon Sporen, in welchen die letztern durch Zellbildung erzeugtwerden.

Sporer, zünftiger Name der Metallarbeiter, welcheSporen und die zum Reitzeug gehörigen Beschläge undsonstigen Zieraten verfertigten.

Spörer, Gustav Friedrich Wilhelm, Astronom, geb. 23.Okt. 1822 zu Berlin, wurde Professor der Mathematik am Gymnasium inAnklam, 1868 Teilnehmer an der Expedition, welche vom NorddeutschenBund zur Beobachtung der totalen Sonnenfinsternis (18. Aug.) nachMulwar in Ostindien geschickt wurde, 1875 an das bei Potsdamerbaute astrophysikalische Observatorium berufen, machte sichbesonders durch Beobachtungen der Sonnenoberflächeverdient.

Spörgel, s. Spergula.

Sporidesmium Link, Pilzgattung aus der Gruppe derPyrenomyceten, umfaßt etwa 20 deutsche Arten, welchewahrscheinlich alle Konidienformen von Pyrenomyceten, besondersPleospora, darstellen. Sie bilden auf Pflanzenteilen dunkleÜberzüge, den sogen. Rußtau. S. putrefaciens f*ckellebt parasitisch in den jungen Blättern der Runkelrübeund verursacht die Herzfäule der Rüben. Er bildetolivengrüne, ausgebreitete Räschen auf den durch den Pilzschwarz gefärbten Blättern.

Sporidien, bei Rost- und Brandpilzen die auf denPromycelien (s. d.) durch Abschnürung entstehenden kleinenSporen, welche durch Keimung das eigentliche Mycelium erzeugen.

Spörk, s. v. w. Spergel, s. Spergula.

Sp*rn, s.v.w. Stachel, stachelähnliches Werkzeug, z.B. an der Ferse eines Reiterstiefels; auch s. v. w. Ramme einesPanzerschiffs (s. d.); stachelartige Hervorragung an denFüßen mancher Tiere, besonders Vögel (Hahnensp*rnetc.); in der Botanik ein nach abwärts röhrenförmigverlängerter, etwas gekrümmter Fortsatz der Perigon-,Kelch- oder Blumenblätter (s. Blüte, S. 67).

Sp*rnblume, s. Plectranthus.

Sporocarpium (Sporenfrucht), der nach der Befruchtung zurAusbildung gelangende Fruchtkörper der Karposporeen, in oderan welchem sich die Sporen bilden; s. Kryptogamen.

Sporocysten, s. Leberegel.

Sporogonium (griech.-lat.), s. Moose, S. 790.

Sport (engl., "Spiel, Belustigung"), das ehrgeizigeBestreben eines Mannes nach hervorragender körperlicherLeistung, ein Begriff, der dem Altertum (Kampfspiele der Griechen)und dem Mittelalter (Turniere) nicht unbekannt war. Der neuestenZeit war es indessen vorbehalten, den S. nach allen Richtungen hinauszubilden, und zwar geschah dies hauptsächlich in England.Es folgten dann besonders die Vereinigten Staaten und ingrößerm oder geringerm Maß das europäischeFestland. Zugleich erweiterte sich der Begriff dahin, daß mandarunter auch Thätigkeiten verstand, bei welchen nichtbloß der Körper, sondern auch der Geist seine Rechnungfindet. Ein wesentliches Merkmal dieser Thätigkeiten war esindessen von jeher und ist es noch, daß sie im Freienausgeübt werden. Widersinnig ist daher z. B. die BezeichnungBriefmarkensport, ebenso widersinnig wie die ausschließlicheAnwendung des Wortes S. auf die Pferderennen. Man unterscheidet: 1)die mehr gesundheitlichen Zwecken dienenden, im wesentlichenbloß Kraft erfordernden, bez. die Körperkraftfördernden Sportarten, so die Mehrzahl der Turnübungen,das Rudern, das Fahren mit Dreirädern, das Gehen, Laufen etc.;2) die Sportarten, welche Kraft und Geschicklichkeit zugleichverlangen, bez. fördern helfen: Schlittschuhlaufen undSchwimmen, die höhern Turnübungen, das Fechten, dasFahren mit Zweirädern, das gewöhnliche Reiten, die Jagdauf wehrlose Tiere, die Angel- und Netzfischerei aufBinnengewässern, Cricket, Fußball, Lawn Tennis, dasSchießen; 3) endlich die Sportarten, deren AusübungKraft und Geschick erfordert und mit einer gewissen Gefahrverbunden ist, welche mit Hilfe dieses Geschicks abgewendet werdensoll: die Jagd auf wilde, wehrhafte Tiere, Parforcejagd undPferderennen, der Bergsport, die Fischerei auf hoher See und vorallen der Segelsport, welcher bei den Engländern für denInbegriff des Sportlichen gilt. Dieser zerfällt wiederum inSegeln auf Binnengewässern und Segeln auf hoher See. Letzterererfordert zugleich erhebliche mathematische und astronomischeKenntnisse. Die Sportarten lassen sich aber auch nach den totenoder lebendigen Gegenständen einteilen, welche zu derenAusübung dienen, bez. den Gegenstand derselben bilden. Sounterscheidet man 1) Jagd- und Schießsport nebst Hundezucht;2) Pferdesport in allen seinen Abarten, wie: Turf, Trabersport,Fahrsport, Parforcejagd, Schnitzeljagd, Dauerreiten undSteeplechase; 3) Wassersport, welcher wiederum zerfällt inSegeln, Dampfen, Rudern, Fischen und Angeln, Eissport undSchwimmen; endlich 4) die verschiedenen Sportarten, als: Fechtenund Turnen, Radfahren, Athletik, Skaten, Ballonsport, Bergsport,Gartenspiele etc. Als ein wesentliches Merkmal des Sports istendlich anzuführen, daß dessen Ausübung nicht umdes Gelderwerbs wegen geschieht. Näheres s. in den einzelnenArtikeln. Vgl. Georgens, Illustriertes Sportbuch (Leipz. 1882).Eine "Sportzeitung" (seit 1880) und eine "Sportbibliothek" fürdie verschiedenen Sportzweige gibt V. Silberer in Wien heraus; inBerlin erscheinen die "Sportswelt" und die "NeuestenSportsnachrichten" (hrsg. vom Unionklub).

Sporteln (lat.), Gebühren für Amtshandlungen,die nach gesetzlich festgestellter Norm (Sporteltaxe) entrichtetwerden; namentlich Bezeichnung für die Gerichtskosten (s.d.).

Sports-man (engl., spr. -män), Liebhaber oderBetreiber des Sports (s. d.).

Sposalizio (ital., "Verlobung"), in der Malerei die beiden Italienern übliche Bezeichnung für die Darstellungder Verlobung der Jungfrau Maria und Josephs, insbesondere fürdie beiden berühmten Bilder Peruginos (in Caen) und Raffaels(in Mailand).

Spott kommt mit dem Scherz (s. d.) darin überein,daß er den andern lächerlich, unterscheidet sich vondiesem dadurch, daß er ihn zugleich verächtlichmacht.

Spottdrossel (Mimus Boie), Gattung aus der Ordnung derSperlingsvögel, der Familie der Drosseln (Turdidae) und derUnterfamilie der Spottdrosseln (Miminae), Vögel mit sehrgestrecktem Leib, mittellangem, abwärts gekrümmtemSchnabel mit deutlicher Kerbe an der Spitze,verhältnismäßig hochläufigen, starkenFüßen mit kräftigen Zehen und schwächlichenNägeln, kurzen, abgerundeten Flügeln, in denen diedritte, vierte und fünfte Schwinge am längsten sind, undmäßig langem, stufigem Schwanz. Die S. (Mimuspolyglottus Boie) ist oberseits dunkelgrau, am Kopf bräunlich,unterseits bräunlichweiß;

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Spottiswoode - Sprache (physiologisch).

die Schwingen sind braunschwarz, fahlgrau gesäumt, dieSpitzen der Flügeldeckfedern weiß, die mittelstenSteuerfedern schwarz, die äußern weiß; die Augensind blaßgelb, der Schnabel ist bräunlichschwarz, dieFüße dunkelbraun. Die S. bewohnt Nordamerika, vom40° nördl. Br. bis Mexiko, besonders den Süden,findet sich im Buschwerk, im lichten Wald und in Pflanzungen, inEbenen und an der Küste, sucht, besonders im Winter, dieNähe menschlicher Wohnungen, ähnelt in ihren Bewegungenden Drosseln und nährt sich von Kerbtieren und Beeren. Siebrütet zwei-, im Süden auch dreimal in dichten Baumkronenoder Büschen oft sehr nahe den Wohnungen und legt 3-6hellgrüne, dunkelbraun gefleckte Eier. Sie singt vortrefflich,berühmt aber ist sie durch ihre bewundernswerteFähigkeit, fremde Gesänge und die verschiedenstenTöne und Geräusche nachzuahmen. Sie hält sich gut inder Gefangenschaft und hat sich mehrfach, auch in Europa,fortgepflanzt.

Spottiswoode (spr. -wudd), William, Mathematiker undPhysiker, geb. 11. Jan. 1825 zu London, studierte in Oxford undübernahm dann die Druckerei der Königin, welche unterseiner Leitung namhaften Aufschwung gewann, ohne ihm die Mußezu selbständiger wissenschaftlicher Thätigkeit zu rauben.Seine frühsten Werke: "Meditationes analyticae" (1847) und"Elementary theorems relating to Determinants" (1851), bilden dieerste umfassendere Darstellung der Determinantentheorie. Eine Reisedurch Ostrußland (1856) beschrieb er in "A tarantasse journeythrough Eastern Russia" (1857) und eine andre durch Kroatien undUngarn in Galtons "Vacation tourist in 1860". Seit 1870 wandte erder Optik und Elektrizitätslehre seine Aufmerksamkeit zu undschrieb noch "Polarisation of light" (1874). 1879 ward ihm diehöchste wissenschaftliche Würde in England, die desPräsidenten der Royal Society, übertragen, welche er biszu seinem Tod 27. Juni 1883 bekleidete.

Spottkruzifix, Bezeichnung eines 1856 in einem antikenGebäude am Palatin entdeckten, im Museum Kircherianum zu Rombefindlichen Stuckfragments mit der kunstlos eingeritztenDarstellung eines Gekreuzigten mit einem Eselskopf, vermutlich ausder Mitte des 2. Jahrh. Er ist bekleidet mit einem Hemd und einerlosen Tunika; rechts daneben steht eine ebenso bekleidetemenschliche Gestalt, die Hand als Zeichen der Anbetungemporstreckend; darunter die griechischen Worte: "Alexamenos betetGott an". Das S. ist wichtig als Zeugnis der Verspottung der erstenAnhänger des Christentums durch die Römer. Vgl. Kraus,Das S. vom Palatin (Freiburg 1872); Becker, Das S. derrömischen Kaiserpaläste (Gera 1876).

Spottsylvania Court-House (spr. kohrt-haus'),Gerichtshalle der gleichnamigen Grafschaft im nordamerikan. StaatVirginia, 20 km südwestlich von Fredericksburg, wo Lee 24. Mai1864 von Grant besiegt wurde.

Spr., auch Spreng., bei botan. Namen Abkürzungfür Kurt Sprengel (s. d.).

Sprache (Sprechen), vom physiologischen Standpunkt eineKombination von Tönen und Geräuschen, welche durchentsprechende Verwendung der Ausatmungsluft, in gewissenFällen auch beim Einatmen (Schnalzlaute der Hottentoten undandrer Völker) hervorgebracht werden. Die Vokale oderSelbstlauter sind Klänge, die an den Stimmbändernentstehen und sich mit den auf einem musikalischen Instrumenthervorgebrachten Tönen vergleichen lassen; ihre besondereKlangfarbe erhalten sie wie die Töne auf einer Geige, einemPianoforte etc. durch die neben dem Grundton erklingenden Ober-oder Nebentöne, welche ihrerseits durch die wechselndeGestaltung des Ansatzrohrs und Resonanzraums, d. h. derMundhöhle, des Gaumens etc., bedingt werden. Als die dreiGrundvokale kann man a, i, u bezeichnen; doch gibt es zwischendenselben eine unendliche Menge von Nuancen, die durch kleineVerschiedenheiten der Mundstellung bedingt werden. Bei derAussprache des u senkt sich der Kehlkopf, und die Lippen tretennach vorn, indem sie nur eine kleine rundliche Öffnungzwischen sich lassen (Fig. 1). Von dem dumpfen u gelangt man zu demheller klingenden a durch die Übergangsstufe des o, bei dessenBildung sich die Lippenöffnung mäßig erweitert. Beider Hervorbringung des a liegt der Kehlkopf höher, die Zungeliegt platt auf dem Boden der Mundhöhle, so daß dasAnsatzrohr einem vorn offenen Trichter gleicht (Fig. 2). DenÜbergang vom a zu i, dem hellsten Vokal, bildet das e, bei demder hintere Teil der Zunge und zugleich der Gaumen sich etwasemporheben. Beim i wird der Kehlkopf sowohl als der hintere Teilder Zunge stark emporgehoben, so daß die Mundhöhle eineFlasche mit sehr engem Hals darstellt (Fig. 3). Die Diphthongeentstehen durch raschen Übergang der Organe aus einerMundstellung in die entsprechende andre, die zur Hervorbringung deszweiten Teils des Diphthongen erforderlich ist. Die Konsonantenoder Mitlauter kann man auf verschiedene Weise einteilen. Ihrerphysiologischen oder akustischen Beschaffenheit nach sind sieentweder tonlos oder tönend, d. h. sie werden entweder

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Sprache und Sprachwissenschaft (Natur- undKulturvölker).

wie die Vokale mit periodischen Schwingungen derStimmbänder oder ohne solche Schwingungen hervorgebracht.Tonlose Laute sind z. B. k, t, p, h, f, tönende Laute z. B. r,l, n, m, d, b, g. Übrigens können die tönendenKonsonanten in vielen Fällen auch tonlos gebildet werden; auchkann sich dem in der Stimmritze gebildeten Ton ein in derMundhöhle entstehendes Geräusch beimischen, wodurchsolche Konsonanten den Charakter von Geräuschlauten annehmen.Der Artikulationsstelle nach teilt man die Konsonanten von altersher ein in Dentale oder Zahnlaute, bei deren Hervorbringung dervordere Teil der Zunge und die Zähne in Betracht kommen,Labiale oder Lippenlaute, die vorn an den Lippen, und Gutturaleoder Gaumenlaute, die hinten am Gaumen gebildet werden.Tatsächlich gibt es jedoch viele Zwischenstufen; so kann mannach Brücke von den eigentlichen Dentalen die alveolaren,lingualen und dorsalen Dentalen unterscheiden, auch gibt es nebenden rein labialen die labiodentalen Konsonanten und drei Arten vonGaumenlauten. Im Deutschen können als Dentale das t, d, s,sch, auch n, r, l angesehen werden; labiale Konsonanten sind p, b,f, m, w; guttural sind k, g, ch, j. Bis zu einem gewissen Gradkommt die Verschiedenheit der Artikulationsstellen auch fürdie Vokale in Betracht, indem z. B. bei u ungefähr dielabiale, bei i ungefähr die dentale Artikulation stattfindet.Drittens lassen sich die Konsonanten nach ihrer Artikulationsarteinteilen, wobei am meisten der Mundraum, außerdem derNasenraum und der Kehlkopf in Betracht kommen. Wird die Stimmritzeso weit verengert, daß die ausgeatmete Luft an denRändern der Stimmritze ein reibendes Geräusch erzeugt, soentsteht der Hauchlaut h; auch alle geflüsterten Laute werdenauf diese Weise gebildet. Der Nasenraum erscheint an der Bildungder Nasalen oder Nasenlaute n, m und ng (z. B. in "Ding")beteiligt, indem er durch Senkung des Gaumensegels geöffnetwird, so daß die Luft aus der Nase strömen kann (einVorgang, durch den auch das sogen. Näseln bedingt wird). DieArtikulationsart des Mundraums kann wechseln und so entstehen: 1)Liquidä oder Zitterlaute, die entweder durch Biegung derZungenspitze gebildet werden (r-Laute) oder an denSeitenwänden der Zunge (l-Laute); 2) frikative oderReibelaute, durch Verengerung des Mundkanals gebildet, indem dieAusatmungsluft an den Rändern der Enge ein reibendesGeräusch erzeugt, wie z. B. beim deutschen s, sch, f, ch, j,w; 3) Explosiv- oder Verschlußlaute, bei deren Erzeugung derMundkanal an irgend einer Stelle plötzlich geschlossen undwieder geöffnet wird, z. B. an den Lippen bei b, p, hinteroder an den Zähnen bei d, t, am Gaumen bei g, k. AndreSprachen kennen auch noch andre Artikulationsarten, wieüberhaupt die Mannigfaltigkeit der menschlichen Sprachlauteeine fast unbegrenzte und durch die Schrift nicht entferntausdrückbare ist. Ein sehr wichtiger Faktor bei derLautbildung ist auch die Betonung, auf der namentlich die Silben-und Wortbildung und daher auch die landläufige Unterscheidungzwischen Vokalen und Konsonanten vornehmlich beruht. Ihrerakustischen Beschaffenheit nach unterscheiden sich z. B. die Nasalen, m und die Zitterlaute r, l in keiner Weise von den Vokalen, dasie wie die letztern mit dem auf regelmäßigenSchwingungen der Stimmbänder beruhenden Stimmtonhervorgebracht werden (daher auch Resonanten genannt); sie stimmenaber darin mit den übrigen Konsonanten überein, daßsie in der Regel nicht als Träger des Silbenaccents fungieren.Doch gibt es auch hierin Ausnahmen; man vergleiche z. B. dassilbenbildende l in dem deutschen Wort "Handel" (sprich: Handl)oder die r- und l-Vokale der slawischen Sprachen und des Sanskrit.Eine künstliche Nachbildung der menschlichen Sprachlauteliefert der Phonograph Edisons, durch den die schon im 18. Jahrh.von Kempelen konstruierte Sprechmaschine weit überboten wurde.Vgl. auch Lautlehre.

Sprache und Sprachwissenschaft. Unter Sprache versteht man, ohnebeide Bedeutungen streng zu sondern, einesteils dieSprachthätigkeit oder das Sprachvermögen, d. h. nach W.v. Humboldts treffender Definition der Sprache "die ewig sichwiederholende Arbeit des menschlichen Geistes, den artikuliertenLaut zum Ausdruck des Gedankens fähig zu machen"; andernteilswird damit etwas Konkretes, Individuelles bezeichnet, nämlichdie Summe der Wörter, welche bei einem bestimmten Volk alsMittel zur Verständigung in Anwendung sind oder (bei totenSprachen) gewesen sind. Die einzelnen Sprachen sind das Produkt desSprachvermögens oder mit andern Worten des Triebes nachÄußerung und Mitteilung, und die Sprache im allgemeinenist eine nicht minder wichtige Seite in der Eigenart des Menschenals Recht und Sitte, Religion und Kunst und zwar eine solche,welche sich schon auf den frühsten Stufen der geistigenEntwickelung, beim Kind und unzivilisierten Menschen, geltendmacht. Gerade bei den rohesten Naturvölkern ist dieSprachthätigkeit besonders lebendig und das Leben der Sprache,die man bei ihnen gewissermaßen in ihrem natürlichenZustand studieren kann, ein ungemein rasches. So herrscht im Innernvon Brasilien eine so große Sprachverschiedenheit, daßbisweilen an einem Fluß hin, dessen Länge 300-500 kmnicht übersteigt, 7-8 völlig verschiedene Sprachengesprochen werden. Genaue Kenner des Landes erklären diesdaraus, daß es ein Hauptzeitvertreib der Indianer ist,während sie an ihrem Feuer sitzen, neue Wörter zuersinnen, über die, wenn sie treffend sind, der ganze Haufe inGelächter ausbricht und sie dann beibehält. Beisüdafrikanischen Negerstämmen, unter denen der englischeMissionär Moffat lebte, wurden die Kinder manchmal von ihrenEltern so sehr sich selbst überlassen, daß siegenötigt waren, sich eine besondere Sprache zu ersinnen,wodurch im Lauf einer Generation die Sprache des ganzen Stammeseine andre Gestalt annahm. Missionäre in Zentralamerika hattenvon der Sprache des Volkes, dem sie das Christentum predigten, einsorgfältiges Lexikon angelegt; als sie nach zehn Jahren zu demnämlichen Stamm zurückkehrten, fanden sie, daßdasselbe veraltet und unbrauchbar geworden war. Die kleinenmelanesischen Inseln des Stillen Ozeans haben jede eine besondereSprache, wenn dieselben auch zu dem gleichen Sprachstammgehören. Selbst auf den friesischen Inseln der Nordsee hat dieIsoliertheit der insularen Lage die Folge gehabt, daß aufallen diesen Inseln verschiedene Dialekte herrschen, worin sogarein so gewöhnlicher Begriff wie "Vater" durch besondereWörter ausgedrückt wird. Dieselbe sprachlicheIsoliertheit wie bei Inselvölkern findet sich auch beiBergvölkern. So fand der russische General Baron v. Uslar beider ethnographischen und linguistischen Durchforschung desnördlichen Kaukasus dort mindestens zehn total verschiedeneSprachen, und die auf etwa 800,000 Köpfe geschätztenBasken der Pyrenäen sprechen acht Dialekte, die so starkvoneinander abweichen wie das Französische vom Englischen.

Bei Kulturvölkern erscheint die Veränderung der

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Sprache und Sprachwissenschaft (Ursprung der Sprache).

Sprache ungemein verlangsamt. Ganz neue Wörter werdenmeist nur von Kindern erfunden, deren Neuerungsversuche in derRegel keine bleibende Wirkung hinterlassen. So berichtet CharlesDarwin von einem englischen Kinde, das im Alter von einem Jahralles Eßbare mit der Silbe "umm" bezeichnete; Tainebeobachtete ein französisches Kind, das etwa im gleichen Altereinen Hund "na-na", ein Pferd "da-da" nannte; und der Schreiberdieser Zeilen kannte ein deutsches Kind, das umherflatternde Taubenals "Wattel-Wattel" bezeichnete. Aber wenige Jahre späterwaren diese Wörter vergessen. Dem gebildeten Deutschen,Engländer, Franzosen etc. sind daher noch jetzt Bücher,die in den zwei oder drei letzten Jahrhunderten geschrieben wurden,fast ohne Mühe verständlich. Das Englische hat sichüber alle Weltteile verbreitet, ist aber dabei vollkommenstabil geblieben. Namentlich bildet die Schrift und in der Neuzeitauch der Buchdruck, dann die ungeheure Vermehrung und Verbesserungder Verkehrsmittel die wirksamste Schranke gegen die sprachlicheNeuerungssucht. Dennoch wäre es ein vollkommener Irrtum,irgend eine moderne Sprache für vollkommen abgeschlossen zuhalten. Vor allem ist auch in der Sprache unaufhörlich einGesetz der Trägheit wirksam, das sich besonders in derVereinfachung oder gänzlichen Beseitigung schwer sprechbareroder unbetonter Laute und Lautverbindungen geltend macht. Durchdiese stufenweise fortschreitende Abschleifung und Verwitterung derLaute ist z. B. im Englischen überall das ch und das vor einemn stehende k abgestoßen worden, so daß knight, dasdeutsche "Knecht", wie neit gesprochen wird; im Deutschen ist dastonlose e in Schlußsilben in völligem Rückzugbegriffen, wodurch z. B. erst in neuester Zeit "des Königes,dem Könige" in "Königs, König", "befestiget" in"befestigt" verwandelt wurde u. dgl. Anderseits führt derNachahmungs- und Analogietrieb zur Erfindung und Ausbildung neuerWörter, Formen und Bedeutungen, die entweder aus fremdenSprachen entlehnt werden, wie z. B. unsre aus demFranzösischen herübergenommenen zahlreichen Verba auf-ieren, oder aus den Mundarten in die Schriftsprache eindringen,oder an ältere einheimische Wörter und Formen angelehntwerden, wie z. B. die deutsche Form der Vergangenheit auf -te,welche zusehends die alten ablautenden Verba verdrängt,wofür unser "backte" für das noch im vorigen Jahrhundertübliche "buk" als Beispiel dienen kann. Überhaupt hat dieSprachforschung dargethan, daß der Grad, bis zu dem sichLaute, Wörter, Wort- und Satzformen verändernkönnen, an und für sich ein völlig unbegrenzter istund oft die scheinbar unähnlichsten Sprachen durch eine Reihevon Mittelgliedern hindurch auf eine und dieselbe Grundsprachezurückgeführt werden können.

Denkt man sich die Entwickelung sämtlicher geschichtlichnachweisbarer Grundsprachen in einer vorgeschichtlichen Periode bisan ihren Ausgangspunkt fortgesetzt, so liegt es nahe, die Frageaufzuwerfen, ob nicht dieser Ausgangspunkt der gleiche, alleGrundsprachen in letzter Linie aus der nämlichen Urspracheentsprungen seien. Diese Frage, die man früher, teilweise ausreligiösen Vorurteilen, voreilig zu bejahen pflegte, mußauf dem heutigen Stande der Wissenschaft entschieden verneintwerden. Standen auch eine Reihe wichtiger Sprachen einanderfrüher viel näher als jetzt, so weichen doch dieGrundsprachen, auf die sie zurückgehen, sowohl hinsichtlichder Wurzeln als des grammatischen Baues so entschieden voneinanderab, daß alle Versuche, sie (z. B. die indogermanische undsemitische Grundsprache) auf eine gemeinsame Ursprachezurückzuführen, vollständig scheitern mußten.Man muß im Gegenteil annehmen, daß eine Reiheursprünglicher Sprachtypen jetzt entweder völlig oder nurmit Hinterlassung vereinzelter Überreste, wie dasrätselhafte Baskisch der Pyrenäen und die Sprachen desnördlichen Kaukasus, vom Erdboden verschwunden sind; denn jemehr die Kultur zunimmt, desto mehr nimmt die Sprachverschiedenheitab und ist daher in Europa trotz seiner dichten Bevölkerungweit geringer als in allen übrigen Erdteilen. Auch diebestehenden Sprachen werden von der heutigen Sprachforschung aufeine beträchtliche Anzahl selbständiger Ursprachenzurückgeführt.

Mit dieser Erkenntnis hat sich die Frage nach dem Ursprung derSprache, die schon Platon und Aristoteles, Epikur und die Stoikerbeschäftigt und die griechischen und römischenGrammatiker in zwei Lager gespalten hat, später mitunbegründetem Hinweis auf die Bibel, welche die Erfindung derSprache dem ersten Menschen beilegt, im Sinn einesübernatürlichen Ursprungs beantwortet wurde, in eineFrage nach der Entstehung der einzelnen tatsächlichnachgewiesenen Grundsprachen verwandelt. Wie man sich dieselbe zudenken habe, läßt sich freilich historisch nichtfeststellen; auch gehen die Ansichten darüber sehrauseinander, indem die einen, wie W. v. Humboldt, M. Müller,Steinthal etc., annehmen, daß sich unwillkürlichbestimmte Laute an bestimmte Begriffe oder Anschauungen anschlossen(Nativismus), die andern dagegen, wie Whitney, L. Geiger, Bleek,Marty, Madvig u. a., von der jetzigen Unabhängigkeit des Lautsvom Gedanken und des Gedankens vom Laut ausgehend, einen solchenZusammenhang der Laute mit dem Gedanken abweisen (Empirismus). Dochist neuerdings eine Vermittelung zwischen den beiden sichentgegenstehenden Ansichten angebahnt und namentlich diefrüher versuchte Zurückführung der Sprache auf eineigentümliches, später verlornes Vermögen derursprünglichen Menschheit durchweg aufgegeben worden.Überhaupt ist es bei allen Mutmaßungen über denSprachenursprung nötig, sich durchaus auf denthatsächlichen Boden zu stellen, welchen das Leben der Sprachewährend der durch die Geschichte beleuchteten Strecke ihrerEntwickelung und besonders bei unzivilisierten Völkerndarbietet, und es sind dabei namentlich folgende Sätzefestzuhalten, die sich also ebenso auf das Wesen wie auf denUrsprung der Sprache beziehen: 1) Sprache und Vernunft sind nichtidentisch, so vielfach sie sich gegenseitig beeinflussen, und zwarist das Sprechen eine weitaus beschränktere Fähigkeit alsdas Denken, da selbst die gebildetsten Sprachen, die dasSprachvermögen erzeugt hat, bei weitem nicht alle Gedankenauszudrücken vermögen. Es gibt Gedanken und Empfindungen,welche ein Ton oder eine Gebärde viel bezeichnenderausdrückt als ein Wort, und namentlich beim Kind und bei einemMenschen von lebhaftem Naturell ist die Gebärdensprachehöchst entwickelt. Die Taubstummen, denen gewiß niemanddie Vernunft absprechen wird, haben eine höchstkünstliche und ihnen gleichwohl völlig geläufigeZeichensprache. Viele Lehrsätze der Mathematik, welche sich inWorten nur mit Mühe oder gar nicht ausdrücken lassen,können durch ein paar einfache Zeichen oder eine Zeichnungleicht demonstriert werden. Musik und Malerei stehen der Poesie alsselbständige Künste zur Seite. Auch sind die Gesetze derDenklehre oder Logik von den Gesetzen der Sprachlehre oderGrammatik verschieden, wie z. B. der deutsche Satz: "die

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Sprache und Sprachwissenschaft (Grammatik, Etymologie).

Kugel ist viereckig" grammatisch ganz richtig, aber logischverkehrt ist. Hiernach hat es gewiß auch von allem Anfang anein Denken ohne Sprechen gegeben. 2) Kinder und Naturmenschenbezeichnen viele Individuen oder Gegenstände dadurch,daß sie mit ihrer Stimme den Schall nachahmen, den sie alsvon denselben ausgehend wahrgenommen haben. Diese einfache undnächstliegende Art der Bezeichnung, die onomatopoetische, warohne Zweifel in jeder Ursprache sehr häufig, wenn dieWau-wau-Theorie (so genannt von dem Namen Wau-wau des Hundes in derKindersprache) auch nicht den Anspruch erheben kann, alleWörter zu erklären. 3) Ausrufe und Schreie(Interjektionen) spielen selbst bei gebildeten und erwachsenenMenschen noch eine mehr oder weniger große Rolle, eine sicherviel größere in den Anfängen einer Sprache. Hierinliegt die Berechtigung der sogen. Ah-ah- oder Interjektionstheorievom Ursprung der Sprache. 4) Hiernach sind wohl auch die erstenWörter nichts als Reflexlaute gewesen, welche im Affekthervorgebracht wurden, gerade wie die Zuckungen oder sonstigenunwillkürlichen Reflexbewegungen, die ausGemütsbewegungen hervorgehen. Die Reflexlaute gingenursprünglich mit den andern unwillkürlichen GebärdenHand in Hand. Da die Gemütsbewegungen am leichtesten durchverschiedenerlei Geräusche verursacht wurden, so ahmte diemenschliche Stimme mit Vorliebe diese Geräusche nach. 5) Erstin zweiter Linie wurden die Sprachlaute zugleich zu Mitteilungenverwendet, nachdem es wiederholt gelungen war, durch ihreHervorbringung die Aufmerksamkeit der andern zu erregen. Es gingdamit ähnlich wie mit der Gebärdensprache, die sich ausursprünglichen Reflexbewegungen zu der ausgebildetenZeichensprache entwickelt hat, die man z. B. bei den IndianernNordamerikas findet. Auch die Schrift hat sich aus roherIdeenmalerei und Bilderschrift successive zu einem dervollkommensten Verständigungsmittel entwickelt. 6) Die erstenSprachschöpfungen waren primitive Sätze, etwa wie dieAusrufe: "Diebe!" "Feuer!", und aus diesen chaotischenÄußerungen haben sich erst allmählichselbständige Wörter und Redeteile entwickelt.

Vgl. Herder, Über den Ursprung der Sprache (zuerst Berl.1772); W. v. Humboldt, Über die Verschiedenheit desmenschlichen Sprachbaues (neu hrsg. mit einer Einleitung von Pott,das. 1876, 2 Bde.); Steinthal, Der Ursprung der Sprache imZusammenhang mit den letzten Fragen alles Wissens (4. Aufl., das.1888); Derselbe, Abriß der Sprachwissenschaft (2. Aufl., das.1881, Bd. 1: "Einleitung in die Psychologie undSprachwissenschaft"); J. Grimm, Über den Ursprung der Sprache(in "Kleinere Schriften", Bd. 1, das. 1864); Max Müller,Vorlesungen über die Wissenschaft der Sprache (deutsch vonBöttger, 2. Aufl., Leipz. 1866-70, 2 Bde.); Renan, Del'origine du langage (4. Aufl., Par. 1863); Heyse, System derSprachwissenschaft (Berl. 1856); Schleicher, Die Darwinsche Theorieund die Sprachwissenschaft (3. Aufl., Weim. 1873); Wedgewood, Onthe origin of language (Lond. 1866); Whitney, DieSprachwissenschaft (bearbeitet von Jolly, Münch. 1874); Bleek,Über den Ursprung der Sprache (Weim. 1868); L. Geiger,Ursprung und Entwickelung der menschlichen Sprache und Vernunft(Stuttg. 1869-72, 2 Bde.); Wackernagel, Über den Ursprung unddie Entwickelung der Sprache (Basel 1872); Madvig, Kleinephilologische Schriften (Leipz. 1875); Marty, Über denUrsprung der Sprache (Würzb. 1875); Noiré, Der Ursprungder Sprache (Mainz 1877); Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte (2.Aufl., Halle 1886). Weitere Litteratur S. 182.

Sprachwissenschaft.

Die Sprachwissenschaft oder Linguistik (auch allgemeineGrammatik genannt) ist als Wissenschaft erst ein Kind des 19.Jahrh. Denn die Grammatik der Griechen und Römer und die nichtminder bedeutenden grammatischen Forschungen der Inder und Araberwaren schon durch ihre Beschränkung auf eine oderhöchstens zwei Sprachen völlig ungeeignet, zu einerEinsicht in das Wesen und die Verwandtschaftsverhältnisse derSprachen zu führen, und vom Mittelalter ab bis in die Neuzeitherein bildete besonders das Vorurteil, als sei das Hebräischedie Ursprache der Menschheit, ein Hemmnis für den Fortschrittder Sprachforschung. Erst die Entdeckung der alten heiligen SpracheIndiens, des Sanskrit, gegen Ende des 18. Jahrh. und die Aufdeckungdes Zusammenhangs, in dem es mit den meisten Kultursprachen Europassteht, gaben den Anstoß zu einer ausgedehnternSprachvergleichung und damit zur Begründung einer wirklichenWissenschaft von der Sprache, deren Lebensprinzip, wie das jederWissenschaft, die Vergleichung ist. Ihrer exakten, strenginduktiven Methode wegen ist die Sprachwissenschaft mehrfach denNaturwissenschaften zugezählt worden; doch gehört sieihres Objekts wegen entschieden zu den sogen.Geisteswissenschaften, da die Sprache kein Naturprodukt, sondernein Erzeugnis des menschlichen Geistes ist. Auch waren dieBegründer der Sprachwissenschaft durchweg Philologen. Durchdie Forschungen Fr. Schlegels, Bopps und ihrer Nachfolger wurde derindogermanische Sprachstamm nachgewiesen und die zu ihmgehörigen Sprachfamilien festgestellt wie auch dievergleichende Grammatik der indogermanischen Sprachenbegründet. Zugleich regten W. v. Humboldts und Pottsweitgreifende Forschungen eingehende Untersuchungen sowohl aufandern, selbst den fernst liegenden Sprachgebieten als auf demGebiet der Sprachphilosophie an, und die historischeSprachforschung, von J. Grimm und W. Diez begründet, schufdurch exakte und gründliche Forschung in dem enger begrenztenBereich einzelner Sprachfamilien die Methode der historischenGrammatik. Seitdem hat der Betrieb der Sprachwissenschaft in ihrendrei Hauptrichtungen, der historischen, vergleichenden undphilosophischen, in allen Ländern, namentlich aber inDeutschland, einen mächtigen Aufschwung genommen.

Die genaue Beobachtung des Lautwechsels, der sogen. Lautgesetze,bildet die Hauptgrundlage, auf der die bedeutenden Resultate derSprachwissenschaft beruhen. Vor allem besitzen wir jetzt einewissenschaftliche Etymologie, während früher nach demAusspruch des heil. Augustin die Ableitung der Wörter wie dieDeutung der Träume ganz nach subjektiver Willkürbetrieben und das berüchtigte Prinzip "lucus a non lucendo"nicht selten alles Ernstes angewendet wurde. Nicht minder habenauch alle Teile der Grammatik, die Laut-, Flexions- undWortbildungslehre wie die Syntax und die Lehre von derZusammensetzung, eine völlige Umgestaltung erfahren, der sichauch die Schulgrammatik nicht mehr entziehen kann, seitdem Curtiusin seiner "Griechischen Schulgrammatik" (zuerst 1852) gezeigt hat,wie wichtig auch für den Schulbetrieb der Grammatik dieErgebnisse der vergleichenden Sprachforschung sich gestalten.Ferner ist über die Urgeschichte der Menschheit, besonders derindogermanischen Völker, ein un-

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[Zur Sprachenkarte bei Artikel Sprache etc.]

Übersicht der wichtigern Sprachstämme.

I. Einsilbige Sprachen in Südostasien.

Chinesisch mit seinen Dialekten, Anamitisch mit der Sprache vonKambodscha, Siamesisch nebst dem Schan und der Sprache der Miaotse,Birmanisch nebst Khassia und Talaing (Pegu) und Tibetisch nebst denzahlreichen, noch wenig erforschten Himalajasprachen. Die Sprachebesteht ganz aus einsilbigen Wurzeln, welche keinerVeränderung fähig sind; jede Wurzel kann je nach ihrerStellung im Satz alle verschiedenen Redeteile ausdrücken, diewir durch besondere Wortformen unterscheiden. Doch gibt es nebenden Stoffwurzeln, welche Begriffe und Thätigkeitenausdrücken, auch eine Anzahl Deutewurzeln, die sich mit unserngrammatischen Endungen vergleichen lassen. Unter sich sind dieseSprachen nur durch die Gleichheit des Baues, nicht durchGleichklang der Wurzeln verbunden.

II. Malaio-polynesischer Sprachstamm,

zerfallend in drei Gruppen (nach Fr. Müller):

1) Die malaiische, welche von der Insel Formosa an derchinesischen Küste bis zur Insel Java im Süden und biszur Insel Madagaskar in Afrika reicht und die Sprachen derPhilippinen (Tagalisch, Bisaya, Pampanga etc.), der Insel Formosa,der Inseln Borneo, Celebes und Sumatra (Dajak, Alfurisch, Bugi,Makassarisch und Batak), der Marianen, Molukken und einiger andernkleinern Inseln, der Insel Java (dazu Kawi, die stark mit Sanskritversetzte Litteratursprache), der Halbinsel Malakka (eigentlichesMalaiisch) und der Insel Madagaskar (Malagasi) umfaßt.

2) Die melanesische, auf den Neuen Hebriden und den Fidschi-sowie den Salomoninseln, vielleicht auch auf Neukaledonien(Gabelentz), den Palau-, Marshall- und Kingsmillinseln (Fr.Müller).

3) Die polynesische, auf Neuseeland (Maori), den Unionsinseln,Samoa, Tonga, Tahiti, Rarotonga, Paumotu, den Markesas, derOsterinsel etc. bis einschließlich Hawai im Norden.

Diese Sprachen zeichnen sich durch Wohlklang aus, indem sie sehrreich an Vokalen sind, dagegen nur wenig Konsonanten unterscheiden;auch sind die Wörter meist vielsilbig. Gleichwohl ist dieGrammatik auch hier sehr unentwickelt, wie z. B. Nomen und Verbumgar nicht unterschieden und nur einige andre grammatischeBeziehungen durch vorn angehängte Silben bezeichnet werden. Amunentwickeltsten sind die Sprachen Polynesiens, das wahrscheinlichden Ausgangspunkt der großen nach Westen gerichtetenWanderung der Malaio-Polynesier gebildet hat.

III. Drawidasprachen in Südindien.

Telugu und Tamil an der Koromandel-, Kanaresisch, Malayalam,Tulu an der Malabarküste, die Hauptsprachen Südindiens,die sich nach der neuesten Statistik der englischen Regierung aufungefähr 49 Mill. Köpfe in der Weise verteilen, daßdas Tamil oder Tamulische nebst dem nördlich und nordwestlichdavon bis nach der Provinz Orissa sich verbreitenden Teluguzusammen von nahezu 35 Mill., das Malayalam nebst dem nördlichdaran anstoßenden Tulu und das Kanaresische zusammen von etwa14 Mill. gesprochen werden. Das Tamil wird außerdem von einemBruchteil der Bevölkerung von Ceylon gesprochen.

Zu den Drawidasprachen werden auch die Idiome der Kota, Toda,Gond, Kond, Uraon und einiger andrer wilder Stämme inSüdindien sowie der Brahui in Belutschistan gerechnet. Diegrammatischen Elemente folgen hier der Wurzel nach und wirken aufdieselbe zurück, indem sie sich ihren Endvokal assimilieren;sonst bleibt die Wurzel unverändert.

IV. Uralaltaischer Sprachstamm,

auch Turanisch (Max Müller), Skythisch (Whitney) oderFinnisch-Tatarisch genannt, zerfällt in fünf Gruppen:

1) Die finnisch-ugrische in Osteuropa und Nordasien (nachBudenz), mit den 7 Hauptsprachen: Finnisch (Suomi) nebst Esthnischund Livisch, Lappisch, Mordwinisch, Tscheremissisch,Sirjänisch-Wotjakisch und Permisch, Ostjakisch-Wogulisch,Magyarisch.

2) Die samojedische, im Norden und Nordosten der vorigen,nämlich: Yurak, Tawgy, Jenissei- undOstjakisch-Samojedisch.

3) Die türkische, von der europäischen Türkei mitUnterbrechungen bis zur Lena, nämlich: Osmanisch, Nogaisch (inder Krim), Tschuwaschisch, Kirgisisch, Kumükisch, Uigurisch,Tschagataisch, Turkmenisch, Uzbekisch und Jakutisch. Alle dieseSprachen sind trotz der großen räumlichen Entfernungsehr nahe untereinander verwandt.

4) Die mongolische, nämlich die Sprachen der Mongolen,Kalmücken und Buräten.

5) Die tungusische, nämlich die Sprachen der Tungusen undMandschu.

Der grammatische Bau ist auch hier sehr einfach, indem jedesWort aus einer unveränderlichen Wurzel und einem oder mehrerenSuffixen besteht. Letztere sind aber sehr zahlreich unddrücken nicht bloß den Unterschied von Nomen und Verbum,sondern die verschiedensten andern grammatischen Beziehungen aus;die in den Suffixen enthaltenen Vokale werden an den Wurzelvokalassimiliert (Vokalharmonie). Die Flexion zeichnet sich durchgroße Regelmäßigkeit aus.

V. Bantu-Sprachstamm

(von kafferisch abantu, »Leute«), auchsüdafrikanischer Sprachstamm genannt, reicht, abgesehen voneinigen Unterbrechungen im Süden durch die isoliertdastehenden Sprachen der Hottentoten und Buschmänner, von derKapkolonie an im Westen etwa bis zum 8.° nördl. Br., imOsten bis zum Äquator, weiter wahrscheinlich in den nochunbekannten Regionen Zentralafrikas. Er zerfällt in 3 Gruppen(Fr. Müller):

1) Die östliche Gruppe umfaßt die Kaffernsprachen(Kafir im engern Sinn, Zulu), die Sambesisprachen (Sprachen derBarotse, Bayeye, Maschona) und Sansibarsprachen (Kisuaheli, Kinika,Kikamba, Kihiau, Kipokomo).

2) Die mittlere Gruppe besteht aus:

a) Setschuana (Sesuto, Serolong, Sehlapi).

b) Tekeza (Sprachen der Mankolosi, Matonga, Mahloenga).

3) Zur westlichen Gruppe gehören:

a) Herero, Bunda, Loanda.

b) Congo, Mpongwe, Dikele, Isubu, Fernando Po, Dualla (inCamerun).

Auch dieser Sprachstamm zeichnet sich durch eine sehr reiche undregelmäßige Flexion aus, die aber fast nur durch vornantretende grammatische Elemente (Präfixe) bewirkt wird.Besonders besitzen sämtliche Bantusprachen einebeträchtliche Anzahl von Artikeln, die zugleich, in derBedeutung von Pronomina, an das Verbum und andre Satzteile vornangesetzt werden, um die grammatische Kongruenz der Satzgliederauszudrücken. Daher hat sie Bleek die»präfix-pronominalen« Sprachen genannt.

VI. Hamito-semitischer Sprachstamm.

A. Die hamitische Gruppe umfaßt:

1) Die libyschen od. Berbersprachen in Nordafrika.

2) Die äthiopischen Sprachen, Galla, Somali, Bedscha,Dankali (Danakil), Agau, Saho, Falascha, Belen, vom südlichenÄgypten bis au den Äquator reichend.

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Übersicht der wichtigern Sprachstämme.

3) Das Altägyptische der ägyptischen Denkmälerund Papyrusrollen mit seiner ebenfalls schon ausgestorbenenTochtersprache, dem Koptischen.

B. Die semitische Gruppe teilt sich in:

1) Nördliche Abteilung, bestehend aus dem nahe verwandtenAssyrisch und Babylonisch der Keilinschriften, den kanaanitischenSprachen, nämlich Hebräisch nebst Samaritanisch undPhönikisch nebst Punisch, und aus den aramäischenSprachen, d. h. Chaldäisch und Syrisch nebst Mandäischund Palmyrenisch.

2) Südliche Abteilung mit Arabisch, jetzt auch inNordafrika verbreitet u. mit dem Islam immer weiter nach demSüden Afrikas vordringend, Himjarisch, Äthiopisch (Geez),Amharisch, Tigré, Harrari.

Die beiden ersten Spezies der semitischen Gruppe sindvöllig ausgestorben, wenn man von dem syrischen Dialekteiniger Nestorianer und Jakobitengemeinden am Urmiasee und inTurabdin absieht, und auch von der dritten Spezies sind dasÄthiopische und Himjarische jetzt erloschen. Die hamitischeund semitische Gruppe stimmen nur betreffs eines Teils ihrerWurzeln, namentlich bei den Pronomina und Zahlwörtern, undbetreffs der Unterscheidung des grammatischen Geschlechtsüberein. Sonst sind die hamitischen Sprachen grammatisch sehrwenig, die semitischen dagegen im höchsten Grad entwickelt,indem sie, die verschiedenen grammatischen Beziehungen, sowohl amNomen als am Verbum, teils durch vorn oder hinten antretendeAffixe, teils durch Variation des Wurzelvokals ausdrücken.Jede Wurzel enthält drei Konsonanten, welche stetsunverändert bleiben, so sehr die Vokale wechseln.

VII. Der indogermanische Sprachstamm

zerfällt in acht Gruppen:

1) Indische Gruppe: Jetzt ausgestorben sind das Sanskrit,Prâkrit und Pâli; lebende Sprachen sind: Hindi undHindostani (Urdu), fast in ganz Nordindien verbreitet, wo es vonnahezu 100 Mill. Menschen gesprochen wird, Pandschabi am obern,Sindi am untern Indus, Marathi und Gadscherati in derPräsidentschaft Bombay, Bengali, Assami, Oriya in Bengalen,Nepali, Kaschmiri im Norden, nach einigen auch das Singhalesischeauf der Südhälfte der Insel Ceylon, nördlich vonIndien das Kafir und Dardu, in Europa die mit diesen beiden Idiomennahe verwandte Sprache der Zigeuner, die Auswanderer aus Indiensind.

2) Iranische Gruppe: Zend oder Altbaktrisch, Altpersisch derKeilinschriften, Pehlewi oder Mittelpersisch, Pazend und Parsi,wahrscheinlich auch die Sprache der Skythen nordwärts vomSchwarzen Meer (Müllenhoff) sind die toten, Neupersisch,Kurdisch, Belutschi, Afghanisch oder Puchtu und Ossetisch (imKaukasus) die lebenden Sprachen dieser Gruppe, die mit derindischen sehr nahe verwandt ist.

3) Armenisch, früher zu der iranischen Gruppegerechnet.

4) Griechische Gruppe: Dazu gehören die alt- undneugriechischen Dialekte und Schriftsprachen; das Neugriechischeherrscht auch auf der Südküste von Kleinasien, in Kretaund Cypern.

5) Illyrische Gruppe: Albanesisch in Epirus.

6) Italische Gruppe: Latein, Umbrisch, Oskisch im Altertum; inder Neuzeit die romanischen Sprachen: Spanisch nebst Katalonisch,Portugiesisch, Italienisch, Französisch nebstProvençalisch, Rumänisch, Ladinisch nebstRätoromanisch (in Südtirol, Graubünden undFriaul).

7) Keltische Gruppe: Kymrisch in Wales und der Bretagne, dazudas ausgestorbene Cornisch in Cornwallis; Gälisch in Irland,dem schottischen Hochland (Erse) und auf der Insel Man (Manx). Auchdie nur aus einigen Inschriften bekannte Sprache der alten Galliergehört hierher.

8) Slawisch-lettische Gruppe, dazu:

a) Altslawisch oder Kirchenslawisch, jetzt ausgestorben,Russisch nebst Weiß- und Kleinrussisch (Russinisch,Ruthenisch), Serbo-kroatisch, Slowenisch oder Südslawisch inSteiermark, Kärnten etc., Tschechisch-Slowakisch inBöhmen und Mähren, Polnisch in Preußisch- undRussisch-Polen und Galizien, Wendisch in der Lausitz,

b) Altpreußisch (jetzt ausgestorben), Litauisch,Lettisch.

9) Germanische Gruppe, zerfallend in:

a) Ost- und Nordgermanisch mit Gotisch (ausgestorben),Schwedisch, Norwegisch, Dänisch, Isländisch.

b) Westgermanisch mit Hoch- oder Oberdeutsch, Mitteldeutsch,Niederdeutsch od. Plattdeutsch, Vlämisch, Niederländischund Englisch.

Der indogermanische Sprachstamm ist, wie der wichtigste u.verbreitetste, so der vollkommenste aller Sprachtypen, dem nur dersemitische einigermaßen nahekommt. Wie die übrigengrammatisch entwickelten Sprachstämme, bildet er dieWörter aus Wurzeln und Affixen, welch letztere in der Regelder Wurzel nachfolgen. Die große Anzahl der Affixe, welcheüberdies in beliebiger Menge aufeinander gehäuft werdenkönnen, ihre innige Vereinigung mit der Wurzel zu einemvollkommen selbständigen, neuen Wort ermöglichen dencharakteristischen Wort- und Bedeutungsreichtum derindogermanischen Sprachen. Auch die feine und mannigfaltigeGliederung der Sätze ist ihnen eigentümlich.

VIII. Der amerikanische Sprachstamm

umfaßt die Sprachen der Eingebornen von Nord- undSüdamerika mit Ausnahme der Eskimo im äußerstenNorden. Es gehört dazu der an die Eskimosprachen angrenzendeathabaskische Sprachstamm (dazu nach Buschmann auch dieKenaisprachen in Alaska), dessen südwestliche Ausläufer,die Idiome der Apatschen und der Navajo, bis nach Mexiko hineinreichen; die Algonkinsprachen (dazu das Delaware, Mohikan,Odschibwä, Minsi, Kri, Mikmak etc.) südlich davon sindbesonders im Osten heimisch und reichten früher von Labradorbis nach Südcarolina; westlich vom Hudson schließt sichdaran das Irokesische, weiter nach Westen, jenseit des Mississippi,das Dakota der Sioux-Indianer, das Pani der Pani-Indianer amArkansas etc. Im Felsengebirge und Quellengebiet des Missouribeginnt mit der Gruppe der Schoschonensprachen derSonora-Sprachstamm, der im südlichen Arizona und Kaliforniensowie im nördlichen Mexiko herrscht; dazu gehören wohlauch das Nahuatl der Epoche Montezumas und das davon abgeleitetemoderne Aztekisch nebst zahlreichen Dialekten, die bis nach SanSalvador reichen. Im Süden und Südosten schließensich daran die Sprachen der Urbewohner Mexikos, dermittelamerikanischen Republiken und der Antillen: Otomi,Mixtekisch, Zapotekisch, Tarasca, Cibuney, Cueva, Maya u. a. DieHauptsprachen Südamerikas sind: das Galibi oder Karibischenebst dem Arowakischen, vom Isthmus von Panama bis nach Guayana,zur Zeit der Entdeckung Amerikas auch auf den Antillen heimisch,verwandt mit dem weitverbreiteten Tupi (Lingoa geral, d. h.allgemeine Umgangssprache, genannt) im Innern von Brasilien und demGuarani am La Plata; das Chibcha in Kolumbien; die andoperuanischeGruppe mit Kechua und Aymara als Hauptsprachen; die andisischeGruppe östlich davon, mit den Sprachen der Yuracare u. a.; dasAraukanische, Patagonische, Guaicuru, Chiquito, Abiponische und dieSprache der Pescheräh oder Feuerländer. Alle dieseSprachen oder Sprachstämme Amerikas nebst vielen andern hierungenannten Sprachen (Amerika zählt deren über 400) habenzwar keine Wurzeln, aber den gleichen grammatischen Bau miteinandergemeinsam. Der ganze Satz geht im Verbum auf, mit welchem Subjekt,Objekt und adverbiale Bestimmungen zu Einem Wort verschmolzenwerden, wodurch die ungeheuern Wortkonglomerate entstehen, welchedie amerikanischen Sprachen charakterisieren.

Über die außerhalb der angeführten achtSprachstämme stehenden sogen. isolierten Sprachen vgl. denText, S. 181 f.

180c

SPRACHENKARTE.

Gegenwärtige Verbreitung der Sprachstämme.

Maßstab am Äquator

l:155 000 000.

Indogermanischer Sprachstamm:

Germanisch

Romanisch

Slawisch

^Keltisch

Griechisch

^Iranisch

^Irakisch

Ural-Altaischer Sprachstamm:

Finnisch-Ugrisch

Türkisch u. Jakut.

Mongolisch

^Tiutgusisch

^Samojectiscfv

Südostasiatischer Sprachstamm:

Chinesisch

Siamesisch

Birmanisch

Tibetisch

Hamito-Semitischer Sprachstamm:

Semitisch (Arabisch)

Hamitisch

Malayo-Polynesischer Sprachstamm:

Malayisch

Melanesisch

Polynesisch

Bantu-Sprachstamm

Drawida-Sprachen

Amerikan. "

(nur dem Bau nach verwandt)

Isolirte oder noch unerforschte Sprachen

zum Artikel »Sprachwissenschaft«

181

Sprache und Sprachwissenschaft (Verbreitung u. Einteilung derSprachen).

erwartetes Licht verbreitet worden, indem die Ausscheidung derallen indogermanischen Sprachen gemeinsamen Wörter erkennenließ, welchen Kulturgrad diese Völker vor ihrem Aufbruchaus der gemeinsamen asiatischen Heimat schon erreicht hatten. Auchhat sich im Anschluß an diese Forschungen eine vergleichendeMythologie und eine vergleichende Sitten- und Rechtsgeschichteentwickelt. Selbst die schwierige Frage nach dem Ursprung derSprache ist, wie schon erwähnt, in ein ganz neues Lichtgetreten. Das wichtigste Ergebnis bleibt aber immer dieKlassifikation der Sprachen, weil dadurch zugleich die wichtigstenFragen der Anthropologie auf einem ganz neuen Weg ihrer Lösungentgegengeführt werden. Man unterscheidet zwischen einermorphologischen und einer genealogischen Einteilung der Sprachen.Bei der erstern gibt der grammatische Bau der Sprachen denEinteilungsgrund ab, und man stellt meistenteils drei Hauptartendesselben auf. Die isolierenden Sprachen, wie z. B. dasChinesische, bestehen aus lauter einsilbigen Wurzeln, welche stetsunverändert bleiben, selbst wenn sie miteinanderzusammengesetzt werden. Der Unterschied zwischen Subjekt und Objektund überhaupt alle grammatischen Verhältnisse werden nurdurch die Stellung der Wörter im Satz ausgedrückt.Agglutinierende ("anleimende") Sprachen sind solche, welche einenTeil ihrer Wurzeln zum Zweck des Beziehungsausdrucks an andreregelmäßig anfügen und dabei die ersternverändern, während dagegen die Hauptwurzel, welche denBegriff des Wortes enthält, unverändert bleibt. EineUnterart dieser sehr zahlreichen Klasse sind die polysynthetischenSprachen, die, wie z. B. die amerikanischen, alle abhängigenoder minder wichtigen Satzglieder in verkürzter Form an dieHauptwurzel anhängen. Diese unbeholfene Ausdrucksweise istvielleicht als ein Überbleibsel aus der primitiven Stufe desSprachlebens anzusehen, als man noch nicht dazu gelangt war, denSatz in seine einzelnen Bestandteile aufzulösen. Von denpolysynthetischen Sprachen trennen manche als eine besondere Klassedie einverleibenden ab, die, wie das Baskische, dieNebenbestimmungen zwischen Wurzel und Endung einschieben.Flektierend sind diejenigen Sprachen, welche in Zusammensetzungensowohl die erste als die zweite nebst den folgenden Wurzelnbeliebig verändern können, um verschiedeneNebenbeziehungen auszudrücken. Zu dieser höchstenmorphologischen Klasse rechnet man nur den indogermanischen undsemitischen Sprachstamm. Die morphologische Verschiedenheitläßt sich auch durch Zeichen ausdrücken, indem mandie unveränderlichen Wurzeln durch große, dieveränderlichen durch kleine Buchstaben bezeichnet. DieWörter der isolierenden Klasse können dann nur die Form Aoder A B, B A, A B C etc., die der agglutinierenden außerdemauch die Form A b, A c, b A etc., die der flektierenden noch dieFormen a b, b a, a b c etc. annehmen. Übrigens kommen nichtnur in den flektierenden und agglutinierenden SprachstämmenWortbildungen nach dem isolierenden, sondern auch in denisolierenden Sprachen solche nach dem agglutinierenden und selbstdem flektierenden Prinzip vor, so daß sich diese Einteilungkeineswegs streng durchführen läßt. Viel wichtigerals die morphologische Klassifikation ist daher die genealogischeEinteilung der Sprachen, welche Gemeinsamkeit der Abstammung zumEinteilungsgrund macht. Stimmen zwei oder mehrere Sprachen sowohlin betreff ihrer Wörter und Wurzeln als ihres grammatischenBaues überein, oder haben sie wenigstens in einer diesenbeiden Beziehungen so viel miteinander gemein, daß dieAnnahme einer bloß zufälligen Ähnlichkeitvöllig ausgeschlossen ist, so muß man annehmen,daß sie auf eine und dieselbe Grundsprache zurückgehen.Hieraus folgt zugleich, daß die Völker, welche diebetreffenden Sprachen sprechen, zu irgend einer Zeit einmal eineinziges Volk gebildet haben müssen, und es ergeben sich soaus der genealogischen Klassifikation der Sprachen die wichtigstenResultate für die Einteilung der Völker und Rassen,Resultate, die viel sicherer sind als diejenigen derSchädelvergleichung, da die Sprachen weniger leicht derMischung unterliegen und stattgehabte Mischungen weit leichtererkennbar sind als bei den Körpermerkmalen.

Verbreitung und Einteilung der Sprachen.

(Hierzu die "Sprachenkarte", mit Textblatt.)

Die Gesamtzahl der lebenden Sprachen mag in runder Summe etwa1000 betragen. Adelung in seinem "Mithridates" zählte derenüber 3000 auf; dagegen veranschlagen Balbi und Pott sie nurauf 860, Max Müller auf 900, welche Ziffern jedochwahrscheinlich zu niedrig gegriffen sind. Die Sprachenstatistikwird dadurch sehr erschwert, daß es unmöglich ist, dieGrenze zwischen Sprache und Dialekt zu bestimmen. Bei einerÜbersicht über die geographische Verbreitung der Sprachenhandelt es sich vorzugsweise darum, ihre Zusammengehörigkeitzu größern oder kleinern Gruppen, die von einergemeinsamen Ursprache herstammen, zur Anschauung zu bringen. Aufbeifolgender "Sprachenkarte" und der zugehörigenÜbersicht sind nur die wichtigern der bis jetzt von derLinguistik ermittelten Sprachstämme und deren Unterabteilungenvollständig (letztere auch einschließlich der jetztausgestorbenen), von den einzelnen Sprachen sind nur diehervorragendsten aufgeführt, namentlich von den in Amerikagesprochenen. Dort ist die Sprachverschiedenheit amgrößten; geringer ist sie in den Weltteilen, diewenigstens teilweise von alters her von Kulturvölkern bewohntund daher früher zur Ausbildung von Schriftsprachen gelangtsind, in Asien und Afrika, am geringsten in Europa, wo es nur 53Sprachen gibt; die Sprachen der Eingebornen von Australien sindteilweise schon ausgestorben. Nach den bisherigen Ergebnissen dergenealogischen Einteilung der Sprachen unterscheiden wir nun achtSprachstämme: 1) einsilbige Sprachen in Südostasien; 2)den malaio-polynesischen Sprachstamm; 3) die Drawidasprachen inSüdindien; 4) den uralaltaischen Sprachstamm; 5) dieBantusprachen (südafrikanischer Sprachstamm); 6) denhamito-semitischen Sprachstamm; 7) den indogermanischenSprachstamm; 8) den amerikanischen Sprachstamm. Außerdem gibtes noch eine beträchtliche Anzahl isolierter Sprachen, welchesich, wenigstens auf Grund der bisherigen Forschungen, in keinender größern Sprachstämme einreihen lassen. Dazugehören: in Europa das Baskische in den Pyrenäen und dasjetzt ausgestorbene Etruskische (nach Corssen Indogermanisch) inToscana; die meisten Negersprachen in Nord- und Zentralafrika, sodas Wolof, Bidschogo, Banyum, Haussa, Nalu, Bulanda, Baghirmi,Bari, Dinka etc., von denen nur einzelne, wie die Nuba-, Fulbe-,Mande-, Nil-, Kru-, Ewe-, Bornusprachen, sich zu Gruppen vereinigenlassen; in Südafrika die verschiedenen Sprachen derHottentoten und Buschmänner, welche sich durch dasVorhandensein zahlreicher Schnalzlaute, im Buschmännischenacht, auszeichnen, übrigens dem Aussterben nahe sind; dieSprachen des Kaukasus, unter denen man einen südkaukasischenSprachstamm

182

Sprachfehler - Sprachreinigung.

mit Georgisch, Mingrelisch und Lasisch nebst Suanisch und einennordkaukasischen Sprachstamm mit Tscherkessisch, Awarisch, Udisch,Tschetschenzisch etc. unterscheiden kann; im Innern von Ostindiendie Mundasprachen (Ho und Santhal) etc.; das Japanische undKoreanische in Japan und Korea; das Jukagirische, Korjakische u.Tschuktschische, Kamtschadalische, Aino, Giljakische,Jenissei-Ostjakische und Kottische in Nordasien; die Sprachen derAleuten in Nordamerika; die Maforsprache auf Neuguinea und andrePapuasprachen; die südaustralischen und die jetztausgestorbenen tasmanischen Sprachen auf Vandiemensland; dieSprachen der Mincopie auf den Andamanen sowie der Negrito auf denPhilippinen und der Halbinsel Malakka und andre Sprachen. Vgl.außer den S. 180 angeführten Werken: Pott, Diequinäre und vigesimale Zählmethode bei Völkern allerWeltteile (Halle 1847); Steinthal, Charakteristik derhauptsächlichsten Typen des Sprachbaues (Berl. 1860); MaxMüller, Essays (deutsch, Leipz. 1869 ff., 4 Bde.); Schleicher,Die deutsche Sprache (5. Aufl., Stuttg. 1888); Whitney, Leben u.Wachstum der Sprache (deutsch von Leskien, Leipz. 1876); Sayce,Introduction to the science of language (2. Aufl., Lond. 1883, 2Bde.); Hovelacque, La linguistique (3. Aufl., Par. 1882); Pezzi,Glottologia aria recentissima (Tur. 1877); Fr. Müller,Grundriß der Sprachwissenschaft (Wien 1876-88, 4 Bde.); G.Curtius, Kleine Schriften (Leipz. 1886, 2 Bde.); Delbrück,Einleitung in das Sprachstudium (2. Aufl., das. 1884); Brugmann,Zum heutigen Stand der Sprachwissenschaft (Straßb. 1885);Jolly, Schulgrammatik und Sprachwissenschaft (Münch. 1874);Benfey, Geschichte der Sprachwissenschaft und orientalischenPhilologie in Deutschland (das. 1869); Brücke, Physiologie undSystematik der Sprachlaute (2. Aufl., Wien 1876); Sievers,Grundzüge der Phonetik (3. Aufl., Leipz. 1885). Eine"Zeitschrift für allgemeine Sprachwissenschaft" wird vonTechmer herausgegeben (Leipz., seit 1884).

Sprachfehler (besser Sprachstörungen) werden bedingtdurch Bildungsfehler oder Erkrankungen 1) der lautbildenden Organe(Kehlkopf, Schlund, Mund), 2) des diesen Artikulationsorganenzugehörenden Nervenapparats. Über S. der ersten Gruppe s.die betreffenden Artikel. Die S. der zweiten Gruppe, dieeigentlichen S., äußern sich als solche derArtikulation, d. h. der mechanischen Silben- und Wortbildung, undsolche der Diktion, d. h. der Fähigkeit, einen Gedanken inrichtiger Wahl und Anordnung der Wörter zum Ausdruck zubringen. Bei den Fehlern der Artikulation handelt es sich umBeeinträchtigung derjenigen Muskelbewegungen, welchenötig sind, um einen bestimmten Laut hervorzubringen; dieseMuskeln werden in Thätigkeit versetzt von dem zwölftenGehirnnerv (nervus hypoglossus), und da die Ursprungsstellen oderKerne dieses Nervs im verlängerten Mark (bulbus), am Boden desvierten Gehirnventrikels, gelegen sind, so sind es besondershäufig Blutungen oder andre Veränderungen diesesGehirnteils, welche zu schweren Bewegungsstörungen derLippen-, Zungen- und Schlundmuskulatur (Bulbärparalyse, s. d.)führen. Die S. der Diktion sind stets bedingt durchErkrankungen des Großhirns (z. B. Gehirnerweichung), und zwarsind es besonders zwei Stellen der Großhirnrinde, derenZerstörung die als Aphasie benannten S. herbeiführt. Dieeine dieser Stellen (von Broca entdeckt) findet sich beiRechtshändern im Fuß der dritten linken Stirnwindung,die andre (nach Wernicke) in der ersten Schläfenwindung. Istdie erstere erkrankt, so findet sich motorische oder ataktischeAphasie, d. h. der Kranke ist nicht im stande, die Bewegungenseiner Sprachwerkzeuge so zu beeinflussen, daß ein ihm inseinem Bewußtsein vorschwebender Laut ertönt. BeiSchädigung der zweiten Stelle tritt sensorische Aphasie(Worttaubheit Kußmauls) ein, wobei der Kranke trotzvorhandener Intelligenz und bei intaktem Gehör den Sinngesprochener Worte nicht auffassen kann. Als amnestische Aphasiebezeichnet man das Unvermögen des Kranken, für einen ihmbekannten Gegenstand die richtige Bezeichnung zu finden; alsParaphasie das Verwechseln ganzer Wörter oder Silben, einkrankhaftes Sichversprechen. - Den Störungen der Spracheentsprechen solche des Schreibens, der Aphasie die Agraphie; dochfindet sich z. B. bei sensorischer Aphasie nicht etwa auchsensorische Agraphie, d. h. das Unvermögen, Geschriebenes zuverstehen, woraus hervorgeht, daß die Zentren des Hörensund Lesens an verschiedenen Stellen der Gehirnrinde ihren Sitzhaben. Da die meisten S. durch solche Gehirnveränderungenbedingt werden, welche einen dauernden Verlust von Rindensubstanzmit sich bringen, so sollte man annehmen, daß diese S.unheilbar sein müßten; doch lehrt die Erfahrung,daß teilweise oder völlige Heilung eintreten kann, wobeinamentlich methodischer Unterricht von Erfolg ist. Vgl.Kußmaul, Störungen der Sprache (2. Aufl., Leipz.1881).

Sprachgewölbe, Gewölbe, welche so gebaut sind,daß alles, was an einem bestimmten Punkt ihres Innern leisegesprochen wird, nur an einem andern Punkte desselben gehörtwerden kann. Sie müssen ellipsoidisch gebaut sein, weilEllipsen die Eigenschaft haben, alle Schallstrahlen, welche von demeinen ihrer beiden Brennpunkte ausgehen, nach dem andernzurückzuwerfen und dort zu vereinigen. Die Pariser Sternwarte,die Kuppel der Paulskirche in London, das Ohr des Dionys besitzenoder bilden solche [korrigiert für "soche"] S. Vgl. Echo.

Sprachlehre, s. Grammatik.

Sprachreinigung, die Ausscheidung fremdartiger, imweitern Sinn auch fehlerhafter Beimischungen (Solözismen) auseiner Sprache und die Ersetzung derselben durch einheimische undregelrecht gebildete Wörter und Wortverbindungen. Das hieraufgerichtete Streben ist an sich löblich; doch muß dabeimit Vorsicht, gründlicher Sprachkenntnis, gesundem Urteil undgeläutertem Geschmack zu Werke gegangen werden, da es leichtin Übertreibung (Purismus) ausartet. Wörter wie Fenster,Wein, Pforte, opfern, schreiben etc. (v. lat. fenestra, vinum,porta, offerre, scribere) lassen nur für den Sprachforscherden fremden Ursprung erkennen; seit frühster Zeiteingebürgert, haben sich dieselben mit den auf deutschemSprachboden erwachsenen Wörtern verschwistert und gleicheRechte erworben (vgl. Fremdwörter). Auch werden heutzutage,wenn neue technische und wissenschaftliche Begriffe einesprachliche Bezeichnung verlangen, die Ausdrücke dafürmit Recht vornehmlich dem griechischen und lateinischenSprachschatz entnommen. Mit einheimischen vertauscht, sind diesehäufig unverständlich oder zu unbestimmt oder müssengar umschrieben werden; auch wird dadurch der Verkehr mit fremdenNationen erschwert. Mehr als lächerlich ist es aber, wenn derPurismus sich an solchen Wörtern vergreift, die nur scheinbarfremden Ursprungs sind, wie z. B. von Deutschtümlern fürNase der Ausdruck "Gesichtserker" vorgeschlagen wurde, währendNase keineswegs von dem lateini-

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Sprachrohr - Sprachunterricht.

schen nasus stammt, sondern ein Urwort ist, das sich in allenindogermanischen Sprachen übereinstimmend wiederfindet(sanskr. nas, nasa, altpers. naha, lat. nasus, altslaw. nosu etc.).Auch die S., die in neuester Zeit von einigen Germanisten an dendurch Volksetymologie (s. Etymologie) entstandenen WörternSündflut, Friedhof u. a. versucht wurde, ist, obwohl sie aufgründlicher Sprachkenntnis beruht, nicht zu billigen. Indiesen Fällen hat die jetzige Schreibung und Deutung dieserWörter längst das Bürgerrecht erlangt, wenn auch"Sinflut" und "Freithof", wie man nach jenen Gelehrten schreibensollte, früher "die große Flut" und den "eingefriedigtenHof" bedeutet haben. Ihren triftigen Grund hat dagegen die S., wennaus bloßer Nachlässigkeit oder Bequemlichkeit oder ausVorliebe für das Ausländische ohne alle NotFremdwörter eingeschwärzt werden. Einen solchen Kampfhatte namentlich die deutsche Sprache zu führen seit demAnfang des 17. Jahrh., als der Verkehr mit den Franzosen zunahm undder Deutsche die größere Freiheit und Gewandtheitderselben auch durch Nachäffung ihrer Sprache sich anzueignensuchte. Energisch trat diesem Unwesen zuerst Martin Opitz in seinemBuch "Von der teutschen Poeterei" entgegen; weiter noch gingPhilipp v. Zesen teils mit seiner Schrift "Rosenmond", teils durchdie Stiftung der Deutschgesinnten Genossenschaft (s. d.) inHamburg. Ähnliche Zwecke verfolgten: die Frucht bringendeGesellschaft zu Weimar, der Blumenorden an der Pegnitz zuNürnberg, der Schwanenorden an der Elbe und die DeutscheGesellschaft zu Leipzig. Größern Erfolg aber als dieseVerbindungen, die von abgeschmackt puristischen Bestrebungen sichnicht frei erhielten, hatten die Bemühungen einzelner fürdie Sache begeisterter Männer, namentlich Leibniz', der,obschon er nur selten in deutscher Sprache schrieb, dennoch dieKraft und Ausdrucksfähigkeit derselben wohl erkannte und inseinen "Unvorgreiflichen Gedanken, betreffend die Ausübung undVerbesserung der deutschen Sprache" (1717) und der "Ermahnung andie Deutschen, ihren Verstand und ihre Sprache besser zu üben"(hrsg. von Grotefend, Hannov. 1846) gerade die deutsche Sprache alsdie geeignetste für die Darstellung einer wahren Philosophieerklärte. Noch freilich fehlten Werke, die mit dem Strebennach reiner und edler Form auch gediegenen Inhalt verbanden. Sobaldaber im 18. Jahrh. die große Blütezeit der deutschenLitteratur anbrach, erhob sich auch die Sprache aus ihrer tiefenErniedrigung und gedieh durch unsre Klassiker noch vor dem Ende desJahrhunderts zu hoher Vollendung. Nicht ohne Verdienst waren dabeiauch die besondern, ausdrücklich auf S. gerichtetenBemühungen J. H. Campes (s. d.) und Karl W. Kolbes (gest.1835; "Über Wortmengerei", Berl. 1809), während Chr.Heinr. Wolke (gest. 1825) sich wieder in übertriebenenPurismus verirrte. In der neuesten Zeit wurde der Kampf gegen dennoch immer über Gebühr herrschenden Gebrauch vonFremdwörtern sowohl als von sprachwidrigen Wortbildungen undRedensarten von M. Moltke in seiner Zeitschrift "DeutscherSprachwart" (1856-79) und namentlich von dem 1885 begründetenAllgemeinen Deutschen Sprachverein und der "Zeitschrift" desselben(hrsg. von Riegel in Braunschweig) wieder aufgenommen. Vgl. Wolff,Purismus in der deutschen Litteratur des 17. Jahrhunderts(Straßb. 1888); H. Schultz, Die Bestrebungen derSprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts für Reinigung derdeutschen Sprache (Götting. 1888); Riegel, Der AllgemeineDeutsche Sprachverein (Heilbr. 1885).

Sprachrohr, eine Blechröhre von der Form einesabgekürzten Kegels, dessen kleinere Öffnung derSprechende vor den Mund nimmt, während er die weitere einerentfernt stehenden Person zuwendet. Je größer das S.ist, desto lauter und weiter vernehmbar ist das hineingesprocheneWort. Auf Schiffen bedient man sich meist solcher von 1,25-2 mLänge bei einer Stärke von 5 cm an dem obern und von15-25 cm an dem untern Ende. Eine starke Mannsstimme soll sichdurch ein S. von 5,5-7,5 m Länge auf 5,5 km vernehmlich machenlassen, mit einem 1,5 m langen aber kann man auf eine Entfernungvon höchstens 1,5-2 km verstanden werden. Erfunden ward das S.1670 von dem Engländer Morland, welcher die ersten aus Glas,dann aus Kupfer verfertigte. Die Theorie des Sprachrohrsbearbeitete namentlich Lambert. Überall gleich weite Rohre(Blei-, Zinkrohre etc.) mit Mundstück, welche zwei entfernteRäume direkt miteinander verbinden und zur Übermittelungvon gesprochenen Worten dienen, nennt man wohl auch Sprachrohre(Kommunikationsrohre). Durch ein 950 m langes Rohr hört mannoch leise Geräusche.

Sprachunterricht. Da die Sprachen in der Regel zu praktischenZwecken erlernt werden, d. h. um verstanden und gesprochen zuwerden, so bietet sich als der natürliche Weg zum Ziel dieArt, wie wir unsre Muttersprache erlernen. Man gibt also Kindernausländische Erzieherinnen und bringt es nicht selten dahin,daß gut begabte Kinder sich in mehreren Sprachenauszudrücken vermögen, allerdings meist auf Kosten ihrerMuttersprache; da aber die Korrektheit des Ausdrucks und der Umfangdes Sprachmaterials notwendig von dem oft sehr geringenBildungsgrad der Bonnen abhängen, so kann von einerBeherrschung der Sprache gar keine Rede sein. Für Erwachseneist ein längerer Aufenthalt im Ausland sowie die unausgesetzteÜbung im Gebrauch des fremden Idioms notwendig, wenn dieFertigkeit, sich leicht und fließend in der fremden Spracheauszudrücken, erreicht werden soll. "Es gehört eine gargroße Gewandtheit dazu, der Natur entgegen, die eigentlichjeden nur an Eine Sprache, wie an Ein Vaterland gewiesen hat, sichzweier Sprachen bis zum Schreiben und Reden zu bemächtigen,und nur diejenigen können hierin den Mund zum Fordern weitaufthun, die keine solcher Forderungen selbst zu erfüllenvermögen" (Fr. A. Wolf). Leute, die als Dienstboten,Handwerker, Handlungsdiener etc. sich in einem fremden Landaufhalten, vermögen zwar nach einer gewissen Zeit sich imfremden Idiom auszudrücken; da sie aber immer nur einen engumgrenzten Wortschatz und Ideenkreis beherrschen, so haben sie beimVersuch, sich in einer andern geistigen Sphäre zu bewegen,fast dieselben Schwierigkeiten zu überwinden, als sollten sieeine neue Sprache erlernen. Ebenso sind die Deutsch-Amerikaner einredender Beweis dafür, daß der ausschließlicheGebrauch eines fremden Idioms, das bedingungslose Aufgehen in dasWesen einer fremden Nation immer den Verlust der Muttersprache zurFolge hat. In vielsprachigen Ländern, wie Österreich,Rußland etc., fehlt es nicht an Menschen, die fünf undsechs Sprachen nebeneinander sprechen; aber vollständigbeherrschen sie selten auch nur eine. Bei dieser Art derSpracherlernung kann natürlich von S. keine Rede sein; dieErfahrung hat aber gelehrt, daß ein Aufenthalt im Auslanderst dann wirklich fruchtbar ist, wenn die Grundlage einer gutengrammatischen Vorbildung vorhanden ist. Diese muß sogarausreichen für alle die, welche weder Zeit

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Sprachunterricht (Schule und Selbststudium).

noch Mittel haben, das Ausland aufzusuchen, und denen es wenigerauf Sprachfertigkeit als auf die Befähigung ankommt, die inder fremden Sprache geschriebenen Werke zu verstehen und vielleichtauch einen Brief in derselben abzufassen. Diese Vorbildung erwirbtman gewöhnlich mit Hilfe eines Lehrers unter Zugrundelegungeines Lehrbuchs; die Methoden des Unterrichts sind entweder dieanalytische oder die synthetische. Während die analytischeMethode, welche auch die natürliche, praktische oder dieinduktive genannt wird, mit der mechanischen Einübung einesSprachstoffes beginnt und an diesem die Gesetze der Sprache zuerkennen und zu entwickeln lehrt, geht die synthetische,wissenschaftliche oder deduktive Methode den umgekehrten Weg, vonder Regel zum Beispiel, von dem in Form und Geltung erkanntenEinzelwort zur Bildung eines Sprachganzen. Diesen Weg haben imallgemeinen alle gelehrten Schulen bis auf den heutigen Tageingeschlagen, nur daß wohl kaum noch die Synthese in ihrerReinheit angewendet wird; jedenfalls erfährt derpropädeutische Kursus jetzt eine vorwiegend praktische undmethodische Behandlung. Das Verdienst, diese in die Schuleeingeführt zu haben, anfangs allerdings nur für dasFranzösische, gebührt Seidenstücker (Rektor inSoest, gest. 1817). Nach ihm wird mit den einfachsten Sätzenbegonnen, und an ihnen werden die Elemente der Sprache zurAnschauung gebracht, dann allmählich und stufenweisefortgeschritten, bis das Wichtigste aus der Grammatik sowie dienotwendigsten lexikalischen Kenntnisse vorgeführt sind unddurch unablässige Übung festgewußt werden; erstdann schreitet man zu leichtern, zusammenhängendenLesestücken. Diese Methode, welche ohne besondere Berechtigungdie Ahnsche genannt wird, ist von Schifflin, Seyerlein, Barbieux,Schmitz u. a. selbständig fortgebildet worden und hat ihreAnwendung auf alle europäischen Sprachen gefunden; sie ist ambekanntesten geworden durch die französischen Lehrbüchervon Plötz (s. d.), welche eine große Verbreitunggefunden haben. Die geschickte Anordnung und leichtfaßlicheDarstellung des Sprachstoffes sowie die Betonung der Wichtigkeiteiner guten Aussprache sind ihre Hauptvorzüge, währendmit Recht über die oft überaus trivialenÜbungssätze, über den Zwang, den seine "Methodik"auf den Gang des Unterrichts ausübt, und über den Mangelan Wirtschaftlichkeit geklagt wird.

Die Versuche, die rein analytische Methode für denUnterricht nutzbar zu machen, gehen alle auf die Interlinearmethodedes Franzosen Jacotot (s. d.) und des Engländers Hamilton(s.d. 9) zurück, welche darauf beruht, daß zuerst einSprachganzes vollständig eingeübt, dann in seine Teilezerlegt und erläutert wird. Es wird also ein Abschnitt aus demzu Grunde gelegten Musterbuch (bei Jacotot der "Telémaque"von Fénelon, bei Hamilton das Evangelium Johannis), welchesmit fortlaufender Interlinearübersetzung versehen ist, solange gelesen, übersetzt und abgefragt, bis der Schüleres vollständig innehat. So schafft man durch unablässigeWiederholung einen festen Besitz von Wörtern und Phrasen undbringt mit diesem Grundstock das jedesmal hinzutretende Neue inlebendige Verbindung. Erst spät tritt grammatische Analyse undbei Jacotot auch Synthese hinzu. Die bessere Durcharbeitung undDurchführung der Methode ist unbedingt Jacototnachzurühmen; ihre größte Schwäche bestand inder Gefahr, das Interesse der Schüler durch die mechanischeBehandlung des Stoffes abzustumpfen und sie zu einerOberflächlichkeit zu erziehen, welche äußerlicheFertigkeit und Dressur mit wirklichem Wissen und Könnenverwechselt. Dennoch erwarben die unzweifelhaften Erfolge, welchedie Erfinder aufzuweisen hatten, ihrer Methode viele Freunde, undwenn auch die Versuche andrer, nach derselben zu unterrichten (z.B. von L. Tafel in Württemberg, L. Lewis in Österreich,W. Blum in Leipzig), scheiterten, so haben doch einigeLehrbücher, in denen die analytische Methode mehr ausgebildetwurde und zwar durch stärkere Betonung der grammatischenSynthese, große Verbreitung gefunden, z. B. die englischenLehrbücher von Gesenius, Fölsing u. a. GroßesAufsehen haben die Reformvorschläge von Perthes in Karlsruheerregt, welche die analytische Methode auch auf den lateinischenUnterricht (und zwar zur leichtern Erlernung der Sprache) anwendenwollen und zuerst in der "Zeitschrift für Gymnasialwesen"1873-75 veröffentlicht wurden. Seine Methode bestehthauptsächlich darin, daß der Knabe von Anfang an zurInduktion angeleitet wird, daß die Wörter und Phrasen,die ihm entgegentreten, nicht aus ihrem natürlichenZusammenhang gerissen werden, daß das Neue stets nach dersogen. gruppierenden Repetitionsmethode an das Gelernteangeknüpft werde, und daß der Unterricht durchHinweisung auf abgeleitete Wörter und naheliegende oder leichtabzuleitende Begriffe aus der unbewußten Aneignung derselbenmöglichst Nutzen ziehe. Die Hauptsache sind, wie bei allenMethodikern, seine Hilfsbücher, welche mit großemFleiß und Geschick gearbeitet sind und eine trefflicheAnleitung zur Präparation geben. Allein trotz der Anerkennung,welche diese Vorschläge gefunden haben, verhält sich dieüberwiegende Mehrzahl der Fachmänner ablehnend; besonderswird das Prinzip der unbewußten Aneignung bestritten sowiedie Anwendbarkeit der Induktion auf die Erlernung der Grammatik.Auch im Französischen sind in neuester Zeit Versuche gemachtworden, die rein analytische Methode in den Anfangsunterrichteinzuführen. Man geht von kleinen Erzählungen aus,übt sie mechanisch ein, lehrt daran lesen, sprechen, schreibenund, durch Zusammenstellung des Gleichartigen, die Grammatik, dochnur, soweit sie am Übungsstoff in die Erscheinung tritt. DieseMethode, welche sich auf die Lehrbücher von Mangold und Coste,von Ulbrich u. a. stützt, rühmt sich großerErfolge, findet aber auch starken Widerspruch und wird ihn ebensowie die Perthessche finden, solange an den Schulen die Erreichungeiner logisch-formalen Bildung als das Hauptziel des Unterrichtsgilt.

Wer zur Erlernung einer Sprache auf Privatunterricht oderSelbststudium angewiesen ist, hat die Auswahl unter einer Anzahlvon Lehrbüchern, welche sich zwar alle einer ihneneigentümlichen Methode rühmen, aber doch samt und sondersan die natürliche Art der Spracherlernung durch den Gebrauchanknüpfen. Zu den verbreitetsten gehören die vonOllendorff. In ihnen sind die Regeln auf ein geringes Maßbeschränkt, Vokabeln und Sätze dem gewöhnlichenLeben entnommen und außer den fremdsprachlichenMusterbeispielen nur deutsche Übungssätze gegeben,welche, auf Einführung in die Konversation berechnet,hauptsächlich Fragen und Antworten enthalten. Der engbegrenzte Kreis von Wörtern und Gedanken, in denen sich dieseSätze bewegen, bedingt eine fortwährende Wiederholung desmeist trivialen und absurden Stoffes und führt zu einermechanischen, geistlosen Dressur. Ebenso wie Ollendorff gehtRobertson darauf aus, den Lernenden möglichst bald zumSprechen zu befähigen. Diese Methode (weitergebildet vonÖlschläger und A. Boltz) nähert

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Sprachvergleichung - Spreewald.

sich der Hamiltonschen, unterscheidet sich aber darin, daßauf jeden Textabschnitt mit der Interlinearversion einemöglichst ausführliche Erläuterung grammatischer,lexikologischer und andrer Schwierigkeiten folgt, die demSchüler am besten vorbehalten bleibt. Eine andre vielangepriesene Methode, das Meisterschaftssystem von Rich. S.Rosenthal, welche in drei Monaten bei täglichhalbstündiger Arbeit eine fremde Sprache lesen, sprechen undschreiben lehren will, kann ihr Programm nur erfüllen durchweise Beschränkung auf die für den Reisenden undGeschäftsmann notwendige Sprache. Von "System" ist allerdingswenig zu merken; die Grammatik wird vollständigzerpflückt, und in Bezug auf die Aussprache muß derVerfasser den Schüler an einen ausländischen Lehrerverweisen! Einen großen Teil seiner Regeln, Beispiele etc.hat das "Meisterschaftssystem" der sogen. Konversationsmethode vonGaspey-Otto-Sauer entnommen, deren Lehrbücher fürFranzösisch, Englisch, Italienisch, Spanisch,Holländisch, Russisch großen Nachdruck aufSprechübungen legen und die oben erwähntenLehrbücher durch größere Einfachheit undZuverlässigkeit übertreffen. Das Meisterschaftssystemunter gleichzeitiger Anwendung der Robertsonschen Methode hat F.Booch-Árkossy in Leipzig für seine modernen Grammatikenbenutzt, die für Schul- und Selbstunterricht eingerichtet sindund nicht nur alle neuern Sprachen, sondern auch Latein undGriechisch lehren wollen; er "berechnet das Studium dieser letzternauf je ein Jahr, welches bei ausschließlicher Verwendungdieser Zeit auf den betreffenden Gegenstand hinreichen wird, demfleißig Studierenden die betreffende klassische Litteraturzum selbständigen nützlichen und angenehmen Gebrauch zuerschließen". Nützlich und empfehlenswert sind die vonThum herausgegebenen Lehrbücher des Englischen,Französischen etc. für den Kaufmann und Gewerbtreibenden;sie beschränken sich auf die dem geschäftlichen Lebenangehörigen Phrasen, Vokabeln und Übungen und führenleicht und sicher in den kaufmännischen Stil ein. Eineausgezeichnete Hilfe für das Selbststudium bieten dieUnterrichtsbriefe von Toussaint-Langenscheidt fürFranzösisch und Englisch. Diese, von vortrefflichen Kennernder beiden Sprachen zusammengestellt, geben nicht nur Anleitung zurrichtigen Aussprache, sondern auch klar und präzisgefaßte Regeln und einen durchaus korrekten Sprachstoff("Atala" von Chateaubriand und "The Christmas Carol" von Dickens).Durch die Reichhaltigkeit des Stoffes, die leichteVerständlichkeit der Darstellung sowie die Richtigkeit desGebotenen übertreffen diese "Briefe" alle ähnlichenWerke, stellen aber an den Lernenden so hohe Anforderungen,daß er nur mit "großer Anstrengung, Ausdauer undEinsetzung der edelsten Kräfte" sein Ziel in der angegebenenZeit (9 Monate) erreichen wird. Diese "Briefe" sind häufignachgeahmt worden. In allerneuester Zeit macht die Methode vonBerlitz aus Nordamerika viel von sich reden, welche darin besteht,daß der Lehrer sich beim Unterricht ausschließlich desfremden Idioms bedient und auch die Schüler zwingt, indemselben zu antworten. Sie ist also im Grund nichts andres als diesystematisierte Form der Erlernung einer fremden Sprache im fremdenLande durch den wirklichen Gebrauch.

Sprachvergleichung, Sprachwissenschaft, s. Sprache undSprachwissenschaft.

Sprangrute, s. Vogelfang.

Spratzen, die Eigenschaft einiger Metalle, imflüssigen Zustand absorbierte Gase während derAbkühlung zu entlassen, wobei das gewaltsam entweichende GasMetallteilchen mit fortreißt und zuweilen auf derOberfläche des Metalls blumenkohlähnliche Auswüchsehervorbringt. So absorbiert Silber Sauerstoff, Kupfer schwefligeSäure, Stahl Kohlenoxydgas.

Spray (engl., spr. spreh), "Sprühregen" vonantiseptischer Flüssigkeit, welcher nach Listers Vorschriftender Wundbehandlung bei Operationen über das ganzeOperationsfeld, die Hände des Chirurgen und die Instrumentemittels Richardsonschen Doppelgebläses unterhalten werdensoll. Nachdem bakteriologische Untersuchungen dieUnschädlichkeit der Luft erwiesen haben, wird die S. kaum nochangewandt.

Sprechmaschine, s. Sprache, S. 178.

Sprechsaal, in vielen Tages- und Wochenzeitschriften eineAbteilung, in welcher die Redaktion Anfragen ihrer Abonnentenbeantwortet, auch Zuschriften derselben von gemeinnützigemInteresse zum Abdruck bringt und einen schriftlichen Verkehrzwischen den Lesern vermittelt. Vgl. Eingesandt.

Spree, der bedeutendste unter den Nebenflüssen derHavel in der Mark Brandenburg, entspringt bei dem Vorwerk Ebersbachin der sächsischen Oberlausitz, unweit der böhmischenGrenze, in mehreren Quellen, von denen der Spreeborn in Spreedorfund der Pfarrborn in Gersdorf als Hauptquellen angesehen werden undneuerdings vom Humboldt-Verein in Zittau eingefaßt und mitAnlagen umgeben worden sind, durchfließt die sächsischeOberlausitz, teilt sich hinter Bautzen in zwei Arme, die beiHermsdorf und Weißig auf preußisches Gebietübertreten und bei Spreewitz wieder zusammenfließen. DieS. fließt dann an Spremberg und Kottbus vorbei, wendet sichunterhalb letzterer Stadt westlich, teilt sich in viele Arme undbildet den Spreewald (s. d.). Oberhalb Lübben vereinigen sichdiese Arme wieder, woraus die S. eine nordöstliche Richtungnimmt und sich unterhalb Lübben abermals in mehrere Armeteilt, die sich bei Schlepzig wieder vereinigen. Sie wird beiLeibsch für kleinere Fahrzeuge schiffbar, durchfließtden Schwielug- und Müggelsee, bildet bei Berlin eine Insel,auf der ein Hauptteil dieser Stadt, Kölln an der S., gebautist, und mündet unterhalb Spandau links in die Havel, nachdemsie einen Lauf von 365 km (wovon 180 schiffbar) zurückgelegthat. Ihre Hauptzuflüsse sind rechts: die Schwarze Schöps,Malxe, das schiffbare Rüdersdorfer Kalkfließ und diePanke (in Berlin); links: die Berste und die schiffbare Dahme, diewieder mehrere schiffbare Gewässer, darunter die Notte,aufnimmt. Das ganze Flußgebiet der S. beträgt 9470 km(172 QM.). Durch den Friedrich Wilhelms- oder Müllroser Kanal,neuerdings auch durch den Oder-Spreekanal (s. d.) ist sie mit derOder verbunden; außerdem bestehen noch bei Berlin mehrereschiffbare Kanäle, von denen der Landwehrkanal Berlin auf derSüdseite umgeht und der Berlin-Spandauer Schiffahrtskanal (9km lang) unterhalb Berlin die S. auf der rechten Seiteverläßt und zur Havel bei Saatwinkel führt. Um dieS. innerhalb Berlins mit großen Schiffen befahren zukönnen und den Durchgangsverkehr zwischen Elbe und Oder(Hamburg und Breslau) zu erlangen, ist eine Tieferlegung desFlußbettes innerhalb des Weichbildes der Stadt in Aussichtgenommen, deren Kosten auf 9,5 Mill. Mk. veranschlagt sind.

Spreewald, bruchige Niederung an der Spree impreuß. Regierungsbezirk Frankfurt, in den Kreisen Kottbus,Kalau und Lübben, ist in seinem Hauptteil, dem obern S.,zwischen Peitz und Lübben, 30 km lang und zwischen Neuzaucheund Lübbenau 10 km

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Sprehe - Sprengen.

breit, während der untere S., unterhalb Lübben, 15 kmLänge und 6 km Breite hat. Von der Spree in zahlreichennetzförmig verbundenen Armen durchflossen, ist die Niederungoft überschwemmt. Ein Teil des sumpfigen Bodens ist durchKanäle entwässert und in Felder und Wiesen umgewandeltworden, während der andre, mit Wald (größtenteilsErlen) bestandene Teil nur auf Kähnen zugänglich ist. Dergleiche Verkehr findet auch in den Orten Burg (Kaupergemeinde),Lehde und Leipe statt, wo jedes Gehöft auf einer einzelnenInsel liegt. Die Einwohner sind nur noch im östlichen Teil desobern Spreewaldes (Burg) Wenden, sonst bereits germanisiert; sietreiben außer Viehzucht und Fischerei besondersGemüsebau, dessen Produkte (Gurken von Lübbenau) weitverfahren werden. Durch die Bemühungen des Spreewaldvereinsist neuerdings Sorge getragen, die Schönheiten des Spreewaldesnoch mehr aufzuschließen, namentlich auch die für denFremdenverkehr meist unzulänglichen Wirtshäuser zu heben.Vgl. Franz, Der S. in physikalischer und statistischer Hinsicht(Görl. 1800); "Führer durch den S." (Lübben 1889);Trinius, Märkische Streifzüge, Bd. 3 (Mind. 1887);Köhler, Die Landesmelioration des Spreewaldes (Berl. 1885); v.Schulenburg, Wendische Volkssagen aus dem S. (Leipz. 1879); Virchowund v. Schulenburg, Der S. und der Schloßberg von Burg,prähistorische Skizze (Berl. 1880).

Sprehe (Spreu), Vogel, s. v. w. Star.

Sprekelia formosissima, s. Amaryllis.

Spremberg, Kreisstadt im preuß. RegierungsbezirkFrankfurt, an der Spree und der Linie Berlin-Görlitz derPreußischen Staatsbahn, 104 m ü. M., hat 2 evangelischeund eine neue gotische kath. Kirche, ein Realprogymnasium, eineWebschule, ein Rettungshaus, ein Amtsgericht, eineReichsbanknebenstelle, sehr bedeutende Tuchfabrikation nebstWollspinnerei, Papp- und Möbelfabrikation, ein großesMühlenwerk, Braunkohlengruben und (1885) 10,999 meist evang.Einwohner.

Spreng., bei naturwissenschaftl. Namen Abkürzungfür Kurt Sprengel (s. d.).

Sprengarbeit, s. Sprengen.

Sprengbock, in der Baukunst, s. Bock.

Sprengel, 1) Kurt, Arzt und Botaniker, geb. 3. Aug. 1766zu Boldekow bei Anklam, studierte seit 1784 in Halle Theologie,später Medizin und Naturwissenschaften, ward 1789 daselbstProfessor der Medizin, 1797 auch der Botanik und starb hier 15.März 1833. S. erweckte zu Anfang des 19. Jahrh. erneutesInteresse für Phytotomie und lieferte mehrere Untersuchungenüber Zellen und Gefäße; größereVerdienste erwarb er sich als Historiker der Medizin und Botanik.Er schrieb: "Pragmatische Geschichte der Arzneikunde" (Halle1792-1803, 5 Bde.; 3. Aufl. 1821-28; Bd. 6 von Eble, Wien 1837-40;Bd. 1, 4. Aufl. von Rosenbaum, Leipz. 1846); "Historia reiherbariae" (Amsterd. 1807-1808, 2 Bde.); "Geschichte der Botanik"(Altona u. Leipz. 1817-18, 2 Bde.); "Neue Entdeckungen im ganzenUmfang der Pflanzenkunde " (das. 1819-22, 3 Bde.). Seine "Opusculaacademica" nebst Biographie gab Rosenbaum heraus (Leipz. 1844). -Ein Oheim Sprengels, Christian Konrad S., geb. 1750, gest. 7. April1816 als Rektor in Spandau, entdeckte die Bestäubung derBlüten durch Insekten und schrieb: "Das entdeckte Geheimnisder Natur im Bau und in der Befruchtung der Blumen" (Berl.1793).

2) Karl, Landwirt, geb. 1787 zu Schillerslage bei Hannover,besuchte die Thaerschen Institute in Celle und Möglin und warseit 1808 als Ökonom in Sachsen und Schlesien thätig,studierte 1821-24 in Göttingen Naturwissenschaften,habilitierte sich 1830 daselbst als Privatdozent der Ökonomieund Chemie und folgte 1831 einem Ruf als Professor derLandwirtschaft an das Carolinum in Braunschweig, von wo er 1839 alsGeneralsekretär der Ökonomischen Gesellschaft in Pommernnach Regenwalde ging. Hier gründete er eine höherelandwirtschaftliche Lehranstalt und eine Ackergerätfabrik undstarb 19. April 1859. S. gehört zu den VorläufernLiebigs, insofern er die Naturforschung in die Landwirtschafteinführte und namentlich die Chemie auf Bodenkunde undDüngerlehre anwandte. Er betonte bereits, daß jedePflanze eine bestimmte Menge nicht organischer Stoffe zu ihrerAusbildung bedürfe, und daß auch der Stickstoffgehaltdes Düngers und des Bodens zu berücksichtigen sei. Auchbildete er die Boden- und Düngeranalyse aus und wollte durchkünstlichen Dünger Ersatz für die durch die Analysefestgestellte Erschöpfung des Bodens geben. Er schrieb:"Chemie für Landwirte" (Braunschw. 1831-32); "Bodenkunde" (2.Aufl., Leipz. 1844); "Die Lehre vom Dünger" (2. Aufl., das.1845) und "Die Lehre von den Urbarmachungen" (2. Aufl., das. 1846).Seit 1840 gab er die "Allgemeine landwirtschaftliche Monatsschrift"(Kösl. 1840-44, Berl. 1844 ff.) heraus.

Sprengen, Zertrümmerung fester Materialien, wobei essich um die Gewinnung der Bruchstücke (Bergbau,Steinbruchbetrieb etc.) oder nur um Beseitigung des Materials(Tunnel-, Straßen-, Kanalbau, Eissprengung) oder umVerwertung der den Bruchstücken erteilten lebendigen Kraft(Sprenggeschosse, Minen) handelt. Gesteine sprengt man zurGewinnung regelmäßig geformter großerWerkstücke mittels eiserner Keile, indem man in der Richtungder herzustellenden Spaltfläche nach unten zu gespitzte Rinneneinarbeitet, in diese keilförmig zusammengebogene Blechebringt und dann eiserne Keile durch mäßige, späterkräftige Schläge eintreibt. Die alten Ägypterarbeiteten Keillöcher in das Gestein, trieben in diesekünstlich getrocknete Pflöcke aus Weidenholz undübergossen letztere mit heißem Wasser, unter dessenEinwirkung das Holz sich so energisch ausdehnte, daß es dieSprengung herbeiführte. Hierher gehört auch das S. mitgebranntem Kalk. Man preßt aus demselben unter einem Druckvon 40,000 kg Cylinder von 65 mm Dicke, läßt an derPeripherie jedes Cylinders eine schmiedeeiserne Röhre mitLängsschlitz und vielen Löchern ein und schiebt dieseVorrichtung, in einen Leinwandsack eingeschlossen, in ein Bohrlochein, welches mit kurzem Lehmbesatz verschlossen wird. Pumpt man nunmittels einer Druckpumpe Wasser in das Rohr, so löscht sichder Kalk, und unter dem Druck von 250 Atmosphären, welche dieDampfspannung erreichen soll, erfolgt die Sprengung. Beim S. durchFeuersetzen, welches schon die Römer kannten, wird das Gesteinnach einer Seite hin stark erhitzt, so daß eine ungleicheSpannung in seinen Teilen entsteht, die sich bis zumZerreißen des Steins steigert. Durch starkeHammerschläge, auch durch plötzliches Abkühlen wirddies Zerreißen befördert. Viel häufiger sprengt mangegenwärtig mit Hilfe von Explosivstoffen (Sprengstoffen).Schieß- oder Sprengpulver wurde im Bergbau angeblichzuerst

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Sprengen.

1613 in Freiberg, 1632 in Klausthal zum S. benutzt. Man bohrt indas Gestein Löcher von 2,25-3 cm Durchmesser mit demMeißel- oder Kronenbohrer, bei sehr hartem Gestein mit demStern- oder Kreuzbohrer und hebt das Steinmehl, welches hierbeientsteht, mittels eines kleinen Löffels an langem eisernenStiel (Krätzer) von Zeit zu Zeit heraus. ÖfteresEingießen von Wasser ins Bohrloch beschleunigt die Arbeit(Naßbohren). Die Tiefe des Bohrlochs richtet sich nach derDicke des abzusprengenden Steins. Man stößt in dasselbedie Patrone hinab, führt die kupferne Räumnadel an dereinen Seite des Bohrlochs bis in die Mitte des Pulvers ein undfüllt nun das Bohrloch mit dem Besatz aus. Dieser besteht ausLehm und Ziegelmehl, aus Thonschiefermehl, auch ausSchieferstücken oder Sand. Unmittelbar über die Patronefüllt man lockern Besatz, die höhern Schichten aberwerden fest eingestampft, bis das Bohrloch gefüllt ist. Dannzieht man die Räumnadel heraus und führt in den Kanal einZündröhrchen (Raketchen, Schredel) ein, an dessenäußerm Ende ein längerer Schwefelfaden befestigtwird. Vorteilhafter ist die Bickfordsche Zündschnur, welchemit dem einen Ende in der Patrone steckt und mit dem andern aus demBohrloch herausragt, so daß man das gefährlicheHerausziehen der Räumnadel vermeidet. Zum Abthun des Schusseswird der Schwefelfaden oder das freie Ende der Zündschnurentzündet, worauf die Arbeiter fliehen u. die Explosionabwarten. Größere Sicherheit und, wenn es sich beigroßen Sprengungen um das gleichzeitige Abthun mehrererSchüsse handelt, höhern Effekt erzielt man durchelektrische Zündung, u. zwar benutzt man Zündung durchden Funken häufiger als durch Erglühen eines dünnenDrahts. Die Drähte, zwischen denen der Funke überspringensoll, werden gut isoliert in die Patrone geführt und hier sogebogen, daß ihre Enden sich gegenüberstehen. Eine beijeder Witterung, selbst in feuchten Gruben stets brauchbareElektrisiermaschine von Bornhardt zeigt Fig. 1 und 2. Die Maschinesteht in einem durch eine Glasplatte hermetisch verschlossenenBlechkasten. Die Scheibe B besteht aus Ebonit, das Reibzeug auseigentümlich präpariertem Pelzwerk ohne Amalgam. DieSaugarme A sitzen unmittelbar auf der kleinen Leidener Flasche F.Die Achse der Scheibe B geht durch eine Stopfbüchse in derRückwand des Kastens hindurch und trägt außerhalbdesselben eine Kurbel. Das Reibzeug und die äußereBelegung der Leidener Flasche stehen mit dem Blechkasten und mithinauch mit dem Metallring b, in welchen das eine Ende der zumZünder führenden Drahtleitung eingehängt wird, inleitender Verbindung. Das andre Ende der Drahtleitung wird an denRing a befestigt, welcher mit einem vertikalen Messinghebel, derdie Kugel k trägt, in leitender Verbindung steht, aber von demBlechkasten durch zwei Ebonitplatten D isoliert ist. AlsZündung dient eine Mischung von Schwefelantimon undchlorsaurem Kali, in welcher der Funke überspringt. DerZünder wird in die Patrone eingeführt, und die aus demBohrloch hervorragenden Drähte verbindet man mit denLeitungsdrähten. Sollen mehrere Bohrlöcher miteinanderverbunden werden, so schaltet man sie hintereinander in die Leitungein, indem man den ersten Draht des ersten Bohrlochs mit derHinleitung, den zweiten mit dem ersten Drahte des zweiten Bohrlochsverbindet und so fortfährt, bis der zweite Draht des letztenBohrlochs mit der Rückleitung verbunden wird. In neuerer Zeitwird statt des Pulvers meist Dynamit verwendet. Dasselbe wird inPatronen in das Bohrloch bis zur erforderlichen Ladehöheeingedrückt und mit einer Zündpatrone versehen. Letzterebesteht aus einem Zündhütchen, welches man an dem einenEnde der Zündschnur durch Einkneifen befestigt und bis zudieser Stelle in das Dynamit einer kleinen Patrone versenkt, derenPapier an die Zündschnur gebunden wird. Auf diese Weiseerreicht man sicher, daß die Zündschnur zunächstdas Zündhütchen und nicht direkt das Dynamitentzündet. Geschähe letzteres, so würde das Dynamitabbrennen, aber nicht explodieren. Die Zündpatrone wird in dasBohrloch eingeführt, welches nun auf halbe Länge mitlosem Besatz und dann völlig mit festem Satz gefülltwird. Bei Verwendung in Wasser muß man die Umhüllung desDynamits und die Zündschnur durch Wachs oder Talg vorFeuchtigkeit schützen, auch wendet man vorteilhaftCellulosedynamit an, das durch Feuchtigkeit weniger leidet.Stärkere Ladungen setzt man gern inWeißblechbüchsen ein.

Die Wirkung der verschiedenen Sprengstoffe ist abhängig vonder Schnelligkeit, mit welcher sie sich zersetzen, von ihrerBrisanz. Man kann bei Sprengungen eine Zermalmungs-, eineVerschiebung- und eine Trennungszone unterscheiden. Je brisanterein Sprengungsstoff ist, um so größer werden beigleicher Ladungsstärke die kubischen Inhalte der beiden erstenZonen. Schwarzpulver erzeugt fast gar keine Zermalmungs-, einemittelgroße Verschiebungs-, aber

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Sprenger - Sprengwerk.

eine verhältnismäßig große Trennungszone,während Dynamit um so mehr zermalmt, je stärker es ist.Die starken Dynamitsorten zerbrechen und zermalmen diezunächst gelegenen Massen, und ihre Wirkung ist eine ziemlichscharf begrenzte, die schwächern Dynamitsorten brechen nur inunmittelbarer Nähe, trennen aber die Gesteine weithin. -Sprengarbeit kommt im Bergbau, beim Bau von Tunnels, Eisenbahnen,Straßen, Kanälen, zur Beseitigung von Felsen inFlußläufen etc. vor. Auch aus Ackerland werdenFelsklippen durch S. fortgeschafft. Ebenso werden Bodenvertiefungenfür Baumpflanzungen und Lockerung des Ackerbodens auf Tiefen,in die kein Ackergerät reicht, durch S. hervorgebracht(Sprengkultur). Große Wurzelstöcke werden vorteilhaftdurch S. zerrissen. In Steinbrüchen gewinnt man das Materialdurch S., auch sprengt man Stahl- und Gußeisenblöcke.Für Kriegszwecke baut man Minen und benutzt S. in Geschossen(Granaten, Schrapnells) und Torpedos, zum Zerstören vonBrücken, Eisenbahnen etc. Vgl. Mahler, Die Sprengtechnik (2.Aufl., Wien 1882); Krause, Die moderne Sprengtechnik (Leipz. 1881);Hamm, Sprengkultur (Berl. 1877); Zickler, ElektrischeMinenzündung (Braunschw. 1888).

Sprenger, Aloys, Orientalist, geb. 3. Sept. 1813 zuNassereit in Tirol, studierte zu Wien neben Medizin undNaturwissenschaften besonders orientalische Sprachen, ging 1836nach London, wo er als Hilfsarbeiter des Grafen von Münster andessen großem Werk über die Geschichte derKriegswissenschaften bei den mohammedanischen Völkernthätig war, 1843 nach Kalkutta und ward hier 1848 zumVorsteher des Kollegiums in Dehli ernannt, in welcher Stellung erviele Unterrichtsschriften aus europäischen Sprachen in dasHindostani übertragen ließ. 1848 wurde er nach Lathnaugeschickt, um einen Katalog der dortigen königlichenBibliothek anzufertigen, wovon der erste Band 1854 in Kalkuttaerschien. Dieses Buch mit seinen Listen persischer Dichter, seinersorgfältigen Beschreibung aller Hauptwerke der persischenPoesie und seinem wertvollen biographischen Material ist eintreffliches Hilfsmittel für die Durchforschung des noch sowenig angebauten Feldes neupersischer Litteratur. 1850 ward S. zumExaminator, Dolmetsch der Regierung und Sekretär derAsiatischen Gesellschaft in Kalkutta ernannt. Von seinenPublikationen aus jener Zeit sind noch zu erwähnen:"Dictionary of the Technical terms used in the sciences of theMusulmans" (arab., Kalk. 1854); "Ibn Hajar's biographicaldictionary of persons who knew Mohammed" (arab., 1856); "Soyuti'sItqân on the exegetic sciences of the Qoran in Arabic" (1856)u. a. Seit 1857 wirkte S. als Professor der orientalischen Sprachenan der Universität zu Bern, siedelte aber im Nov. 1881 nachHeidelberg über. Seine reichhaltige Sammlung arabischer,persischer, hindostanischer und andrer Manuskripte und Drucke hatdie königliche Bibliothek in Berlin angekauft. Sonstige Werkevon S. sind: "Otby's history of Mahmud of Ghaznah" (arab., Dehli1847); "Masudî's meadows of gold" (Übersetzung, Lond.1849, Bd. 1); "The Gulistân of Sady" (pers., Kalk. 1851),eine korrekte Ausgabe des berühmten didaktischen Werkes, u.a.; ferner in deutscher Sprache: "Das Leben und die Lehre desMohammed" (Berl. 1861-65, 3 Bde.); "Post- und Reiserouten desOrients" (Leipz. 1864); "Die alte Geographie Arabiens als Grundlageder Entwickelungsgeschichte des Semitismus" (Bern 1875) und"Babylonien, das reichste Land in der Vorzeit und das lohnendsteKolonisationsfeld" (Heidelb. 1886).

Sprenggelatine, s. Nitroglycerin.

Sprenggeschosse, s. Explosionsgeschosse.

Sprengglas, s. v. w. Glasglanz.

Sprenggummi, s. v. w. Sprenggelatine, s.Nitroglycerin.

Sprengkultur, s. Sprengen, S. 188.

Sprengling, Fisch, s. Äsche.

Sprengmörser, s. v. w. Petarde.

Sprengöl, Nobelsches, s. v. w. Nitroglycerin.

Sprengpulver, s. Schießpulver, S. 453.

Sprengsel, s. v. w. Heuschrecke.

Sprengstoffe, Substanzen, welche durch Erwärmung,Stoß oder Druck plötzlich mehr oder wenigervollständig aus dem starren oder flüssigen in dengasförmigen Zustand übergehen (s. Explosivstoffe) unddurch den dabei sich entwickelnden Gasdruck in der Nähebefindliche Körper zertrümmern oder fortschleudern. Derzuerst angewandte Sprengstoff, das Sprengpulver, besitzt imallgemeinen die Zusammensetzung des Schießpulvers, welche nuraus Rücksichten auf den Preis und in der Absicht, einestärkere Gasentwickelung zu erzielen, etwas modifiziert wurde.Gegenwärtig ist das Sprengpulver durch neuere Präparate,namentlich durch die nitroglycerinhaltigen, also hauptsächlichdurch die Dynamite (s. Nitroglycerin) und durch dieSchießbaumwolle (s. d.), stark zurückgedrängtworden. Auch pikrinsäurehaltige Mischungen, Nitrocellulose undähnliche Substanzen spielen eine größere Rolle.Diese neuen S., welche viel größere Brisanz besitzen alsSchießpulver und selbst, gegen die zu sprengenden Körpergelegt und zur Explosion gebracht, ihre zerstörende Wirkungäußern, führen im Bergbau und Tunnelbau zuerheblichen Ersparnissen an Zeit, Bohr- und Verdämmungsarbeit,und ihre Explosionsgase sind bei weitem weniger gesundheits- undlebensgefährlich als die des Sprengpulvers. Bei hartem Gesteingewähren sie eine Ersparnis an Handarbeit von 30 Proz., beisehr weichem Gestein und Kohle etwas weniger; die Zeitersparnisbeträgt bei Sprengungen im Trocknen ca. 30 Proz., inwasserhaltigem Gestein aber 100 Proz. und mehr. Ebenso großeVorteile erzielt man durch die neuen S. im Kriegswesen, wo manSchießbaumwolle mit großem Erfolg zur Füllung vonGranaten angewandt hat. Wegen des weithin hörbaren hellenKnalles hat man Schießbaumwolle auch im Signalwesen benutzt.Vgl. Upmann, Das Schießpulver (Braunschw. 1874); v. Meyer,Die Explosivkörper (das. 1874); Trauzl, Die Dynamite (Wien1876 und Berl. 1876); Heß, Sprenggelatine (das. 1878); Rziha,Theorie der Minen (Lemb. 1866).

Sprengweite, s. Intervall.

Sprengwerk, im Gegensatz zu Hängewerk (s. d.)Baukonstruktion, mittels deren Balken oder Balkenlagen von mehroder minder bedeutender Länge durch Streben oder durch Strebenund Spannriegel von unten gestützt werden. Sprengwerke werdenzur Unterstützung von Brückenbahnen und vonDachstühlen, seltener von Zwischendecken, verwendet undbestehen in ihrer einfachsten Gestalt aus einem durch zwei Streben(Fig. 1) oder aus einem durch zwei Streben und einen Spannriegel(Fig. 2) unterstützten Balken. Bei zunehmenden Längen derBalken werden dieselben durch je vier, je sechs und mehr Strebenohne Spannriegel oder mit bez. je zwei, je drei und mehr derletztern unterstützt. Bei Dachstühlen werden dieSprengwerke meist aus mehreren in Form eines Polygons verbundenengeraden Streben zusammengesetzt (Fig. 3), während sie beiBrückenbauten meist fächerförmig angeordnet werden.Wo, besonders im

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Sprenkel - Springbrunnen.

letztern Fall, die Streben sehr lang werden und eine geringeNeigung erhalten müssen, werden sie an einem oder mehrerenPunkten durch Zangen, welche mit den Hauptbalken verbunden sind,versteift (Fig. 4) oder die Streben aus mehreren, meistverdübelten Balken zusammengesetzt. Bogensprengwerke sind ausgebogenen Balken oder aus teils wagerecht (System Emy), teilslotrecht (System Delorme) untereinander verbundenen Bohlenbestehende Sprengwerke, die früher teils im Hoch-, teils imBrückenbau Anwendung fanden. Unter die bedeutendstenhölzernen Bogensprengwerke im Hochbau gehören das nachdem Delormeschen System gebaute Kuppeldach der Kornhalle in Parisund der katholischen Kirche in Darmstadt sowie der nach demEmyschen System erbaute Dachstuhl einer Reitbahn zu Libourne beiBordeaux. Die bedeutendsten hölzernen Sprengwerkbrückensind die nach dem Emyschen System konstruierten Viadukte vonWillington und St.-Germain (Fig. 5) sowie die 1848 und 1849 vonBrown in der Eriebahn erbaute Kaskadebrücke, welch letztereeine Schlucht von 53,34 m Weite überspannt, und deren vierTragrippen aus je zwei gekrümmten, durch Fachwerk verbundenenBalkenlagen (Fig. 6) bestehen.

Sprenkel, s. Vogelfang.

Sprenzling, Fisch, s. v. w. Äsche.

Spreublätter (Paleae), trockenhäutige,nichtgrüne Deckblätter in den Köpfchen vielerKompositen.

Spreuschuppen, Epidermoidalorgane an Stämmen undWedeln der Farne (s. d., S. 50).

Spreustein, s. Natrolith.

Sprichwörter (lat. Proverbia), kurze undbündige, leichtfaßliche Sätze, welche eine Regelder Klugheit oder des sittlichen Verhaltens oder eine Erfahrung despraktischen Lebens ausdrücken und, dem Volksmund entstammend,in die volkstümliche Redeweise übergegangen sind. Siebilden ein nicht unwichtiges Mittel zur Erkenntnis und Beurteilungdes Charakters eines Volkes, insofern sie dessen Anschauung undDenkweise, Sitten und Gebräuche treu abspiegeln. S. sind beiallen Völkern im Gebrauch, und zwar hat jedes Volk seineeigentümlichen, obwohl manche räumlich und zeitlich weitverbreitet sind. Auch haben fast alle zivilisierten Nationen dieBedeutung der S. zu würdigen gewußt und Sammlungenderselben angelegt. Schon bei den Griechen fand dies statt (s.Parömiographen). Eine große, aber ungeordnete Mengegriechischer und lateinischer S. und ähnlicher Ausdrückegab Erasmus in seinem "Adagia" betitelten Buch. Sammlungenlateinischer S. veröffentlichten Goßmann (Landau 1844),Wiegand (Leipz. 1861), Wüstemann (2. Aufl., Nordhaus. 1864),Georges (Leipz. 1863) u. a. Auch Sammlungen deutscher S. erschienenseit dem 16. Jahrh. zahlreich; hervorzuheben sind die von Agricola(zuerst 1529), Seb. Franck (1541), Eyering (1601), Zinkgref (zuerst1626), Lehmann (1630); aus neuerer Zeit die von Körte (2.Aufl., Leipz. 1861), Simrock (4. Aufl., Frankf. 1881), Binder(Stuttg. 1874), Wächter (Gütersloh 1888), fernerSutermeister ("Schweizerische S.", Aar. 1869), Birlinger ("Sosprechen die Schwaben", Berl. 1868), Eichwald ("Niederdeutsche S."Leipz. 1860), Frischbier ("Preußische S.", Berl. 1865) undals umfangreichste Sammlungen: Wanders "DeutschesSprichwörterlexikon" (Leipz. 1863-80, 5 Bde.) und v.Reinsberg-Düringsfelds "S. der germanischen und romanischenSprachen, vergleichend zusammengestellt" (das. 1872-75, 2 Bde.).Arabische S. veröffentlichte Socin (Tübing. 1878),niederländische Harrebomée (Utr. 1853-70, 3 Bde.),italienische Passerini (Rom 1875), sizilische Pitrè (Palermo1879, 3 Bde.). S. auch Rechtssprichwort. Vgl. Nopitsch, Litteraturder S. (Nürnb. 1833); Zacher, Die deutschenSprichwörtersammlungen (Leipz. 1852); Duplessis, Bibliographieparémiologique (Par. 1847); Wahl, Das Sprichwort der neuernSprachen (Erf. 1877); Prantl, Die Philosophie in denSprichwörtern (Münch. 1858); Borchardt, Diesprichwörtlichen Redensarten im deutschen Volksmund (Leipz.1888).

Spriet, das bei Sprietsegeln von Booten und andernFahrzeugen benutzte Rundholz zur Ausbringung der obern,äußern Ecke des länglich vierkantigen Segels, wobeidas untere Ende des Spriets am untern Teil des Mastesfährt.

Springaufblumen, s. Convallaria.

Springbock, s. Antilopen, S. 639.

Springbrunnen (Fontäne), Vorrichtung zumEmportreiben eines oder mehrerer freier Wasserstrahlen. Leitet manaus einem hoch gelegenen Reservoir das Wasser in einer Röhrenach einem tiefer liegenden Ort und läßt es hier auseiner passend angebrachten Öffnung ausströmen, so springtein Strahl empor, welcher nach dem Gesetz der kommunizierendenRöhren die Höhe des Wasserspiegels im Reservoir erreichenwürde, wenn nicht durch Reibung ein Kraft-

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Springe - Springer.

verlust entstände. Finden sich die hier künstlichgeschaffenen Bedingungen in der Natur, so entstehen dienatürlichen S., zu welchen auch die artesischen Brunnengehören (s. Brunnen). Die Steighöhe des Wasserstrahlshängt bei einer guten Anordnung der Rohrleitung auch nochhauptsächlich von der Sprungöffnung ab. Die senkrechtemporspringenden Wasserstrahlen steigen (unter nicht sehr kleinemDruck) aus kurzen konischen, konoidischen und innen gehörigabgerundeten cylindrischen Ansatzröhren bei gleichemQuerschnitt und gleichem innern Druck höher als die ausMündungen in der sogen. dünnen Wand ausfließendenkontrahierten Wasserstrahlen. Der Widerstand der Luft ist beischwächern Strahlen ein verhältnismäßiggrößerer als bei dickern Strahlen. Wasserstrahlen vonkreisförmigem Querschnitt springen unter gleichenVerhältnissen höher als solche mit quadratischem oderanders geformtem Querschnitt. Auch das zurückfallende Wasserhemmt den aufsteigenden Strahl; neigt man daher einen senkrechtenStrahl, so daß das zurückfallende Wasser seitlichfortgeht. so erreicht der Strahl sofort eine größereHöhe. Künstliche S. kann man durch Wasser- undWindmühlen, Dampfmaschinen etc. betreiben, indem man Pumpen inBewegung setzt, durch welche das Wasser in hoch liegende Reservoirsgeschafft oder in Windkessel gepreßt wird, aus welchen es diekomprimierte Luft in die Höhe treibt. Zu den kleinernkünstlichen S. gehört der Heronsbrunnen, welcher aus dreiGefäßen besteht, einem obern schüsselförmigenund zwei verschlossenen, ferner aus drei Röhren, von denen dieeine am Boden des obern Gefäßes mündet und imuntern bis dicht an den Boden reicht, die zweite vom Deckel desuntern Gefäßes im mittlern bis fast an den Deckel reichtund die dritte durch den Boden des obern Gefäßes fastbis auf den Boden des mittlern hinabreicht. Nachdem das mittlereGefäß mit Wasser gefüllt ist, gießt man auchin das schüsselförmige Gesäß Wasser, welchesnun in das untere Gefäß abfließt, dadurch aber dieLuft in diesem und im mittlern Gefäßzusammendrückt, so daß aus diesem ein Wasserstrahlemporsteigen muß.

Springe (Hallerspringe), Kreisstadt im preuß.Regierungsbezirk Hannover, am Ursprung der Haller und an der LinieHannover-Altenbeken der Preußischen Staatsbahn, 113 m ü.M., hat eine evang. Kirche, ein Amtsgericht, eineOberförsterei, Teppich- und Wattefabrikation, Spinnerei,Ziegelei und (1885) 2700 Einw. In der Nähe ein kaiserlicherSaupark mit Jagdschloß; auf dem Ebersberg die "Deisterpforte"mit Aussichtsturm.

Springen, eigentümliche Art der Fortbewegung desKörpers, bei welcher der Körper vermittelst derWadenmuskulatur energischer vom Boden abgestoßen wird undlängere Zeit frei in der Luft schwebt als beim Laufen. DerKörper erhält beim S. durch die kräftigeZusammenziehung der Wadenmuskeln eine Wurfbewegung, bei welcher derSchwerpunkt des Körpers eine parabolische Linie beschreibt,entsprechend einem geworfenen, bez. fallenden Körper.Gewöhnlich geht dem S. der Eillauf (Anlauf) voran, weildadurch der Körper schon eine gewisse Schnelligkeit derBewegung erhält, welche ihm dann beim S. zu statten kommt.Ebenso werden die beim S. hauptsächlich beteiligtenWadenmuskeln durch eine Wurfbewegung der Arme unterstützt.

Springer, 1) Robert, Schriftsteller, geb. 23. Nov. 1816zu Berlin, widmete sich erst dem Lehrfach, privatisierte studierendeine Reihe von Jahren in Paris, Rom, Wien und Leipzig und lebteseit 1853 dauernd in Berlin, wo er 21. Okt. 1885 starb. Erveröffentlichte: "Weimars klassische Stätten" (Berl.1867); "Die klassischen Stätten von Jena und Ilmenau" (das.1869); die Romane: "Gräfin Lichtenau" (das. 1871, 3 Bde.),"Devrient und Hoffmann" (das. 1873, 3 Bde.), "Sidney Smith" (das.1874, 3 Bde.), "Anna Amalia von Weimar und ihre poetischeTafelrunde" (das. 1875, 2 Bde.) etc.; ferner: "Enkarpa.Kulturgeschichte der Menschheit im Lichte der pythagoreischenLehre" (Hannov. 1884); "Essays zur Kritik und Philosophie und zurGoethe-Litteratur" (Minden 1885); "Charakterbilder und Szenerien"(das. 1886); auch zahlreiche beliebte Jugendschriften, letzteremeist unter dem Pseudonym A. Stein.

2) Anton, Geschichtschreiber und Kunsthistoriker, geb. 13. Juli1825 zu Prag, widmete sich auf der Universität daselbst sowiein München und Berlin den Studien der Philosophie und derKunst, ging, nachdem er 1846 kurze Zeit die Stelle eines Lehrersder Kunstgeschichte an der Prager Akademie bekleidet, auf ein Jahrnach Italien und ließ sich sodann in Tübingen nieder, woer seine erste Schrift: "Die Hegelsche Geschichtsanschauung",erscheinen ließ. Das Jahr 1848 rief ihn nach Pragzurück. S. trat hier für die föderative Verfassungdes Kaiserstaats ein und galt als ein Wortführer der Rechtedes Reichstags in der Presse. Im Herbste d. J. habilitierte er sichzu Prag für neuere Geschichte; doch zogen ihm seinefreisinnigen Vorlesungen, welche sodann als "Geschichte desRevolutionszeitalters" (Prag 1849) im Druck erschienen, die Ungunstder Regierung zu, so daß er seine Lehrthätigkeit aufgabund eine Reise zu kunsthistorischen Studien durch die Niederlande,Frankreich und England unternahm. Von London aus durch seinepolitischen Freunde zurückgerufen, trat er an die Spitze derZeitung "Union", die aber, weil er darin die Rechte Preußensauf die Führerrolle in Deutschland vertrat, 1850unterdrückt wurde. Während des orientalischen Kriegs1854-56 arbeitete S. zahlreiche Druckschriften im Auftrag derserbischen Regierung aus, in welchen er für die Emanzipationder türkischen Vasallenstaaten, aber gegen das russischeProtektorat plaidierte. Dieselben politischen Grundsätzeführten ihn im letzten russisch-türkischen Krieg wiederumauf den publizistischen Kampfplatz und veranlaßten ihn zuzahlreichen Aufsätzen in "Im neuen Reich" gegen die russischePolitik. Im Herbst 1852 habilitierte er sich in Bonn alsPrivatdozent der Kunstgeschichte, und 1859 ward er zum Professorderselben ernannt. Bei der Gründung der UniversitätStraßburg 1872 wurde er als Professor für neuereKunstgeschichte berufen; seit 1873 gehört er derUniversität Leipzig an. Von seinen historisch-politischenSchriften sind noch hervorzuheben: "Österreich nach derRevolution" (Prag 1850); "Österreich, Preußen undDeutschland" (das. 1851) und "Südslawische Denkschrift" (das.1854); "Paris im 13. Jahrhundert" (Leipz 1856); " GeschichteÖsterreichs seit dem Wiener Frieden" (das. 1863-64, 2 Bde.);"Friedr. Christoph Dahlmann", Biographie (das. 1870-72, 2 Bde.);"Protokolle des Verfassungsausschusses im österreichischenReichstag 1848-49" (das. 1885). Springers Kunstanschauung,wenngleich zunächst durch die Hegelsche Philosophievermittelt, hat sich von dem beschränkenden Einflußdieser Schule loszumachen gewußt. Sein Hauptstudium hat erden Schöpfungen des Mittelalters und der neuern und neuestenZeit, besonders der Periode der klassischen italienischen Kunst,zugewendet. Seine vorzüglichsten kunstgeschichtlichen Werkesind: "Kunsthistorische Briefe"

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Springerle - Springschwänze.

(Prag 1852-57); "Handbuch der Kunstgeschichte" (Stuttg. 1855);"Geschichte der bildenden Künste im 19. Jahrhundert" (Leipz.1858); "Bilder aus der neuern Kunstgeschichte" (Bonn 1867; 2.Aufl., das. 1887, 2 Bde.); "Raffael u. Michelangelo " (Leipz. 1877;2. Aufl. 1883, die beste Biographie der beiden Meister);"Grundzüge der Kunstgeschichte" (das. 1887-88). Auch hat S.die deutsche Ausgabe von Crowes und Cavalcaselles "Geschichte deraltniederländischen Malerei" (Leipz. 1875) bearbeitet.

Springerle, ein in Süddeutschland und der Schweizsehr beliebtes Backwerk, eine Art Anisbrot.

Springfield (spr. -fild), 1) Hauptstadt des nordamerikan.Staats Illinois, liegt südlich vom Sangamonfluß an derGrenze der Prärien, hat ein Kapitol (Staatenhaus), einenGerichtshof, ein Zeughaus, ein Zollamt, eine sogen. Hochschule,Uhren- und andre Fabriken, Eisenbahnwerkstätten und (1880)19,743 Einw. Auf dem Ridge Cemetery das Grabmal desPräsidenten Lincoln. -

2) Hauptstadt der Grafschaft Hampden im nordamerikan. StaatMassachusetts, am Connecticut, hat ein großartiges Zeughausmit Waffenfabrik (Vorrat von Gewehren etc. für 175,000 Mann),eine Bibliothek von 30,000 Bänden, Baumwoll-, Woll-,Papierkragen-, Waffen- u. Eisenbahnwagenfabriken, Goldschmiedereiund (1885) 37,577 Einw. S. ist Knotenpunkt zahlreicher Eisenbahnen;es wurde 1635 gegründet. -

3) Stadt im nordamerikan. Staat Missouri, Grafschaft Greene, 320km südwestlich von St. Louis, hat Tabaksfabriken, Baulandwirtschaftlicher Geräte etc. und (1880) 6522 Einw. -

4) Hauptstadt der Grafschaft Clarke im nordamerikan. Staat Ohio,am Mad River, 64 km westlich von Columbus, Sitz des lutherischenWittenberg College, ist berühmt wegen seiner Turbinen undlandwirtschaftlichen Maschinen und hat (1880) 20,720 Einw.

Springflut, s. Ebbe und Flut.

Springfrüchte, alle trocknen oder saftigenFrüchte, deren Wandung bei der Reife in irgend welcher Weisesich öffnet und die Samen frei werden läßt, wieBalgfrucht, Hülse, Schote, Kapsel oder auch die Frucht derRoßkastanie, deren saftiges, mit Stacheln versehenes Perikarpsich klappig öffnet.

Springgurke, s. v. w. Momordica.

Springhase, s. v. w. Springmaus.

Springinklee, Hans, deutscher Maler und Zeichner fürden Holzschnitt, arbeitete in der Werkstatt und unter demEinfluß Dürers und fertigte unter andern 50 Zeichnungenzu den Holzschnitten in einem Nürnberger Gebetbuch: "Hortulusanimae" (1518).

Springkäfer, s. v. w. Schnellkäfer.

Springkasten, s. Tisch.

Springkörner, s. Euphorbia.

Springkraut, s. Impatiens; kleines S., s. Euphorbia.

Springkürbis, s. Momordica.

Springläuse, s. Blattflöhe.

Springmaus (Dipus Schreb.), Gattung aus der Ordnung derNagetiere und der Familie der Springmäuse (Dipodina), kleineTiere mit gedrungenem Leib, sehr kurzem Hals, hasenähnlichemKopf, großen, häutigen Ohrmuscheln, großen Augen,sehr langen Schnurrhaaren, sehr langem Schwanz, starkverkürzten Vorderfüßen (welche beim Springengrößtenteils im Pelz versteckt werden, daher der NameZweifuß, Dipus) mit vier Zehen und wohl sechsfachlängern Hinterfüßen mit drei Zehen, die mit steifemBorstenhaar bedeckt sind, und deren Krallen rechtwinkelig zumNagelglied stehen. Die Sohle ist mit elastischen Springballenversehen. Die Wüstenspringmaus (Djerboa, D. aegyptius Hempr.et Ehbg., s. Tafel "Nagetiere I"), 17 cm lang, mit 21 cm langemSchwanz, oben grausandfarben, schwarz gesprenkelt, unterseitsweiß, mit breitem, weißem Schenkelstreifen, obenblaßgelbem, unten weißlichem Schwanz mit weißer,pfeilartig schwarz gezeichneter Quaste, bewohnt Nordostafrika bisMittelnubien und das westliche Asien und findet sich in denödesten Steppen und in Sandwüsten, zuweilen ingrößern Gesellschaften. Sie gräbt vielverzweigte,flache Gänge im Boden, um bei der geringsten Gefahr in dieseZufluchtsstätten zu flüchten. In der Ruhe steht sie oftaufrecht wie ein Känguruh, im Lauf macht sie weiteSprünge und entwickelt eine außerordentlicheGeschwindigkeit. Sie nährt sich hauptsächlich von Knollenund Wurzeln, frißt aber auch Blätter, Früchte undKerbtiere. Gegen Hitze ist sie sehr unempfindlich, doch erscheintsie als echtes Nachttier und verfällt bei Kälte undNässe in eine Art Erstarrung. Sie soll in ihrem Bau 2-4 Jungewerfen. In der Gefangenschaft zeigt sie sich sehr harmlos undzutraulich. Die Araber essen das Fleisch der S. und benutzen dasFell zu kleinen Pelzen für Kinder und Frauen, zu Besatz etc.Die Alten erwähnen die S. häufig, auch finden sichbildliche Darstellungen auf Münzen und Tempelverzierungen.Jesaias verbot, das Fleisch der S. zu genießen (Jes. 66,17).

Springprozession, s. Echternach.

Springraupe, s. Zünsler.

Spring-Rice (spr. -reiß), Thomas, Baron Monteaglevon Brandon, brit. Staatsmann, geb. 8. Febr. 1790 in Irland,studierte zu Cambridge und saß seit 1816 als Mitglied derWhigpartei im Unterhaus. Als diese 1830 unter Grey ans Staatsruderkam, ward er Unterstaatssekretär des Innern, dannSekretär des Schatzes und gelangte nach StanleysRücktritt 1834 als Staatssekretär der Kolonien insMinisterium, welches jedoch schon im November zurücktretenmußte. Bei der Bildung des neuen Whigministeriums 1835übernahm S. die Finanzverwaltung, bewies sich aber nichtbefähigt für dieselbe. Als er im August 1839 aus dieserStellung schied, erhielt er die Peerswürde mit dem Titel einesLord Monteagle und das Amt eines Kontrolleurs der Schatzkammer. Erstarb 7. Febr. 1866; in der Peerswürde folgte ihm sein EnkelThomas S., geb. 31. Mai 1849.

Springschwänze (Poduren, Poduridae Burm.),Insektenfamilie aus der Ordnung der Thysanuren, kleine, meistlanggestreckte Tiere mit behaarter oder beschuppterOberfläche, meist wagerecht gestelltem Kopf, derben, vier- bissechsgliederigen Fühlern, jederseits 4-8 (selten bis 20)einfachen Augen, verborgenen Mundteilen, derben Beinen mitzweilappigen, in eine gespaltene Klaue endenden Tarsen und an derSpitze des Hinterleibs mit langer, unter den Bauch geschlagenerSpringgabel, mittels welcher sie sich weit fortschnellen. Sie lebenam Boden unter faulenden Vegetabilien, bedürfen großerFeuchtigkeit, erscheinen oft im Winter massenhaft auf dem Schnee,sind sehr fruchtbar, entwickeln sich aber langsam. DerGletscherfloh (Desoria glacialis Nic.), 2 mm lang, schwarz, dichtbehaart, findet sich häufig auf den Alpengletschern und kannbei -11° einfrieren, ohne Schaden zu leiden. Auf Schneeerscheint auch häufig die gelblichgraue, schwarz gestreifteDegeeria nivalis L.; auf stehenden Gewässern findet sich inzahlloser Menge der Wasserfloh (Podura aquatica de Geer), welcher 2mm lang, schwarzblau, an Fühlern und Beinen rot ist. Derzottige Springschwanz (Podura villosa L.), 3,37 mm lang, gelbrotmit schwarzen Binden, lebt wie der gleichgroße

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Springwurm - Spruner.

bleigraue Springschwanz (P. plumbea L.) im Gebüsch unterabgefallenem Laub.

Springwurm, s. Madenwurm.

Springzeit, Flutzeit, s. Ebbe und Flut.

Sprinz, s. Sperber.

Sprit, s. v. w. gereinigter Spiritus; auch s. v. w.Essigsprit (s. Essig, S. 860).

Spritzflasche, chemischer Apparat zum Auswaschen vonNiederschlägen etc., besteht aus einer etwa zur Hälftemit Wasser gefüllten Flasche mit durchbohrtem Kork, in welchemein kurzes, zu einer Spitze ausgezogenes Glasrohr steckt.Bläst man durch dieses Rohr, um die Luft in der Flasche zuverdichten, so schießt aus der mit der Mündung nachunten gekehrten Flasche ein Wasserstrahl hervor. Bequemer stecktman in den zweimal durchbohrten Kork ein bis auf den Boden derFlasche reichendes Rohr, das im spitzen Winkel umgebogen ist und amabwärts gerichteten Schenkel in eine Spitze ausläuft, undaußerdem ein stumpfwinkelig gebogenes Blasrohr, welches dichtunter dem Kork endet.

Spritzgurke, s. v. w. Momordica Elaterium.

Spritzloch, bei den Walen und den meisten Haifischen eineoder zwei Öffnungen am Kopf zum Ausstoßen von Luft oderWasser. Bei den Haifischen liegt ein Paar Spritzlöcher hinterden Augen, entspricht einem Paar Kiemen und spritzt Wasser aus, beiden Walen ist das S. enger, geht aus der Verschmelzung derNasenlöcher hervor und entläßt den Atem, dessenFeuchtigkeit in der kalten Luft sich zu einer hohen Säule vonWasserdampf verdichtet und so den Anschein hervorruft, alswürde Wasser ausgespritzt.

Sprocke (Sprockwürmer), s. Köcherjungfern.

Sprödglaserz (Stephanit, Schwarzgüldigerz,Melanglanz), Mineral aus der Ordnung der Sulfosalze, kristallisiertin rhombischen, dick tafelartigen oder kurzsäulenförmigen Kristallen, findet sich auch eingesprengt,in derben Massen und als Anflug, ist eisenschwarz bis bleigrau,selten bunt angelaufen, Härte 2-2,5, spez. Gew. 6,2-6,3, undbesteht aus Antimon, Silber und Schwefel 5Ag2 + Sb2S3 mit 68,36Silber und 15,44 Antimon. Das auf Gängen der kristallinischenSchiefer, der ältesten Sedimentformationen und trachytischerGesteine brechende Mineral kommt besonders im Erzgebirge, am Harz,in Böhmen, Ungarn, Mexiko sowie auf dem Comstockgang in Nevadavor und ist ein sehr reiches Silbererz. Vgl. Eugenglanz.

Sprödigkeit, Eigenschaft harter Körper,vermöge welcher sie leicht durch einen Stoß oder durcheine geringe Verletzung ihrer Oberfläche in mehr oder wenigerzahlreiche Stücke zerspringen, wie z. B. Glas. Vgl.Kohäsion.

Sproß, in der Botanik der ganze Einer Achseangehörige Pflanzenteil, also insbesondere jeder Zweig, deraus einer Achse niedern Grades entspringt, samt allen seinenseitlichen Organen.

Sprossen, die Enden am Hirschgeweih unterhalb der Krone(Augen-, Eis-, Mittelsprosse).

Sprossentanne, s. Tsuga.

Sprosser, s. Nachtigall.

Sprossung, s. Knospe und Proliferierend; hefeartigeSprossung, s. Pilze, S. 65.

Sprottau, Kreisstadt im preuß. RegierungsbezirkLiegnitz, an der Mündung der Sprotte in den Bober und derLinie Lissa-Hansdorf der Preußischen Staatsbahn, 132 mü. M., hat eine evangelische und eine kath. Kirche, einstattliches Rathaus, ein öffentliches Schlachthaus, einRealgymnasium, ein Amtsgericht, Fabrikation von Tabak und Zigarren,Brückenwagen, Zündwaren, Teppichen und künstlichenBlumen, Strumpfwirkerei, Bierbrauerei, Ziegelbrennerei, großeMühlwerke, bedeutende Stadtforst und (1885) mit der Garnison(eine Abteilung Feldartillerie Nr. 5) 7552 meist evang. Einwohner.In der Nähe die Eisenhütte und MaschinenbauanstaltWilhelmshütte. S. erhielt 1289 deutsches Stadtrecht.

Sprotte (Breitling, Clupea sprattus L.), Fischart aus derGattung Hering, 10-13 cm lang, dem gemeinen Hering ähnlich,mit gekieltem, deutlich gezähneltem Bauch, auf dem Rückendunkelblau mit grünem Schimmer, sonst silberweiß, mitdunkler Rücken- und Schwanzflosse und weißer Brust-,Bauch- und Afterflosse, findet sich in der Nord- und Ostsee,nördlich bis Island gewöhnlich in bedeutender Tiefe,laicht im Mai und Oktober und wird an der Küste Englands,Frankreichs und in der Ostsee im Juni bis September und im Novemberbis Frühling in großer Zahl mit feinmaschigen Netzengefangen und zusammen mit den sehr zahlreichen jungen Heringen, dieebenfalls in das Netz geraten waren, auf den Markt gebracht.Geschätzt sind in Deutschland besonders die geräuchertenKieler Sprotten. In Hamburg wird auch der Stint zu "KielerSprotten" verarbeitet. In Norwegen macht man die S. ein und bringtsie als Anschovis in den Handel, wie sich auch den Sardellen u.Sardinen viele Sprotten beimischen. Mit Gewürzen zubereitetist die S. als russische Sardine im Handel.

Spruchband, s. Banderole.

Sprüche Salomos (lat. Proverbia), Titel einerGnomensammlung des Alten Testaments, welche aus mehreren, durchbesondere Überschriften bezeichneten Hauptteilen und einigenAnhängen besteht. Der erste Teil (Kap. l-9) enthält einezusammenhängende Empfehlung der Weisheit in Form der Redeeines Vaters an seinen Sohn; dann folgen unter dem Titel:"Denksprüche Salomos" (10, 1) einzelne aneinander gereihteSentenzen. Eine dieser Sammlungen (Kap. 25-29) soll nach ihrerAufschrift unter Hiskias' Regierung durch Gelehrte des Hofsveranstaltet worden sein. Somit erscheint Salomo (s. d.) bloßals Kollektivname zur Charakterisierung dieser ganzen Art vonLehrdichtung. Kommentiert wurden die S. zuletzt von Hitzig(Zürich 1858), Zöckler (Bielef. 1867), Ewald(Götting. 1867), Delitzsch (Leipz. 1873), Nowack (das.1883).

Spruchliste, s. Schwurgericht, S. 781.

Sprüchwörter, s. Sprichwörter.

Sprudelstein, Absatz oder Niederschlag aus brodelndenQuellen, z. B. der Aragonitabsatz, den die Karlsbader Quelleliefert, und als besondere Abart der Pisolith oder Erbsenstein,zusammengebackene konzentrisch-schalige Kugeln, durch Umrindungfremdartiger Gesteinsbrocken entstanden. Gegen einen Vergleich desErbsensteins mit den Oolithen der frühern geologischenPerioden spricht das Vorkommen dieser Oolithe: sie sind mitunter inmächtigen Schichten über große Streckengleichmäßig verbreitet und stellen mithin keineQuellabsätze, die sich doch nur lokal hätten entwickelnkönnen, dar. Den S. verarbeitet man auf allerlei kleineGebrauchs- und Schmuckgegenstände, auch läßt manObjekte (Blumen, Holzschnitzereien etc.) durch längeresEinhängen in die Quellen mit S. überziehen.

Spruner, Karl S. von Mertz, Geschichtsforscher undKartograph, geb. 15. Nov. 1803 zu Stuttgart, ward, seit 1814 imKadettenkorps zu München gebildet, 1825 Leutnant, 1851Hauptmann im Generalstab, 1855 Oberstleutnant und Lehrer derMilitärgeographie im Kadettenkorps, 1869 endlichGeneraleutnant. Daneben hatte ihn König Maximilian II. zu

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Sprung - Spurgeon.

seinem Flügeladjutanten, König Ludwig II. 1864 zuseinem Generaladjutanten ernannt. Im Sommer 1886 trat S. in denRuhestand. Er schrieb: "Bayerns Gaue" (Bamb. 1831) und gab eine"Gaukarte des Herzogtums Ostfranken" (das. 1835) heraus. SeinHauptwerk ist der große auf Grund der sorgfältigstenDetailforschung sehr sauber ausgeführte"Historisch-geographische Handatlas" (Gotha 1853-64) in 3Abteilungen: "Atlas antiquus" (3. Aufl. bearbeitet von Menke, 31Bl., 1862-64), "Handatlas für die Geschichte des Mittelaltersund der neuern Zeit" (neubearbeitet von Menke, 90 Bl., 3. Aufl.1879) und "Zur Geschichte Asiens, Afrikas etc." (18 Bl., 2. Aufl.1855). Außerdem veröffentlichte S. einen trefflichen"Historischen Atlas von Bayern" (Gotha 1838, 7 Bl.), einen"Historisch-geographischen Schulatlas" (23 Bl., das. 1856, 5. Aufl.1870), desgleichen historisch-geographische Schulatlanten vonÖsterreich (13 Bl., das. 1860) und von Deutschland (12 Bl., 2.Aufl., das. 1866), den "Historico-geographical handatlas" (26 Bl.,Gotha 1860) u. a. Historische Schriften von S. sind: "Leitfaden zurGeschichte von Bayern" (2. Aufl., Bamb. 1853), " Pfalzgraf Rupertder Kavalier" (Münch. 1854) und "Die Wandbilder des bayrischenNationalmuseums" (das. 1858), später unter dem Titel:"Charakterbilder aus der bayrischen Geschichte" (das. 1878) neuherausgegeben. Endlich hat S. auch mehrere historische Schauspielesowie die Schriften: "Jamben eines greisen Ghibellinen" (Bonn 1876)u. "Aus der Mappe des greisen Ghibellinen" (Münch. 1882)verfaßt.

Sprung (lat. Saltus), in der Logik und zwar im Beweis dasAuslassen von Mittelsätzen, die nicht fehlen dürfen, wennder Schlußsatz bewiesen, in der Metaphysik undNaturphilosophie das Auslassen von Mittelstufen, die nichtübergangen werden dürfen, wenn das Ziel der Entwickelungerreicht werden soll. Ersteres, die Stetigkeit derBeweisführung, wird durch den Satz, daß die Folge nuraus der Gesamtheit der Gründe, letzteres, die Stetigkeit derEntwickelung, durch den Satz, daß die Wirkung nur aus derGesamtheit der Ursachen entspringe, die Anwendung des letztern aufdie Natur insbesondere durch den Kanon ausgedrückt, daßes in dieser keinen S. gebe (in natura non datur saltus).

Sprung, in der Jägersprache mehrerebeisammenstehende Rehe.

Sprungbein, s. Fuß, S. 800.

Sprungzügel, s. Zaum.

Spule, eine hölzerne Walze zum Aufwickeln von Garn,Draht etc.

Spülkanne, s. v. w. Irrigator (s. d.).

Spuller (spr. spüllähr), Eugène, franz.Politiker, geb. 8. Dez. 1835 zu Seurre (Côte d'Or) von ausBaden eingewanderten Eltern, studierte die Rechte, ließ sich1859 in Paris als Advokat einschreiben, widmete sich aber seit 1863ganz der demokratischen Journalistik, trat in engeFreundschaftsbeziehungen zu Gambetta, dessen Sekretär erwährend seiner Diktatur 1870-71 war, ward 1872 Redakteur der"République française" und 1876 Mitglied derDeputiertenkammer. Er gehörte in dieser zum RepublikanischenVerein und unterstützte Gambettas Politik mit hingebendemEifer. Als dieser im November 1881 Ministerpräsident wurde,ernannte er S. zum Unterstaatssekretär des Auswärtigen,was er aber bloß bis zum Januar 1882 blieb. 1884 wurde er zumVizepräsidenten der Deputiertenkammer erwählt und war vomMai bis Dezember 1887 im Ministerium Rouvier Unterrichtsminister.Im März 1889 ward er Minister des Äußern.

Spulmaschine, Vorrichtung zum Aufwickeln von Fädenauf Spulen.

Spulrad, eine einem Spinnrad ähnliche Vorrichtungzum Bewickeln einer Garnspule.

Spulwurm (Ascaris L.), Gattung aus der Klasse derNematoden (Fadenwürmer) und der Familie der Askariden (s. d.),derbhäutige Eingeweidewürmer von mäßiger Dickeund ansehnlicher Länge, mit stark entwickelten, hohen undbreiten Lippen, welche einen mehr oder minder kugeligen Kopfzapfenzusammensetzen und bei den größern Arten am Randgezähnelt sind. Sie legen meist hartschalige Eier, welche nachlängerm Aufenthalt in feuchter Umgebung einen Embryoentwickeln, der vielleicht überall zunächst in einenZwischenwirt gelangt und seine ganze Metamorphose in der Regel erstin dem definitiven Wirt durchläuft. Die zahlreichen Artenbewohnen mit wenigen Ausnahmen den Darm von Wirbeltieren, besondersWarmblütern. Der gemeine S. (A. lumbricoides L., s. Tafel"Würmer"; das Männchen etwa 40 cm lang und reichlich 5 mmdick, das Weibchen bedeutend kleiner), meist gelblichbraun oderrötlich, verbreitet einen unangenehmen Geruch, bewohnt denDünndarm des Menschen, besonders der Kinder, bisweilen in sobeträchtlicher Menge, daß er denselben fast unwegsammacht, findet sich auch im Rind und Schwein und scheint überdie ganze Erde verbreitet zu sein. Er produziert im Jahr etwa 60Mill. Eier, die beständig mit dem Kot abgehen, sehr lange auchin Frost und Trockenheit ihre Keimkraft behalten und sich in Wasseroder feuchter Erde langsam entwickeln. Ob die Embryonen beimGenuß von abgefallenem Obst, rohen ungereinigten Rüben,Bachwasser etc. direkt in den Menschen oder zunächst in einenZwischenwirt gelangen, ist noch nicht ermittelt. Sie verursachenmancherlei Störungen und nicht selten schwerere Leiden. DerKatzenspulwurm (A. mystax Fab.) schmarotzt auch im Hund undgelegentlich im Menschen, der großköpfige S. (A.megalocephala Cloquet), bis 37 cm lang, im Darm des Pferdes und desEsels und erzeugt oft bösartige Verstopfungen, Katarrh derDarmschleimhaut etc.

Spur, im Hüttenwesen die Öffnung in der Vorwandvon Schachtöfen, durch welche die geschmolzenen Massen aus demSchmelzraum in einen Sammelraum vor dem Ofen fließen; daherSpuröfen, Öfen mit einer solchen Öffnung. Spurennennt man beim Kupferhüttenprozeß die Anreicherung desKupfers in den Kupferlechen (Kupfersteine) durch Rösten u.reduzierend-solvierendes Schmelzen, wobei Spurstein(Konzentrations-, Anreich-, Dublier-, Mittelstein) entsteht (s.Kupfer, S. 319). Über den Ausdruck S. in der Jägerspraches. Fährte.

Spur (Spurweite), s. Eisenbahnbau, S. 450.

Spüren, in der Jägersprache s. v. w.Abspüren.

Spurensteine, die natürlichen äußernAbgüsse pflanzlicher oder tierischer Organismen, besondersaber die Fährten vorweltlicher Tiere.

Spurgeon (spr. spörrdsch'n), Charles Haddon, engl.Kanzelredner, geb. 19. Juni 1834 zu Kelvedon in Essex, warzunächst Hilfslehrer an einer Schule zu Newmarket undschloß sich, von Bunyans Pilgerreise beeinflußt, 1850der baptistischen Gemeinde in Cambridge an, deren Lehren er baldals Landprediger zu Teversham vertrat; seine große Jugendverschaffte ihm hier den Beinamen "the boy preacher". Kaum 17 Jahrealt, wurde er Prediger einer kleinen Baptistenkapelle zu Waterbeachund erreichte als solcher Erfolge, wie sie an Wesley und Whitefielderinnerten. Seit 1853 an der Baptistenkapelle in der New

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Spurinna - Srászy.

Parkstreet zu London, predigte er unter solchem Zudrang,daß sehr bald eine Vergrößerung des Gebäudesnötig wurde. Doch auch das neue Gebäude genügte aufdie Dauer nicht, denn bald war S. die merkwürdigsteCharakterfigur des so überreich verzweigten kirchlichen Lebensder englischen Metropole und ihr populärster Kanzelredner, zuwelchem Vertreter aller Stände und Bekenntnisse wallfahrteten.So veranlaßten seine Verehrer 1856 eine öffentlicheSubskription zum Bau einer mächtigen Halle, welche, inNewington Butts gelegen und zu den Sehenswürdigkeiten Londonsgehörend, 1861 unter dem Namen "Spurgeon's Tabernacle"eröffnet wurde und 4400 Zuhörern Raum darbietet. Vonseinen Predigten erschienen viele Hunderte im Druck, zahlreicheauch in deutschen Übersetzungen (gesammelt in 5 Bänden,Hamb. 1860-73); zuletzt noch seine "Lectures to my students" (Lond.1875; deutsch, Hamb. 1878-80, 2 Bde.). Vgl. Pike, Ch. H. S.(deutsch, Hagen 1887).

Spurinna, 1) Vestricius, röm. Feldherr und Dichterin der ersten Hälfte des 1. Jahrh. n. Chr., focht siegreichgegen die Germanen am Rhein, zog sich aber später vomöffentlichen Leben zurück. Die angeblichen Fragmenteseiner lyrischen Poesien, deren Anmut die Alten rühmten, sindein modernes Fabrikat des Polyhistors Kasp. Barth (abgedruckt inRieses "Anthologia latina", Bd. 2, Leipz. 1870, und Bährens'"Poetae latini minores", Bd. 5, das. 1883).

2) Haruspex und Wahrsager, welcher Cäsar vor demverhängnisvollen 15. März warnte.

Spurius (lat., "unecht"), s. v. w. Bastard.

Spurstein, s. Spur.

Spurstränge (Blattspuren), in der Pflanzenanatomiedie untern, im Stengel befindlichen Endigungen der in dieBlätter ausbiegenden Gefäßbündel.

Spurweite, s. Eisenbahnbau, S. 450.

Spurzapfen (Grundzapfen), Zapfen, bei denen dergrößte vorkommende Druck in der Richtung der Achse desZapfens wirkt und von der Grundfläche des Zapfens aufgenommenwird. Vgl. Zapfen.

Sputum (lat.), der Auswurf.

Spuz (spr. spuhsch), Städtchen in Montenegro, an derZeta, mit Citadelle und ca. 1000 Einw.; lange Schauplatz vonKämpfen mit den Türken, kam durch den Berliner Frieden1878 an Montenegro.

Squalidae, Haifische.

Squalius, Elten (Fisch).

Squamae (lat.), Schuppen (s. d. und Fruchtschuppen);squamös, schuppig.

Squarcione (spr. skwartschohne), Francesco, ital. Maler,geb. 1394 zu Padua, gest. 1474 daselbst, Haupt der paduanischenMalerschule und vornehmlich als Lehrer Mantegnas bekannt. Vonseinen Werken ist nur eine Madonna mit dem Kind (im Besitz derFamilie Lazzara zu Padua) durch seine Namensinschriftbeglaubigt.

Square (engl., spr. skwehr), Quadrat, daher S. mile,Quadratmeile; auch ein viereckiger oder runder, von Häusernumgebener, mit Rasen und Baumgruppen versehener und meist durch eineisernes Gitter abgeschlossener Platz in englischen (und danachauch in andern) Städten. Derartige Plätze vonhalbkreisförmiger Gestalt heißen Crescent("Halbmond").

Squatter (engl., spr. skwotter, von to squat,niederkauern), in den Vereinigten Staaten von Amerika einAnsiedler, der sich ohne Rechtstitel auf einem Stück Landniederläßt, insbesondere derjenige, welcher noch nichtangebautes Regierungsland ohne Kauf okkupiert. Da diese Praxis vielzum raschen Anbau, namentlich der westlichen Staaten, beitrug,indem unbemittelte Leute in Gegenden, wohin die Kolonisation aufdem gewöhnlichen Weg erst spät gedrungen sein würde,Niederlassungen gründeten, so suchte man dergleichen Ansiedlerdurch sogen. Präemtionsgesetze in dem Besitz der von ihneneigenmächtig okkupierten Ländereien zu schützen.Nach einem bereits 1808 in Massachusetts erlassenen Gesetz wurdedas Eigentumsrecht auf ein Grundstück schon durch40jährige Okkupation erworben; spätereKongreßbeschlüsse erteilten den Squatters das Recht, vonihnen okkupierte Staatsländereien, ohne Rücksicht auf deninzwischen gestiegenen Wert derselben, zum Minimalpreis von1¼ Doll. pro Acre zu erwerben. Nachdem 1830 dies Gesetzfür eine bestimmte Anzahl von Jahren auf das ganzeUnionsgebiet ausgedehnt worden, kam 1841 das Präemtionsgesetzzu stande, wodurch die Squatters allenthalben in den VereinigtenStaaten die Befugnis erhielten, durch Erlegung jenes Minimalpreisessich einen gesetzlichen Rechtstitel auf die von ihnen bebautenGrundstücke zu erwerben, wobei nur die Beschränkungstattfinden sollte, daß kein Kolonist mehr als 160 Acres aufeinmal ankaufen oder auf die zu Schul- und anderngemeinnützigen Zwecken bestimmten Ländereien Anspruchmachen dürfte. Seit Erlaß des Heimstättegesetzesvon 1862 (homesteadbill) müssen jedem, der sich in gutemGlauben ansiedelt und Bürger ist oder seine Absicht,Bürger zu werden, erklärt, 160 Acres Kongreßlandunentgeltlich bewilligt werden. - In Australien heißenSquatters die Viehzüchter, welche große Strecken neuangebauten Landes von der Regierung pachten.

Squaws (spr. skwahs), die Frauen der nordamerikan.Indianer.

Squier (spr. skwihr), Ephraim George, nordamerikan.Altertumsforscher, geb. 17. Juni 1821 zu Bethlehem (New York), wardIngenieur, stellte mit Davis Untersuchungen über die altenDenkmäler im Mississippithal an, worüber er in "Theancient monuments of the Mississippi valley" (Washingt. 1848)berichtete, und ward 1849 zum Geschäftsträger der Unionin den zentralamerikanischen Republiken ernannt, welche Staaten erebenfalls (wiederholt 1853) zu wissenschaftlichen Zweckenerforschte. Später besuchte er Europa, war 1863-64 Kommissarder Union in Peru, 1868 Generalkonsul für Honduras in New Yorkund wurde 1871 Präsident des Anthropological Institutedaselbst. Er starb 17. April 1888 in New York. Von seinen Schriftensind noch zu nennen: "Aboriginal monuments of the state of NewYork" (Washingt. 1849); "The serpent symbols" (New York 1851);"Travels in Central-America: Nicaragua, its people, scenery andmonuments" (das. 1852, 2 Bde.); "The states of Central America"(das. 1857, 2. Aufl. 1870); "Honduras, descriptive, historical andstatistical"(1870); "Peru. Incidents and explorations in the landof the Incas" (1877; deutsch, Leipz. 1883).

Squillace (spr. -latsche), Flecken in der ital. ProvinzCatanzaro, unweit des Golfs von S. des Ionischen Meers, an derEisenbahn Metaponto-Reggio gelegen, Bischofsitz, mit Kathedrale,geistlichem Seminar, Industrie in Seide und Thonwaren und (1881)2673 Einw. S. ist das antike Scylacium, eine Stadt der Bruttier undGeburtsort des Cassiodorus (s. d.).

Squire (engl., spr. skweir), entstanden aus Esquire (s.Adel, S. 111, und Esquire), s. v. w. Gutsherr.

Sr, in der Chemie Zeichen für Strontium.

Srászy (spr. ssrahschi), poln. Gericht, mitZwiebeln u. dgl. gedünstete Scheiben von Rindfleisch.

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Sredec - Staat.

Sredec, bulgar. Name für Sofia (s. d.).

Srinagar, 1) Hauptstadt von Kaschmir, in der NordwesteckeOstindiens, 1568 m ü. M., am Dschelam, in einem durch seinemalerischen Reize weltberühmten Thalkessel, mit großemPalast, Fort, Gewehrfabrik, Münze, engen, schmutzigenStraßen aus hohen Holzhäusern und 150,000 Einw. (meistMohammedaner, nur 20,000 Hindu), welche besonders berühmteShawlweberei betreiben. Zur Unterkunft der in beschränkterZahl zugelassenen Europäer (300 bis 400) gibt es jetztPensionen und Hotels. -

2) Hauptort des Distrikts Garwhal (s. d. 1).

S romanum (Flexura sigmoidea, F. iliaca), derS-förmig gekrümmte untere Abschnitt des Grimmdarms, deran den Mastdarm anstößt.

Ss... Die so beginnenden russischen Namen s. unter einfachemS...

Ssant s. Acacia.

Ssossar s. Acacia.

Sselo (russ.), s. v. w. Kirchdorf; vgl. Derewnja.

St., Abkürzung für Sanctus, Sankt oderSaint.

St., bei naturwissenschaftl. Namen Abkürzungfür Jakob Sturm (s. d.) oder für H. Steudner (s. d.).

Staab, Stadt in der böhm. BezirkshauptmannschaftMies, an der Radbusa und der Böhmischen Westbahn, hat einBezirksgericht, (1880) 2068 Einw., Bierbrauerei undDampfbrettsäge.

Staal, Marguerite Jeanne, Baronin de, durch Geist undBildung ausgezeichnete Französin, geb. 1693 zu Paris alsTochter eines armen Malers, Cordier, dessen Namen sie ablegte, umden ihrer Mutter, Delaunay, anzunehmen, war zuerst Kammerjungferder tyrannischen Herzogin von Maine, machte sich durch ihre Verseund Pläne zu Theaterstücken den Prinzen und vielengeistreichen Männern des Hofs bekannt und wardschließlich die Tonangeberin in den Salons von Paris. IhreErgebenheit für die Herzogin brachte sie auf zwei Jahre in dieBastille. 1735 heiratete sie den Offizier der Garde, Baron von S.Sie starb 16. Juni 1750 bei Paris. Ihre "Mémoires" (Par.1755, 4 Bde.; neue Ausg. von Lescure, 1878, 2 Bde.) zeichnen sichdurch scharfe Beobachtung und feine Satire aus und sind in einemStil geschrieben, dem die Kritik nur denjenigen Voltaires vorzog.Ihre "OEuvres complètes" erschienen Paris 1821, 2 Bde. Vgl.Frary, Étude sur Mad. S. (1863).

Staar, Augenkrankheit und Vogel, s. Star.

Staat, das öffentliche Gemeinwesen, welches eine aufeinem bestimmten Gebiet ansässige Völkerschaft in derVereinigung von Regierung und Regierten umfaßt. DieseDefinition ist freilich keine allgemein angenommene; vielmehr gehenin der Wissenschaft die Ansichten über Wesen und Zweck desStaats sehr auseinander. Jedenfalls müssen aber folgendeRequisite vorhanden sein, wenn von einem S. die Rede sein soll:Staatsgebiet, Regierung, Regierte und eine zweckentsprechendeOrganisation.

[Wesen und Zweck des Staats.] Die Geschichte lehrt uns,daß von eigentlichen Staaten erst dann die Rede sein kann,wenn eine größere Gesamtheit von Menschen zu einemgemeinsamen Organismus vereinigt ist. Die Familie mag als dienatürliche Grundlage und als der Ausgangspunkt diesesOrganismus betrachtet werden; der S. selbst aber charakterisiertsich gerade im Gegensatz zur Familie dadurch, daß seineAngehörigen nicht durch das Band der Verwandtschaft, sonderndurch eine besondere Organisation zusammengehalten werden, und dasCharakteristische ebendieser Organisation besteht wieder darin,daß eine Vereinigung von Regierung (Staatsregierung,Gouvernement) einerseits und von Regierten (Staatsangehörigen,Staatsbürgern, Unterthanen) anderseits gegeben ist. Endlichist aber noch als wesentlicher Faktor des Staatsbegriffs dasVorhandensein eines bestimmten Gebiets (Staatsgebiet, Territorium)hervorzuheben, auf welchem sich jene Gesamtheit von Menschendauernd niedergelassen hat. Der Zustand eines Nomadenvolkes ist dieNegation des Staatsbegriffs. Diejenigen Rechte nun, welche derStaatsregierung und deren Inhaber, dem Staatsbeherrscher(Staatsoberhaupt, Souverän), als solchem zustehen, die sogen.Hoheitsrechte, bilden den Inhalt der Staatsgewalt(Regierungsgewalt), welche namentlich insofern, als sie das Rechtdes Staatsbeherrschers zur Ausübung der Hoheitsrechte auf demStaatsgebiet und in Ansehung der auf demselben lebenden Menschen(Territorialitätsprinzip) bedeutet, als Souveränität(Staatshoheit, Suprema potestas) bezeichnet zu werden pflegt. DasSubjekt der Staatsgewalt sowie die Art und Weise ihrerAusübung durch ersteres, also die Staats- und Regierungsform,wird durch die Staatsverfassung (Konstitution) bestimmt. Wenn manaber ferner die Staatsgewalt in die gesetzgebende, die richterlicheund die vollziehende Gewalt (Exekutive) einzuteilen pflegt, so istdies im Grund nur eine Bezeichnung der verschiedenen Richtungen,nach denen hin die Staatsgewalt thätig ist; denn dieStaatsgewalt selbst ist und bleibt unteilbar, einheitlich undausschließend. Die wissenschaftliche Begründung undRechtfertigung des Staatsbegriffs ist von Philosophen undPublizisten auf die verschiedenste Weise versucht worden,während andre sich damit begnügen wollen, den S. und dasdamit gegebene Verhältnis der Unterordnung der Regierten alseine historische Thatsache und ebendarum der philosophischenRechtfertigung nicht bedürftig hinzustellen. Dagegen findenwir schon im Altertum in den Theokratien der Orientalen die sogen.religiöse Theorie vertreten, welche den S. als einegöttliche Stiftung und die Einsetzung der Regierungsgewalt alseinen Teil der göttlichen Weltordnung auffaßt; eineTheorie, welche man neuerdings als die Lehre vom Königtum "vonGottes Gnaden" zu modernisieren suchte, wie dies z. B. von Stahlgeschehen ist. Andre wollen die Entstehung des Staats aus demsogen. Rechte des Stärkern, aus der Übermacht, welcheauch in dem Ausdruck "Staatsgewalt" angedeutet sei, herleiten,während auf der entgegengesetzten Seite der S.(Patriarchalstaat) auf die väterliche Gewaltzurückgeführt und als eine Erweiterung der Familiehingestellt wird. Eine weitere, früher auch in Deutschlandvielfach praktisch geltend gemachte Theorie (Patrimonialprinzip)stellt die Staatsgewalt als Ausfluß des Eigentums(Patrimonialität) am Grund und Boden hin. Es ist dies dieTheorie der absoluten Monarchie, vermöge deren sich dieStaatsbeherrscher gewissermaßen als Eigentümer von Landund Leuten betrachteten, und welche zu jenem Satz führenkonnte, der Ludwig XIV. in den Mund gelegt wird: "Ich bin der S."Auch der sogen. Vertragstheorie ist hier zu gedenken, welche dieEntstehung des Staats auf eine vertragsmäßigeUnterwerfung der Unterthanen unter die Staatsgewalt (Contratsocial) zurückzuführen sucht und durch Jean JacquesRousseau populär geworden ist, zuvor aber schon durch dieEngländer Hobbes und Locke vertreten worden war. Dagegenbezeichneten Kant und nach ihm Karl Salomo Zachariä und Wilh.v. Humboldt den S. als durch das Rechtsgesetz gerechtfertigt.

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Staat (Staatsformen, Staatenverbindungen).

Im Zusammenhang damit stellte man den Schutz des Rechts als deneigentlichen Zweck des Staats (Rechtsstaat) hin. Dieser Theorie(Manchestertheorie) steht die sogen. Wohlfahrtstheoriegegenüber, welche die öffentliche Wohlfahrt des Staatsund die allgemeine Wohlfahrt seiner Angehörigen als denStaatszweck bezeichnet, damit aber freilich nicht selten zu einerBevormundung des Volkes und zum sogen. Polizeistaat geführthat. Dazwischen steht die vermittelnde Theorie, welche das Rechtals die Basis und den Hauptzweck des Staats bezeichnet und imübrigen die Staatshilfe nur als völkerschaftlicheUnterstützung zur selbstthätig freien Entwickelung derStaatsangehörigen eintreten lassen will, indem das gesamtestaatliche Leben sich in den Angeln des Rechts bewegen soll(Kulturstaat). Übrigens pflegt man gegenwärtig denAusdruck "Rechtsstaat" kaum noch in jener engen Bedeutung, sondernvielmehr gleichbedeutend mit "Verfassungsstaat" zu gebrauchen,indem man für den Staatsbürger nicht nur inPrivatrechtssachen, sondern auch auf dem Gebiet desöffentlichen Rechts die Möglichkeit richterlicherEntscheidung fordert und die Grenzen der staatlichenMachtvollkommenheit durch Verfassung und Gesetz festgelegt wissenwill.

[Staatsformen.] Nach der Art und Weise, wie das Verhältniszwischen Regierung und Regierten geordnet ist, werden verschiedeneStaats- und Regierungsformen unterschieden. Bis in die neueste Zeithat sich die alte Einteilung des Aristoteles erhalten, welcherzwischen Monarchie (Einzelherrschaft), Aristokratie (Herrschafteiner bevorzugten Volksklasse) und Demokratie (Volksherrschaft)unterschied und als die Entartungen dieser Staatsformen dieDespotie, die Oligarchie und die Ochlokratie hinstellte. Manchehaben noch eine sogen. Theokratie hinzugefügt, als eineStaatsbeherrschungsform, bei welcher die Gottheit selbst als durchihre Priester regierend gedacht ist. Richtiger und den modernenVerhältnissen entsprechend ist es wohl, nur zwei Hauptartender Staatsformen zu unterscheiden: die Monarchie und den Freistaatoder die Republik. In der erstern steht ein Einzelner an der Spitzedes Staatswesens, während in der Republik die Gesamtheit desVolkes als regierend gedacht ist, welcher die Einzelnen als dieRegierten gegenüberstehen. Bezüglich der Monarchie istdann zwischen der absolutistischen Staatsbeherrschungsform, derAutokratie, wie sie z. B. in Rußland besteht, zuunterscheiden und zwischen der konstitutionellen Monarchie, inwelcher dem Volk durch seine Vertretung ein Mitwirkungsrecht beiden wichtigern Regierungshandlungen und namentlich bei derGesetzgebung eingeräumt ist. Bezüglich der Autokratiekann man übrigens wiederum zwischen reinen Autokratienunterscheiden und solchen mit geregelten Staatsformen undbestimmten Staatsgrundgesetzen. Der Konstitutionalismus aber istnicht als eine Teilung der Staatsgewalt zwischen Monarch undVolksvertretung aufzufassen, auch ist der Monarch selbst derVolksvertretung nicht verantwortlich; wohl aber ist letzteres inAnsehung der Minister der Fall. Bezüglich der Republik endlichist, abgesehen von dem Unterschied zwischen Aristokratie undDemokratie, zwischen der unmittelbaren (antiken) und derrepräsentativen Demokratie zu unterscheiden, je nachdem dasVolk selbst in der Volksversammlung die Regierung ausübt, oderje nachdem dies durch seine Vertreter geschieht. Vgl. die Artikelüber die einzelnen Staatsformen und die Übersichtüber die Staats- und Regierungsformen bei dem Art."Bevölkerung".

Staatenverbindungen.

Die regelmäßige Erscheinungsform des Staats ist derEinheitsstaat, d. h. der für sich bestehende souveräne S.mit einem einheitlichen Staatsgebiet unter einer und derselbenStaatsregierung. Dadurch, daß der S. zu andern StaatenBeziehungen unterhält und mit solchen vorübergehend oderdauernd in Verbindung tritt, wird die Selbständigkeit desEinheitsstaats nicht beeinträchtigt. Zwischen dennebeneinander bestehenden Staaten entwickeln sich ebennaturgemäß ein geistiger und materiellerVölkerverkehr und ein völkerrechtliches Verhältnis,welches namentlich auf dem Gebiet des Handels und der Rechtspflegevielfach durch besondere Staatsverträge geregelt ist. Manbezeichnet dies Verhältnis selbständig nebeneinanderbestehender, aber durch freundschaftliche Beziehungen verbundenerStaaten als Staatensystem (im weitern Sinn) und pflegt sonamentlich von einem europäischen Staatensystem zu sprechen.Treten nun verschiedene Staatskörper zu einer nähernVereinigung mit einem bestimmten Zweck zusammen, so wird dies alsBund bezeichnet. Dieser Bund kann aber a) nur vorübergehend zueinem speziellen Zweck ins Leben treten (Allianz, Koalition) oderb) auf die Dauer zur Verwirklichung umfassender politischer Zweckeberechnet sein (Staatsverbindung, Staatensystem im engern Sinn).Ein Beispiel der erstern Art ist das gegenwärtig zwischenDeutschland und Österreich-Ungarn bestehende Schutz- undTrutzbündnis. In dem zweiten Fall dagegen trägt dieVereinigung selbst einen staatlichen Charakter, ohne daßjedoch die selbständige staatliche Existenz der einzelnenverbündeten Staaten aufgehoben wäre, wie dies bei derVereinigung mehrerer Staaten zu einem Einheitsstaat der Fall ist.Letzteres kann nämlich entweder so geschehen, daß die zueinem Einheitsstaat zusammengefügten Staaten einen ganz neuenS. bilden, wie dies z. B. bei der Gründung desKönigreichs Italien geschah, oder so, daß der eine S.dem andern einverleibt wird, in welcher Weise z. B. Preußenden 1866 annektierten Staaten gegenüber verfuhr. Im ersternFall spricht man von einer Union in diesem besondern Sinn,während in dem letztern Fall eine Inkorporation vor sich geht.Bei der Staatenverbindung dagegen bleiben die verbündetenStaatswesen nach wie vor nebeneinander bestehen, und zwar ist esmöglich, daß diese verbündeten Staaten an undfür sich völlig unabhängig voneinander, oderdaß dieselben zu einem politischen Gesamtwesen vereinigtsind. Im erstern Fall ist eine Union (im engern Sinn), im zweiteneine Konföderation gegeben.

Es kommt nämlich einmal vor, daß verschiedene, an undfür sich voneinander getrennte und unabhängige Monarchienunter einem und demselben Souverän stehen, also durch dieIdentität des Staatsbeherrschers miteinander verbunden sind(Union, Unio civitatum); sei es nun, daß eine Personalunion(Unio personalis), sei es, daß eine Realunion (Unio realis)vorliegt. Die Personalunion ist dann gegeben, wenn reinthatsächlich zwei oder mehrere an und für sichselbständige Staaten unter dem Zepter eines gemeinsamenMonarchen vereinigt sind. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn ineiner Wahlmonarchie ein Fürst an die Spitze des Staatsgestellt wird, der bereits das Oberhaupt eines andern Staats ist.So erklärt sich z. B. die Personalunion Sachsens und Polensunter August dem Starken. Der Hauptfall der Personalunion aber istder, daß infolge einer Übereinstimmung derThronfolgeordnung dasselbe Glied derselben Dynastie zur Regierungüber beide

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Staat (Staatenbund und Bundesstaat).

Länder gerufen wird. Hierfür bietet die Geschichte inder Vereinigung von Spanien und Deutschland, Hannover und England,Preußen und Neuenburg Beispiele. Auch Holland und Luxemburgstehen zu einander im Verhältnis der Personalunion. Istdagegen die Union eine verfassungsmäßige, dauernde undvon Rechts wegen unauflösliche, so liegt eine Realunion vor.Die einzelnen Kronländer sind, wie dies inÖsterreich-Ungarn der Fall ist, zwar besondere Staaten, abersie sind verfassungsmäßig unter Einem Zepter vereinigt.Sie stellen sich daher in ihrer Verbindung und namentlich demAusland gegenüber als eine staatliche Gesamtheit dar. Ihregemeinsamen Interessen werden in Österreich-Ungarn durch eingemeinsames Reichsministerium wahrgenommen, und aus denVolksvertretungen der beiden Reichshälften, demösterreichischen Reichsrat und dem ungarischen Reichstag,werden Delegationen (Parlamentsausschüsse) zum Zweck derTeilnahme an der gemeinsamen Gesetzgebung abgeordnet. Ebenso stehenSchweden und Norwegen seit 1814 in Realunion, während dieElbherzogtümer Schleswig und Holstein ehedem zu einander imVerhältnis der Realunion, zur Krone Dänemark aber indemjenigen der Personalunion gestanden haben.

Was dagegen die Konföderation (Föderation) anbetrifft,so wird zwischen Staatenbund (lat. Confoederatio civitatum, ital.Confederazione degli stati) und Bundesstaat (Bundesreich,Föderativstaat, Gesamtreich, Gesamtstaat, Staatenstaat,Civitas foederata s. composita, von den italienischen PublizistenStato federativo genannt) unterschieden. Bei dem Staatenbund wiebei dem Bundesstaat ist eine Mehrheit von Staaten mit besondernStaatsgebieten und Staatsregierungen und, wofern die letzternmonarchische sind, auch mit verschiedenen Staatsbeherrschernvorhanden. Beide sind im Gegensatz zu der nur vorübergehendenAllianz auf die Dauer berechnet, beide stellen ferner einenpolitischen Organismus mit einer Zentralgewalt dar. Allein bei demStaatenbund sind es immer nur bestimmte Aufgaben, welche den Zweckdes Bundes bilden, der Bundesstaat dagegen sucht die Zwecke desStaats überhaupt zu erfüllen. Der Staatenbund istvorwiegend Bund, der Bundesstaat ist vorwiegend Staat. DerStaatenbund ist ein völkerrechtlicher Verein mitinternationalem Charakter, der Bundesstaat ist ein wirklichesStaatswesen mit nationalem Charakter. So war die Schweiz bis 1848nur ein Staatenbund, während sie jetzt vermöge derVerfassung vom 12. Sept. 1848 ein Bundesstaat ist. Auch dieVereinigten Staaten von Nordamerika sind ein solcher, und alsdritter Bundesstaat kommt das gegenwärtige Deutsche Reichhinzu, während der vormalige Deutsche Bund ein bloßerStaatenbund war. Freilich entspricht in Deutschland dergegenwärtige Sprachgebrauch des praktischen politischen Lebensdem theoretischen Schulbegriff nicht. Denn man pflegt offiziell dieeinzelnen verbündeten deutschen Staaten als Bundesstaaten zubezeichnen, während theoretisch der Gesamtstaat, zu welchemsie vereinigt sind, also das Deutsche Reich, der Bundesstaatist.

Im einzelnen treten dabei namentlich folgende Gegensätzehervor: Im vormaligen Deutschen Bund als einem bloßenStaatenbund waren die einzelnen Staaten völlig souverän.Das Organ dieses Bundes, der Frankfurter Bundestag, setzte sichlediglich aus den instruierten Bevollmächtigten derverschiedenen souveränen Bundesregierungen zusammen. DerAngehörige des einzelnen Staats stand zu jenem Zentralorgan inkeiner direkten Beziehung, sondern die Bundesbeschlüsse hattennur für die verbündeten Regierungen, nicht aber fürdie von diesen Regierten rechtsverbindliche Kraft. Sie erhieltendiese für die Angehörigen der einzelnen Staaten vielmehrerst dadurch, daß sie von der betreffenden Einzelregierungals Gesetz verkündet wurden. Das Deutsche Reich als einGesamtstaat hat dagegen eine wirkliche Staatsgewalt im Gegensatz zuder lediglich vertragsmäßig geschaffenen Zentralgewaltdes Staatenbundes. In der Unterordnung unter jene Staatsgewalt desGesamtstaats liegt eine Beschränkung derSouveränität der einzelnen Regierungen. Das Reichübt ferner eine wirkliche gesetzgebende Gewalt aus, dieReichsgesetze gehen den Landesgesetzen vor, und sie erhalten ihrerechtsverbindliche Kraft für die Unterthanen des Reichs undder Einzelstaaten durch die Verkündigung von Reichs wegen. Demvormaligen deutschen Bundestag entspricht jetzt der Bundesrat. Aberihm steht im Deutschen Reich als einem wirklichen konstitutionellenStaat in dem Reichstag eine Volksvertretung zur Seite. An derSpitze dieses Gesamtstaats steht ein einzelner Monarch, welcher dieReichsgesetze verkündet und vollzieht, auch das Reichvölkerrechtlich zu vertreten hat, namens desselben den Kriegerklärt und den Frieden schließt. In dem Reichskanzlerist ihm ein verantwortlicher Minister beigegeben, von welchemnatürlich im Staatenbund nicht die Rede sein kann. DasBundesreich hat ferner seine eignen Reichsbeamten, sein eignes Heerund seine eignen Finanzen wie ein wirklicher Staat. Die Unterthanender einzelnen deutschen Staaten stehen jetzt in einem doppeltenUnterthanenverhältnis; sie sind Bürger des Einzelstaats,dem sie angehören, und Unterthanen der betreffendenEinzelregierung, aber sie sind auch zugleich Unterthanen undBürger des Deutschen Reichs und im Verhältnis zu einanderkeine Ausländer mehr. Während endlich der Deutsche Bundsich lediglich "die Erhaltung der äußern und innernSicherheit Deutschlands und der Unabhängigkeit undUnverletzbarkeit der einzelnen deutschen Staaten" als Zweck gesetzthatte, ist der Zweck des nunmehrigen Bundesreichs "der Schutz desBundesgebiets und des innerhalb desselben gültigen Rechtssowie die Pflege der Wohlfahrt des deutschen Volkes", also derallgemeine Staatszweck. Die Organisation des Deutschen Reichs undder oben genannten beiden andern Bundesstaaten veranschaulicht dienachstehende Übersicht:

Bundesstaaten Vollziehende Gewalt Gesetzgebende Gewalt

Vertretung der Staaten Vertretung des Volkes

Deutsches Reich Kaiser Bundesrat Reichskanzler BundesratReichstag

Nordamerikanische Union Präsident SenatRepräsentantenhaus

Kongreß

Schweiz Bundesrat Ständerat Nationalrat

Bundesversammlung

[s. Bildansicht]

Die Verhältnisse und Beziehungen der Staatsregierung zu denStaatsunterthanen und die Beziehungen der letztern untereinanderwerden, insoweit sie sich auf den S. beziehen, durch dasStaatsrecht (s. d.) geregelt. Dorthin gehören auch dieSatzungen über die Rechtsverhältnisse in einemzusammengesetzten S., als welchen man vornehmlich die Realunion undden Bundesstaat bezeichnen kann. Für

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Staatenbund - Staatsanwalt.

das Deutsche Reich bildet die Gesamtheit jenerRechtsgrundsätze das Reichsstaatsrecht. Das Staatslebendagegen bildet den Gegenstand der Politik (s. d.), während dierechtlichen Beziehungen mehrerer selbständiger Staatenuntereinander sich nach dem Völkerrecht (s. d.) bestimmen.Vgl. Waitz, Das Wesen des Bundesstaats (in seinen "Grundzügender Politik", Kiel 1862); Jellinek, Die Lehre von denStaatenverbindungen (Wien 1882); Brie, Der Bundesstaat (Leipz.1874); Derselbe, Theorie der Staatenverbindungen (Stuttg.1886).

Staatenbund, Staatensystem, s. Staat.

Staateninsel, die östlichste Insel des Feuerlandes,von der Hauptinsel durch die 60 km breite Le Maire-Straßegetrennt, hat steile, von Baien tief eingeschnittene Küsten,steigt bis 900 m an und ist fast das ganze Jahr durch mit Schneebedeckt. Nahe ihrem Ostende liegt St. John's Hafen. Die Insel wurde1616 von Schouten zu Ehren der "Staaten" (Stände) derNiederlande benannt.

Staatsadreßbuch, s. Staatshandbuch.

Staatsangehörigkeit (Heimatsrecht, Indigenat), dieEigenschaft als Unterthan in einem bestimmten Staatswesen. ImBundesstaat ist der Staatsangehörige einer doppeltenHerrschaft unterworfen; er steht unter der Staatsgewalt desEinzelstaats, welchem er angehört, und er ist derBundes-(Reichs-) Gewalt untergeordnet, welche in dem Gesamtstaatbesteht, welchem jener Einzelstaat zugehört. So ergibt sichfür die Angehörigen des Deutschen Reichs eine S. oder einLandesindigenat und eine Reichsangehörigkeit oder einBundesindigenat (s. d.). Die Reichsangehörigkeit setzt die S.in einem deutschen Einzelstaat voraus, sie wird mit der S. erworbenund endigt mit derselben. Nach dem Bundes-(Reichs-) Gesetz vom 1.Juni 1870 über den Erwerb und Verlust der Bundes- undStaatsangehörigkeit wird die S., mit welcher also dieReichsangehörigkeit von selbst verbunden ist, erworben durchAbstammung von einem inländischen Vater und füruneheliche Kinder durch die Geburt von einer dem betreffenden Staatangehörigen Mutter, auch durch die nachfolgende Legitimationseitens des natürlichen Vaters; sodann seitens einer Ehefraudurch deren Verheiratung mit einem Staatsangehörigen undendlich für den Angehörigen eines Bundesstaats durchdessen Aufnahme in einen andern (Überwanderung) und fürAusländer oder Nichtdeutsche durch die Naturalisation(Einwanderung) derselben. Beides, Aufnahme u. Naturalisation,erfolgt durch die höhere Verwaltungsbehörde desbetreffenden Staats und zwar die Aufnahme kostenfrei. DerHauptunterschied zwischen Aufnahme und Naturalisation bestehtdarin, daß die Aufnahme jedem Angehörigen eines andernBundesstaats erteilt werden muß, wenn er darum nachsucht undzugleich nachweist, daß er in dem Bundesstaat, in welchem erum die Aufnahme nachsucht, sich niedergelassen habe; esmüßte denn einer der Fälle vorliegen, in welchennach dem Freizügigkeitsgesetz die Abweisung einesNeuanziehenden oder die Versagung der Fortsetzung des Aufenthaltsals gerechtfertigt erscheint. Dagegen besteht keine Verpflichtungzur Naturalisation eines Ausländers, deren allgemeineVoraussetzungen Dispositionsfähigkeit, resp. Zustimmung desgesetzlichen Vertreters, Unbescholtenheit, Wohnung am Orte derNiederlassung und die Fähigkeit, sich und seineAngehörigen ernähren zu können, sind. Bei Staats-,Kirchen- und Gemeindedienern vertritt die Bestallung die Aufnahme-oder die Naturalisationsurkunde. Die S. geht verloren durchzehnjährigen ununterbrochenen Aufenthalt im Ausland, es seidenn, daß sich der Betreffende im Besitz eines Reisepapiersoder Heimatscheins befindet; durch Verheiratung einerInländerin mit einem Ausländer oder mit einemAngehörigen eines andern Bundesstaats sowie bei demunehelichen Kind einer inländischen Frauensperson durch dieLegitimation seitens des ausländischen Vaters. Außerdemgeht die S. verloren durch die Entlassung, welche unbedenklich zuerteilen ist, wenn der zu Entlassende in einem andern deutschenStaate die S. erworben hat. Die Entlassung ist gegenüberWehrpflichtigen vom vollendeten 17. bis zum 25. Lebensjahr zubeanstanden, desgleichen Militärpersonen und den zum aktivenDienst einberufenen Reservisten und Landwehrleuten gegenüber.Ferner kann ein Deutscher der S. und damit auch derReichsangehörigkeit für verlustig erklärt werden,wenn er ohne Erlaubnis seiner Regierung in fremde Staatsdienstetritt, oder wenn er im Fall eines Kriegs oder einer Kriegsgefahr imAusland sich aufhält und einer Aufforderung zur Rückkehrinnerhalb der hierzu gesetzten Frist keine Folge leistet. Dagegengeht die S. nicht dadurch verloren, daß man in einem andernStaat naturalisiert wird, wie dies in Frankreich der Fall ist.Deutschen, welche ihre S. durch zehnjährigen Aufenhalt imAusland verloren haben, kann die S. in dem frühern Heimatstaatwieder verliehen werden, auch wenn sie sich in diesem Heimatstaatnicht wiederum niederlassen, wofern sie keine anderweite S.erworben haben. Sie muß ihnen wieder verliehen werden, wennsie sich dort wieder niederlassen, selbst wenn sie inzwischen eineanderweite S. erworben haben sollten. Übrigens wird jenezehnjährige Frist durch Eintrag in die Matrikel einesReichskonsuls auf weitere zehn Jahre unterbrochen. DieBescheinigung über die S. heißtStaatsangehörigkeits-Ausweis (Heimatschein). Vgl. v. Martitz,Das Recht der S. im internationalen Verkehr (Leipz. 1875);Folleville, Traité de la naturalisation (Par. 1880); Cahn,Das Reichsgesetz über die Erwerbung und den Verlust derReichs- und S. (Berl. 1889).

Staatsanleihen, s. Staatsschulden.

Staatsanwalt, der zur Wahrnehmung des öffentlichenInteresses in Rechtssachen und insbesondere in Untersuchungssachenbestellte Staatsbeamte; Staatsanwaltschaft (ministèrepublic), die hierzu geordnete ständige Behörde. DemAltertum war das Institut der Staatsanwaltschaft fremd. Manüberließ es dem Verletzten oder seinen Familiengenossen,gerichtliche Genugthuung zu suchen, und nur zuweilen traten Rednermit einer öffentlichen Anklage hervor, ohne daß sie vonStaats wegen dazu veranlaßt waren. Der Ursprung der S. ist inFrankreich zu suchen, woselbst die heutigen Staatsanwalte aus denfiskalischen Beamten (gens du roi, avocats généraux,procureurs du roi) hervorgingen, welche die königlichenGerechtsame bei den Gerichten wahrnahmen und die fiskalischenInteressen zu vertreten hatten. Aber schon im Mittelalter wurdediesen Beamten auch die Wahrnehmung der öffentlichenInteressen verbrecherischen Handlungen gegenüberübertragen, und so entwickelte sich in Frankreich diestrafprozessualische Thätigkeit der Staatsanwaltschaft als diehauptsächlichste, wenn auch nicht ausschließlicheBerufssphäre derselben. Nach heutigem französischenRecht, wie dasselbe namentlich durch das OrganisationsgesetzNapoleons I. vom 20. April 1810 normiert ist, gilt nämlich derS. überhaupt als Wächter des Gesetzes. Er tritt daherauch in bürgerlichen Rechte

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Staatsärar - Staatsarzneikunde.

streitigkeiten, auch wenn das staatliche Interesse direkt dabeinicht in Frage kommt, in Thätigkeit. Der S. vermittelt fernerden Verkehr des Justizministeriums mit den Gerichten; er nimmt alsVertreter der bürgerlichen Gesellschaft auch an Akten derfreiwilligen Gerichtsbarkeit teil, vermittelt den Verkehr derGerichte untereinander und mit dem Ausland, überwacht denGeschäftsgang der Gerichte, beantragtDisziplinaruntersuchungen, beaufsichtigt die Anwalte und dieSubalternbeamten und überwacht das Gefängniswesen. InStrafsachen geht die Verfolgung aller verbrecherischen Handlungenund ebenso der Vollzug der Strafurteile von dem S. aus. DieFunktionen der Staatsanwaltschaft werden bei dem Kassationshofdurch den Procureur général (Generalprokurator) undsechs Vertreter desselben (avocats généraux)wahrgenommen. Ebenso fungiert bei den Appellhöfen einGeneralprokurator, welchem Generaladvokaten und Substituten(substituts du procureur général) beigegeben sind.Bei den Untergerichten sind Staatsanwalte (procureurs de larépublique) und Substituten oder Gehilfen derselbenbestellt, während bei den Polizeigerichten diestaatsanwaltlichen Funktionen von Polizeikommissaren wahrgenommenwerden. Nach diesem französischen Muster ist dieStaatsanwaltschaft in den meisten europäischen Staateneingerichtet worden; doch war es, wenigstens in Deutschland, diestrafprozessualische Seite der staatsanwaltschaftlichenThätigkeit, auf welche sich diese Nachahmung beschränkte,abgesehen von der in den Rheinlanden vollständig nachfranzösischem Muster durchgeführten Justizorganisation.Die deutschen Justizgesetze von 1877 haben jene Einschränkungzur Regel erhoben. Die Zivilprozeßordnung kennt eineMitwirkung der Staatsanwaltschaft im öffentlichen Interessenur in Ehesachen und im Entmündigungsverfahren, wenn es sichdarum handelt, eine Person unter Zustandsvormundschaft zu stellen.Das deutsche Gerichtsverfassungsgesetz aber erklärtausdrücklich, daß den Staatsanwalten eine Dienstaufsichtüber die Richter nicht übertragen werden dürfe. DasAmt der Staatsanwaltschaft selbst wird bei dem Reichsgericht durcheinen Oberreichsanwalt und durch einen oder mehrere Reichsanwalte,bei den Oberlandesgerichten, den Landgerichten und denSchwurgerichten durch einen oder mehrere Staatsanwalte und bei denAmts- und Schöffengerichten durch einen oder mehrereAmtsanwalte ausgeübt. Zum Oberreichsanwalt, zu Reichsanwaltenund Staatsanwalten können nur zum Richteramt befähigteBeamte ernannt werden. Oberreichsanwalt und Reichsanwalte sind demReichskanzler untergeordnet, während hinsichtlich allerübrigen staatsanwaltschaftlichen Beamten dieLandesjustizverwaltung das Recht der Aufsicht und Leitungausübt; auch sind den ersten Beamten der Staatsanwaltschaftbei den Oberlandesgerichten und Landgerichten alle Beamten derStaatsanwaltschaft ihres Bezirks untergeordnet. Die erstenStaatsanwalte bei den Oberlandesgerichten und in manchen Staatenauch die bei den Landgerichten führen den TitelOberstaatsanwalt. Der frühere Amtstitel "Generalstaatsanwalt"für den S. bei den Gerichten höchster Instanz kommt nurnoch als Auszeichnungstitel vor. Die Bezeichnung "Kronanwalt" istnicht mehr üblich. In Österreich führt der S. beidem obersten Gerichts- und Kassationshof in Wien den Titel"Generalprokurator". Bei den österreichischenOberlandesgerichten fungieren Oberstaatsanwalte. Die Beamten derStaatsanwaltschaft haben den dienstlichen Weisungen ihresVorgesetzten nachzugehen. Die Beamten des Polizei- undSicherheitsdienstes sind Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft undsind in dieser Eigenschaft verpflichtet, den Anordnungen derStaatsanwalte und der diesen vorgesetzten Beamten Folge zu leisten.Die Thätigkeit der Staatsanwaltschaft besteht nach derdeutschen Strafprozeßordnung im wesentlichen in derVorermittelung verbrecherischer Handlungen (Vorverfahren,Ermittelungs-, Skrutinialverfahren), in dem Antrag aufVoruntersuchung und dem Mitwirken bei derselben sowie in derErhebung und Vertretung der öffentlichen Klage bei strafbarenHandlungen. Nur bei Körperverletzungen und Beleidigungen,soweit diese Vergehen auf Antrag verfolgt werden, ist es Sache desVerletzten oder des an seiner Stelle zur Stellung des StrafantragsBerechtigten, die Strafverfolgung mittels der Privatklage zubetreiben. Bloß dann, wenn dies im öffentlichenInteresse geboten erscheint, übernimmt auch in solchenFällen der S. die Strafverfolgung. Die sogen. subsidiärePrivatklage, d. h. das Recht des Verletzten, im Fall einerAblehnung der Strafverfolgung seitens der Staatsanwaltschaft dieseStrafverfolgung selbst zu betreiben, wurde in dieStrafprozeßordnung nicht aufgenommen, obwohl sich derdeutsche Juristentag dafür ausgesprochen hatte. Es ist aberfür den Fall, daß die Staatsanwaltschaft dem bei ihrangebrachten Antrag auf Erhebung der öffentlichen Klage keineFolge gibt, nicht nur das Recht der Beschwerde an die vorgesetzteDienstbehörde, sondern auch gegen einen ebenfalls ablehnendenBescheid der letztern die Berufung auf gerichtliche Entscheidungstatuiert. Diese geht von dem Oberlandesgericht und in den vor dasReichsgericht gehörigen Sachen von diesem selbst aus. Aufdiese Weise ist also das sogen. Anklagemonopol derStaatsanwaltschaft abgeschwächt. Übrigens kann dieStaatsanwaltschaft gerichtlichen Entscheidungen gegenüber auchzu gunsten des Beschuldigten von den gesetzlich zulässigenRechtsmitteln Gebrauch machen. Endlich ist auch dieStrafvollstreckung Sache der Staatsanwaltschaft. In Preußenliegt übrigens dem S. auch die Überwachung der durch dasHandelsgesetzbuch den Kaufleuten auferlegten Verpflichtungen ob.Vgl. Deutsches Gerichtsverfassungsgesetz, § 142-153; DeutscheStrafprozeßordnung, § 151-175, 225 ff., 483 ff.;Österreichische Strafprozeßordnung, § 29 ff.;Berninger, Das Institut der Staatsanwaltschaft (Erlang. 1861); vonHoltzendorff, Die Umgestaltung der Staatsanwaltschaft (Berl. 1865);Keller, Die Staatsanwaltschaft in Deutschland (Wien 1866); Gneist,Vier Fragen zur Strafprozeßordnung (das. 1874); König,Die Geschäftsverwaltung der Staatsanwaltschaft inPreußen (Berl. 1882); Tinsch, Die Staatsanwaltschaft imdeutschen Reichsprozeßrecht (Erlang. 1883); von Marck, DieStaatsanwaltschaft bei den Land- und Amtsgerichten (Berl. 1884);Massabiau, Manuel du ministère public (4. Aufl., Par. 1876,3 Bde.; "Répertoire" dazu, 1885).

Staatsärar, s. v. w. Fiskus (s. d.).

Staatsarzneikunde, derjenige Teil der Medizin, welcherder öffentlichen Gerichtsbarkeit und Gesundheitspflege dient.Der Begriff fällt im gewöhnlichen Sprachgebrauch mitdemjenigen der gerichtlichen Medizin zusammen, das neuerrichteteInstitut für S. in Berlin enthält außer einem Raumfür die Leichenschau, in welchem unbekannte Verunglücktezur Rekognoszierung ausgestellt werden, auch die zum Unterricht inder gerichtlichen Medizin notwendigen Einrichtungen. Im weiternSinn gehören zur S.

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Staatsausgaben - Staatsflandern.

größere Teile der Gesundheitspflege (s. d.), derMedizinalpolizei, des Militärmedizinalwesens, allein sowohl imakademischen Unterricht als in der praktischen Verwaltung sinddiese einzelnen Teile der S. völlig getrennte Fächer.Vgl. Kraus und Pichler, Encyklopädisches Wörterbuch derS. (Stuttg. 1872 bis 1878, 4 Bde.).

Staatsausgaben, s. Finanzwesen, S. 267.

Staatsbankrott, derjenige Zustand der Staatswirtschaft,bei welchem der Staat, sei es mit, sei es ohne ausdrücklicheErklärung, seine Schuldverbindlichkeiten nicht erfülltoder sich Einnahmen verschafft, welche mit der Verfassung oder dochmit einer gesunden Finanzverwaltung im Widerspruch stehen. Wiejeder Private, kann auch der Staat in die Lage kommen, daß erunfähig wird, seinen Verpflichtungen zu genügen. Dieformellen Folgen, welche eine Insolvenz dem Privatmanngegenüber hat, der Konkursprozeß, die Unfähigkeitzu eigner Vermögensverwaltung, treten alsdann freilich demStaat gegenüber nicht ein, und es trägt demnach der S.den Charakter eines einseitigen Gewaltaktes. Derselbe kommt infolgenden Formen vor: 1) Repudiation der Staatsschulden, d. h. dieErklärung, daß der Staat seine Schulden oder einen Teilderselben überhaupt nicht verzinsen oder zurückzahlenwerde. Eine solche Weigerung kam früher oft beim Wechsel derRegierung vor, indem die neue Regierung die von der früherneingegangenen Verpflichtungen als ungesetzlich erklärte(einzelne nordamerikanische Freistaaten 1841, Dänemark 1850,welches das Anlehen der vom Deutschen Bund in Schleswig-Holsteineingesetzten Bundesregierung nicht anerkannte, Frankreich zurRevolutionszeit); 2) Einstellung der Zahlungen auf unbestimmteZeit; 3) einseitige, d. h. ohne das Angebot etwaniger Heimzahlung,also ohne die Zustimmung der Gläubiger, herbeigeführteZinsreduktion; 4) einseitige oder verhältnismäßigzu hohe Besteuerung der Koupons der Staatsschulden, also eineverschleierte Herabsetzung des Zinsfußes; 5) Ausgabe einerübermäßigen Menge Papiergeldes mit Zwangskurs. Vommoralischen Standpunkt muß jede Abweichung von derErfüllung der staatlichen Verpflichtungen um so mehrverurteilt werden, als dieselbe mit einer der ersten Aufgaben desStaats, der Wahrung der Rechtsordnung, im Widerspruch steht. Aberauch in finanzieller Beziehung ist sie zu mißbilligen, da siefür die Zukunft den Kredit des Staats erschwert und verteuert.Solide Staatsverwaltungen werden deshalb auch den Bankrott zuvermeiden suchen und sich bemühen, das Gleichgewicht zwischenEinnahmen und Ausgaben durch wirtschaftliche Bemessung derletztern, Reorganisation der Verwaltung und zweckentsprechendeAusnutzung des Besteuerungsrechts herzustellen.

Staatsbetrieb, der Betrieb von Unternehmungen durch denStaat, welche mehr oder weniger einen privatwirtschaftlichenCharakter tragen. Derselbe kann ganz auf dem Boden des freienWettbewerbs stehen (Domänen, Forsten, Bergwerke), oder er istim finanziellen Interesse (z. B. bei dem Tabaksmonopol) oder ausandern Gründen monopolisiert oder regasiert. Vgl.Aufwandsteuern und Regalien.

Staatsbürger, im weitern Sinn jederStaatsangehörige (s. Staatsangehörigkeit); im engern Sinnderjenige, welcher selbstthätig in der durch die Verfassungbezeichneten Weise an den öffentlichen Angelegenheitenteilnimmt. Zu den Rechten des Staatsbürgers in diesem Sinngehören insbesondere die Fähigkeit zu öffentlichenÄmtern und das aktive und passive Wahlrecht. DiesesStaatsbürgerrecht kann durch richterliches Urteil wegenVerbrechen und durch Konkurs ganz oder vorübergehend entzogenwerden (s. Ehrenrechte).

Staatsbürgereid, s. Huldigung.

Staatsdienst, derjenige Dienst, der auf einem besondern,von der Staatsgewalt ausgehenden Auftrag beruht und denBeauftragten zur Verwaltung bestimmter Staatsangelegenheitenanweist. Hiernach schließt man vom S. jeden Dienst aus, worinnur die Erfüllung einer allgemeinen Bürgerpflicht liegt;ferner jeden Dienst, der, wenn auch zu seiner Ausübung eineBevollmächtigung oder Bestätigung durch die Staatsgewalterforderlich ist, doch nicht Staatsangelegenheiten, sondern nurPrivatinteressen betrifft, welche den Staat bloß mittelbarberühren, wie namentlich die Funktionen der Privat- undHofdiener des Fürsten, der Korporations- und Gemeindediener,der Diener der Kirche und aller, welche, wie Ärzte undRechtsanwälte, nur die ihnen vom Publikum an vertrautenAngelegenheiten besorgen; endlich jeden Dienst, der, wenn auch auföffentliche Zwecke gerichtet, doch nicht vom Inhaber derStaatsgewalt übertragen wird (Mitglieder derStändeversammlung, Geschworne). Dagegen sind die OffiziereStaatsdiener, wenn auch der Ausdruck S. zuweilen auf denZivildienst allein beschränkt wird. Insofern übrigensKommunalbeamte mit gewissen Funktionen betraut sind, die von demStaat auf die Gemeinde oder auf einen Kommunalverbandübertragen wurden, pflegt man dieselben als mittelbareStaatsbeamte zu bezeichnen. Die Berufung zum S. geschieht durch dasStaatsoberhaupt, in der Regel auf gutachtliche Vorschläge dervorgesetzten Behörden; bei Subalternbeamten pflegt dieAnstellung von der Oberbehörde kraft erteilter Vollmachtseitens des Regenten auszugehen. Die Beschäftigung mit demöffentlichen Dienst ist in der Regel eineausschließliche, neben welcher andre regelmäßigeErwerbsgeschäfte nicht betrieben werden dürfen. Dahermuß aber auch der Unterhalt durch ausreichende Besoldung(Gehalt) und für den Fall unverschuldeterDienstuntüchtigkeit durch Gewährung eines Ruhegehaltsgesichert werden (s. Pension). In der Regel darf der Staat denBeamten nicht ohne weiteres entfernen, sofern er nicht durchVergehen oder durch ihm zuzurechnende Dienstunfähigkeit dieEntfernung verschuldet. Ebensowenig kann der Beamte seinen Dienstohne weiteres verlassen. Der Beamte ist dem StaatsoberhauptGehorsam schuldig und für seine Handlungen verantwortlich; ersteht unter der staatlichen Disziplinargewalt (s. d.). Der Gehorsamist aber nur ein verfassungsmäßiger; der Befehlmuß von der zuständigen Behörde und in dergesetzmäßigen Form ergangen sein und in den Bereich desDienstes fallen, um Gehorsam beanspruchen zu können; auch darfnichts gefordert werden, was dem allgemeinen Sitten- und demRechtsgesetz entgegen ist. Eine eigentümliche Stellung nehmendie Richter (s. d.) und die Minister (s. d.) ein, welch letzteremit ihrer Verantwortlichkeit die Handlungen des Fürstendecken. Im einzelnen sind die Rechtsverhältnisse derStaatsdiener (Staatsbeamten) in den meisten Staaten durch besondereGesetze geregelt; für die deutschen Reichsbeamten insbesondereist dies durch Reichsgesetz vom 31. März 1873 (mitNachtragsgesetz vom 25. Mai 1887) geschehen (s. Reichsbeamte unddie dort angeführte Litteratur).

Staatseinnahmen, s. Finanzwesen, S. 268.

Staatsflandern, s. Flandern.

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Staatsforstwissenschaft - Staatsrat.

Staatsforstwissenschaft, die Lehre von demVerhältnis des Staats zu den Forsten. Zur S. gehören dieForstpolitik, welche lehrt, wie dies Verhältnis sein soll, unddas Forstverwaltungsrecht, welches das rechtlich geordneteVerhältnis, wie es ist, darstellt. S. Forstpolitik u.Forstverwaltung.

Staatsgarantie, die von der Staatsregierungübernommene Bürgschaft, vermöge deren sie fürdie vertragsmäßige Rückzahlung und Verzinsung einervon einem Dritten gewirkten Schuld einsteht. Derhauptsächlichste Fall einer solchen S. ist der, daß derStaat, um das Zustandekommen eines im öffentlichen Interessewünschenswerten Eisenbahnbaues zu ermöglichen, denAktionären eine bestimmte Dividende "garantiert", d. h.alljährlich für einen gewissen Prozentsatz einsteht,für welchen er dann selbst aufzukommen hat, wenn und soweitdie Einnahmen der Bahn nicht ausreichen. Auch kommt es vor,daß der Staat für die Verzinsung und Amortisation einerAnleihe einsteht, welche im Interesse einer Eisenbahnanlagekontrahiert wird. Zuweilen wird eine solche Eisenbahngarantieseitens des Staats nur auf eine bestimmte Reihe von Jahrenübernommen, auch kommt dabei eine sogen. Rückgarantievor, welche darin besteht, daß gewisse bei dem Bahnbaubesonders interessierte Gemeinden, Korporationen etc. sichverpflichten, den Staat für den Fehlbetrag, für welchener eventuell aufzukommen hat, ganz oder teilweise schadlos zuhalten. In konstitutionellen Staaten ist zur Übernahme einerS. die Zustimmung der Volksvertretung nötig.

Staatsgefangene, Gefangene, welche nicht wegen einesbegangenen Verbrechens durch gerichtliches Urteil der Freiheitberaubt waren, sondern die man eingekerkert hatte, weil es dasInteresse des Staats oder Fürstenhauses zu fordern schien.

Staatsgerichtshof, derjenige Gerichtshof eines Landes,welcher über die gegen einen Minister erhobene Anklage wegenVerfassungsverletzung zu entscheiden hat. In England ist diePeerskammer der S., während in den meisten deutschen Staatendas oberste Gericht des Landes die Funktionen desStaatsgerichtshofs auszuüben hat oder, wie in Baden, Bayern,Sachsen und Württemberg, ein besonderer Gerichtshof in solchemFall niedergesetzt wird, und zwar in der Weise, daß Krone undStände gleichmäßig dessen Besetzung bewirken. S.wird auch die zur Entscheidung von Kompetenzkonflikten zwischenJustiz- und Verwaltungsbehörden bestellte Behördegenannt, endlich auch das zur Aburteilung schwerer politischerVerbrechen bestellte Ausnahmegericht. Das deutscheGerichtsverfassungsgesetz (§ 136) verweist Verbrechen derletztern Art, sofern sie gegen den Kaiser oder das Reich gerichtetsind, vor das Reichsgericht.

Staatsgewalt, s. Staat, S. 195.

Staatsgrundgesetz, s. Staatsverfassung.

Staatsgut, s. v. w. Domäne (s. d.).

Staatshandbuch (Staatsadreßbuch, Staatskalender),Namensverzeichnis der Beamten eines Staats, insbesondere dieoffizielle Darstellung eines Hof- und Staatswesens unterAufführung aller oder doch der höhern Staats- undHofbeamten unter Hinzufügung genealogischer und statistischerNotizen. Wahrscheinlich ist der französische "Almanach royal"(1679 von dem Buchhändler Laurent Houry in Parisgegründet) der Vorläufer der Staatshandbücher. Im18. Jahrh. erschienen ähnliche Almanache nach und nach inallen, selbst in den kleinsten, europäischen Staaten sowie inden verschiedenen Gebieten des damaligen Deutschen Reichs. Dieersten darunter waren: das "Namensregister für die vereinigtenNiederlande" (1700), der "Preußisch-brandenburgischeStaatskalender" (seit 1704), der "Regensburger Komitialkalender"(seit 1720), der "Kursächsische Staatskalender" (seit 1728),der englische "Royal calendar" (seit 1730) etc. Auch der"Gothaische Genealogische Hofkalender" nebst"Diplomatisch-statistischem Jahrbuch" (1889 im 126. Jahrgangerscheinend) ist hier zu nennen. Wie jetzt für die meisteneuropäischen Staaten amtlich redigierte Staatshandbücherherausgegeben werden, z. B. für Preußen das "Handbuchüber den königlich preußischen Hof und Staat", sowird auch ein "Handbuch für das Deutsche Reich" (Berl. 1876ff.) vom Reichsamt des Innern herausgegeben.

Staatshaushalt, s. Finanzwesen und Budget.

Staatshaushaltskontrolle, die Gesamtheit derjenigenEinrichtungen, durch welche festgestellt werden soll, ob dieFinanzverwaltung des Staats unter Beobachtung des Etatsgesetzes undder sonstigen gesetzlichen Schranken erfolgt ist. Die Befugnis derVolksvertretung, nach Ablauf der Budgetperiode die Staatsrechnungenzu prüfen und die Entlastung der Staatsregierungauszusprechen, ist eine notwendige Folge des Budgetrechts selbst.Dieser parlamentarischen S. geht aber regelmäßig einePrüfung der Staatsrechnungen durch eine unabhängigeRevisionsbehörde voraus, so z. B. in Preußen durch dieOberrechnungskammer (s. d.), welche auch als Rechnungshof fürdas Deutsche Reich fungiert. In manchen Kleinstaaten findet dieseVorprüfung durch einen Finanzausschuß des Landtags unterZuziehung eines Finanzministerialbeamten statt.

Staatshoheit (Souveränität), die dem Staat alssolchem zukommende Unabhängigkeit, vermöge deren erselbst sich die Gesetze seines Handelns gibt und an fremden Staatennur die gleiche Unabhängigkeit zu achten hat. Die S. ist mitdem Dasein des Staats selbst gegeben, ohne daß es dervölkerrechtlichen Anerkennung bedarf; vielmehr kann undmuß jeder Staat die Achtung seiner S. von andern Staatenfordern. Thatsächliche Verhältnisse haben aber zurBildung halb souveräner Staaten geführt, welche derOberhoheit (Suzeränität) eines andern unterworfen sind;auch kommen in den sogen. zusammengesetzten StaatenBeschränkungen der S. der Einzelstaaten im Interesse desGesamtstaats vor (s. Staat).

Staatskreditzettel, s. v. w. Schatzscheine (s. d.).

Staatskunst, s. Politik.

Staatsministerium, s. Minister.

Staatsnotrecht, s. Notrecht.

Staatspapiere nennt man alle Schuldverschreibungen,welche über die Einzelbeträge ausgestellt sind, in dieeine vom Staat aufgenommene Schuld zerlegt ist. Im weitern Sinnumfassen sie auch die unverzinslichen Papiere (Papiergeld oderStaatsnoten, Kassenanweisungen), im engern nur die verzinslichen(Staatsobligationen, Staatseffekten, Schatzscheine), bez. mitGewinnaussicht verbundenen (Prämienscheine, Losbriefe). Vgl.Staatsschulden.

Staatspraxis, s. v. w. praktische Politik.

Staatsrat, Kollegium, welches die wichtigstenStaatsangelegenheiten in gutachtliche Beratung zieht und sichüber die Grundsätze für deren weitere Behandlungausspricht. Durch das Vertrauen des Fürsten aus hochgestelltenund erfahrenen Personen berufen, hat der S. die Aufgabe, Einheit indie Maßregeln der einzelnen großen Verwaltungszweige zubringen und demnach teils die Organisation der Staatsverwaltung imganzen, teils die Grundlagen der Gesetzgebung, teils dieauswärtigen Verhältnisse

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Staatsrechnungshof - Staatsromane.

zu beraten. In Preußen (Verordnungen vom 20. März1817 und 6. Jan. 1848) war der S. bis 1848 eine wichtigeInstitution, deren Bedeutung jedoch mit der Entwickelung desKonstitutionalismus nahezu aufhörte, wenn auch ein Erlaßvom 12. Jan. 1852 eine Wiederbelebung versucht hat. Auch der 1884gemachte Wiederbelebungsversuch und die Übertragung desVorsitzes auf den damaligen Kronprinzen Friedrich Wilhelm hattenkeinen nennenswerten Erfolg. Der S. setzt sich zusammen aus denPrinzen des königlichen Hauses, sobald sie das 18. Lebensjahrerreicht haben, und aus den Staatsdienern, welche durch ihr Amt zuMitgliedern des Staatsrats berufen sind, nämlich demPräsidenten des Staatsministeriums, den Feldmarschällen,den aktiven Staatsministern, dem Chefpräsidenten derOberrechnungskammer, dem Geheimen Kabinettsrat und dem Chef desMilitärkabinetts. Ferner haben die kommandierenden Generaleund die Oberpräsidenten, wenn sie in Berlin anwesend sind,Sitz und Stimme im S. Dazu kommen dann diejenigen Staatsdiener,welchen aus besonderm königlichen Vertrauen Sitz und Stimme imS. beigelegt ist. Derartige Ernennungen erfolgten 1884 inbeträchtlicher Anzahl. Auch in Bayern, Elsaß-Lothringen,Sachsen und Württemberg besteht ein S. Vgl. Sailer, Derpreußische S. (Berl. 1884). In der absoluten Monarchie,insbesondere in Rußland, ist der S. (in Rußland"Reichsrat") eine Art Ersatz der Volksvertretung. In manchenStaaten ist S. auch Titel für höhere Staatsbeamte,namentlich für die verantwortlichen Vorstände vonMinisterialabteilungen, in Rußland auch für verdienteGelehrte.

Staatsrechnungshof, s. Oberrechnungskammer.

Staatsrecht (Jus publicum) im weitern Sinn s. v. w.öffentliches Recht; im engern und eigentlichen und zwar imsubjektiven Sinn wird damit unter Ausscheidung des Straf- undProzeßrechts, des Kirchen- und Völkerrechts derInbegriff der Rechte und Pflichten bezeichnet, welche durch dasStaatswesen für die Regierung und für die Regierten imVerhältnis zueinander und für die letztern untereinanderbegründet, im objektiven Sinn die Gesamtheit derjenigenRechtsgrundsätze, durch welche jene Rechte und Pflichtennormiert werden. Je nachdem nun diese Grundsätze unmittelbaraus dem Begriff und aus dem Wesen des Staats überhauptabgeleitet und entwickelt werden, oder je nachdem es sich um diepositiven Satzungen eines bestimmten Staats, z. B. des DeutschenReichs, handelt, wird zwischen allgemeinem (philosophischem,natürlichem) und besonderm (positivem, historischem) S., z. B.dem S. des Deutschen Reichs, unterschieden. Ferner unterscheidetman nach den Gegenständen, auf welche sich jene Satzungenbeziehen, zwischen äußerm und innerm S., je nachdem essich um die äußern Verhältnisse und um die Stellungdes Staats andern Staaten gegenüber oder um innereStaatsangelegenheiten handelt. Für Deutschland insbesonderewar zur Zeit des frühern Deutschen Reichs die Einteilung inReichsstaatsrecht und Territorial- oder Landesstaatsrecht vonWichtigkeit, indem man damit die auf Verfassung und Regierung desReichs bezüglichen Satzungen den für die einzelnenTerritorien besonders gegebenen staatsrechtlichen Bestimmungengegenüberstellte, eine Einteilung, welche nach der Errichtungdes neuen Deutschen Reichs, und nachdem so die bisherige Einteilungin Bundesrecht und Landesstaatsrecht hinweggefallen, wiederumpraktische Bedeutung gewonnen hat. Ferner pflegt man neuerdings ausdem S. das Verwaltungsrecht auszuscheiden, als den Inbegriffderjenigen Rechtsgrundsätze, nach welchen sich dieThätigkeit der Verwaltungsorgane in den einzelnen Fällenrichtet. Dem S. (Verfassungsrecht) verbleibt alsdann die Lehre vondem Herrschaftsbereich und von der Organisation der Staatsgewalt(Monarch, Volksvertretung, Behörden, Kommunalverbände),von ihren Funktionen und von den Rechtsverhältnissen derUnterthanen. Die staatsrechtliche Litteratur, namentlich diedeutsche, ist eine sehr reichhaltige. Die zahlreichen Publizistendes 16. und 17. Jahrh., unter denen besonders Pufendorf, Leibniz,Cocceji und Thomasius zu nennen sind, wurden von J. J. Moser durchdie Gründlichkeit, womit er in seinen zahlreichen Schriftendie verschiedenen Zweige des Staatsrechts behandelte, und vonPütter, dem größten Staatsrechtslehrer des vorigenJahrhunderts, übertroffen, welcher auf historischer Grundlagezuerst einer systematischen Bearbeitung des Staatsrechts die Bahneröffnete. Unter den neuern Systemen des Staatsrechts sind dievon Zachariä (3. Aufl., Götting. 1865-67, 2 Bde.),Zöpfl (5. Aufl., Leipz. 1863), Held (Würzb. 1856-57, 2Bde.), Gerber (3. Aufl., Leipz. 1880), Laband (Tübing.1876-82, 3 Bde.), G. Meyer (2. Aufl., Leipz. 1885), Zorn (Berl.1880-83, 2 Bde.), H. Schulze (Leipz. 1881), Kirchenheim (Stuttg.1887) und Gareis u. Hinschius (Freib. 1887) hervorzuheben. Unterden Bearbeitungen des partikulären Staatsrechts, von welchenbesonders die von Schulze (Preußen), Mohl (Württemberg),Pözl (Bayern), Milhauser (Sachsen) und Wiggers (Mecklenburg)zu nennen sind, steht Rönnes "S. der preußischenMonarchie" (4. Aufl., Leipz. 1882 ff., 5 Bde.) obenan. Ebenso istunter den systematischen Bearbeitungen des deutschenReichsstaatsrechts der Gegenwart das Werk von Rönne (2. Aufl.,Leipz. 1877) wegen seiner Reichhaltigkeit und Gründlichkeitvon Bedeutung. Um die Bearbeitung des allgemeinen Staatsrechts hatsich namentlich Bluntschli verdient gemacht, welcher in der"Deutschen Staatslehre für Gebildete" (2. Aufl.,Nördling. 1880) auch eine populäre Darstellung desStaatsrechts zu geben versuchte. Vgl. außer denangeführten Lehr- u. Handbüchern des Staatsrechts:Bluntschli, Lehre vom modernen Staat (Stuttg. 1875 ff.), Bd. 1."Allgemeine Staatslehre", Bd. 2: "Allgemeines S." (6. Aufl. desfrühern Werkes, welches unter diesem Titel erschien), Bd. 3:"Politik"; Sarwey, Das öffentliche Recht und dieVerwaltungsrechtspflege (Tübing. 1880); Marquardsen, Handbuchdes öffentlichen Rechts der Gegenwart (inEinzelbeiträgen, Freib. 1885 ff.); Hirth, Annalen desDeutschen Reichs (Leipz. 1871 ff.). Encyklopädische Werke:Rotteck u. Welcker, Staatslexikon (3. Aufl., Leipz. 1856-66, 14Bde.); Bluntschli und Brater, Staatswörterbuch (Stuttg.1856-70, 11 Bde.); kleinere Lexika von K. Baumbach (Lpz. 1882),Rauter (Wien 1885) u. a.

Staatsromane, Schriften, welche in der Form eines Romansdie Zustände und Einrichtungen eines Staats behandeln, undzwar indem sie "den realen Erscheinungen des staatlichen Lebensgegenüber ein Ideal aufstellen, welchem sie das Gewand derWirklichkeit geben". Werke ähnlicher Art finden sich schon beiden Griechen; wir erinnern nur an Platons "Republik" und Xenophons"Kyropädie". In der modernen Litteratur eröffnete denReigen der S. Thomas Morus' "Beschreibung der Insel Utopia (1515),der sich ein Jahrhundert später des DominikanermönchsThomas Campanella "Sonnenstaat" ("Civitas solis", 1620; deutsch vonGrün, Darmst. 1845), J. Valentin Andreäs "Reipublicaechristiano-poli-

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Staatsschatz - Staatsschulden.

tanae descriptio" (1619), Bacons "Nova Atlantis" (geschrieben um1624), Harringtons "Oceana" (1656) u. a. anreihten. Ausspäterer Zeit sind hervorzuheben: Fénelons"Télémaque" (1700) nebst Ramsays "Voyages de Cyrus"(1727); Holbergs "N. Klimii iter subterraneum" (1741); Morellys"Naufrage des îles flottantes, ou la Basiliade" (1753) und"Code de la nature" (1755); Stanislaus Leszczynskis "Entretien d'unEuropéen avec un insulaire du royaume de Dimocala" (1756);Fontenelles (?) "République des philosophes" (1768); Albr.v. Hallers Romantrilogie "Usong" (1771), "Alfred, König derAngelsachsen" (1773) und "Fabius und Cato" (1774); Wielands"Goldener Spiegel" (1772); Cabets "Voyage en Icarie" (1840) u.a.Vgl. R. v. Mohl, Die S. (in seiner "Geschichte und Litteratur derStaatswissenschaften", Bd. 1, Erlang. 1855).

Staatsschatz, s. v. w. Staatskasse, insbesondere einVorrat an barem Geld, welcher vom Staat füraußergewöhnliche Bedürfnisse, vornehmlich zurDeckung der ersten großen Ausgaben vor Ausbruch und beiBeginn eines Kriegs zurückgelegt und unter besondererVerwaltung gehalten wird. Ein solcher Schatz wurde früher vonHerrschern im dynastischen Interesse (Perser, orientalischeFürsten) erhalten. Gegenwärtig hat nur das Deutsche Reicheinen S. von Bedeutung. In Preußen, wo Friedrich Wilhelm I.einen ansehnlichen S. bildete, mußtenEtatsüberschüsse, sofern über dieselben nichtanderweit durch Gesetz verfügt war, in den S. abgeliefertwerden, ohne daß für die Höhe eine Grenze gesetztwar. 1866 wurde, nachdem der vorhandene Schatz fürKriegszwecke verwandt worden war, ein neuer S. im Betrag von 30Mill. Thlr. gebildet. An dessen Stelle ist 1871 derReichskriegsschatz (s. d.) getreten. Die volkswirtschaftlichen,teilweise aus merkantilistischen Überschätzungen desGeldes hervorgegangenen Bedenken, welche man früher gegen denS. hegte, als werde durch denselben dem Verkehr produktives Kapitalentzogen, halten nicht Stich gegenüber dem Bedürfnis, beiunvermutetem Ausbruch eines Kriegs auf eine bereite Summe raschzurückgreifen zu können, ohne durch sofortigeAusschreibung von Kriegssteuern Mißtrauen zu erregen odersich der Gefahr auszusetzen, bei Auflegung eines Anlehens nicht dieganze gewünschte Summe zu erhalten oder dasselbe zu allzuniedrigem Kurs begeben zu müssen. Wie viele andre Güter,welche für den Fall eines Bedürfnisses bereit gehaltenwerden müssen, ist der S., auch wenn er keine Zinsenträgt, keineswegs als totes Kapital zu betrachten, sobald ernur seinen Zweck erfüllt. Übrigens ist die Notwendigkeitder Ansammlung eines Staatsschatzes eine durchaus relative, indemsie durch die politische Stellung des Staats, Beschaffenheit desStaatsgebiets, Ausbildung des Kreditwesens etc. bedingt ist.

Staatsschrift, s. Deduktion.

Staatsschuldbuch, amtliches Register, in welchesDarlehnsforderungen an die Staatskasse in der Form von Buchschuldeneingetragen werden können. Nach dem preußischen Gesetzvom 20. Juli 1883 kann der Inhaber einer Schuldverschreibung derkonsolidierten Staatsanleihe gegen Einlieferung des Schuldbriefsdie Eintragung dieser Schuld in das bei der Hauptverwaltung derStaatsschulden geführte S. beantragen. Dadurch entsteht eineBuchschuld des Staats auf den Namen des eingetragenenGläubigers. Dieser Eintrag vertritt die Stelle einerObligation. Der Gläubiger erhält zwar über denerfolgten Eintrag eine Benachrichtigung, allein dieseBenachrichtigung ist auch nichts weiter als eine solche; sierepräsentiert nicht wie die Staatsobligation die Forderungselbst. Da noch ein zweites Exemplar des Staatsschuldbuchs an einemandern Ort geführt wird, so ist durch das S. der Vorteil einerabsoluten Sicherheit gegeben. Das S. ist so für Stiftungen,Fideikommisse, vormundschaftliche und ähnlicheVermögensverwaltungen, aber auch für einzelnePrivatpersonen von großer Wichtigkeit. Durch Löschungder Buchschuld und Ausreichung eines neuen Inhaberschuldbriefs kannder betreffenden Forderung die Zirkulationsfähigkeitwiedergegeben werden. Vgl. "Amtliche Nachrichten über daspreußische S." (3. Ausg., Berl. 1888). In Frankreich wurdeein S. (Grand-livre de la dette publique) schon durch Gesetz vom24. Aug. 1793 eingeführt.

Staatsschulden. Auch bei durchaus geordnetem Staatslebenist eine unmittelbare Deckung der erforderlichen Ausgaben nichtimmer möglich. Oft können Leistung und Gegenleistung derNatur der Sache nach sich nicht sofort begleichen, und es sindinfolge dessen Kreditverträge unvermeidlich. Hierausentspringen die sogenannten Verwaltungsschulden, d. h. diejenigen,welche aus der Wirtschaftsführung der einzelnenVerwaltungszweige hervorgehen, und die innerhalb des Rahmens derdiesen Zweigen überwiesenen Kredite oder ihrer eignenEinnahmen ihre Tilgung finden (A. Wagner). Zu unterscheiden hiervonsind die Finanzschulden, d. h. solche, welche die allgemeineFinanzverwaltung macht. Dieselben werden zum Teil nur zu dem Zweckaufgenommen, um in einer Finanzperiode den Etatkassengeschäftlich durchzuführen. Einnahmen und Ausgabensind in einer solchen Periode nicht immer gleich hoch, wenn siesich auch summarisch begleichen. Erfolgen die Einnahmen erstspäter, während vorher die entsprechenden Ausgaben zubestreiten sind, so kann man sich durch Aufnahme einervorübergehenden Anleihe, einer sogen. schwebenden Schuld(franz. dette flottante, engl. Floating debt, flottierende Schuld,auch unfundierte Schuld genannt) helfen, deren Rückzahlung mitHilfe jener bestimmten Einnahmen in Aussicht genommen werden kann.Die übliche Form solcher Schulden ist die Ausgabe vonverzinslichen, zu festgesetzter Zeit wieder einlösbarenSchatzscheinen (s. d.). Dem Wesen nach sind hierher auch allediejenigen Schulden zu rechnen, welche dazu dienen, umStörungen infolge unerwarteter Mindereinnahmen oderMehrausgaben zu begleichen, die in der folgenden Finanzperiode ihreDeckung finden sollen und meist ebenfalls durch Begebung vonSchatzscheinen aufgenommen werden können. Solche schwebendeSchulden werden oft prolongiert und dadurch thatsächlich zudauernden. Sie werden aber auch oft, wenn die Finanzverwaltung mehrnur die Bedürfnisse der Gegenwart ins Auge faßt, formellin bleibende oder fundierte Schulden umgewandelt. Überhauptgehören zu den schwebenden Schulden alle kurzfristigen undstets fälligen Verbindlichkeiten, insbesondere dieverschiedenen Depositenschulden, welche in Frankreich (Caisse desdepôts et des consignations) einen hohen Betrag ausmachen.Ursprünglich bezeichnete man als fundierte Schulden solche,für deren Verzinsung und Tilgung bestimmte Einnahmenvorgesehen oder auch verpfändet waren. Heute, wo diese Art derFundierung meist außer Gebrauch gekommen ist, nennt manfundierte Schulden schlechthin solche, für welche eine rascheRückzahlung nicht vorgesehen oder eine bestimmteTilgungspflicht nicht übernommen wird. Da grund-

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Staatsschulden (Arten der Staatsanleihen, Emission).

sätzlich die ordentlichen Ausgaben durch ordentlicheEinnahmen gedeckt werden sollen, so dürfte die Aufnahme vondauernden Schulden nur in Frage kommen, wenn es sich darum handelt,Mittel zur Ermöglichung außergewöhnlicherAufwendungen zu beschaffen, wie sie im Interesse des Schutzes undder Selbsterhaltung (Krieg) oder in demjenigen einer positivenWohlfahrtsförderung durch Ausführung kostspieligerUnternehmungen (Meliorationen, Flußregulierungen, Bahnbauetc.) nötig werden. Da nun in solchen Fällen alleAufwendungen tatsächlich jetzt schon gemacht werden, so sindauch alle Opfer von der Gesamtheit heute schon zu tragen, siekönnen nicht der Zukunft durch Aufnahme von Anlehenzugewälzt werden. Dieser Umstand gab zur ForderungVeranlassung, es sollten auch alle außerordentlichen Ausgabendurch Besteuerung gedeckt werden. Man übersieht jedochhierbei, daß alle Ausgleichungen von Störungen desvolkswirtschaftlichen Gleichgewichts mit Opfern verknüpftsind, ferner daß, wenn auch bei der Steuer wie beim Anlehendie jetzt aufzulegende Last die gleiche ist, doch nicht in beidenFällen die gleichen Personen als Träger derselbenerscheinen. Die Steuer muß von allen Staatsangehörigenentrichtet werden ohne Rücksicht darauf, ob die Summenüberall gleich verfügbar sind. Bei dem freiwilligenAnlehen werden dagegen vorwiegend die disponibleren Summenangeboten. Strömt bei demselben auch Kapital aus dem Auslandzu, so führt die augenblickliche örtlich-persönlicheÜbertragung der Last auch für das ganze Volk zu einerzeitlichen, indem die jetzige Aufwendung von einer späternGeneration bei der Tilgung getragen wird. Was hier von Volk zuVolk, das tritt im andern Fall von Klasse zu Klasse ein. Insofernkommt auch hier eine zeitliche Überwälzung der Last vor.Eine solche Überwälzung ist an und für sichgerechtfertigt, wenn den spätern Steuerträgern auch dieVorteile der außerordentlichen Aufwendung zu gute kommen. Zuungunsten der Besteuerung kann noch weiter der Umstand sprechen,daß die Veranlagung derselben praktisch immer unvollkommenist, Ungleichmäßigkeiten aber um so schwerer empfundenwerden, je höher die Steuer ist. Hiernach kommen bei derFrage, ob Anlehen oder Besteuerung, im wesentlichen die Wirkung derSteuerauflegung und die der außerordentlichen Aufwendung inBetracht. Ist letztere sehr hoch, und kommt sie den späternStaatsangehörigen vorzüglich zugute, so ist das Anlehen,im andern Fall die Besteuerung am Platz. Da nun ersteres dieMöglichkeit der Lastenüberschiebung bietet, so gibt esallerdings leicht Veranlassung zu unwirtschaftlichen Mehrausgaben,welche unterblieben wären, wenn man sie sofort hättedecken müssen. Für das Anlehen wird weiter geltendgemacht, daß dasselbe Gelegenheit zu sicherer Kapitalanlagebiete, infolgedessen zu Fleiß und Sparsamkeit anrege und inden Gläubigern konservative staatserhaltende Kräfteschaffe, während freilich damit auch die Bildungmüßiger Rentnerexistenzen veranlaßt wird.

Arten der Staatsanleihen. Emission.

Man unterscheidet freiwillige und erzwungene oderZwangsanleihen. Zu letztern rechnet man die Einziehung von Bank-und Kautionskapitalien, Einstellung fälliger Zahlungen,erzwungene Steuervorschüsse, die eigentlichen Zwangsanleihenmit Zins- und Tilgepflicht, dann auch die Ausgabe von Papiergeld.Die eigentlichen Zwangsanleihen, früher auch patriotischeAnleihen genannt, kommen beider heutigen Kreditentwickelnng nurnoch selten vor, und man greift in der Not schon lieber zum Mittelder Ausgabe von Papiergeld (s. d.). Letzteres bildet jedoch alsunverzinsliche Schuld ein verlockendes, deshalb aber auchgefährliches Mittel. Der Verkehr wird jeweilig bis zu einergewissen Menge Papiergeld willig annehmen, ohne daß der Kursunter pari sinkt. Dies geschieht jedoch, sobald jene Grenzeüberschritten wird, ohne daß dafür gesorgt ist,daß die überschüssige Menge bei vorhandenenEinlösungsstellen wieder zurückfließen kann. DerZwangskurs führt somit von jener Grenze ab zur Entwertung,welche für Geldwesen, Verkehr und Staatskredit gleichschädlich ist. Die freiwilligen Anlehen sind innere, wenn sieim Inland aufgelegt werden, was jedoch nicht ausschließt,daß sich bei denselben auch fremdes Kapital beteiligt. Dieäußern Anlehen werden im Ausland aufgenommen und lautendann auf fremde Währung oder auf mehrere in ein festesVerhältnis zu einander gesetzte Geldsorten. Bei unentwickeltemKredit müssen den Gläubigern besondere Sicherheitenbestellt werden. Dies geschah früher durch Verpfändungvon Domänen und Landesteilen, durch "Radizierung" vonVerzinsung und Tilgung auf bestimmte Einnahmequellen, welche auchoft den Gläubigern zur eignen Verwaltung überwiesenwurden. In modernen Kulturstaaten mit entwickeltem Kredit ist dieVerpfändung nicht mehr nötig. An ihre Stelle tritt derallgemeine auf Reichtum des Volkes u. Vertrauenswürdigkeitseiner Regierung gegründete Staatskredit, von dessen HöheZins und Emissionskurs abhängen.

Die Begebung (Emission) von Staatsanleihen erfolgt entweder aufdirektem Weg, indem der Staat sich unmittelbar an die Kapitalistenwendet, oder indirekt, indem der Staat sich derZwischenhändler bedient. Im erstern Fall kann der Staat dieAnlehenspapiere (Staatsschuldscheine, Staatspapiere) auf eigneRechnung durch Agenten und Makler gegen Provision verkaufen(Kommissionsanleihe, weil das Zusammenbringen der Zeichnungen inKommission gegeben wird), was bei kleinen Beträgen anwendbarist, bei großen leicht einen Kursdruck bewirkt, oder erbefolgt das französische System des beständigenRentenverkaufs durch Hauptsteuereinnehmer, welche das Recht haben,Inskriptionen im großen Buch vorzunehmen und Schuldtitelauszustellen, oder endlich, er beschreitet bei großem Bedarfden Weg der Auflegung zur allgemeinen öffentlichenSubskription. Bei letzterer werden die Kapitalbesitzer unmittelbaraufgefordert, an bestimmten Stellen (Zeichen-,Subskriptionsstellen) ihre Erklärung zur Beteiligung an demAnlehen in vorgeschriebener Weise kundzugeben und gegen meistratenweise Einzahlung die betreffenden Dokumente in Empfang zunehmen. Wird der geforderte Betrag überzeichnet, so findetgewöhnlich eine Reduktion nach Verhältnis dergezeichneten Summen statt. Die indirekte Emission (Negoziation)kommt meist in der Form der Submission vor. Der Staat fordertgrößere Geldinstitute, bez. Bereinigungen von solchen(Konsortien) auf, ein Angebot zu stellen, leiht die erforderlicheSumme von demjenigen, welcher sich unter sonst gleichgünstigen Bedingungen mit dem geringsten Gewinnsatzbegnügt, also den höchsten Kurs zahlt, undüberliefert ihm hierauf die bedungenen Obligationen, welcheder Darleiher bei dem Publikum durch Subskription, Verkauf an derBörse oder sonst unter der Hand zu möglichst hohem Kursauf eigne Rechnung unterzubringen sucht. Der gewöhnlich inProzenten des Anleihekapitals ausgedrückte Gewinn, den hierbeider Übernehmer der Anleihe er-

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Staatsschulden (Kündigung, Tilgung, Konversion).

zielt, heißt Bonus. Derselbe kann um so kleiner sein, jegrößer der Staatskredit und je mehr Kapital auf demGeldmarkt zur Verfügung steht. Auch können dieUnternehmer, statt unmittelbar die Obligationen an den Staat zubezahlen, die Garantie für ein bestimmtesMinimalerträgnis übernehmen. Diese Form der Emissionbietet den Vorteil, daß die gewünschte Summevollständig beschafft wird und alle einzelnen Punkte in Bezugauf Zahlung, Raten und Fristen von vornherein festgestellt werdenkönnen. Dagegen kommt sie leicht sehr teuer, wenn dieDarleiher wegen hohen Risikos auf hohen Gewinn rechnen müssen.Darum wird, wenn die Summe nicht plötzlich ihrem vollen Betragnach aufzubringen ist und der Kredit des Darlehensnehmers einenhohen Emissionskurs anzusetzen gestattet, ohne daß aus einemsubmissionsweisen Unterbieten erhebliche Vorteile zu erwartenwären, die direkte Emission am Platze sein. In besonderskapitalreichen Ländern, welche der Garantie durch Bankiersnicht bedürfen, werden mit der Subskription überhauptleicht günstigere Erfolge erzielt.

Die Anlehenspapiere werden meist unter pari begeben, sodaß der wirkliche Zinssatz unter den Nominalzinsfuß zustehen kommt. Je höher der vom Nominalbetrag gewährteZins, um so höher kann der Emissionskurs sein. Ob nun einniedriger Nominalzinsfuß mit geringem oder ein hoher mithohem Kurs vorzuziehen ist, hängt im wesentlichen von der Artder Tilgung und den Schwankungen des landesüblichen Zinssatzesab. Ist ein Sinken des Zinses wahrscheinlich und Gefahr vorhanden,daß der Staat kündigt, sobald der Kurs über parigestiegen ist, so wird die Neigung größer sein, Papierezu nehmen, die zu geringem, als solche, die zu hohem Nominalzinsausgeboten werden. Infolgedessen werden Papiere der erstern Art zuverhältnismäßig höherm Kurs begeben werdenkönnen. Allerdings wird damit auch die Tilgung erschwert,indem bei der Einlösung der Nennbetrag zurückzuzahlenist.

Die Staatsschuldscheine lauten entweder auf den Inhaber oder aufNamen. Im letztern Fall werden die Namen der Besitzer imStaatsschuldbuch (s. d.) eingetragen. Die Übertragung aufDritte erfolgt durch Umschreibung, kann aber auch durch Ausgabe vonCertifikaten (s. d.) erleichtert werden. Einzelne Staaten besorgenauf Wunsch die Umwandlung von Inhaberpapieren in Namenpapiere undumgekehrt (vgl. Außerkurssetzung). Die Papiere selbstbestehen aus der eigentlichen Schuldurkunde und, wenn sieperiodisch auszuzahlende Zinsen tragen, aus dem meist mit einemTalon versehenen Kouponbogen (s. Koupon). Der Nominalbetrag lautetauf abgerundete Summen, und zwar sind die Appoints so zuwählen, daß auf genügende Beteiligung desjenigenPubliku*ms gerechnet werden darf, dessen Zuziehung alserwünscht erscheint.

Kündigung. Tilgung.

Die Staatsschuld kann sein 1) eine von beiden Seitenaufkündbare. Eine solche kann zur Bedrängnis derFinanzverwaltung führen. Sie ist deshalb um so weniger zuempfehlen, als die Erfahrung lehrt, daß den Gläubigernein freies Kündigungsrecht nicht eingeräumt zu werdenbraucht; 2) eine von beiden Seiten unaufkündbare und zwarentweder mit festem Rückzahlungstermin oder ohne solchen. Indie letztere Klasse gehört die echte ewige Rente, welche nurdadurch getilgt werden kann, daß die Rententitel an derBörse zurückgekauft werden; in die erstere Klassegehören die temporären oder Zeitrenten, wie dieeigentlichen Zeitrenten oder Annuitäten (s. d.), durch derenZahlung in bestimmter Frist das Kapital verzinst und getilgt wird,dann dem Wesen der Sache nach die Leibrenten und Tontinen (s.Rente), ferner die Lotterieanlehen (s. Lotterie) sowie diejenigenObligationen, bei denen bestimmte Tilgungstermine festgesetzt sindund durch Verlosung die zu tilgenden Serien und Nummernfestgestellt werden. Die Schuld kann endlich auch sein 3) eine nurvom Staat, nichts aber auch vom Schuldner jederzeitaufkündbare (terminable, amortisierbare Anlehen, deren Titelgewöhnlich schlechthin Obligationen genannt werden). Hierhersind auch viele Rentenschulden zu rechnen wie z. B. die englischenKonsols, deren Rentenverschreibungen (bonds) sich auf einebestimmte Kapitalsumme beziehen, zu welcher der Staat jederzeiteinlösen kann. Bisweilen wird auch eine Minimal- und eineMaximalfrist für die Rückzahlung bestimmt, innerhalbderen die Verwaltung freie Hand hat. Eine Verpflichtung zur Tilgungzu bestimmter Zeit kann für die Finanzverwaltung sehrlästig werden. Die Tilgung kann dann leicht zu einem Zeitpunktstattfinden, in welchem keine Mittel verfügbar oder gar zugroßen außerordentlichen Aufwendungen Anlehenaufgenommen werden müssen. Alsdann kann leicht der Falleintreten, daß nicht allein neue Schulden lediglich zu demZweck gemacht werden müssen, um alte heimzuzahlen, sonderndaß auch neue Anlehen unter ungünstigern Bedingungenabgeschlossen werden. Aus diesem Grund empfiehlt es sich auchnicht, einen besondern Tilgungsfonds (s. d.) zu bilden, sondernvielmehr jeweilig Tilgungen vorzunehmen, wenn die Einnahmen dieAusgaben übersteigen. Allerdings wäre im Interesse einesgeordneten Staatshaushalts schon bei Aufstellung des Budgets daraufzu sehen, daß auch wirklich vorteilhafte Tilgungenstattfinden können. Andernfalls würde Schuld auf Schuldgehäuft und eine unbillige Lastenabwälzung bewirkt.Für die technische Erledigung der Geschäfte, welche sichan die Staatsschulden anknüpfen, sind besondere Stellenerforderlich, und zwar können hierfür entweder besondereBehörden und Kassen (Staatsschuldenverwaltung, Amortisations-,Schuldentilgungskasse) eingerichtet oder auch Banken mit derBesorgung beauftragt werden. Für Kontrolle derStaatsschuldenverwaltung werden in mehreren Staaten aus denMitgliedern der Volksvertretung besondereStaatsschuldenkommissionen gebildet. Ist der Staat nicht durcheinen Verlosungsplan oder überhaupt durch einen Vertrag an dieTilgung gebunden, und hat er freies Kündigungsrecht, so kanner Obligationen aufrufen und zum Nominalbetrag heimzahlen oderdieselben durch Agenten an der Börse aufkaufen lassen.Ersteres empfiehlt sich, wenn bei sinkendem Zinsfuß der Kursder Papiere über pari steigt, letzteres, wenn bei niedrigemKurs verfügbare Geldbestände in der genannten Weisevorteilhaft verwendet werden können.

Konversion. Statistisches.

Kündigungen sind nicht allein am Platz, wenn Schuldengetilgt werden sollen, sondern auch wenn der Staat in der Lage ist,neue Anlehen zu günstigern Bedingungen aufzunehmen,insbesondere wenn der Staatskredit gestiegen oder derlandesübliche Zinsfuß gesunken ist. In diesem Fall kannder Staat Zinsherabsetzungen (Zinsreduktionen), bez.Schuldumwandlungen (Konversionen, Rentenkonversionen) durchÄnderung von Schuldbedingungen, welche die Zinsenlastverringern, vornehmen. Solche Konversionen oder Reduktionen sinddann angezeigt, wenn bei gu-

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Staatssekretär - Staatsverbrechen.

tem Kredit des Staats der Kurs über pari gestiegen, mithinGeld zu einem niedrigern Zins zu haben ist. Zur sichernDurchführung der genannten Maßregel ist es nötig,daß die Finanzverwaltung der Einwilligung der meistenGläubiger gewiß ist und die nötigen Mittel bereitgehalten werden, um die erforderlichen Heimzahlungenvollständig bewirken zu können. Hierauf werden dieGläubiger öffentlich aufgefordert, ihren Willen zuerklären. Diejenigen, welche den neuen Bedingungen zustimmen,erhalten für die alten Obligationen, falls dieselben nicht nureinfach abgestempelt werden, neue mit entsprechenden Kouponbogen,die übrigen Schuldtitel werden gegen bar eingelöst. Meistwird, um die Gläubiger der Konversion geneigt zu stimmen, nocheine besondere Konversionsprämie in einem Prozentsatz derumzutauschenden Summe zugestanden. Solche Konversionen sind dannunmöglich, wenn der Staat sich an einen bestimmtenTilgungsplan gebunden hat oder die Kündigung überhauptausgeschlossen ist; sie werden unvorteilhaft, wenn das Anlehen zueinem zu niedrigen Nominalzinsfuß und damit auch zu niedrigemKurs begeben worden ist. Die Zinsreduktionen werden oft mit derKonsolidation oder Schuldzusammenziehung verbunden, d. h mitOperationen, durch welche mehrere Anlehen verschiedener Benennungund mit verschiedenen Nominalzinsfüßen in eine einzigemit nur einem Zinsfuß zusammen verbunden werden. DieserUmstand hat dazu Veranlagung gegeben, daß die WorteKonversion, Zinsreduktion und Konsolidation oft als gleichbedeutendgebraucht werden. Die Konvertierung kann auch unter der Form derArrosierung auftreten. Unter letzterer ist jede Nachzahlung zuverstehen, welche zu dem Zweck gemacht wird, um bereits bestehendeAnsprüche behaupten zu können. So verlangteÖsterreich 1805 und 1809 Nachzahlungen von den Inhabern vonSchuldscheinen, welche ihrer Forderungsrechte überhaupt nichtverlustig gehen wollten. Die Arrosierungsanlehen können jedochauch den Charakter freier Übereinkunft behaupten. Steigt derZinsfuß erheblich, während der Kurs vorhandener, zuniedrigem Nominalzinsfuß abgeschlossener Anlehen stark sinkt,so kann die Möglichkeit einer spätern Zinsreduktion undeiner Tilgung dadurch geschaffen werden, daß derNominalzinsfuß erhöht wird und zudem Ende dieGläubiger zu Zahlungen aufgefordert werden. GewaltsameErmäßigung von Zins und Schuldsumme ohneEinverständnis der Gläubiger nennt man Staatsbankrott (s.d.).

In den meisten Ländern ist bei der gegebenen Lage derFinanzverwaltung (fortwährend steigende Ausgaben) an eineerfolgreiche Tilgung der Schulden nicht zu denken. Letztere sindvielmehr seit Ende vorigen Jahrhunderts stetig gestiegen. Einegenaue Vergleichung der Schulden verschiedener Länder undZeiten ist zwar unmöglich; doch bieten die Zahlennachfolgender Tabelle immerhin einen brauchbaren Inhalt fürdie Beurteilung im allgemeinen. Unter der Hauptsumme von 91,794Mill. Mk. (für 1880) sind 6984 Mill. Mk. Eisenbahnschulden.Auf Deutschland allein entfallen davon 2700 Mill. Mk., so daßunter den Großstaaten Deutschlandverhältnismäßig am günstigsten gestellt ist.Die Ausgaben für Verzinsung und Tilgung der[e] Schuld waren inMillionen Mark 1885: in Frankreich 1067, England 591, Rußland521, Italien 436, Österreich-Ungarn 372, Spanien 219,Vereinigte Staaten 201, Niederlande 58, Preußen 182, Bayern51, Sachsen 31, Württemberg 17, Deutsches Reich 17. Esbetrugen die S. (in Millionen Mark) in:

Länder...................1787 1816 1846 1874 1880

Frankreich.............1500 1680 3300 18126 24798

Großbritannien.......4800 16990 16080 15690 14834

Spanien..................600 2250 3600 7200 10333

Italien.....................240 900 1200 7830 10006

Österreich-Ungarn... 690 1800 2490 7290 7992

Rußland...................600 2400 1800 6700 7211

Türkei - - - 2250 5727

Deutschland ...........240 1020 900 3150 4821

Portugal ..................60 240 480 2160 1745

Belgien .................. - - 450 564 1633

Niederlande...........1500 2700 2400 1520 1579

Rumänien..............- - - 120 377

Griechenland..........- - 120 212 277

Schweden................18 24 30 144 220

Dänemark................46 108 330 270 194

Serbien...................- - - - 28

Norwegen................- 26 16 40 17

Zusammen:............10294 30058 33196 75266 91794

Regelmäßige Angaben über die S. allerLänder der Erde liefert das "Diplomatisch-statistischeJahrbuch des Gothaischen Hofkalenders". Vgl. Nebenius, Deröffentliche Kredit (2. Aufl., Karlsr. 1829); Baumstark,Staatswissenschaftliche Versuche über Staatskredit, Steuernund Staatspapiere (Heiden. 1833); Hock, Die öffentlichenAbgaben und Schulden (Stuttg. 1863); Eug. Richter, Daspreußische Staatsschuldenwesen (Bresl. 1869); SalingsBörsenpapiere, finanzieller Teil (12. Aufl., Berl. 1888).

Staatssekretär, der Chef eines Verwaltungsressorts.Wenn man auch den Ausdruck S. vielfach gleichbedeutend mit Ministergebraucht, so besteht zwischen beiden im konstitutionellenStaatswesen doch ein wichtiger Unterschied, indem der Minister derVolksvertretung verantwortlich ist, der S. nicht. Der Minister hateine politische, der S. eine geschäftliche Stellung. ImDeutschen Reich ist der Reichskanzler der alleinige verantwortlicheMinister. Die Chefs der einzelnen Reichsämter, dieStaatssekretäre des Auswärtigen Amtes, des Reichsamtesdes Innern, des Reichsjustizamtes, des Reichsschatzamtes und desReichspostamtes haben keine selbständige politische Stellung.Den Staatssekretären des Auswärtigen und des Innern sindUnterstaatssekretäre beigegeben. In Preußen führendie Vertreter der verantwortlichen Minister den AmtstitelUnterstaatssekretär. In Elsaß-Lothringen führt derunter dem Statthalter stehende Chef des Ministeriums den Titel S.Die Chefs der einzelnen Ministerialabteilungen heißenUnterstaatssekretäre.

Staatsservituten (öffentliche Servituten), dauerndeBeschränkungen der Staatshoheit eines unabhängigenStaatswesens im Interesse und zugunsten eines andern Staats odersonstigen Berechtigten. In diesem Sinn wurde früher z. B. dasdem Haus Thurn und Taxis zustehende Postrecht in den einzelnendeutschen Staaten als Staatsservitut bezeichnet. Auch dieVerpflichtung, fremde Truppen auf bestimmten Etappenstraßendurch das eigne Staatsgebiet marschieren zu lassen, gehörthierher.

Staatssozialismus, diejenige soziale Richtung, welcheunter Befestigung der Machtstellung der Monarchie von der letzterneine Hebung der Lage der Arbeiter, insbesondere aber eineEinschränkung der Herrschaft der Bourgeosie und desbeweglichen Kapitals erwartet. Vgl. Arbeiterfrage, S. 752, undSozialismus.

Staatsstreich, s. Revolution.

Staatsverbrechen, s. Majestätsverbrechen.

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Staatsverfassung - Stabel.

Staatsverfassuug, Inbegriff der Bestimmungen, welche den Zweckeines Staats (s. d.), die dazu bestehenden Einrichtungen, Formen,Grenzen und Inhaber der Staatsgewalt und deren Verhältnisse zuden Staatsbürgern bezeichnen und regeln; dann Bezeichnungeines umfassenden Gesetzes (Konstitution, Charte, Grundgesetz), inwelchem die Staats- und Regierungsform eines Landes verbrieft, auchder Urkunde selbst, welche darüber aufgenommen ist. Je nachdemeine solche S. einseitig von dem Staatsbeherrscher gegeben odernach vorgängiger Vereinbarung mit Vertretern des Volkeserlassen worden ist, wird zwischen oktroyierter und paktierter(vereinbarter) Verfassung unterschieden. Insbesondere spricht manin der konstitutionellen Monarchie im Gegensatz zur absoluten vonder bestehenden S., wonach der Monarch in der Gesetzgebung an dieZustimmung von Vertretern der Staatsbürger gebunden ist, seies, daß diese nur für einzelne bevorrechtete Klassen(ständische Verfassung) oder daß sie zur Vertretung desganzen Volkes berufen sind (Repräsentativsystem). Überdie verschiedenen Arten der S. (Staatsformen) s. Staat.

Staatsvertrag, das zwischen zwei selbständigenStaaten getroffene völkerrechtliche Übereinkommen. Einsolches kann verschiedene Angelegenheiten betreffen, in welchenbefreundete Staaten miteinander in Beziehung treten, so z. B.Rechtshilfe, Auslieferung von Verbrechern u. dgl. Besonders wichtigsind die Handels- und Schiffahrtsverträge. Inkonstitutionellen Staaten ist zum Abschluß vonStaatsverträgen in der Regel die Zustimmung derVolksvertretung erforderlich. Nach der deutschen Reichsverfassungbedürfen Verträge über Gegenstände, welche inden Bereich der Reichsgesetzgebung gehören, zu ihremAbschluß der Zustimmung des Bundesrats und zu ihrerGültigkeit der Genehmigung des Reichstags.

Staatsverwaltung, s. Verwaltung.

Staatswirtschaft, die Wirtschaft des Staats, umfaßtalle Thätigkeiten und Veranstaltungen, welche zur Befriedigungvon Staatsbedürfnissen dienen, wird im engern Sinn auch oftals mit der Finanzverwaltung identisch betrachtet (vgl.Finanzwesen).

Staatswirtschaftslehre, Lehre von der Wirtschaft desStaats, Finanzwissenschaft, auch als gleichbedeutend mitVolkswirtschaftslehre (s. d.) gebraucht.

Staatswissenschaften (Kameralwissenschaften), imallgemeinen Bezeichnung für diejenigen Wissenschaften, derenGegenstand der Staat ist. Sie sind teils erzählende undbeschreibende (historische), teils erörternde (dogmatische),teils philosophische und teils politische. Zu der erstern Kategoriegehören die Statistik oder Staatenkunde, welche dermaligeZustände und Einrichtungen schildert, und dieStaatengeschichte. Die staatswissenschaftliche Dogmatik dagegenbehandelt systematisch Zweck, Wesen und Eigenschaften des Staatsund seine rechtlichen Beziehungen, und zwar sowohl diejenigen unterden Staaten selbst (Völkerrecht) als diejenigen zwischen derStaatsgewalt und den Staatsangehörigen sowie zwischen denletztern untereinander (Staatsrecht). Sie handelt ferner von denMitteln zur Erreichung des Staatszwecks (Verwaltungsrecht, Polizei-und Finanzwissenschaft). Die dogmatische Staatswissenschaft hateinen gegebenen Staat und dessen positive Satzungen zum Gegenstand,während die Staatsphilosophie nicht das, was ist, sondern das,was nach der Staatsidee sein soll, ins Auge faßt, und soentsteht namentlich der Gegensatz zwischen positivem undallgemeinem philosophischen Staats- und Völkerrecht. Diepolitische Behandlungsweise endlich betrachtet den Staat, seineMittel und seine Zwecke vom Standpunkt derZweckmäßigkeit aus, und eben dadurch wird das Gebiet derPolitik ebenso wie dasjenige der Volkswirtschaftslehre(Nationalökonomie) staatswissenschaftlich abgegrenzt.

Stab (lat. Scipio), im Altertum Auszeichnung fürältere Personen oder Könige (s. Zepter); außerdemwar der S. in besonderer Form auch gewissen Priesterschaften,namentlich den Augurn, die damit die Weltgegenden bezeichneten,beigelegt, worauf ihn später in der christlichen Kirche derBischof symbolisch als Hirt der Gemeinde trug (Hirtenstab,Bischofstab). Den S. als Attribut und Gerät der Zauberer(Zauberstab) führte schon im alten Chaldäadie "Dame(Göttin) des magischen Stabes", sodann Moses, Zoroaster und inder griechischen Mythe Hermes, der mit Hilfe desselben "Schlummergibt und enthebt". Auch ist der S. Zeichen der richterlichen undoberherrschaftlichen Gewalt und trägt dann an der Spitze dieHand als Schwur- oder Machtsymbol. - Als Ellenmaß war ein S.in Frankreich = 1,188 m, in Berlin = 1,75 Ellen, in Frankfurt a. M.= 2,166 Ellen. - In der Baukunst, und im Kunsthandwerk(Möbeltischlerei) ist S. ein rundes Glied von verschiedenerForm: als Astragal, Rundstab, gebrochener S. (s. Figur), gewundenerS., gewunden mit Hohlkehlen etc. (vgl. Viertelstab).

[Gebrochener Stab.]

Stab (franz. État-major), die zu dem Kommandoeines Truppenteils gehörigen Personen. Man unterscheidet denOberstab (Offiziere und im Offiziersrang stehende Beamte), z. B.beim Bataillon: den Kommandeur, den Adjutanten, Arzt undZahlmeister, und den Unterstab: die Schreiber, Ordonnanzen,Büchsenmacher u. dgl. Höhere Stäbe sind diejenigender Armeen, Korps und Divisionen, welche neben einergrößern Zahl von Offizieren etc. noch Geistliche,Auditeure, Post-, Kassen-, Proviant- und andre Beamte, dann zumBotendienst im Frieden die Stabsordonnanzen, zur Sicherung im Feldedie Stabswachen umfassen. Vgl. Generalstab.

Stabat mater (lat., "die Mutter [Jesu] stand [amKreuz]"), Anfangsworte eines geistlichen Textes in lateinischenTerzinen, der als sogen. Sequenz (s. d.) in der katholischenKirche, besonders am Feste der sieben Schmerzen Mariä,gesungen wurde und wahrscheinlich von dem Minoriten Jacopone daTodi herrührt. Von den Kompositionen desselben sind dieberühmtesten die von Palestrina, Pergolese und Astorga, ausneuerer Zeit die von Jos. Haydn, Winter und Rossini. Vgl. Lisco,Stabat mater (Berl. 1843).

Stäbchenalgen (Bacillarien), s. v. w. Diatomeen, s.Algen, S. 343.

Stäbchenbakterie, s. Bacterium.

Stabeisen, Schmiedeeisen in Stabform, auch Eisen- oderStahlstangen von gleichmäßigem Querschnitt.

Stabel, Anton von, bad. Staatsmann, geb. 9. Okt. 1806 zuStockach, studierte in Tübingen und Heidelberg die Rechte undtrat 1828 in den Staatsjustizdienst. 1832 wurde er zumObergerichtsadvokaten und Prokurator in Mannheim, 1838 zum Mitglieddes dortigen Hofgerichts, 1841 zum Hofgerichtsrat und in demselbenJahr zum Professor der Jurisprudenz in Freiburg ernannt. 1845 wurdeer Hofgerichts-

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Staberl - Stachel.

präsident in Freiburg, 1847 Vizekanzler des Oberhofgerichtsin Karlsruhe und 1849 Präsident der Ministerien des Innern undder Justiz im sogen. Reaktionsministerium; er machte sich um dieReform der Justiz sehr verdient. Nachdem er 1850 Mitglied desErfurter Parlaments gewesen, trat er 1851 wieder als Oberhofrichteran die Spitze des obersten Gerichtshofs und ward 1853 zum Mitgliedund Vizepräsidenten der Ersten Kammer ernannt. AlsBerichterstatter der Kommission der Ersten Kammer über dasKonkordat in der Landtagssession 1859-1860 wies er nach, daßfür dasselbe gemäß der Verfassung dieständische Zustimmung unerläßlich sei. Alsinfolgedessen das Konkordatsministerium Meysenbug-Stengelstürzte, ward S. im April 1860 zum Minister der Justiz und desAuswärtigen und 1861 zum Präsidenten des Ministeriums undStaatsminister ernannt. Er leitete nun die badischeKirchengesetzgebung und schuf die vortreffliche badischeGerichtsverfassung. Im Juli 1866 in Ruhestand versetzt, trat erAnfang 1867 nochmals als Justizminister in das Ministerium Mathyein, schied aber nach dessen Tod 1868 wieder aus und zog sich indas Privatleben zurück. 1877 in den erblichen Adelstanderhoben, starb er 22. März 1880 in Karlsruhe. Erverfaßte mehrere bedeutende juristische Schriften:"Vorträge über das französische und badischeZivilrecht" (Freiburg 1843); "Vorträge über denbürgerlichen Prozeß (Heidelb. 1845); "Institutionen desfranzösischen Zivilrechts" (Mannh. 1871, 2. Aufl. 1883) u.a.

Staberl, stehend gewordene Figur der Wiener Lokalposse,welche einen Wiener Bürger des Mittelstands (Parapluiemacher)darstellt, der sich in fremdartigen Verhältnissen zwarungelenk benimmt, aber durch Mutterwitz sich immer zu helfenweiß; von A. Bäuerle (s. d.) erfunden.

Stabheuschrecken, s. Gespenstheuschrecken.

Stabiä, alte Stadt in Kampanien, zwischen Pompejiund Surrentum, beim heutigen Castellammare (s. d.), wurde imBundesgenossenkrieg von Sulla zerstört, dann als Badeortwiederhergestellt, der bei dem Ausbruch des Vesuvs mit Herculaneumund Pompeji zugleich verschüttet ward. Einige Gebäude deralten Stadt wurden im vorigen Jahrhundert (seit 1749) ausgegraben;die aufgefundenen Kunstwerke befinden sich in Neapel.

Stabil (lat.), beständig, nicht veränderlich;stabilieren, festigen, fest begründen; Stabilismus, dasBeharren beim Bestehenden, Herkömmlichen.

Stabilität (lat.), in der Mechanik das Vermögeneines Körpers, seine Stellung der Schwerkraft gegenüberselbständig zu behaupten, s. Standfähigkeit. Allgemeinergebraucht man S. für Beständigkeit,Unveränderlichkeit, Beharren in dem Bestehenden.

Stablo, belg. Stadt, s. Stavelot.

Stabmessung (Stäbchenmessung), s. v. w. Bakulometrie(s. d.).

Stabrecht, das (zuweilen dem Gutsherrn oder der Gemeindezustehende) Recht, fremde Schafe hüten, weiden und düngenzu lassen, während man mit Stabgemeinschaft lediglich dasVerhältnis derjenigen bezeichnet, welche sich für ihreSchafe gemeinschaftlich einen Hirten halten.

Stabreim, s. Allitteration.

Stabsapotheker, s. Feldapotheker.

Stabschrecken, s. v. w. Stabheuschrecken.

Stabsführer, s. Führer.

Stabskapitän, früher militär. Rangklasse,etwa dem heutigen 13. Hauptmann entsprechend.

Stabsoffiziere, militär. Rangklasse, welche dieObersten, Oberstleutnants und Majore, in der Marine denKapitän zur See und Korvettenkapitän umfaßt.

Stabsquartier, s. v. w. Hauptquartier.

Stabswachen, beim Militär die den mobilenhöhern Stäben dauernd zugeteilte Mannschaft zumSicherheits- und Ordonnanzdienst: bei der Division 8 MannInfanterie, 4 Reiter; beim Armeekorps 1 Offizier, 52 Mann, 26Reiter.

Stabtierchen (Bacillarien), s. v. w. Diatomeen (s. Algen,S. 343).

Stabübungen, den Freiübungen verwandteTurnübungen mit einem jetzt meist eisernen Stab von 1 mLänge und 1½ -2 cm Stärke, hauptsächlichdurch Otto Jäger (s. d. 4) zu mannigfaltiger Verwendunggekommen, besonders im Schulturnen. Über das Springen mitlangen Stäben s. Stangenspringen. Vgl. Zettler, Die Schule derS. (Leipz. 1887); Mayr, Übungen mit langen Stäben (Hof1887).

Stabwurz, s. Artemisia.

Stabziemer, s. Drossel.

Staccato (ital., abgekürzt stacc.,"abgestoßen"), eine musikalische Vortragsbezeichnung, welchefordert, daß die Töne nicht direkt aneinandergeschlossen, sondern deutlich getrennt werden sollen, so daßzwischen ihnen wenn auch noch so kurze Pausen entstehen. Überdie verschiedenen Arten des S. beim Klavierspiel, Violinspiel etc.s. Anschlag und Bogenführung. Das S. beim Gesang besteht ineinem Schließen der Stimmritze nach jedem Ton; seine virtuoseAusführung ist sehr schwer. Entsprechend wird das S. bei denBlasinstrumenten durch Unterbrechung des Atemausflusses(stoßweises Blasen) hervorgebracht.

Stachel (Aculeus), in der Botanik jede mit einer starren,stechenden Spitze versehene, durch Umwandlung aus Haargebilden,Blättern oder ganzen Sprossen hervorgehende Bildung, auch dieDornen (spinae) umfassend. Die Stacheln treten bald nur alsAnhangsgebilde fertig angelegter Organe an Blättern oderStengeln auf (Haut- oder Trichomstacheln), oder sie entstehen durchUmwandlung von ganzen Blättern oder Blattteilen (Blatt- oderPhyllomstacheln), oder sie stellen selbständig umgewandelteSprosse (Dornen oder Kaulomstacheln) dar. Die Hautstacheln sindbald einzellige Haarbildungen, bald vielzellige Gewebekörperoder Zwischenbildungen beider; bald gehen sie nur aus der Epidermishervor, wie bei der Brombeere, bald beteiligt sich auch das unterder Oberhaut liegende Rindengewebe, das Periblem, an ihrer Bildung,wie bei dem S. der Rose. In den meisten Fällen sind dieHautstacheln gefäßlos, bisweilen, z. B. bei den Stachelnauf den Kapfeln des Stechapfels und der Roßkastanie,führen sie Gefäßbündel.Übergangsbildungen zwischen den Haut- und Blattstacheln findensich bei den Kakteen, deren Stacheln aus den Vegetationspunkten derAchselknospen wie wahre Blätter, jedoch ohne derenEntwickelungsfähigkeit, hervorgehen. Unter den Blattstachelnbilden sich einige durch Metamorphose von Nebenblättern, z. B.die Stacheln der Robinie; andre gehen aus umgewandelten Blattteilenhervor (Blattzahnstacheln), wie die Stacheln der Stechpalme, welcheGefäßbündel und Blattparenchym enthalten. Einedritte Gruppe besteht aus denen, die durch Umwandlung eines ganzenBlattes entstehen, wie die gefiederten Stacheln von Xanthium oderdie dreigeteilten Stacheln der Berberitze, aus deren AchselnLaubsprosse entspringen. Ebenso verschieden ist auch der Ursprungder Kaulomstacheln oder Dornen; es könnenüberzählige Knospen, wie bei Genista, Ulex, Gleditschia,oder auch normale Achselknospen, wie bei Ononis, zu Stachelnauswachsen

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Stachelbeerstrauch - Stachelschwein

Die höchste Form der Stachelbildung tritt bei vielenPomaceen und Amygdalaceen, besonders bei Arten von Crataegus undPrunus ein; hier wandelt sich ein ganzer blatttragender Zweig ineinen S. um. Auch kann umgekehrt durch Kultur der S. wieder alsblatttragender Zweig erscheinen. Auch der Hauptsproß erzeugtunter Umständen, wie bei Rhamnus cathartica, durch Verholzungdes Vegetationspunktes einen endständigen S. Im allgemeinenzeigt sich, daß der Begriff des Stachels durchaus nicht durchein einheitliches morphologisches Merkmal zu bestimmen ist, sonderndaß hier wie überall die Pflanze die verschiedenstenmorphologischen Glieder demselben physiologischen Zweck anzupassenweiß. Die biologische Aufgabe der Stacheln besteht teilsdarin, als Schutzorgan der Pflanze gegen die Angriffe weidenderTiere zu dienen, teils in der Rolle eines Verbreitungsmittels,insbesondere bei stachligen Früchten, die in dem Haar- oderFederkleid von Tieren hängen bleiben und dadurch weitertransportiert werden; endlich sind auch Beziehungen zwischenstacheltragenden Pflanzen und insektenfressenden Vögeln, wieden Würgerarten, bekannt, die ihre Beute an den Stacheln vonDornsträuchern aufzuspießen pflegen. Vgl. Delbrouck, DiePflanzenstacheln (Bonn 1875). Bei Tieren ist der S. eine Waffe zurVerteidigung oder zum Angriff, aber auch zur Anbohrung vonPflanzen, Erdreich etc., um die Eier hineinzulegen (Legestachel).Besonders verbreitet bei den Insekten (Bienen, Wespen etc.):häufig fließt durch ihn ein in besonderer Drüsebereitetes Gift in die Wunde (Giftstachel); stets sitzt er am Endedes Hinterleibes, nie am Munde (die Stechvorrichtungen derMücken, Wanzen etc. sind Mundteile und heißenStechborsten, nicht Stacheln). Beim Stachelschwein sind dieStacheln Haargebilde, bei Fischen umgewandelte Flossenstrahlen.Vgl. auch Echinodermen.

Stachelbeerstrauch (Ribitzel, Grossularia Mill.),Untergattung der Gattung Ribes (Familie der Saxifragaceen),Sträucher mit sehr verkürzten Zweigen, meist dreiteiligenDornen an der Basis derselben, büschelförmig gestelltenBlättern und einzeln oder in arm-, selten reichblütigenTrauben stehenden Blüten. Der gemeine Stachelbeerstrauch(Krausbeere, Klosterbeere, R. Grossularia L.), mit meistdreiteiligen Stacheln, drei- bis fünflappigen Blättern,1-3 grünlichgelben Blüten an gemeinschaftlichem Stiel undgrünlichweißen oder roten Früchten, istwahrscheinlich im nordöstlichen Europa heimisch, wo er inNorwegen bis 63° nördl. Br. vorkommt, und findet sich beiuns vielfach verwildert. Linné u. a. unterscheiden dreiArten: R. uva crispa, mit schließlich unbehaarten,grünlichen oder gelben Früchten, im Norden; R.Grossularia, niedriger, behaart, sehr stachlig, mit behaarten,grünlichen oder gelben Früchten, in den Alpen, inGriechenland, Armenien, auf dem Kaukasus, Himalaja, seltener beiuns verwildert; R. reclinatum, mit roten, glatten Früchten,aus dem Kaukasus, vielleicht bei uns verwildert. Die meistenKultursorten dürften von der ersten Art abstammen, die rotenvon den letztern; doch werden auch viele Blendlinge kultiviert. DerS. wächst am besten in lockerm, nahrhaftem Boden in freier,aber geschützter Lage; man pflanzt ihn meist auf Rabatten,doch darf er nicht zu dicht und nicht unter hohen Bäumenstehen. Im Spätherbst oder im zeitigen Frühjahr schneidetman allzu lange oder schlecht gestellte Zweige wie auchWurzelschößlinge fort, nach dem Fruchtansatz gibt manzweimal einen Düngerguß und pflückt zu dichthängende Beeren aus; man vermehrt ihn durch Stecklinge ausvorjährigen, im Herbst geschnittenen Trieben oder durchWurzelausläufer und gewinnt die besten Früchte voneinstämmig erzogenen Kronenbäumchen, welche durchUnterdrücken der Seitentriebe und Wurzelsprosse, sehr gut unddauerhaft durch Okulieren und Kopulieren auf R. aureum zu erziehensind. Empfehlenswerte Sorten sind: rote: Alexander, Blood hound,Farmer's Glory, Jolly Printer, Over all; grüne: Early greenhairy, Freecost, Green Willow, Nettle green; gelbe: Britannia,Bumper, Golden, Smiling Beauty, Yellow Lion; weiße: Balloon,Large hairy, Ostrich White. Queen Mary, Sämling von Pausner.Über die Zusammensetzung der Stachelbeeren s. Obst. DerStrauch wird zuerst in einem französischen Psalmenbuch des 12.Jahrh. als Groisellier, die Frucht vom Trouvère Rutebeuf im13. Jahrh. erwähnt. Gegenwärtig ist die Stachelbeere eineLieblingsfrucht der Engländer, welche vorzügliche Sortenerzogen haben. Man benutzt sie auch viel zur Bereitung vonObstwein. Mehrere amerikanische Stachelbeersträucher werdenbei uns als Ziersträucher kultiviert.

Stachelbeerwein, s. Obstwein.

Stachelberg, Bad im schweizer. Kanton Glarus, inromantischer Lage des Linththals, 664 m ü. M., mitheilkräftiger Schwefelquelle (7,7° C.), jetztzugänglicher durch die Bahnlinie Glarus-Schwanden-Linththal.Vgl. König, Bad S. (Zürich 1867).

Stachelflosser, s. Fische, S. 298.

Stachelhäuter, s. Echinodermen.

Stachelkümmel, s. Cuminum.

Stachelmohn, s. Argemone.

Stachelnuß, s. Datura.

Stachelschwamm, s. Hydnum.

Stachelschwein (Hystrix L.), Gattung aus der Ordnung derNagetiere und der Familie der Stachelschweine (Hystrichina), sehrgedrungen gebaute Tiere mit kurzem Hals, dickem Kopf, kurzer,stumpfer Schnauze, kleinen Ohren, kurzem, mit hohlen,federspulartigen Stacheln besetztem Schwanz,verhältnismäßig hohen Beinen, fünfzehigenFüßen, stark gekrümmten Nägeln und ungemeinstark entwickeltem Stachelkleid. Das gemeine S. (Hystrix cristataL., s. Tafel "Nagetiere II"), 65 cm lang, mit 11 cm langem Schwanz,24 cm hoch, hat auf der Oberlippe glänzend schwarze Schnurren,längs des Halses eine Mähne aus starken,rückwärts gerichteten, sehr langen, gebogenen,weißen oder grauen Borsten mit schwarzer Spitze, auf derOberseite verschieden lange, dunkelbraun und weiß geringelte,scharf gespitzte, leicht ausfallende Stacheln und borstige Haare,an den Seiten des Leibes kürzere und stumpfere Stacheln, amSchwanz abgestutzte, am Ende offene Stacheln, an der Unterseitedunkelbraune, rötlich gespitzte Haare. Die dünnen,biegsamen Stacheln werden 40 cm, die starken nur 15-30 cm lang,aber 5 mm dick; alle sind hohl oder mit schwammigem Markgefüllt. Das S. stammt aus Nordafrika und findet sich jetztauch in Griechenland, Kalabrien, Sizilien und in der Campagna vonRom. Es lebt ungesellig am Tag in langen, selbstgegrabenenGängen, sucht nachts seine Nahrung, die in allerleiPflanzenstoffen besteht. Alle Bewegungen des Stachelschweins sindlangsam und unbeholfen, nur im Graben besitzt es einige Fertigkeit.Im Winter schläft es tagelang in seinem Bau. Vollkommenharmlos und unfähig, sich zu verteidigen, erliegt es jedemgeschickten Feind. Es ist stumpfsinnig, aber leicht erregbar.Gereizt grunzt es, sträubt die Stacheln und rasselt mitden-

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Stachelschweinaussatz - Stadion.

selben, wobei oft einzelne ausfallen, was zu der FabelVeranlassung gegeben hat, daß es die Stachelnfortschießen könne. In der Not rollt es sich wie einIgel zusammen. Die Paarung erfolgt im Frühjahr, und 60-70 Tagenach der Begattung wirft das Weibchen in einer Höhle 2-4Junge, deren kurze, weiche Stacheln sehr bald erhärten undungemein schnell wachsen. In der Gefangenschaft wird es leichtzahm, hält sich gut, pflanzt sich auch fort, bleibt aber stetsscheu und furchtsam. Italiener ziehen mit gezähmtenStachelschweinen von Dorf zu Dorf. Man ißt sein Fleisch undbenutzt die Stacheln zu mancherlei Zwecken. Die Bezoarkugel einesostindischen Stachelschweins war früher als Heilmittelhochgeschätzt. Stachelschweine mit Wickelschwanz, welcheandern Gattungen angehören, leben als Baumtiere inAmerika.

Stachelschweinaussatz, s. v. w. Fischschuppenkrankheit(s. d.).

Stachelschweinholz, s. Cocos.

Stachelschweinmenschen, an Ichthyosis oderFischschuppenkrankheit (s. d.) Leidende.

Stachelzaundraht, Drahtlitzen mit in kurzenAbständen eingeflochtenen kurzen, spitzigen Draht- oderBlechstückchen oder aus zackig ausgeschnittenem Bandeisen,dient zu billigen Einfriedigungen.

Stachine, Fluß, s. Stikeen.

Stackelberg, Otto Magnus, Freiherr von, Archäologund Künstler, geb. 25. Juli (a. St.) 1787 zu Reval, studiertein Göttingen, machte hierauf eine Kunstreise durchSüdfrankreich, Oberitalien und sein eignes Vaterland, ging1808, um die Malerei zu erlernen, nach Dresden, dann nach Rom undunternahm von da aus 1810-14 mit Brönstedt u. a. eineExpedition nach Griechenland und Kleinasien, auf der er mit seinenGefährten die äginetischen Statuen und die Reste desApollontempels zu Bassä (Phigalia) auffand. Seine Zeichnungendes letztern samt der Umgebung sind seinem Werk "Der Apollotempelzu Bassä (Berl. 1826) beigefügt. Eine andre Frucht dieserReise sind die "Costumes et usages des peuples de la Grècemoderne" (Rom 1825). Von Rom aus unternahm er später Reisennach Großgriechenland, Sizilien und Etrurien, wo er 1827 dieetrurischen Hypogäen von Corneto entdeckte, bereiste dannFrankreich, England und die Niederlande und starb 27. März1837 in Petersburg. Noch sind von seinen Arbeiten hervorzuheben:"La Grèce, vues pittoresques ettopographiques" (Par. 1830, 2Bde.); "Trachten und Gebräuche der Neugriechen" (Berl.1831-1835, 2 Abtlgn.) und besonders "Die Gräber der Hellenenin Bildwerken und Vasengemälden" (das. 1836-37, mit 80Tafeln). Eine Biographie Stackelbergs nach seinen Tagebüchernund Briefen veröffentlichte seine Tochter Natalie v. S.(Heidelb. 1882).

Slackh., bei botan. Namen Abkürzung für JohnStackhouse, geb. 1740, gest. 1819 in Bath (Algen).

Stade, Hauptstadt des gleichnamigen Regierungsbezirks derpreuß. Provinz Hannover, an der schiffbaren Schwinge und derEisenbahn Harburg-Kuxhaven, hat 2 evangelische und eine kath.Kirche, ein Gymnasium, verbunden mit Realprogymnasium, einSchullehrerseminar, eine Taubstummenanstalt, einen HistorischenVerein (für Bremen und Verden), eine königlicheRegierung, ein Konsistorium, ein Landratsamt, ein Landgericht, einHauptsteueramt, einen Ritterschaftlichen Kreditverein, eineHandelskammer, Eisengießerei, Maschinen-, Schiff- undMühlenbau, Tabaks- und Zigarrenfabrikation, Brennerei,Bierbrauerei, Färberei, Ziegeleien, Schiffahrt, lebhaftenHandel und (1885) mit der Garnison (ein Füsilierbataillon Nr.75 und eine Abteilung Feldartillerie Nr. 9) 9997 meist evang.Einwohner. In der Nähe viele Ziegeleien sowie ein Gipslagerund bei dem Dorf Kampe eine Saline. Zum Landgerichtsbezirk S.gehören die elf Amtsgerichte zu Bremervörde, Buxtehude,Freiburg, Harburg, Jork, Neuhaus a. O., Osten, Otterndorf, S.,Tostedt und Zeven. - S. erscheint schon im Anfang des 10. Jahrh.als der Stammsitz eines gräflichen Geschlechts, das 1056 auchin den Besitz der sächsischen Nordmark gelangte, sie fast einJahrhundert behielt und 1168 ausstarb. Von den Welfen Kaiser OttoIV. und seinem Bruder, dem Pfalzgrafen Heinrich, ward S. 1202erobert, fiel aber um 1204 an Bremen zurück, nachdem es vonOtto IV. umfangreiche Freiheiten erhalten hatte. In diese Zeitfällt die Einführung des Elbzolles. 1648 imWestfälischen Frieden ward es Schweden zuerkannt und zurHauptstadt des Fürstentums Bremen gemacht. 1676 von denHannoveranern, 1712 von den Dänen erobert, kam es 1719 nebstdem Bistum Bremen an Hannover. 1807 ward es Westfalen einverleibt,1810 von Napoleon I. in Besitz genommen, 1813 aber von denAlliierten an Hannover zurückgegeben und von diesem wieder zurFestung gemacht und 1816 neu befestigt. Hannover mußte denElbzoll durch Vertrag vom 22. Juni 1861 gegen eineEntschädigung von 2,857,338 Thlr. aufheben (s. Elbe, S. 503).Am 18. Juni 1866 wurde die Festung S. von den Preußen ohneKampf genommen und fiel dann mit dem übrigen Hannover anPreußen. Der Regierungsbezirk S. (s. Karte "Hannover etc.")umfaßt 6786 qkm (123,25 QM.), zählt (1885) 325,916 Einw.(darunter 320,329 Protestanten, 4118 Katholiken und 1126 Juden) undbesteht aus den 14 Kreisen:

Kreise QKilom. QMeilen Einwohner Einw. auf 1 qkm

Achim 286 5,19 19973 70

Blumenthal 174 3,16 19224 110

Bremervörde 579 10,52 16760 29

Geestemünde 630 11,44 33656 53

Hadeln 326 5,92 17086 52

Jork 167 3,03 21097 126

Kehdingen 378 6,87 20214 53

Lehe 633 11,50 28797 45

Neuhaus a. Oste 522 9,48 28474 55

Osterholz 479 8,70 27736 58

Rotenburg i. Hann 816 14,82 19282 24

Stade 725 13,17 34536 48

Verden 409 7,43 25257 62

Zeven 662 12,02 13824 21

Stadel, in Süddeutschland s. v. w. Scheune; auchVorrichtung zum Rösten der Erze (s. Rösten).

Städelsches Institut, s. Frankfurt a. M., S.500.

Staden, Stadt in der hess. Provinz Oberhessen, KreisFriedberg, an der Nidda, hat eine evang. Kirche, ein Schloßund (1885) 376 Einw. Stadion, uraltes Adelsgeschlecht, dessenStammschloß S. ob Küblis in Graubünden jetzt Ruineist, und das sich später in Schwaben an der Donauniederließ; von Walter von S. (Stategun) an, der alshabsburgischer Landvogt von Glarus 1352 im Kampf gegen die Glarnerfiel, läßt sich die Geschichte des Geschlechts genauverfolgen. Die bemerkenswertesten Sprößlinge desselbensind: Christoph von S., Bi-

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Stadium - Stadt.

schof von Augsburg, geb. 1478, ein Freund Kaiser Maximilians I.und Ferdinands I., aber auch Melanchthons, mit dem er in Verkehrwegen der Reformation der Kirche und Wiedervereinigung der beidenchristlichen Kirchen stand; starb 1543. Johann Kaspar von S.,Hochmeister des Deutschen Ordens, österreichischerKriegspräsident und Feldzeugmeister, zeichnete sich besonders1634 in der Schlacht bei Nördlingen aus. Johann Philipp vonS., Staatsminister von Kurmainz, geb. 1652, war die Seele allerReichsgeschäfte, 1711 Botschafter bei der Wahl Karls VI. undGesandter des rheinischen Kreises beim Utrechter und BadenerFriedenskongreß. Mit ihm ward das Geschlecht 1705 in denReichsgrafenstand erhoben. Er starb 1741 und ward durch seinebeiden Söhne der Stifter der jetzt noch blühendenFridericianischen und Philippinischen Linie. Ersterer gehörtean Johann Philipp Karl Joseph, Graf von S., geb. 18. Juni 1763.Derselbe hatte auf deutschen Hochschulen eine tüchtige Bildungerhalten, war 1788 österreichischer Gesandter zu Stockholm,1790 bis 1792 zu London, trug 1797 nicht wenig dazu bei, die durchdie polnischen Teilungen zwischen Österreich und Preußenentstandene Spannung zu heben, betrieb, seit 1804 Botschafter inPetersburg, eifrig die Bildung der dritten Koalition und folgte1805 dem Kaiser Alexander I. zur Armee. Von reichsritterlichemStolz und echt deutschem Patriotismus erfüllt, haßte erNapoleon aus ganzer Seele. Nach dem Preßburger Frieden mitdem Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten betraut, hatteer die Absicht, Österreich im Innern zu reorganisieren, seineäußere Macht wiederherzustellen und es an die Spitze deswieder befreiten Deutschland zu bringen. Er löste diedrückenden Geistesfesseln, förderte den Gemeinsinn undbetrieb vor allem die Reform des Heerwesens und die Bildung einerLandwehr. Das plötzliche Erscheinen eines deutschenPatriotismus in Österreich beim Beginn des auf seinen Antriebunternommenen Kriegs von 1809 war Stadions Werk. Derunglückliche Ausgang des Kriegs nötigte ihn, dem GrafenMetternich im Ministerium Platz zu machen; doch ward er schon 1812wieder nach Wien berufen und erhielt nach der Schlacht beiLützen eine Sendung zu Alexander I. und Friedrich Wilhelm III.Nach dem Frieden mußte er sich abermals dem schwierigenAuftrag der Herstellung der Finanzen unterziehen. Die Ausgaben desStaats wurden beschränkt und genau bestimmt und dieSteuerverfassung nach vernünftigen Grundsätzen geregelt.Er starb 18. Mai 1824 in Baden bei Wien. Franz Seraph, Graf von S.,zweiter Sohn des vorigen, geb. 27. Juli 1806, trat früh in denStaatsdienst ein und zeichnete sich namentlich alsAdministrativbeamter aus. In Triest und Galizien, wo er 1846 an dieSpitze der Verwaltung trat, sicherte er sich ein dankbaresAndenken. Nach Niederwerfung der Wiener Revolution trat er mitSchwarzenberg und Bach ins Ministerium vom 21. Nov. 1848 undvertrat hier die freisinnigere Richtung. Schon im Mai 1849 abermußte er wegen eines Körperleidens zurücktreten; erstarb in Geisteszerrüttung 8. Juni 1853. Vgl. Hirsch, FranzGraf S. (Wien 1861). Sein Neffe Philipp, Graf von S., geb. 29. Mai1854, ist jetzt das Haupt der Fridericianischen Linie; diePhilippinische wird repräsentiert durch Friedrich, Grafen vonS., geb. 13. Dez. 1817, erblichen Reichsrat der Krone Bayern.

Stadium (griech. Stadion), bei den AltenLängenmaß, eine Strecke von 600 griech. Fuß, aberthatsächlich von schwankender Länge; das Itinerarstadium(s. d.) war jedenfalls kleiner, und man kann es bis in die Mittedes 2. Jahrh. v. Chr. auf etwa 1/50 geogr. Meile ansetzen. Dasolympische S. betrug ungefähr 1/40 Meile. In derrömischen Kaiserzeit rechnete man 7,5 Stadien auf einerömische Meile. Ursprünglich bezeichnete das Wort diefür den Wettlauf bestimmte Rennbahn von der angegebenenLänge, namentlich die zu Olympia (s. d., mit Plan), nach derdie andern eingerichtet wurden. Die Konstruktion des Stadiumserkennt man deutlich aus vielen noch vorhandenen Ruinen. Demnachwar es der Länge nach durch mehrere Richtungssäulen inzwei Hälften geteilt und eine oder mehrere Seiten desselbenoft mit Benutzung des Terrains mit aufsteigenden Sitzreihenversehen. An einem der schmalen Enden wurde die Bahn in der Regelvon einem Halbkreis eingeschlossen, in dem sich die Plätzefür die Kampfrichter (Hellanodiken) und die vornehmernZuschauer befanden, und wo auch die übrigen Wettkämpfestattfanden. Bei den Römern kamen die Stadien zu CäsarsZeit auf und wurden hier auch zu andern Vergnügungen,namentlich zu Tierhetzen, benutzt. Im modernen Sprachgebrauchbezeichnet man mit S. jeden einzelnen Abschnitt in dem Verlauf oderder Entwickelung einer Sache.

Stadler, Maximilian, Abbe, Kirchenkomponist, geb. 7. Aug.1748 zu Melk in Unterösterreich, genoß seinemusikalische Ausbildung vorwiegend als Zögling des WienerJesuitenkollegiums, trat dann in das Benediktinerstift seinesGeburtsorts, ward 1786 zum Abt von Lilienfeld und drei Jahrespäter zum Abt und Kanonikus von Kremsmünster ernannt.Nachdem er 1791 von dieser Stelle freiwillig zurückgetretenwar, lebte er bis zu seinem Tod 8. Nov. 1833 in Wien, als Menschund Künstler hochgeachtet und mit allen musikalischenBerühmtheiten seiner Zeit in lebhaftem Verkehr stehend. Unterseinen zahlreichen durch kontrapunktische Gewandtheitausgezeichneten Kompositionen sind besonders sein Oratorium "DieBefreiung Jerusalems", ein großes Requiem und Klopstocks"Frühlingsfeier" hervorzuheben.

Stadt (Stadtgemeinde), größere Gemeinde mitselbständiger Organisation und Verwaltung derGemeindeangelegenheiten. Verschiedene Merkmale, welche früherfür den Unterschied zwischen S. und Dorf oder zwischen Stadt-und Landgemeinde von Bedeutung waren, sind es jetzt nicht mehr. Wiedie alten Stadtthore und Stadtmauern gefallen sind, welchefrüher einem Ort im Gegensatz zum platten Lande denstädtischen Charakter verliehen, so hat sich auch derUnterschied zwischen der rechtlichen und wirtschaftlichen Stellungdes städtischen Bürgers und des Landmanns mehr und mehrverwischt. Die Größe und Einwohnerzahl ist nicht mehrschlechthin entscheidend. Denn manche Industriedörfer sindheutzutage volkreicher als kleine Landstädtchen mit vorwiegendlandwirtschaftlicher Beschäftigung der Ackerbürger.Beseitigt sind ferner durch die moderne Gesetzgebung die einstigeAusschließlichkeit des zunftmäßigenGewerbebetriebs innerhalb des städtischen Weichbildes und dasRecht der Stadtgemeinde, innerhalb der städtischen Bannmeilejeden für den städtischen Verkehr nachteiligeGewerbebetrieb zu untersagen. Das Marktrecht, welches einst denstädtischen Gemeinden ausschließlich zukam, ist jetztauch größern Landgemeinden (Marktflecken) zugestanden.Auch die Beschäftigung auf dem Gebiet des Handels und derIndustrie findet sich nicht mehr ausschließlich und inmanchen Gegenden nicht einmal mehr vorwiegend in den Städten.Dagegen besteht noch in verschiedenen Staaten in Ansehung derGemeindeverfassung ein

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Stadt (Entwicklung des Städtewesens).

erheblicher Unterschied zwischen S. und Land (s. Gemeinde); dochauch dieser Unterschied ist bereits in manchen Gegenden mehr oderweniger beseitigt.

Die Entwickelung des Städtewesens.

Die ersten Städte wurden unter den mildern HimmelsstrichenAsiens, Afrikas, Griechenlands und Italiens gegründet. InGriechenland erhielten sie sich meist ihre volleSelbständigkeit und wurden Mittelpunkte besonderer Staaten.Bei den Babyloniern und Assyrern dienten sie vornehmlich als festePlätze, als Handelsniederlassungen bei den Phönikern. Beiden Etruskern und Latinern gab es schon früh städtischeNiederlassungen, zunächst mit einer gewissenSelbständigkeit ausgestattet und durch Bündnisse geeint,bis sich Rom zur Herrin Italiens, dann sogar der ganzenzivilisierten Welt machte und unter Beibehaltung städtischerVerfassungsformen die Herrschaft über ein ausgedehntes Reichzu führen wußte. Während bei den Kelten, ja auchbei den Slawen die Sitte des städtischen Zusammenwohnens vonAnbeginn wohlbekannt war, fehlte den alten Germanen jede Neigungzum Stadtleben. Die ersten Städte in Deutschland verdanktenvielmehr den Römern ihre Entstehung; sie erwuchsen meist ausden am Rhein und an der Donau angelegten Lagern und Kastellen. Soentstanden: Straßburg, Speier, Worms, Mainz, Bingen, Koblenz,Remagen, Bonn, Köln, Xanten, Utrecht, Leiden im Rheinthal; imGebiet der Donau: Augsburg, Regensburg, Passau, Salzburg undWien.

Später ging mit der Ausdehnung des Deutschen Reichsüber den slawischen Osten die Entwickelung desStädtewesens Hand in Hand. Um die zum Schutz der deutschenLandschaft angelegten Burgen entstanden städtischeNiederlassungen, wie sie zuerst Heinrich I., den man denStädtegründer genannt hat, begründete; ihm verdankenQuedlinburg, Merseburg und Goslar ihren Ursprung. Seinem Beispielfolgten die Markgrafen der östlichen Gebiete. Als Beamteerscheinen in größern Orten Burggrafen, in kleinernSchultheißen, in bischöflichen Vögte. In Orten, wosich eine altfreie Einwohnerschaft erhalten hatte, erlangte diesein der Folgezeit das Übergewicht in der städtischenVerwaltung. Hier übten Schöffen die Rechtspflege aus; esgab einen Rat mit einem Schultheißen oder, wie in Köln,mit zwei Bürgermeistern an der Spitze. Die Rechte des Reichsnahm daneben ein Burggraf wahr, wozu in Bischofstädten nochder Vogt trat. Die glänzendste Entwickelung aber haben dieköniglichen Pfalzstädte genommen, aus derenbevorrechteter Stellung allmählich die Reichsfreiheiterblühte (s. Reichsstädte). Dagegen blieben diefürstlichen Städte, welche meist von den Fürstenselbst gegründet waren, noch lange und viele für immerunter der Territorialhoheit derselben. Doch auch hier bestehtwenigstens ein Schein von Selbstverwaltung: sie wählen ihrenSchultheißen, ihre Schöffen selbst. Wo dann dieherzogliche Gewalt erlischt oder geteilt wird, wie in Schwaben undSachsen, haben sich die fürstlichen Städte zurReichsfreiheit emporgeschwungen. Je reicher und unabhängigerdie Städte wurden, um so mehr übten sie innerhalb desReichs politischen Einfluß aus. Da ihr Handel nur bei derSicherheit der Land- und Wasserstraßen gedeihen konnte, sowar die Aufrechterhaltung des Landfriedens ihre vornehmste Sorge.Deshalb schlossen sie Bündnisse, wie die rheinischen undschwäbischen Städte und besonders die Hansa, welche sogarden Norden Europas in den Bereich ihrer Machtsphäre zu ziehenvermocht hat. Als innerhalb der Städte einzelne Klassen durchHandel an Reichtum zunahmen, schlossen sie sich von den niedern abund suchten möglichst allein die Leitung der städtischenAngelegenheiten sich anzueignen. Dies hatte dann zur Folge,daß die Handwerker sich in Zünfte organisierten und umBeteiligung am Stadtregiment sich bemühten. Sie erhielten dennauch meist einige Stellen oder eine besondere Bank im Rat. An dendeutschen Reichstagen nehmen die Reichsstädte vereinzelt schonseit Wilhelm von Holland teil; Ludwig der Bayer hat sie mehrherangezogen, doch wird ihre Beteiligung an jenen Versammlungenerst seit 1474 regelmäßig. Seit dem 16. Jahrh. bildendie Reichsstädte neben den Kurfürsten und Fürsteneine besondere Körperschaft auf den Reichstagen. DieAuffindung des Seewegs nach Ostindien und die Entdeckung Amerikashabenden deutschen Handel schwer geschädigt und denMittelpunkt der merkantilen Interessen nach dem Westen, nachSpanien, Holland und England, verlegt. Verheerend schritt dann derDreißigjährige Krieg über die deutschen Gauen, undunter seiner blutigen Geißel erstarb die Blüte der einstso mächtigen Städte. Viele Reichsstädte verlorenihre Reichsunmittelbarkeit und wurden Landstädte derFürsten, und selbst der Hansabund ging seinem Untergangentgegen. Zur Zeit des Beginns der französischen Revolutiongab es nur noch 51 Reichsstädte, die aber noch vor und nachder Auflösung des Deutschen Reichs bis auf vier, 1866 bis aufdrei, Hamburg, Bremen und Lübeck, welche noch jetztselbständige Staaten sind, ihre Selbständigkeit verloren.Inzwischen waren namentlich die Residenzstädte derFürsten zur Blüte gekommen, die sich um so schneller undglänzender entwickelte, je entschiedener dieFürstengewalt der Mittelpunkt des politischen Lebens inDeutschland wurde. Im 19. Jahrh. aber hat nicht nur der Bau vonEisenbahnen, sondern auch der Aufschwung im Bergbau, in derFabrikthätigkeit und im Handel dem Städtewesen inDeutschland einen ungeahnten Aufschwung gegeben. Städte,welche im Mittelpunkt wichtiger Eisenbahnnetze, ergiebiger Bergbau-und Industriebezirke liegen, haben ihre Bevölkerung bisweilenverzehnfacht.

Einen bedeutenden Aufschwung hatte das Städtewesenfrühzeitig in Italien genommen. Die einzelnen Einwohnerklassentraten in Vereinigungen zusammen, so in Mailand die vornehmenLehnsleute, die Ritter und Vollfreien, und erwarben zu Ende des 11.Jahrh. für ihre Vorsteher (consules) die Verwaltung undGerichtsbarkeit innerhalb der S. Friedrich I. hatte den Ansprucherhoben, diese Consules in den lombardischen Städten zuernennen, mußte ihnen aber nach furchtlosem Kampf 1183 dasWahlrecht der Konsuln zugestehen. Diese wurden dann vom Königoder in den bischöflichen Städten vom Bischof mit denRegalien belehnt. Neben jenen Beamten finden sich häufig einRat von 100 Personen (credenza) und eine allgemeineBürgerversammlung (parlamentum). Seit dem 13. Jahrh. wurde esSitte, Mitgliedern auswärtiger adliger Familien unter demTitel "Podestà" die militärische und richterlicheGewalt auf ein Jahr anzuvertrauen, neben denen zwei Ratskollegien,ein Großer und ein Kleiner Rat, fungierten. Auch dieHandwerker bemühten sich, Anteil am Stadtregiment zu erhalten,bildeten Innungen und organisierten sich unter Consules oder einemeignen Podestà oder Capitano del popolo als besondereGemeinde neben den Adelsgeschlechtern. Diese Rivalität unterden einzelnen Bevölkerungsklassen erhielt einen neuen Impulsdurch die Parteiungen der Guelfen und Ghibellinen.

213

Stadt (Bevölkerungsverhältnisse).

In diesen blutigen Kämpfen ging meist die städtischeFreiheit

verloren. Erst in neuerer Zeit nahm das Städtewesen inItalien wiederum

einen erfreulichen Aufschwung.

In Südfrankreich findet anfangs eine

ähnliche Entwickelung wie in Italien statt. Auch hier gibtes Consules,

Ratskollegien und ein Parlamentum, aber daneben macht sich auchdie

erstarkende Staatsgewalt geltend; ihre Vertreter sind dieBaillis, denen

die höhere Gerichtsbarkeit vorbehalten bleibt. In denbischöflichen

Städten von Nordfrankreich traten die untern Stände zuVereinigungen

(Kommunen) zusammen, nahmen den Kampf gegen ihre Bischöfeauf und fanden

dabei bei den Königen lebhafte Unterstützung. Diesevertraten den

wohlwollenden Grundsatz, daß jede "Kommune" unter demKönig stehe,

obwohl sie die Städte ihres unmittelbaren Gebiets (desalten Francien)

nicht sonderlich begünstigten. Als Beamte finden sich indiesen Städten:

ein Maire, mehrere Schöffen (Jurati) und ein Bailli. Alsdie Macht des

Königtums wuchs, wurde die städtische Selbstverwaltungmehr und mehr

eingeschränkt.

In England sind die Städte teils auf keltischen,teils

auf römischen Ursprung zurückzuführen. Siebesaßen in der

angelsächsischen Zeit eine seltene Freiheit undSelbständigkeit, berieten

ihre Angelegenheiten in eigner Versammlung und standen unter

Burggrafen. Innerhalb der städtischen Bevölkerunghaben sich schon früh

Vereinigungen (Gilden) gebildet, welchen die Pflichtgegenseitiger

Rechtshilfe und der Blutrache oblag. Diese Gilden hattenStatuten und

eigne Vorsteher. Nach der Eroberung Englands durch die Normannenwurden

die Rechte der Städte vielfach verkürzt; sie gerietenin Abhängigkeit

von den Königen, Baronen oder Bischöfen. Seit dem 15.Jahrh. erhielten

sie von den Königen umfangreichere Privilegien, doch habensie auch

schon früher bei der eigenartigen Entwickelung derenglischen Verfassung

Einfluß auf die öffentlichen Angelegenheitengewonnen. Ihnen wurden

bestimmte Anteile der aufzubringenden Steuern nicht ohne ihreZustimmung

auferlegt und die Verteilung und Eintreibung im einzelnen ihnenselbst

überlassen. In der Magna Charta ist jedoch nur London undsieben andern

Städten oder Häfen ein Recht der Teilnahme amParlament

zugestanden. Später stieg die Zahl dieser Städtebisweilen auf 200, doch

hing die Berufung der städtischen Abgeordneten von derWillkür der

Könige ab. Schon um die Mitte des 13. Jahrh. kam fürdie Vertreter der

Städte die Bezeichnung "Gemeine" (communitas totius regniAngliae) auf;

sie bildeten neben der Versammlung der Barone und Prälatenein zweites

Kollegium und erhielten einen Sprecher. Ihr Hauptrecht wardie

Verwilligung von Abgaben. Manche Städte sendeten einen,andre zwei

Vertreter zur Versammlung der Gemeinen, wozu im 14. Jahrh. nochzwei

Vertreter aus jeder Grafschaft kamen. Seit dem 16. Jahrh.,besonders

aber seit den Zeiten Elisabeths, hob sich mit dem wachsendenWohlstand

der Einfluß der Städte. Die Mehrzahl der englischenStädte hat jedoch

erst seit dem vorigen Jahrhundert durch Handel, Schiffahrt undIndustrie

einen bewunderungswürdigen Aufschwung genommen; denn nochzu Ende des

17. Jahrh. gab es außer London, das damals ½ Mill.Einwohner zählte,

nur zwei Städte (Bristol und Norwich) mit 30,000 und vierandre mit mehr

als 10,000 Einw.

Bevölkerungsverhältnisse.

Naturgemäß bildet die S. vorzüglich denStandort für Handel und Gewerbe,

welche die Anhäufung vieler Betriebe auf kleinemFlächenraum nicht

allein gestatten, sondern in derselben eine vorzüglicheStütze für

Gedeihen und Weiterentwickelung finden, während die auf dieBebauung der

Bodenoberfläche angewiesene Landwirtschaft eine Zerstreuungder

Bevölkerung über das ganze Land hin bedingt. Land undS. versorgen

einander gegenseitig. Demnach können großeStädte, welche stets der

Zufuhr von Massengütern (Lebensmittel, Brennstoffe etc.)bedürfen, nur

bestehen, wenn die Verkehrsverhältnisse für siegenügend entwickelt

sind. Darum sind solche Städte früher vornehmlich anMeeresküsten und

schiffbaren Strömen entstanden. Zwar hatte auch dasAltertum seine

Großstädte, doch konnte die Zahl derselben nurverhältnismäßig klein

sein. Und im Mittelalter bis zum 19. Jahrh. trat in denmeisten

europäischen Ländern die städtischeBevölkerung gegenüber der ländlichen

erheblich zurück. Eine wesentliche Änderung wurde indieser Beziehung

durch die Fortschritte der modernen Technik und insbesonderedes

Verkehrswesens herbeigeführt. Die städtischeBevölkerung wächst in

größerm Verhältnis und zwar vorzugsweise durchZuzug als diejenige des

flachen Landes. Als Folge dieses Umstandes läßt sichin den Städten eine

stärkere Besetzung der Altersklassen von 15-35 Jahrenwahrnehmen. So

enthielten Prozente der Bevölkerung die Altersklassen unter15 Jahren im

Deutschen Reich 35, in einer Reihe größerer deutscherStädte nur 25; für

die Alter von 20-30 Jahren waren die Prozente 16 u. 26, fürdie Alter

von 30-40 Jahren: 13 u. 16, für die Alter über 40Jahren dagegen: 25

u. 20. Schon aus diesem Grund wird es nicht als auffallenderscheinen,

wenn in den Städten Heirats- u. Geburtszahlverhältnismäßig hoch

sind. Gleichzeitig ist aber auch und zwar vornehmlich, weil hierdie

gesamten Lebensverhältnisse andrer Art sind, die Anzahl derunehelichen

Geburten und der Sterbefälle in den meisten Städtenrelativ größer als

auf dem Land.

In Orten mit über 2000 Einw. leben Prozente vonder

gesamten Bevölkerung: in den Niederlanden 80, Belgien 60,Großbritannien

und Irland 45, Spanien und Italien 43, Portugal 41, Deutschland40

(Sachsen 52, Rheinland 60, Posen 22), Schweiz 39,Österreich-Ungarn 37,

Frankreich 30, Dänemark 22, Norwegen 15, Schweden 11,Rußland

11. Vorzüglich ist in den letzten Jahren dieBevölkerung der großen

Städte und zwar am meisten die der Städte mit mehr als100,000

Einw. gewachsen. In geringerm Grad hat die der kleinernStädte

zugenommen, während in Orten von weniger als 3000 Seelennicht selten

ein Rückgang zu beobachten war. Auf der ganzen Erde gibt eszur Zeit 206

Städte mit über 100,000 Einw. Hiervon entfallen je 2/5auf Europa und

Asien. Von der gesamten Bevölkerung lebten 1881 in solchenGroßstädten:

in England und Wales 33 Proz., Belgien u. Niederlande 12,5,Frankreich

7,7, Deutschland 7,1, Italien 6,7, Österreich-Ungarn 3,3,Rußland 1,7

Proz. Die Art des raschen Wachstums einigerGroßstädte wird durch

nachstehende Zahlen verdeutlicht. Es hatten in Tausenden

Städte Jahr Einw. Jahr Einw. Jahr Einw. JahrEinw.

London 1801 959 1851 2362 1875 3445 1886 4120

Paris 1817 714 1856 1171 1876 1989 1886 2345

Berlin 1801 173 1851 425 1875 967 1885 1315

Wien 1800 231 1857 476 1875 677 1880 726¹

New York - - 1850 516 1875 1029 1886 1439²

Leipzig 1801 32 1852 67 1875 127 1885 170

¹ Mit 35 angrenzenden Gemeinden 1888: 1,200,000.

² Mit Brooklyn, Jersey City und Hoboken 2¼Mill.

214

Stadt (Verfassungen).

Sind die Städte schon infolge davon in politischer undwirtschaftlicher Beziehung in vielen Ländern tonangebend,daß in denselben das gesamte geistige Leben und dermenschliche Verkehr viel reger ist als auf dem Land, so wird ihrEinfluß durch das Wachstum der Volkszahl noch weitergesteigert. Mit dieser Zunahme erwachsen den Städten eineReihe von Aufgaben, welche das Landleben entweder gar nicht oderdoch nur in einem viel bescheidenern Umfang kennt, und dievollständig zu bewältigen erst mit den Fortschritten dermodernen Technik möglich wurde. So werden in unsernMillionenstädten großartige Aufwendungen gemacht imInteresse der Sicherheit, der Sittlichkeit und Reinlichkeit,für Gesundheitspflege, Wasserbeschaffung, Kanalisierung,Abfuhr von Abfallstoffen, Beleuchtung, Unterrichtswesen,Verkehrswesen etc., welche die Budgets vieler kleinerer Staatenweit übertreffen. Übrigens gilt der Satz: "Wo viel Lichtist, da ist auch viel Schatten" ganz vorzüglich von denStädten, insbesondere von Großstädten, in welchensich immer viele verkümmerte und verzweifelte Existenzenansammeln, wo dicht neben Luxus und Üppigkeit Jammer und Elendihre Wohnstätte aufschlagen und bei Vorhandensein von nurteilweise bewohnten Palästen von einer für die unternKlassen empfindlichen und für die mittlern oft selbstdrückenden Wohnungsnot gesprochen werden kann.

Städteverfassungen.

In Bezug auf die Verfassung der Stadtgemeinden stehen sichgegenwärtig in Deutschland hauptsächlich zwei Systemegegenüber. Das eine hat sich namentlich im Anschluß andie preußische (Steinsche) Städteordnung vom 19. Nov.1808 entwickelt. Es charakterisiert sich dadurch, daß dieVerfassung der Städte und der Landgemeinden eine verschiedene,und daß den Städten eine weiter gehende Selbstverwaltungeingeräumt ist als den ländlichen Ortschaften. An derSpitze der Stadtgemeinde befindet sich nach diesem System in derRegel eine kollegialische Vollzugsbehörde, der als Vertretungder Bürgerschaft das städtische Kollegium zur Seitesteht. Die erstere Behörde ist der Magistrat oder Stadtrat(Gemeindevorstand, Ortsvorstand), bestehend aus einem erstenBürgermeister (Stadtschultheißen), welcher ingrößern Städten den Titel Oberbürgermeisterführt, dem zweiten Bürgermeister oder Beigeordneten undin größern Städten aus einer Anzahl von besoldetenund unbesoldeten Stadträten (Ratsherren, Schöffen,Ratsmännern, Magistratsräten). Dazu kommen nachBedürfnis noch besondere besoldete Magistratsmitgliederfür einzelne Zweige der städtischen Verwaltung(Kämmerer, Baurat, Schulrat, Syndikus etc.). Der Magistrat istdas Organ der Verwaltung; insbesondere steht ihm auch dieHandhabung der Ortspolizei zu, wofern diese nicht, wie in manchengrößern Städten, einer staatlichen Behörde(Polizeipräsident, Polizeidirektion) übertragen ist. DieVertretung der Bürgerschaft ist dieStadtverordnetenversammlung (Gemeinderat, städtischerAusschuß, Kollegium der Bürgervorsteher,Stadtältesten, Stadtverordneten, Stadtrat). DieseKörperschaft hat das Recht der Kontrolle; ihre Zustimmung istzur Aufstellung des städtischen Haushaltsetats, zu wichtigenAkten der Vermögensverwaltung und zum Erlaß vonOrtsstatuten erforderlich. Die Stadtverordneten versehen ihreFunktionen als Neben- und Ehrenamt; ihre Wahl erfolgt durch dieBürgerschaft. Dagegen werden die Magistratsmitglieder in derRegel durch die Stadtverordneten gewählt; sie sind teilsbesoldete Berufsbeamte, was namentlich von den Bürgermeisternin den größern Städten gilt, teils fungieren sie imEhrenamt. Die Wahlperiode der Stadtverordneten ist eine drei- bissechsjährige, für die Magistratsmitglieder beträgtsie 6, 9, 12 Jahre; auch ist bei den letztern Wahl auf Lebenszeitzulässig. Gegenüber diesen Gemeindewahlen hat dieRegierung ein Bestätigungsrecht, dessen Umfang jedochverschiedenartig begrenzt ist. Dies System des kollegialischenMagistrats und Gemeinderats ist namentlich im Norden und im OstenDeutschlands verbreitet. Es besteht zunächst in denöstlichen Provinzen Preußens und in den ProvinzenHannover, Westfalen und Schleswig-Holstein. Die Städteordnungvom 19. Nov. 1808 hatte nämlich die preußischenStädte von den beengenden Fesseln einer weitgehendenstaatlichen Bevormundung befreit. Ihr folgte die revidierteStädteordnung vom 17. März 1831, welche dieMöglichkeit erweiterte, durch Ortsstatuten Sonderbestimmungentreffen zu können. Nach einem mißglückten Versuch,die Gemeindeverfassung für die Städte, Landgemeinden undGutsbezirke für das ganze Staatsgebiet in einheitlicher Weisezu regeln, folgte die Städteordnung vom 30. Mai 1853 fürdie östlichen Provinzen, indem nur Neuvorpommern undRügen für die dortigen Städte ihre auf besondernBestimmungen beruhende Verfassung behielten. Die neuernVerwaltungsgesetze haben übrigens manche Abänderungendieser Städteordnung herbeigeführt. Dasselbe gilt von derStädteordnung für Westfalen vom 19. März 1856. Einebesondere Städteordnung ist 25. März 1867 fürFrankfurt a. M. erlassen. Der erste Bürgermeister wird dortaus den von der S. präsentierten Kandidaten vom Königernannt. Die Städteordnung für Schleswig-Holstein vom 14.April 1869 überweist die Verwaltung einem ausBürgermeister und "Ratsverwandten" bestehendenMagistratskollegium. Auch in der Provinz Hannover(Städteordnung vom 24. Juni 1858) ist der Magistrat, ebensowie das Kollegium der Bürgervorsteher, kollegialischorganisiert. Dasselbe System finden wir im rechtsrheinischen Bayern(Gesetze von 1817, 1818, 1869 und 1872), im Königreich Sachsen(revidierte Städteordnung vom 24. April 1873), inBraunschweig, Oldenburg, Sachsen-Koburg-Gotha, Lippe undSchaumburg-Lippe. In Sachsen-Meiningen und -Altenburg beruht dieStädteverfassung zumeist auf ortsstatutarischer Bestimmung,ebenso in Mecklenburg.

Neben dem bisher erörterten System findet sich aber inDeutschland ein zweites, welches seine Verbreitung wesentlich demEinfluß der französischen Gesetzgebung verdankt. Dieskennt für Stadt- und Landgemeinden nur Eine Verfassung (sogen.Bürgermeistereiverfassung). Die Verwaltungsgeschäfte derS. werden hiernach von einem Bürgermeister mit einem odermehreren Beigeordneten geführt, die Gemeindevertretung istSache eines gewählten Gemeinderats. Dies System ist in derRheinprovinz (Städteordnung vom 15. Mai 1856), in derbayrischen Pfalz, in Hessen, Sachsen-Weimar, Anhalt, Waldeck und inden reußischen und schwarzburgischen Fürstentümernvertreten. Ein drittes zwischen jenen beiden vermittelndes Systemgilt in Württemberg, Baden und in Hessen-Nassau. Auch hier istdie Verfassung für S. und Land eine einheitliche; sienähert sich aber mehr der städtischen als derländlichen Verfassung, indem sie neben dem Vorstand derGemeinde noch einen Gemeinderat für dieVerwaltungsgeschäfte und dann als Vertretung derBürgerschaft den Gemeindeausschuß hat. InElsaß-Lothringen besteht das französische System, dochist seit 1887 die Änderung getroffen, daß derBürgermeister und die Beigeordneten nicht

215

Stadtältester - Stadtlohn.

mehr notwendig dem Gemeinderat zu entnehmen sind, wie diesfrüher vorgeschrieben war. Auch kann jenen Gemeindebeamten,entgegen den in Frankreich geltenden Bestimmungen, kraftministerieller Anordnung eine Besoldung gewährt werden. EineEntschädigung für Repräsentationsaufwand war schonnach französischem Recht zulässig. In Frankreich selbsterscheinen die Städte wesentlich als Verwaltungsbezirke, undvon einer eigentlichen Selbständigkeit derselben ist nicht dieRede. Dagegen hat Schweden durch Gesetz vom 3. Mai 1862 seinenStädten die Selbstverwaltung verliehen. Auch in England istdie Städteverfassung von dem Regierungseinflußmöglichst unabhängig. Für Rußland ist eineStädteordnung 16. Juni 1870 erlassen.

[Litteratur.] Vgl. v. Maurer, Geschichte derStädteverfassung in Deutschland (Erlang. 1869-71, 4 Bde.);Heusler, Der Ursprung der deutschen Städteverfassung (Weim.1872); Hüllmann, Städtewesen des Mittelalters (Bonn1825-29, 4 Bde.); Arnold, Verfassungsgeschichte der deutschenFreistädte (Gotha 1854, 2 Bde.); Brülcke, DieEntwickelung der Reichsstandschaft der Städte (Hamb. 1881);"Chroniken der deutschen Städte" (hrsg. von der MünchenerHistorischen Kommission 1862-89, Bd. 1-21); Lambert, DieEntwickelung der deutschen Städteverfassungen im Mittelalter(Halle 1865, 2 Bde.); v. Below, Entstehung der deutschenStadtgemeinde (Düsseld. 1888); Jastrow, Die Volkszahldeutscher Städte zu Ende des Mittelalters etc. (Berl. 1886)und die Litteratur bei Art. Stadtrechte; ferner Steffenhagen,Preußische Städteordnung vom 30. Mai 1853 (6. Aufl.,Demmin 1885); Derselbe, Handbuch der städtischen Verfassungund Verwaltung in Preußen (Berl. 1887-1888, 2 Bde.);Örtel, Städteordnung vom 30. Mai 1853 (Liegn. 1883, 2Bde.); Kotze, Die preußischen Städteordnungen (2. Aufl.,Berl. 1883); Ebert, Der Stadtverordnete im Geltungsgebiet derStädteordnung vom 30. Mai 1853 (2. Aufl., das. 1883);"Städteordnung für die Rheinprovinz" (3. Aufl., Elberf.1882); v. Bosse, Die sächsische Städteordnung (4. Aufl.,Leipz. 1879); Schwanebach, Russische Städteordnung (St.Petersb. 1874); Gneist, Selfgovernment (3. Aufl., Berl. 1871);Kohl, Die geographische Lage der Hauptstädte Europas (Leipz.1874); Sitte, Der Städtebau (geschichtlich, Wien 1889).

Stadtältester, in Preußen Ehrentitel einesMagistratsmitglieds, welches sein Amt mindestens neun Jahre langmit Ehren bekleidet hat; wird vom Magistrat in Übereinstimmungmit der Stadtverordnetenversammlung verliehen. In andern Staatenheißen die Stadtverordneten zuweilen Stadtälteste.

Stadtamhof, Bezirksamtsstadt im bayr. RegierungsbezirkOberpfalz, an der Mündung des Regen in die Donau, Regensburggegenüber, hat eine kath. Kirche, 2 Waisenhäuser, einAmtsgericht, Maschinenfabrikation, Schiffahrt, Speditionshandel und(1885) 3449 meist kath. Einwohner.

Stadtausschuß, s. Stadtkreis.

Stadtbahn, entweder das durch die Straßen einerStadt gelegte, zum Befahren mit Pferdewagen oderStraßenlokomotiven bestimmte Schienennetz (s.Straßeneisenbahn) oder die zur Vermittelung des Lokalverkehrsund durchgehenden Eisenbahnverkehrs durch eine Stadt geführteLokomotiveisenbahn.

Stadtberge, Stadt, s. Marsberg.

Stadtbücher, s. Grundbücher.

Städtebünde, die Verbindungen der Städteim Mittelalter zur Verteidigung ihrer Freiheiten gegenfürstliche Herrschaftsansprüche und in den Zeiten desFaustrechts zum Schutz ihres Handels und Verkehrs: so bildete sichin Italien der Lombardische Städtebund gegen Kaiser FriedrichI., in Deutschland im 14. Jahrh. der Rheinische und derSchwäbische Städtebund, in Norddeutschland vor allem dieHansa (s. d.), in Preußen im 15. Jahrh. derWestpreußische Städtebund u. a.

Städteordnung, die für Städte im Gegensatzzu den Landgemeinden gegebene Gemeindeordnung (s. Stadt, S.214).

Städtereinigung, die Beseitigung aller Abfallstoffeaus den Städten zur Vermeidung schädlicher Zersetzungenderselben und einer Verunreinigung des Bodens und des Grundwassersmit fäulnisfähigen Substanzen, welche die Entwickelungkrankheiterregender Organismen begünstigen. In den meistenältern großen Städten ist der Boden durchSenkgruben, Schlachthäuser etc. arg verunreinigt, und anvielen Orten ist infolgedessen das Wasser aus den städtischenBrunnen nur noch für gewisse technische Zwecke brauchbar. Diemoderne S. kann daher nur durch rationelle Abfuhr der Exkremente(s. d.), durch Kanalisation (s. d.), Zentralisation desSchlächtereibetriebs in öffentlichen Schlachthäusernetc. weiterer Verunreinigung vorbeugen und die Selbstreinigung desBodens vorbereiten, für die Versorgung mit gutem Trinkwassermüssen Wasserleitungen angelegt werden. Wo S. konsequentdurchgeführt ist, hat sich der Gesundheitszustand gehoben undist die Sterblichkeit gesunken. Vgl. Varrentrapp, Entwässerungder Städte (Berl. 1868); "Reinigung und EntwässerungBerlins" (das. 1870-79, 13 Hefte); Pettenkofer, Kanalisation undAbfuhr (Münch. 1876); Sommaruga, DieStädtereinigungssysteme in ihrer land- undvolkswirtschaftlichen Bedeutung (Halle 1874); kleinere Schriftenvon v. Langsdorff, Lorenz, Martini, Riedel, Stammer u. a.

Stadthagen, Stadt im Fürstentum Schaumburg-Lippe,Knotenpunkt der Linien Braunschweig-Hamm und S.-Osterholz derPreußischen Staatsbahn, hat eine evang. Kirche, einSchloß, ein Landratsamt, ein Amtsgericht, Steinkohlengruben,Glasfabrikation, Gerberei, Holzschneiderei, Steinbrüche,Ziegeleien und (1885) 4394 meist evang. Einwohner.

Stadtilm, Stadt im FürstentumSchwarzburg-Rudolstadt, Landratsamt Rudolstadt, an der Ilm, 348 mü. M., hat eine evang. Kirche, ein Amtsgericht, eineHutfabrik, Gerberei, Orgelbau, Bierbrauerei und (1885) 3107 evang.Einwohner. 1599 ward hier der Hauptrezeß, betreffend dieTeilung der schwarzburgischen Länder, geschlossen.

Stadtkreis, in Preußen der besondere Kreis- undKommunalverband, welchen die sogen. großen Städte, d. h.diejenigen, welche mit Ausschluß der aktivenMilitärpersonen mindestens 25,000 Einwohner haben, bildenkönnen. Kleinere Städte können nur ausnahmsweise aufGrund königlicher Verordnung aus dem Kreisverband ausscheiden.Die Geschäfte des Kreistags und des Kreisausschusses, soweitsich die Thätigkeit des letztern auf die Verwaltung derKreiskommunalsachen bezieht, werden von den städtischenBehörden wahrgenommen. Im übrigen besteht an Stelle desKreisausschusses ein Stadtausschuß unter dem Vorsitz desBürgermeisters oder seines Stellvertreters.

Stadtlohn, Stadt im preuß. RegierungsbezirkMünster, Kreis Ahaus, an der Berkel, hat eine kath. Kirche,bedeutende Nesselweberei, Lein- und Halbleinweberei, Bleicherei,Thonwarenfabrikation und (1885) 2189 Einw. Hier 6. Aug. 1623 Siegder Kai-

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Stadtmusikus - Stael-Holstein.

serlichen unter Tilly über Herzog Christian vonBraunschweig und im August 1638 der Kaiserlichen (Hatzfeld)über die Schweden (King).

Stadtmusikus (Stadtpfeifer), s.Musikantenzünfte.

Stadtoldendorf, Stadt im braunschweig. Kreis Holzminden,an der Linie Holzminden-Jerxheim der Preußischen Staatsbahn,195 m ü. M., hat eine evang. Kirche, ein Amtsgericht, eineOberförsterei, Sandsteinbrüche und (1885) 2571 Einw.Dabei das ehemalige Cistercienserkloster Amelunxborn mit einerberühmten Klosterschule von 1569 bis 1754.

Stadtprozelten, Stadt im bayr. RegierungsbezirkUnterfranken, Bezirksamt Marktheidenfeld, am Main, hat eine kath.Kirche, eine Burgruine, ein Amtsgericht, ein Forstamt, ein reichesHospital, Obst- und Weinbau und (1885) 844 Einw. Dabei das DorfDorfprozelten mit 1017 Einw.

Stadtrat, städtische Kollegialbehörde, welcherdie Verwaltung der städtischen Angelegenheiten obliegt. Dasvollziehende Organ ihrer Beschlüsse ist der Magistrat(Bürgermeisteramt). Mitunter wird aber auch der letztere S.genannt und für die Mitglieder desselben die Bezeichnung"Stadträte" (Magistratsräte) gebraucht. Vgl. Stadt, S.215.

Stadtrecht (Weichbildrecht), ursprünglich daskaiserliche oder landesherrliche Privilegium, wodurch eine Gemeindezur Stadt erhoben ward; dann Inbegriff der in einer Stadtgültigen Rechtssätze. Solche Stadtrechte entstanden inDeutschland seit dem 10. Jahrh., und es wurden dadurch nicht nurPrivatrechtsverhältnisse, sondern auch Gegenstände desöffentlichen Rechts normiert. Oft ward das Recht einer Stadtmehr oder minder vollständig von andern rezipiert; so dieStadtrechte von Münster, Dortmund, Soest und andernwestfälischen Städten, ganz besonders aber dieStadtrechte von Magdeburg, Lübeck und Köln. Daslübische Recht gewann die Küstenstriche von Schleswig abbis zu den östlichsten deutschen Ansiedelungen, dasMagdeburger die Binnenlande bis nach Böhmen, Schlesien undPolen hinein und verbreitete sich als Kulmer Recht über ganzPreußen. Infolge der Umgestaltung derTerritorialverhältnisse sowie der Rechtsbegriffe machten sichUmänderungen der Stadtrechte notwendig, und so entstanden imLauf des 15., 16. und 17. Jahrh. an vielen Orten verbesserteStadtrechte, sogen. "Reformationen", wobei aber unter Einwirkungder Rechtsgelehrten mehr und mehr römisches Recht eingemischtward bis zuletzt die alten Stadtrechte zugleich mit der eignenGerichtsbarkeit und der Autonomie der Städte bis aufdürftige Reste der Autorität der Landesherren weichenmußten. Nur für das Familien- und Erbrecht haben sicheinzelne Satzungen der alten Stadtrechte (Statuten) bis auf dieGegenwart erhalten.

Vgl. Gaupp, Deutsche Stadtrechte des Mittelalters (Bresl.1851-52, 2 Bde.); Gengler, Deutsche Stadtrechte des Mittelalters(neue Ausg., Nürnb. 1866); Derselbe, Codex juris municipalisGermaniae (Erlang. 1863-67, Bd. 1); Derselbe, DeutscheStadtrechtsaltertümer (das. 1882).

Stadtreisender, s. Platzreisender.

Stadtsteinach, Bezirksamtsstadt im bayr. RegierungsbezirkOberfranken, an der Steinach, hat eine kath. Kirche, einAmtsgericht, ein Forstamt, Eisensteingruben und (1885) 1490 meistkath. Einwohner.

Stadtsulza, s. Sulza.

Stadtverordnete, s. Stadt, S. 214.

Staël-Holstein (spr. stal), Anne Louise Germaine,Baronin von, berühmte franz. Schriftstellerin, geb. 22. April1766 zu Paris, Tochter des Ministers Necker, entwickelte sichfrühzeitig unter dem Einfluß einer strengprotestantischen Mutter und der philosophischen Anschauungen, denenman im Haus ihres Vaters huldigte, verfaßte mit 15 Jahrenjuristische und politische Abhandlungen und verheiratete sich 1786auf den Wunsch ihrer Mutter mit dem schwedischen Gesandten, Baronvon S. Doch war diese Ehe nicht glücklich; 1796 trennte siesich von ihrem geistig tief unter ihr stehenden Gemahl,näherte sich ihm aber 1798 wieder, als er krank wurde, um ihnzu pflegen, und blieb bei ihm bis zu seinem Tod (1802). Seit demersten Jahr ihrer Ehe entwickelte sie eine eifrige litterarischeThätigkeit. 1786 war ihr Schauspiel "Sophie, ou les sentimentssecrets" erschienen, dem als letzter Versuch dieser Art 1790 dieTragödie "Jane Gray" folgte; sie sah ein, daß siefür Bühnendichtung nicht geschaffen war. Besser gelangenihr die überschwenglich lobenden "Lettres sur lesécrits et le caractère de J. J. Rousseau" (1788);doch fehlt die Kritik fast ganz. Das immer reichlicherfließende Blut ließ ihre anfängliche Begeisterungfür die Revolution bald schwinden; ein Plan zur Flucht, densie der königlichen Familie unterbreitete, wurde nichtangenommen; am 2. Sept. 1792 mußte sie selbst flüchten.Auch ihre beredte Schrift zu gunsten der Königin:"Réflexions sur le procès de la reine" (1793) hattekeine Wirkung. Dagegen erregte sie Aufsehen durch ihre Schriften:"Réflexions sur la paix, adressées à M. Pittet aux Français" (Genf 1795) und besonders durch "Del'influence des passions sur le bonheur des individus et desnations" (Laus. 1796), ein Werk voll tiefer und lichtvollerGedanken. Nach ihrer Rückkehr verfeindete sie aber ihrenergisches Eintreten für konstitutionelle Ideen derart mitBonaparte, daß sie auf 40 Stunden im Umkreis von Parisverbannt wurde. Sie ging nach Coppet, lebte aber meist auf Reisen.Ihr schriftstellerischer Ruf hatte sich inzwischen in weiternKreisen verbreitet durch ihre Schrift "De la littératureconsidérée dans ses rapports avec les institutionssociales" (1799, 2 Bde.) und durch den Roman "Delphine" (1802, 6Bde., u. öfter; hrsg. von Sainte-Beuve, 1868; deutsch, Leipz.1847, 3 Bde.), eine Schilderung ihrer eignen Jugend in Briefform.1803 machte sie ihre erste Reise nach Deutschland, wo sielängere Zeit in Weimar und Berlin verweilte; 1805 bereiste sieItalien. Seit dieser Zeit war A. W. v. Schlegel, den sie in Berlinkennen gelernt hatte, ihr Begleiter, und sein Umgang ist nicht ohneEinfluß auf ihre Ansichten, besonders über Kunst unddeutsche Litteratur, geblieben. Die Frucht ihrer Reise nach Italienwar der Roman "Corinne, ou l'Italie" (1807, 2 Bde., u. öfter;deutsch von Fr. Schlegel, Berl. 1807; von Bock, Hildburgh. 1868),eine begeisterte Schilderung Italiens und das glänzendsteihrer Werke. 1810 ging sie nach Wien, um Stoff zu ihrem schon langegeplanten Werk "De l'Allemagne" zu sammeln, einem GemäldeDeutschlands in Beziehung auf Sitten, Litteratur und Philosophie;doch wurde die ganze Auflage auf Befehl des damaligenPolizeiministers Savary sogleich vernichtet und gegen dieVerfasserin von Napoleon I. ein neues Verbannungsdekret erlassen,das sich auf ganz Frankreich erstreckte. Erst zu Ende 1813 erschiendas Werk (3 Bde.) zu London, darauf 1814 auch zu Paris. So reich esan geistvollen Gedanken ist und so achtungswert durch dieWärme, womit es den Franzosen deutsche Art und Kunstempfiehlt, so enthält es doch auch viele schiefe Ansichten underhebliche Unrichtigkeiten. Jedenfalls

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Stäfa - Staffordshire.

aber hat es den größten und dauerndsten Eindruckgemacht und muß darum als ihr Hauptwerk gelten. S. lebte inder nächsten Zeit wieder zu Coppet, wo sie sich insgeheim miteinem jungen Husarenoffizier, de Rocca, verheiratete. Von derfranzösischen Polizei fort und fort verfolgt, begab sie sichim Frühjahr 1812 nach Moskau und Petersburg und von da nachStockholm, wo ihr jüngster Sohn, Albert, im Duell blieb. ImAnfang des folgenden Jahrs ging sie nach England; erst nachNapoleons Sturz kehrte sie nach langer Verbannung, deren Ereignissesie in "Dix années d'exil" (1821; deutsch, Leipz. 1822)teilweise erzählt, nach Paris zurück. Nach BonapartesRückkehr von Elba zog sie sich nach Coppet zurück. Nachder zweiten Restauration erhielt sie Vergütung für diealte Schuld von 2 Mill. Frank, die ihr Vater bei seinem Abschied imöffentlichen Schatze zurückgelassen hatte, und lebtefortan in einem glücklichen häuslichen Kreis und im engenVerkehr mit litterarischen und politischen Freunden in Paris, biszu ihrer letzten Krankheit mit Ausarbeitung der trefflichen"Considérations sur les principaux événementsde la Révolution française" (1818, 3 Bde.; neue Ausg.1861; deutsch von A. W. v. Schlegel, Heidelb. 1818, 6 Bde.)beschäftigt. Sie starb 14. Juli 1817. Zu erwähnen sindnoch die Werke: "Vie privée de M. Necker", an der Spitze derAusgabe der Manuskripte ihres Vaters (1804); "Réflexions surle suicide" (1813); "Zulma et trois nouvelles" (1813); "Essaisdramatiques" (1821), eine Sammlung von 7 Stücken in Prosa,darunter das Drama "Sapho". Eine Ausgabe ihrer Werke (Par. 1820-21,17 Bde.) veranstaltete ihr ältester Sohn, Auguste Louis, Baronvon S. (geb. 1790), der sich selbst als Schriftsteller bekanntmachte und 1827 starb (seine "OEuvres divers" gab seine Schwester,die Herzogin von Broglie, heraus, 1829, 3 Bde.). Vgl. Baudrillart,Éloge de Mad. de S. (1850); Norris, Life and times of Mad.de S. (Lond. 1853); Gérando, Lettres inédites etSouvenirs biographiques de Mad. Récamier et de Mad. S. (Par.1868); Stevens, Mad. de S. (Lond. 1880, 2 Bde.); LadyBlennerhassett, Frau von S. und ihre Freunde (Berl. 1887-89, 3Bde.); ferner "Correspondance diplomatique du baron de S.,documents inédits" (hrsg. von Léouzon le Duc, Par.1881).

Stäfa, Gemeinde im schweizer. Kanton Zürich, amrechten Ufer des Zürichsees, mit Weinbau, Baumwoll- undSeidenweberei und (1880) 3874 Einw., durch Dampfschiffahrt mitsämtlichen Uferorten verbunden.

Stafette (franz. Estafette), ein außerordentlicherreitender Bote, welcher Briefe so schnell wie möglichbefördert, namentlich den Verkehr der Regierungen mit denobern Behörden und den Gesandtschaften vielfachunterhält. Seit der Entwickelung des Eisenbahn- undTelegraphenverkehrs ist die Sache und mit ihr das Wort sehraußer Gebrauch gekommen. Für Deutschland sindBestimmungen über die Estafettenbeförderung in AbschnittII, § 45 der Postordnung gegeben.

Staffa, eine der innern Hebriden, westlich von Mull, nur360 Hektar groß, aber berühmt wegen ihrerBasaltsäulen und Höhlen, unter denen dieFingalshöhle (s. d.) die berühmteste ist.

Staffa*ge (spr. -ahsche), Bezeichnung für einzelneFiguren oder ganze Gruppen von Menschen und Tieren, welche in einerLandschaft oder einem Architekturbild zur Belebung der Darstellungangebracht werden, jedoch ohne die Hauptsache derselben zusein.

Staffelei, hölzernes Gestell, dessen sich der Malerbeim Anfertigen seiner Bilder zum Aufstellen derselben bedient. Eshat an der Rückseite eine bewegliche Stütze zum Behufeiner willkürlich schrägen Stellung und an derVorderseite ein bewegliches Querholz zum Höher- undNiedrigerstellen des Bildes, was durch eiserne oder hölzerneBolzen erfolgt, welche in parallel angebrachte Öffnungengesteckt werden, und auf denen das Querholz aufliegt. DaherStaffeleigemälde, kleinere Gemälde, welche auf der S.verfertigt werden, Gegensatz von Wandgemälden.

Staffelgiebel, die an den Seitenkanten durchstufenförmige Einschnitte gegliederten Hausgiebel, welche inder Profanbaukunst des Mittelalters häufig angewendet wurden,auch Katzentreppen (s. d.) und Treppengiebel genannt.

Staffelit, Mineral aus der Ordnung der Phosphate, nachdem Fundort Staffel in Nassau benannt, vielleicht nur eineVarietät des Phosphorits, bildet hellgrüne, traubige undnierenförmige, mikrokristallinische Aggregate und enthältbis zu 9 Proz. kohlensauren Kalk, etwas Wasser und Spuren vonJod.

Staffeln, s. v. w. Stufen, beim Militär die Teilevon Truppenkörpern, die sich in gewissen Abständenfolgen, z. B. bei der Artillerie die Wagenstaffeln der Batterienund Kolonnen. Über S. im taktischen Sinn s. Echelon.

Staffelngebete, s. Stufengebete.

Staffelrechnnng, s. Kontokorrent, S. 47.

Staffelrecht, s. Stapelgerechtigkeit.

Staffelschnitt, in der Heraldik die stufenförmigeTeilung eines Wappenschildes.

Staffelstein, Bezirksamtsstadt im bayr. RegierungsbezirkOberfranken, an der Lauter und der Linie München-Bamberg-Hofder Bayrischen Staatsbahn, 295 m ü. M., hat eine kath. Kirche,ein Amtsgericht, Obst-, Wein- und Spargelbau, Bierbrauerei, 2Kunstmühlen, Landesprodukten-, Gerberrinden-, Weidenreifen-und Holzhandel und (1885) 1837 Einw. Dabei der pittoreskeStaffelberg (mit Kapelle), reich an Versteinerungen. S. war derGeburtsort des Rechenmeisters Adam Riese.

Staffieren (v. altfranz. estoffer), mit dem nötigenStoff oder Zubehör versehen, verzieren, mit Beiwerkausschmücken. Vgl. Staffa*ge.

Stäffis am See, Ort, s. Estavayer le Lac.

Stafford, altertümliche Hauptstadt von Staffordshire(England), am Sow, der sich dicht bei der Stadt mit dem Trentvereinigt, hat 2 alte Kirchen, eine Grafschaftshalle (Shire Hall),ein Rathaus mit großer Markthalle, ein neues Schloß,Irrenhaus, Zuchthaus, große Stiefelfabriken, Gerberei,Brauereien und (1881) 19,977 Einw.

Staffordshire (spr. stäffordschir), engl.Grafschaft, von den Grafschaften Derby, Warwick, Worcester, Salopund Chester begrenzt, umfaßt 3022 qkm (54,9 QM.) mit (1881)981,013 Einw. Der Norden des Landes besteht aus kahlem,unfruchtbarem, bis zu 552 m ansteigendem Hügelland mitgroßen Strecken Moorland; im O. liegt Needwood Forest, einausgedehnter Strich Heide; das Thal des Trent aber ist ungemeinfruchtbar, und auch der wellenförmige Süden istvorzüglich angebaut. Von der Oberfläche sind 39,7 Proz.unter dem Pflug, 56,8 Proz. bestehen aus Wiesen, und an Viehzählte man 1887: 143,159 Rinder, 244,394 Schafe und 116,956Schweine. Die wichtigsten Produkte des Bergbaues sind: Steinkohlen(1887: 12,853,000 Ton.), Eisen (938,018 T. Erz), Blei und Kupfer.Die Industrie ist ungemein entwickelt und liefert namentlichEisenwaren, Töpferwaren (in dem

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Stage - Stahl.

als "Potteries" bekannten Bezirk), Glas, Seidenwaren,Baumwollwaren und Stiefel. Hauptstadt ist Stafford, dievolkreichste Stadt ist Wolverhampton.

Stage, Taue aus Hanf oder Draht, welche von den Spitzender Masten und Stengen schräg nach vorn und unten verlaufen,um den genannten Rundhölzern einen bessern Halt zu geben; siegestatten die Anbringung von Stagsegeln.

Stageiros (Stagira), von Andriern im 7. Jahrh. v. Chr.gegründete Stadt im alten Makedonien, auf der HalbinselChalkidike, berühmt als Geburtsort des Aristoteles (daher derStagirite), von Philipp II. 348 v. Chr. zerstört, aberspäter wieder aufgebaut. Heute Ruinen Lymbiada.

Stägemann, Friedrich August von, preuß.Staatsmann und Dichter, geb. 7. Nov. 1763 zu Vierraden in derUkermark, studierte zu Halle die Rechte und ward 1806 GeheimerOberfinanzrat, 1807 vortragender Rat bei dem nachmaligenStaatskanzler v. Hardenberg und nach dem Tilsiter Frieden Mitgliedder zur Verwaltung des Landes niedergesetzten Immediatkommission,unter dem Ministerium Stein vortragender Rat, 1809 Staatsrat, inwelcher Stellung er Hardenberg nach Paris, London und zum WienerKongreß begleitete. Er starb 17. Dez. 1840 in Berlin. Seinevaterländischen Gedichte, gesammelt als "HistorischeErinnerungen in lyrischen Gedichten" (Berl. 1828), zum Teil inkunstvoller Odenform, spiegeln den idealistisch-patriotischenGeist, welcher zur Zeit der Befreiungskriege die gebildeten Kreisedurchdrang. Dem Andenken seiner Gattin (gest. 1835) gewidmet istdie als Manuskript gedruckte Sonettensammlung "Erinnerungen anElisabeth" (Berl. 1835); von ihr selbst erschienen: "Erinnerungenfür edle Frauen" (Leipz. 1846, 3. Aufl. 1873). Vgl. auch"Briefe von S., Metternich, Heine und Bettina v. Arnim" (ausVarnhagens Nachlaß, Leipz. 1865).

Stagione (ital., spr. stadschohne), Jahreszeit,Saison.

Stagnation (lat.), Stillstand, Stockung.

Stagnelius, Erik Johan, schwed. Dichter, geb. 14. Okt.1793 zu Gärdslösa auf Örland, studierte in Lund undUpsala und erhielt dann eine Anstellung in der königlichenKanzlei. Seine Muße widmete er philosophischen Studien,namentlich suchte er Schellings Identitätslehre mitgnostischer Mystik zu verschmelzen. Finster und verschlossen, dabeimaßlos ausschweifend, verfiel er in periodischen Wahnsinn undstarb 23. April 1823. Seinen litterarischen Ruf begründete1817 das epische Gedicht "Wladimir ten store", das von derschwedischen Akademie gekrönt wurde. Seine Hauptwerke abersind der halb philosophische, halb religiöse Gedichtcyklus"Liljor i Saron" (1820), das antike Trauerspiel "Bacchanterna", dienordischen Tragödien "Visbur" und "Sigurd Ring", das Drama"Riddartornet", die Schauspiele "Gladjetlickan i Rom" und"Karlekena fter doden" und die religiöse Tragödie"Martyrerne", worin die Idee vom Leben als einer Strafe und einemLeiden in ergreifender Weise durchgeführt ist. Auch vieleseiner kleinern, im Volkston gehaltenen Lieder sind vortrefflich.Seine "Gesammelten Schriften" gab zuletzt C. Eichhorn (Stockh.1866-68, 2 Bde.) heraus; eine deutsche ÜbersetzungKannegießer (Leipz. 1853, 6 Bde.).

Stagnieren (lat.), stillstehen, stocken.

Stagnone (spr. stanjohne), flacher Meerbusen an derWestseite Siziliens, zwischen Marsala und Trapani, welcher durchdie niedrigen, fast ganz mit Salinen bedeckten Stagnoneinseln gegendas Meer geschlossen ist. Dieser Inseln sind drei: Borrone,Isolalonga und in der Mitte die kleine kreisrunde Insel SanPantaleone, berühmt als Sitz der karthagischen Stadt Motye,von der noch einzelne Reste vorhanden sind.

Stahl, s. Eisen, S. 418 ff.

Stahl, 1) Georg Ernst, Chemiker und Mediziner, geb. 21.Okt. 1660 zu Ansbach, studierte in Jena wurde 1687 Hofarzt desHerzogs von Weimar, 1694 Professor der Medizin in Halle, 1716Leibarzt des Königs von Preußen; starb 14. Mai 1734 inBerlin. S. stellte eine Theorie der Chemie auf, welche bis aufLavoisier allgemeine Geltung behielt und auf der Annahme desPhlogistons beruhte. Auch entdeckte er viele Eigenschaften derAlkalien, Metalloxyde und Säuren. Seine Hauptwerke sind:"Experimenta et observationes chemicae" (Berl. 1731) und "Theoriamedica vera" (Halle 1707; Leipz. 1831-33, 3 Bde.; deutsch vonIdeler, Berl. 1831-32, 3 Bde.), in welcher er Hoffmannbekämpfte und die Lehre vom psychischen Einfluß(Animismus, s. d.) aufstellte.

2) Friedrich Julius, hervorragender Schriftsteller im Fach desStaatsrechts und Kammerredner, geb. 16. Jan. 1802 zu Münchenvon jüdischen Eltern, trat 1819 in Erlangen zurprotestantischen Kirche über, studierte in Würzburg,Heidelberg, Erlangen Rechtswissenschaft und habilitierte sich imHerbst 1827 als Privatdozent in München. In demselben Jahrerschien seine erste größere Schrift: "Über dasältere römische Klagenrecht" (Münch. 1827). VonSchelling angeregt, schrieb er: "Die Philosophie des Rechts nachgeschichtlicher Ansicht" (Heidelb. 1830-1837, 2 Bde. in 3 Abtlgn.;5. Aufl. 1878), sein wissenschaftliches Hauptwerk, welches trotzgroßer Mängel epochemachend für die Geschichte derStaatswissenschaft ist. S. trat darin der naturrechtlichen Lehreschroff entgegen und begründete seine Rechts- und Staatslehre"auf der Grundlage christlicher Weltanschauung", indem er "Umkehrder Wissenschaft" zum Glauben an die geoffenbarte Wahrheit derchristlichen Religion forderte. 1832 ward S. zumaußerordentlichen Professor in Erlangen, im November zumordentlichen Professor für Rechtsphilosophie, Pandekten undbayrisches Landrecht in Würzburg ernannt. Später kehrteer nach Erlangen zurück und lehrte hier Kirchenrecht,Staatsrecht und Rechtsphilosophie. 1840 als Professor derRechtsphilosophie, des Staatsrechts und Kirchenrechts nach Berlinberufen, 1849 von König Friedrich Wilhelm IV., der ihm seineGunst zuwandte, zum lebenslänglichen Mitglied der damaligenErsten Kammer, des spätern Herrenhauses ernannt, wurde S. derHauptwortführer der Reaktion und der ritterschaftlichenPartei, der er bis zu seinem Ende treu geblieben ist. Auch aufkirchlichem Gebiet benutzte er seine Stellung als Mitglied desevangelischen Oberkirchenrats (I852-58) zur Lockerung der Union,zur Stärkung des lutherischen Konfessionalismus und zurErneuerung der Herrschaft der orthodoxen Geistlichkeit überdie Laienwelt. Der politische Umschwung infolge der Erhebung desPrinz-Regenten und der Sturz des Ministeriums Manteuffel brachenauch Stahls Herrschaft im Oberkirchenrat und veranlaßten 1858seinen Austritt aus dieser Behörde. Seitdem setzte er denpolitischen Kampf gegen das "Ministerium der liberalen Ära"mit zäher Energie im Herrenhaus fort, drohend, "das Haus werdein seinem Widerstand gegen die neue liberale Richtung der Regierungvielleicht brechen, aber nicht biegen", erlebte jedoch nicht mehrden Umschlag der Regierung, welche nach schwachen liberalenVersuchen ihre Stütze wieder in dem Herrenhaus suchte. Erstarb 10. August 1861 in Brückenau. Von seinen Schriften sindnoch hervorzuheben: "Die Kirchenver-

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Stahlblau - Stahr.

fassung nach Lehre und Recht der Protestanten" (Erlang. 1840, 2.Aufl. 1862); "Über Kirchenzucht" (Berl. 1845, 2. Aufl. 1858);"Das monarchische Prinzip" (Heidelb. 1845); "Der christliche Staat"(Berl. 1847, 2. Aufl. 1858); "Die Revolution und diekonstitutionelle Monarchie" (das. 1848, 2. Aufl. 1849); "Was istRevolution?" (1.-3. Aufl., das. 1852); "Der Protestantismus alspolitisches Prinzip" (das. 1853, 3. Aufl. 1854); "Die katholischenWiderlegungen" (das. 1854); "Wider Bunsen" (gegen dessen "Zeichender Zeit", 1.-3. Aufl., das. 1856); "Die lutherische Kirche und dieUnion" (das. 1859, 2. Aufl. 1860). Nach seinem Tod erschienen:"Siebenzehn parlamentarische Reden" (Berl. 1862) und "Diegegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche" (2. Aufl., das.1868). Vgl. "Pernice, Savigny, S." (Berl. 1862).

3) Karl, Pseudonym, s. Gödeke.

4) Pierre Jules, Pseudonym, s. Hetzel.

5) Arthur, Pseudonym, s. Voigtel.

Stahlblau, dunkelblaue Farbe, ähnlich demangelaufenen Stahl, besonders wenn der so gefärbte KörperMetallglanz hat.

Stahlbrillanten (Stahldiamanten), Stahlstückchen mitvielen glänzenden Facetten, bisweilen als Köpfe vonStahlstiften mit Schraubengewinde.

Stahlbronze, s. Bronze, S. 460.

Stahleck, Burg bei Bacharach (s. d.).

Stahlfedern, Schreibfedern aus Stahl, werden dargestellt,indem man aus entsprechend dünnem Stahlblech Plättchenvon der Gestalt der Federn mittels eines Durchstoßesausschneidet, dann diese Plättchen unter einem andernDurchstoß mit dem Loch versieht, in welchem der Spalt endigt,und zugleich mit den beiden seitlichen Spalten, welche dieBiegsamkeit der Feder erhöhen. Hierauf glüht man diePlättchen in eisernen Töpfen aus, versieht sie untereinem Fallwerk mit der Schrift und etwanigen Verzierungen und gibtihnen auf einer Presse durch Hineintreiben in eine entsprechendkonkave Stanze die rinnenförmige Gestalt. Die durch dasAusglühen sehr weich gewordenen Federn werden nun zum Zweckdes Härtens in flachen, bedeckten Eisengefäßenrotglühend gemacht und schnell in Öl oder Thrangeschüttet. Behufs ihrer Reinigung von dem Öl behandeltman sie dann mit Sägespänen in einer um ihre Achserotierenden Trommel, scheuert sie durch eine ähnliche Prozedurmit zerstoßenen Schmelztiegelscherben und schleift sie nuneinzeln auf der Außenseite ihres Schnabels durch fast nuraugenblickliches Anhalten an eine schnell umlaufendeSchmirgelscheibe. Die blau oder gelb angelaufenen S. erhalten dieseFarbe durch Erhitzen in einer über Kohlenfeuer rotierendenTrommel aus Eisenblech. Diese Operation ist für alle S.erforderlich, da sie die Härte bestimmt, und es müssendaher diejenigen, welche nicht farbig in den Handel gebracht werdensollen, schließlich nochmals gescheuert werden. Zuletzt wirdder Spalt mittels einer besonders gebauten kleinen Parallelschereerzeugt. Manche S. werden schließlich noch mitSchellackfirnis überzogen. Über die Erfindung der S. istnichts Sicheres begannt. Die ersten S. soll auf Anregung desChemikers Priestley der Metallwarenfabrikant Harrison in Birminghamhergestellt haben, aber erst sein Gehilfe Josiah Mason (gest. 1881)beutete die Erfindung aus und arbeitete Jahrzehnte für Perry,welcher als Begründer der Birminghamer Stahlfederindustriegilt. Gegenwärtig gibt es 18 Stahlfedernfabriken: 13 inEngland, 2 in Nordamerika, 2 in Deutschland (Berlin undPlagwitz-Leipzig), 1 in Frankreich, welche zusammenwöchentlich 37½ Mill. Stück fabrizieren.

Stahlhof (Steelyard, wohl aus "Stapelhof" korrumpiert),die alte Faktorei der Hanseaten in London, die ihnen 1473 gegeneine Jahresmiete von 70 Pfd. Sterl. überlassen wurde und bis1866 ihr Eigentum blieb, in welchem Jahr sie dieselbe an eineEisenbahngesellschaft verkauften. Jetzt steht an der Stelle derBahnhof in Canon Street.

Stahlquellen, s. v. w. Eisenquellen, s.Mineralwässer, S. 652.

Stahlrot, s. Englischrot.

Stahlrouge, s. Polierrot.

Stahlspiel, s. Lyra.

Stahlstein, s. Spateisenstein.

Stahlstich (Siderographie), die Vervielfältiggungvon Bildwerken mittels geschnittener Stahltafeln, 1820 von demEngländer Charles Heath erfunden. Das Verfahren dabei istfolgendes. Stahlblöcke oder Platten werden dekarbonisiert, d.h. des Kohlenstoffs beraubt, und dadurch bis zu dem Grad erweicht,daß sie sich beim Stich der Figuren noch besser behandelnlassen als Kupfer. Das Verfahren beim Stich ist dasselbe wie beidem auf Kupfer, nur bedient man sich auf Stahl seltener und mitweniger Vorteil der kalten Nadel. Nach dem Stich wird durch einchemisches Verfahren die Platte wieder gehärtet. Um den Stichauf andre Platten zu übertragen, schiebt man einen gleichfallsdekarbonisierten Cylinder von Stahl in die Übertragungspresse(transfer-press) und fährt damit über dieeingeschnittenen Figuren der wieder gehärteten Stahlplattehin. Die Einschnitte der Platte drücken sich hierbei demCylinder erhaben auf, und zwar wird es durch eine schwingendeBewegung der Presse und der Peripherie des Cylindersermöglicht, daß sich immer eine neue Oberfläche zurAufnahme des Stahlschnitts darbietet. Nachdem darauf der Cylinderebenfalls gehärtet worden ist, drückt man damit auf neuedekarbonisierte Stahlplatten das ursprüngliche Bild derOriginalplatte auf und druckt diese wie gewöhnlich ab. Aufdiese Weise kann das Bild ins Unendliche vervielfältigtwerden, so daß der 10,000. Abdruck nicht den geringstenUnterschied vom ersten zeigt. Dennoch ist für Kunstwerkehöherer Gattung der Kupferstich in Geltung geblieben, da ergrößere Kraft, Sicherheit und Weichheit in derLinienführung gestattet, wogegen der S. besonders fürsolche Werke angewendet wird, welche einen starken Absatzversprechen, wie für Illustrationen, Veduten u. dgl. Der ersteStahlstecher in Deutschland war Karl Ludwig Frommel in Karlsruhe.Seit der Erfindung der Galvanoplastik, welche die Abnahme vonKlischees von Kupferplatten gestattet, und der Verstählung vonKupferplatten ist der S. in Abnahme gekommen. Vgl.Kupferstecherkunst.

Stahlwasser, eisenhaltiges Mineralwasser.

Stahlweinstein, s. Eisenpräparate.

Stahr, Adolf Wilhelm Theodor, Schriftsteller, geb. 22.Okt. 1805 zu Prenzlau, widmete sich in Halle den klassischenStudien, ward 1826 Lehrer am Pädagogium daselbst und 1836Konrektor am Gymnasium zu Oldenburg. Seine litterarischeThätigkeit erstreckte sich zunächst auf die Geschichte,Kritik und Erklärung der Schriften des Aristoteles. Hierhergehören seine "Aristotelia" (Halle 1830-32, 2 Bde.), ferner:"Aristoteles bei den Römern" (Leipz. 1834) und die Bearbeitungder Aristotelischen "Politik" (das. 1836 bis 1838), denen sich"Aristoteles und die Wirkung der Tragödie" (Berl. 1859) unddie Übersetzungen von Aristoteles' Poetik, Politik, Rhetorikund Ethik (Stuttg. 1860-63) anschließen. Neben dieserphilologischen Thätigkeit hatte sich S. frühzeitig auchden

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Stähr - Stair.

allgemeinen litterarischen Interessen zugewandt. Er gab eineHandschrift von Goethes "Iphigenia", die er in der Bibliothek zuOldenburg entdeckt hatte, mit einem trefflichen Vorwort heraus,schrieb eine "Charakteristik Immermanns" (Hamb. 1842) und nahm andem versuchten Aufschwung der Oldenburger Hofbühne lebhaftenAnteil, den seine "Oldenburgische Theaterschau" (Oldenb. 1845, 2Bde.) bethätigte. Einen Wendepunkt seines Lebens bildete seineReise nach Italien, die er 1845 antrat und die er in seinemlebendig geschriebenen, farbenreichen und weitverbreiteten Buch"Ein Jahr in Italien" (Oldenb. 1847-50, 3 Bde.; 4. Aufl., das.1874) eingehend schilderte. In Rom lernte er Fanny Lewald (s. d.)kennen, mit der er sich nach Trennung seiner ersten Ehe 1854verheiratete. Schon vorher hatte er wegen Kränklichkeit seineStellung am Oldenburger Gymnasium niedergelegt und sich 1852 inBerlin niedergelassen, wo er lebte, bis ihnGesundheitsrücksichten nötigten, verschiedene Kurorte zuseinem Wohnsitz zu wählen. S. starb 3. Okt. 1876 in Wiesbaden.Seine litterarische Produktivität hatte während der Zeitseines Berliner Aufenthalts sich beständig gesteigert. Diepoetischen Anläufe in dem Roman "Die Republikaner in Neapel"(Berl. 1849, 3 Bde.) und den Gedichten "Ein Stück Leben" (das.1869) erwiesen keine eigentliche Produktionskraft. So wandte sichS. in zahlreichen Kritiken, Essays und selbständigen Werkenzur Kunst- und Litteraturgeschichte. Seinem "Torso; Kunst,Künstler und Kunstwerke der Alten" (Braunschw. 1854- 55, 2Bde.; 2. Aufl. 1878) folgten: "Lessing, sein Leben und seineWerke", eine populäre Biographie und Charakteristik, dieraschen Eingang ins Publikum gewann (Berl. 1859, 2 Bde.; 9. Aufl.1887); "Fichte", ein Lebensbild (das. 1862); "GoethesFrauengestalten" (das. 1865-68, 2 Bde.; 7. Aufl. 1882); "KleineSchriften zur Litteratur und Kunst" (das. 1871-75, 4 Bde.). AusLebenserinnerungen, persönlichen Eindrücken, namentlichder zahlreichen Reisen, die er mit seiner Gattin unternahm, gingendie Bücher: "Die preußische Revolution" (Oldenb. 1850, 2Bde.; 2. Aufl. 1852), "Weimar und Jena", ein Tagebuch (das. 1852, 2Bde.; 2. Aufl. 1871), "Zwei Monate in Paris" (das. 1851, 2 Bde.),"Nach fünf Jahren", Pariser Studien (das. 1857, 2 Bde.),"Herbstmonate in Oberitalien" (das. 1860, 3. Aufl. 1884), "EinWinter in Rom", gemeinsam mit Fanny Lewald (Berl. 1869, 2. Aufl.1871), hervor, während er in der Schrift "Aus der Jugendzeit"(Schwerin 1870-77, 2 Bde.) seine Jugendtage schilderte. HeftigenWiderspruch erfuhren seine "Bilder aus dem Altertum" (Berl.1863-66, in 4 Bänden), "Tiberius" (2. Aufl. 1873), "Kleopatra"(2. Aufl. 1879), "Römische Kaiserfrauen" (2. Aufl. 1880),"Agrippina, die Mutter Neros" (2. Aufl. 1880) enthaltend, in denenS. den Versuch unternahm, die bisherige historische Auffassung,namentlich des Tacitus, zu entkräften und die genanntenhistorichen Gestalten zu reinigen und zu rechtfertigen.

Stähr, s. v. w. männliches Schaf, Bock.

Staigue-Fort (spr. stäckfort), vorgeschichtlichesFestungswerk der Grafschaft Kerry (Irland), bestehend aus einerohne Mörtel erbauten Ringmauer von 114 Fußäußerm Durchmesser.

Stainer (Steiner), Jakob, berühmterSaiteninstrumentenmacher, geb. 14. Juli 1621 zu Absam bei Hall inTirol, war ein Schüler von Amati zu Cremona. Im Leben vonSorgen und Mißgeschick heimgesucht, mußte er anfangsvon seinen Violinen das Stück für 6 Gulden verkaufen.1669 vom Erzherzog Leopold zum "Hofgeigenmacher" ernannt, wurde ergleichwohl von den Jesuiten als vermeintlicher Ketzer monatelang inHaft gehalten, verfiel in Wahnsinn und starb in größterNot 1683. Seine Geigen zeichnen sich durch besonders hohe Bauartund einen ganz vorzüglichen Ton aus und werden von Kennernjetzt teuer bezahlt. Auch sein Bruder Markus S. war alsInstrumentenmacher bekannt. Vgl. Ruf, Der Geigenmacher J. S.(Innsbr. 1872).

Staines (spr. stehns), Stadt in der engl. GrafschaftMiddlesex, 24 km westsüdwestlich von Hyde Park (London), ander Themse, hat lebhaften Produktenhandel und (1881) 4628 Einw. DieJurisdiktion Londons über die Themse erstreckt sich seit 1280bis hierher.

Stair (spr. stehr), 1) John Dalrymple, erster Graf von,brit. Staatsmann, geb. 1648, schloß sich wie sein als Juristberühmter, 1690 zum Viscount S. erhobener Vater JamesDalrymple (gest. 1695) Wilhelm III. von Oranien an, wurde 1691 zumStaatssekretär für Schottland ernannt, mußte aberwegen der von ihm 1692 angeordneten Niedermetzelung eines Clansjakobitischer Hochländer zu Glencoe, die das schottischeParlament für einen barbarischen Mord erklärte, 1695seine Entlassung nehmen und wagte erst fünf Jahre nach dem Todseines Vaters im Oberhaus zu erscheinen. 1703 nichtsdestowenigerzum Grafen von S. ernannt, gehörte er zu den eifrigstenVertretern der unter Königin Anna zu stande gebrachten Unionzwischen England und Schottland und starb 18. Jan. 1707.

2) John Dalrymple, zweiter Graf von, Sohn des vorigen, brit.Staatsmann und Heerführer, geb. 1673 zu Edinburg, diente von1702 bis 1709 unter Markborough in den Niederlanden und Deutschlandund zeichnete sich in den Schlachten von Ramillies, Oudenaarde undMalplaquet aus. 1714 zum Gesandten in Paris ernannt, erlangte S.nach Ludwigs XIV. Tod bei dem Regenten so viel Einfluß,daß er den bourbonischen Familienbund zwischen Frankreich undSpanien sprengte und Frankreich vermochte, die Stuartspreiszugeben. 1720 aber erregte sein Widerstand gegen dieFinanzpläne Laws den Unwillen der britischen Regierung undveranlaßte seine Zurückberufung. Erst nach demRücktritt Walpoles trat er wieder in den Staatsdienst, wurdeGesandter bei den Generalstaaten und 1742 Feldmarschall undKommandeur der englischen Armee im österreichischenErbfolgekrieg. Er drang mit seinem Heer bis Aschaffenburg vor undschlug 27. Juni 1743 die Franzosen unter Noailles bei Dettingen,verließ dann aber wegen Bevorzugung der hannoverschenInteressen und wegen Einmischung der Minister und Diplomaten dieArmee. Infolge davon fiel er am Hof in Ungnade, bis derjakobitische Aufstand in Schottland (1745) ihn an die Spitze des inEngland aufgestellten Heers rief. Er starb 1. Mai 1747.

3) John Hamilton Dalrymple, achter Graf von, geb. 15. Juni 1771aus einer Seitenlinie, diente seit 1790 in der britischen Armee,focht mit Auszeichnung 1794 und 1795 in Holland und Flandern undnahm 1807 an der Expedition nach Kopenhagen teil, worauf er zumGeneralmajor befördert ward. 1832 wurde er ins Parlamentgewählt, 1840 erbte er von seinem Vetter die Grafschaft S.,und im April 1841 ward er als Lord Oxenfoord zum englischen Peererhoben. In den Jahren 1840-41 und 1846-52 verwaltete er das Amteines Großsiegelbewahrers für Schottland. Er starb 10.Jan. 1853 auf Oxenfoord Castle. Ihm folgten sein Bruder NorthDalrymple, geb. 1776, gest. 9. Nov. 1864,

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Stake - Stallungen.

als neunter und dessen Sohn John, Viscount Dalrymple, geb. 1.April 1819, als zehnter Graf von S. Vgl. Graham, Annals andcorrespondence of the Viscount and the first and second Earls of S.(Edinb. 1875, 2 Bde.).

Stake, Wasserbaukunst, s. Buhne.

Stake (engl., spr. stehk), Einsatz, Einlage (beimSpielen, Wetten etc.).

Staket, Zaun aus Pfählen, Latten etc. (Staken).

Stakholz, s. Fachholz.

Stalagmiten und Stalaktiten, s. Tropfstein.

Stalaktitengewölbe, eine Gewölbeform desarabischen Baustils, welche durch Verbindung von einzelnenGewölbstückchen den Eindruck von Tropfsteinbildungenhervorruft. S. Baukunst, S. 492.

Stalaktitenstruktur, s. Mineralien, S. 647.

Stalbent, Adriaen van, niederländ. Maler, geb. 1580zu Antwerpen, wurde 1610 Freimeister daselbst und starb 1662. Erhat meist Landschaften andrer Künstler mit Figuren in der Artdes H. van Balen staffiert, aber auch selbständigeLandschaften in der bunten Manier der ältern vlämischenSchule und Figurenbilder gemalt. Werke von ihm befinden sich in denGalerien von Antwerpen, Kassel (Kirmes), Frankfurt a. M., Dresden(Midasurteil, Göttermahlzeit), Berlin und Schwerin.

Stalimene, Insel, s. Lemnos.

Stälin, Christoph Friedrich von, deutscherGeschichtsforscher, geb. 4. Aug. 1805 zu Kalw in Württemberg,studierte zu Tübingen und Heidelberg Theologie und Philologie,ward 1826 Bibliothekar in Stuttgart, 1846 Oberbibliothekar, 1869Bibliothekdirektor und leitete die königliche Bibliothek dieselange Zeit mit großem Geschick und Erfolg. Auch diekönigliche Münz- und Medaillen-, ebenso die Kunst- undAltertümersammlung ordnete und verwaltete er. Er starb 12.Aug. 1873. Außer kleinern Arbeiten überwürttembergische Landeskunde verfaßte er die"Wirtembergische Geschichte" (Stuttg. 1841-73, 4 Bde.), seinHauptwerk und die beste deutsche Provinzialgeschichte. Seit 1858Mitglied der Historischen Kommission in München, redigierte ermit Waitz und Häusser die "Forschungen zur deutschenGeschichte". - Sein Sohn Paul, geb. 23. Okt. 1840, Archivrat inStuttgart, schrieb "Geschichte Württembergs" (Gotha 1882ff.).

Stall, s. Stallungen.

Stallbaum, Gottfried, Philolog und Schulmann, geb. 25.Sept. 1793 zu Zaasch bei Delitzsch, vorgebildet in Leipzig,studierte daselbst seit 1815, ward 1818 Lehrer am Pädagogiumin Halle, 1820 an der Thomasschule zu Leipzig und 1835 Rektordieser Anstalt. Seit 1840 auch außerordentlicher Professor ander Universität, starb er 24. Jan. 1861. S. hat sich besondersum Platon verdient gemacht, nicht bloß durch tüchtigeBearbeitung einzelner Dialoge, des "Philebus" (Leipz. 1820, 2.Ausg. 1826), "Euthyphro" (das. 1823), "Meno" (das. 1827, 2. Ausg.1839), "Dialogorum delectus" (das. 1838, 2. Ausg. 1851),"Parmenides" (das. 1839, 2. Aufl. 1848), sondern vor allem durchseine Gesamtausgaben, die große kritische (das. 1821-25, 12Bde.; der Text auch besonders in 8 Bänden), die kommentiertein der Jacobs-Rostschen "Bibliotheca graeca" (Gotha 1827-1860, 10Bde.; zum Teil in wiederholten Auflagen, zuletzt von Wohlrab undKroschel) und die Tauchnitzsche Stereotypausgabe (1 Bd., das. 1850u. 1873; 8 Bde., 1850 u. 1866-74). Sonst sind zu nennen seineAusgaben des Herodot (Gotha 1819, 3 Bde.; 2. Aufl. 1825-26) und desKommentars zu Homer von Eustathios (das. 1825-30, 7 Bde.) sowieBearbeitungen der Ruddimanschen "Institutiones grammaticae latinae"(das. 1823, 2 Bde.) und des Westerhofschen "Terentius" (das.1830-31, 6 Bde.).

Stallfütterung, s. Futter, S. 811.

Stallungen, Wohnungen der landwirtschaftlichen Haustiere.Die Lage des Stalles muß leichte Ableitung derFlüssigkeiten gestatten und Ansammlungen von Grundwasser,welches, durch die Auswurfstoffe der Tiere verunreinigt, zumTräger von Krankheitserregern wird, vermeiden. Die Hauptfrontelegt man gegen Osten und den Ausgang an diese Hauptfronte;Thüren an der Westseite erleichtern das Eindringen vonFliegen, die gegen Abend warme Stellen aufsuchen. In der Mitte derHöhe geteilte Thüren gestatten durch Öffnen derobern Thürflügel eine leichte und gründlicheVentilation. Der Feuersgefahr wegen bringt man zahlreicheThüren an; um aber zu vermeiden, daß bei Öffnungderselben der Luftzug die Insassen trifft, stellt man dieThüren in der Regel an die Enden der sogen. Stallgasse, welchemeist zugleich als Mistgang dient. Die Thürpfosten macht manrund oder doch an den Kanten abgerundet und versieht sie mit 1,5 mhohen senkrechten Walzen, um Beschädigungen der Tiere beimAus- und Eindrängen in den Stall vorzubeugen; ebendeshalbmüssen Thüren und Thürflügel sich stets nachaußen öffnen und nicht von selbst zufallen.Gegenwärtig sind vielfach Schiebthüren in Gebrauch. DieStallfenster bringt man womöglich hinter den Köpfen derTiere an und so hoch, daß Lichtstrahlen wieLuftströmungen über den Tieren hinwegstreichen. Erlaubtdies die Anlage des Gebäudes nicht, dann verwendet man mattgeschliffene oder blaue Glasscheiben und schützt diese gegenZerbrechen durch Drahtgitter. Mit Oberlicht könnenVorrichtungen zur Lufterneuerung verbunden werden, und mitteilweise beweglichen Fenstern kann man lüften, ohne das ganzeFenster zu öffnen, und ohne daß die eindringende kalteLuft die Tiere unmittelbar trifft. Die Fensterrahmen werden ambesten von Eisen hergestellt. Zur Ventilation der S. dürftensenkrechte, an dem First ausmündende Dunstkamine immer nochverhältnismäßig ebensoviel leisten wie die neuernkostspieligen Einrichtungen. Die Abzugskanäle bleiben inkleinern S. am besten offen, werden aber wasserdicht eingerichtetund mit Wasserleitungsröhren in Verbindung gebracht. Offene,nicht zu tiefe Stallrinnen sind der bequemen und gründlichen,auch leicht kontrollierbaren Reinigung wegen vorzuziehen. Diegrößte Dauer und die sicherste Abscheidung zwischenStall und darüber gelegenen Räumen gewährensteinerne Gewölbe, doch benutzt man auch Konstruktionen mitEisenbahnschienen; bei Anwendung von Holz ist für engeVerbindung der einzelnen Bretter (Einlegen in Falze) zu sorgen. DerFußboden soll den Tieren eine bequeme und nichtabkühlende Lagerstätte bieten, er darf daher nach hintennur geringen Fall haben und nicht aus guten Wärmeleiternhergestellt sein. Das beste Pflasterungsmaterial gebenhartgebrannte Backsteine ab. Die sogen. Brückenstände, d.h. über flache Kanäle gelegte Dielenböden, sindteuer, nicht dauerhaft und unreinlich, geben aber allerdings diewärmste Unterlage.

Das Baumaterial für Ställe darf nicht porös sein,um die bei Zersetzung des Urins sich bildenden Stoffe nichtaufzusaugen. Die Bildung von Salpeter an den Stallwändenerhält diese stets feucht. Der Raumbedarf in den Ställenist nach Tiergattung, Zahl der Tiere und den Nutzungszweckenäußerst verschieden zu bemessen. Man unterscheidet: a)freie,

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Stallupönen - Stamma.

offene Standplätze ohne Abgrenzung; b) Standplätze mitbeweglichen Abscheidungen, den sogen. Latier- oder Raumbäumen,die an Säulen befestigt werden oder an Ketten hängen; c)Kastenstände, Standplätze mit festenTrennungsscheidewänden; d) Laufstände, Loose boxes, zurAufnahme Eines frei gehenden Tiers ohne Raum zum Tummeln; e)Laufställe für mehrere frei gehende Tiere mit Raum zumTummeln, für junge Tiere, Mutter mit Jungen etc.; f) Paddocks,Stallräume für einzelne Tiere, meist Pferde, z. B.Zuchtpferde, mit Ausgang in einen sicher abgegrenzten Hofraum,Tummelplatz oder in Weideabteilungen. Ein Pferd bedarf eines 1,70 mbreiten und 3 m langen Standplatzes, nur bei beweglicherAbscheidung durch Latierbäume kann die Breite um 10-20 cmgeringer sein; in Boxen berechnet man aufs Pferd 3 qm.Rindviehställe sollen Standplätze von 1,4 m Breite bei2,8 m Länge haben, Kälber und Jungvieh solche von 2-3 qm.Bei Schafen veranschlagt man den Raum auf 2 für das einzelneStück, für frei gehende auf 1 qm. Hinter denStandplätzen wird ein genügend breiter Stallgangeingerichtet (1,6-2,0-3,0 m breit), damit, namentlich inPferdeställen, Menschen und Tiere ungefährdet verkehrenkönnen. In größern landwirtschaftlichen S. istdieser Gang häufig breit genug, um das Einfahren von Futter-und Mistwagen zu gestatten. Stehen die Tiere in zwei Reihen mit denKöpfen einander gegenüber, wie vielfach inRindviehställen, so wird dazwischen ein erhöhterFuttergang oder ein Futtertisch nötig; letzterer erleichtertdie Fütterung erheblich. Zum Vorlegen des "Kurzfutters":Körner, Schrot, Häcksel, Wurzeln etc., vielfach auch zurAufnahme des Getränks, dienen die Krippen. Abteilung derKrippe für die einzelnen Tiere (Krippenschüsseln fürPferde) gestattet die Zuteilung bestimmter Ration an jedes,zugleich auch die Kontrolle der Freßlust. Krippen aus weichemHolz sind schwer zu reinigen und begünstigen daher dieZersetzung des Futters; das beste Material sind: Granit, Jurakalk,gut gebrannte Backsteine, Zementguß; fürPferdeställe gußeiserne, innen gut emaillierteKrippenschüsseln. Hölzerne Krippen sowie hölzerneKrippenträger in Pferdeställen müssen zum Schutzgegen das Benagen durch die Tiere mit Eisenblech beschlagen werden.In den gewöhnlich oberhalb der Krippen angebrachten, meistleiter- oder korbförmigen Raufen wird das Lang- oderRauffutter (fälschlich Rauh- oder Rauchfutter): Heu, Stroh,Grünfutter, verabreicht. Zur Vermeidung von Verletzungen anKopf und Augen hat man die "Nischenraufe" empfohlen, bei welchereinige Zentimeter über der Krippe in einer Mauernische, vorder eine senkrechte Leiterraufe angebracht ist, das Langfutterdargereicht wird. Vgl. Rueff, Bau und Einrichtung der S. (Stuttg.1875); Miles, Der Pferdestall (Frankf. a. M. 1862); Engel, DerViehstall (2. Aufl., Berl. 1889); Derselbe, Der Pferdestall (das.1876); Gehrlicher, Der Rindviehstall (Leipz. 1879); Wanderley, DieStallgebäude (Karlsr. 1887).

Stallupönen, Kreisstadt im preuß.Regierungsbezirk Gumbinnen, an der Linie Seepothen-Eydtkuhnen derPreußischen Staatsbahn, 80 m ü. M., hat ein Amtsgericht,ein Warendepot der Reichsbank, Maschinenfabrikation, Gerberei,Ziegelbrennerei und (1885) mit der Garnison (2 Eskadrons Ulanen Nr.12) 4181 meist evang. Einwohner.

Stalwarts (engl., "Starke", "Mutige"), in NordamerikaName derjenigen Republikaner, welche die Herrschaft dieser Parteinach dem Bürgerkrieg rücksichtslos zu ihrem Vorteilausbeuten wollten und deshalb 1879 für die dritte Wahl Grantszum Präsidenten, wiewohl vergeblich, eintraten; ihreFührer waren Conkling, Cameron und Logan. Ihre Gegner in derPartei, die zur Versöhnung mit den Demokraten geneigten, derKorruption feindlichen Republikaner (unter Schurz und Curtis),hießen Mugwumps.

Stalybridge (spr. stehlibriddsch), Fabrikstadt an derGrenze von Cheshire und Lancashire (England), am Tame, hatBaumwollmanufaktur, Maschinenbau, Nagelschmieden und (1881) 25,977Einw.

Stambul, türk. Name für Konstantinopel.

Stambulow, St., bulgar. Staatsmann, geb. 1853 zu Tirnowa,studierte in Rußland die Rechte, erregte 1875 in Eski Zagraeinen Aufstand gegen die Türken, mußte nach dessenScheitern nach Bukarest fliehen, nahm 1877-78 als Freiwilliger amrussisch-türkischen Krieg teil, ließ sich darauf inTirnowa als Advokat nieder und ward Mitglied und baldPräsident der Sobranje. Als 21. Aug. 1886 der Staatsstreichgegen den Fürsten Alexander ausgeführt und einerevolutionäre Regierung eingesetzt wurde, stürzte erdiese im Verein mit Mutkurow und Karawelow und bildete mit dieseneine neue Regierung, der nach der Abdankung Alexanders 7. Sept. dieRegentschaft übertragen wurde. Er behauptete sich gegen alleRänke seiner Nebenbuhler und die Wühlereien derrussischen Agenten, besonders des Generals Kaulbars, und bewirkte7. Juli 1887 die Wahl des Fürsten Ferdinand, nach dessenRegierungsantritt (14. Aug.) er an die Spitze des Ministeriumstrat.

Stamen (lat.), Staubgefäß (s. d.).

Stamford, 1) Stadt in Lincolnshire (England), amschiffbaren Welland, hat mehrere alte Kirchen, ein Museum,Brauereien, Fabriken für landwirtschaftliche Maschinen, Handelmit Malz, Kohlen und Bausteinen und (1881) 8773 Einw. 1572ließen sich vlämische Weber hier nieder. -

2) Hafenstadt im nordamerikan. Staat Connecticut, am LongIsland-Sound, hat Eisen-, Woll- und Farbefabriken und (1880) 2540Einw.; beliebter Sommeraufenthalt.

Staminodie (lat.-griech.), die durch vor- oderrückschreitende Metamorphose bewirkte Umbildung einesBlütenteils in ein Staubblatt (s. Staubgefäß).

Stamm, in der Botanik im weitesten Sinn s. v. w. Stengel(s. d.); im engern Sinn derjenige Teil des Stengels, welcher alsunmittelbare Fortsetzung der Wurzel nach oben sich vertikal erhebtund größern Umfang besitzt als die in einer gewissenHöhe seitlich von ihm ausgehenden Äste. In derSprachlehre ist S. der Teil des Wortes, welcher nach Ausscheidungaller Beugungsformen übrigbleibt; z. B. Haus in Haus-es, rufin ruf-en. Trennt man auch die Ableitungssilben ab, so erhältman die Wurzel, wie z. B. in er-wach-en "erwach" der S., "wach" dieWurzel ist. Häufig fällt indessen der S. mit der Wurzelzusammen. Ferner versteht man unter S. Menschen oder Familien undGeschlechter, welche ihre Abkunft von Einem Elternpaar(Stammeltern) in ununterbrochener Reihe abzuleiten vermögen.Im Militärwesen heißt S. der Teil einer Truppe, welcherbei der Fahne bleibt, während die andern in die Heimatentlassen und durch Rekruten ersetzt werden.

Stamma, Philipp, Schachmeister, gebürtig aus Aleppoin Syrien, ist der Verfasser eines der bekanntesten älternSchachbücher, der "100 künstlichen Endspiele", 1737 zuParis erschienen und herausgegeben von Bledow und O. v. Oppen(Berl. 1856). S. war der erste, welcher die jetzt bei unsgebräuchliche Notation mit Buchstaben und Zahlenanwendete.

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Stammakkord - Stampiglia.

Stammakkord, in der Harmonielehre der Gegensatz derabgeleiteten Akkorde. Man versteht unter S. meist einen in lauterTerzen aufgebauten Akkord, also Dreiklang, Septimenakkord oderNonenakkord; die Umkehrungen dieser Akkorde (abgeleiteten Akkorde),bei denen die Terz, Quinte, Septime oder None tiefster Ton ist,sind Sextakkord, Quartsextakkord, Quintsextakkord,Terzquartsextakkord, Sekundquartsextakkord etc. Doch kann man dieBezeichnung S. auch als Gegensatz der durch Alteration oderVorhalte veränderten reinen Harmonien gebrauchen.

Stammaktien, s. Aktie, S. 263.

Stammbaum, die Aufstellung der Nachkommenschaft einerbestimmten Persönlichkeit in männlicher Linie, in welcherdie Töchter zwar aufgezählt werden können, aber(falls sie in ein andres Geschlecht heiraten) nicht derenNachkommenschaft. Der Name S. rührt von dem Gebrauch her, dieAufstellung in der Form eines Baums zu entwerfen, an welchem dieZweige die verschiedenen Linien eines Geschlechts darstellen. Vgl.Genealogie.

Stammbuch, s. Album.

Stammeln, s. Stottern und Stammeln.

Stammgüter, im weitern Sinn diejenigen von denVorfahren ererbten Immobilien, welche die Bestimmung haben, bei derbetreffenden Familie zu bleiben. Im einzelnen wird aber dabeiwiederum zwischen Stammgütern im engern Sinn, zwischenFamilienfideikommiß- und Erbgütern unterschieden.Erstere (bona stemmatica) sind Familiengüter des höhernund niedern Adels, bei welchen die Erbfolge vermöge Herkommensnur auf Agnaten, d. h. auf die durch Männer miteinanderverwandten männlichen Familienangehörigen, übergeht.Bei den Familienfideikommißgütern ist durch besondereDisposition bestimmt, daß dieselben stets bei der Familiebleiben sollen (s. Fideikommiß), während dieErbgüter endlich, welche sich früher auch beimBürgerstand fanden, dadurch ausgezeichnet sind, daß ihreVeräußerung, abgesehen von besondern Notfällen, imInteresse der Intestaterben untersagt oder doch erschwert ist. Vgl.Bärnreither, Stammgütersystem und Anerbenrecht inDeutschland (Wien 1882).

Stammkapital, s. Aktie, S. 262.

Stammprioritäten, s. Aktie, S. 264.

Stammregister, s. v. w. Juxtabuch (s. d.).

Stammrolle, das für Aushebungszwecke geführteVerzeichnis aller im militärpflichtigen Alter stehendenMänner eines Ortes; auch die Liste der Mannschaften einerKompanie, Eskadron etc.

Stammtafel, s. Genealogie.

Stammtöne, in der Musik die Töne ohneVorzeichen, von denen alle übrigen durch ^[Kreuz], ^[B],^[Doppelkreuz] und ^[Doppel-B] abgeleitet sind. Die Folge der S. inSekundschritten (Grundskala) ist und war schon im Altertum dieFolge von 2 Ganztönen, 1 Halbton, 3 Ganztönen, 1 Halbton,welche sich in allen Oktaven wiederholt:

^[siehe Bildansicht]

Eine Ausnahme machen nur die noch älternfünftönigen Skalen (archaistische Tonleitern), welchesich der Halbtonschritte gänzlich enthalten und daher denuntern oder obern Ton des Halbtonintervalls auslassen, so inuralter Zeit bei den Chinesen, aber auch bei den Griechen, Schotten(Tonleiter ohne Quarte und Septime) und vermutlichüberall.

Stammzuchtbuch, s. Herdbuch.

Stamnos, altgriech. faßartigesVorratsgefäß aus gebranntem Thon zur Aufbewahrung vonWein, Öl u. dgl. (s. Tafel "Vasen", Fig. 7).

Stampa (ital.), Gepräge, Stempel; Druck, Druckerei;Stampatore, Buchdrucker.

Stampa, Gaspara, ital. Dichterin, geb. 1524 zu Padua,wird nicht mit Unrecht die "Sappho ihrer Zeit" genannt, denn auchihr bereitete eine verkannte, unerwiderte Liebe, deren Sehnsuchtsich in ihren Liedern ergoß, ein frühes Grab. Sie starb1554 in Venedig. Ihre Gedichte, die sie selbst auch zur Laute sang,haben einen musikalischen Charakter und zeichnen sich durchungewöhnliche Innigkeit wie durch leidenschaftliches Pathosvorteilhaft aus. Sie erschienen Venedig 1554 (neuere Ausg., das.1738).

Stampalia (griech. Astropalia, türk. Ustopalia),türk. Insel im Ägeischen Meer, südöstlich vonAmorgos, 136 qkm (2½ QM.) groß, besteht aus zweigebirgigen Hälften, die durch einen schmalen Isthmus verbundensind, hat mehrere treffliche Häfen und Reste aus demspätern Altertum und den ersten christlichen Zeiten. Auf demIsthmus liegt die Stadt S., mit Bergschloß und 1500 Einw. ImAltertum hieß die Insel Astypaläa.

Stampfbau, s. Pisee.

Stampfen, die oszillierende Bewegung eines Schiffs umseine Querachse, bei welcher Bug und Heck abwechselnd aus- undeintauchen.

Stämpfli, Jakob, schweizer. Staatsmann, geb. 1820 zuSchupfen im Kanton Bern, widmete sich zu Bern juristischen Studien,ward 1843 Advokat und trat 1845 als Redakteur der "Berner Zeitung",des Organs der radikalen Partei, in Opposition zu dergemäßigt liberalen Fraktion, welche damals am Ruder war.In dem auf seinen Betrieb berufenen Verfassungsrat führte erneben Ochsenbein die Hauptstimme. Im Juli 1846 in den Regierungsratberufen, übernahm er die Leitung der Finanzen und führtedirekte Besteuerung, Aufhebung aller Feudallasten undZentralisation des Armenwesens durch. 1849 wurde erRegierungspräsident, mußte aber 1850 beim Sturz derradikalen Partei ins Privatleben zurücktreten. 1849 von seinemKanton in den schweizerischen Ständerat und 1850 in denNationalrat gewählt, dem er 1851 und 1854 präsidierte,wurde er, nachdem er eben infolge der Fusion der beiden bernischenParteien wieder in die Regierung des Kantons getreten war, imDezember 1854 an Stelle Ochsenbeins in den Bundesrat berufen. 1856und 1862 Bundespräsident, nahm er in der Neuenburger wie inder Savoyer Frage eine energische Stellung ein und fordertevergeblich den Bau und Rückkauf der Eisenbahnen durch denStaat, erfreute sich aber gerade deshalb außerordentlicherPopularität. 1863 schied er aus dem Bundesrat und stand1865-78 der sogen. Eidgenössischen Bank vor. 1872 wurde er vomBundesrat zum Mitglied des internationalen Schiedsgerichts in derAlabamafrage ernannt. Er starb 15. Mai 1879 in Bern.

Stampfmühle (Stampfwerk), Maschine, welche ausniederfallenden Stampfen besteht und zum Zerkleinern derÖlfrüchte in Ölmühlen, der Ingredienzien zurAnfertigung von Schießpulver, der Materialien in Porzellan-,Glas- und dergleichen Fabriken, der Hadern in Papierfabriken, derMineralien (Pochen) etc., zum Boken des Hanfs, zum Kalandern derLeinengewebe, zum Klopfen des Leders etc. dient. Vgl.Pochwerke.

Stampiglia (ital., spr. -pillja), "Stempel", wel-

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Stams - Standesherren.

cher zum Abdruck des Titels einer Behörde, Anstalt, Firmaetc. mittels Druckerschwärze oder Farbe aus Dokumenten,Briefen, Rechnungen u. dgl. benutzt wird.

Stams, Dorf in Tirol, Bezirkshauptmannschaft Imst, imOberinnthal, an der Arlbergbahn, hat (1880) 565 Einw. und eineberühmte Cistercienserabtei (1271 von Elisabeth, der MutterKonradins, gegründet) mit Bibliothek, reichen Sammlungen undder Gruft tirolischer Fürsten in der Klosterkirche.

Stanco (türk. Istankoi, das alte Kos), türk.Insel im Ägeischen Meer, an der Südwestspitze vonKleinasien, 246 qkm (4½ QM.) groß, ist bergig, aber ander Nordküste eben und fruchtbar, liefert Südfrüchte(Export jährlich 10-20,000 Ztr. Rosinen), trefflichen Wein undSalz und hat ca. 11,000 Einw., meist Griechen. - Die gleichnamigeStadt, an der Nordostküste, ist Sitz eines Bischofs und einestürkischen Kaimakams, hat eine alte Citadelle, einenschlechten Hafen und 3000 Einw.

Stand, s. Stände.

Standard (engl., spr. stanndard), s. v. w. gesetzlich,normal, mustergültig, z. B. s. gold, Goldlegierung von demGesetz entsprechendem (11/12) Feingehalt.

Standard Hill, Hügel in der engl. Grafschaft Nork,bei Cutton, berühmt durch die Standartenschlacht zwischenEngländern und Schotten 22. Aug. 1138, in der 11,000 derletztern blieben.

Standard of life (engl., spr. leif, "Lebenshaltung"),dasjenige, was der Mensch zum Leben braucht, um die von ihmerreichte Kulturhöhe zu behaupten. Vgl. Existenzminimum.

Standarte (v. franz. étendard), ursprünglichdas kaiserliche Reichsbanner, jetzt die Fahne der Kavallerie, mitkleinerm Tuch als die Fahne der Infanterie. Die Stange (Schaft) mitMetallbeschlägen steht mit der untern Spitze imStandartenschuh am rechten Steigbügel. Früher führtejede Eskadron eine S., jetzt hat in der Regel einKavallerieregiment nur eine Fahne. - In der Jägerspracheheißt S. der Schwanz des Fuchses.

Standbein, in der Bildhauerkunst bei einer stehendenmenschlichen Figur dasjenige Bein, auf welchem nach Maßgabeder gewählten Stellung die Hauptlast des Körpers ruht.Das andre heißt Spielbein.

Ständchen, s. v. w. Huldigungsmusik, Serenade, dochnicht wie letztere mit der Vorstellung einer bestimmten Tageszeitverknüpft, da es Abend- und Morgenständchen gibt. DerForm nach kann das S. in einem Lied bestehen, das der Liebhaberunter dem Fenster der Geliebten singt, aber auch ausgrößern Vorträgen vom Chor, ja Orchester.

Stände, im juristischen Sinn Bezeichnung fürdie verschiedenen Klassen von Personen, welchen entwedervermöge ihrer Geburt (Geburtsstände) oder infolge ihrerBerufsthätigkeit (Berufsstände, erworbene S.) gewissebesondere Befugnisse zustehen oder besondere Verpflichtungenauferlegt sind. Auf dem erstern Einteilungsgrund beruht derUnterschied zwischen Adligen und Nichtadligen (s. Adel), auf demletztern derjenige zwischen Bürger- und Bauernstand, beide inrechtlicher Hinsicht jetzt nahezu bedeutungslos. Imgewöhnlichen Leben werden aber auch als S. gewisse Klassen vonPersonen bezeichnet, welche wegen Gleichartigkeit ihrer Interessenund ihrer Beschäftigung als zusammengehörig zu betrachtensind, wie man denn z. B. von dem Gelehrten-, Beamten-,Handwerkerstand etc. zu sprechen pflegt. Auch wird der Ausdruck S.zur Bezeichnung der Landstände (s. Volksvertretung)gebraucht.

Ständer, in der Heraldik eine gewöhnlich ausdem rechten Obereck des Schildes hervorkommende halbeSchräglinie, gegen welche eine halbe Teilungslinie von derMitte des Schildrandes gezogen ist. Einen "geständerten"Schild s. Heroldsfiguren, Fig. 14. In der Jägersprachebezeichnet der Ausdruck S. die Füße des eßbarenFederwildes sowie der nicht zu den Schwimmvögelngehörigen Wasservögel; ständern, die S. durch einenSchuß verletzen.

Standesamt, s. Personenstand.

Standesbeamter (Zivilstandsbeamter), der zur Beurkundungder Geburten, Heiraten und Sterbefälle bestellte staatlicheBeamte (s. Personenstand).

Standeserhöhung, die Versetzung aus dembürgerlichen Stand in den Adelstand oder die Erhebung voneiner niedrigern Adelstufe zu einer höhern. S. Adel, S.109.

Standesgehalt, in manchen Staaten, namentlich in Bayern,der feststehende und unwiderrufliche Gehalt des Staatsdieners,neben welchem ein mit den Jahren steigender Dienstgehaltbesteht.

Standesherren (Mediatisierte), die Mitglieder derjenigenfürstlichen und gräflichen Häuser, welche vormalsreichsunmittelbar waren und Reichsstandschaft besaßen, derenTerritorien aber bei der Auflösung des frühern DeutschenReichs andern deutschen Staaten einverleibt wurden (s.Mediatisieren); im engern Sinn die Häupter dieser Familien.Die zu dem vormaligen Deutschen Bund vereinigten Regierungen gabenden S. in der Bundesakte (Art. 14) die Zusicherung, daß diesefürstlichen und gräflichen Häuser zu dem hohen AdelDeutschlands gerechnet werden sollten, und daß ihnen dasRecht der Ebenbürtigkeit (s. d.) verbleiben solle.Spätere Bundesbeschlüsse sicherten den Fürsten dasPrädikat "Durchlaucht" und den Häuptern der vormalsreichsständischen gräflichen Familien das Prädikat"Erlaucht" zu. Außerdem wurden den Mediatisierten folgendeRechte garantiert: Die unbeschränkte Freiheit, ihrenAufenthalt in jedem zu dem Bund gehörenden oder mit demselbenin Frieden lebenden Staat zu nehmen; ein Vorrecht, welches mit dernunmehrigen allgemeinen Freizügigkeit gegenstandslos gewordenist. Ferner sollten die Familienverträge der S. aufrechterhalten werden, indem den letztern zugleich die Befugniszugesichert ward, über ihre Güter- undFamilienverhältnisse, vorbehaltlich der Genehmigung desSouveräns, gültige Bestimmungen zu treffen. Hierübersind jetzt die Landesgesetze der einzelnen deutschen Staatenmaßgebend. Die den S. weiter für sich und ihre Familiengarantierte Befreiung von der Wehrpflicht ist auch in dem Bundes-(Reichs-) Gesetz vom 9. Nov. 1867, betreffend die Verpflichtung zumKriegsdienst, anerkannt. Wenn aber den S. außerdem noch einprivilegierter Gerichtsstand sowie die Ausübung derbürgerlichen Rechtspflege und der Strafgerichtsbarkeit inerster und, wo die Besitzung groß genug, auch in zweiterInstanz sowie die Ausübung der Forstgerichtsbarkeitzugesichert ward, so sind die Überbleibsel dieser Gerechtsamedurch das deutsche Gerichtsverfassungsgesetz vom 27. Jan. 1877beseitigt. Endlich sind auch die Zusicherungen, welche den S. inAnsehung der Ausübung der Ortspolizei und der Aufsicht inKirchen- und Schulsachen erteilt worden waren, nach der modernenGesetzgebung als hinfällig anzusehen. Überhaupt bedarfdas Verhältnis der S. der anderweiten Regelung durch dieGesetzgebung derjenigen Staaten, welchen die S. im einzelnenangehören. Dies ist wenigstens die Auffassung des Bundesrats,und in diesem Sinn ist bereits Preußen z. B. mit dergesetzlichen Regelung

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Standesregister - Stang.

der Rechtsverhältnisse des vormaligen HerzogtumsArenberg-Meppen vorgegangen. Übrigens hatte die deutscheBundesversammlung nachmals auch verschiedenen Familien, welchenicht zu den Mediatisierten im Sinn der Bundesakte gehörten,die Befugnisse der S. verliehen. Dies bezog sich jedoch nicht aufdie Grundbesitzungen der Betreffenden, die damit nicht zu einersogen. Standesherrschaft wurden, sondern nur auf diepersönliche Stellung, weshalb man in solchen Fällen vonstandesherrlichen Personallisten sprach. Hervorzuheben ist endlichnoch, daß den S. regelmäßig in denStaatsverfassungen der deutschen Länder die erblicheMitgliedschaft in der Ersten Kammer eingeräumt ist. Vgl.Vollgraf, Die deutschen S. (Gieß. 1823); Vahlkampf, Diedeutschen S. (Jena 1844); "Die Stellung der deutschen S. seit 1866"(2. Aufl., Berl. 1870); Heffter, Sonderrechte der souveränenund vormals reichsständischen Häuser Deutschlands (das.1871).

Standesregister, s. Personenstand.

Ständeversammlung, s. v. w. Landtag.

Standfähigkeit (Stabilität) nennt man dasVermögen eines Körpers, seine Stellung der Schwerkraftgegenüber zu behaupten. Auf einer wagerechten Ebene bleibt einKörper stehen, wenn die durch seinen Schwerpunkt, in welchemdas Gewicht des Körpers vereinigt zu denken ist, gezogenelotrechte Linie die Unterstützungsfläche des Körperstrifft. Stützt sich ein Körper nur in einzelnen Punktenauf die Unterlage, so ist als Unterstützungsfläche dieFläche anzusehen, welche man erhält, wenn man dieäußersten Stützpunkte durch gerade Linienverbindet. Bei einem stehenden Menschen bilden nicht bloß dieFußsohlen, sondern auch der zwischen ihnen liegende Raum,welcher beiderseits von den Sohlen, vorn durch eine dieFußspitzen, hinten durch eine die Fersen verbindende geradeLinie begrenzt wird, die Stützfläche. Trägt einMensch eine Last, so muß er, um nicht zu fallen, seinenKörper derart neigen, daß die durch den gemeinsamenSchwerpunkt des Körpers und der Last gezogene Lotrechte denBoden innerhalb jener Stehfläche trifft. Um einen Körperumzuwerfen, muß man ihn um eine Kante oder einen Punkt (a derFigur) des Umfanges seiner Unterstützungsfläche so langedrehen, bis sein Schwerpunkt lotrecht über jener Kante oderjenem Punkt liegt; läßt man ihn los, ehe diese Lageerreicht ist, so fällt er in seine frühere Stellungzurück; dreht man ihn aber nur ein wenig über jene Lagehinaus, so stürzt er um und bleibt in einer neuen Stellungliegen. Soll das Umkanten durch eine wagerecht am Schwerpunkt (S)des Körpers angreifende Kraft (K) bewirkt werden, so mußdas Drehungsbestreben dieser Kraft dem entgegengesetzten derSchwere (G) mindestens gleich sein, oder die Kraft K, multipliziertmit ihrer Entfernung (ab) vom Drehpunkt (d. h. mit der Höhedes Schwerpunktes über der Grundfläche), muß gleichsein der Kraft G oder dem Gewicht des Körpers, multipliziertmit ihrer Entfernung (ac) vom Drehpunkt (d. h. mit der halbenBreite der Stützfläche). Die Standfestigkeit desKörpers, für welche die Kraft K das Maß darstellt,steht demnach im geraden Verhältnis zu dem Gewicht desKörpers und zur Breite seiner Stützfläche und imumgekehrten Verhältnis der Höhe des Schwerpunktesüber der Grundfläche, oder ein Körper steht um sofester, je größer sein Gewicht und je breiter seineStützfläche ist, und je tiefer sein Schwerpunkt liegt.Ein Körper, welcher um eine wagerechte feste Achse drehbarist, befindet sich der Schwerkraft gegenüber in jederbeliebigen Lage im Gleichgewicht, wenn sein Schwerpunkt genau inder Drehungsachse liegt: man sagt alsdann, er befinde sich im"gleichgültigen" oder indifferenten Gleichgewicht. Liegt seinSchwerpunkt lotrecht über der Achse, so wird der Körper,sobald man ihn aus dieser Gleichgewichtslage nur ein wenigherausdreht, von der Schwere nach der Seite weiter gedreht, nachwelcher er sich neigt; man nennt daher in diesem Fall seinGleichgewicht unsicher, unbeständig oder labil. Er"schlägt um" und dreht sich so lange, bis sein Schwerpunktlotrecht unter der Achse liegt; in dieser Lage ist seinGleichgewicht sicher, beständig oder stabil, denn wird er ausdieser Lage herausgebracht, so wird er durch die Schwerkraft immerwieder dahin zurückgeführt.

Standgeld (Stättegeld), Vergütung für dendem Verkäufer für Aufstellung seiner Waren etc.überlassenen Raum auf Märkten, öffentlichenPlätzen etc.

Standgericht, früher Ausnahmegericht beiUnterdrückung von Empörungen und innern Unruhen, dessenUrteile der in einem Ort oder Lager anwesende oberste Befehlshabersofort bestätigen und vollziehen lassen konnte. Das Standrechtproklamieren hieß der Einwohnerschaft und den Soldatenkundgeben, daß solche Ausnahmegerichte eingesetzt sind. Jetztist das S. in Deutschland im Gegensatz zu dem mit der höhernGerichtsbarkeit betrauten Kriegsgericht das Organ der niedernMilitärgerichtsbarkeit, zuständig überUnteroffiziere und Gemeine für Vergehen, auf die keinestrengere Strafe gesetzt ist als Arrest und Versetzung in diezweite Klasse des Soldatenstandes.

Sündhaftigkeit heißt das geduldige Ertragenvermeidlicher Übel dann, wenn das Vermeiden derselben denDuldenden einem sittlichen Tadel aussehen würde.

Standia, Insel, s. Dia.

Standish (spr. stänndisch), Stadt in Lancashire(England), 5 km nordwestlich von Wigan, mit Kohlengruben und (1881)4261 Einw. Hier Lancashire-Verschwörung zur Restauration derStuarts.

Standrecht, s. Standgericht.

Standrede, kurze Rede aus dem Stegreif.

Standrohre, s. Handfeuerwaffen, S. 102.

Standtreiben, s. Treibjagd.

Standwild, das Wild, welches sich an gewissenÖrtlichkeiten zu halten und von diesen nicht weit zu entfernenpflegt, im Gegensatz zu Wechselwild.

Stang, 1) F., norweg. Staatsmann, geb. 1810, trat 1845als Chef des Departements des Innern in die norwegische Regierungein, legte aber nach zehn Jahren 21. April 1856 sein Amt einerNervenkrankheit wegen nieder. Nachdem er sich von derselben in derSchweiz erholt hatte, ward er 1857 während der Krankheit desKönigs Mitglied der interimistischen Regierung und vertrat1859-60 Christiania im Storthing. 1861 bildete er ein neuesMinisterium, das er 1873 erneuerte, und war seitdem Staatsministerdes Königreichs. Durch Beförderung der Eisenbahn- undWegebauten sowie durch seine ausgezeichneten persönlichenEigenschaften erwarb er sich große Sympathien undAnhänglichkeit, so daß er sich auch während deslangjährigen Streits mit der radikalen Majorität desStorthings im Amt behauptenkonnte. Anfang Oktober 1880 erhielt erunter lebhafter Anerkennung seiner Verdienste vom Königdie

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Stange - Stanhope.

erbetene Entlassung. Das Storthing bewies ihm aber seineFeindseligkeit dadurch, daß es 1881 die für ihnbeantragte Pension von 12,000 Kronen auf die Hälfteherabsetzte, obwohl S. 1856-60 eine höhere (10,000 Kronen)bezogen hatte. Eine bedeutende Geldsumme, welche die konservativePartei zur Entschädigung aufbrachte, verwandte S. zuwohlthätigen Zwecken. Er starb 8. Juni 1884.

2) Rudolf, Kupferstecher, geb. 26. Nov. 1831 zu Düsseldorf,bildete sich unter I. Keller auf der dortigen Akademie von 1845 bis1856. Sein erstes größeres Werk war eine Madonna mit demKind nach Deger in ausgeführter Linienmanier. DieVerkündigung Mariä, nach Degers Freskobild aufStolzenfels, trug ihm 1861 in Metz eine Medaille ein. Zu GoethesFrauengestalten, nach Kaulbach, stach er drei Blätter: dieMuse, Mignon und Eugenie. 1865 ging er nach Italien, wo er eineZeichnung nach Raffaels Sposalizio fertigte. Nach Düsseldorfzurückgekehrt, vollendete er deren Stich 1873 und wurde inAnerkennung dieses vortrefflichen Blattes von den Akademien zuBerlin, München und Brüssel zum Mitglied ernannt; aucherhielt er vom König von Preußen den Professortitel. Von1874 bis 1875 war er wieder in Italien, wo er Zeichnungen zu einemgroßen Stich des Abendmahls nach Leonardo da Vinci und einemkleinern Blatt, Fornarina, nach Raffael ausführte. 1876fertigte er einen Stich nach Landelles Fellahmädchen, und 1881wurde er als Professor der Kupferstecherkunst an die Akademie zuAmsterdam berufen, wo er den Stich nach Leonardos Abendmahl, seinHauptwerk, 1888 vollendete.

Stange, schwed. Längenmaß, = 2,969 m; 10Stangen = 1 Schnur.

Stangengehörn, s. Geweih, S. 285.

Stangenkohle, s. Braunkohle und Steinkohle.

Stangenkugeln, zwei durch eine eiserne Stange mit Gelenkverbundene Voll- oder Halbkugeln, die aus einem Geschützgroßen Kalibers gegen breite Ziele, namentlich gegen dieTakelage von Schiffen, ähnlich den Kettenkugeln, frühergebraucht wurden.

Stangenkunst, s. v. w. Kunstgestänge, s. Bergbau, S.729.

Stangenpferde, die an der Deichsel gehenden Pferde einesWagens; der auf dem Stangensattelpferd reitende Fahrer bei derArtillerie heißt Stangenreiter.

Stangenschörl, s. Turmalin.

Stangenspat, s. Schwerspat.

Stangenspringen (Stabspringen), das Springen mitUnterstützung durch eine 2½ - 4 m lange, bis 4 cmstarke Stange. Während seine Pflege in der hellenischenGymnastik zweifelhaft ist, ist es in manchen Gegendenvolkstümlich im Gebrauch, in Deutschland z. B. inMarschgegenden an der Nordsee zum Überspringen der das Landdurchziehenden Gräben mit den sogen. Klot- od. Pad- (Pfad-)Stöcken, die meist am untern Ende mit einer Vorrichtung gegenzu tiefes Einsinken in weichen Boden versehen sind. Die Turnkunsthat das S. seit Guts Muths und Jahn in den Bereich ihrerÜbungen genommen und macht es neuerdings oft zum Gegenstandvon Wettturnen. Vgl. I. K. Lion, Die Turnübungen desgemischten Sprunges (2. Aufl., Leipz. 1876); Kluge, Anleitung zumS., in den "Zeitfragen aus dem Gebiete der Turnkunst" (Berl.1881).

Stangenstein, s. Topas.

Stanhope (spr. stannop). 1) James, erster Graf von, engl.Staatsmann, aus der Familie der Grafen von Chesterfield stammend,geb. 1673, diente unter Wilhelm III. in Flandern mit Auszeichnungund erwarb sich den Rang eines Obersten. Unter der KöniginAnna ward er Mitglied des Parlaments und später Gesandter beiden Generalstaaten. Im spanischen Erbfolgekrieg diente er unterGeneral Peterborough in Spanien, eroberte 1708 als GeneralmajorPort Mahon und die Insel Menorca, siegte, zum Oberbefehlshaber derenglischen Truppen in Spanien befördert, im Sommer 1710 beiAlmenara und Saragossa und führte den Erzherzog Karl nachMadrid, verzögerte dann aber durch seinen Eigensinn dennotwendigen Rückzug und wurde mit 6000 Mann bei Brihuega imDezember d. J. gefangen und erst 1712 ausgewechselt. KönigGeorg I. ernannte S. 1714 zum Staatssekretär und Mitglied desGeheimen Rats. 1716 begleitete S. den König von Hannover undentwarf mit dem Abbe Dubois, Abgesandten Frankreichs, diePräliminarien zu der Tripelallianz, welche 4. Jan. 1717 imHaag zwischen England, Frankreich und den Generalstaatenabgeschlossen wurde; er wurde dafür 1717 zum ersten Lord desSchatzes, Kanzler der Schatzkammer und Peer vonGroßbritannien unter dem Titel Baron S. von Elvaston undViscount S. von Mahon ernannt. 1718 vermittelte er als ersterStaatssekretär mit Dubois die berühmte Quadrupelallianzund wurde hierauf zum Grafen von S. erhoben. Er starb 4. Febr. 1721in London.

2) Charles, dritter Graf von, Enkel des vorigen, geb. 3. Aug.1753 zu Genf, löste im Alter von 18 Jahren eine Preisaufgabeder Akademie zu Stockholm über die Pendelschwingungen, trat1780 ins Parlament, wo er der Opposition angehörte, und nachseines Vaters Tod 1786 ins Oberhaus. Die Ideen derfranzösischen Revolution hatten in ihm einen begeistertenVertreter. Als die Habeaskorpusakte suspendiert ward, blieb er ausdem Parlament weg und erschien erst 1800 wieder. Er starb 15. Dez.1816. S. erfand eine seinen Namen tragende eiserne Druckerpresse(s. Presse, S. 332), verbesserte die Stereotypie und schriebmehrere Abhandlungen über Mathematik und Mechanik, die sich inden "Philosophical Transactions" finden.

3) Lady Esther, durch ihre Sonderbarkeiten bekannt gewordeneTochter des vorigen, geb. 12. März 1776 zu London. Von derNatur mit imposantem Äußern, scharfem Verstand undgeistiger Energie ausgerüstet, erhielt sie keine geregelteErziehung. Später leitete sie das Hauswesen ihresunverheirateten Oheims Pitt und führte dessen Briefwechsel.Nach Pitts Tod (1806) zog sie sich mit einem geringenmütterlichen Erbteil und einer Staatspension von 1200 Pfd.Sterl. nach Wales zurück. Nach mehrjährigen Reisen durchGriechenland und die Türkei beschloß sie, sich in Syrieneine neue Heimat zu gründen, litt aber bei der ÜberfahrtSchiffbruch, kehrte nach England zurück, verkaufte den Restihrer Güter und ging dann wirklich nach Syrien. Der Glanz, densie um sich verbreitete, und ihr mysteriöses Wesen machtendort großen Eindruck. Anfangs wohnte sie in einemgriechischen Kloster, später errichtete sie sich zu Dschihununweit Sidon, mitten im Libanon, eine Wohnung. Die Syrer pflegtensie Königin von Tadmor, Zauberin von Dschihun und Sibylle desLibanon zu nennen und glaubten sie durch Verbindung mit derGeisterwelt im Besitz großer Schätze. Bei IbrahimPaschas Einfall in Syrien sp*rnte sie die Drusen zum Widerstand anund wußte jenem solchen Respekt einzuflößen,daß derselbe sie um Neutralität bat. Ein Haupthebelihres Einflusses war ihre großartige

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Stanhopepresse - Stanislaus.

Wohlthätigkeit, bis sie später völlig verarmte,namentlich seit ihre Staatspension, um ihre Gläubiger zubefriedigen, innebehalten wurde. Von allen englischen Dienernverlassen, nur von einigen treuen Arabern umgeben, starb sie 22.Juni 1839 in Dschihun. Man setzte sie in der Gruft zu Mar Eliasbei. Ihr Arzt veröffentlichte: "Memoirs of the Lady Esther S."(Lond. 1845, 3 Bde.; deutsch, Stuttg.1846).

4) Philip Henry, Viscount Mahon, fünfter Graf von, engl.Staatsmann und Geschichtschreiber, geb. 30. Jan. 1805 auf WalmerCastle, Enkel von S. 2), trat 1830 für den FleckenWootton-Basset in das Parlament, wo er als strenger Tory dieReformbill heftig bekämpfte. Nach deren Annahme verlor erseinen Sitz im Unterhaus, wurde aber für Hertford wiedergewählt, bekleidete unter dem Ministerium Peel-Wellington vomDezember 1834 bis April 1835 das Amt einesUnterstaatssekretärs im Auswärtigen Departement, ward imJuli 1845 Sekretär des indischen Amtes, mußte aber beimSturz des Ministeriums Peel im Juli 1846 zurücktreten undgehörte nun im Unterhaus zur Partei der Peeliten. 1855 trat ernach seines Vaters Tod ins Oberhaus, wirkte aber hauptsächlichin verschiedenen Kommissionen und gelehrten Gesellschaften, unteranderm als Präsident der Society of Antiquaries, als LordRektor der Universität Aberdeen, als Vorstandsmitglied desBritischen Museums etc., in höchst verdienstlicher Weise. Erstarb 24. Dez. 1875 in Bornemouth. Von seinen Schriften sindhervorzuheben: "Life of Belisarius" (Lond. 1829, 2. Aufl. 1848);"History of the war of the succession in Spain" (1834, neue Ausg.1850); "History of England from the treaty of Utrecht to the peaceof Aix-la-Chapelle" (1836, 2 Bde.; später fortgesetzt bis zumFrieden von Versailles, 5. Aust. 1858, 7 Bde.; deutsch von Steger,Braunschw. 1855, 8 Bde.); "Life of the Great Conde" (1840); "Lifeof William Pitt" (des jüngern, 4. Aufl. 1879, 3 Bde.);"History of England comprising the reign of Queen Anne" (1867; 4.Aufl. 1873, 2 Bde.); "Miscellanies" (1863, neue Folge 1872);"French retreat from Moscow and historical essays" (1876). EineAuswahl seiner für die "Quarterly Review" gelieferten Artikelerschien unter dem Titel: "Historical essays" (Lond. 1848, neueAusg. 1861). Er gab auch die "Letters of Philip Dormer S., Earl ofChestertield" (neue Ausg., Lond. 1853, 5 Bde.) und "Memoirs by SirRobert Peel" (das. 1856-57, 2 Bde.) heraus. Als sechster Graf vonS. folgte ihm sein Sohn Arthur Philip, geb. 13. Sept. 1838, 1868bis 1875 Mitglied des Unterhauses, 1874-76 Lord des Schatzamtes imMinisterium Disraeli.

5) Edward, zweiter Sohn des vorigen, geb. 1840 zu London,erzogen in Harrow und Oxford, wurde 1865 Rechtsanwalt in London und1874 für Lincolnshire als konservativer Abgeordneter insUnterhaus gewählt. Er war Sekretär im Handelsamt vomNovember 1875 bis April 1878, Unterstaatssekretär fürIndien vom April 1878 bis April 1880, Vizepräsident desErziehungsrats vom Juni bis August 1885, Präsident desHandelsamtes von da an bis zum Februar 1886. Im August 1886 wurdeer in Lord Salisburys zweitem Ministerium zum Staatssekretärfür die Kolonien und 1887 zum Kriegsminister ernannt. 1888legte er dem Parlament eine neue Landesverteidigungsbill vor.

Stanhopepresse, s. Stanhope 2).

Stanislau (Stanislawow), Stadt in Galizien, an derBistritza, Knotenpunkt der Lemberg-Czernowitzer Bahn und derStaatsbahnlinie Stryi-Husiatyn, ist Sitz einesgriechisch-katholischen Bistums, einer Bezirkshauptmannschaft,eines Kreisgerichts und einer Finanzbezirksdirektion, hat einStandbild Kaiser Franz I., ein Obergymnasium, Oberrealschule,Lehrerbildungsanstalt, große Eisenbahnwerkstätte,Ziegelfabrikation, Dampfmühle, Bierbrauerei, Gerberei,lebhaften Handel und (1880) 18,626 Einw. (darunter 10,023Juden).

Stanislaus (Stanislaw), 1) Heiliger, geb. 1030 inGalizien, studierte zu Gnesen und Paris, wurde 1071 Bischof vonKrakau, aber 1079 in der dortigen Michaeliskirche während derMesse zusammengehauen, weil er die Ausschweifungen des KönigsBoleslaw des Kühnen gerügt und über denselben denBann verhängt hatte. Von Papst Innocenz IV. 1253 heiliggesprochen, wird S. als Schutzpatron Polens verehrt. SeinGedächtnistag ist der 7. Mai.

[Könige von Polen.] 2) S. L Leszczynski, geb. 20. Okt. 1677zu Lemberg, Sohn Raphael Leszczynskis, Woiwoden von Posen, ward zumStarosten und Landboten und nach seines Vaters Tod vom KönigAugust II. zum Woiwoden von Posen und General von Großpolenernannt. 1704 beteiligte er sich an der Konföderation, die aufBetrieb Karls II. von Schweden August II. absetzte, und wardhierauf durch des erstern Einfluß 12. Juni 1704 zumKönig von Polen erhoben und 7. Okt. 1705 nebst seiner GemahlinKatharina Opalinska gekrönt. Er vermochte sich jedoch nur biszur Schlacht von Poltawa (1709) in Polen zu halten, floh daraufnach Stettin und setzte 1711 nach Schweden über. 1712 kam ermit einem Heer zurück und stieß zur Armee des GeneralsSteenbock. Bereit, auf die Krone zu verzichten, unternahm er 1713,um Karls Zustimmung zu erhalten, eine Reise nach Jassy, ward abervom Hospodar der Moldau nach Bender geschickt und erst 1714 gegendas Versprechen, das türkische Gebiet meiden zu wollen,freigegeben. Karl XII. trat ihm, bis er ihm den polnischen Thronwiedererkämpft hätte, das FürstentumZweibrücken ab. Nach dem Tod Karls XII. (1718) mußte S.hier dem Pfalzgrafen Gustav Samuel weichen und ging 1720 nachFrankreich, wo er seinen Aufenthalt erst in Weißenburg, dannin Bergzabern und, nachdem sich König Ludwig XV. mit seinerTochter Maria Leszczynska vermählt hatte, in Chambord beiBlois nahm. Nach Augusts II. Tod (1733) machte S. seineAnsprüche auf die polnische Krone von neuem geltend, worin ihnFrankreich und Schweden unterstützen wollten, reiste heimlichnach Warschau und ward dort 11. Sept. zum zweitenmal zum Königgewählt. Allein Rußland und Österreich zwangen denPolen den Kurfürsten von Sachsen, August III., zum Königauf, und S. floh vor einem russischen und sächsischen Heernach Danzig und, als er die Übergabe der Festung an die Russennahe sah, nach Marienwerder. Durch den Wiener Frieden (3. Okt.1735, ratifiziert 1738) ward endlich festgesetzt, daß S. aufdie polnische Krone Verzicht leisten, aber den Titel einesKönigs beibehalten und die Herzogtümer Lothringen und Barvom Herzog Franz von Lothringen abgetreten erhalten sollte, dienach dem einstigen Absterben S. an Frankreich fallen sollten.Nachdem er die Revenuen seiner Herzogtümer gegen eine Pensionvon 2 Mill. Frank an Frankreich abgetreten hatte, residierte erteils zu Nancy, das er sehr verschönerte, teils zu Lunevilleund erwarb sich durch Wohlthätigkeit und Förderung derWissenschaften und Künste die Liebe seiner Unterthanen. Erstarb an den Folgen einiger am Kaminfeuer erhaltenen Brandwunden23. Febr. 1766. Seine Schriften erschienen gesammelt

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Stanislausorden - Stanley.

unter den Titeln: "Oeuvres du philosophe bienfaisant" (Par.1765, 4 Bde.; neue Ausg. von Migne, 1850); "Oeuvres choisies" (das.1825).

3) S. II. August, der letzte König von Polen, Sohn desGrafen Stanislaus Poniatowski und der Fürstin KonstantiaCzartoryiska, geb. 17. Jan. 1732 zu Wolczyn, trat zuerst 1752 aufdem Reichstag als Landbote auf. August III. sandte ihn an dieKaiserin Elisabeth nach Petersburg, wo er sich die Gunst derGroßfürstin, nachherigen Kaiserin Katharina, erwarb,deren Liebhaber er mehrere Jahre war. Nach Augusts Tod brachte esdiese durch ihren Einfluß dahin, daß S. 7. Sept. 1764zum König von Polen gewählt und 25. Nov. in Warschaugekrönt wurde. Seine Stellung inmitten der Parteiungen desAdels und der Übermacht der Nachbarstaaten war eineschwierige. Der nötigen Energie ermangelnd, um denunabhängigen Adel zu zügeln und sich der schlauenrussischen Politik zu entziehen, ward er bald mißliebig. Ja,3. Nov. 1771 ward er von den Verschwornen aus Warschauentführt, doch auf seine beredten Vorstellungen wieder dahinzurückgeführt. Die erste Teilung Polens 1772 mußteer genehmigen. Er schloß sich dann den Bestrebungen, denzerrütteten Staat zu reformieren, an, vereitelte dieselbenaber dadurch, daß er sich der Konföderation vonTargowitz gegen die Konstitution vom 3. Mai 1791 anschloß unddie abermalige Einmischung der Russen veranlaßte. SeinWiderspruch gegen die zweite Teilung Polens hatte zur Folge,daß Katharina ihn nach der Einnahme Warschaus durch Suworownach Grodno bringen ließ, wo er den dritten Teilungsvertragunterzeichnen und 25. Nov. 1795 dem Thron entsagen mußte. Ererhielt von Österreich, Rußland und Preußen200,000 Dukaten Pension, die er anfangs in Grodno verzehrte. PaulI. berief ihn gleich nach dem Tod Katharinas nach Petersburg, wo er12. Febr. 1798 unvermählt starb. Der von ihm gestifteteStanislausorden ward 1816 vom Zaren Alexander erneuert. Vgl."Mémoires secrets inédits de Stanislas II Auguste"(Leipz. 1862); "Correspondance inédite du roi S. AugustePoniatowski et Mad. Geoffrin 1764-77" (1887).

Stanislausorden, russischer, ursprünglich poln.Verdienstorden, gestiftet von König Stanislaus II. 7. Mai 1765für 100 Ritter, wurde nach der Teilung Polens nicht mehrverliehen; erst König Friedrich August von Sachsen, Herzog vonWarschau, verlieh ihn wieder. Kaiser Alexander, als König vonPolen, erneuerte ihn 1815 und teilte ihn in vier Klassen; KaiserNikolaus I. verleibte ihn 1831 den russischen Orden ein undbeschränkte ihn 1839 auf drei Klassen (die zweite mit zweiUnterabteilungen mit und ohne Krone). Er kommt im Rang nach dem St.Annenorden. Die Dekoration ist ein rot emailliertes achtspitzigesKreuz mit goldenen Kugeln und goldenen Halbkreisen zwischen denSpitzen sowie goldenen Adlern zwischen den Armen. Der weißemaillierte Mittelschild, von grünem Lorbeer eingefaßt,trägt in Rot die Chiffer S. S. (Sanctus Stanislaus). DerRevers trägt dieselbe Inschrift auf Gold mit weißemRande. Der achtstrahlige Silberstern trägt die Devise:"Praemiando incitat". Der Orden wird in der üblichen Weise andunkelrotem Band mit doppelter weißer Einfassung getragen.Für eine bestimmte Anzahl von Rittern ist eine Pension mit demOrden verbunden, dessen Fest 23. April gefeiert wird.

Staniza (russ.), s. v. w. Kosakenansiedelung.

Stankkugeln, Leinwandsäckchen, mit einem Brandsatzgefüllt, dem Federn, Hornspäne und ähnliche, beimVerbrennen stinkende Gegenstände beigemengt werden;früher angewendet, um den Feind aus Minengängen,Kasematten etc. hinauszuräuchern.

Stanley (spr. stännli), 1) Arthur Penrhyn, engl.Gelehrter, Sohn des Bischofs S. von Norwich und Vetter des Lords S.of Alderley, geb. 13. Dez. 1815, studierte Theologie in Oxford, woer für sein Gedicht "The gipsies" einen Preis errang, wirktedann von 1840 ab als Fellow am University College daselbst undwurde 1851 zum Kanonikus von Canterbury, 1858 zum Professor derKirchengeschichte in Oxford erwählt. Daneben war er Kaplan desBischofs von London und seit 1863 Dechant von Westminster.Vertreter einer milden Aufklärung innerhalb des Christentums,beteiligte er sich 1872 mit Lebhaftigkeit amAltkatholikenkongreß in Köln und wurde 1875 zumLord-Rektor der Universität St. Andrews erhoben. Seinelitterarische Thätigkeit hatte er mit der Biographie seinesJugendlehrers Th. Arnold (1844, 13. Aufl. 1882; deutsch, Potsd.1846) begonnen. Es folgten: "Sermons and essays on the apostolicalage" (1846, 3. Aufl. 1874); "Historical memorials of Canterbury"(1854, 10. Aufl. 1883); "Sinai and Palestine", die Frucht einerReise nach dem Orient (1856, 4. Aufl. 1883); "Lectures on thehistory of the Eastern Church" (1861, 5. Aufl. 1883) u. a. Nachdemer 1862 als Begleiter des Prinzen von Wales eine zweite Reise nachdem Orient gemacht, veröffentlichte er: "Scenes of the East"(1863); "Lectures on history of the Jewish Church" (1862; 8. Aufl.1884, 3 Bde.); "Historical memorials of Westminster Abbey" (5.Aufl. 1882); "Essays chiefly on questions of church and state from1850-70" (1870, neue Aufl. 1884); "The Athanasian creed" (1871);"Lectures on the history of the Church of Scotland" (1872);"Christian institutions" (4. Aufl. 1883) u. a. Vielfach Unwillenerregte S. 1880 durch seinen hartnäckig festgehaltenen Plan,dem Sohne Napoleons III. ein Denkmal in der Westminsterabtei setzenzu lassen, bis ihn endlich der Wille des Parlaments zum Nachgebennötigte. Er starb 18. Juli 1881 in London. Vgl. Grace Oliver,A. P. S. (3. Aufl., Lond. 1885).

2) Henry Morton (eigentlich James Rowland), berühmterAfrikareisender, geb. 28. Jan. 1841 bei Denbigh in Wales als Sohndes Farmers John Rowland, kam im Alter von drei Jahren insArmenhaus von St. Asaph, woselbst er bis zum 13. Jahr blieb undeine gute Erziehung erhielt. Er wollte sich anfangs dem Lehrfachwidmen, wurde dann aber Schiffsjunge und kam als solcher nach NewOrleans. Hier fand er bei einem Kaufmann, Namens S.,Beschäftigung, ward von demselben adoptiert und nahm dessenNamen an. Nach dem Tod seines Wohlthäters trat er 1861 beimAusbruch des Kriegs in die Armee der Konföderierten, wurdeaber gefangen genommen und der Marine der Vereinigten Staatenzugeteilt, in welcher er es bis zum Fähnrich brachte. Nach demFrieden bereiste er 1865 die Türkei und Kleinasien undbegleitete 1867-68 als Korrespondent des "New Vork Herald" dieenglische Armee nach Abessinien. Seinen Weltruf verdankte S. seinemkühnen Zug zur Auffindung Livingstones, während dieFeststellung des Lualaba und Congostroms ihn zum erstenAfrikareisenden aller Nationen der Jetztzeit stempelte. Im Auftragvon J. G. Bennett (s. d.), dem Besitzer des "New York Herald", warS. nämlich im Okt. 1869 ausgeschickt worden, um den ganzverschollenen Livingstone aufzusuchen und ihm Hilfe zu bringen.Nachdem er zuvor als Berichterstatter des "Herald" der

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Stanley (Afrikareisender).

Einweihung des Suezkanals beigewohnt, dann einen Abstecher nachPersien und Indien gemacht hatte, langte er im Januar 1871 inSansibar an, von wo er mit etwa 200 Mann (darunter 3 Weiße),vorzüglich ausgerüstet und aufs beste bewaffnet, einigeWochen später seinen Marsch ins Innere von Afrika antrat. Nachvielen zu überwindenden Schwierigkeiten war er endlich amZiel: 10. Nov. hielt er seinen feierlichen Einzug in Udschidschi amTanganjikasee, wo er in der That den tot geglaubten Livingstonefand. Daß S. in Großbritannien eine starke Anfeindungerfuhr, daß man seinen ganzen Bericht für eineUnwahrheit erklärte, daß später aber sich allesdies als bloße Verleumdung herausstellte, trug nur dazu bei,dem verdienten Manne noch größere Berühmtheit zuverschaffen. Nachdem er mit Livingstone sich noch der Erforschungdes Tanganjika gewidmet, trat er im März 1872 seineRückreise nach Sansibar und Europa an. Über seineErlebnisse und die Resultate seiner Expedition, die dem Besitzerdes "New York Herald" gegen 10,000 Pfd. Sterl. gekostet hatte,berichtete er in dem Werk "How I found Livingstone" (Lond. 1872;deutsch, 2. Aufl., Leipz. 1885), worin er außer seinen eignenauch Livingstones Beobachtungen in dem See- und Flußsystem imSW. und W. des Tanganjikasees brachte. Darauf wohnte er 1873 bis1874 dem Feldzug der Engländer gegen den König derAschanti bei und berichtete darüber wie über denabessinischen Feldzug in "Coomassie and Magdala" (Lond. 1874). Innoch großartigerer Weise nahm S. sodann seine Forschungen1874 wieder auf und zwar zuerst auf Kosten des "New York Herald"und des Londoner "Daily Telegraph". Mit mehr als 300 Soldaten undTrägern verließ er im November 1874 Bagamoyo, erreichte27. Febr. 1875 das südliche Ufer des Ukerewe oder VictoriaNyanza und umfuhr den ganzen See. Da S. nicht wußte,daß der Schwestersee des Ukerewe, der 1864 von Bakerentdeckte Mwutan oder Albert Nyanza, bereits von dem ItalienerGessi bis zu seinem Südende befahren war, so versuchte er,diesen See zu erreichen. Vom Ukerewe sich westlich wendend,entdeckte er im Januar 1876 zunächst das 5000 m hohe,schneebedeckte Gambaragaragebirge. Unter 30° 20' östl. L.v. Gr. und dem Äquator stieß er alsdann auf einengroßen Golf, den er Beatricegolf nannte und für einenTeil des Mwutan ansah. Nach spätern Aufnahmen desägyptischen Obersten Mason Bei muß jedoch angenommenwerden, daß S. hier einen neuen großen, nochunbenannten See entdeckt hat. Nun sich südlich wendend,erforschte er den Hauptzufluß des Ukerewe, den Kagera oderKitangule, welchen er als einen bedeutenden, 20-40 m tiefen Stromschildert, und der aus einem gleichfalls von S. entdeckten See, demAkanjaru oder Alexandrasee (zwischen 2-3° südl. Br. und31° östl. L. v. Gr.), entspringt. S. wandte sich nun derLösung des größten noch vorhandenen afrikanischenProblems zu. Er wollte zu ergründen suchen, wohin dieungeheuern Wassermassen der Seen und Ströme, die westlich vomTanganjikasee liegen, sich ergössen, und ob dieselben, wietheoretisch bereits Behm nachgewiesen, den obern Lauf des Congodarstellten, von dem man nur die Mündung kannte. Am 27. Mai1876 war S. wieder in Udschidschi am Ostufer des Tanganjikasees,machte auf demselben sein tragbares Boot flott und umfuhr in 51Tagen zum erstenmal vollständig dieses großeWasserbecken. Auch den nach W. führenden "Abfluß" desTanganjika, den von Cameron entdeckten Lukuga, fand S. wieder aufund fuhr denselben eine Strecke weit abwärts. Nach seinenSchilderungen ist der Lukuga jedoch nur ein sumpfiger Arm desTanganjika, welcher bloß bei Hochwasser einen gelegentlichenAbfluß nach W. ausmacht. Nach Vollbringung dieser Aufgabedrang S. nach W. vor und erreichte unter großen GefahrenNyangwe, den äußersten von Livingstone und Cameronerreichten Ort am obern Lualaba-Congo. Nachdem er seinezusammengeschmolzene Expedition wieder auf 200 Bewaffnete gebrachthatte, verließ er 15. Nov. 1876 mit 18 Kanoes Nyangwe, umeine der gefahrvollsten und merkwürdigsten Reisen anzutreten,von welcher die Geschichte aller Zeiten berichtet. Sowohl in seinemobern Lauf bis zum Äquator als in seinem untern zeigt derLualaba-Congo zahlreiche bedeutende Wasserfälle, die zumgroßen Teil umgangen werden mußten, was meist unterKämpfen mit den Eingebornen geschah. Einzelne Katarakte wurdendurchschifft, doch verlor S. hierbei seinen treuen Diener Kaluluund seinen letzten weißen Gefährten, Francis Poco*ck.Drei Vierteljahre hatte diese gefahrvolle, abenteuerliche Reisegedauert, als S. mit seiner zusammengeschmolzenen Schar, demHungertod nahe, 8. Aug. 1877 in Boma an der Congomündung inden Bereich portugiesischer Herrschaft gelangte. Aber dieAnstrengungen waren des Resultats wert. Der bisher unbekannteRiesenlauf des Congo konnte in die Karte eingetragen werden (s.Congo). S. stellte die ganze Länge des Stroms, fürwelchen er den nicht acceptierten Namen "Livingstone" vorschlug,auf 630 Meilen fest, von denen der 225 Meilen lange, oft seeartigerweiterte mittlere Teil für die größten Schiffefahrbar ist, so daß hier dem Handel ein neues, ungeheuergroßes Gebiet durch den kühnen Reisenden eröffnetwurde. Die Identität des Congo mit dem Lualaba war somitfestgestellt und damit eine Wasserstraße ins Innere vonAfrika von mehr als 4000 km Länge eröffnet, die nur an2-3 Stellen von Katarakten unterbrochen wird. Bereits vier Monatenach seiner Rückkehr veröffentlichte er seinenReisebericht "Through the dark continent" (Lond. 1878), dermehrmals aufgelegt wurde, ebenso wie die zu gleicher Zeiterschienene deutsche Übersetzung "Durch den dunkeln Weltteil"(2. Aufl., Leipz. 1881, 2 Bde.). Der großartige ErfolgStanleys führte nach der Begegnung König Leopolds II. vonBelgien mit dem Entdecker in Brüssel zur Gründung desComité d'études du Haut-Congo, das es sich zurAufgabe stellte, Zentralafrika dem Handel zu eröffnen. S.wurde mit der Leitung des Unternehmens betraut, er legte nichtallein längs des Congo, auch in dem später an Frankreichabgetretenen Gebiet des Kuilu eine Reihe von Stationen an bis zuden Stanleyfällen am obern Congo, entdeckte, den Kwaaufwärts fahrend, den großen See, welchem er den NamenLeopolds II. gab, und war mit kurzer Unterbrechung, als ihn seinegeschwächte Gesundheit zur Reise nach Europa nötigte, bis1884 unermüdlich im Congogebiet thätig. In diesem Jahrkehrte er endgültig nach Europa zurück, nahm alstechnischer Kommissar des Bevollmächtigten der amerikanischenUnion an der Congokonferenz in Berlin teil und veranlaßte inEngland die Bildung einer Gesellschaft zur Erbauung einer Eisenbahnvon der Congomündung bis zum Stanley Pool. Zu gleicher Zeitpublizierte er "The Congo and the foundation of its free state",deutsch unter dem Titel: "Der Congo und die Gründung desCongostaats" (Leipz. 1885, 2 Bde.). Als Ende 1886 dieägyptische Regierung in Gemeinschaft mit einigen englischenKapitalisten eine Expedition zum Entsatz Emin Beis auszusendenbeschloß,

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Stanley Pool - Stans.

übernahm S. bereitwilligst die Führung diesesschwierigen und gefahrvollen Unternehmens, traf 24. Dez. 1886 vonNew York in London ein, das er 21. Jan. 1887 verließ, um sichnach Sansibar zu begeben, von wo er mit den dort von ihmangeworbenen Leuten um das Kap zum Congo fuhr. Dort traf er 18.März ein. Seine Begleitung bestand aus 9 Europäern, 13Somal, 61 Sudanesen und 620 Sansibariten. Außerdemschloß sich der arabische Sklavenhändler Tippu Tip,welchen S. durch dessen Ernennung zum Gouverneur vom obern Congomit einem Jahresgehalt gewonnen hatte, mit 40 Mann an; weitereMannschaften vom Tanganjika und von Kassongo bei Nyangwe solltenbei den Stanleyfällen zu Tippu Tip stoßen. Da am Congogroßer Mangel an Nahrungsmitteln herrschte, war dieVerproviantierung der großen Kolonne sehr schwierig, dochkonnte sich S. 29. April von Stanley Pool auf vier Dampfern undmehreren großen Booten endlich einschiffen. Am 28. Maierreichte er die Mündung des Aruwimi, wo er ein festes Lagererrichtete, und bereits 2. Juni brach er mit 5 Europäern und580 Mann nach O. auf. Am 20. Juni befand er sich an denJambujafällen des Aruwimi, wo er ein festes Lager zum Schutzder unter Major Barttelot zurückbleibenden 100 Mann starkenBesatzung errichtete. Von hier brach er 28. Juni mit 389 Mann auf,am linken Ufer des Flusses aufwärts ziehend. Der Name desAruwimi ändert sich wiederholt, 140 km von Jambuja heißter Lubali, dann Nevoa, nach seinem Zusammenfluß mit demNepoko heißt er No-Welle, 350 km vom Congo aber Ituri. Trotzder Feindseligkeiten der Eingebornen ging der Marsch ohneSchwierigkeit vor sich, bis man Anfang August ein Urwaldgebieterreichte, wo der Expedition furchtbare Leiden harrten. DieEingebornen widersetzten sich dem Vordringen Stanleys underschossen 5 Mann mit vergifteten Pfeilen, auch Leutnant Stairswurde schwer verwundet. Um den arabischen Sklavenjägernauszuweichen, hielt sich S. auf der Congostraße, stieß31. Aug. aber doch auf eine Abteilung des SklavenhändlersUgarrowa, zu dem 26 Leute desertierten. Auch mußte S. 56Invalide im Lager Ugarrowas zurücklassen. Mit 273 zog erweiter, schreckliche Leiden ausstehend in dem durchSklavenjäger verwüsteten Land, so daß einmitgebrachtes Boot mit 70 Warenladungen unter dem Wundarzt Parkeund dem Kapitän Nelson, beide marschunfähig undverwundet, bei dem Sklavenhändler Kilonga-Longazurückgelassen werden mußte. Endlich wurde Ibwirierreicht, wo an Stelle des bisherigen dichten, dumpfen Waldes weitefruchtbare Ebenen traten und Lebensmittel im Überflußwaren. Zwar widersetzte sich der mächtige HäuptlingMogamboni Stanleys Vordringen, doch wurden alle Angriffezurückgeschlagen. Am 14. Nov. erreichte S. den Albert Nyanzabei Kawalli, wo er ein verschanztes Lager errichtete, und da keineNachricht von Emin Pascha eingelaufen war, marschierte S. die 200km zu Kilonga-Longa zurück, um das Boot zu holen. Am 28. April1888 traf S. endlich mit Emin und Casati zusammen, die ihn in demDampfer Khediv aufgesucht hatten. Emin blieb 26 Tage bei S., ohnesich bewegen zu lassen, nach Europa zurückzukehren. Darauftrat S. 16. Juni mit 111 Sansibariten und 101 ihm von Eminüberlassenen Trägern seinen Rückmarsch an, fandindes von den zurückgelassenen 257 Mann nur noch 71 beiBunalaya vor und schlug darauf einen kürzern Weg ein, um nachFort Bodo bei Ibwiri, wo er seine Europäer gelassenzurückzukehren. Vgl. Rowlands, Henry M. S., record of his life(Lond. 1872); Volz, Stanleys Reise durch den dunkeln Weltteil,für weitere Kreise bearbeitet (3. Aufl., Leipz. 1885).

3) Frederik Arthur, Lord, engl. Staatsmann, jüngerer Bruderdes Lords Derby, geb. 15. Jan. 1841, widmete sich dermilitärischen Laufbahn und avancierte zum Kapitän bei denGardegrenadieren, trat aber dann zur Reserve über und wurdeerst zum Major, dann zum Obersten eines Milizregiments ernannt.Seit 1865 gehörte er für Preston dem Unterhaus an, wo ersich, den Traditionen seiner Familie gemäß, derkonservativen Partei anschloß. 1868 war er auf kurze Zeitjüngerer Lord der Admiralität, mußte aber imDezember d. J. mit Disraeli zurücktreten. 1878-80 war S.Kriegsminister und leitete die Vollendung der Rüstungen gegenRußland und die Okkupation Cyperns. Unter Salisbury war er imJuni 1885 bis Januar 1886 Staatssekretär für die Kolonienund seit August 1886 Handelsminister. Unter dem Titel Lord S. ofPreston wurde er 1887 in den Peersstand erhoben.

Stanley Pool (spr. stännli puhl), das von H. M.Stanley entdeckte, ca. 40 km lange und 26 km breite, 348 m ü.M. gelegene Becken, welches der Congo unter 16° östl. L.und 4° südl. Br. oberhalb der Kallulufälle bildet. AmNordufer liegt Brazzaville, im SW. des Sees die StationLeopoldville.

Stannate, s. Zinnsäure.

Stannin, s. Zinnkies.

Stanniol (Zinnfolie), sehr dünnes Zinnblech ausreinem Zinn oder einer Zinnlegierung mit 1-2 Proz. Kupfer (wodurchdie Folie an Festigkeit gewinnt) durch Gießen, Walzen undSchlagen hergestellt. Man gießt das Metall inPlatteneingüssen zu Platten von 10 mm Dicke aus und walztdiese Platten in einem Blechwalzwerk anfangs einzeln, dann mehrereaufeinander gelegt, zu Blechen bis zu einer Dicke von 0,1 mm. Nochdünneres S. wird aus diesen Platten durch Schlagen unterHämmern auf die gleiche Weise wie das Blattgold (s.Goldschlägerei) hergestellt. Nach einem neuen Verfahren wirdZinn in einer flachen, 2,5 m langen eisernen Schale flüssiggehalten; über dieser Schale befindet sich eine 2,5 m langeWalze von 2 m Durchmesser, mit Leinwand überzogen. Diese Walzewird in das Zinn gesenkt und einmal umgedreht, wodurch sie sich miteiner dünnen Lage Zinn bedeckt, welche während einerRückdrehung der gehobenen Walzen abgewickelt und auf einenpolierten ebenen Stein gelegt wird. Auf diese Lage kommen noch 299solche Blätter, die nun gemeinschaftlich von zehn Arbeiternbis zur gewünschten Dicke geschlagen werden. S. dienthauptsächlich zum Belegen der Spiegel und erhält fürdiesen Zweck eine Dicke von 0,038-0,5 mm. S. zum Einwickeln vonSeife, Schokolade etc. ist 0,15-0,0077 mm dick. Auch bleihaltigeZinnfolie wird vielfach dargestellt und zwar entweder ausLegierungen oder aus Bleiplatten, die mit Zinn übergossenwurden. Um farbige, glänzende Zinnfolie zu bereiten, wird S.mit Baumwolle und Kreidepulver gereinigt, mit Gelatinelösungüberzogen, mit Berberis-, Lackmus-, Orseille- oderSafranabkochung oder Anilinlösung gefärbt und nach demTrocknen mit Weingeistfirnis überzogen.

Stannum (lat.), Zinn,

Stanowoi, Gebirge, s. Sibirien, S. 927.

Stans (auch Stanz), Flecken im schweizer. KantorUnterwalden, Hauptort von Nidwalden, am Fuß des 1900 m hohenStanser Horns, mit (1880) 2210 Einw. und einem Denkmal Arnolds vonWinkelried.

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Stansfield - Stapelia.

Hier 9. Sept. 1798 Gefecht zwischen den Nidwaldnern und denFranzosen unter Schauenburg. Der Hafen des Orts, amVierwaldstätter See, ist Stansstad (s. Alpnach), mit 763Einw.

Stansfield (spr. stännsfild), James, engl.Staatsmann, geb. 1820 zu Halifax, studierte in London, wurde 1849Barrister und trat 1859 für seine Geburtsstadt ins Unterhaus,wo er sich dem linken Flügel der liberalen Parteianschloß. 1863 wurde er zum Lord der Admiralitäternannt, schied aber schon 1864 wieder aus der Regierung, bei dersein intimes Verhältnis zu Mazzini Anstoß erregte.Trotzdem konnten die folgenden liberalen Regierungen bei demEinfluß, den er im Unterhaus hatte, nicht umhin, ihn wiederin ihre Mitte aufzunehmen: er war Unterstaatssekretär unterRussell vom Februar bis Juni 1866 und Lord der Admiralitätunter Gladstone vom Dezember 1868 bis Oktober 1869 sowieSekretär des Schatzamtes unter demselben bis März 1871.Darauf erhielt er das Präsidium des Armenamtes und im Augustd. J. das Präsidium des neugegründetenLocal-government-board. 1874 trat er mit Gladstone zurück; beider Neubildung des liberalen Ministeriums im Frühjahr 1880wurde S. übergangen.

Stante pede (lat.), stehenden Fußes, auf derStelle, flugs, stracks.

Stanton, Edwin M., nordamerikan. Staatsmann, geb. 1815 zuSteubenville (Ohio), studierte die Rechte, wirkte als Advokat, seit1857 in Washington, ward 1860 Generalstaatsanwalt, 1861 unterLincoln Kriegsminister, weil er als einer der Führer derrepublikanischen Partei belohnt werden mußte, erwarb sichzwar durch rastlose Thätigkeit um die Organisation undVerpflegung des Heers während des BürgerkriegsVerdienste, stiftete aber durch Nepotismus und Einmischung in dieKriegsoperationen auch Schaden, trat gegen Johnsons vermittelndePolitik auf, ward deshalb abgesetzt, was den Staatsprozeßgegen den Präsidenten zur Folge hatte, legte im Mai 1868 seinAmt nieder, war Richter am obersten Gerichtshof und starb 23. Dez.1869.

Stanze (ital.), eigentlich Wohnung, Zimmer; dann s. v. w.Reimgebäude, Strophe; insbesondere das auch Oktave (ital.Ottava rima) genannte epische Versmaß der Italiener, eine ausacht fünffüßigen Jamben bestehende Strophe, inwelcher die Verse so verschlungen sind, daß der 1., 3. und5., dann der 2., 4. und 6., endlich der 7. und 8. aufeinanderreimen und zwar ursprünglich nur mit weiblichem Reim,während in neuerer Zeit männlicher mit weiblichem Reimwechselt. Die Strophe findet sich bei den Italienern in allengrößern epischen Gedichten (Ariosts "Rasender Roland",Tassos "Befreites Jerusalem") angewendet; auch Camoens hat seine"Lusiaden", Byron seinen "Don Juan" in dieser Form gedichtet sowievon neuern deutschen Dichtern E. Schulze seine "Bezauberte Rose",Lingg seine "Völkerwanderung". Indessen eignet sich die S. imDeutschen mehr zu Widmungsgedichten (z. B. in Goethes "Faust"), zuPrologen, gedankenreichen Apostrophen u. dgl. als zugrößern epischen Gedichten, wo sie leicht monoton wirdund ermüdend wirkt. Diese Erkenntnis regte Wieland (im"Oberon") zu einer freiern Behandlung derselben an, indem er dieZahl der Versfüße beliebig zwischen vier, fünf undsechs schwanken, die Reime aber ein- oder zweimal wiederkehrenließ und dabei willkürlich verband. Außer Wielandhat diese freiere Form, welche einen großen malerischenReichtum zu entfalten gestattet, auch Schiller bei seinerÜbersetzung des Vergil angewendet. Eine andre Abart der S. istdie Spenserstanze, die Spenser in seiner "Feenkönigin" undnach ihm Lord Byron in seinem "Childe Harold" zur Anwendungbrachte. Sie ist neunzeilig, die Reimpaarung derartig, daßzuerst zwei Zeilen: die 1. und 3., dann vier: die 2., 4., 5. und7., und zuletzt drei: die 6., 8. und 9., aufeinander reimen, und umdem Ganzen einen wuchtigen Abschluß zu geben, hat der letzteVers stets einen Fuß mehr. - In der Kunstgeschichteheißen Stanzen ("Zimmer") vorzugsweise die von Raffael undseinen Schülern ausgemalten Räume des Vatikans inRom.

Stanzen, in der Technik Stempel aus Stahl oder Bronze zurVerfertigung vertiefter Gegenstände aus Blech(Eßlöffel, Dosendeckel, Ornamente etc.). Man stellt siedurch Gravieren oder Gießen her und benutzt sie im Verein mitGegenstempeln, indem man das Blech durch Fall- oder Prägwerkein die liegenden S. eintreibt. Die Gegenstempel werden aus weichermMetall (Kupfer, Hartblei etc.) in die S. gegossen oder in dieselbeneingeprägt.

Stanzer Thal, linksseitiges Nebenthal des Inn inNordtirol, Bezirkshauptmannschaft Landeck, von der Rosannadurchströmt, heißt im obersten Teil Verwallthal und wirdvon der Straße und Eisenbahn über den Arlbergdurchzogen. Den Namen trägt es vom Dorf Stanz bei Landeck (301Einw.).

Stanzmaschine, s. Hobelmaschinen, S. 588.

Stapel, ein Haufe, eine Menge Dinge, besonders wenn siein einer gewissen Ordnung aufgesetzt sind; vorzüglich eineQuantität gewisser trockner Waren, welche aufeinandergeschichtet ist, z. B. Holz, Tücher etc., besondersHäute; Jahrmarkt, Messe, daher Stapelplatz, Ort oder Hafen mitWarenniederlagen (vgl. Stapelgerechtigkeit). Im Schiffbau nennt manS. in einer gewissen Ordnung aufeinander gelegte hölzerneBalken, die entweder bei Luftzutritt aufbewahrt werden sollen, odermit deren Hilfe man eine ebene Plattform in einer gewissenHöhe und Neigung über dem Terrain gewinnen will, aufwelcher ein neues Schiff erbaut wird. Wird ein fertiges Schiff insWasser gelassen, so verläßt es den S., daher Stapellauf(s. Ablauf).

Stapelartikel, solche Artikel, welche vornehmlichHandelsgegenstand eines Platzes und infolgedessen hier ingrößerer Menge aufgestapelt sind.

Stapelgerechtigkeit (Stapelrecht, Staffelrecht,Stapelfreiheit), ein in ältern Zeiten gewissen Städtenbewilligtes Recht, wonach gewisse oder auch alle Waren, welche aufStraßen versandt wurden, an denen ein Stapelplatz gelegenwar, in diesem abgeladen und daselbst eine gewisse Zeit(Stapelzeit) über zum Verkauf ausgestellt werden mußten,ehe man sie weiterbringen durfte.

Stapelholm, Landschaft in der preuß. ProvinzSchleswig-Holstein, Kreis Schleswig, östlich vonFriedrichstadt, bildet einen Geestrücken zwischenFlußmarschen an der Eider, mit den PfarrdörfernSüderstapel und Erfde mit (1885) 869 u. 1391 Einw.

Stapelia L. (Aaspflanze), Gattung aus der Familie derAsklepiadaceen, kaktusartige, blattlose Gewächse mitfleischigen, oft kantigen und an den Kanten gezähneltenStengeln und Ästen, großen, radförmigenBlumenkronen, welche meist auf gelbem oder gelbgrünem Grundschwarzpurpurn oder violett gefleckt oder marmoriert sind, und fastcylindrischen Balgkapseln mit geschwänzten Samen. Die etwa 60besonders in Südafrika heimischen Arten werden der Blütenhalber als Zierpflanzen in Gewächshäusern kultiviert; dieBlüten riechen indes höchst widerwärtig nach Aas. S.Tafel "Kakteen".

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Stapellauf - Star.

Stapellauf, s. Stapel

Stapelplatz, s. Stapel

Stapelrecht, s. v. w. Stapelgerechtigkeit.

Stapelstädte, in Schweden die Städte, welchendas Recht verliehen ist, auf eignen Schiffen Waren ein- undauszuführen.

Stapes (lat.), Steigbügel; in der Anatomie eins derGehörknöchelchen.

Staphylea L. (Pimpernuß), Gattung aus der Familieder Sapindaceen, Sträucher mit gegenständigen, unpaariggefiederten Blättern, gipfelständigen, meistüberhängenden, weißlichen Blütentrauben undhäutiger, ein- oder wenigsamiger, aufgeblasener Kapsel. S.pinnata L. (Klappernuß, Blasennuß, Paternosterbaum),3-5 m hoch, mit fünf- bis siebenzählig gefiedertenBlättern, länglich elliptischen Blättchen,rötlichweißen Blüten und hellbraunen,ölreichen Samen mit großem Nabelfleck(Ölnüßchen), in Gebirgswäldern Mitteleuropasund Vorderasiens, wird als Zierstrauch angepflanzt. Dasweiße, feste Holz dient zu Drechslerarbeiten; die Samen sindeßbar und geben ein gutes Öl. Auch S. colchica Stev.(Hoibreghia formosa hort.), aus Transkaukasien, mit drei- bisfünfzählig gefiederten Blättern und weißenBlüten, und S. trifolia L., mit dreizähligenBlättern, aus Nordamerika, sind Ziersträucher.

Staphyleaceen, dikotyle Pflanzengruppe, eine Unterfamilieder Celastrineen (s. d.) bildend, von denen sie sichhauptsächlich durch die Lage des Blütendiskus, die blasigaufgetriebene Frucht und das Fehlen des Samenmantelsunterscheiden.

Staphylhämatom (griech.), Blutgeschwulst amZäpfchen, welche wahrscheinlich durch kleine Verletzungen beimEssen, Räuspern etc. entsteht und ohne schlimme Bedeutungist.

Staphylinus, Staphylinidae, s. Kurzflügler.

Staphyloma (griech.), in der Augenheilkunde zweiwesentlich verschiedene Zustände: 1) Das S. der Hornhaut istein Auswuchs, der aus jungem Bindegewebe oder Narbenmasse bestehtund seinen Ursprung einer geschwürigen Hornhautentzündungmit Vorfall der Iris verdankt. Dies S. wird mit dem Messerabgetragen und ist auf diesem Weg heilbar. 2) Das S. der Sklera,der harten weißen Haut, bedeutet eine Ausbuchtung derselben,oft verbunden mit Verdünnung und zunehmender Transparenz,welche entweder mehr allgemein ist, wie beim grünen Star (s.Glaukom), oder auf den hintern Umfang beschränkt, wie bei derVerlängerung des sagittalen Augendurchmessers kurzsichtigerAugen (S. posticum), oder an mehrfachen Stellenunregelmäßige Hervorwölbungen bedingen kann, dieihren Ursprung Entzündungen der Aderhaut oder Iris verdanken.Ist eine solche Ausstülpung einmal eingetreten, so könnenkorrigierende Brillen oder die Operation beim Glaukom dieSehstörungen und die Vergrößerung das S. wohlbeseitigen, aber nicht das Übel selbst heilen.

Staphyloplastik (griech.), künstlicheGaumenbildung.

Staphylorrhaphie, s. Gaumenspalte.

Stapß, Friedrich, bekannt durch seinen Mordversuchgegen Napoleon I., geb. 14. März 1792 zu Naumburg, erlerntedie Kaufmannschaft und kam dann nach Leipzig in Stellung. Einerbitterter Gegner Napoleons, beschloß er, denselben zuermorden, und reiste zu diesem Zweck nach Wien und von da 13. Okt.1809 nach Schönbrunn, wo jener Heerschau hielt. Der GeneralRapp, dem das Benehmen S.', der den Kaiser zu sprechen verlangte,verdächtig vorkam, ließ ihn festnehmen, und man fand beiihm ein großes Küchenmesser. S. gestand unerschrockenseine Absicht und antwortete auf die Frage des Kaisers: "Wenn ichSie nun begnadige, wie werden Sie mir es danken?" mit den Worten:"Ich werde darum nicht minder Sie töten". Er ward hierauf 17.Okt. erschossen.

Star, die Herabsetzung oder gänzliche Aufhebung desSehvermögens eines oder beider Augen, sofern dieselbe aufAnomalien der lichtempfindenden Elemente (schwarzer S.) oder aufTrübung der Kristalllinse (grauer S.) beruht. Über densogen. grünen S. oder das Glaukom s. d. Bei dem schwarzen S.unterscheidet man herkömmlich: Amblyopie, Stumpf- oderSchwachsichtigkeit, und Amaurose (besser Anopsie), völligeBlindheit. Beide kommen zu stande zum Teil in der Form von Hemiopiedurch Erkrankung der Netzhaut oder des Sehnervs an irgend einerStelle seines Verlaufs oder des Gehirns selbst. Liegt die erkrankteStelle hinter dem Eintritt des Sehnervs in die Netzhaut, soläßt sich die Ursache des schwarzen Stars durch denAugenspiegel nicht erkennen. In den meisten Fällen hat derschwarze S. einen langsamen Verlauf, entsteht unmerklich, nimmtganz allmählich zu und geht schließlich invollständige Erblindung über; doch kommt es auch vor,daß er auf einer gewissen Stufe der Entwickelung stehenbleibt oder selbst rückgängig wird. Selten bildet er sichin sehr kurzer Zeit aus oder tritt selbst plötzlich nach Arteines Schlaganfalls auf, namentlich dann, wenn sich die Netzhautdurch einen Bluterguß oder durch ein Entzündungsproduktvon der Gefäßhaut des Auges abgelöst hat, oder wennBlutergüsse, schnell wachsende Geschwülste u. dgl. denUrsprung des Sehnervs im Gehirn zerstört haben. Der schwarzeS. kommt bei beiden Geschlechtern und in jedem Alter, selbstangeboren vor; doch ist er bei Männern häufiger als beiWeibern und in dem Alter von 20-40 Jahren häufiger als imGreisenalter, hier aber häufiger als im Kindesalter. Vielfachist erbliche Disposition vorhanden. Die Pupille pflegt erweitertoder wenig beweglich oder auch ganz starr zu sein, selbst wennstarkes Licht in das Auge fällt. Der Kranke hat einen stieren,nichtssagenden Blick; er büßt überhaupt mehr oderweniger die Herrschaft des Willens über die Bewegungen desAuges ein. Die Augenlider sind in der Regel weit geöffnet, derAugenlidschlag ist träge. Die Bewegungen eines an schwarzem S.Leidenden sind unsicher, seine Haltung ist ängstlich. Daswichtigste Symptom ist Schwachsichtigkeit. Jeder Versuch, kleinereObjekte deutlich zu sehen und anhaltend zu fixieren, kostetAnstrengung; das Auge ermüdet sehr schnell. Später gehtauch der letzte Lichtschein, das Vermögen, Hell und Dunkel zuunterscheiden, verloren. Die meisten Fälle von schwarzem S.sind unheilbar oder sehr schwer zu heilen. Ein frisch entstandenerFall gibt eine bessere Prognose als ein solcher, der schon langeZeit bestanden hat. Der schwarze S., welcher infolge vonSehnervenschwund, Netzhautablösung und von Zerstörungendes Gehirns auftritt, gibt die geringste Aussicht auf Heilung. Amehesten lassen diejenigen Fälle eine Heilung zu, welche durchkonstitutionelle und dyskrasische Leiden, durch Gicht, Syphilis,Nierenerkrankungen, Hysterie etc., sowie diejenigen, welche durchübermäßigen Gebrauch narkotischer Mittel (z. B.übermäßigen Genuß starker Zigarren, vonAlkohol) entstanden sind. Oft wird nur das eine Auge geheilt, dasandre nicht, oder der schwarze S. heilt nur auf einer Stelle derNetzhaut; völlige Heilung beider Augen ist selten. DieBehandlung ist je nach der Form des schwarzen Stars sehrverschieden. Die

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Star (Augenkrankheit) - Star (Vogel).

Funktionen des Körpers müssen durch eine angemesseneLebensordnung geregelt, die Verrichtungen des Auges sorgfältigüberwacht, Anstrengungen desselben durchaus vermieden werden.Oft wird ein längerer Aufenthalt im Dunkeln, das Tragendunkler Brillen etc. notwendig. Die spezielle Behandlung ist voneinem Augenarzt zu leiten.

Der graue S. (Cataracta, s. Tafel "Augenkrankheiten", Fig. 10 u.11) besteht in einer Trübung im Bereich des Linsensystems, d.h. der Linse selbst oder ihrer Kapsel, bez. beider, wodurch denLichtstrahlen der Durchgang zu der lichtempfindenden Netzhautverwehrt wird. Zuerst zeigt sich hinter der Pupille eineunbedeutende Trübung, welche allmählich zunimmt; derKranke sieht wie durch ein trübes Glas, durch Nebel oderRauch. Nach und nach wird der vor dem Auge schwebende Nebeldichter, und die Gegenstände erscheinen wie dunkle Schatten.Die Pupille bewegt sich meist frei, nur bei sehr großem S.verliert die Iris an Beweglichkeit und wird nach vorngedrängt. Nur nach Verletzungen des Auges entwickelt sich dergraue S. in wenig Tagen (Cataracta traumatica, s. Tafel"Augenkrankheiten", Fig. 12), meist bedarf er zu seiner AusbildungMonate und Jahre. Nur Stare nach äußerer Verwundungbeschränken sich auf Ein Auge. Selten bleibt der S. auf einerniedern Entwicklungsstufe stehen. Nach dem Sitz der Trübungunterscheidet man den Kapselstar und den Linsenstar. Der Kapselstarkommt viel seltener vor und erscheint als eine unsymmetrische,grauweiße, undurchscheinende Trübung nahe hinter derIris. Der Linsenstar befällt am häufigsten alte Leute(Altersstar, Cataracta senilis) infolge des Sinkens derErnährungsthätigkeit. Der Linsenstar ist bald einKernstar, bald ein Rindenstar; bald ist sowohl Kern als Rindegetrübt (totaler S.). Nach der Konsistenz der getrübtenLinsenmasse teilt man die Linsenstare ein in harte und weicheStare. Der harte S. ist von dunkler, bräunlicher Farbe,betrifft meist den Kern der Linse; dieselbe ist oft knorpelartigfest oder selbst in eine kalkartige oder steinige Masse (Cataractagypsea) umgewandelt. Beim weichen S., welcher unter allenStarformen am häufigsten vorkommt, zeigt die Linse eineverminderte Konsistenz. Hinsichtlich der Entwicklungsstufe nenntman den S. reif, wenn die Trübung die ganze Linse einnimmt,dagegen unreif, wenn die Entartung noch im Fortschreiten begriffenist und besonders die Linsenperipherie noch durchsichtige Stellenbesitzt, überreif, wenn die schon lange getrübtenLinsenmassen stellenweise oder ganz verhärtet und geschrumpftsind. Die Disposition zum grauen S. ist bei dem männlichenGeschlecht größer als bei dem weiblichen; Leute mitblauer oder grauer Iris werden viel häufiger davon betroffenals solche mit brauner Iris. Mitunter ist der graue S. angeboren(Cataracta congenita), sehr selten entwickelt er sich vor dem 7.Lebensjahr; von dieser Zeit an bis zum 60.-70. Lebensjahr wird erallmählich immer häufiger. Der graue S. tritt oft nachentzündlichen Augenkrankheiten auf und ist mit solchenkompliziert. Bei einfachen, nicht komplizierten Staren bleibtstets, auch wenn das Erkennen von Gegenständen längstunmöglich geworden ist, die Fähigkeit, Hell und Dunkel zuunterscheiden, z. B. eine vor dem Auge hin und her bewegteLampenflamme zu erkennen, erhalten. Das einzige Mittel, dasSehvermögen wiederherzustellen, ist die Staroperation, derenZweck darin besteht, durch Beseitigung der kranken Linse denLichtstrahlen den Eintritt in das Innere des Auges wieder zueröffnen. Dies kann auf dreifachem Weg erreicht werden:entweder indem man die getrübte Linse gänzlich und miteinemmal aus dem Auge entfernt (Extraktion des Stars); oder durchLagenveränderung der Linse, indem man sie aus der Sehachseentfernt und an einen solchen Ort schiebt, wo sie dem Einfallen derLichtstrahlen kein Hindernis in den Weg legt, ohne sie aus dem Augezu schaffen (Depression oder Reklination des Stars); oder durchZerstückeln und Zerschneiden, wodurch man den S. in einensolchen Zustand versetzt, daß er aufgesaugt werden und alsovon selbst verschwinden kann (Discision des Stars). Die Operationgelingt bei der Vervollkommnung der modernen Technik unter 100Fällen 94-96mal. Aber auch im günstigsten Fall istdieselbe nicht im stande, das Gesicht so vollkommenwiederherzustellen, wie es vor der Erkrankung war; denn es fehlt jaim Auge die Linse, ohne welche sich keine scharfen Bilder auf derNetzhaut bilden können, und mit der Linse fehlt auch dasAkkommodationsvermögen für verschiedene Entfernungen. Dieverloren gegangene Kristalllinse ersetzt man daher durch starke(½-¼) Konvexlinsen, durch eine sogen. Starbrille, mitderen Hilfe der Kranke dann meist wieder kleinste Schrift zu lesenund die meisten Arbeiten zu verrichten im stande ist. Da aber derOperierte auch das Akkommodationsvermögen verloren hat, somuß er Brillen von verschiedener Brechungskraft gebrauchen,je nachdem er nahe oder ferne Gegenstände sehen will. Nach derStaroperation tritt oft von neuem wieder eine Trübung in derhintern Augenkammer ein, welche man sekundärer Kapselstar,Nachstar (s. Tafel "Augenkrankheiten", Fig. 13), nennt, und wodurchdas Sehvermögen wieder beschränkt oder ganz aufgehobenwird. Der Nachstar entsteht dadurch, daß die bei derOperation zurückgelassene hintere Linsenkapsel sich aufs neuetrübt; dieselbe wird dann entweder durch eine Nachoperationganz entfernt, oder auf ungefährliche Weise durchZerreißung (Discision des Nachstars) beseitigt. Eineabermalige Trübung ist dann nicht mehr möglich. Vgl.Magnus, Geschichte des grauen Stars (Leipz. 1876)

Star (Sturnus L.), Vogelgattung aus der Ordnung derSperlingsvögel und der Familie der Stare (Sturnidae),mittelgroße, gedrungen gebaute Vögel mit kurzem Schwanz,ziemlich langen Flügeln, in welchen die erste Schwingeverkümmert, die zweite am längsten ist,mittelmäßig langem, geradem, breit kegelförmigemSchnabel, mittelhohen, ziemlich starken Füßen und langenZehen. Der gemeine S. (Strahl, Sprehe, Spreu, S. vulgaris L.), 22cm lang, 37 cm breit, ist im Frühling schwarz, auf Schwingenund Schwanz wegen der breiten, grauen Federränder lichter,nach der Mauser und im Herbst weiß gepunktet, mit braunenAugen, schwarzem Schnabel und rotbraunen Füßen, bewohntden größten Teil Europas, erscheint aber in denMittelmeerländern nur im Winter und geht höchstens bisNordafrika; bei uns weilt er von Februar oder März bis Oktoberund November. Er bevorzugt die Ebenen mit Auenwaldungen,läßt sich aber auch in Gegenden, die er sonst nur aufdem Zug berührt, durch Anbringung von Brutkasten etc. fesseln.Dadurch hat ihn z. B. Lenz seit 1856 in Thüringen heimischgemacht. Durch sein munteres, heiteres Wesen ist er allgemeinbeliebt; seine Stimme ist ein angenehmes Geschwätz, er besitztaber auch ein großes Nachahmungsvermögen und mischt dieverschiedensten Töne ein. Er nistet in Baumhöhlungen,Mauerlöchern, am liebsten in Brutkästchen aufBäumen, Stangen, Hausgie-

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Staraja-Russa - Starhemberg.

beln etc., und legt im April 5-6 lichtblaue Eier (s. Tafel "EierI", Fig. 57), welche vom Weibchen allein ausgebrütet werden.Die ausgeschlüpften Jungen sind bald selbständig undschweifen mit andern Nestlingen umher. Ist auch die zweite Brutflügge, so vereinigen sich alle Stare und sammeln sich zugroßen Scharen in Wäldern sowie später (etwa EndeAugust) im Röhricht der Gewässer. Die Alten kehrenzuletzt gegen Ende September noch einmal zu den Nistkastenzurück, singen morgens und abends, ziehen aber nach den erstenstarken Frösten mit den Jungen in die Winterherberge. Der S.nährt sich von Kerbtieren, Würmern und Schnecken und wirddurch massenhafte Vertilgung derselben sehr nützlich;weidenden Rindern liest er Mücken und andre Insekten vomRücken ab. In Kirschpflanzungen und Gemüsegärten,namentlich in Weinbergen richtet er zwar oft erheblichen Schadenan, doch überwiegt sein Nutzen bei weitem. In derGefangenschaft wird er leicht zahm, lernt Lieder pfeifen und Wortenachsprechen und dauert fast ein Menschenalter aus.

Staraja-Russa, Kreisstadt im russ. Gouvernement Nowgorod,südlich vom Ilmensee, an der Polista und der EisenbahnS.-Nowgorod, mit Mönchskloster, 16 Kirchen, weiblichemProgymnasium, Theater, Stadtbank, Findelhaus, mehreren Kasernen und(1885) 13,537 Einw. S. besitzt bedeutende Salinen und ist inneuerer Zeit als Solbad in Ruf gekommen.

Stara Planina, s. Balkan.

Starbuck, zum Manihikiarchipel der Südsseegehörige, unbewohnte Insel, 3 qkm groß, wurde 1866für englisches Eigentum erklärt.

Staremiasto (Alt-Sambor), Stadt in Galizien, am Dnjestr,südwestlich von Sambor, Sitz einer Bezirkshauptmannschaft undeines Bezirksgerichts, mit (1880) 3482 Einw.

Stargard, 1) Kreisstadt im preuß. RegierungsbezirkStettin, Kreis Saatzig, an der Ihna, Knotenpunkt der LinienBerlin-S., Posen-S. und S.-Zoppot der Preußischen Staatsbahnwie der Eisenbahn S.-Küstrin, 36 m ü. M., hat 3evangelische und eine kath. Kirche, ein Bethaus der Irvingianer,eine Synagoge und (1885) mit der Garnison (ein GrenadierregimentNr. 9) 22,112 meist evang. Einwohner, welche Maschinen-,Schuhwaren-, Lack-, Filzwaren-, Dachpappen-, Seifen-,Bürsten-, Spiritus- und Zigarrenfabrikation, Bildhauerei,Gerberei, Bierbrauerei, Feilenhauerei und Dampfschleifereibetreiben. S. hat außerdem eine Wasser- undDampfmahlmühle, eine Dampfmolkerei, eineProvinzialobstbaumschule und bedeutende Landwirtschaft. Der Handel,unterstützt durch eine Reichsbanknebenstelle, ist besonderslebhaft in Getreide, Vieh und Produkten, auch findenalljährlich in S. ein Leinwandmarkt und zwölf besuchteVieh- und Pferdemärkte statt. S. hat ein Landgericht, einLandratsamt (für den Kreis Saatzig), ein Hauptsteueramt, eineLandschaftsdepartements-Direktion, ein Gymnasium, einRealprogymnasium, ein Zentralgefängnis, ein Waisenhaus, 8Hospitäler etc. S. erhielt 1253 Stadtrecht und ward dann dieHauptstadt von Hinterpommern. Zum Landgerichtsbezirk S.gehören die 14 Amtsgerichte zu Dramburg, Falkenburg, Gollnow,Greifenberg i. P., Jakobshagen, Kallies, Labes, Massow, Naugard,Nörenberg, Pyritz, Regenwalde, S. und Treptow a. R. Vgl.Petrich, Stargarder Skizzenbuch (Starg. 1876). -

2) (Stargardt, Preußisch-S.) Kreisstadt im preuß.Regierungsbezirk Danzig, an der Ferse und der LinieSchneidemühl-Dirschau der Preußischen Staatsbahn, hateine evangelische und eine kath. Kirche, eine Synagoge, einGymnasium, eine Präparandenanstalt, ein Amtsgericht, einHauptsteueramt, Eisengießerei, Kupferschmiederei,Schnupftabaks-, Möbel-, Spiritus- und Essigfabrikation, eineHolzbearbeitungsanstalt, große Mühlen, Bierbrauerei und(1885) mit der Garnison (2 Eskadrons Husaren Nr. 1) 6634 meistkath. Einwohner. Vgl. Stadie, Geschichte der Stadt S. (Starg.1864). -

3) (S. an der Linde) Stadt im GroßherzogtumMecklenburg-Strelitz, an der Linie Berlin-Stralsund derPreußischen Staatsbahn, hat eine evang. Kirche, einAmtsgericht, ein Domanialamt, Furniertischlerei, Wollspinnerei,Tuchmacherei, 2 Dampfschneidemühlen und (1885) 2200 evang.Einwohner. Dabei auf steiler Höhe die alte Burg S. mitWartturm. Vgl. v. Örtzen, Geschichte der Burg S. (Neubrandenb.1887). Nach S. wurde ehemals auch der Hauptteil desGroßherzogtums Mecklenburg-Strelitz benannt (s. Strelitz,Herzogtum).

Starhemberg (Starchimberg, Storchenberg),österreich., teils fürstliches, teils gräflichesGeschlecht, stammt aus Oberösterreich, erhielt 1643 diereichsgräfliche, 1765 die reichsfürstliche Würde undblüht noch in einer fürstlichen Hauptlinie und einergräflichen Nebenlinie, erstere vertreten durch Camillo,Fürsten von S., Mitglied des österreichischenHerrenhauses, geb. 31. Juli 1835, letztere durch Stephan, Grafenvon S., geb. 25. Juni 1817. Vgl. Schwerdling, Geschichte desuralten, teils fürstlichen, teils gräflichen Hauses S.(Linz 1839). Die namhaftesten Sprößlinge des Geschlechtssind:

1) Ernst Rüdiger, Graf von, geb. 12. Jan. 1638 zu Graz inSteiermark, diente unter Montecuccoli gegen Türken undFranzosen und machte sich besonders als Kommandant von Wien durchdie erfolgreiche Verteidigung der Stadt gegen die Türken vom9. Juli bis 12. Sept. 1683 berühmt. Kaiser Leopold verlieh ihmhierfür den Feldmarschallsstab, die Würde eines Staats-und Konferenzministers und das Recht, den Stephansturm in seinemWappen zu führen. S. folgte dann dem König JohannSobieski als Kommandierender der Infanterie nach Ungarn, ward aber1686 bei Ofen so schwer verwundet, daß er sein Kommandoniederlegen mußte, und lebte fortan als Präsident desHofkriegsrats (seit 1691) zu Wien, vorzugsweise mit derOrganisation des österreichischen Heers beschäftigt. Erstarb 4. Juni 1701. Sein Leben beschrieb Graf Thürheim (Wien1882).

2) Guido, Graf von, geb. 1657, kämpfte während derBelagerung Wiens 1683 mit Auszeichnung als Adjutant des vorigen,seines Vetters, folgte nach dem Entsatz Wiens dem Heer nach Ungarnund that sich auch dort vielfach, unter anderm 1686 dei derBelagerung von Ofen, 1687 bei Mohács und bei derErstürmung Belgrads (6. Sept. 1688) sowie in den Schlachtenbei Slankamen (19. Aug. 1691) und Zenta (11. Sept. 1697), hervor.Nach dem Ausbruch

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Staring - Stärke.

des spanischen Erbfolgekriegs ging er mit dem Prinzen Eugen nachItalien, führte hier 1703 an dessen Stelle den Oberbefehl undwußte die versuchte Vereinigung der Franzosen und Bayern inTirol zu verhindern. 1708 übernahm er als Feldmarschall dasKommando der in Spanien kämpfenden österreichischen Armeeund führte trotz der geringen ihm zu Gebote stehendenStreitkräfte den kleinen Krieg glücklich. 1710 zog ernach den Siegen bei Almenara und Saragossa in Madrid ein, ward aberdurch Mangel und die Teilnahmlosigkeit des spanischen Volkes an derSache Karls bald zum Rückzug nach Barcelona genötigt. AlsKarl nach Josephs Tod in die österreichischen Erblandezurückgekehrt war, blieb S. als Vizekönig in Barcelonazurück, konnte sich aber trotz seiner genialen Taktik undseines Mutes, der ihm den spanischen Beinamen el gran capitanverschaffte, aus Mangel an Unterstützung daselbst nicht haltenund ließ sich infolge des Neutralitätstraktats vom 14.Mai 1713 mit den Resten seiner Truppen auf englischen Schiffen nachGenua übersetzen. Er lebte seitdem in Wien. Während desTürkenkriegs von 1716 bis 1718 übernahm er in Abwesenheitdes Prinzen Eugen das Präsidium des Hofkriegsrats. Er starb 7.März 1737 als Gouverneur von Slawonien. Sein Leben beschriebArneth (Wien 1853).

Staring, Antony Winand Christiaan, holländ. Dichter,geb. 24. Jan. 1767 zu Gendringen, studierte die Rechte in Harderwykund Göttingen und wohnte seitdem auf seinem LandgutWildenborch bei Zütphen, wo er 18. Aug. 1840 starb. S. hat nureinen Band Novellen und vier kleine Bände Gedichte geschrieben(hrsg. von Nik. Beets, 4. Aufl. 1883), welche erst nach seinem Todnach Verdienst geschätzt wurden und sich durchUrsprünglichkeit, Kernhaftigkeit und einen gesunden Humorauszeichnen.

Stariza, Kreisstadt im russ. Gouvernement Twer, an derWolga, die hier den Fluß S. aufnimmt, und an der EisenbahnOstaschkow-Rshew, mit (1885) 4709 Einw., welche starkenGetreidehandel auf der Wolga und den Kanälen nach Petersburgtreiben,

Stark (Starck), 1) Johann Friedrich, luther. asketischerSchriftsteller, geb. 10. Okt. 1680 zu Hildesheim, wirkte alsPrediger nacheinander in Sachsenhausen und Frankfurt a. M., wo er17. Juli 1756 als Konsistorialrat starb. Außer vielengeistlichen Liedern schrieb er einige bis auf den heutigen Tagvielgebrauchte Gebetbücher, so namentlich: "TäglichesHandbuch" (Frankf. 1727).

2) Johann August, Freiherr von, bekannt als Kryptokatholik, geb.29. Okt. 1741 zu Schwerin, war zuerst Lehrer in Petersburg,besuchte 1763 England und ward 1765 in Paris Interpret dermorgenländischen Handschriften an der königlichenBibliothek und, heimgekehrt, Konrektor in Wismar. Nach einerzweiten Reise nach Petersburg übernahm er 1769 eine Professurder morgenländischen Sprachen zu Königsberg und wurdehier 1770 Hofprediger, 1772 ordentlicher Professor der Theologieund 1776 Oberhofprediger, ging 1777 als Professor an das Gymnasiumnach Mitau und 1781 als Oberhofprediger und Konsistorialrat nachDarmstadt. 1786 beschuldigten ihn Biester und Nicolaiöffentlich, daß er Kryptokatholik, Priester und Jesuitsei. S. vermochte sich in der Schrift "ÜberKryptokatholizismus, Proselytenmacherei, Jesuitismus, geheimeGesellschaften etc." (Frankf. 1787, 2 Bde.; Nachtrag 1788) nichtvollständig zu rechtfertigen, und sein anonymes Buch "TheodulsGastmahl, oder über die Vereinigung der verschiedenenchristlichen Religionssocietäten" (das. 1809, 7. Aufl. 1828)gab jenem Verdacht nur neue Nahrung. Gleichwohl ward er vomGroßherzog von Hessen 1811 in den Freiherrenstand erhoben; erstarb 3. März 1816. Nach seinem Tod soll man in seinem Hausein zum Messehalten eingerichtetes Zimmer gefunden haben, und eswird behauptet, daß er schon 1766 in Paris förmlich zurkatholischen Kirche übergetreten sei.

3) Karl Bernhard, Archäolog, geb. 2. Okt. 1824 zu Jena,Sohn des als Professor der Pathologie bekannten Geheimen Hofrats S.(gest. 1845), studierte in seiner Vaterstadt und in LeipzigPhilologie, wandte sich dann vorzugsweise der Archäologie zuund unternahm 1847 eine Reise nach Italien. Seit 1848 in Jena erstals Privatdozent, dann als außerordentlicher Professorthätig, folgte er 1855 einem Ruf als Professor derArchäologie nach Heidelberg, wo er 12. Okt. 1878 starb. Erschrieb: "Kunst und Schule" (Jena 1848); "Forschungen zurGeschichte des hellenistischen Orients: Gaza und diephilistäische Küste" (das. 1852); "ArchäologischeStudien" (Wetzl. 1852) und als Ergebnis einer Reise durchFrankreich und Belgien "Städteleben, Kunst und Altertum inFrankreich" (Jena 1855); "Niobe und die Niobiden" (Leipz.1863);"Gigantomachie auf antiken Reliefs und der Tempel des Jupitertonans in Rom" (Heidelb. 1869); "Handbuch der Archäologie derKunst" (Leipz. 1878, Bd. 1, die Systematik der Archäologie undeine Geschichte der archäologischen Studien enthaltend);kleinere Schriften über Creuzer, Winckelmann, das HeidelbergerSchloß u. a. Auch bearbeitete er die zweite Auflage desdritten Teils von Hermanns "Lehrbuch der griechischenAntiquitäten" (Privataltertümer, Leipz. 1870). Eine neueReise nach dem griechischen Orient gab Stoff zu einer Reihe vonBerichten, die er später in dem Werk "Nach dem griechischenOrient" (Heidelb. 1874) verarbeitete. Vgl. W. Frommel, Karl Bernh.Stark (Berl. 1880).

4) Ludwig, Musikpädagog, geb. 19. Juni 1831 zuMünchen, studierte daselbst Philologie, widmete sich jedochdann unter Ignaz Lachners Beistand der Musik und konnte bald mitErfolg als Komponist von Ouvertüren, Zwischenaktsmusiken etc.am Hoftheater debütieren. Die Bekanntschaft mit Siegm. Lebert(s. d.) führte S. an die von jenem gegründete StuttgarterMusikschule als Lehrer der Theorie und Geschichte der Musik; alssolcher erhielt er 1868 den Professortitel, 1873 den Doktorgrad vonder Universität Tübingen sowie andre Auszeichnungen. Erstarb 22. März 1884 in Stuttgart. Von Starks mit Lebertgemeinschaftlich herausgegebenen Unterrichtswerken ist außerder berühmt gewordenen "Klavierschule" (s. Lebert) noch die"Deutsche Liederschule" zu erwähnen. Ferner erschienen von ihmein "instruktives" u. "Solfeggien-Album", eine weitverbreiteteChorsammlung: "Stimmen der Heimat", eine große, mit A. und C.Kißner gemeinschaftlich bearbeitete Sammlung keltischerVolksweisen in verschiedenen Serien ("Burns-Album" etc.), eine"Elementar- und Chorgesangschule" (mit Faißt, Stuttg.1880-83, 2 Tle.), Klaviertransskriptionen etc. und eine Bearbeitungder Klavierwerke Händels, Bachs, Mozarts; endlich auchzahlreiche Originalkompositionen für Gesang, Klavier und andreInstrumente und eine Auswahl seiner Tagebuchblätter unter demTitel: "Kunst und Welt" (Stuttg. 1884).

Stärke (Stärkemehl, Satzmehl, Kraftmehl,Amylum), neben Protoplasma (s. d.) u. Chlorophyll (s. d.) derwichtigste Inhaltsbestandteil der Pflanzenzelle, in welcher sie inForm organisierter Körner (Fig. 1 u. 2) auftritt. Dieselbenbesitzen eine sehr wech-

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Stärke (natürliches Vorkommen, Chemisches;Gewinnung).

selnde Größe und erscheinen kugelig, oval, linsen-oder spindelförmig, mitunter, wie im Milchsaft der Euphorbien,auch stabartig mit angeschwollenen Enden, in andern Fällendurch gegenseitigen Druck polyedrisch. Nicht selten treten mehrereKörner zu einem abgerundeten Ganzen zusammen (zusammengesetzteStärkekörner). Im Wasser liegende Stärkekörnerlassen eine deutliche Schichtung (Fig. 1a) erkennen, welche dadurchhervorgerufen wird, daß um eine innere, weniger dichtePartie, den sogen. Kern, Schichten von ungleicher Lichtbrechungschalenartig gelagert sind; der Kern liegt nur bei kugeligenKörnern genau im Mittelpunkt, meist ist er exzentrisch, unddie ihn umgebenden Schichten haben dem entsprechend ungleicheDicke. Die Schichtung wird durch verschiedenen Wassergehalt undentsprechend verschiedene Lichtbrechung der Schichten verursacht,weshalb auch trockne oder in absolutem Alkohol liegende Körnerungeschichtet erscheinen. In polarisiertem Licht zeigen alleStärkekörner ein helles, vierarmiges Kreuz, dessenMittelpunkt mit dem Schichtungszentrum zusammenfällt, undverhalten sich demnach so, als wenn sie aus einachsigenKristallnadeln zusammengesetzt wären. Mit Jodlösungfärben sich je nach Konzentration derselben dieStärkekörner mit wenigen Ausnahmen indigoblau bisschwarz, eine Reaktion, durch welche sich auch sehr geringeStärkemengen in Gewebeteilen nachweisen lassen. In kaltemWasser sind die Körner unlöslich, quellen aber in warmemWasser auf und lösen sich zuletzt beim Kochen auf. NachEinwirkung von Speichel oder von verdünnten Säuren bleibtein substanzärmeres Stärkeskelett zurück, das sichmit Jod nicht mehr blau, sondern violett oder gelb färbt, sodaß die Annahme zweier verschiedener Substanzen (vonNägeli als Granulose und Cellulose bezeichnet) naheliegt;jedoch scheint die Annahme einer unter diesen Umständeneintretenden Umwandlung der S. in Amylodextrin wahrscheinlicher.Die S. tritt in den verschiedenartigsten Geweben aller Pflanzen mitAusnahme der Pilze und einiger Algen (Diatomeen und Florideen) auf;bei letztern wird sie jedoch durch eine ähnliche Substanz(Florideenstärke) vertreten, welche sich mit Jod gelb oderbraun färbt und direkt aus dem Zellplasma hervorgeht. Auch imZellinhalt von Euglena kommen stärkeähnliche, mit Jodjedoch sich nicht färbende Körner (Paramylon) vor.Endlich tritt in den Epidermiszellen einiger höherer Pflanzeneine mit Jod sich blau oder rötlich färbende Substanz ingelöster Form (lösliche S.) auf. In allen übrigenFällen ist das Auftreten der S. in der beschriebenenKörnerform die Regel. Sehr reich an S. sind die alsStoffmagazine dienenden Gewebe der Samen, Knollen, Zwiebeln undRhizome sowie die Markstrahlen und das Holzparenchym imHolzkörper der Bäume. Diese Reservestärkeunterscheidet sich durch ihre Großkörnigkeit von derfeinkörnigen, im assimilierenden Gewebe auftretenden S. (s.Ernährung der Pflanzen). Die Bildung der S. erfolgt entwederinnerhalb der Chlorophyllkörner und andrerFarbstoffkörper, oder sie entsteht aus farblosenPlasmakörnern, den Leukoplasten oder Stärkebildnern. Dieletztern treten besonders in solchen chlorophyllfreien Geweben auf,in welchen die Assimilationsprodukte in Reservestärkeübergeführt werden, wie in vielen stärkemehlhaltigenKnollen; in diesen werden die kleinen Stärkekörner vonden Leukoplasten fast ganz eingehüllt, während letztereden großen, exzentrisch gebauten Stärkekörnern nureinseitig aufsitzen. Bei vielen Chlorophyllalgen, z. B. beiSpirogyra, treten die Stärkemehlkörner an besondernBildungsherden im Umkreis von plasmatischen Kernen (Pyrenoiden)auf. Das Wachstum der anfangs ganz winzigen Stärkekörnererfolgt durch Einlagerung neuer Stärkemoleküle zwischendie schon vorhandenen (Intussuszeption), während diezusammengesetzten Stärkekörner sich durchnachträgliche Verschmelzung und Umlagerung mit neuen Schichtenbilden. Die Auflösung der S. im Innern der Pflanzenzelle kommtvorzugsweise durch Einwirkung von Fermenten zu stande, welche derDiastase des keimenden Getreidekorns ähnlich sind. Im Lebender Pflanze liefert die S. das Material für den Aufbau derZellwand. - Auch in chemischer Beziehung steht das Stärkemehl(C6H10O5) in naher Verwandtschaft zu andern Kohlehydraten, wie derCellulose, den Zuckerarten, dem Dextrin u. a. Die Umwandlung inDextrin und Zucker erfolgt besonders leicht durch Behandlung der S.mit verdünnten Säuren, Diastase, Speichel, Hefe undandern Fermenten. Bei 160° geht die S. in Dextrin über,mit konzentrierter Salpetersäure bildet sie explosivesNitroamylum (Xyloidin), mit verdünnter Salpetersäuregekocht, Oxalsäure. Beim Erhitzen mit Wasser quillt die S. jenach der Abstammung bei 47-57°, die Schichten platzen, und bei55-87° (Kartoffelstärke bei 62,5°, Weizenstärkebei 67,5°) entsteht Kleister, welcher je nach derStärkesorte verschiedenes Steifungsvermögen besitzt(Maisstärkekleister größeres alsWeizenstärkekleister, dieser größeres alsKartoffelstärkekleister) und sich mehr oder weniger leichtunter Säuerung zersetzt.

Man gewinnt S. aus zahlreichen, sehr verschiedenen Pflanzen, vondenen Weizen, Kartoffeln, Reis (Bruchreis aus denReisschälfabriken) und Mais befonders wichtig sind. WichtigeObjekte des Handels sind außerdem: Sago, Marantastärke(Arrowroot), brasilische Maniokstärke, ostindischeKurkumastärke und Kannastärke, letztere beiden ebenfallsals Arrowroot im Handel. Zur Darstellung der Kartoffelstärkewerden die Kartoffeln, welche etwa 75 Proz. Wasser, 21 Proz. S. und4 Proz. andre Substanzen enthalten, auf schnell rotierendenCylindern, die mit Sägezähnen besetzt sind, unterZufluß von Wasser möglichst fein zerrieben, worauf manden Brei, in welchem die Zellen möglichst vollständigzerrissen, die Stärkekörner also bloßgelegt seinsollen, aus einem Metallsieb, auf welchem ein Paar Bürstenlangsam rotieren, unter Zufluß von Wasser auswäscht. Beigrößerm Betrieb benutzt man kontinuierlich wirkendeApparate, bei denen der Brei durch eine Kette allmählichüber ein langes, geneigt liegendes Sieb transportiert unddabei ausgewaschen und das

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Stärke (Gewinnung aus Kartoffeln, Weizen, Reis, Mais).

auf den schon fast erschöpften Brei fließende Wasser,welches also nur sehr wenig Stärkemehl aufnimmt, auch noch auffrischen Brei geleitet wird. Der ausgewaschene Brei (Pülpe)enthält 80-95 Proz. Wasser, in der Trockensubstanz aber nochetwa 60 Proz. S. und dient als Viehfutter, auch zurStärkezucker-, Branntwein- und Papierbereitung; dasWaschwasser hat man zum Berieseln der Wiesen benutzt, doch gelanges auch, die stickstoffhaltigen Bestandteile desKartoffelfruchtwassers für die Zwecke der Verfütterung zuverwerten. Da die Pülpe noch sehr viel S. enthält, sozerreibt man sie wohl zwischen Walzen, um alle Zellen zuöffnen, und wäscht sie noch einmal aus. Nach einer andernMethode schneidet man die Kartoffeln in Scheiben, befreit sie durchMaceration in Wasser von ihrem Saft und schichtet sie mitReisigholz oder Horden zu Haufen, in welchen sie bei einerTemperatur von 30-40° in etwa acht Tagen vollständigverrotten und in eine lockere, breiartige Masse verwandelt werden,aus welcher die S. leicht ausgewaschen werden kann.

Das von den Sieben abfließende Wasser enthält dieSaftbestandteile der Kartoffeln gelöst und S. und feineFasern, die durch das Sieb gegangen sind, suspendiert. Manrührt es in Bottichen auf, läßt es kurze Zeitstehen, damit Sand und kleine Steinchen zu Boden fallenkönnen, zieht es von diesen ab, läßt es durch einfeines Sieb fließen, um gröbere Fasernzurückzuhalten, und bringt es dann in einen Bottich, inwelchem sich die S. und auf derselben die Faser ablagert. Die obereSchicht des Bodensatzes wird deshalb nach dem Ablassen des Wassersentfernt und als Schlammstärke direkt verwertet oder weitergereinigt, indem man sie auf einem Schüttelsieb aus feinerSeidengaze, durch deren Maschen die S., aber nicht die Fasernhindurchgehen, mit viel Wasser auswäscht. Die Hauptmasse derS. wird im Bottich wiederholt mit reinem Wasser angerührt undnach jedesmaligem Absetzen von der obern unreinen S. befreit. Mankann auch die rohe S. mit Wasser durch eine sehr schwach geneigteRinne fließen lassen, in deren oberm Teil sich die schwerereine S. ablagert, während die leichtern Fasern von dem Wasserweiter fortgeführt werden. Sehr häufig benutzt man auchinnen mit Barchent ausgekleidete Zentrifugalmaschinen, in welchensich die schwere S. zunächst an der senkrechten Wand derschnell rotierenden Siebtrommel ablagert, während die leichteFaser noch im Wasser suspendiert bleibt. Das Wasser aber entweichtdurch die Siebwand, und man kann schließlich die S. aus derZentrifugalmaschine in festen Blöcken herausheben, dereninnere Schicht die Faser bildet. Die feuchte (grüne) S.,welche etwa 33-45 Proz. Wasser enthält, wird ohne weiteres aufDextrin und Traubenzucker verarbeitet, für alle andern Zweckeaber auf Filterpressen oder auf Platten aus gebranntem Gips, diebegierig Wasser einsaugen, auch unter Anwendung der Luftpumpeentwässert und bei einer Temperatur unter 60° getrocknet.Man bringt sie in Brocken oder, zwischen Walzen zerdrückt undgesiebt, als Mehl in den Handel. Bisweilen wird die feuchte S. mitetwas Kleister angeknetet und durch eine durchlöcherte eisernePlatte getrieben, worauf man die erhaltenen Stengel auf Hordentrocknet. Um einen gelblichen Ton der S. zu verdecken, setzt manihr vor dem letzten Waschen etwas Ultramarin zu.

Weizenstärke wird aus weißem, dünnhülsigem,mehligem Weizen dargestellt. Derselbe enthält etwa 58-64 Proz.S., außerdem namentlich etwa 10 Proz. Kleber und 3-4 Proz.Zellstoff, welcher hauptsächlich die Hülsen des Kornsbildet. Die Eigenschaften des Klebers bedingen die Abweichungen derWeizenstärkefabrikation von der Gewinnung der S. ausKartoffeln. Nach dem Halleschen oder Sauerverfahren weicht man denWeizen in Wasser, zerquetscht ihn zwischen Walzen undüberläßt ihn, mit Wasser übergossen, derGärung, die durch Sauerwasser von einer frühern Operationeingeleitet wird und namentlich Essig- und Milchsäure liefert,in welcher sich der Kleber löst oder wenigstens seinezähe Beschaffenheit so weit verliert, daß man nach 10-20Tagen in einer siebartig durchlöcherten Waschtrommel die S.abscheiden kann. Das aus der Trommel abfließende Wasser setztin einem Bottich zunächst S., dann eine innige Mischung von S.mit Kleber und Hülsenteilchen (Schlichte, Schlammstärke),zuletzt eine schlammige, vorwiegend aus Kleber bestehende Masse ab.Diese Rohstärke wird ähnlich wie die Kartoffelstärkegereinigt und dann getrocknet, wobei sie zu Pulver zerfälltoder, wenn sie noch geringe Mengen Kleber enthält, die sogen.Strahlenstärke liefert, die vom Publikum irrtümlichfür besonders rein gehalten wird. - Nach dem ElsässerVerfahren wird der gequellte Weizen durch aufrechte Mühlsteineunter starkem Wasserzufluß zerquetscht und sofortausgewaschen. Das abfließende Wasser enthält neben S.viel Kleber und Hülsenteilchen und wird entweder derGärung überlassen und dann wie beim vorigen Verfahrenweiter verarbeitet, oder direkt in Zentrifugalmaschinen gebracht,wo viel Kleber abgeschieden und eine Rohstärke erhalten wird,die man durch Gärung etc. weiter reinigt. Die bei diesemVerfahren erhaltenen Rückstände besitzenbeträchtlich höhern landwirtschaftlichen Wert als die beidem Halleschen Verfahren entstehenden; will man aber den Klebernoch vorteilhafter verwerten, so macht man aus Weizenmehl einenfesten, zähen Teig und bearbeitet diesen nach etwa einerStunde in Stücken von 1kg in einem rinnenförmigen Trogunter Zufluß von Wasser mit einer leicht kannelierten Walze.Hierbei wird die S. aus dem Kleber ausgewaschen und fließtmit dem Wasser ab, während der Kleber als zähe,fadenziehende Masse zurückbleibt (vgl. Kleber).

Reis enthält 70-75 Proz. S. neben 7-9 Proz.unlöslichen, eiweißartigen Stoffen, welche aber durchEinweichen des Reises in ganz schwacher Natronlaugegroßenteils gelöst werden. Man zerreibt den Reis alsdannauf einer Mühle unter beständigem Zufluß schwacherLauge, behandelt den Brei in einem Bottich anhaltend mit Lauge undWasser, läßt kurze Zeit absetzen, damit sichgröbere Teile zu Boden senken, und zieht das Wasser, inwelchem reine S. suspendiert ist, ab. Aus dem Bodensatz wird die S.in einem rotierenden Siebcylinder durch Wasser ausgewaschen, woraufman sie durch Behandeln mit Lauge und Abschlämmen vom Kleberbefreit. Die zuerst erhaltene reinere S. läßt manabsetzen, entfernt die obere unreine Schicht, behandelt dasübrige auf der Zentrifugalmaschine und trocknet die reineS.

Mais weicht man vier- bis fünfmal je 24 Stunden in Wasservon 35°, wäscht ihn und läßt ihn dann durchzwei Mahlgänge gehen. Das Mehl fällt in eine mit Wassergefüllte Kufe mit Flügelrührer und gelangt ausdieser auf Seidengewebe, welches nur die grobe Kleiezurückhält. Die mit der S. beladenen, durch das Gewebehindurchgegangenen Wasser gelangen in Tröge, dann durch zweifeine Gewebe und endlich auf wenig geneigte, 80-100 m langeSchiefertafeln, auf welchen sich die S. ablagert. Dasabfließende, nur noch Spuren von S. enthaltende Wasserüber-

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Stärkeglanz - Starnberg.

läßt man der Ruhe und preßt den Absatz zuKuchen, um ihn als Viehfutter zu verwenden. Die Behandlung mitschwacher Natronlauge von 2-3° B. ist im nördlichenFrankreich und in England gebräuchlich. Stärkere Laugenwürden einen Verlust an Eiweißstoffen verursachen. Dazudem bei Anwendung von Natron sich ein übler Geruch bei derGärung entwickelt und dieses Verfahren auch fast keineVorzüge bietet, so ist die Behandlung mit reinem Wasservorzuziehen. Die S. des Maises ist unter dem Namen Maizena imHandel. Auch aus Roßkastanien wird S. gewonnen, doch istdieselbe nur für technische Zwecke verwendbar, da einderselben anhaftender Bitterstoff durch Behandeln mit kohlensauremNatron kaum vollständig entfernt werden kann. Die Ausbeutebeträgt 19-20 Proz. Die S. des Handels enthält etwa 80-84Proz. reine S., 14-18 Proz. Wasser und in den geringern Sorten bis5 Proz. Kleber, 2,5 Faser und 1,3 Proz. Asche, während derAschengehalt in den besten Sorten nur 0,01 Proz. beträgt.

S. dient allgemein zur Appretur, zur Darstellung von Schlichte,zum Steifen der Wäsche, zum Beizen von Baumwolle, zurFärbung mit Anilinfarben, zum Leimen des Papiers, zumVerdicken der Farben in der Zeugdruckerei, zu Kleister, zurDarstellung von Dextrin (Stärkegummi) und Traubenzucker(Stärkezucker, Stärkesirup), Nudeln, künstlichemSago, überhaupt als Nahrungsmittel (Kartoffelmehl, Kraftmehletc.). Die S. ist auch der wesentliche Bestandteil im Getreide undin den Kartoffeln, aus welcher sich bei der Bierbrauerei undBranntweinbrennerei, nachdem sie in Zucker und Dextrinübergeführt worden, der Alkohol bildet. S. war bereitsden Alten bekannt, nach Dioskorides wurde sie amylon genannt, weilsie nicht wie andre mehlartige Stoffe auf Mühlen gewonnenwird. Nach Plinius wurde sie zuerst auf Chios aus Weizenmehldargestellt. Über die Fortschritte der Fabrikation imMittelalter weiß man wenig, nur so viel ist sicher, daßdie Holländer im 16. Jahrh. S. im großen Maßstabdarstellten und bedeutende Mengen exportierten. DieStärkeindustrie entwickelte sich vorwiegend alslandwirtschaftliches Gewerbe; mit einfachsten Vorrichtungen gewannman zwar nur eine mäßige Ausbeute, doch genügtedieselbe bei der Möglichkeit vorteilhafter Verwertung derAbfälle, bis die Fortschritte in den eigentlichenStärkefabriken auch die Landwirtschaft zwangen, aufhöhere Ausbeute bedacht zu sein. Diese wurde namentlich durchVervollkommnung der Maschinen und Apparate erreicht, um welche sichFesca durch Einführung eigentümlich konstruierterZentrifugalmaschinen wesentliche Verdienste erwarb. In neuerer Zeithat die Reisstärke der Kartoffel- und Weizenstärkenamentlich für Zwecke der Appretur erfolgreich Konkurrenzgemacht. Vgl. Nägeli, Die Stärkekörner (Zürich1858); Derselbe, Beiträge zur nähern Kenntnis derStärkegruppe (Leipz. 1874); Schneider, Rationelle Fabrikationder Kartoffelstärke (Berl. 1870); Wagner, Handbuch derStärkefabrikation (2. Aufl., Weim. 1884); Derselbe, DieStärkefabrikation (2. Ausg., Braunschw. 1886); Rehwald,Stärkefabrikation (2. Aufl., Wien 1885).

Stärkeglanz, s. Glanzstärke.

Stärkegummi, s. Dextrin.

Starke Mann, der, s. Eckenberg.

Stärkemehl, s. Stärke.

Stärkemesser, s. Fäkulometer.

Stärken, s. Appretur.

Starkenbach (tschech. Jilemnice), Stadt imnördlichen Böhmen, Station der ÖsterreichischenNordwestbahn, Sitz einer Bezirkshauptmannschaft und einesBezirksgerichts, mit gräflich Harrachschem Schloß,Webschule, bedeutender Leinwand- und Batistmanufaktur, Bierbrauereiund (1880) 3418 Einw.

Starkenburg, Provinz des Großherzogtums Hessen,umfaßt 3019 qkm (54,83 QM.) mit (1885) 402,378 Einw.(darunter 116,974 Katholiken und 9516 Juden), hat Darmstadt zurHauptstadt und sieben Kreise:

Kreise QKilom. QMeilen Einwohner Einw. auf 1 qkm

Bensheim 391 7,10 48756 125

Darmstadt 298 5,41 84020 282

Dieburg 504 9,15 53002 105

Erbach 593 10,77 47540 80

Groß-Gerau 450 8,17 39805 88

Heppenheim 406 7,38 43916 108

Offenbach 377 6,85 85339 225

Stärkende Mittel (tonische Mittel, Tonica,Roborantia), diejenigen Mittel, welche beiSchwächezuständen die Thätigkeit und Ausdauer desganzen Körpers und der einzelnen Organe steigern; entwederdiätetisch-psychische: einfache, nicht erschlaffendeLebensweise, Abhärtung, namentlich der Haut, frühesAufstehen, Waschungen und Bäder, frische Luft, Turnen,Fechten, Schwimmen, Sorge für Gemütsruhe etc., oderarzneiliche, die namentlich bei allgemeiner und örtlicherErschlaffung, Blutmangel, Blutzersetzung, schlechter Ernährungam Platze sind (hier stehen obenan die Eisenmittel, denen sich dieMineralsäuren, China, Ergotin und die bittern Mittelanreihen), oder dynamische, wie die Anwendung der Elektrizitätbei Schwäche und Erkrankungen des Muskel- undNervensystems.

Stärkescheide (Stärkering, Stärkeschicht),in der Pflanzenanatomie eine stärkeführende Zellschicht,welche den Gefäßbündelkreis oder die einzelnenGefäßbündel im Stengel und im Blatt umgibt.

Stärkesirup, s. Traubenzucker.

Stärkerer, s. v. w. Traubenzucker.

Stärkmehl, s. Stärke.

Stärlinge (Icteridae), Familie aus der Ordnung derSperlingsvögel (s. d.).

Starnberg (Starenberg), Dorf im bayr. RegierungsbezirkOberbayern, Bezirksamt München II, am Nordende des danachbenannten Sees und an der Linie München-Peißenberg derBayrischen Staatsbahn, hat eine kath. Kirche, ein königlichesSchloß, ein Amtsgericht, ein Forstamt und (1885) 1745 Einw.Der Starnberger See (auch Würmsee genannt) liegt 584 m ü.M., ist 21 km lang, bis 5 km breit und 245 m tief. SeinAbfluß ist die Würm, welche den See unweit S.verläßt und in die Ammer mündet. Der See ist reichan trefflichen Fischen (Lachse, Welse, Karpfen, Hechte etc.). Seineamphitheatralisch aufsteigenden Ufer sind mit Dörfern,Landhäusern, Schlössern, Kirchen und Gasthäusernbesetzt; im Süden bilden die Alpen (Zugspitze, Benediktenwand,Karwändelgebirge) einen großartigen Hintergrund.Bemerkenswert sind außer dem 1541-85 erbautenBergschloß S.: das königliche Jagdschloß Berg (s.d.), das Schloß Possenhofen (s. d.), in dessen Nähe dieliebliche Insel Wörth liegt, das Schlößchen Leoni,Bad Unterschäftlarn im NO., Bad Petersbrunn am Ausflußder Würm, endlich Schloß Leutstetten am Beginn desromantischen Mühlthals. Der See wird von Dampfschiffenbefahren. Vgl. Horst, Der Starnberger See, eine Wanderung(Münch. 1877); Schab, Die Pfahlbauten im Würmsee (das.1877); Lidl, Wanderungen (Landsb. 1878).

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Starobielsk - Starrsucht.

Starobielsk, Kreisstadt im russ. Gouvernement Charkow, amAidar, mit 4 Kirchen, Progymnasium, Talgsiedereien, Getreidehandelund (1885) 8270 Einw.

Starobradzen, Sekte, s. Raskolniken.

Starodub, Kreisstadt im russ. Gouvernement Tschernigow,mit 15 Kirchen, einer hebräischen Kronschule, vielenGärten, Überresten alter Befestigungen, Handel mitGetreide und Hanf und (1885) 24,388 Einw.; gehört seit 1686 zuRußland.

Staro-Konstantinow, Kreisstadt im russ. GouvernementWolhynien, hat 4 griechisch-russische, 2 kath. Kirchen, 2Synagogen, bedeutenden Getreidehandel nach Odessa undÖsterreich, Ausfuhr von Schweinen nach Polen undPreußen, von Rindern, Pferden und Schafen nachÖsterreich und (1885) 19,025 Einw. Das frühereDominikanerkloster (jetzt Gefängnis und Krankenhaus) dienteehedem als Festung.

Starosten (slaw., "Älteste", Capitanei), in Polenfrüher Edelleute, die eins der königlichen Güter(Starosteien) zum Lehen und damit zumeist auch die Gerichtsbarkeitin einem gewissen Umfang erhalten hatten (Starosteigerichte). BeimAbleben des derzeitigen Inhabers durften diese Starosteien nichtwieder eingezogen, sondern mußten an einen andern verliehenwerden. In Sibirien werden die Vorsteher eines Dorfs S. genannt. InBöhmen ist Starosta der Titel der Bürgermeister, auchBezeichnung von Vereinsvorständen.

Starowertzi, Sekte, s. Raskolniken.

Starrkrampf (Tetanus und Trismus), eine Krankheit, welchedarin sich äußert, daß auf geringe Erregungenentweder nur gewisse Muskelgruppen, z. B. die Kaumuskeln beimTrismus (Mundsperre), die Nackenmuskeln beim Opisthotonus(Genickkrampf), oder daß die gesamte Muskulatur desKörpers in den Zustand stärkster Zusammenziehunggerät. Später reicht der geringste Anlaß, eineErschütterung, das Klappen einer Thür hin, um einen S.auszulösen. Fast immer wird zuerst der Kopf durch starreKontraktionen der Rückenmuskeln fixiert undrückwärts gezogen. Vom Nacken aus verbreitet sich derKrampf über die Rückenmuskeln, der ganze Körper wirddadurch bogenförmig rückwärts gekrümmt. Aberauch die Bauch- und Brustmuskeln beteiligen sich an dem S., deshalbist der Unterleib eingezogen und bretthart. Die kontrahiertenMuskeln bleiben während des ganzen Verlaufs der Krankheitgespannt; sie sind dabei hart wie Stein und der Sitz furchtbarerSchmerzen, welche denjenigen beim Wadenkrampf ähnlich sind.Die Krankheit ist um so entsetzlicher, als der Kranke meist bis zumTode das volle Bewußtsein seiner furchtbaren Leidenbehält. Er leidet Hunger und Durst, weil er nicht schlingenkann; der Schlaf fehlt, die Atmung ist erschwert, und diegestörte Respiration und die Erstickungszufälle sind esauch, welche den Kranken meist schon nach wenigen Tagenhinwegraffen. Der S. entsteht durch Vergiftungen, von welchendiejenige mit Strychnin am besten erforscht ist. NeuereUntersuchungen machen es wahrscheinlich, daß die alteEinteilung in rheumatischen und traumatischen S. hinfälligsei, daß vielmehr alle Fälle von kleinen Wundenausgehen, in welchen eine Giftbildung (Briegers Tetanin undTetanotoxin) durch Bakterien vor sich geht. Da die Wunden meistensklein und unbedeutend sind, so hat man sie früher nichtbeachtet und den S. als eine Erkältungskrankheit gedeutet;für zahlreiche Fälle von S. nach Fußverletzungen,nach dem Einreißen von Splittern unter einen Fingernagel,für den S. der Neugebornen, welcher von der Nabelwundeausgeht, sind indessen Bakterien (Tetanusbacillen) nachgewiesenworden, welche auch in Nährflüssigkeiten ein Gifthervorbringen, welches Tetanus bei Tieren erzeugt. Diese Bacillenkommen im Erdboden vor, woraus sich die Gefährlichkeit kleinerFußwunden namentlich bei barfuß gehenden Personenerklärt. Die Behandlung gewährt nur Aussicht, wennfrühzeitig die Wunde ausgeschnitten oder das Glied amputiertwird; gegen den S. selbst wendet man Morphium an, um das Leiden zulindern.

S. kommt auch bei den Haustieren und besonders häufig beiPferden vor. Gewöhnlich entwickelt sich das Leiden schnell,aber ohne Temperaturerhöhung. Die Pferde gehen steif, mitgestrecktem Kopf; die Muskeln sind gespannt, und oft bekunden dieTiere eine krankhafte Reizbarkeit. Die Schneidezähne sind mehroder weniger fest aufeinander geklemmt, so daß die Tiere wohlnoch Wasser trinken, aber keine festen Nahrungsmittel verzehrenkönnen. Nach diesem Symptom wird der S. auch Maulsperre(Trismus) genannt. Mehr als die Hälfte der am S. erkranktenTiere geht zu Grunde. Bei günstigem Verlauf lassen dieSymptome am 10.-15. Krankheitstag allmählich nach; aber dieRekonvaleszenz erstreckt sich auf 4-6 Wochen. Mit Arzneimittelnkann beim S. nicht viel geholfen werden. Mehr empfiehlt sichzweckmäßige Pflege und Vermeidung jeder Aufregung derkranken Tiere.

Starrsucht (Katalepsie), eine eigentümlicheKrankheit der Bewegungsnerven, bez. des Rückenmarks, welche ineinzelnen Anfällen auftritt. Während eines kataleptischenAnfalls verharren die Glieder in der Stellung, in welche sie derKranke vor dem Anfall durch seinen Willen gebracht hat, oder in derStellung, in welche sie während des Anfalls durch fremde Handgebracht werden. Sie sinken weder durch ihre eigne Schwere herab,noch können sie durch den Willen des Kranken in eine andreStellung gebracht werden. Es ist wahrscheinlich, daß bei derS. alle Bewegungsnerven sich in einem Zustand mittlerer Erregungbefinden, und daß infolgedessen alle Muskeln bis zu dem Gradkontrahiert sind, daß sie der Schwere der Glieder Widerstandzu leisten vermögen. Kataleptische Erscheinungen treten beigewissen Geisteskranken, bei Hysterischen und neben manchenKrampfformen, sehr selten dagegen selbständig bei sonstgesunden Individuen auf. Gelegenheitsursachen zum Ausbruch der S.sind namentlich starke Gemütsbewegungen oder auch diejenigenNervenreizungen, welche den magnetischen Schlaf (s. Hypnotismus)hervorbringen. Als Vorboten der Anfälle von S. sindKopfschmerz, Schwindel, Ohrenklingen, unruhiger Schlaf, großeReizbarkeit etc. zu nennen. Der Anfall selbst tritt plötzlichein; die Kranken bleiben unbeweglich wie eine Statue in derStellung oder Lage, in welcher sie sich gerade befinden, wenn sieder Anfall überrascht. Entweder ist während des Anfallsdas Bewußtsein und damit die Empfindlichkeit gegenäußere Reize vollständig aufgehoben, oder dasBewußtsein ist vorhanden, äußere Reize werdenempfunden, aber die Kranken sind nicht im stande, durch Worte oderBewegungen Zeichen ihres Bewußtseins zu geben. DieAtmungsbewegungen, der Herz- und Pulsschlag sind zuweilen soschwach, daß man sie kaum wahrnimmt. Ein solcher Anfalldauert meist nur wenige Minuten, selten mehrere Stunden oder Tage.Die Kranken gähnen und seufzen, wenn der Anfallvorübergeht, und machen ganz den Eindruck eines Menschen, deraus einem tiefen Schlaf erwacht. Geht der Anfall schnellvorüber, und ist während des-

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Stars and stripes - Staßfurt.

selben das Bewußtsein erloschen gewesen, so wissen dieKranken oft gar nicht, daß etwas Ungewöhnliches mitihnen vorgegangen ist. In andern Fällen bleiben die Krankennach dem Anfall für kurze Zeit angegriffen, schwindlig undklagen über Eingenommenheit des Kopfes. Oft tritt nur einAnfall ein, selten folgen sich in kurzen oder langenZwischenräumen mehrere Anfälle. Die S. geht fast immernach längerm oder kürzerm Bestand in Genesung über.Dauert der Anfall länger an, so kann es nötig werden, demKranken künstlich (durch die Schlundsonde) Nahrungeinzuführen. Vgl. Kataplexie.

Stars and stripes (engl., spr. stars änd streips),in Nordamerika beliebte Bezeichnung für das "Sternenbanner"der Vereinigten Staaten von Nordamerika.

Starstein, s. Holz, fossiles.

Start (engl.), der Anfang des Wettrennens, geschieht ausdem Schritt, wenn er gut oder glatt ist. Geschieht er aus demGalopp, so nennt man ihn fliegend. Der Starter gibt durch Senkeneiner Fahne das Zeichen zum Ablaufen.

Stary (slaw.), in zusammengesetzten Ortsnamen oftvorkommend, bedeutet "alt".

Staryj-Bychow (Bychow), Kreisstadt im russ. GouvernementMohilew, am Dnjepr, zur Zeit der Polenherrschaft eine derstärksten Festungen Weißrußlands, seit 1772 zuRußland gehörig, jetzt ein armer Ort mit (1885) 6074Einw.

Staryj-Oskol, Kreisstadt im russ. Gouvernement Kursk, hat6 griechisch-russ. Kirchen, ein weibliches Progymnasium, Fabrikenfür Seife, Leder, Lichte und Tabak, Getreidehandel und (1885)10,960 Einw.

Stas, Jean Servais, Chemiker, geb. 20. Sept. 1813 zuLöwen, war längere Zeit Professor an derMilitärschule in Brüssel und wurde 1841 Mitglied derbelgischen Akademie. Er lieferte anfänglich Untersuchungenüber organische Verbindungen, wie das Phloridzin, das Acetal,aber schon 1841 mit Dumas eine Arbeit über das Atomgewicht desKohlenstoffs und hat sich seitdem große Verdienste durchüberaus exakte Atomgewichtsbestimmungen erworben.

Staschow (Stasczow), Stadt im polnisch-russ. GouvernementRadom, Kreis Sandomir, am Czarna, hat Fabrikation von Gewehren,Thonpfeifen und Papier, Strumpfweberei, Wollweberei, Eisen- undKupferhämmer und (1885) 7748 Einw.

Stasimon (griech.), Name der Standlieder des Chors imgriechischen Drama, bei deren Vortrag der Chor meist unbeweglichstehen blieb. Sie traten nur ein, wo die Handlung einen Ruhepunktforderte, und teilten mit dem dem Prolog folgenden Einzugslied(Parodos) das Stück in verschiedene Abschnitte.

Stasis (griech.), Stellung, Stand; auch s. v. w.Blutstockung (s. d.), Vorläufer bei der Entzündung.

Stassart (spr. -ssar), Goswin Joseph Augustin, Baron von,belg. Staatsmann, geb. 2. Sept. 1780 zu Mecheln, studierte dieRechte in Paris, wurde daselbst 1804 Auditeur im französischenStaatsrat, erhielt 1805 eine Intendantur in Tirol und 1807 bei derfranzösischen Armee in Preußen. 1810 ward erPräfekt des Vauclusedepartements und 1811 des derMaasmündungen. Nach der zweiten Restauration lebte er aufseinem Landgut bei Namur, bis ihn die Stadt Namur 1822 in dieniederländische Zweite Kammer sandte, wo er zur Oppositiongehörte. Nach dem Ausbruch der Revolution in Brüssel imSeptember 1830 war er unter den Abgeordneten der südlichenProvinzen, welche der Einberufung der Kammer nach dem Haag Folgeleisteten. 1831 begab er sich nach Belgien zurück, wo er inden Kongreß gewählt und Mitglied der provisorischenRegierung sowie dann des Senats wurde. In dieser Stellungbekleidete er sieben Sessionen hindurch das Amt einesPräsidenten, während er von der Regierung 1834 auch zumGouverneur von Brabant ernannt wurde, verlor aber 1838 diese beidenWürden, da er als Großmeister der belgischenFreimaurerei mit dem dieselbe besehdenden Episkopat offen gebrochenhatte. 1840 ward er für kurze Zeit Gesandter zu Turin. 1841legte er seine Würde als Großmeister der belgischenFreimaurerei nieder. Er starb 16. Okt. 1854 in Brüssel. SeineSchriften (Denkschriften, Reden, Kritiken etc., namentlich abertreffliche Fabeln) erschienen gesammelt Brüssel 1854.

Staßfurt, Stadt im preuß. RegierungsbezirkMagdeburg, Kreis Kalbe, an der Bode, Knotenpunkt der LinienS.-Schönebeck, S.-Blumenberg und S.-Löderburg derPreußischen Staatsbahn, 65 m ü. M., hat 2 evangelischeund eine kath. Kirche, ein Amtsgericht, ein bedeutendesSteinsalzbergwerk, große chemische Fabriken, eineZuckerfabrik, Eisengießerei und Dampfkesselfabrikation und(1885) 16,459 meist evang. Einwohner. S. wird zuerst 806 als Orterwähnt, und die dortigen Solbrunnen existierten bereits 1227.Im 16. und 17. Jahrh. befand sich der blühende Salzbetriebhauptsächlich in den Händen des dort seßhaftenAdels, 1796 aber ging der gesamte Besitz an den König vonPreußen über. Unter der Konkurrenz von Dürrenbergmußte der Betrieb nach wenigen Jahren eingestellt werden, undals er 1815 wieder aufgenommen wurde, konnte er doch nur bis 1839erhalten werden. Damals begann man ein Bohrloch, welches 1843 bei256 m Tiefe ein Salzlager antraf, dessen Liegendes bei 325 m nochnicht erreicht wurde. Die Bohrlochsole erwies sich aber wegen hohenGehalts an Kali- und Magnesiasalzen unbrauchbar, und als man 1851mit dem Abteufen zweier Schächte begann, erreichte man infünf Jahren das Salzlager, welches sich in einerMächtigkeit von 160 m mit Kali- und Magnesiasalzen bedeckterwies, die man damals als lästige Zugabe betrachtete und alsAbraumsalze (s. d.) bezeichnete. Spätere Bohrungen ergaben,daß stellenweise über den Abraumsalzen noch einjüngeres Steinsalzlager liegt, welches keineAnhydritschnüre enthält und sehr reines Steinsalzliefert. Die ersten Vorschläge zur Verwertung der Kalisalzeveranlaßte die anhaltische Regierung zum Abteufen zweierSchächte zu Leopoldshall, in unmittelbarer Nähe von S.,und diese kamen 1861 in Betrieb. Ähnliche Unternehmungen, wieDouglashall, Neustaßfurt, entstandenen der Umgebung von S.,und auch Schmidtmannshall bei Aschersleben ist hierher zu rechnen.Die Kalisalzindustrie entwickelte sich seit 1857 und hat eine sogroße Bedeutung gewonnen, daß von S. aus der Weltmarktfür Kalisalze beherrscht wird. Man stellt schwefelsaures Kali,schwefelsaure Kalimagnesia, Chlorkalium, Pottasche, außerdemGlaubersalz, Bittersalz, Kieseritsteine, Chlormagnesium, Brom, Sodaetc. dar. 1887 gab es im Staßfurter Becken 7Kalisalzbergwerke, darunter 2 fiskalische (ein preußischesund ein anhaltisches). Diese förderten 12,940,808 metr. Ztr.Kalisalze (8,402,068 Carnallit 2,375,177 Kainit, 141,850 Kieseritetc.) und 2,019,625 metr. Ztr. Steinsalz. Davon kamen auf dieköniglichen Salzwerke in S. an Carnallit 1,979,816, an Kainit727,093, an Steinsalz 609,851, auf Leopoldshall an Carnallit2,152,723, an Kainit 644,881, an Kieserit 29,303, an Steinsalz480,390 metr. Ztr. Vgl. die Litteratur bei Art. Abraumsalze;außerdem Precht, Die Salzindustrie von S. (3. Aufl.,Staßf.

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Staßfurtit - Statistik.

1889); Pfeiffer, Die Staßfurter Kaliindustrie (Braunschw.1887).

Staßfurtit, s. Boracit.

Stassjulewitsch, Michael Matwejewitsch, russ. Publizist,geb. 9. Sept. 1826, studierte auf der PetersburgerUniversität, bekleidete an derselben 1851 bis 1861 denLehrstuhl der Geschichte und war 1860 bis 1862 Lehrer desverstorbenen Thronfolgers Nikolaus. Er verfaßte einigeMonographien zur altgriechischen und mittelalterlichen Geschichteund eine Geschichte des Mittelalters (russ., Petersb. 1863-65, 3Bde.). Später widmete er sich ganz dem Journalismus, indem er1865 den "Europäischen Boten" ("Westnik Jewropy")begründete, eine Monatsschrift, welche bis jetzt unter denVeröffentlichungen dieser Art in Rußland die ersteStelle einnimmt.

Statarisch (lat.), stehend, verweilend; daher statarischeLektüre, Lektüre, bei der das Einzelne genau erklärtwird (Gegensatz: kursorische Lektüre).

Staten Island (spr. steht'n-eiländ), Insel an derKüste des nordamerikan. Staats New Jersey, an der Einfahrt indie Bai von New York, wird durch einen schmalen Meeresarm (StatenIsland-Sound) vom festen Land getrennt, ist 160 qkm groß undhat (1880) 38,991 Einw. Hauptstadt ist Richmond.

Stater, Name verschiedener Geldstücke des Altertums.Der athenische Goldstater, meist im 5. Jahrh. geprägt, wiegtetwa 8,6 g; der Kyzikener S., etwa 16 g schwer, war ein aus sogen.Elektron (Gold- und Silbermischung) geprägtes Stück; deräginetische S. ist das silberne Didrachmon von 12,3 g. Dieverbreitetsten S. genannten Münzen sind die nach attischemFuß ausgeprägten Goldstücke Philipps und Alexandersvon Makedonien (s. Tafel "Münzen I", Fig. 6).

Stathmograph (griech.), ein von Dato konstruierterApparat zur Kontrolle der Fahrzeiten, Aufenthaltszeiten undFahrgeschwindigkeiten von Eisenbahnzügen, verbunden mit einemKilometerzeiger. Letzterer schlägt bei jedem Kilometerstein ineinen durch ein Uhrwerk fortgezogenen Papierstreifen ein Loch. Aufdiesem über eine Walze gehenden Papierstreifen verzeichnet einBleistift die Fahrgeschwindigkeitskurve, welche auf den Stationenso lange in die Nulllinie fällt, als der Zug steht. Da derStreifen eine gewisse Bewegungsgeschwindigkeit besitzt, so ist ausder Fahrtenkurve ersichtlich, mit welcher Geschwindigkeit der Zugjeden Punkt der Strecke durchfuhr. Vgl. Perambulator.

Statice Tourn. (Limoniennelke, Strandnelke), Gattung ausder Familie der Plumbagineen, Kräuter oder Halbsträuchermit ährigen oder traubigen Blütenständen undhäutigen, einsamigen Schließfrüchten. S. LimoniumL., mit fast lederartigen, verkehrt-eiförmigen,länglichen Wurzelblättern, 30-45 cm hohemBlütenstiel und blauen Blüten, wächst inMitteleuropa an Meeresküsten. Die Wurzel dient inRußland als Kermek zum Gerben, doch stammt die genannteDrogue hauptsächlich von S. coriaria Pall. in Rußland.Auch die Wurzel von S. tatarica L. in Sibirien und der Tatareidient zum Gerben und Färben. Andre Arten aus Süd- undOsteuropa, von den Kanarischen Inseln und aus Mittelasien werdenals Zierpflanzen kultiviert.

Statik (griech.), die Lehre vom Gleichgewicht derKörper, bildet einen Teil der Mechanik (s. d.); manunterscheidet die S. der festen, flüssigen undgasförmigen Körper oder Geostatik, Hydrostatik undAerostatik. Vgl. Poinsot, Elemente der S. (deutsch, Berl. 1887). S.des Landbaues, die Lehre vom Gleichgewicht der Entnahme und Zufuhran Nährstoffen des Bodens. Durch die Agrikulturchemie ist dieLehre von der S. eine außerordentlich durchsichtige gewordenund hat die bisher vagen Begriffe "Reichtum des Bodens", "Kraft","Thätigkeit" in feste Gestalt gebracht, so daß man immerumfassender wiegt und mißt, was dem Grund und Boden durch dieErnten entnommen wird, was ihm der Dünger zurückgibt.Nicht nur im chemischen Laboratorium, auch im großenpraktischen Betrieb der intelligenten Wirtschaften macht man sichtäglich die Errungenschaften der Agrikulturchemie mehr zunutze, wendet die Lehre der S. thätig an. Durch dieumfassenden Düngungsversuche, welche durch dieagrikulturchemischen Versuchsstationen in ganz eminenthervorragender Weise unter Leitung der Halleschen und neuerdingsBreslauer Station veranlaßt wurden, wird alljährlichdiese Lehre mehr und mehr ausgebaut. Durch die WolffschenNährstofftabellen, die sich in jedes tüchtigen LandwirtsHänden befinden (Kalender von Mentzel u. Lengerke und der vonGraf Lippe), ist es ein Leichtes, sich über Aus- und Zufuhrder Nährstoffe sichere Rechnung aufzustellen. Würde nochdas Bedürfnis der Pflanzen nach Stickstoffzufuhr festgestellt,so wäre die Lehre von der S. eine vollkommene; auch diesenSchleier wird die Agrikulturchemie und -Physiologie über kurzoder lang zu heben im stande sein. - In gleichem Sinn spricht manauch von forstlicher S. (vgl. Forstwissenschaft, S. 455).

Station (lat.), Aufenthalts-, Standort; auf Reisen, imPost- und Eisenbahnwesen Ort, wo angehalten wird; daher auch beiWallfahrtsorten Bezeichnung für die durch Kreuze,Bildstöcke, Kapellen etc. bezeichneten Stellen, wo dieProzessionen Halt machen, um zu beten (vgl. Kreuzweg); allgemeiners. v. w. Amt, Stellung.

Stationär (lat.), stillstehend, seinen Standort oderStandpunkt behauptend; auch s. v. w. Stationsbeamter.

Stationers' Hall (engl., spr. stehscheners hahl), inLondon Bezeichnung des Hauses der alten Buchhändlergilde, dievom Staat mit dem Einschreiben (registration) der litterarischenUrheberrechte betraut ist.

Stationsvorsteher, s. Eisenbahnbeamte.

Statiös (lat.), staatmachend, prunkend.

Statisch (griech.), stillstehend; auf Statikbezüglich.

Statisches Moment, s. Hebel, S. 254.

Statist (lat.), jemand, der auf der Bühne eine nur"dastehende", nicht mitspielende Person vorstellt; gewöhnlichgleichbedeutend mit Komparse (s. d.).

Statistik (v. lat. status oder ital. stato, Staat),ursprünglich die beschreibende Darstellung von Staat(Verfassung, Verwaltung) und Bevölkerung nach ihrenbemerkenswerten Seiten. Solche Darstellungen, einem praktischenBedürfnis für militärische und finanzielle Zweckeentsprungen, kamen bereits im Altertum vor. In China, Ägyptenund bei den Juden wurden schon frühzeitigregelmäßige Volkszählungen vorgenommen. Dann hatteRom einen entwickelten Zensus aufzuweisen, während dasMittelalter für eine S. und deren Ausbildung keine Gelegenheitbot. Erst nach dem 15. Jahrh. macht sich wieder das Bedürfnisgeltend, die eigne und die fremde Lage kennen zu lernen, welchem inFrankreich unter Sully durch Schaffung einer Art statistischenBüreaus genügt wurde. Die wissenschaftliche Behandlungder S. nahm ihren Anfang in der Mitte des 17. Jahrh. In Deutschlandentwickelte sich zuerst die beschreibende Schule der S., welchedieselbe in dem oben genannten Sinn auffaßte. AlsSchöpfer derselben gilt H. Conring (1606-81, s. d.,)welcher

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd.

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Statistik (geschichtliche Entwickelung, heutige Richtung).

1660 den üblichen Universitätsvorlesungen eine neue,aus Geographie, Geschichte und Politik abgesonderte Disziplin alsNotitia rerum publicarum hinzufügte, in welcher er dieStaatszustände zusammenhängend darstellte. Achenwall(1719-72), ein fleißiger Sammler, stellt den Begriff genauerfest und führt auch die Bezeichnung S. als Kenntnis derStaatsmerkwürdigkeiten ein. Auf gleichem Boden steht seinSchüler Schlözer (1735-1809), welcher der damaligenHeimlichkeit in Staatssachen gegenüber mit einem gewissenFreimut die politischen Ereignisse zum Gegenstand der Besprechungin Vorlesungen machte. Von ihm stammt die bekannte Definition: "S.ist stillstehende Geschichte, Geschichte ist fortlaufende S."Gegenüber der ethnographischen Methode der S., welche jedesVolk für sich behandelte, führte Büsching (1724-93)die vergleichende Methode ein, indem er bei sachlicher Gliederungdes Stoffes zwischen den entsprechenden Zuständenverschiedener Länder eine Parallele zog. Bald machte sich dasBedürfnis geltend, die gesammelten Zahlen der S.übersichtlich in Tabellenform zu ordnen und dieselben auchdurch graphische Darstellung zu veranschaulichen (Crome, 1782).Dies führte zu einem lebhaften Streit zwischen derGöttinger Schule (Anhänger Schlözers) auf der einenund den von denselben so betitelten Linear- oderTabellarstatistikern auf der andern Seite. Der Kampf war insofernein verfehlter, als für statistische Darstellungen weder dieGrößenangabe (Zahl) noch der Wortausdruck entbehrtwerden kann. Von jeher waren die Ansichten über das Gebiet derS. geteilt gewesen. Die einen beschränkten es auf den Staatund staatliche Verhältnisse (Staatsverfassung, Darstellung derStaatskräfte), andre dehnten es auf alle gesellschaftlicheThatsachen (faits sociaux) aus, wieder andre überhaupt aufalle Erscheinungen, an denen ein Dasein, Entstehen und Vergehenwahrnehmbar sei (also auch Naturerscheinungen). Verlangten dieeinen, daß die S. sich nur auf Schilderung der Erscheinungender Gegenwart beschränken solle, daß jedes statistischeDatum neu sein müsse, da sich die Vergangenheit nichtbeobachten lasse, so gingen sie zum Teil selbst wieder von dieserForderung ab, indem sie auch Einsicht in die Zustände bieten,den jetzigen Zustand aus dem frühern begreiflich machenwollten (pragmatische S. nach Achenwall). Man verwechselte hierbeidie einfache Beobachtung, Erhebung und Aufzeichnung desstatistischen Materials mit der wissenschaftlichen Verarbeitungdesselben. Die Beobachtung kann nur die Gegenwart erfassen, dieZusammenstellung der durch eigne oder (meist) fremde Beobachtunggewonnenen Ergebnisse erstreckt sich bereits auf die Vergangenheit,und für die wissenschaftliche Verwertung kann es ganzgleichgültig sein, welcher Zeit das Material angehört.Eine weitere Streitfrage war früher die, ob die S. sich aufsolche Thatsachen zu beschränken habe, welche sich durchZahlen wiedergeben lassen (nach M. de Jonnés: faits sociaux,exprimés par des termes numériques). Die moderne S.befaßt sich allerdings vorzüglich mit Größenund deren Vergleichung, auch erblickt das gewöhnliche Lebenallgemein in der S. eine Wissenschaft, welche es mit Zahlen undzwar mit Massen von Zahlen zu thun hat, wobei freilich nicht zuübersehen, daß Größenangaben in allenGebieten der Natur und des gesellschaftlichen Lebens möglichsind.

Die heutige Richtung der S. hat ihren Ausgangspunkt in England,und zwar entwickelte sie sich aus der politischen Arithmetik, d.h.derjenigen Wissenschaft, welche mathematische Rechnungen auf dasFinanzwesen anwandte. Anlaß zur Förderung derselbengaben vorzüglich das Versicherungswesen und die im 17. Jahrh.in Aufnahme gekommenen Glücksspiele. Letztere gaben ihrerseitsAnstoß zur Entstehung und Ausbildung derWahrscheinlichkeitsrechnung (Huygens, Fermat, Pascal, Bernoulli),welche eine unentbehrliche Grundlage für wichtige Zweige derpolitischen Arithmetik und der S. wurde. Letztere begann sich baldvon der erstern abzuzweigen, ohne daß jedoch, sofern nichtunter der politischen Arithmetik lediglich die Zins- undArbitragerechnung verstanden wird, eine scharfe Scheidungüberhaupt möglich ist. Nachdem Graunt (1660), dannPettey, Halley, Kerseboom, Deparcieux sich mit Berechnung derSterblichkeit und mit Aufstellung von Sterblichkeitstafelnbefaßt hatten, gab Süßmilch (1707-67) in seiner"Göttlichen Ordnung in den Veränderungen des menschlichenGeschlechts" (1742) überhaupt dem Gedanken Ausdruck, daßim gesellschaftlichen Leben gewisse Regelmäßigkeitenbeobachtet werden könnten, welche freilich nicht in einzelnen,sondern in einer großen Zahl von Fällen hervortreten.Diesen Gedanken verfolgte Quételet weiter, und es wird jetztan Stelle der frühern einfachen Beschreibung die S. zu einerWissenschaft der umfassenden Durchzählung verwandterFälle und Vorgänge, um aus derselbenRegelmäßigkeiten und Gesetzmäßigkeitenabzuleiten. Dieselbe erstreckt sich auf alle diejenigen Gebiete,auf welchen im einzelnen eine bunte individuelle Mannigfaltigkeitin Erscheinung tritt, während durchschlagende Ursachen undBeweggründe erst aus einer großen Zahl von Fällenerkennbar sind. So kann in wenigen Familien eineverhältnismäßig große Zahl von Totgeburteneintreten, während in andern gar keine vorkommt. Faßtman aber eine große Zahl zusammen, so nähert man sicheiner Mittelzahl (Prozent), von welcher die zu einer andern Zeitoder in einem andern Gebiet für große Zahlen gewonnenenErgebnisse nur wenig abweichen werden. Voraussetzung hierfürist, daß die verglichenen Zustände nicht wesentlichvoneinander verschieden sind. Solche durchschlagendeEinflüsse, mögen sie nun das Bestreben haben, einenZustand der Beharrung zu bewirken oder Veränderungen zuveranlassen, können nicht allein da festgestellt werden, woder menschliche Wille keine Rolle spielt, sondern auch in der Weltder sittlichen Thatsachen, in welcher ebenfalls nachgewiesen werdenkann, daß bei aller Freiheit des Willens die menschlichenHandlungen doch wesentlich durch Naturumgebung, gesellschaftlicheVerhältnisse, Erziehung etc. beeinflußt werden, indem jenach gegebenen äußern Verhältnissen solcheHandlungen eben als die vernünftigen erscheinen.

Eine richtige Ermittelung der Wirkung jener durchschlagendenUrsachen und damit dieser selbst ist ohne mathematische Behandlungnicht möglich und darum die mathematische S. unentbehrlich.Letztere ist insbesondere in der neuern Zeit in ihrer Anwendung aufVersicherungs- und Bevölkerungswesen durch Wittstein, Zeuner,Knapp, Lexis gefördert worden. Je nach den Gebieten, welcheeiner statistischen Betrachtung unterworfen werden, unterscheidetman Ackerbau-, Forst-, Gewerbe-, Handels-, Post-, Eisenbahn-,Medizinal-, Kriminal-, Moral-, Bevölkerungsstatistik etc. Imengern Sinn wird heute auch oft die S. als eine auf diegesellschaftlichen Erscheinungen (Volk und Staat) beschränkteDisziplin aufgefaßt (vgl. Demographie), während dieMethode der S. in allen Gebieten, auch in denen derNaturwissenschaften (Meteorologie), anwendbar sei. Die Sammlung desstatistischen Materials ist nun Einzelnen selten in

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Statistik des Warenverkehrs - StatistischeDarstellungsmethoden.

genügendem Umfang möglich (Privatstatistik), siebildet vorzüglich eine Aufgabe von Staat und Gemeinden und inzweiter Linie als Ergänzung von Vereinen. Infolgedessen istdenn die S. vorwiegend amtliche S. Die erste Organisation derselbenerfolgte 1756 in Schweden, wo eine "Tabellenkommission"jährlich Nachweisungen über die Bewegung derBevölkerung lieferte. Ferner wurden eigne mit der Ansammlung,Ordnung und Veröffentlichung des statistischen Materialsbetraute Stellen (statistische Büreaus) errichtet in:Frankreich (1796 vorübergehend, dann 1800), Bayern (1801,Hermann, Mayr), Italien (1803, Bodio), Preußen (1805 vonStein gegründet, Krug, I. G. Hoffmann, Dieterici, Engel,Blenck), Österreich (1810, Czörnig, Ficker), Belgien(1831), Griechenland (1834), Hannover, Holland (1848), Sachsen(1849, von Engel gegründet, Petermann, Böhmert),Kurhessen, Mecklenburg (1851), Braunschweig (1853), Oldenburg(1855), Rumänien (1859), in der Schweiz (1860), imGroßherzogtum Hessen (1861), in Serbien (1862), denvereinigten thüringischen Landen (in Jena, 1864, jetzt Weimar)etc. Das 1872 ins Leben gerufene "Statistische Amt des DeutschenReichs" verarbeitet die Erhebungen der einzelnen Landesbüreausund der Reichs- und Zollvereinsbehörden. Meist sind dieBüreaus Zentralstellen, welchen in mehreren Ländernfür Beratungen über die Art der auszuführendenArbeiten noch eigne aus Mitgliedern verschiedenerVerwaltungszweige, Volksvertretern und Theoretikern bestehendestatistische Zentralkommissionen beigegeben sind. Seit neuerer Zeithaben auch die meisten Großstädte eigne statistischeBüreaus errichtet. In der ersten Hälfte des Jahrhundertswurden die Arbeiten der statistischen Büreaus ziemlich geheimgehalten; seitdem hat man überall mit regelmäßigenamtlichen statistischen Veröffentlichungen in Form vonZeitschriften, Jahrbüchern etc. begonnen, neben welchen alsprivate Unternehmungen das "Journal of the Statistical Society"(London) und das "Journal de la Société destatistique" (Paris) zu nennen sind. Eine internationale S. istschwer durchführbar, insbesondere deswegen, weil die Begriffe,welche den Gegenstand statistischer Ermittelung bilden, nichtüberall die gleichen sind. Volle Gleichheit läßtsich auf vielen Gebieten wegen der Verschiedenartigkeit in denVerwaltungseinrichtungen, Volksleben, Gebräuchen etc. nichterzielen. Die besonders auf Quételets Anregung geschaffeneninternationalen statistischen Kongresse, welche stattgefunden habenin Brüssel (1853), Paris (1855), Wien (1857), London (1860),Berlin (1863), Florenz (1867), Haag (1869), St. Petersburg (1872),Pest (1876), hatten es sich zur Aufgabe gemacht, Einheit in dieamtlichen Statistiken der verschiedenen Staaten zu bringen undgleichförmige Grundlagen für die statistischen Arbeitenzu erlangen. 1885 wurde in London ein "internationanales Institutder S." mit dem Sitz in Rom gegründet, welches das "Bulletinde l' Institut international de statistique" herausgibt. Weiteress. in den Artikeln: Bevölkerung, Gewerbe-, Handels-,Kriminal-, Moralstatistik und StatistischeDarstellungsmethoden.

Vgl. Fallati, Einleitung in die Wissenschaft der S.(Tübing. 1843); A. Quételet, Sur l' homme (Par. 1835;deutsch, Stuttg. 1838); Derselbe, Physique sociale (Brüssel1869, 2 Bde.); Knies, Die S. als selbständige Wissenschaft(Kassel 1850); Jonak, Theorie der S. (Wien 1856); Rümelin,Reden und Aufsätze (Tübing. 1875); Ad. Wagner (inBluntschlis "Staatswörterbuch"); M. Haushofer, Lehr- undHandbuch der S. (2. Aufl., Wien 1882); Block Traitéthéorique et pratique de statistique (Par. 1878; deutsch vonv. Scheel, Leipz. 1879); Wappäus, Einleitung in das Studiumder S. (das. 1881); Meitzen Geschichte, Theorie und Technik der S.(Berl. 1886); Gabaglio, Teoria generale della statistica (2. Aufl.,Mail. 1888); John, Geschichte der S. (Stuttg. 1884 ff.); R.Böckh, Die geschichtliche Entwickelung der amtlichen S. despreußischen Staats (Berl. 1863); Puslowski, Dasköniglich preußische Statistische Büreau (das.1872); Klinckmüller, Die amtliche S. Preußens im vorigenJahrhundert (Jena 1880); Mayr, Die Organisation der amtlichen S.(Münch. 1876). Als Sammlungen wichtiger statistischerThatsachen sind zu erwähnen: der "Gothaische GenealogischeHofkalender" und O. Hübners "Statistische Tafel" (Frankf. a.M., jährlich erscheinend); Kolb, Handbuch der vergleichendenS. (8. Aufl., Leipz. 1879); Brachelli, Die Staaten Europas (4.Aufl., Brünn 1884).

Statistik des Warenverkehrs, s. v. w. Handelsstatistik(s. d.).

Statistische Darstellungsmethoden. Statistische Thatsachenkönnen zunächst durch einfache Beschreibung oderSchilderung vorgeführt werden. Doch gestattet der Wortausdruck(groß, steigend, abnehmend, kleiner etc.) keineübersichtliche Darstellung, sobald eine große Mengenebeneinander gelagerter oder gereihter Thatsachen in Betrachtkommen. In diesem Fall bietet die ohnedies unvermeidliche Zahl eineHilfe, welche, in Tabellenform angeordnet, überGrößen und deren Änderungen Auskunft gibt. Dochgestattet die Tabelle, zumal wenn eine Masse mehrstelliger Zahlenvorgeführt wird, keine rasche Orientierung und Vergleichung.Dieser Zweck soll durch die graphische Darstellung erfülltwerden, welche zur einfachen Veranschaulichung dient, dieAufsuchung von Gleichmäßigkeiten,Gesetzmäßigkeiten und Gegensätzen sowie dieBeurteilung wechselseitiger Zusammenhänge erleichtert, aber anund für sich nicht als ein besonderes Beweismittel zubetrachten ist. Die graphische Darstellung gibt Größenin der linearen oder der Flächenausdehnung oder räumlichin Körpern für verschiedene Begriffe an. Letztere werdenunterscheidbar gemacht durch verschiedenartige Punktierung,Anwendung der Schraffur, der Farbe oder andrer Zeichen. Manunterscheidet das Diagramm und das Kartogramm. Das Diagramm gibtdie Größen einfach als solche wieder. Ist fürdieselben eine feste Reihenfolge gegeben (z. B. nach der Zeit), sokönnen sie in einem Koordinatensystem in der Art zurDarstellung kommen, daß je auf den Abschnitten derAbscissenachse die zugehörigen Größen aufgetragenwerden. Hierfür können aneinander gereihte Flächenfür jede Einheit gewählt werden, wenn die Änderungender Größen keine stetigen sind. Statt dessen trägtman aber auch wohl Linien auf die betreffenden Punkte der Abscissenauf und verbindet deren Endpunkte miteinander durch eine besondereLinie, welche eine Leitung für das Auge bilden soll. Alsdannkann auch die Ordinatenlinie selbst gespart werden. DieLeitungslinie wird zur regelmäßig verlaufenden Kurve,sobald die Änderungen stetige sind. Auf einem und demselbenBlatt können mehrere derartige Kurven aufgetragen werden,voneinander durch Farbe, Punkte, Striche, Kreuze etc.unterschieden, was eine Vergleichung verschiedener Reihenerleichtert. Das einfache Flächendiagramm gibt einestatistische Größe in einer Fläche (Rechteck,Dreieck) wieder, indem Unterabteilungen (z. B. männliches

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Statistische Gebühr - Statuten.

weibliches Geschlecht, Altersklassen) in der oben erwähntenWeise kenntlich gemacht werden. Auch der Körper (Würfel,Pyramide, Raumkoordinaten mit krummer Oberfläche) kannstatistische Größen zur Anschauung bringen. DasKartogramm dient dazu, die örtliche Lagerung statistischerThatsachen (auf der Landkarte) anzugeben. Hierfür kann nun,wie dies schon von jeher üblich, Punkt, Schraffur und Farbe,dann die Fläche benutzt werden (z. B. für die Städteauf der Landkarte), welch letztere bei der Darstellung deslängs einer Linie (Fluß, Eisenbahn) sich bewegendenVerkehrs dem Auge als Bänder erscheinen.

Statistische Gebühr nennt man in Deutschland eine auchin England, Italien und Frankreich erhobene Gebühr, welchevon über die Grenze des Zollgebiets ein-, aus- oderdurchgeführten Waren im Interesse und zur Deckung der Kostender für Zollgesetzgebung und Handel wichtigen Statistik desWarenverkehrs auf Grund von bei den bestimmten amtlichenAnmeldestellen erfolgenden Anmeldungen (nach Gattung, Menge,Herkunft, Bestimmungsland) seit 1. Jan. 1880 (Reichsgesetz vom 20.Juli 1879) erhoben wird.

Statius, Publius Papinius, röm. Dichter, geboren um45 n. Chr. zu Neapel, ward in Rom von seinem Vater, der selbstLehrer und Dichter war, gebildet und erwarb sich schon frühdurch sein poetisches Talent, namentlich im Improvisieren, Beifallund mehrfach den Sieg in dichterischen Wettkämpfen. Doch saher sich sein lebenlang in Abhängigkeit von der Gunst desDomitian und der römischen Großen, denen er oft in derunleidlichsten Weise schmeichelte. Später zog er sich nachNeapel zurück, wo er um 96 starb. Von seinen Schriften, diesich durch Gewandtheit und Phantasie auszeichnen, aber vielfach anrhethorischem Schwulst und dunkler Gelehrsamkeit leiden, besitzenwir noch: "Silvae", Gelegenheitsgedichte in fünf Büchernund in verschiedenen Versmaßen (hrsg. von Markland, Lond.1728, Dresd. 1827, von Bährens, Leipz. 1876); "Thebais", einEpos in 12 Büchern (Buch 1-6 hrsg. von Müller, das. 1870,das ganze Werk von Kohlmann, das. 1844; deutsch von Imhof, Ilmenau1886), und von dem unvollendeten Epos "Achilleïs" die beidenersten Bücher (hrsg. von Kohlmann, Leipz. 1879).Gesamtausgaben besorgten Gronov (Amsterd. 1653), Dübner (Par.1835-1836, 2 Bde.) und Queck (Leipz. 1854, 2 Bde.); eineÜbersetzung Bindewald (Stuttg. 1868 ff.).

Stativ (lat.), Gestell für mathematische,astronomische und andre Apparate.

Stator (lat.), Beiname des Jupiter, angeblich weil ihmRomulus einen Tempel gelobte, wenn er die vor den Sabinernfliehenden Römer zum Stehen brächte.

Stättegeld, s. v. w. Standgeld (s. d.).

Statthalter, derjenige, welcher die Stelle desLandesherrn oder der höchsten Obrigkeit in einem Land odereiner Provinz vertritt, so in Elsaß-Lothringen (s. d., S.577) der an der Spitze der Staatsverwaltung stehende höchsteBeamte; (stadhouder) ehemals in den Vereinigten Niederlanden Titelder Prinzen von Oranien, welchen nach der Losreißung vonSpanien ein Teil der königlichen Rechte, namentlich derOberbefehl über die Kriegsmacht zu Lande und zur See,übertragen wurde; in Österreich Amtstitel von politischenLandesbehörden (Statthaltereien), s. Landesbehörden.

Statue (lat. statua, Standbild), die durch dieThätigkeit des bildenden Künstlers in irgend einer, meistharten Masse dargestellte volle Gestalt, besonders des Menschen. ImAltertum und in der neuern Zeit bis zur Zeit der Renaissancepflegte man statuarische Bildwerke zur Belebung und Verdeutlichungder Formen mehr oder weniger reich zu bemalen (s. Polychromie). Manunterschied schon im griechischen Altertum Ideal- undPorträtstatuen, je nachdem der Künstler aus der Phantasieschöpfte oder sich an die Wirklichkeit hielt. Zu denIdealstatuen gehörten die der Götter und Heroen. DiePorträtstatuen kamen erst verhältnismäßigspät durch die Sitte auf, in Olympia Statuen der Sieger in denWettkämpfen aufzustellen. Doch waren auch diese anfangs ideal,d. h. nicht porträtähnlich, gehalten. Noch späterkam dazu das Genrebild, welches Personen und Vorgänge aus demAlltagsleben als Einzelstatuen oder Gruppen darstellte. In derrömischen, besonders kaiserlichen, Zeit wurden in großerMenge Porträtstatuen gefertigt. Kolossale Dimensionen wurdendurch den Zweck der Aufstellung bedingt. Den Begriff derErhabenheit durch räumliche Ausdehnung anzudeuten, war aberdem griechischen Geschmack fern, und erst die verfallende Kunst,die sich ägyptisch-asiatischen Begriffen anbequemte, suchteauf diese Weise durch Zusammenstellungen eine größereWirkung hervorzubringen. In Hinsicht ihrer äußernStellung unterschieden schon die Alten stehende, sitzende,Reiterstatuen und fahrende Statuen, und die Statuen waren teilseinzeln, teils in Gruppen zusammengefaßt. Die moderneBildhauerkunst versteht unter S. im weitesten Sinn jede plastischeEinzelfigur, im engern Sinn ein stehendes Bild. Statuette,Standbildchen. Vgl. Bildhauerkunst.

Statuieren (lat.), aufstellen, festsetzen, bestimmen;etwas statthaben lassen; ein Exempel s., ein Beispiel zur Warnungaufstellen.

Statur (lat.), Leibesgröße und Gestalt,Wuchs.

Status (lat.), Stand (z. B. des Vermögens, dieBilanz der Aktiva und Passiva, wie sie von Aktien-Gesellschaftenals Monatsstatus allmonatlich veröffentlicht wird), Zustand;daher S. quo, der Zustand, die Lage, in welcher sich etwas befandoder befindet, namentlich S. quo ante (bellum), die Lage,insbesondere die Gebiets- und Machtverhältnisse, wie sie voreinem Krieg waren. S. nascendi, Entstehungszustand; S. praesens,der gegenwärtige Gesundheitszustand eines Kranken und derärztliche Bericht über denselben. Die Römerbezeichneten mit S. auch die drei Hauptstufen derPersönlichkeit, nämlich Freiheit, römischesBürgerrecht und Familienstand. Der Verlust eines solchen S.involvierte eine Capitis deminutio (s. d.).

Status duplex (lat., "doppelter Stand"), ein Kapitel inder Christologie (s. d., S. 100).

Status nascendi, s. Entstehungszustand.

Statutarisch (lat.), was Statuten (Satzungen) zufolgegesetzmäßig ist; daher statutarische Portion, derfestgesetzte Erbteil, den eine Witwe von der Verlassenschaft desMannes erhält (s. Güterrecht der Ehegatten, S. 948).

Statuten (lat.), Satzungen, Gesetze; namentlichBezeichnung für die mittelalterlichen Stadtrechte, auchfür die Hausgesetze des hohen Adels (s. Autonomie). S.heißen ferner die Satzungen über die Verfassung undVerwaltung von Vereinen, juristischen Personen und Korporationen,und zwar bestehen über Inhalt und Gültigkeit, namentlichaber auch über die staatliche Anerkennung und Bestätigungsolcher S. vielfach besondere Vorschriften, so z. B. in Ansehungder Aktiengesellschaften, der Genossenschaften und der Innungen.Den Gemeinden und Kommunalverbänden ist jetzt in den meistenStaaten das Recht ein-

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Statz - Staubeinatmungskrankheiten.

geräumt, zur Durchführung gemeinnützigerMaßregeln, zur Aufrechthaltung der öffentlichenSicherheit innerhalb des Gemeindebezirks und sonst zur Erreichungder Gemeindezwecke innerhalb der durch die Gesetzgebung gezogenenSchranken Ortsstatuten, geeigneten Falls mit Strafbestimmungen, zuerrichten. Nach preußischem Recht bedürfen derartige S.der Stadtgemeinden der Genehmigung des Bezirksausschusses, inBerlin des Oberpräsidenten. In andern Staaten ist dieGenehmigung der Zentralverwaltungsbehörde oder sogar diejenigedes Souveräns erforderlich. In England versteht man unter S.(Statutes) die eigentlichen Gesetze, welche mit Zustimmung desParlaments von der Krone erlassen werden, im Gegensatz zurköniglichen Verordnung (Ordinance), für welche dieZustimmung der beiden Häuser des Parlaments nicht erforderlichist. Die Lokalverordnungen der Gemeinden, welche bei uns S.heißen, werden in England als Bylaws (s. d.) bezeichnet.

Statz, Vinzenz, Architekt, geb. 1819 zu Köln, waranfangs Maurermeister am dortigen Dombau, wurde 1845Dombauwerkmeister, legte 1854 diese Stelle nieder und wurde 1863Diözesanbaumeister. In dieser Stellung war er eifrigbeflissen, der strengen Gotik neue Bahnen zu brechen. Die Zahl derunter seiner Leitung hergestellten kirchlichen Bauten beläuftsich auf einige hundert, von denen als die größten zunennen sind: die Mauritiuskirche in Köln, die Marienkirche inAachen, die katholischen Kirchen in Kevelaer, Dessau, Eberswalde,Bernshausen in Hannover, wobei er es trefflich verstand, moderneEinrichtungen mit mittelalterlichen Formen zu verbinden.Hervorzuheben sind noch: das große Krankenhaus zu St. Hedwigin Berlin und sein Wohnhaus in Köln. Auch leistete erBedeutendes in der innern Ausstattung der Kirchen, in der Holz- wiein der Steinarchitektur, namentlich in der Liebfrauenkirche zuTrier, wo er einen prächtigen Altar ausführte. Seingrößtes Werk ist der Dom in Linz an der Donau, den er1862 begann, ein Bau von gewaltigen Dimensionen. S. gab heraus:"Gotische Entwürfe" (Bonn 1861); "Gotische Einzelnheiten" (180Tafeln, 2. Aufl., Berl. 1886); "Gotisches Musterbuch" (mitUngewitter und Reichensperger, Leipz. 1856-60) u. a. Er erhielt1864 den Titel Baurat, ist Ehrenmitglied der Londoner RoyalSociety, der k. k. Akademie in Wien etc.

Staub, in der atmosphärischen Luft enthalteneKörperchen verschiedener Art, welche bei gewisserGröße oder massenhafter Anhäufung dem bloßenAuge sichtbar, aber auch in vollkommen rein erscheinender Luftimmer noch nachweisbar sind. Man unterscheidet gröbereStäubchen, die, von Winden oder vom Kehrbesen aufgewirbelt,bei einigermaßen ruhiger Luft bald niederfallen;Sonnenstäubchen, die nur im Sonnenstrahl sichtbar sind undauch in scheinbar ruhiger Zimmerluft meist nicht zu Boden sinken;endlich unsichtbare Stäubchen, die nur künstlichnachweisbar sind und auch in ruhigster Luft sich schwebenderhalten. Der S. entsteht hauptsächlich durch die Verwitterungder Gesteine, wodurch diese in feinste Teilchen zerfallen, auch dieVulkane werfen Staubmassen aus, die in weite Entfernungen getragenwerden; er entsteht ferner durch zahlreiche Verbrennungsprozesse,die Ruß und Asche liefern; in jedem S. finden sich auchPollenkörner, Sporen der Kryptogamen und Keime der niederstenOrganismen. Endlich erzeugt der Mensch durch seine Thätigkeitbeständig S. Aus Flüssigkeiten und von feuchtenOberflächen gelangen niemals Teilchen als S. in die Luft,solange sich jene Substrate in Ruhe befinden; wohl aber kann durchVerspritzen heftig bewegter Flüssigkeiten oder durchSchaumbildung ein solcher Übergang bewirkt werden. In derRegel wird jedoch Austrocknung und nachfolgende Zerkleinerung dieVeranlagung zum Zerstäuben von Pilzvegetationen inFlüssigkeiten und von gelösten nicht flüchtigenSubstanzen sein. Die Zerkleinerung aber braucht nicht immer durchmechanische Wirkungen zu erfolgen, sie kann vielmehr auch eineFolge der geringen Bewegungen sein, welche durchTemperaturänderungen bedingt sind und leichtZusammenhangstrennungen, Ablösungen von Partikelchenherbeiführen. Landluft enthält weniger S. als Stadtluft,im Winter und Frühjahr und nach Regen ist die Luft ärmeran S. als im Sommer und Herbst und nach langer Dürre. 1 cbmLandluft enthält bei trocknem Wetter 3-4,5, bei feuchtem 0,15mg S., in Fabriken fand man bis 175 mg S. Aller S. besteht, seinerBildung entsprechend, aus mineralischen und organischen Substanzen;unter letztern interessieren hauptsächlich die Keimeniederster Organismen, welche unter den feinsten Staubteilen zusuchen sind. Stets enthält die Luft Sporen von Schimmelpilzen,im März am wenigsten (5480 in 1 cbm), im Juni bis 54,460, nachRegen mehr als nach Trockenheit. An Bakterien ist die Luft imWinter arm (53), im Herbst am reichsten (121), nach Regen wenigerreich als bei Dürre. Stadtluft enthält ungleich mehrBakterien als Landluft. Die angegebenen Zahlen müssen bei derUnvollkommenheit der Methode, nach welcher sie gewonnen wurden, imallgemeinen als zu niedrig betrachtet werden. Der in der Luftvorkommende S. gelangt vorzüglich durch die Respirationsorganezur Einwirkung auf den Menschen, wenn auch nur ein Teil des Staubesin den Respirationsorganen zurückbleibt; die feinstenStaubpartikelchen werden fast vollständig wieder ausgeatmet.Der S., welcher an den Wänden der Luftwege hängen bleibt,wird durch das Flimmerepithel, welches diese bedeckt, wieder ausdem Körper entfernt. Vermag das Epithel die Staubmassen nichtzu bewältigen, so entstehen krampfhafte Bewegungen, wieRäuspern, Husten etc., zur Herausbeförderung derstaubhaltigen Schleimmassen. Reichen auch diese Hilfsmittel nichtmehr aus, so entstehen Störungen, welche je nach der Art deseingeatmeten Staubes verschieden charakterisiert sind. Nurmechanisch reizender S. erzeugt die Staubeinatmungskrankheiten (s.d.); S., welcher aus Partikelchen giftiger Substanzen besteht,erzeugt namentlich durch den in den Mund und in den Magengelangenden Anteil eigentümliche Krankheitserscheinungen, amwichtigsten aber sind die Keime solcher Organismen, welche alsKrankheitserreger zu betrachten sind. Man muß annehmen,daß jene Keime ebensogut wie alle übrigen in Staubformauftreten können, und in der That sind mehrere derselben im S.nachgewiesen worden. Die Übertragung von Krankheiten durch denS. der Luft ist mithin sehr wohl möglich, sofern nur nichtjene Keime durch das Austrocknen ihre Entwickelungsfähigkeiteinbüßen. Vgl. Renk, Die Luft ("Handbuch der Hygieine",von Pettenkofer und Ziemssen, Tl. 1, Abt. 2, Leipz. 1886);Tissandier, Les poussieres de l'air (Par. 1877).

Staubbach, s. Lütschine.

Staubbeutel, s. Staubgefäß.

Staubbilder, elektrische, s. Lichtenbergsche Figuren.

Staubbrand, s. Brandpilze I.

Staubeinatmungskrankheiten. Der Staub, welcher bei derAtmung in die Luftwege eingesogen wird,

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Stäuben - Staubgefäße.

wird größtenteils von dem Schleim aufgenommen, durchdie Flimmerbewegung der Lungenepithelien zurück nach derLuftröhre geführt und von hier durch Räuspern undHusten ausgeworfen. Ist die eingeatmete Menge zu groß, sowird ein Teil der feinsten Körnchen von der Lunge aufgenommenund bleibt entweder in ihrem Gewebe selbst oder in denLymphgefäßen und Drüsen dauernd haften. Amauffallendsten bemerkbar ist der Kohlenstaub, welcher beimLampenbrennen, Kohlen-, Holz- und Torffeuern, kurz überallentsteht, wo unvollkommene Verbrennung irgend welcher Art vor sichgeht, also auch beim Tabaksrauchen, wenngleich in weit geringermMaß, als von den Gegnern des Rauchens angegeben wird.Während die Lungen der Wilden und der im Freien lebenden Tiere(nicht der Haustiere) ganz frei davon sind, findet sich bei denKulturmenschen und den unter gleichen Verhältnissen lebendenHaustieren ein gewisser Grad von Schwarzfärbung(Pigmentierung) der Lunge. Zu einer wirklichen Krankheit, derStaubeinatmungskrankheit, gibt die Verunreinigung der LuftAnlaß, wenn infolge gewisser Umstände die Luft mit Staubgeradezu überladen ist und die Einatmenden infolge ihrergewerblichen Thätigkeit gezwungen sind, derselben sichfortwährend oder einen großen Teil des Tags auszusetzen.So sind dem Kohlenstaub exponiert die Stein- undBraunkohlenarbeiter, auch manche mit der Holzkohlenfabrikationbeschäftigte Arbeiter, dem Sandstaub oder den Kieselpartikelndie Steinhauer und Schleifer, dem Eisenstaub die Schmiede,Feilenhauer, Stahlschleifer, Spiegelglaspolierer, dem Tabaksstaubdie Tabaksarbeiter, dem Farbenstaub die Farbenarbeiter, derkieselsauren Thonerde die Ultramarinarbeiter etc. Den Nachweis,daß diese Substanzen wirklich in die Lunge eindringen,liefert die anatomische, mikroskopische und chemische Untersuchungder Lungen. Die Folgen der Staubinhalation bestehen in diesenFällen zunächst in Hyperämie und Katarrh derLuftröhrenverzweigungen mit fortwährendem Räuspern,Husten und Auswurf; weiterhin gesellt sich eine wirklichechronische Entzündung des Lungengewebes hinzu, welches seineElastizität mehr oder weniger verliert und sich bis zu einemGrade, daß es unter dem Messer knirscht, verhärtet;schließlich geht der Zustand in eine Verödung desLungengewebes über. Die Überladung des Lungengewebes mitKohlenpigment nennt man Anthrakosis, die mit EisenpartikelchenPneumonosiderosis. Vgl. Hirt, Die Staubinhalationskrankheiten(Leipz. 1871); Eulenberg, Handbuch der Gewerbehygieine (Berl.1876); Merkel, Staubinhalationskrankheiten (in Ziemssens Handbuch,Leipz. 1882).

Stäuben, das Fallenlassen des Kotes beiFeldhühnern.

Staubbewässerung, s. Bewässerung, S. 859.

Staubfaden, s. Staubgefäße.

Staubfiguren, elektrische, s. LichtenbergscheFiguren.

Staubgefäße (Stamina, Staubblätter), dieden Blütenstaub erzeugenden Teile der Blüte bei allenphanerogamen Pflanzen, bilden zusammen in einer Blüte denmännlichen Geschlechtsapparat (Andröceum) derselben undentstehen wie die übrigen Blattgebilde der Blüte alsseitliche Höcker unterhalb des im Wachstum befindlichenScheitels der jungen Blütenanlage. Von besonderer Wichtigkeitist außer der Zahl die Verzweigung und die Verwachsung der S.Verzweigte S. entstehen dadurch, daß an der jungenStaubblattanlage neue Höcker auftreten, die zu einemBüschel von Staubgefäßen auswachsen, währenddas gemeinsame Fußstück sehr kurz bleibt; es tritt diesz. B. bei den Staubblättern von Hypericum ein, die in Gruppenvon drei oder fünf in jeder Blüte zusammenstehen, aberdurch Verzweigung aus drei oder fünf ursprünglicheinfachen Staubblattanlagen hervorgegangen sind. Die Spaltung(Chorise, dédoublement) der Staubblätter ist eine sehrfrüh eintretende Teilung einer Staubblattanlage in zweispäter völlig getrennte Staubblätter, wie bei denStaubgefäßen der Kruciferen. VerwachseneStaubblätter entstehen durch seitliche Verschmelzung vonStaubblattanlagen, wie z. B. beim Kürbis. Die S. bestehen inder Regel aus einem stielförmigen Träger, dem Staubfaden(Filament), und einem durch eine Furche in zweiLängshälften geteilten angeschwollenen Teil, demStaubbeutel (Anthere). Wenn sämtliche Staubfäden derBlüte in ein einziges Bündel vereinigt sind, so nennt mandie S. einbrüderig (stamina monadelpha). So sind z. B. in dermännlichen Blüte des Kürbisses die S. in eine imMittelpunkt stehende Säule vereinigt. In denZwitterblüten dagegen bilden die einbrüderigen S. eineRöhre um den in der Mitte stehenden Stempel (Fig. 1). Sind siein zwei oder mehrere Partien vereinigt, so werden siezweibrüderig (s. diadelpha) und vielbrüderig (s.polyadelpha) genannt. Ersteres ist z. B. bei den Fumariaceen,letzteres bei den Hypericineen Regel, wo die S. in drei Bündelvereinigt sind (Fig. 2). Einen besondern Fall vonZweibrüderigkeit bieten viele Schmetterlingsblütler,indem hier von den zehn vorhandenen Staubgefäßen neun zueiner gespaltenen Röhre verbunden sind, während das 10.Staubgefäß vor der Spalte der Röhre frei steht(Fig. 3). Bei manchen Pflanzen haben die Staubfädenverschiedene Länge; wo zwei Kreise von Staubgefäßenvorkommen, sind häufig die des einen kürzer als die desandern. Bei den Kreuzblütlern finden sich sechs S.; von diesensind vier die längern, zwei andre, welche einemäußern Kreis angehören und links und rechts stehen,sind kürzer (viermächtige S., s. tetradynama). Bei vielenLippenblütlern und Skrofularineen gibt es zwei lange und zweikurze, sogen. zweimächtige S. (s. didynama). - Der Staubbeutelist ein meist aus zwei Fächern (thecae) bestehendes Gebilde,in dessen Innenraum der Blütenstaub (Pollen) enthalten ist.Fig. 4 versinnlicht den Durchschnitt durch einen jungenStaubbeutel; der Teil, welcher die beiden Fächerverknüpft, heißt Zwi-

Fig. 1. Einfache Staubgefäßröhre der Malve. Fig.2. Vielbrüderige Staubgefäße. Fig. 3.Zweibrüderige Staubgefäße einerSchmetterlingsblüte. Fig. 4. Durchschnitt einesStaubbeutels

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Stäubling - Staubregen.

schenband oder Konnektiv (connectivum). Jedes Fach besteht auszwei durch eine Scheidewand getrennten, nebeneinander liegendenPollensäcken. Später wird diese Scheidewandaufgelöst, und jedes Fach stellt dann eine einfacheHöhlung dar. Über den Blütenstaub s. Pollen undGeschlechtsorgane der Pflanzen. Der Staubfaden ist entweder an dasuntere Ende des Konnektivs angesetzt (basifix), oder er geht aneinem höhern Punkt in dasselbe über (dorsifix). DasKonnektiv ist entweder gleichmäßig schmal, so daßdie beiden Fächer der Länge nach parallel nebeneinanderstehen, wobei es sich in irgend einer Form als sogen.Konnektivfortsatz über die Antheren fortsetzen kann, z. B. beider Gattung Paris (Fig. 5), oder das Konnektiv ist zwischen denFächern in der Breite ausgedehnt, so daß die letzternvoneinander entfernt werden, bald nur mäßig, und dannunten oft weit stärker als oben, so daß die Fächermehr und mehr in eine Linie zu liegen kommen, bald sehrbeträchtlich, so daß es einen Querbalken bildet, andessen Enden die Fächer sitzen (z. B. bei Salvia, Fig. 6),oder auch wie eine Spaltung des Staubfadens erscheint, deren beideÄste je ein Staubbeutelfach tragen, wie z. B. bei derHainbuche, bei der Haselnuß, bei den Malven. EineEigentümlichkeit zeigen die Staubbeutel derKürbisgewächse, insofern hier die beiden Fächerunregelmäßig gewunden sind (Fig. 7). Auch dieStaubbeutel können untereinander in eine Röhre vereinigtsein, während ihre Staubfäden frei sind, wie bei denKompositen, die aus diesem Grund auch Synantheren, d. h.Verwachsenbeutelige, genannt werden (Fig. 8a und b). BehufsAusstreuung des Blütenstaubes öffnen sich die beidenAntherenfächer zur Blütezeit in bestimmter Weise,gewöhnlich so, daß die Wand jedes Faches eineLängsspalte bekommt; selten treten Querspalten auf, wie z. B.bei der Tanne. Danach unterscheidet man die Staubbeutel alsantherae longitudinaliter und transverse dehiscentes. Diese Spaltenliegen meist an der dem Mittelpunkt der Blüte zugekehrtenSeite des Staubbeutels (antherae introrsae), bisweilen aber auchdem Umfang der Blüte zugewendet (a. extrorsae), wie bei denSchwertlilien, oder auch an der Seite, z. B. bei Ranunculus. Eineandre Art des Öffnens ist die mittels Klappen (a. valvatimdehiscentes), indem eine gewisse Stelle der Antherenwand als Deckelsich von untenher abhebt, wie z. B. bei Berberis. Oder endlichjedes Fach öffnet sich mittels eines meist an der Spitzeliegenden Loches (a. porose dehiscentes), wie bei der Kartoffel.Das Öffnen der mit Spalten aufspringenden Staubbeutel wirdermöglicht durch den Bau der Antherenwand. Diese bestehtnämlich aus zwei Zellenschichten: einer kleinzelligenEpidermis und einer unter derselben liegenden Schicht weitererZellen. Letztere sind an ihrer nach innen gekehrten Wand mit ring-oder netzförmigen Verdickungsschichten ausgestattet, welchewegen ihrer relativen Starrheit dieser Zellwand keine erheblicheZusammenziehung beim Austrocknen gestatten. Dagegen ist die an dieEpidermis stoßende Zellwand nicht verdickt; sie zieht sichwie die Epidermis bei Wasserverlust stark zusammen. Da somit alsobeide Seiten der Antherenwand beim Austrocknen verschiedeneDimensionen annehmen, so muß dieselbe sich krumm werfendergestalt, daß die stärker sich zusammenziehende Seite,d. h. die äußere, konkav wird, und somit gehen dieWände auseinander. Die Spalte ist schon vorher angelegt, indemin der Ausdehnung, in welcher sie entstehen soll, eine Partie vonZellen zu Grunde geht, so daß dort das Durchreißen derWand den geringsten Widerstand findet. Die Ursache des Öffnensder Antheren ist also das Austrocknen ihrer Wand; daher öffnensie sich beim Befeuchtetsein nicht und können durch Benetzenmit Wasser wieder zum Schließen gebracht werden. TrocknesWetter ist daher der Befruchtung der Blüten und somit derSamenbildung entschieden günstiger als nasses. - Bisweilenwerden gewisse Staubblätter regelmäßigunvollständig ausgebildet, indem sie keinen Blütenstaubenthalten. Derartige Staminodien können in verschiedenenFormen auftreten, bei den Skrofularineen ist von fünfStaubgefäßen eins bisweilen als bloßer Faden oderals Schüppchen ausgebildet. Bei den Laurineen nimmt oft einganzer Kreis von Staubblättern die Form von Staminodien inGestalt drüsenartiger Gebilde an. Bei der Parnassia palustrisfolgt auf den einfachen Kreis der S. ein andrer von Staminodien,welche hier als Nektarien (s. d.) ausgebildet sind, indem sieschuppenförmige Blätter mit langen Wimpern darstellen,deren jede mit einer kopfförmigen, honigtropfenähnlichenDrüse endigt. Vgl. auch den Art. Blüte.

Stäubling, s. v. w. Lycoperdon.

Staubregen, die meist trocknen Niederschläge derAtmosphäre, deren Substanz teils von der Erde aus mit denaufsteigenden Luftströmungen in die höhern Gegenden derAtmosphäre gelangt, sich mit dem Wind bis auf großeStrecken von dem Ort ihres Aussteigens entfernt und entwederzugleich mit dem Regen und Schnee niederfällt, oder sich alsStaub (s. Passatstaub) oder trockner Nebel (s. Nebel und Herauch)und Trübung der Atmosphäre niedersenkt, teils einenkosmischen Ursprung hat, indem sie aus zu feinem Staub zerfallenenoder zerriebenen Teilchen von Sternschnuppen und Feuerkugelnbestehen kann, welche tief in die Erdatmosphäre hineingetauchtsind, teils endlich Teile von kosmischen Staubmassen bildet, welcheim Weltenraum sich bewegen, und denen die Erde zuweilen in ihrerBahn begegnet. Zu den S. irdischen Ursprungs gehören folgende:1) Die sogen. Blutregen (Blutquellen), die schon von den altenSchriftstellern, wie unter andern von Livius und Plinius,häufig erwähnt werden und im Mittelalter zu vielenabergläubischen Ansichten Anlaß gaben. Die Nachrichtenüber diese Blutregen beziehen sich aber meist nicht auftrockne, sondern auf flüssige oder schleimige Massen, welcheals rote Flecke auftreten, den Boden, die Pflanzen und das Wasserrot färben

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Staubspritze - Staudt.

und ihren Ursprung in den Exkrementen von gewissen Insekten, wieBienen, Schmetterlingen etc., auch in dem Auftreten derBlutregenalge (Protococcus pluvialis) haben. 2) Die roten S., d. h.wirklicher Regen, welcher durch aufgewirbelten Staub rotgefärbt ist, ereignen sich am häufigsten im Frühlingund Herbst, zur Zeit der Äquinoktialstürme. Auch derSchnee kann durch solchen roten Staub rot gefärbt werden undals erdiger roter Schnee niederfallen. Diese Färbung desSchnees durch roten Staub muß aber nicht mit der oftwahrgenommenen Färbung verwechselt werden, welche sichöfters über größere Schneeflächen derPolargegenden verbreitet, auch auf den Alpen und Pyrenäenvorkommt und unter dem Namen Blutschnee (s. d.) bekannt ist. 3) Beiden vulkanischen S. (meist grau) wird die Asche der Vulkane vomWind bis auf sehr weite Entfernungen fortgetrieben (Hekla,westindische Vulkane). Ein auffallendes Beispiel dafür bot dieneueste Zeit, indem die in den letzten Monaten 1883 und 1884 inEuropa vielfach beobachteten eigentümlichenDämmerungs-Erscheinungen sowie das häufige Auftreten vonungewöhnlich starkem Abend- und Morgenrot und das Bilden einesbraunroten Ringes um die Sonne als Folge des vulkanischen Ausbruchsnachgewiesen sind, welcher 27. Aug. 1883 auf dem Krakatoa in derSundastraße erfolgte. 4) Schwefelregen (gelb), d. h. dasHerabfallen eines gelben oder gelblichroten Pulvers, meistens inBegleitung von wirklichem Regen. Göppert hat nachgewiesen,daß das gelbe Pulver aus vom Wind fortgeführtem und vomRegen niedergeschlagenem Blütenstaub besteht, und zwar imMärz und April aus Blütenstaub von Erlen undHaselnuß, im Mai und Juni von Fichtenarten, Wacholder undBirke, im Juli, August und September von Bärlappsamen, Rohr-,Liesch- oder Teichkolben. 5) Getreideregen entstehen dadurch,daß der Regen die kleinen Wurzelknollen gewisser Pflanzen,wie des kleinen Schöllkrauts (Chelidonium minus), derButterblume (Ranunculus Ficaria), des epheublätterigenEhrenpreis (Veronica hederaefolia) u.a., aus dem Bodenausspült und diese dann durch den Wind von ihrem Ursprungsortweit fortgeführt werden und später zu Boden fallen. - Vonden kosmischen S. hat man erst in neuerer Zeit einige Kenntniserlangt. Am 1. Jan. 1869 war in Heßle bei Upsala einMeteorit, der aus zahlreichen weithin zerstreuten Stückenbestand, niedergefallen und mit ihm zugleich ein schwarzer, Kohleund metallisches Eisen enthaltender Staub (Meteorstaub). Ganzdieselbe Zusammensetzung zeigte der Staub, welcher währendeines sechstägigen ununterbrochenen Schneefalls in Stockholmim Dezember 1871 im Schnee gefunden wurde, und ebenso dergleichzeitig im Innern Finnlands auf dem Schnee gesammelte Staub.Es kann aber auch wohl vorkommen, daß Schnee und Regenkosmischen Staub mit sich in kleinen Mengen zur Erdeherunterführen. Die wenigen kohlehaltigen Meteorsteine (s. d.,S. 541), die wir kennen, zerfallen nämlich in unmerklichenStaub, sobald sie mit Wasser oder Feuchtigkeit (Regen, Schnee,Wolken) in Berührung kommen, wobei ihre Kittsubstanzaufgelöst wird.

Staubspritze, s. v. w. Drosophor, s.Zerstäubungsapparate.

Staubstrommethode, metallurgisches Verfahren, welchesdarin besteht, daß zwei Ströme derjenigen Körper,welche chemisch aufeinander einwirken sollen, sich in feinsterVerteilung entgegenkommen und durchdringen. Dies Prinzip ist zuerstim Gerstenhöferschen Röstofen zur Anwendung gekommen, beiwelchem gepulverte Erze, durch Bänke aufgehalten, langsamdurch einen vorher stark geheizten Schachtofen fallen, währendvon unten Luft in den Ofen strömt. Die Reaktion ist hierbeisehr energisch, die durch Verbrennung entstandene schwefligeSäure passiert Flugstaubkammern und gelangt dann in dieBleikammern zur Schwefelsäureerzeugung. Man benutzt den Ofenzum Rösten von schwefelkiesreichen Erzen, Kupferrohstein,Zinkblende etc. Ähnliche Versuche sind in Amerika bei derSilbergewinnung gemacht worden, indem Stetefeldt mit seinem hohenSchachtofen den Erzstaub frei, ohne daß er durch Bänkeaufgehalten wird, dem Luftstrom entgegenfallen läßt.Auch hat man in ähnlicher Weise staubförmigeBrennmaterialien verwertet. Gemahlene und gebeutelte Holzkohle wirddurch einen Ventilator in einem Luftstrom angesogen und in einerpassenden Vorrichtung oder im Ofen selbst verpufft. Nach diesemPrinzip sind der Eisenstreckofen von Resch, der Doppelzinkofen vonDähn und der rotierende Puddelofen von Crampton eingerichtet,wobei indessen Staub- und Luftstrom meist dieselbe Richtunghaben.

Staude, s. v. w. perennierende Pflanze, s.Ausdauernd.

Staudenmaier, Franz Anton, kath. Theolog, geb. 11. Sept.1800 zu Donsdorf in Württemberg, studierte im Wilhelmsstift zuTübingen, trat 1826 in das Priesterseminar zu Rottenburg,folgte 1830 einem Ruf als Professor der katholischen Theologie nachGießen und 1837 nach Freiburg i. Br., wo er 1843 auch zumDomkapitular ernannt wurde. Seit 1855 zurückgetreten, starb er19. Jan. 1856. Unter seinen zahlreichen Schriften, in denen er einespekulative Konstruktion des Katholizismus anstrebte, sindhervorzuheben: "Johann Scotus Erigena" (Frankf. 1834, Bd. 1); "DerGeist des Christentums" (Mainz 1835; 8. Aufl. 1880, 2 Bde.);"Darstellung und Kritik des Hegelschen Systems" (das. 1844); "Diechristliche Dogmatik" (Freiburg 1844-52, 4 Bde.); "Zumreligiösen Frieden der Zukunft" (das. 1846-51, 3 Tle.).

Staudenpappel, s. Lavatera.

Staudensalat, s. Lattich.

Staudigl, Joseph, Opernsänger (Baß), geb. 14.April 1804 zu Wöllersdorf in Niederösterreich, wolltesich im ersten Jünglingsalter dem geistlichen Stand widmen,wandte sich dann nach Wien, um Chirurgie zu studieren, undbeschloß endlich, zunächst um seine materielle Lage zuverbessern, seine herrliche Baßstimme auf der Bühne zuverwerten. Anfangs als Chorist am Kärntnerthor-Theaterwirksam, gelang es ihm, in der Rolle des Pietro ("Stumme vonPortici") die er an Stelle des erkrankten Inhabers übernommen,die Aufmerksamkeit des Publiku*ms auf sich zu lenken, und infolgedes Beifalls, den er bei dieser Gelegenheit errang, wurden ihm nachund nach immer größere Partien übertragen, bis erendlich im Besitz aller ersten Rollen war. Von Wien aus, wo er bis1856 dem Hofoperntheater angehörte, verbreitete sich sein Rufüber ganz Deutschland, und nicht minder wurden seineLeistungen in London anerkannt, dies um so mehr, da S. auch alsOratorien- und Liedersänger glänzte und überdies dieenglische Sprache vollkommen beherrschte. Er starb nachfünfjähriger Krankheit 28. März 1861 in derIrrenanstalt von Michelbeuerngrund.

Staudt, Karl Georg Christian von, Mathematiker, geb. 24.Jan. 1798 zu Rothenburg a. Tauber, war 1822-27 Professor amGymnasium und Privatdozent an der Universität zuWürzburg, 1827-33 Professor am Gymnasium und derpolytechnischen

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Stauen - Staupitz.

Schule zu Nürnberg, von 1833 bis zu seinem Tod 1. Juli 1867Professor an der Universität Erlangen. Staudts Verdienstberuht namentlich in der Ausbildung der synthetischen Methoden inder Geometrie, die er in seinem Hauptwerk: "Geometrie der Lage"(Nürnb. 1847), und in den dazu gehörigen "Beiträgen"(das. 1856, 1857, 1860) niedergelegt hat.

Stauen, das Unterbringen der Ladung im Schiffsraum, umdiesen möglichst auszunutzen und den Schwerpunkt von Schiffund Ladung zusammen in eine solche Lage zu bringen, daßersteres hinreichende Stabilität hat. Gerät derSchwerpunkt von Schiff und Ladung durch unsachgemäßes S.in eine zu hohe Lage, so wird das Schiff zu "oberlastig" undverliert an der für seine Sicherheit gegen Kentern notwendigenStabilität. Auch muß die Ladung so gestaut werden,daß sie bei den heftigen Bewegungen des Schiffs im Seegangihre Lage nicht ändern kann. S. heißt auch dasZurückhalten fließender Gewässer durch Schleusen,Dämme und sogen. Stauwerke.

Staufen, Stadt im bad. Kreis Freiburg (Breisgau), amFuß des Schwarzwaldes, 290 m ü. M., hat eine kath.Kirche, ein altertümliches Rathaus, ein Amtsgericht, Tuch-,Filz- und Gummibandweberei, Weinbau und (1885) 1820 Einw. In derNähe die Ruinen der Staufenburg.

Staufen (Staufer), deutsches Kaisergeschlecht, s.Hohenstaufen.

Staufenberg (Ritter von S.), altdeutsches Gedicht voneinem unbekannten elsässischen Dichter, wahrscheinlich aus demAnfang des 14. Jahrh., wurde im 16. Jahrh. von Fischartüberarbeitet und von Engelhardt (Straßb. 1823) undJänicke (in "Altdeutsche Studien", Berl. 1871) neuherausgegeben.

Staufenburg, Ruine; Name mehrerer Ruinen, z. B. beiStaufen und Gittelde (s. d.).

Stauffacher, Werner, nach der Sage von der Gründungder schweizerischen Eidgenossenschaft ein wohlhabender Landmann ausSchwyz, der sich auf das Zureden seiner Gemahlin Margareta Herlobigan die Spitze der Erhebung der Waldstätte gegen die VögteAlbrechts I. stellte und 1307 die Verschwörung im Rütlistiftete. Ein Werner S. erscheint urkundlich als Landammann vonSchwyz 1313 und 1314.

Stauffenberg, Franz August, Freiherr Schenk von,deutscher Politiker, geb. 4. Aug. 1834 zu Würzburg, studiertein Heidelberg und Würzburg die Rechte, war bis 1860 alsStaatsanwalt in bayrischem Staatsdienst und lebte seitdem aufseinem Gut Geißlingen bei Balingen in Württemberg. Seit1866 Mitglied des bayrischen Abgeordnetenhauses, 1873-75Präsident desselben, Führer der bayrischenFortschrittspartei, ward er 1868 in das Zollparlament, 1871für München in den deutschen Reichstag gewählt,schloß sich der nationalliberalen Partei an und war 1876-1879erster Vizepräsident des Reichstags. 1880 schied er aus dernationalliberalen Partei aus, ward Mitglied der liberalenVereinigung (Sezessionisten) und 1884 der deutschen freisinnigenPartei.

Staunton (spr. stahnt'n), Stadt im nordamerikan. StaatVirginia, Grafschaft Augusta, an einem Nebenfluß desShenandoah, mit großem Irrenhaus, Staatsanstalt fürTaubstumme und Blinde und (1880) 6664 Einw.; wird von Touristenviel besucht.

Staunton (spr. stahnt'n), 1) Sir George Leonhard,Reisender, geb. 1740 zu Galway in Irland, ging 1762 als Arzt nachWestindien, dann nach Ostindien und begleitete 1792-94 Macartneyauf seiner Gesandtschaftsreise nach China, die er im "Account of anembassy from the king of Great Britain to the emperor of China"(Lond. 1791; deutsch, Zürich 1798) beschrieb. Er starb 14.Jan. 1801 in London.

2) Sir George Thomas, Reisender, Sohn des vorigen, geb. 26. Mai1781 zu London, begleitete seinen Vater 1792 nach China, studiertedann in Cambridge, wurde 1799 bei der Faktorei der OstindischenGesellschaft in Kanton angestellt und leistete bei den von 1814 bis1817 zwischen England und China gepflogenen Verhandlungen wichtigeDienste. Nach London zurückgekehrt, widmete er sichlitterarischen Arbeiten und übersetzte namentlich vieles ausdem Chinesischen, z. B. den Kriminalkodex des chinesischen Reichs(Lond. 1810; franz., Par. 1812, 2 Bde.). Er war bis 1852 Mitglieddes Unterhauses und starb 10. Aug. 1859 in London.

3) Howard, engl. Schriftsteller und berühmterSchachspieler, geb. 1810, studierte zu Oxford, widmete sich dann inLondon der journalistischen Thätigkeit und trug 1843 in einemgroßen Schachspielwettkampf zu Paris über den FranzosenSaint-Amant den Sieg davon, was ihm mit Einem Schlag den Ruf desersten Schachspielers in Europa verschaffte. Er erfreute sichdesselben bis zu dem großen Londoner Turnier 1851, auswelchem der Deutsche Anderssen (s. d.) als erster Siegerhervorging, und vermied es seitdem, an öffentlichenWettkämpfen teilzunehmen. S. starb 22. Juni 1874. Von seinenSchriften über das Schachspiel wurde das Handbuch ("Laws andpractice of chess") mehrfach aufgelegt (neue Ausg. von Wormald,1881). Auch leitete er lange Jahre die Schachrubrik in den"Illustrated London News". Im übrigen beschäftigte ersich mit dem Studium der ältern englischen Dramatiker und warals Kommentator bei der Herausgabe einer der bestenShakespeare-Ausgaben (Edition Routledge) beteiligt. Nochveröffentlichte er "Great schools of England" (2. Aufl. 1869)u. a.

Staupe, s. Hundsseuche und Pferdestaupe; böse S., s.v. w. Epilepsie.

Staupenschlag (Staupbesen, lat. Fustigatio), diefrüher gewöhnlich mit der Landesverweisung und mitAusstellung am Pranger verbundene Strafe des Auspeitschens beiwelcher der Delinquent vom Henker durch die Straßengeführt und auf den entblößten Rückengepeitscht wurde.

Staupitz, Johann von, Gönner und Freund Luthers,geboren im Meißenschen, studierte in Tübingen Theologie,ward Prior im Augustinerkloster daselbst, 1502 Professor und dereigentliche Organisator der neugegründeten Universität zuWittenberg, auch 1503 Generalvikar der (kleinen) sächsischenKongregation des Augustinerordens. In dieser Eigenschaft ward er1505 in Erfurt Luthers geistlicher Vater und veranlaßte 1508seine Berufung nach Wittenberg. 1512 legte er seine Professurnieder und hielt sich in München, Nürnberg und Salzburgauf; 1520 gab er auch das Amt des Generalvikars auf, zog sich ausScheu vor den Kämpfen, die er nahen sah, nach Salzburgzurück, ward dort Hofprediger des Erzbischofs und 1522 Abt desdortigen Benediktinerklosters. Hier mußte er, vom Erzbischofvon Salzburg zur Zustimmung zu der Bannbulle gegen Lutheraufgefordert, sich wenigstens zu der Erklärung verstehen,daß er im Papst seinen Richter anerkenne, was Luther ihm alseine Verdammung der Lehre auslegte, zu der S. ihn selbst gewiesen.Er starb 1524. Seine hinterlassenen deutschen Schriften gab Knaakeheraus (Potsd. 1867). Vgl. Kolde, Die deutscheAugustinerkongregation und J. v. S. (Gotha 1879); Keller, Joh. v.S. (Leipz. 1888).

250

Staurodulie - Stearin.

Staurodulie (griech.), Anbetung des Kreuzes.

Staurolith, Mineral aus der Ordnung der Silikate(Andalusitgruppe), kristallisiert in rhombischen, meistsäulenförmigen Kristallen und tritt häufig inZwillingsverwachsungen auf, von welchen die einer beinaherechtwinkeligen Durchkreuzung zweier Individuen den NamenKreuzstein sowie gelegentlich eine abergläubische Benutzung zuAmuletten veranlaßt hat. S. ist rötlich- bisschwärzlichbraun, selten etwas durchscheinend, gewöhnlichundurchsichtig, glasglänzend, Härte 7-7,5, spez. Gew.3,34-3,77. Er enthält zahlreiche mikroskopischeEinschlüsse (Quarz, Granat, Glimmer etc.); seineZusammensetzung entspricht am wahrscheinlichsten der FormelH2R3(Al2)6Si6O34, worin R vorwaltend Eisen in der Form desÖxyduls neben Magnesium ist. S. findet sich eingewachsen inThon- und Glimmerschiefer (namentlich in Paragonitschiefer) am St.Gotthard, häufig mit Disthen gesetzmäßigverwachsen, in Tirol, Mähren, Steiermark, im DepartementFinistere, bei Santiago de Compostela und in Nordamerika.

Staurophör (griech.), Kreuzträger.

Stauroskop (griech.), ein von Kobell angegebenereinfacher Polarisationsapparat zur Beobachtung der Farbenringe unddunkeln Büschel in Kristallplatten.

Stauung, s. Stauen.

Stauungspapille, ein durch v. Gräfe in dieAugenheilkunde eingeführter Begriff, welcher besagt, daßdie Eintrittsstelle des Sehnervs in die Netzhaut von sehrzahlreichen, strotzend gefüllten Venenästchen durchzogenwird. Ob diese Stauung eine rein mechanische oder zugleich derAusdruck einer Entzündung des Sehnervs (Neuroretinitis) ist,scheint noch zweifelhaft; dagegen ist die S. ein sehr wertvollesSymptom, welches auf eine Steigerung des Druckes in derSchädelkapsel, namentlich auf Geschwulstbildungen im Gehirn,schließen läßt.

Stavanger, Hauptstadt des gleichnamigen Amtes, welches9279 qkm (168,5QM.) mit (1876) 110,965 Einw. umfaßt, imsüdwestlichen Norwegen, am Buknfjord, durch Eisenbahn mitEgersund verbunden, ist auf felsigem Boden nach wiederholtenFeuersbrünsten ganz modern aus Holz erbaut, hat eine Domkirche(im 12. und 13. Jahrh. im alten normännischen Stil erbaut,1866 im Innern restauriert), eine Lateinschule, ein kleines Museum,2 Häfen und (1885) 22,634 Einw., welche vornehmlich Schiffahrtund Handel mit den Produkten der Fischerei betreiben. Die Stadtbesaß 1885: 285 Segelschiffe von 91,851 Ton. und 40Dampfschiffe von 12,792 T. S. ist Sitz eines deutschen Konsuls. S.,eine alte, aber erst im 18. Jahrh. wieder emporgekommene Stadt, warbis 1685 Bischoffitz.

Stavelot (Stablo), Stadt in der belg. ProvinzLüttich, Arrondissem*nt Verviers, an der Ambleve und derStaatsbahnlinie Gouvy-Pepinster, hat eine höhere Knabenschule,Gerberei, Wollmanufakturen und (1887) 4452 Einw. - S. war bis 1801die Hauptstadt des deutschen Reichsfürstentums S., dessenOberhaupt der jeweilige gefürstete Abt des 648 vomaustrafischen König Sigebert gegründetenBenediktinerstifts S. war. Ein Leben des Abts Poppo (1020-48) vonEverhelm ist erhalten. Wichtig ist der Streit des Klosters gegenden Erzbischof Anno von Köln um das Kloster Malmedy, inwelchem Anno 1071 unterlag. Von der Abteikirche ist nur noch einTeil des Turms vorhanden. In der Stadtkirche befindet sich derkostbare Schrein des heil. Remaclus.

Stavenhagen, Stadt im GroßherzogtumMecklenburg-Schwerin, Herzogtum Güstrow, an der LinieLübeck-Mecklenburgisch-Preußische Grenze derMecklenburgischen Friedrich Franz-Bahn, hat eine evang. Kirche, einSchloß mit Park, ein Progymnasinm, ein Waisenhaus, einAmtsgericht, eine Zuckerfabrik, eine Dampfmolkerei, Dampfmahl- undSägemühlen, eine Spiegelrahmenfabrik, 2Selterwasserfabriken, Bierbrauerei und (1885) 3023 Einw. S. istGeburtsort des Dichters Fritz Reuter, dem am Rathaus eineGedenktafel gewidmet ist.

Stavoren (Staveren), Stadt in der niederländ.Provinz Friesland, an der Zuidersee, Endpunkt der EisenbahnLeeuwarden-Sneek-S., mit (1887) 877 Einw.; die älteste StadtFrieslands, ehemals groß und mächtig durch Handel undSchiffahrt, jetzt infolge der Versandung des Hafens ganzunbedeutend.

Stawell, Stadt in der britisch-austral. Kolonie Victoria,durch Eisenbahn mit Melbourne verbunden, mit 5 Bankfilialen,Theater und (1881) 7348 Einw. In der Nähe die PleasantCreek-Goldfelder mit 1150 Goldgräbern.

Stawropol, 1) Gouvernement der russ. StatthalterschaftKaukasien, an der Nordgrenze gegen Astrachan und das donischeGebiet, 68,631 qkm (1246 QM.) groß mit (1885) 657,554 Einw.(Russen, nomadisierenden Kalmücken, Truchmenen, Nogaiern,Armeniern). Das Gouvernement enthält zum Teil reichesAckerland, so daß in jedem Jahr über 16,000 Arbeiter zumEinheimsen der Ernte aus Rußland kommen müssen, teilsweite, an Salzseen reiche, aber an Trinkwasser arme Steppen, aufdenen Viehzucht getrieben wird. Waldmangel ist nicht nur in derSteppe, sondern auch in den Berggegenden fühlbar. Die beidenHauptflüsse Manytsch und Kuma sind wasserarm und verlierensich in den Sand. Getreide, Leinsaat, Sonnenblumenkerne, Wolle,Häute und Talg werden nach Rostow am Don ausgeführt. Dersüdlichste Zipfel des Gouvernements wird von der EisenbahnRostow Wladika*wkas durchzogen. Die gleichnamige Hauptstadt, amFlüßchen Taschla, in dürrer, baumloser Ebene, 611 mü. M. gelegen, mit (1885) 36,561 Einw. (Russen, Tataren,Armeniern, Persern, Nogaiern, Grusiern u. a.), ist Sitz einesZivil- und Militärgouverneurs und des kaukasischen undtschernomorskischen Bischofs, hat 13 griechisch-russ. Kirchen, einearmenische und eine kath. Kirche, eine Moschee, Nonnenkloster,geistliches Seminar, vorzügliche Mädchenschule,öffentliche Bibliothek, Theater und zahlreiche Fabriken, derenThätigkeit ebenso wie der Handel beständig im Zunehmensind. Die Stadt hat durch ihre Lage an der aus Persien nachRußland führenden Karawanenstraße großekommerzielle Bedeutung, auch für die asiatische Post ist S.Station. -

2) Kreisstadt im russ. Gouvernement Samara, an der Wolga, 1738gegründet, mit (1885) 4883 Einw., welche sich vorwiegend mitAnbau von Getreide, Zwiebeln und Kartoffeln beschäftigen.

Stazione (ital.), Bahnhof.

Steamer (Steamboat, engl., spr. stihmer, stihmboht),Dampfschiff.

Stearin (C18H35O2)C3H5 findet sich in den meisten Fettenneben Palmitin und Olein, besonders reichlich im Hammeltalg. Um esaus diesem zu gewinnen, schmelzt man denselben und mischt ihn mitso viel Äther, daß er nach dem Erstarren Breikonsistenzbesitzt, preßt wiederholt und kristallisiert denRückstand aus Äther häufig um. Das S. bildet farb-,geruch- und geschmacklose, perlmutterglänzende Schuppen, istlöslich in siedendem Alkohol und Äther, sehr schwer inkaltem Alkohol, nicht in Wasser, reagiert neutral, schmilzt bei62-64°, erstarrt wachsartig und wird

251

Stearinsäure - Stechapfel.

durch Alkalien leicht verseift. Es besteht ausStearinsäuretriglycerid und kann direkt durch Erhitzen vonStearinsäure mit Glycerin erhalten werden. Das S. des Handelsist kein neutrales Fett, sondern ein aus solchem dargestelltesGemisch von Stearinsäure und Palmitinsäure.

Stearinsäure C18H36O2 findet sich, an Glyceringebunden, als Stearin (s. d.) in den meisten Fetten, namentlich inden festen, aber fast immer neben Palmitin und Olein. Aus diesenFetten, besonders aus Talg und Palmöl, wird im großenein Gemisch von S. und Palmitinsäure dargestellt, welchesunter dem Namen Stearin in den Handel kommt. Stearin liefert 95,7Proz. S., Palmitin 94,8 Proz. Palmitinsäure, Olein 90,3 Proz.Olein- oder Ölsäure. Zur Gewinnung desFettsäuregemisches erhitzte man das Fett ursprünglich mitKalkmilch (aus 14 Proz. gebranntem Kalk), trennte die Kalkseife vondem glycerinhaltigen Wasser und schied aus derselben durchSchwefelsäure die fetten Säuren ab. Gegenwärtigarbeitet man in verschlossenen Kesseln (Autoclaves) unter einemDruck von 8-10 Atmosphären (bei 170°) und erreicht eineziemlich vollständige Verseifung durch Anwendung von nur 2-4Proz. Kalk, so daß bei der weitern Verarbeitung anSchwefelsäure bedeutend erspart wird. Unter einem Druck von10-15 Atmosphären und bei einer Temperatur vom Schmelzpunktdes Bleies werden die Fette auch durch reines Wasser ohne Anwendungvon Alkalien zersetzt, und wenn man sie bei 315° mitüberhitztem Wasserdampf in geeigneten Apparaten behandelt, sodestillieren die Fettsäuren und das Glycerin über,während in dem Apparat ein brauner, pechartiger Rückstandbleibt, den man auf Photogen und Anilin verarbeitet. Diese beidenMethoden sind im großen Maßstab ausgeführt,gegenwärtig aber durch die Verseifung mit Schwefelsäureverdrängt worden. Letztere wendet man besonders auf solcheFette an, welche wegen ihrer Beschaffenheit oder ihrerVerunreinigungen nicht mit Kalk verseift werden können, wiePalmöl, Kokosöl, Knochenfett, Abfälle ausSchlächtereien, Küchen etc. Man erhitzt diemöglichst gereinigten Fette unter Umrühren mit 6-12 Proz.konzentrierter Schwefelsäure durch Dampf auf 110-177°,kocht noch 15-20 Stunden das Produkt mit Wasser, reinigt es durchwiederholtes Waschen, entwässert es durch Erhitzen in flachenPfannen und unterwirft es, da es sehr dunkel gefärbt ist, auchunzersetztes Fett enthält, der Destillation durchüberhitzten Wasserdampf. Die Produkte, welche nach dieserMethode erhalten werden, weichen in mancher Hinsicht von den durchKalkverseifung gewonnenen ab. Die Ausbeute beträgt beiletzterer 45-48, bei der Schwefelsäureverseifung mitDestillation 55-60 Proz. Kerzenmaterial. Das gewonnene Gemisch vonFettsäuren läßt man in flachen Gefäßenmöglichst langsam grobkristallinisch bei 20-32° erstarren,preßt unter starkem Druck zuerst kalt, dann bei 35-40°die Ölsäure ab, aus welcher sich bei hinreichenderAbkühlung noch S. ausscheidet, die man aufZentrifugalmaschinen von der Ölsäure trennt, schmelzt undkocht sämtliche S. mit stark verdünnterSchwefelsäure und Wasser, klärt sie mit Eiweiß,bleicht sie auch wohl durch Kochen mit schwacherOxalsäurelösung und gießt sie in Formen. Nach einerneuern Methode erhitzt man das Fett mit 4-6 Proz.Schwefelsäure etwa 2 Minuten auf 120° und kocht es dannmit Wasser. Es findet vollständige Zersetzung statt, und vonder erhaltenen S. kann man 80 Proz. nach zweimaliger Pressungdirekt auf Kerzen verarbeiten, während nur der Rest von 20Proz. zu destillieren ist. Nebenprodukte bei derStearinsäurefabrikation sind Glycerin und Ölsäure.Letztere durch geeignete Prozesse in feste Fettsäurenumzuwandeln (Ölsäure gibt mit schmelzenden AlkalienPalmitinsäure und Essigsäure, mit salpetriger Säurestarre Elaidinsäure), ist bis jetzt in lohnender Weise nochnicht gelungen. Reine S. erhält man aus Seife, wenn man diesein 6 Teilen Wasser löst, 40-50 Teile kaltes Wasser zusetzt,das ausgeschiedene Gemenge von saurem stearinsaurem undpalmitinsaurem Natron durch Umkristallisieren aus heißemAlkohol trennt, das schwer lösliche Stearinsäuresalz mitSalzsäure zersetzt und die S. aus Alkohol umkristallisiert.Sie bildet farb- und geruchlose, silberglänzendeKristallblättchen, ist leicht löslich in Alkohol undÄther, nicht in Wasser, reagiert sauer, schmilzt unter starkerVolumvergrößerung bei 69° und erstarrtschuppig-kristallinisch, ist in kleinen Quantitäten beivorsichtigem Erhitzen destillierbar, leichter im Vakuum und mitüberhitztem Wasserdampf. Von ihren Salzen sind die derAlkalien in Wasser löslich, werden aber durch viel Wasserzersetzt, indem sich unlösliche saure Salze ausscheiden undbasische gelöst bleiben. In Kochsalzlösung sind auch dieAlkalisalze der S. unlöslich. Die übrigen Salze sindunlöslich; erstere finden sich in der Seife, stearinsauresBleioxyd im Bleipflaster. Beim Zusammenschmelzen von S. mitPalmitinsäure wird der Schmelzpunkt des Gemisches selbst unterden der Palmitinsäure herabgedrückt. Dasfabrikmäßig dargestellte Gemisch von S. undPalmitinsäure wird auf Kerzen verarbeitet und zum Enkaustierenvon Gipsabgüssen benutzt.

Ein Patent auf Darstellung von Kerzen aus S. undPalmitinsäure nahmen zuerst Gay-Lussac, Ehevreul undCambacères 1825, doch wurde erst de Milly Begründer derStearinindustrie, indem er 1831 die Kalkverseifung einführteund 1834 auch die Verseifung mit wenig Kalk andeutete und 1855vervollkommte. 1854 gelangten Tilghman und Melsens unabhängigvoneinander zu der Zersetzung der Fette durch überhitztesWasser, und Wright und Fouché konstruierten Apparatefür diese Methode, welche indes, wie auch die mit einerDestillation verbundene Behandlung der Fette mit überhitztemWasserdampf, nur vorübergehende Bedeutung errang. Anfang der40er Jahre begründeten Jones, Wilson, Gwynne die Methode,welche auf der schon 1777 von Achard beobachteten Zersetzung derFette durch Schwefelsäure beruht und in neuerer Zeitallgemeine Verbreitung gefunden hat.

Stearoptene, s. Ätherische Ole.

Steatit, s. Speckstein.

Steatom (griech.), veralteter Name krankhafterGeschwülste von festerer Konsistenz.

Steatopygie (griech.), übermäßigeFettanhäufung am Gesäß der Hottentotinnen, s.Hottentoten.

Steatórnis, s. Guacharo.

Steatose (griech.), krankhafte Fettbildung.

Steben (Untersteben), Dorf und Badeort im bayr.Regierungsbezirk Oberfranken, Bezirksamt Naila, im Frankenwald undan der Linie Hof-S. der Bayrischen Staatsbahn, 580 m ü. M.,hat eine evangelische und eine kath. Kirche, ein Forstamt, 5Stahlquellen und ein Moorbad, die bei Blutarmut, Bleichsucht,Skrofulose, Rheumatismus, Gicht etc. angewendet werden, und (1885)772 meist evang. Einwohner. Vgl. Klinger, Bad S. (2. Aufl., Hof1875).

Stecchetti (spr. stecketti), Lorenzo, Pseudonym des ital.Dichters Olindo Guerrini (s. d.).

Stechapfel, Pflanzengattung, s. Datura.

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Stechbeeren - Stecknitz.

Stechbeeren, s. Daphne und Rhamnus.

Stechbeitel, s. Beitel.

Stechbüttel, s. v. w. Stichling.

Stechdorn, s. v. w. Schlehendorn (s. Pflaumenbaum, S.970); s. v. w. Ilexaquifolium; s. v. w. Rhamnus cathartica.

Stecheiche, s. v. w. Stechpalme, Hex aquifolium.

Stechen, in der Jägerei das Auswerfen kleinerVertiefungen im Boden durch den Dachs und den Fuchs beim Aufsuchenvon Insektenlarven, auch das Einbohren des Schnabels (Stechers) derSchnepfen in den Boden zum Fang von Regenwürmern sowie dasAufeinanderstoßen der Männchen und Weibchen zur Paarzeitin der Luft, besonders der Schnepfen zur Strichzeit; endlich dasSpannen des Stechschlosses an einer Büchse durch den Druck amStecher.

Stechente, s. Lumme.

Stecher, in der Orgel dünne, aber feste Stäbe,die unter den Tasten der Klaviatur angebracht sind und, durch dieseherabgedrückt, den weitern Mechanismus in Bewegung setzen.Vgl. Abstrakten.

Stechginster, s. v. w. Ulex europaeus.

Stechheber, eine weite, bisweilen an einer Stelle zueiner Kugel oder in andrer Form erweiterte, auch konisch zulaufendeGlas- oder Metallröhre, deren obere Öffnung bequem durchden aufgedrückten Finger geschlossen werden kann (s. Figur),dient zum Herausheben von Flüssigkeit aus einem Faß od.dgl. Der S. füllt sich beim Eintauchen in die Flüssigkeitu. bleibt gefüllt, wenn man ihn mit verschlossener obererÖffnung herauszieht. Durch vorsichtiges Heben desverschließenden Fingers kann man beliebige Quantitätender Flüssigkeit abfließen lassen. Vgl. Pipette.

Stechhelm, s. Helm, S. 364.

Stechpalme, s. v. w. Ilex aquifolium.

Stechwinde, Pflanzengattung, s. v. w. Smilax.

Steckbrief, öffentliches Ersuchen um Festnahme einerzu verhaftenden Person, welche flüchtig ist oder sichverborgen hält. Nach der deutschen Strafprozeßordnung(§ 131) können Steckbriefe von dem Richter sowie von derStaatsanwaltschaft erlassen werden. Ohne vorgängigenHaftbefehl ist eine steckbriefliche Verfolgung nur statthaft, wennein Festgenommener aus dem Gefängnis entweicht oder sonst sichder Bewachung entzieht. In diesem Fall sind auch diePolizeibehörden zum Erlaß des Steckbriefs befugt. Der S.muß eine Beschreibung der Person des Verfolgten(Signalement), soweit dies möglich, enthalten sowie diedemselben zur Last gelegte strafbare Handlung und dasGefängnis bezeichnen, in welches die Ablieferung zu erfolgenhat, wofern nicht wegen der Abholung des Festgenommenen eineNachricht erbeten wird. Ist ein S. unnötig geworden, soerfolgt dessen Widerruf (Steckbriefserledigung) auf demselben Weg,auf dem er erlassen ist.

Steckenknechte, bei den Landsknechten dem Profoßbeigegebene, zur Ausführung von Prügelstrafen "Stecken"tragende Gehilfen.

Steckenkraut, s. Ferula.

Stecker, Anton, Afrikareisender, geb. 17. Jan. 1855 zuJosephsthal bei Jungbunzlau in Böhmen, studierte zu HeidelbergNaturwissenschaften und begleitete 1878 G. Rohlfs auf seinerExpedition nach Kufra. 1879 nach Bengasi zurückgekehrt, ginger im Auftrag der Afrikanischen Gesellschaft 1880 nach Tripolis undvon da mit Rohlfs nach Abessinien. Während Rohlfs nach Europazurückkehrte, nahm S. den Tsanasee kartographisch auf, kam1881 nach Godscham, drang von da bis in die Gallaländer,geriet aber in die Gefangenschaft des Königs Menelik vonSchoa. Auf Verwendung Antinoris freigegeben, nahm S. noch einigeSeen in Abessinien auf und kehrte 1883 nach Europa zurück. Erstarb 15. April 1888 in seinem Geburtsort an derLungenschwindsucht.

Steckling (Stopfer), ein beblätterter, halbreiferoder junger Zweig einer Pflanze, den man in die Erde steckt, damiter sich bewurzele und dann zu einer neuen, selbständigenPflanze sich entwickle. Man schneidet ihn dicht unter einem Auge(bei Verbenen mit Beibehaltung eines Stückchens vom Stiel),schneidet einige der untern Blätter ab und steckt ihn in Sandoder Torfmull. Für die schwierigen Pflanzen oder für eineVermehrung in großartigem Maßstab hat man kalte,halbwarme und warme Vermehrungshäuser und benutzt doppeltesGlas, d. h. im Vermehrungshaus (auch Wohnzimmer) noch Glasscheibenoder Glasglocken auf den Stecklingstöpfen oder Schalen;gleichmäßige Feuchtigkeit und Beschattung gegenbrennende Sonnenstrahlen verhindern das Verwelken und Abtrocknen,zeitweises Lüften des innern Glases das Faulen. Stecklinge vonPflanzen mit starkem Saft oder Milchsaft steckt man in Sand mitstehendem Wasser.

Steckkmuschel (Pinna L.), Gattung aus der Familie derMiesmuscheln (Mytilidae), mit schiefdreieckigen, vorn spitzen,hinten klaffenden, dünnen Schalen. Die Steckmuscheln steckenmit dem spitzen Ende im Schlamm oder Sand und sind durch feineByssusfäden an der Umgebung befestigt. Die größteArt ist die 70 cm lange schuppige S. (Pinna squamosa Gm.), imSüdlichen Ozean und im Mittelländischen Meer. Diese unddie nur 30 cm lange edle S. (P. nobilis L.), imMittelländischen und Atlantischen Meer, werden namentlich imBusen von Tarent gefischt. Den 10-25 cm langen, goldbraunen Bartverspinnt man mit Seide und fertigt feine und haltbare Handschuhe,Geldbeutel etc. daraus (s. Byssus). Hin und wieder findet manwertlose Perlen von brauner Farbe in ihr. Im Altertum fabelte manvon dem sogen. Muschelwächter (Pinnotheres), einem Krebs,welcher seinen Wirt, die Pinna, vor Gefahren warnen, dafüraber in ihr wohnen sollte. Die letztere Angabe ist richtig, dieerstere grundlos.

Stecknadeln, s. Nadeln.

Stecknetz (Doppelgarn), Netz zum Fang vonRebhühnern, Fasanen und Wachteln, gewöhnlich 15 bis 16 mlang und 35 cm hoch, welches aus zwei spiegelig gestricktenAußengarnen und einem in der Mitte liegenden Innengarn mitengern Maschen besteht. Wenn Hühner gesprengt sind und mandieselben sich zusammenlocken hört, so stellt man zwischenihnen die Stecknetze mittels Stellstäbchen auf und lockt siedann mittels einer Hühnerlocke (s. d.) zusammen. Wenn siedurch die Maschen des Außengarns durchkriechen, so bleibensie in dem faltigen (busigen) Innengarn hängen. In gleicherWeise kann man auch die Steckgarne an das Ende nicht zu breiterKartoffelstücke und an Hecken stellen und die Hühnerhineintreiben. Der Fang mit diesen Garnen ist leicht, dieHühner werden jedoch dabei gewöhnlich so beschädigt,daß man sie nicht lebend aufbewahren kann. Über den Fangder Wachteln im S. s. Wachtel.

Steckknitz, Fluß im Kreis Herzogtum Lauenburg derpreuß. Provinz Schleswig-Holstein, entspringt aus demMöllnsee und fließt in die Trave, ist kanalisiert undmit der in die Elbe mündenden Delvenau in Verbindung gesetzt,so daß nun die ganze (56 km lange) Schiffahrtsstreckezwischen der Elbe und Trave Stecknitzkanal heißt.

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Steckrübe - Steen.

Steckrübe, s.Raps.

Stedingerland, fruchtbarer Landstrich in der oldenburg.Wesermarsch, begreift im wesentlichen das heutige Amt Berne und istberühmt durch seine freiheitliebenden und tapfern Bewohner,die Stedinger (Stettländer). In alten Zeiten umfaßte derStedinggau außer dem jetzigen S. die vormaligen vierMarschvogteien Moorrieh, Oldenbrook, Strückhausen undHammelwarden, die Vogtei Wüstenlande (die Stedingerwüsteoder Wösting genannt), das jenseit der Weser gelegeneOsterstade und wahrscheinlich auch den damals schon vorhandenenTeil des nachmaligen Vogteidistrikts Schwey. Das jetzige S. liegtzwischen der Ochte, Weser und Hunte, wird von mehreren kleinenFlüssen, der Berne, Hörspe und Ollen, durchströmtund ist an zwei Seiten von der Geest umgeben. Der Boden, dessenobere Lage von dem fetten Wasserschlamm gebildet worden, istfruchtbar und der Landstrich unter allen MarschdistriktenOldenburgs der gesündeste; wegen seiner niedrigen Lage bedarfer aber der Eindeichung. - Als König Heinrich IV. 1062 daslinke Weserufer von der Mündung der Ochte bis zumButjadingerland dem Erzbischof von Bremen schenkte, siedelte dieserRüstringer und Holländer in dem durch Deiche demFluß abgerungenen Gebiet an. Sie nannten sich Stedinger, d.h.Uferbewohner. Ursprünglich zu Zehnten verpflichtet,wußten sie sich bei der Schwäche mehrererErzbischöfe allmählich jeder Zahlung zu entziehen undwahrten ihre Grenzen ebenso energisch gegen die Grafen vonOldenburg, deren Burgen Lichtenberg und Line sie 1187zerstörten. Auch Erzbischof Hartwig II., dem der Papst schongestattete, einen Kreuzzug gegen die Stedinger zu predigen, konntesie nicht unterwerfen (1207). Einer seiner Nachfolger, Gerhard II.,verklagte sie 1232 beim Papst Gregor IX. als Ketzer; die Folgewaren Bann und Interdikt und ein neuer Kreuzzug, für dessenZustandekommen besonders Konrad von Marburg thätig war. KaiserFriedrich lI. ließ sich außerdem zurAchtserklärung herbei. Bald ward unter Anführung desHerzogs Heinrich von Brabant, der Grafen von Holland, von der Mark,von Kleve und von Oldenburg ein Heer von 40,000 Mann gesammelt,welches teils zu Land, teils auf der Weser 1234 gegen die beiOldenesch (Altenesch) 11,000 Mann stark in Schlachtordnungstehenden Stedinger anrückte. Letztere wurden 27. Mai nachtapferm Widerstand in die Flucht geschlagen. Tausende kamen um, undgegen die Gefangenen ward schrecklich gewütet und das Landverwüstet. Die Sieger teilten sich darauf in dasselbe, dergrößte Teil fiel dem Erzbischof von Bremen und denGrafen von Oldenburg zu; doch überließen diese dasErworbene meist den Besiegten oder neuen Kolonisten wieder zuMeierrecht. Erzbischof Nikolaus von Bremen (1422-35) sicherte dieStellung der Stedinger durch ein besonderes Landrecht. Auf demSchlachtfeld von Altenesch wurde an der Stelle einer verfallenenKapelle 27. Mai 1834 ein Denkmal ("Stedingsehre") errichtet. Vgl.Schumacher, Die Stedinger (Brem. 1865).

Steeden (Steeten), Dorf im preuß. RegierungsbezirkWiesbaden, Oberlahnkreis, an der Lahn, hat eine Dolomithöhlemit zahlreichen Knochen vorweltlicher Tiere, Kalkbrennerei und(1885) 645 Einw.

Steele, Stadt im preuß. RegierungsbezirkDüsseldorf, Landkreis Essen, an der Ruhr, Knotenpunkt derLinien Ruhrort-Holzwickede, Vohwinkel-S., S.-Witten und Heissen-S.der Preußischen Staatsbahn, 69 m ü. M., hat einAmtsgericht, wichtigen Steinkohlenbergbau und (1885) 8237 meistkath. Einwohner.

Steele (spr. stihl), Sir Richard, engl. Schriftsteller,geb. 1671 zu Dublin, studierte in Oxford (Genosse Addisons), tratdann als gemeiner Soldat in die Armee (was seine Enterbung zurFolge hatte) und versuchte sich nebenbei als Schriftsteller. Mittenin einem extravaganten Leben überraschte er die Welt durch denmoralischen Traktat "The christian hero"; ihm folgten einigeebenfalls moralische Lustspiele. Als Herausgeber der "Gazette", desoffiziellen Regierungsorgans, hatte er den Vorteil, wichtigeNachrichten aus sicherster Quelle verbreiten zu können, sahsich aber bei ihrer Beurteilung durch manche Rücksichtengehemmt. Er gab daher seit 1709 eine eigne, dreimalwöchentlich erscheinende Zeitschrift: "The Tatler", heraus, inder er "eine belehrende und zum Denken anregende Unterhaltung"versprach. Der Inhalt war sehr vielseitig, der Beifall allgemein.Die bedeutendsten Schriftsteller boten ihre Hilfe an, Addison wurdeder hervorragendste Mitarbeiter. Bald vergrößerte sichdas Unternehmen: seit 1711 erschien täglich "The Spectator",der in einem novellistischen Rahmen Unterhaltungen überlitterarische, ästhetische, selten politische Dinge,Erzählungen, moralische Betrachtungen brachte. Im J. 1713löste "The Guardian" den "Spectator" ab, lenkte aber zu tiefin das politische Fahrwasser, um dauernd Erfolg zu haben, zumal S.im whiggistischen Sinn wirkte, was sogar 1714 seinenAusschluß aus dem Parlament herbeiführte. Als balddarauf mit der Thronbesteigung Georgs I. die Whigs ans Rudertraten, kam S. wieder zu Ehren und erhielt die Stelle einesOberstallmeisters zu Hamptoncourt. Er starb 1. Sept. 1729. SeineLustspiele erschienen 1761, seine Briefe 1787. Vgl. Montgomery,Memoirs of Sir R. S. (Lond. 1865, 2 Bde.); Dobson, R. S. (das.1886).

Steen, Jan, holländ. Maler, geboren um 1626 zuLeiden, war Schüler N. Knupfers zu Utrecht und soll sich dannin Haarlem bei A. van Ostade, vielleicht auch nach Dirk Hals,gebildet haben. 1648 ließ er sich in die Malergilde zu Leidenaufnehmen, und 1649 verheiratete er sich im Haag, wo er bis 1653thätig war. Von 1654 bis 1658 wohnte er wieder in Leiden, dannbis 1669 in Haarlem, und 1672 erhielt er in Leiden die Erlaubnis,eine Schenke zu halten. Er wurde daselbst 3. Febr. 1679 begraben.S. ist der geistreichste und humorvollste der holländischenGenremaler, der auch eine scharfe gesellschaftliche Satire nichtscheut. Er malte biblische Darstellungen in sittenbildlicher,bisweilen humoristischer Auffassung (Hauptwerke: Simson unter denPhilistern, in Antwerpen; Verstoßung der Hagar und Hochzeitzu Kana, in Dresden), zumeist aber Szenen aus dem mittlern undniedern Bürgerstand, in welchen er die größteFeinheit und Mannigfaltigkeit der Charakteristik mit derbem,ausgelassenem, oft groteskem Humor zu verbinden weiß. Erliebt es, seinen figurenreichen Darstellungen oft eine moralischeTendenz unterzulegen oder durch sie ein Sprichwort oder eineallgemeine Wahrheit zu versinnlichen. Am besten ist er imReichsmuseum zu Amsterdam vertreten, wo sich ein St. Niklasfest,der berühmte Papageienkäfig, die kranke Dame mit demArzt, eine Tanzstunde und eine Darstellung des Sprichworts "Wie dieAlten sungen, so zwitschern die Jungen" befinden. Von seinenübrigen Werken sind die hervorragendsten: die Menagerie unddie Lebensalter (im Haag), die Unterzeichnung des Ehekontrakts(Braunschweig), das Bohnenfest (Kassel), der Streit beim Spiel undder Wirtshausgarten (Berlin) und die Hochzeit (St. Petersburg). Inder koloristischen Durchführung seiner Bilder ist S.ungleich.

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Steenbergen - Steff*ck.

Doch übertrifft er in seinen besten und sorgfältigstenArbeiten alle Zeitgenossen an geistreicher, fein zusammengestimmterFärbung und meisterhafter Behandlung des Helldunkels. Vgl. T.van Westrheene, J. S. (Haag 1856). - Sein Sohn Dirk soll sich alsBildhauer bekannt gemacht haben.

Steenbergen, Stadt in der niederländ. ProvinzNordbrabant, Bezirk Breda hat eine katholische und eine reform.Kirche, einen Hafen, starke Krapp-, auch Garancinfabrikation und(1887) 6790 Einw. S. war früher Festung.

Steendysser, s. Gräber, prähistorische.

Steenkerke (Steenkerque), Dorf in der belg. ProvinzHennegau, Arrondissem*nt Soignies, an der Naasee (zur Senne), mit860 Einw., historisch denkwürdig durch den Sieg der Franzosenunter dem Marschall von Luxemburg über Wilhelm III. vonEngland 3. Aug. 1692.

Steenstrup, Johann Japetus Smith, Zoolog undPrähistoriker, geb. 8. März 1813 zu Vang in Norwegen, warbis 1845 Lektor für Mineralogie in Sorö, dann Professorder Zoologie und Direktor des zoologischen Museums in Kopenhagen,privatisiert seit 1885. Von Bedeutung für die Tierkunde imallgemeinen sind seine Arbeiten über das Vorkommen desHermaphroditismus in der Natur (Kopenh. 1846) und über denGenerationswechsel (das. 1842). Außerdem arbeitete erüber die Cephalopoden, über niedere Schmarotzerkrebse(mit Lütken, Kopenh. 1861) und über die Wanderung derAugen bei den Flundern (das. 1864). Lange Jahre widmete er sichauch der Untersuchung der Torfmoore und derKjökkenmöddinger Dänemarks, bei denen er nicht nurdie damalige Tier- und Pflanzenwelt, sondern auch die Erzeugnissefrüherer Kultur berücksichtigte. - Sein Sohn Johannes,geb. 5. Dez. 1844 in Sorö, seit 1877 Professor der nordischenAltertumskunde in Kopenhagen, machte sich als Historiker bekanntdurch "Studien über Waldemars Erdebuch "(1873) und eingrößeres Werk über die Normannen (1876-86, 4Bde.).

Steenwijck (spr. -weik). 1) Hendrik der ältere,niederländ. Maler, geboren um 1550 zu Steenwijk im KreisOveryssel, kam früh nach Antwerpen, wo er Schüler vonHans Fredeman de Vries wurde und 1577 in die Lukasgilde eintrat. Ersiedelte aber bald nach Frankfurt a. M. über, wo er um 1603starb. S. war Architekturmaler und hat vorzugsweise das Inneregotischer Kirchen und großer Säle in genauer, strengerZeichnung, aber mit harter Farbe dargestellt. Bilder von ihmbefinden sich in den Galerien von Wien, Petersburg, Stockholm,Kassel u. a. D.

2) Hendrik der jüngere, Sohn des vorigen, ebenfallsArchitekturmaler, geboren um 1580 zu Frankfurt a. M., warspäter in Antwerpen und London thätig und starb nach1649. Er hat Kircheninterieurs, große Hallen undPalasträume mit Staffa*ge, aber auch die architektonischenHintergründe zu Bildnissen andrer Künstler gemalt. SeineBilder sind häufig (z. B. in Berlin, in der kaiserlichenGalerie zu Wien, im Louvre zu Paris, in der Eremitage zu St.Petersburg und in den Galerien zu Dresden und Kassel). Seinemalerische Behandlung ist freier und breiter als die desVaters.

Steenwijk (spr. -weik), Stadt in der niederländ.Provinz Overyssel, Bezirk Zwolle, an der Steenwijker Aa und derBahnlinie Zwolle-Leeuwarden, Sitz eines Kantonalgerichts, mitmehreren Kirchen, Ackerbau, lebhafter Industrie und Handel und(1887) 5065 Einw. S. war früher Festung und ist namentlichbekannt durch die Belagerung von 1580 und die Einnahme durch dieSpanier 1582. Nordwestlich davon der Flecken Steenwijkerwold, mitAckerbau, Viehzucht, Torfstich, starker Besenbinderei und (1887)6045 Einw.

Steeple-chase (engl., spr. stihpl tsches',"Kirchturmrennen"), ein Wettrennen, bei welchem man frühereinen Kirchturm oder einen ähnlichen hervorragenden Gegenstandzum Ziel setzte und dann querfeldein über Hecken undZäune, durch Bäche und Flüsse hindurch auf denselbenzujagte. Gegenwärtig versteht man in Deutschland unter S. einRennen mit Hindernissen, bei welchem die Reiter auf einer mitFlaggen abgesteckten Bahn in unebenem Terrain verschiedene feste,natürliche oder künstlich angelegte Hindernisse "nehmen"müssen, um das Ziel zu erreichen.

Stefan, Joseph, Physiker, geb. 24. März 1835 zu St.Peter bei Klagenfurt in Kärnten, studierte seit 1853 zu Wien,habilitierte sich 1858 daselbst für mathematische Physik,wurde 1863 Professor der Physik an der Universität und 1866Direktor des physikalischen Instituts. 1875-85 war er Sekretärder mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse der Akademie derWissenschaften in Wien, 1883 Präsident der internationalenwissenschaftlichen Kommission der elektrischen Ausstellung und 1885Präsident der internationalen Stimmtonkonferenz. Er arbeiteteüber die Fortpflanzung des Schalles, über Polarisation,Interferenz und Doppelbrechung des Lichts, über Diffusion undWärmeleitung der Gase, über die Abhängigkeit derWärmestrahlung von der Temperatur, über dieelektrodynamischen Erscheinungen und die Induktion.

Steffani, Agostino, Abbate, ital. Komponist, geb. 1655 zuCastelfranco in Venetien, erhielt seine musikalische Ausbildung inVenedig und München (bei Ercole Bernabei), wurde 1675 inletzterer Stadt Organist, um 1681 Direktor der kurfürstlichenKammermusik und erhielt 1688 infolge seiner Oper "Servio Tullio"die Kapellmeisterstelle am Hof zu Hannover, wo er die Musik zuhoher Blüte brachte. Seine italienischen Opern, welche dort imGarten zu Herrenhausen mit großem Glanz zur Aufführungkamen, wurden auch ins Deutsche übersetzt und in den Jahren1690-1700 auf dem Operntheater zu Hamburg gegeben. Bedeutender aberals diese und seine kunstvollen Kirchenwerke sind seine zahlreichenKammerduette zu italienischen Texten, welche die größteKunst des Tonsatzes mit einer gesangreichen und ausdrucksvollenMelodie vereinigen und als Muster ihrer Gattung gelten. Späternahm mehr und mehr die Diplomatie sein Interesse in Anspruch.Nachdem er seine Kapellmeisterstelle 1710 an Händel, mit demer befreundet war, abgetreten, wurde er vom Kurfürsten von derPfalz zum Geheimrat, vom Papst zum Protonotar und Bischof von Spiza(in partibus) ernannt und widmete sich öffentlich nur nochstaatswissenschaftlichen und geistlichen Geschäften, die ihn1729 auch noch einmal nach Italien führten. Er starb auf derReise 1730 in Frankfurt a. M. Von seinen wenigen im Druckerschienenen Kompositionen nennen wir: "Psalmodia vespertina"(für 8 Stimmen, 1674); "Sonate da camera a due violini, alto econtinuo" (1679); "Duetti da camera a soprano e contralto" (1683)und "Janus quadrifons" (Motetten mit Basso continuo für 3Stimmen, von denen jede beliebige weggelassen werden kann.

Steff*ck, Karl, Maler, geb. 4. April 1818 zu Berlin, kam1837 in das Atelier von Franz Krüger, später in das vonKarl Begas und ging 1839 nach Paris, wo er eine Zeitlang im Ateliervon Delaroche arbeitete, besonders aber nach Horace Vernetstudierte.

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Steffenhagen - Steg

Von 1840 bis 1842 hielt er sich in Italien auf und malte nachseiner Rückkehr meist Jagd- und Tierstücke, schwang sichaber auch zu einem großen Geschichtsbild: Albrecht Achillesim Kampf mit den Nürnbergern um eine Standarte, auf (1848, inder Berliner Nationalgalerie), welches sowohl durch den Glanz desKolorits als durch die meisterhafte Darstellung der Pferdeausgezeichnet war. In der Darstellung von Pferden in ruhigerStellung oder dramatischer Bewegung, aber auch andrer Tiere bewegtesich fortan seine Hauptthätigkeit. Insbesondere bildete er dasSportsbild und das Pferdeporträt zu großerVirtuosität aus. Seine Hauptbilder dieser Gattung sind:Pferdeschwemme, zwei Wachtelhunde um einen Sonnenschirm streitend(1850, in der Berliner Nationalgalerie), der lauernde Fuchs,Arbeitspferde (1860), Halali (1862), Pferdekoppel (1870),Wochenvisite (1872), Wettrennen (1874), Zigeunerknabe durch einenWald reitend, die Stute mit dem toten Füllen. Daneben hat S.auch zahlreiche Porträte, insbesondere Reiterbildnisse (KaiserWilhelm I., Kronprinz Friedrich Wilhelm und v. Manteussel), undeinige Geschichtsbilder (König Wilhelm auf dem Schlachtfeldvon Königgrätz, im königlichen Schloß zuBerlin; Übergabe des Briefs Napoleons III. an KönigWilhelm bei Sedan, im Zeughaus zu Berlin) gemalt. Seit dem Anfangder 50er Jahre entfaltete S. eine umfangreiche Lehrthätigkeit.1880 wurde er als Direktor der Kunstakademie nach Königsbergberufen. Er hat auch lithographiert und radiert.

Steffenhagen, Emil Julius Hugo, Rechts- undLiterarhistoriker, geb. 23. Aug. 1838 zu Goldap inOstpreußen, studierte zu Königsberg die Rechte, wandtesich aber bald vorzugsweise litterarwissenschaftlichen Studien zuund habilitierte sich 1865 in der juristischen Fakultät alsPrivatdozent. 1867 ging er nach Athen, um die dortigeNationalbibliothek im Auftrag der Athener Universität neu zuordnen, folgte 1870 einem Ruf als Stadtbibliothekar nach Danzig,erhielt 1871 eine Kustodenstelle an der KönigsbergerBibliothek, wurde 1872 als Bibliotheksekretär nachGöttingen versetzt und übernahm 1875 die Leitung derUniversitätsbibliothek in Kiel. 1884 wurde er zumOberbibliothekar ernannt. Schon als Student veröffentlichte eraus Königsberger Handschriften "Beiträge zu v. SavignysGeschichte des römischen Rechts im Mittelalter" (Königsb.1859, 2. Ausg. 1861) und den von ihm entdeckten Originaltext vonJohannes Faxiolus "De summaria cognitione" im "Jahrbuch desgemeinen deutschen Rechts" (Bd. 3, 1859), welchen Arbeiten er 1861den Katalog der juristischen, 1867 und 1872 den der historischensowie in Haupts "Zeitschrift für deutsches Altertum" (Bd. 13,1867) die Beschreibung der altdeutschen Handschriften derKönigsberger Bibliotheken folgen ließ. AußerAufsätzen in verschiedenen Zeitschriften schrieb er noch: "Deinedito juris germanici monumento" (Königsb. 1863); "Die neunBücher Magdeburger Rechts" (das. 1865); "DeutscheRechtsquellen in Preußen" (Leipz. 1875). 1877 übertrugihm die Wiener Akademie der Wissenschaften die kritischeBearbeitung der Sachsenspiegelglosse. Als Vorarbeit dazu erschienvon ihm in den Sitzungsberichten der Akademie "Die Entwickelung derLandrechtsglosse des Sachsenspiegels" (Wien 1881-87, 9 Hefte). Anbibliothekwissenschaftlichen Schriften gab er heraus: "Die neueAufstellung der Universitätsbibliothek zu Kiel" (Kiel 1883);"Die Klosterbibliothek zu Bordesholm und die Gottorfer Bibliothek"(mit A. Wetzel, das. 1884); "Über Normalhöhen fürBüchergeschosse" (das. 1885); "Verzeichnis der laufendenperiodischen Schriften der Universitätsbibliothek Kiel" (das.1887); "Die Ordnungsprinzipien der UniversitätsbibliothekKiel" (Burg 1888).

Steffens, Henrich, Philosoph, Naturforscher und Dichter,geb. 2. Mai 1773 zu Stavanger in Norwegen, widmete sich seit 1790zu Kopenhagen naturwissenschaftlichen Studien, bereiste dannNorwegen, eröffnete 1796 zu Kiel naturwissenschaftlicheVorlesungen, wandte sich aber schon im folgenden Jahr nach Jena, woer ein Anhänger von Schillings Naturphilosophie wurde. 1800ging er nach Freiberg, wo er Werners Gunst gewann und"Geognostische geologische Aufsätze" (Hamb. 1810)ausarbeitete, die er später in seinem "Handbuch derOryktognosie" (Berl. 1811-24, 4 Bde.) weiter ausführte. Nachseiner Rückkehr nach Dänemark 1802 hielt er Vorlesungenan der Kopenhagener Universität, ging aber 1804 als Professornach Halle, wo er die "Grundzüge der philosophischenNaturwissenschaft" (Berl. 1806) herausgab, und 1811 nach Breslau.1813 trat er in die Reihen der Freiwilligen ein und machte dieFreiheitskriege bis zur ersten Einnahme von Paris mit. Nach demFrieden kehrte er zu seinem akademischen Lehrerberuf nach Breslauzurück, folgte 1831 einem Ruf an die Universität zuBerlin und starb hier 13. Febr. 1845. S. war einer derHauptvertreter der spekulativen Richtung der Naturforschung,beteiligte sich aber auch lebhaft an andern Fragen der Zeit, wie erz. B. in Breslau in der sogen. "Turnfehde" mit seinen "Karikaturen"(s. unten) und dem "Turnziel" (Bresl. 1818) entschieden gegen dieTurnsache Partei nahm und später eifrig die Sache derAltlutheraner verfocht (vgl. seine Schrift "Wie ich wiederLutheraner wurde", das. 1831). Von seinen naturwissenschaftlichenArbeiten ist noch die "Anthropologie" (Bresl. 1824, 2 Bde.)hervorzuheben, Zeitfragen hat er in religiös und politischmehr als konservativem Geist unter anderm in den Schriften:"Karikaturen des Heiligsten" (Leipz. 1819-21, 2 Bde.), "Von derfalschen Theologie und dem wahren Glauben" (Bresl. 1824, neue Aufl.1831) behandelt, neben welchen die "ChristlicheReligionsphilosophie" (das. 1839, 2 Bde.) zu erwähnen ist. Vonseinen dichterischen Arbeiten (gesammelt als "Novellen", Bresl.1837-38, 16 Bde.) sind besonders "Die Familien Walseth und Leith"(1827, 5 Bde.), "Die vier Norweger" (1828, 6 Bde.) und "Malkolm"(1831, 2 Bde.), Werke, die sich namentlich durch meisterhafteNaturschilderungen aus seiner nordischen Heimat auszeichnen,hervorzuheben. Eine Selbstbiographie schrieb er unter dem Titel:"Was ich erlebte" (Bresl. 1840-45, 10 Bde.). Nach seinem Toderschienen "Nachgelassene Schriften" (Berl. 1846). Vgl. Tietzen,Zur Erinnerung an S. (Leipz. 1871); Petersen, Henrik S. (deutschvon Michelsen, Gotha 1884).

Steg, bei den Streichinstrumenten das zierlichausgeschnittene, aus festerm Holz gefertigte Holztäfelchen,das zwischen den beiden Schalllöchern auf der Oberplatteaufgestellt ist, und über das die Saiten gespannt sind. Der S.steht mit seinen beiden Füßen fest auf der Oberplatteauf; genau unter dem einen Fuß ist zwischen Ober- undUnterplatte der Stimmstock (die Seele) eingeschoben, welcher einNachgeben der Oberplatte verhindert und dem S. eine einseitigefeste Stütze gibt, die dem andern Fuß, sobald eine Saiteschwingt, eine kräftige stoßweise Übertragung derSchwingungen auf die Oberplatte ermöglicht. Beim Klavierheißt S. die parallel mit dem Anhängestock laufendelange Leiste, die auf dem Re-

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Steganographie - Steiermark.

sonanzboden aufliegt, und über welche die Saiten gespanntsind. - An der ionischen Säule heißt S. der schmaleStreifen zwischen den Kannelüren.

Steganographie (griech.), Geheimschrift.

Steganopodes, s. v. w. Ruderfüßer, s.Schwimmvögel.

Stege, Hauptstadt der dän. Insel Möen (s.d.).

Steglitz, Dors im preuß. Regierungsbezirk Potsdam,Kreis Teltow, an der Linie Berlin-Magdeburg der PreußischenStaatsbahn und an der Dampfstraßenbahn S.-Schöneberg,hat eine schöne gotische evang. Kirche, ein Progymnasium, eineBlindenanstalt, ein Feierabendhaus für Lehrerinnen, einDenkmal des Prinzen Friedrich Karl (auf der Maihöhe),bedeutende Gärtnerei, Seidenraupenzucht, Musterlandwirtschaftund (1885) 8501 meist evang. Einwohner.

Stegreif, s. v. w. Steigbügel; Stegreifritter,Raubritter. Aus dem S., eigentlich: ohne abzusteigen, dann s. v. w.ohne Vorbereitung; daher Stegreifdichtung, s. v. w. Improvisation(s. d.).

Stegreifkomödie, s. Commedia dell' arte.

Stehbolzen, Bolzen, gegen deren Ansätzeplattenförmige Körper gepreßt werden können,so daß letztere durch die Bolzen in bestimmter Entfernungvoneinander festgehalten werden.

Stehendes Gut, s. Takelung.

Stehkolben (Kochflaschen), s. Kolben.

Stehlsucht (Kleptomanie), s. Geisteskrankheiten, S.35.

Steichele, Anton, Erzbischof von München-Freising,geb. 22. Jan. 1816 zu Wertingen in Schwaben, studierte inMünchen katholische Theologie, ward 1838 Kaplan, 1841 Domvikarin Augsburg, 1844 geistlicher Rat u. Sekretär des Bischofs vonAugsburg, Peter v. Richarz, 1847 Domkapitular und 1873 Dompropst.In fast klösterlicher Zurückgezogenheit lebend, widmetesich S. ganz der Wissenschaft, namentlich der Kirchengeschichte;für seine Verdienste um diese verlieh ihm die theologischeFakultät in München 1870 die Doktorwürde. Seinehauptsächlichsten Werke sind: "Friedrich, Graf von Zollern,Bischof von Augsburg, und Johann Geiler von Kaisersberg. MitBriefen" (Augsb.1854); "Bischof Peter v. Richarz" (das. 1856); "DasBistum Augsburg, historisch und statistisch beschrieben" (das.1861-87, Bd. 1-5). Durch seine Gelehrsamkeit, Frömmigkeit undMilde für eine hohe kirchliche Würde besonders geeignet,ward er 1878 vom König nach dem Tod Scherrs zum Erzbischof vonMünchen-Freising ernannt.

Steier, Stadt, s. Steyr.

Steierdorf (ungar. Steierlak), Markt im ungar. KomitatKrasso Szöreny, an der Flügelbahn Jassenova-S., mitberühmtem Kohlen- und Eisensteinbergbau derÖsterreich.-Ungarischen Staatsbahn und (1881) 9239 deutschenEinwohnern. In der Nähe das Eisenwerk Anina und derBergwerksort Oravicza (s. d.).

Steiermark (hierzu Karte "Steiermark"), österreich.Herzogtum, grenzt nördlich an Ober- und Niederösterreich,östlich an Ungarn, westlich an Salzburg und Kärnten,südlich an Krain und Kroatien und umfaßt 22,355 qkm(405,99 QM.). Die Bodenbeschaffenheit veranlaßt einenatürliche Einteilung des Landes in das Hochgebirgsland vonObersteiermark, das fruchtbare Hügelland von Mittelsteiermarkund das von Slowenen bewohnte Bergland von Untersteiermark. DasLand nimmt an allen Ketten der Ostalpen Anteil: am nördlichenGebirgszug durch die zu den Salzkammergutalpen gehörigenMassivs des Dachsteins (2996 m), des Kammergebirges, desTotengebirges, des Grimming (2346 m), des Pyrgas (2244 m) und desBuchsteins (2224 m), alle nördlich von der Enns gelegen.Südlich von dieser erheben sich zwischen Enns und Mur dieeigentlichen Steirischen Alpen, im westlichen Teil auch NiedereTauern genannt, mit dem Hochgolling (2863 m), im östlichenTeil als Seckauer Alpen, welche noch weiter östlich in dieSteirisch-Österreichischen Alpen übergehen, mit denGruppen des Hochthor (2372 m), Hochschwab (2278 m) und Hochveitsch(1982 m), woran sich endlich der Semmeringberg und -Paßanschließen. Das Gebiet der S. zwischen der Mur und Drau wirdvon den Kärntnerisch-Steirischen Alpen erfüllt mit demEisenhut (2441 m) im äußersten Südwesten und demZirbitzkogel (2397 m), südlich von Judenburg. Zwischen Lavantund Mur befinden sich die Stainzer Alpen mit der Koralpe (2141 m),deren östliche Fortsetzung, der Posruck und die weinreichenWindischen Bühel, sich zwischen Mur und Drau herabsenkt.Östlich von der Mur erheben sich die Fischbacher Alpen, welchenördlich mit dem Wechsel (1738 m) dem Semmeringgegenübertreten, den Schöckel bei Graz (1446 m)einschließen und nach O. gegen die Raab hin in das SteirischeHügelland übergehen. Das Land in S. zwischen Drau undSave endlich gehört den Karawanken und Steiner Alpen (Grintouz2559 m, Oistriza 2350 m) mit deren östlichen Fortsetzungen,dem Bachergebirge (1542 m), dem Bergland von Cilli und demMatzelgebirge an der kroatischen Grenze, an. GrößereEbenen sind: das Grazer, Leibnitzer und Pettauer Feld. Diewichtigsten Flüsse sind: die Drau, welcher die Mur (mit derMürz) zufließt, und die Save (mit dem Sann und derSotla). Minder wichtig, weil nicht schiffbar, sind: die Enns (mitder Salza), die Raab (mit der Feistritz und Lasnitz) und die Traun,die aus den Abflüssen der Seen des steirischen Salzkammerguts,des Grundelsees, Altausseer Sees und Ödensees, entsteht.Außer diesen gibt es in S. nur kleine Gebirgsseen, z. B. denLeopoldsteiner See bei Eisenerz, den Erlassee an derösterreichischen Grenze. Das Klima ist nach derBodenbeschaffenheit verschieden, rauher im Hochgebirge (Aussee+6° C.), günstiger im fruchtreichen Flachland (Cilli fast+10° C.). Unter den zahlreich vorkommenden Mineralquellen sinddie Säuerlinge von Rohitsch und Gleichenberg, die Saline zuAussee, die indifferenten Thermen von Tüffer, Römerbad,Neuhaus und Tobelbad sowie die Eisenquelle zu Einödhervorzuheben. Andre Kurorte sind: St. Radegund und Frohnleiten mitKaltwasserheilanstalten. S. zählte Ende 1869: 1,137,990, Ende1880: 1,213,597 Einw., so daß sich die Bevölkerung imDurchschnitt jährlich um 0,58 Proz. vermehrte und auf 1 qkm 54Einw. kommen. Ende 1887 wurde sie auf 1,261,006 Seelen berechnet.Der Nationalität nach sind 67 Proz. Deutsche und 33 Proz.Slowenen (die Sprachgrenze läuft südlich von Eibiswaldnach Spielfeld an der Mur, dann längs derselben;außerdem finden sich deutsche Sprachinseln im slowenischenGebiet), der Religion nach größtenteils Katholiken (nur9221 Protestanten und 1782 Israeliten). Die produktiveBodenfläche beträgt im ganzen 93 Proz.; von derselbenkommen auf Ackerland 20,26 Proz., auf Weinland 1,63, auf Wiesen12,78, auf Weiden und Alpen 12,62, auf Wald 51,48 Proz., sodaß unter allen Kronländern Österreichs S.verhältnismäßig das waldreichste ist. Diefruchtbarsten Teile des Herzogtums sind die Thäler, besondersdas Mur- und das Mürzthal, und mit geringen Ausnahmen dieEbenen. Hauptprodukte sind: Hafer (durchschnittlich 1,450,000 hl),Mais (1,220,000 hl), Roggen

256a

Steiermark

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Steiermark (geographisch - statistisch).

(1,000,000 hl) und Weizen (815,000 hl); ferner Buchweizen(600,000 hl), Hirse, Kartoffeln (1,640,000 hl), Futterrüben(3,150,000 metr. Ztr.), Kraut, Kürbisse, Klee, Heu; endlichvon Handelspflanzen Flachs (30,000 metr. Ztr.), Hanf, Hopfen undWeberkarden. Die Obstkultur ist noch sehr vernachlässigt,gutes Obst (Äpfel und Pfirsiche) kommt hauptsächlich nurin der Gegend von Marburg vor. Die Weinkultur erstreckt sich vonMittelsteiermark über das ganze Unterland (Zentralpunkte:Luttenberg, Radkersburg, Gonobitz) und liefert gute Sorten(durchschnittlich 375,000 hl). Von großer Bedeutung ist dieViehzucht. In ausgedehnterm Maß wird die Pferdezucht nur ineinzelnen Hauptthälern, so im Ennsthal, betrieben, wo dasschwere norische Pferd zu Hause ist. Von Rinderrassen sind dasPusterwalder und Mürzthaler Vieh in Obersteiermark, dieMariahofer Rasse im mittlern und südlichen S. vertreten. Aufniedriger Stufe steht die Schafzucht, wogegen Schweine sehr starkgezüchtet werden. Geflügel kommt namentlich in denslowenischen Teilen sehr häufig vor. Auch mit Seidenraupenwerden seit längerer Zeit Versuche gemacht. Nach derZählung von Ende 1880 betrug der Viehstand in S.: 61,338Pferde, 663,173 Stück Rindvieh, 188,273 Schafe, 43,821 Ziegenund 532,721 Schweine. Die Flüsse und Seen sind reich antrefflichen Fischarten (Forellen, Saiblingen). Auf den Hochgebirgentrifft man noch Gemsen; außerdem ist die Jagd von geringemBelang.

Den größten Reichtum besitzt S. in seinen nutzbarenMineralien. 1887 waren 84 Bergbau- und 19 Hüttenunternehmungenmit zusammen 12,719 Arbeitern im Betrieb; die Produktion ergabeinen Wert von 11,24 Mill. Gulden. Am wichtigsten ist dieProduktion von Roheisen, welche durch die ausgezeichneteQualität des Produkts Weltruf erlangt hat, quantitativ aber inden letzten Jahren (wegen der durch die Konkurrenz andrerProduktionsländer gedrückten Preise) erheblicheingeschränkt worden ist. Es waren 1887 nur 8 Eisenerzbergbaueim Betrieb, vor allen an dem berühmten Erzberg bei Eisenerz(Produktion 3,7 Mill. metr. Ztr. Erz). Roheisen wurde von 16 Werkenmit 22 Hochöfen in einer Menge von 1,104,600 metr. Ztr.produziert. Die größten Hüttenwerke sind zu Hieflauund Eisenerz, Vordernberg, Trofaiach, Neuberg und Zeltweg.Zunächst an Bedeutung steht der Braunkohlenbergbau imKöflacher, Leoben-Fohnsdorfer und Trifailer Becken (55Unternehmungen, 19 Mill. metr. Ztr. Kohlenförderung). AndreBergbau-, resp. Hüttenprodukte sind: Graphit (25,500 metr.Ztr.), Zink (12,900 metr. Ztr.), in geringer Menge Silber, Blei undGlätte, Manganerz und Schwefelkies; ferner Salz zu Aussee(181,832 metr. Ztr.). Die industrielle Thätigkeit des Landesbesteht hauptsächlich in der Verarbeitung des Roheisens. Esbestehen in Ober- und Mittelsteiermark zahlreiche, zum Teilausgedehnte Eisenguß- und Raffinierwerke, welche Schienen,Wagenachsen, Ackergerät, Sägen, Bleche, Draht, Guß-und Zementstahl etc. verfertigen. Sehr bedeutend sind ferner: dieSensenindustrie (jährlich 3,7 Mill. Stück Sensen, Sichelnetc.), die Erzeugung von Schmiedewaren, dann die Maschinenindustrie(zu Graz). Außerdem bestehen Fabriken für Zement, Glas(18), Papier, chemische Produkte (zu Hrastnigg), Kerzen und Seifen,Tuch und Filz, Zündwaren, Schieß- und Sprengpulver,Zuckerraffinerien, Kaffeesurrogatfabriken, Bierbrauereien (600,000hl), Branntweinbrennereien, Schaumweinfabriken, Tabaksfabriken,Baumwollspinnereien, Dampfsägen etc. Als Förderungsmitteldes Handels dienen vor allen die Eisenbahnen, die Ende 1887 ineiner Länge von 1046 km im Betrieb waren. DieHauptverkehrsader ist die Linie Wien-Triest der Südbahn, anwelche sich deren Seitenlinien, ferner die StaatsbahnlinieKleinreifling-St. Michael-Villach, die Graz-KöflacherEisenbahn und die Ungarische Westbahn anschließen. AndreKommunikationsmittel sind neben den Landstraßen dieSchiffahrtslinien der Drau, Mur und Save (zusammen 579 km).Für die geistige Kultur sorgen: die Universität und dietechnische Hochschule zu Graz, die Bergakademie zu Leoben, 2theologische Lehranstalten; an Mittelschulen 5 Obergymnasien, einUntergymnasium, 2 Oberrealschulen, eine Unterrealschule, 2Lehrerbildungsanstalten, eine solche Anstalt für Lehrerinnen,ein Mädchenlyceum, 7 Handelslehranstalten, eineStaatsgewerbeschule, 2 gewerbliche Fach- und 31Fortbildungsschulen, eine Zeichenakademie, eine Ackerbauschule, 4andre Schulen für Land- und Forstwirtschaft, eine Berg- undHüttenschule, 768 öffentliche Bürger- undVolksschulen (mit 2883 Lehrpersonen und 150,435 schulbesuchendenKindern). In kirchlicher Beziehung hat das Land 2 katholischeBistümer (Seckau und Lavant, mit dem Sitz in Graz undMarburg). An der Spitze der Landesverwaltung steht dieStatthalterei zu Graz, der Hauptstadt von S. Andre Behördenfür S. sind: das 3. Korpskommando, ein Landwehrkommando, einePostdirektion, ein Oberlandesgericht (für S., Kärnten undKrain), eine Finanzlandesdirektion etc. Der Landtag besteht aus 63Mitgliedern und zwar den beiden Fürstbischöfen, demUniversitätsrektor, 12 Abgeordneten desGroßgrundbesitzes, 19 Abgeordneten der Städte,Märkte und Industrieorte, 6 Abgeordneten der beiden Handels-und Gewerbekammern (Graz und Leoben) und 23 Vertretern derLandgemeinden. Außerdem sind in den politischen Bezirkeneigne Bezirksvertretungen thätig. In den Reichsrat entsendetS. 23 Abgeordnete. Das Wappen von S. s. auf Tafel"Österreichisch-Ungarische Länderwappen". Die politischeEinteilung des Landes ist aus folgender Tabelle zu ersehen:

Bezirke Areal in QKilom. in Qmeilen Bevölkerung 1880

Bruck 2209 40,12 60101

Cilli 2002 36,36 124133

Cilli (Stadt) 2 0,04 5393

Feldbach 984 17,87 81770

Graz 1779 32,31 113328

Graz (Stadt) 22 0,40 97791

Gröbming 1914 34,76 28250

Hartberg 976 17,73 52542

Judenburg 1636 29,71 49544

Deutsch -Landsberg 794 14,42 49487

Leibnitz 730 13,26 64089

Leoben 1086 19,72 41492

Lietzen 1398 25,39 23738

Luttenberg 316 5,74 25615

Marburg 1176 21,35 85057

Marburg (Stadt) 9 0,16 17628

Murau 1388 25,21 27185

Pettau 992 18,01 81328

Radkersburg 457 8,30 38082

Rann 592 10,75 46695

Weiz 1076 19,54 59223

Windischgraz 817 14,84 41126

Zusammen: 22355 405,96 1213597

Vgl. Göth, Das Herzogtum S. (Wien 1840-43, 2 Bde.);Hlubek, Ein treues Bild des Herzogtums S. (das. 1860); Stur,Geologie der S. (das. 1871, mit Karte); Janisch,Topographisch-statistisches

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Steiermark - Steifensand.

Lexikon von S. (das. 1875-85, 3 Bde.); Frischauf,Gebirgsführer durch S. (das. 1874); Rosegger, Das Volkslebenin S. (6. Aufl., Wien 1888); Jauker, Das Herzogtum S. (das. 1880);"Spezial-Ortsrepertorium von S.", herausgegeben von derstatistischen Zentralkommission (das. 1883); Schlossar, Kultur- undSittenbilder aus S. (Graz 1885); Derselbe, Die Litteratur der S.(das. 1886); Krauß, Die nordöstliche S. (das. 1888).

Geschichte.

Unter der Herrschaft der Römer, während welcher dieKelten, darunter als Hauptstamm die Taurisker, das Land bewohnten,gehörte der östliche Teil Steiermarks zu Pannonien, derwestliche zu Noricum. Während der Völkerwanderungbesetzten oder durchzogen Westgoten, Hunnen, Ostgoten, Rugier,Langobarden, Franken und Avaren nacheinander das Land. Seit 595nahmen Slawen (Winden, weshalb früher die Gegend die windischeMark hieß) erst den untern Teil, nach Besiegung der Avarenauch den obern Teil desselben in Besitz. Als ein Teil dieseskarentanischen Slawengebiets kam das Murland unter bayrischeBotmäßigkeit, dann unter karolingisch-fränkischeHerrschaft. Das Christentum verbreitete sich allmählich indiesen Gegenden von Salzburg aus, das zum Metropolitansitz erhobenwurde und seinen Sprengel auch über das spätere S.ausdehnte. Unter Karls Nachfolgern hatte es durch feindlicheEinfälle, namentlich der Magyaren, sehr zu leiden. Denbeträchtlichsten Teil, gegen Westen und Norden, hatten dieMarkgrafen von Karentanien (s. Kärnten), den Landstrich amlinken Ennsufer die Herzöge von Bayern inne. Im 11. Jahrh.ward eine besondere Mark "Kärnten" vom Herzogtum Kärntenabgezweigt und 1056 dem Grafen Ottokar von Steyr im Traungau, einemVerwandten des Lambachschen Geschlechts, verliehen. Seitdem wardder Name S. statt des frühern "Kärntner Mark"üblich. Markgraf Ottokar VI. (VIII.), welcher von KaiserFriedrich I. die herzogliche Würde erhielt, schloß, daer ohne männliche Erben war, 1186 mit dem Herzog Leopold V.von Österreich einen Erbfolgevertrag, zufolge dessen derletztere nach Ottokars Tod 1192 das Herzogtum S. mit seinenLändern vereinigte. Leopolds V. Söhne Friedrich undLeopold VI. teilten sich 1194 in die Herrschaft von Österreichund S., doch kam schon 1198 mit Friedrichs Tod beides wieder inLeopolds Hand. Diesem folgte 1230 Friedrich der Streitbare. Da ersehr willkürlich regierte, führten die SteiermärkerKlage bei dem Kaiser Friedrich II. und erhielten von demselben ihrein Ottokars Testament erhaltenen Freiheiten von neuembestätigt. Dieser Freiheitsbrief und Ottokars Testament gabender steirischen Landhandfeste ihr Entstehen. Nach dem Tode desletzten Babenbergers, Friedrichs des Streitbaren (1246), folgte dasfür S. so verderbliche Zwischenreich, in welchem dasHerzogtum, obgleich eine Partei der Stände Heinrich von Bayern1253 zum Herzog wählte, 1254 unter Vermittelung des Papsteszwischen den Königen Ottokar II. von Böhmen und Bela IV.von Ungarn geteilt wurde. Ottokar II. besiegte die Ungarn 1260 aufdem Marchfeld und ward 1262 vom deutschen König Richard mitÖsterreich und S. belehnt, aber 1276 vom König Rudolf vonHabsburg dieser Lehen verlustig erklärt, worauf letztererseinen ältesten Sohn, Albrecht I., als Statthalter 1282gemeinsam mit dem jüngern Bruder, Rudolf, 1283 allein alserblichen Landesherrn mit S. belehnte. Fortan blieb das Herzogtumim Besitz des Hauses Habsburg. Bei der nach Rudolfs IV. Tod 1365zwischen dessen Brüdern Albrecht III. und Leopold III.vorgenommenen Teilung fiel S. mit Kärnten, Tirol etc. an denletztern. Als dessen Söhne 1406 wiederum teilten, ward S.Ernst dem Eisernen zugesprochen. Sein ältester Sohn undNachfolger (seit 1424) war der nachmalige Kaiser Friedrich III.,der wiederum alle habsburgischen Lande vereinigte. Als 1456 diegefürsteten Grafen von Cilli ausstarben, erwarb Friedrich aufGrund früherer Verträge deren Besitzungen. Die Lehren derdeutschen Reformatoren fanden schon seit 1530 in S. Eingang, und1547 beanspruchte der Landeshauptmann Freiherr Johann Ungnad aufdem Reichstag zu Augsburg freie Religionsübung; doch konntedieselbe erst auf den Landtagen zu Bruck 1575 und 1578 dem HerzogKarl II., dem jüngsten Sohn Kaiser Ferdinands I., welchem beider Länderteilung 1564 S., Kärnten und Krain zu teilgeworden waren, abgenötigt werden. Um die Verbreitung derneuen Lehre zu hemmen, rief Herzog Karl 1570 die Jesuiten zu Hilfeund stiftete 1586 die hohe Schule zu Graz. Sein Sohn Ferdinand II.,der 1596 die Regierung übernahm, erklärte denFreiheitsbrief seines Vaters Karl II. für aufgehoben und wies1598 die protestantischen Lehrer und Prediger aus dem Land. Einehierauf eingesetzte katholische Gegenreformationskommission befahlallen protestantischen Bürgern, entweder zur katholischenReligion überzutreten, oder auszuwandern. Viele Protestantenschwuren damals ihr Bekenntnis ab; eine bedeutende Zahl aber, meistden reichsten und angesehensten Familien angehörig,verließ die Heimat, und nur in den unzugänglichen Bergendes obern S. erhielt sich im stillen in einzelnen Bauernfamiliender evangelische Glaube, weshalb sich dort, nachdem Joseph II. 1781Glaubensfreiheit proklamiert hatte, einige protestantischeGemeinden konstituierten. Ferdinand II. erbte 1619 auch dieübrigen österreichischen Lande, und S. blieb seitdem einTeil derselben. Seit Karl VI. (1728) nahm kein Landesfürstmehr die Huldigung an, und seit 1730 bestätigte keiner dieLandhandfeste mehr. Fortan teilte S. die Schicksale derösterreichischen Monarchie und blieb auch während derNapoleonischen Kriege den Habsburgern erhalten. Seit demWiedererwachen politischen Lebens in Österreich 1860 zeigtesich der Landtag von S. verfassungstreu und freisinnig, erhob 1865seine Stimme gegen die Sistierung der Verfassung und forderte 20.Okt. 1869 die Aufhebung des Konkordats. Das agitatorische Auftretender Slawen in S., das seit 1880 von der Regierung begünstigtwurde, bewirkte nun, daß das Deutschtum sich um sokräftiger regte und die deutsch-nationale Partei in S. eineHauptstütze hatte. Vgl. A. J. Cäsar, Staats- undKirchengeschichte Steiermarks (Graz 1785-87, 7 Bde.); v. Muchar,Geschichte des Herzogtums S. (das. 1844-67, 8 Bde., reicht bis1566); Gebler, Geschichte des Herzogtums S. (das. 1862); Reichel,Abriß der steirischen Landesgeschichte (2. Aufl., das. 1884);"Mitteilungen des Historischen Vereins für S." (das. seit1850); "Beiträge zur Kunde steiermärkischerGeschichtsquellen" (das. 1864 ff.); Zahn, Urkundenbuch desHerzogtums S. (das. 1875-79, 2 Bde.).

Steifensand, Xaver, Kupferstecher, geb. 1809 zu Kaster(Regierungsbezirk Köln), bezog 1832 die Kunstakademie inDüsseldorf und bildete sich, nachdem er den Stich der heil.Katharina nach Raffael von Desnoyers in Linienmanier kopiert hatte,unter Felsing in Darmstadt weiter aus. Nach seiner Rückkehrnach Düsseldorf war sein erstes größeres Werk(1844) der Stahlstich: das Gewitter, nach Jakob Becker fürden

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Steigbügel - Stein.

Rheinischen Kunstverein, worauf eine Madonna mit dem schlafendenKind, nach Overbeck (1846), Friedrich II. mit seinem Kanzler Peterde Vineis, nach Jul. Schrader (1847, Stahlstich), dieGefangennehmung des Papstes Paschalis II. durch Heinrich V., nachLessing, und einige Porträte folgten. In den 50er Jahrenentstanden: Mirjam, nach Köhler; der Christusknabe, nachDeger; die Christnacht, nach Mintrop, u. a. m. Nach Vollendung desStichs der Regina coeli, nach Karl Müller, begann er seingrößtes Werk, die Anbetung der Könige, nach PaulVeronese (in Dresden), das, erst 1873 vollendet, ihm mehrereAuszeichnungen eintrug. Er starb 6. Jan. 1876.

Steigbügel, metallener Halbring mit Platte (Sohle)unter demselben, der an den Steigriemen, Strippen von starkemLeder, zu beiden Seiten des Sattels herabhängt und zumEinsetzen des Fußes beim Reiten dient. Bei den Türkenund mehreren asiatischen Völkern ist die Sohle so groß,daß die ganze Fußsohle darauf ruhen kann, und ersetztmit ihren scharfen Ecken die Sporen. Die Alten kannten die S.nicht, die erst zur Zeit Ottos I. aufgekommen zu sein scheinen. -Auch heißt S. (stapes) eins der dreiGehörknöchelchen (s. Ohr, S. 349).

Steigentesch, August Ernst, Freiherr von, Dichter undSchriftsteller, geb. 12. Jan. 1774 zu Hildesheim als Sohn eineskurmainzischen Kabinettsministers, trat frühzeitig inösterreichische Militärdienste und war eifrig als Soldatund Diplomat, auch an der Seite des Generals FürstenSchwarzenberg, gegen Napoleon I. thätig. Er avancierte bis zumGeneralmajor und war bis 1820 österreichischerMilitärbevollmächtigter am Bundestag. Er starb 30. Dez.1826 in Wien. Außer zahlreichen Lustspielen, in denen er diekleinen Schwächen und Thorheiten der Menschen mit großerWahrheit schilderte, und die sich lange auf der Bühneerhielten, veröffentlichte er auch Gedichte (4. Aufl., Darmst.1823) und eine Reihe von Erzählungen. Seine "GesammeltenSchriften" erschienen in 6 Bänden (Darmst. 1820).

Steiger, s. Bergleute.

Steigerschulen, s. Bergschulen.

Steigerung, in der Grammatik, s. Komparation.

Steigerwald, ein auf der fränk. Terrasse ziemlichisoliert liegendes, nach W. sehr steil, nach O. ganzallmählich abfallendes, mit reichen Nadelholzwaldungenbedecktes Gebirge auf der Grenze zwischen den bayrischenRegierungsbezirken Ober-, Mittel- und Unterfranken, in dem westlichvon Bamberg befindlichen Mainwinkel zwischen Eltmann, Kitzingen undUffenheim gelegen, bedeckt 440 qkm (8 QM.), erhebt sich in seinenhöchsten Spitzen, dem Frankenberg und Hohenlandsberg(nördlich von Uffenheim), bis zu 512 und 505 m und gibt denFlüssen Aurach und Ebrach den Ursprung. Auf der Westseitebildet der Schwan- oder Schwabenberg (473 m) einen vorgeschobenenPunkt.

Steigkunst, s. Fahrkunst.

Steigrad (Hemmungsrad), eine Art Sperrrad, welches inregelmäßigen, durch die Pendelschwingungen bedingtenZeiträumen arretiert wird.

Steigriemenlaufen, s. Spießrutenlaufen.

Steigrohr, ein Rohr, in welchem eine Flüssigkeitdurch Druck emporgetrieben wird.

Stein, im gewöhnlichen Leben jedes festeanorganische Naturprodukt, welches aber ein Mineral oder einGestein sein kann; in der Metallurgie s. v. w. Lech.

Stein (Konkrement), in der Medizin Ablagerungen,bestehend aus anorganischen Massen, namentlich Kalksalzen der Oxal-und Harnsäure und Cholesterin, welche sich in Hohlräumenoder Flüssigkeit führenden Kanälen unter krankhaftenVerhältnissen bilden. Sie kommen vor in der Harnblase, in derGallenblase, in den Gallengängen, im Darm (Darm- oderKotsteine), in der Harnröhre, in der Vorsteherdrüse, inden Nieren, den Bronchien, in den Speichelgängen u. a. O. Sieentstehen entweder infolge von Katarrhen der betreffendenSchleimhäute, oder infolge einer Veränderung derAbsonderung, oder als Niederschläge um von außeneingedrungene Fremdkörper herum. Sie sind bisweilen sehrklein, in der Harnblase des Menschen kommen aber Steine bis zu 500g und darüber vor, im Darm von Pferden Kotsteine bis zu 5 kg.Sie finden sich einzeln oder zu mehreren, in der menschlichenGallenblase bis zu 300; im letztern Fall schleifen sie sichgegenseitig ab und gehen aus der meist rundlichen Form inpolygonale, facettierte Körper über. Sie hemmen dieZirkulation der Sekrete und bedingen Katarrhe undVerschwärungen, die meist unter den lebhaftesten Schmerzen insogen. Koliken verlaufen. Werden sie nicht aufgelöst oderausgestoßen, so werden sie nicht selten die Quellelebensgefährlicher Störungen und Veranlassung zueingreifenden Operationen.

Stein, Gewicht für Wolle, Flachs etc. inPreußen, Sachsen, Österreich früher = 0,2 Ztr.; inEngland (stone) à 14 Pfd. Avoirdupois = 6,350 kg; in denNiederlanden früher = 3 kg; in Schweden = 13,602 kg.

Stein, 1) (S. am Rhein) Landstädtchen in einerParzelle des schweizer. Kantons Schaffhausen, am Ausfluß desRheins aus dem Untersee (Bodensee) und an der BahnlinieSingen-Winterthur, mit (1880) 1364 Einw. Das ehemalige Kloster St.Georg mit gotischem Kreuzgang und einem durch Holzschnitzereireichverzierten Saal ist jetzt im Privatbesitz. Dabei dasSchloß Hohen-Klingen. Vgl. Ziegler, Geschichte der Stadt S.(Schaffh. 1862); Vetter, Das St. Georgenkloster zu S. am Rhein(Lindau 1884). -

2) Stadt in der niederösterreich. BezirkshauptmannschaftKrems, an der Donau, über welche eine Brücke nach demgegenüberliegenden Mautern führt, mit Krems durch eineHäuserreihe ("Und" genannt) zusammenhängend, hatSchloßruinen, ein Zellengefängnis, eine großeTabaks- und eine Holzwarenfabrik, bildet einen wichtigenLandungsplatz für die Donauschiffahrt und zählt (1880)4069 Einw., welche hauptsächlich Weinbau betreiben. S. istSitz einer Finanzbezirksdirektion. -

3) Stadt in Krain, am Feistritzfluß und an der LokalbahnLaibach-S., Sitz einer Bezirkshauptmannschaft und einesBezirksgerichts, hat eine Kaltwasserheilanstalt,Franziskanerkloster, Schießpulverfabrik, Thonwaren- undZementfabrikation und (1880) 1963 Einw. Über der Stadt erhebtsich die Ruine Kleinfeste. Dabei eine sehenswerte dreigeschossigeKirche. S. bildet den Ausgangspunkt für die nördlichgelegenen Steiner Alpen (s.d.). -

4) Dorf im bayr. Regierungsbezirk Mittelfranken, BezirksamtNürnberg, an der Regnitz und der LinieKrailsheim-Nürnberg-Furth i. W. der Bayrischen Staatsbahn, 298m ü. M., hat eine evang. Kirche, ein Schloß, dreiBleistiftfabriken (darunter die weltberühmte Fabersche Fabrikmit 400 Arbeitern), eine Papierfabrik und (1885) 2054 Einw.

Stein, 1) Charlotte von, durch ihre Beziehung zu Goetheder deutschen Literaturgeschichte angehörig, geb. 25. Dez.1742 zu Weimar, Tochter des Hofmarschalls v. Schardt daselbst,vermählte sich als Hofdame der Herzogin Amalia 1764 mit demherzoglichen Stallmeister Friedrich v. S. Eine schwärmerischeVerehrerin von Goethe, lernte sie denselben im

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Stein (Freiherr vom und zum).

November 1775 zuerst persönlich kennen und wurde, wiewohlfast sieben Jahre älter als er und bereits Mutter von siebenKindern, von ihm bald glühend geliebt. Die Innigkeit deseigentümlichen Verhältnisses, das auf Goethes Leben undDichten von großem Einfluß war, litt später unterCharlottens wachsenden Ansprüchen und endete nach GoethesRückkehr aus Italien (1788) mit einem gewaltsamen Bruch,welcher sich in einer 1794 von Charlotte gedichteten Tragödie"Dido" (hrsg. von Otto Volger, Leipz. 1867) in peinlicher Weisekundgibt. Erst nach vielen Jahren gestaltete sich zwischen beidenwieder ein gewisses Freundschaftsverhältnis, das bis zum Todeder Frau v. S., die bereits 1793 Witwe geworden, dauerte. Sie starb6. Jan. 1827 in Weimar. Charlottens schönstes Ehrendenkmalbleiben "Goethes Briefe an Frau v. S. aus den Jahren 1776-1820"(hrsg. von A. Schöll, Weim. 1848-51, 3 Bde.; 2.vervollständigte Ausg. von Fielitz, Frankf. a. M. 1883-85, inwelcher auch "Dido" abgedruckt ist). Eine wertvolle Ergänzunghaben dieselben erhalten durch die von Goethe aus Italien an siegerichteten, aber von ihm für die Ausarbeitung seiner"Italienischen Reise" zurückerbetenen Briefe, die, bisher imGoetheschen Hausarchiv zu Weimar aufbewahrt, neuerdings durch dieGoethe-Gesellschaft (Weim. 1886) veröffentlicht wurden. Ihreeignen Briefe an Goethe hatte Frau v. S. sich zurückgebenlassen und kurz vor ihrem Tod verbrannt. Zahlreiche Briefederselben sind in dem Werk "Charlotte von Schiller und ihreFreunde" (Bd. 2, Stuttg. 1862), enthalten. Gegen mancherleiAnklagen, die neuerlich erhoben worden sind, rechtfertigt sie H.Düntzer in "Charlotte v. S." (Stuttg. 1874). Vgl. auch dessen"Charlotte v. S. und Corona Schröter" (Stuttg. 1876);Höfer, Goethe und Charlotte v. S. (das. 1878).

2) Heinrich Friedrich Karl, Freiherr vom und zum, berühmterdeutscher Staatsmann, geb. 26. Okt. 1757 zu Nassau an der Lahn auseinem alten reichsfreiherrlichen Geschlecht, Sohn deskurmainzischen Geheimrats Philipp von S., widmete sich von 1773 bis1777 in Göttingen dem Studium der Rechte und derStaatswirtschaft, arbeitete ein Jahr beim Reichskammergericht inWetzlar, unternahm eine Reise durch einen Teil von Europa, tratdann, entgegen den Traditionen seines Hauses, in denpreußischen Staatsdienst und erhielt 1780 eine Anstellung alsBergrat zu Wetter in der Grafschaft Mark. Schon 1782 ward er zumOberbergrat befördert, und im Februar 1784 erhielt er dieOberleitung der westfälischen Bergämter. 1793 erfolgteseine Ernennung zum Kammerdirektor in Hamm, 1795 zumPräsidenten der märkischen Kriegs- und Domänenkammerund 1796 zum Oberpräsidenten aller westfälischen Kammern,in welcher Stellung er sich die größten Verdienstenamentlich um den Chausseebau und die Forsten sowie um Hebung derGewerbthätigkeit und Belebung des Handels erwarb. Im Oktober1804 als Minister des Accise-, Zoll-, Salz-, Fabrik- undKommerzialwesens nach Berlin in das Generaldirektorium berufen,bewirkte er die Aufhebung sämtlicher binnenländischerZölle im Innern von Preußen, errichtete das StatistischeBüreau und schuf als Erleichterungsmittel für den Handelund Verkehr Papiergeld. Vergeblich waren freilich seineAnstrengungen, den König zu einer kräftigen,würdigen Politik zu bewegen. Als er im Januar 1807 seinenEintritt in das neue Ministerium von der Umgestaltung der oberstenVerwaltungsstellen und insbesondere von der Beseitigung derKabinettsregierung abhängig machte, erhielt er vom Königin ungnädigster Weise den Abschied. Nach dem Tilsiter Frieden(Juli 1807) berief ihn derselbe jedoch wieder zu sich, um ihm alserstem Minister das große Werk der Neugestaltung des Staatszu übertragen. Steins Plan war: das Volk wieder für dieTeilnahme am Staat und seinen Zwecken zu beleben und an der Leitungdesselben zu beteiligen, die bisher unterdrückten Ständevon den aus dem Mittelalter überkommenen Lasten und Fesseln zubefreien und ein allgemeines freies Staatsbürgertum zugründen. Die Weise, wie er diese Reform anstrebte, zeugtebenso von seinem echt deutschen Geist wie von tieferstaatsmännischer Einsicht. Im September 1807 übernahm ersein neues Amt, und 9. Okt. erschien bereits das Edikt, denerleichterten Besitz und den freien Gebrauch des Grundeigentumssowie die persönlichen Verhältnisse desGrundeigentümers betreffend. Ein andres Gesetzüberließ den Domanialbauern ihr Land zuunumschränktem Grundeigentum. Seine Städteordnung vom 19.Nov. 1808 bildet noch jetzt die Grundlage derRechtsverhältnisse der preußischen Städte. Damitdas so in seinen Verhältnissen und Rechten sittlich undgeistig gehobene Volk auch das Bewußtsein seiner Kraft undMut zur Abwerfung des Fremdenjochs gewinne, unternahm S. darauf mitScharnhorst die Herstellung einer volkstümlichenWehrverfassung. Aber kaum ein Jahr hatte S. als Minister gewaltet,als er durch einen Machtbefehl Napoleons I., dem ein aufgefangenerBrief Steins an den Fürsten von Wittgenstein seine Hoffnung,bald das französische Joch abzuschütteln, verraten hatte,24. Nov. 1808 seinen Abschied zu nehmen und 16. Dez. förmlichgeächtet aus Preußen zu fliehen gezwungen wurde. Ehe ersein Vaterland verließ, legte er die Grundsätze seinerStaatsverwaltung in einem Sendschreiben an die obersteVerwaltungsbehörde nieder, welches unter der Bezeichnung"Steins politisches Testament" weltgeschichtliche Bedeutunggewonnen hat. Von der westfälischen Regierung gerichtlichverfolgt und seiner Güter beraubt, begab er sich nachÖsterreich, wo er abwechselnd in Brünn, Troppau undzuletzt dauernd in Prag lebte. Als zu befürchten stand,daß seine Auslieferung gefordert werden möchte, folgteer im Mai 1812 der Einladung des Kaisers Alexander I. nachPetersburg. Auch von dort aus aber wußte er durch seinenEinfluß auf den Kaiser sowie durch seine ausgedehntenKorrespondenzen und die Bildung einer russisch-deutschen Legion diespätere nationale Erhebung gegen Napoleon I. vorzubereiten.Nach der Katastrophe von 1812 kehrte er mit dem Kaiser nachDeutschland zurück und ward zum Vorsitzenden einesrussisch-preußischen Verwaltungsrats für die deutschenAngelegenheiten ernannt, doch sah er sich in seiner Thätigkeitin dieser Stellung vielfach beengt. Als nach dem Sieg bei Leipzig21. Okt. 1813 eine Zentralkommission für die Verwaltung allerdurch die Truppen der Verbündeten besetzten Länderangeordnet worden war, übernahm S. den Vorsitz in derselbenund erwarb sich trotz der ihm von den einzelnen Regierungen in denWeg gelegten Hindernisse durch tüchtige Verwaltung im Innernund Aufstellung zahlreicher Heerhaufen gegen den äußernFeind hohe Verdienste um das Gesamtvaterland. Die Zentralverwaltungfolgte dem Heer der Verbündeten bis nach Paris. Von dortkehrte S. im Juni 1814 nach Berlin zurück und begab sich imSeptember zum Kongreß nach Wien. Hier nahm er besonders anden Verhandlungen über die deutsche Frage teil. Dann zog ersich ins Privatleben zurück. Den Sommer brachte er meist aufseinen Gütern in Nassau,

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Stein - Steinach.

den Winter in Frankfurt a. M. zu, wo sich im Januar 1819 unterseinem Vorsitz die Gesellschaft für Deutschlands ältereGeschichte konstituierte. Ihr Werk ist die Herausgabe der"Monumenta Germaniae historica" (s. d.), für welche S. selbstviel sammelte. Mit der nassauischen Regierung in mancherleiMißhelligkeiten geraten, siedelte er später auf sein GutKappenberg in Westfalen über. Nach der Einführung derProvinzialstände in Preußen 1823 ward er für denwestfälischen Landtag zum Deputierten erwählt und vomKönig zum Landtagsmarschall ernannt. Auch die Verhandlungender evangelischen Provinzialsynode Westfalens leitete er. 1827ernannte ihn der König zum Mitglied des Staatsrats. S. starb29. Juni 1831 in Kappenberg als der letzte seines Geschlechts, daihn von den Kindern, die ihm seine Gemahlin, Gräfin Wilhelminevon Wallmoden-Gimborn, geboren, nur drei Töchterüberlebten. 1872 ward ihm auf der Burg Nassau (von Pfuhl),1874 in Berlin (von Schievelbein und Hagen) ein Standbilderrichtet. Steins Denkschriften über deutsche Verfassungenwurden von Pertz (Berl. 1848) herausgegeben, Steins Briefe an denFreiherrn v. Gagern 1813-31 von diesem (Stuttg. 1833), seinTagebuch während des Wiener Kongresses von M. Lehmann (inSybels "Historischer Zeitschrift", Bd. 60). Vgl. Pertz, Das Lebendes Ministers Freiherrn vom S. (Berl. 1849-55, 6 Bde.); Derselbe,Aus Steins Leben (das. 1856, 2 Bde.); Stern, S. und sein Zeitalter(Leipz. 1855); Arndt, Meine Wanderungen und Wandelungen mit demFreiherrn vom S. (3. Aufl., Berl. 1869); M. Lehmann, S.,Scharnhorst und Schön (Leipz. 1877); Seeley, Life and times ofS. (Cambr. 1878, 3 Bde.; deutsch, Gotha 1883-87, 3 Bde.) und diekürzern Biographien von Reichenbach (Brem. 1880), Baur(Karlsr. 1885).

3) Christian Gottfried Daniel, Geograph, geb. 14. Okt. 1771 zuLeipzig, wo er studierte, wurde 1795 an das Gymnasium zum GrauenKloster in Berlin berufen, an welchem er bis zu seinem am 14. Juni1830 erfolgten Tod wirkte. Von seinen zahlreichen Werken sindbesonders zu nennen sein mit Hörschelmann begründetes"Handbuch der Geographie und Statistik" (Leipz. 1809, 3 Bde.;neubearbeitet von Wappäus, Delitsch, Meinicke u. a., 7. Aufl.,das. 1853-71, 4 Bde.); "Geographie für Schule und Haus" (27.Aufl. von Wagner und Delitsch, das. 1877);"Geographisch-statistisches Zeitungs-, Post- und Komptoirlexikon"(2. Aufl., das. 1818-21, 4 Bde.; nebst zwei "Nachträgen", das.1822-24); "Über den preußischen Staat nach seinemLänder- und Volksbestand" (Berl. 1818); "Handbuch derGeographie und Statistik des preußischen Staats" (das. 1819);"Reisen nach den vorzüglichsten Hauptstädten vonMitteleuropa" (Leipz. 1827-29, 7 Bde.). Sein "Neuer Atlas derganzen Erde" (Leipz. 1814) erlebte in der Bearbeitung durchZiegler, Lange u. a. eine 33. Auflage (28 Karten mit Tabellen etc.,das. 1875).

4) Leopold, jüd. Theolog, geb. 5. Nov. 1810 zu Burgpreppach(Bayern), bildete sich auf der Talmudschule in Fürth und denUniversitäten zu Erlangen und Würzburg, ward 1834Rabbiner in Burgkundstadt, 1843 in Frankfurt a. M., wo er nachNiederlegung des Rabbinats 1864-74 einer höhernTöchterschule vorstand und 2. Dez. 1882 starb. Er war derentschiedenste Vertreter der Reform des Judentums. Sein Hauptwerkist: "Die Schrift des Lebens. Inbegriff des gesamten Judentums inLehre, Gottesverehrung und Sittengesetz" (Mannh. 1868-77).Außerdem gab er verschiedene Predigtsammlungen undZeitschriften ("Der israelitische Volkslehrer", 1851-60;"Freitagabend", 1860, etc.), mehrere Dramen ("Die Hasmonäer",Frankf. 1859; "Der Knabenraub von Carpentras", Berl. 1863, u. a.)heraus. Sein "Gebetbuch" (Straßb. u. Mannh. 1880-82, 2 Bde.)zeigt S. als formgewandten synagogalen Dichter.

5) Lorenz von, Staatsrechtslehrer und Nationalökonom, geb.18. Nov. 1815 zu Eckernförde, studierte in Kiel und JenaPhilosophie und Rechtswissenschaft, habilitierte sich dann alsPrivatdozent in Kiel und wurde 1846 Professor daselbst. Da er dasRecht der Herzogtümer gegen die dänische Regierungverfocht und an der Schrift der neun Kieler Professoren überdiesen Gegenstand Anteil nahm, wurde er 1852 aus dem Staatsdienstentlassen. Er folgte 1855 einem Ruf als Professor derStaatswissenschaften an die Universität zu Wien, an welcher erbis zu seiner 1885 erfolgten Pensionierung wirkte. Seine Schriftensind sehr zahlreich; wir nennen: "Der Sozialismus und Kommunismusdes heutigen Frankreich" (Leipz. 1842, 2. Aufl. 1847); "Diesozialistischen und kommunistischen Bewegungen seit der drittenfranzösischen Revolution" (Stuttg. 1818); "Geschichte dersozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsre Tage"(Leipz. 1850, 3 Bde.); "Geschichte des französischenStrafrechts" (Bas. 1847); "Französische Staats- undRechtsgeschichte" (das. 1846-48, 3 Bde.); "System derStaatswissenschaft" (Bd. 1: Statistik etc., das. 1852; Bd. 2:Gesellschaftslehre, das. 1857); "Die neue Gestaltung der Geld- undKreditverhältnisse in Österreich" (Wien 1855); "Lehrbuchder Volkswirtschaft" (das. 1858; 3. Aufl. als "Lehrbuch derNationalökonomie", 3. Aufl. 1887); "Lehrbuch derFinanzwissenschaft" (Leipz. 1860; 5. Aufl. 1885-86, 4 Bde.); "DieLehre vom Heerwesen" (Stuttg. 1872). Sein bedeutendstes Werk istdie "Verwaltungslehre" (Stuttg. 1865-84, 8 Bde.), eine umfassende,nicht zum Abschluß gelangte Behandlung desjenigenGegenstandes, den man sonst als Polizeiwissenschaft zu behandelnpflegt. Eine kompendiöse Zusammenfassung der ganzenWissenschaft ist das "Handbuch der Verwaltungslehre" (Stuttg. 1870;3. Aufl. 1889, 3 Bde.). Außerdem schrieb er: "ZurEisenbahnrechtsbildung" (Wien 1872); "Die Frau auf dem Gebiet derNationalökonomie" (Stuttg. 1875, 6. Aufl. 1886); "Gegenwartund Zukunft der Rechts- und Staatswissenschaft Deutschlands" (das.1876); "Der Wucher und sein Recht" (Wien 1880); "Die drei Fragendes Grundbesitzes und seiner Zukunft" (Stuttg. 1881). DasEigentümliche der Werke Steins besteht darin, daß er dieHegelsche Dialektik auf das Gebiet der Volkswirtschaft und derStaatswissenschaft anwandte, um an der Hand derselben dieSystematik dieser Wissenschaften zu verbessern. Doch hat erdarüber die Hinwendung auf das Geschichtliche nichtvernachlässigt.

Steinach, 1) Marktflecken im meining. Kreise Sonneberg,im freundlichen Thal der Steinach, eines Nebenflusses der Rodach,an der Sekundärbahn Sonneberg-Lauscha (Werrabahn), hat einAmtsgericht, Amtseinnahme, Forstei, ein Schloß, Verfertigungvon Kisten, Schachteln, Schiefertafeln, Griffeln, Spielwaren etc.,Wetzstein- und Schieferbrüche, Eisensteingruben, eineGlashütte, Schneide- und Märmelmühlen, Bierbrauereiund (1885) 4743 Einw. Aufwärts im Thal dasEisenhüttenwerk Obersteinach. Am Fellberg, 3 km von S., dieersten und lange Zeit einzigen bedeutendenGriffelschieferbrüche in Deutschland. -

2) Marktflecken in Tirol, Bezirkshauptmannschaft Innsbruck, imWippthal, an der Mündung des Gschnitzthals und an derBrennerbahn gelegen,

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Steinalter - Steinberge.

beliebte Sommerfrische, hat eine Pfarrkirche mit gutenGemälden, ein Bezirksgericht und (1880) 643 Einw.

Steinalter, s. Steinzeit.

Steinamanger (ungar. Szombathely), Stadt im ungar.Komitat Eisenburg, Knotenpunkt der Österreichischen Süd-und Ungarischen Westbahn und Sitz des Komitats, einesrömisch-katholischen Bischofs und eines Gerichtshofs, mitbischöflichem Palais und Park, Franziskaner- undDominikanerkloster, schöner zweitürmiger Domkirche,hübschem Komitatshaus und (1881) 10,820 Einw. S. hat einegroße Eisenbahnwerkstätte, eine Gasfabrik, einObergymnasium, ein Seminar, eine theologischeDiözesanlehranstalt, ein Theater und ein archäologischesMuseum. S., das an der Stelle des römischen Savaria (s. d.)steht, ist von Rebenhügeln umgeben und Fundort zahlreicherrömischer Altertümer.

Stein, armenischer, s. Lasurstein.

Steinau, 1) (S. an der Straße) Stadt impreuß. Regierungsbezirk Kassel, Kreis Schlüchtern, ander Kinzig und der Linie Frankfurt-Bebra-Göttingen derPreußischen Staatsbahn, 169 m ü. M., hat 2 Kirchen, einSchloß, ein Amtsgericht, Zigarren-, Wagen- undSteingutwarenfabrikation, eine Dampfmolkerei, eine Dampfziegelei,Bierbrauerei und (1885) 2189 meist evang. Einwohner. -

2) Kreisstadt im preuß. Regierungsbezirk Breslau, an derOder und der Linie Breslau-Stettin der PreußischenStaatsbahn, 97 m ü. M., hat eine evangelische und eine kath.Kirche, ein Schullehrerseminar, 2 Krankenhäuser, einAmtsgericht, Fabrikation von Öfen, Thonwaren und Möbeln,eine Maschinen- u. eine Schiffbauanstalt und (1885) 3636 meistevang. Einwohner. S. erhielt 1215 deutsches Stadtrecht. Am 11. Okt.1633 Sieg Wallensteins über die Schweden und Sachsen unterThurn, welcher sich mit 12,000 Mann ergeben mußte. Vgl.Schubert, Geschichte der Stadt S. (Bresl. 1885).

Steinäxte, Steinmesser etc., s. Steinzeit.

Steinbach, Stadt im bad. Kreis Baden, an der LinieMannheim-Konstanz der Badischen Staatsbahn, 151 m ü. M., hateine kath. Kirche, eine Bezirksforstei, Essig- undMostrichfabrikation, bedeutenden Weinbau (Affenthaler) und (1885)2055 meist kath. Einwohner. S. ist Geburtsort Erwins von S., dem1844 auf einem nahen Hügel ein Denkmal errichtet ward.

Steinbach, s. Erwin von Steinbach.

Steinbach-Hallenberg, Flecken im preuß.Regierungsbezirk Kassel, Kreis Schmalkalden, an der Schwarza und ander Eisenbahn Zella-Schmalkalden, 438 m ü. M., hat eineimposante Burgruine, ein Amtsgericht, eine Oberförsterei,Fabrikation von Eisenkurzwaren, gedrechselten Holzwaren, mehrereEisenhämmer, Schneidemühlen, Braunsteingruben und (1885)3116 evang. Einwohner.

Steinbearbeitung, s. Steine.

Steinbeere (Steinfrucht, Drupa), eine Art derSchließfrüchte, von den Beeren dadurch unterschieden,daß auf den saftigen Teil der Frucht nach innen einesaftlose, meist harte Schicht (das Endokarp) folgt, welche in einereinfachen oder mehrfächerigen Höhlung erst deneigentlichen Samen einschließt und Steinkern oder Steinschale(Putamen) genannt wird. Der Steinkern ist meist von holzartiger,knochen- oder steinartiger Härte, wie beim Walnußbaumund bei den Amygdalaceen, die deshalb auch Steinobstgehölzeheißen. Bei den Pomaceen ist dagegen der hiermehrfächerige Steinkern mit wenigen Ausnahmen nur aus einerdünnen, pergamentartigen Schicht gebildet. Das Fleisch der S.ist entweder saftig, wie bei den meisten Amygdalaceen, odersaftlos, wie bei der Mandel und Walnuß, oder trocken undfaserig, wie bei der Kokosnuß. Zusammengesetzte Steinbeerensind die Brombeeren und Himbeeren, indem hier die zahlreichen aufdem Blütenboden sitzenden Steinfrüchtchenzusammenhängen und als Ganzes sich ablösen.

Steinbeere, s. Paris und Vaccinium

Steinbeis, Ferdinand von, geb. 5. Mai 1807 zuÖlbronn in Württemberg, erlernte seit 1821 zuWasseralfingen und Abtsgmünd den Berg- und Hüttenbetrieb,studierte in Tübingen Mathematik und Naturwissenschaft undtrat 1827 in die Verwaltung des Staatseisenwerks Ludwigsthal ein.1830 wurde er Betriebsdirektor der Hüttenwerke desFürsten zu Fürstenberg, folgte dann einem Ruf derGebrüder Stumm in Neunkirchen bei Saarbrücken zurBetriebsleitung und zum Umbau ihrer Eisenwerke und führte denin den Rheingegenden vergeblich versuchten Kokshochofenbetrieb mitgroßen Vorteilen in der Materialersparnis und derQualität der Produkte ein. 1848 wurde er Mitglied derneubegründeten Zentralstelle für Gewerbe und Handel inStuttgart, deren Präsidium ihm 1855 zufiel. Zu besonderm Rufgelangten das von ihm 1849 begonnene württembergischeGewerbemuseum und der unter seiner Leitung entstandene, überdas ganze Land verbreitete Fortbildungsunterricht, welchem auch dieFrauenarbeitsschulen angehören. Nach dem im Gewerbemuseumbefolgten Plan, der 1851 durch die Ausstellung in London bekannterwurde, legten die Engländer das Kensington-Museum (allerdingsmit viel bedeutendern Mitteln) an, welches wiederum das Vorbildfür derartige Museen in allen Industrieländern gewordenist. 1848 wurde S. zu dem in Frankfurt a. M. thätigenAusschuß des Allgemeinen Deutschen Vereins zum Schutz dervaterländischen Arbeit entsandt und unterstützte dieschutzzöllnerischen Bestrebungen desselben bis zurAuflösung des Parlaments, während er seit 1862 mehr demFreihandel zuneigte. Von 185l an war S. als Kommissar undPreisrichter auf fast allen Universalausstellungen thätig. Indem seit 1849 von ihm redigierten "Gewerbeblatt" publizierte ereine große Zahl technischer und volkswirtschaftlicherAufsätze. Außerdem schrieb er: "Die Elemente derGewerbebeförderung, nachgewiesen an der belgischen Industrie"(Stuttg. 1853); "Entstehung und Entwickelung der gewerblichenFortbildungsschule in Württemberg" (das. 1872). Für seinevielfachen Verdienste um die Industrie wurde S. derpersönliche Adel verliehen, und nach der PariserIndustrieausstellung begründete eine große AnzahlIndustrieller eine S.-Stiftung zur Ausbildung u. Unterstützungder gewerblichen Jugend. Seit 1880 lebt S. in Leipzig.

Steinbeißer, s. v. w. Kirschkernbeißer (s.Kernbeißer) und Steinschmätzer.

Steinberge (Crannoges, Holzinseln), den schweizerischenPfahlbauten ähnliche, aus Erde und Steinen in Verbindung mitPfählen hergestellte vorgeschichtliche Konstruktionen inIrland, besonders auf den durch die Gewässer des Shannongebildeten Inseln, die im Winter unter Wasser stehen. Lubbock ("Dievorgeschichtliche Zeit", Jena 1874, Bd. 1, S. 174) gibt dieAbbildung eines Durchschnitts durch einen solchen Wasserbau.Knochen von Haus- und Jagdtieren, Stein-, Knochen-, Bronze- undEisengeräte wurden auf den Steinbergen in großen Mengenangetroffen. Die S. sind als Festungen und Zufluchtsorte derkleinen irischen Häuptlinge noch im 16. Jahrh. bewohntgewesen. Vgl. Martin, The lake dwellings of Ireland (Dublin1886).

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Steinberger - Steinbrechmaschine.

Steinberger, Rheinweinsorte erster Güte, die amStein bei Hochheim (s. d.) erzeugt wird; s. Rheinweine.

Steinbock (Ibex Wagn.), Untergattung der Gattung Ziege(Capra L.), durch die vorn abgeplatteten Hörner ohne Kiel mitknotigen Querwülsten charakterisiert, umfaßt mehrere denhöchsten Gebirgen der Alten Welt angehörige Tiere,über deren Artverschiedenheit nichts Sicheres bekannt ist. Mankennt Steinböcke auf den europäischen Alpen, auf denPyrenäen (Bergbock) und andern spanischen Gebirgen, auf demKaukasus, den Hochgebirgen Asiens, im Steinigen Arabien, inAbessinien und auf dem Himalaja.

Der Alpensteinbock (Capra Ibex L.), 1,5-1,6 m lang, 80-85 cmhoch, der Bock mit sehr starkem, 80-100 cm langem, bogen- oderhalbmondförmig schief nach rückwärts gebogenemGehörn, welches beim Weibchen bedeutend kleiner und mehrhausziegenartig ist. Der Körper ist gedrungen und stark, derHals von mittlerer Länge, der Kopfverhältnismäßig klein, aber an der Stirn starkgewölbt; die Beine sind kräftig und von mittlererHöhe. Die Behaarung ist rauh und dicht, am Hinterkopf, Nackenund Unterkiefer verlängert, im Sommer rötlichgrau, imWinter fahl gelblichgrau. Längs der Mitte des Rückensverläuft ein schwach abgesetzter, hellbrauner Streifen; Stirn,Scheitel, Nase, Rücken und Kehle sind dunkelbraun; die Mittedes Unterleibs ist weiß.

Der S. der Alpen ist wie die Steinböcke der andernHochgebirge und wie die Gemse ein wahres Alpentier; er lebt inRudeln von verschiedener Stärke und steigt nur dann in dieWaldregion herab, wenn die Alpenkräuter, seine Nahrung, vomSchnee bedeckt sind. Alle seine Bewegungen sind rasch und leicht;er klettert mit außerordentlicher Gewandtheit und weißan den steilsten Felsenwänden Fuß zu fassen, auchspringt er mit größter Sicherheit und verfehlt nie seinZiel. Mit Sonnenaufgang steigen sie weidend bergauf, lagern sich anden wärmsten und höchsten Plätzen und kehren gegenAbend weidend zurück, um die Nacht in den Wäldern weidendzu verbringen. Die Brunstzeit fällt in den Januar, undfünf Monate nach der Paarung wirft das Weibchen ein oder zweiJunge, welche sie in der Gefahr tapfer verteidigt. Jungeingefangene Steinböcke werden leicht zahm, doch bricht dieWildheit im Alter wieder hervor. Während der S. in der Mammut-und Renntierzeit durch die ganze Schweiz, einen TeilSüdfrankreichs und (wahrscheinlich) bis Belgien verbreitetwar, noch von Plinius kenntlich als Hochgebirgsstier erwähntwurde, auch im frühen Mittelalter bei den St. GallerMönchen als Wildbret beliebt war und noch von Albertus Magnuszur Hohenstaufenzeit als häufig in den Deutschen Alpenbezeichnet wurde, ist der Bestand desselben in den letztenJahrhunderten schnell zusammengeschmolzen; 1550 wurde der letzte inGlarus, 1583 der letzte am Gotthard erlegt; 1574 war er inGraubünden kaum noch aufzutreiben; 1706 verschwand er aus demZillerthal, wo er über ein Jahrhundert von denErzbischöfen von Salzburg beschützt worden war, sodaß schon im vorigen Jahrhundert sein natürlichesVorkommen auf die Hochgebirge des südlichen Wallis, Savoyensund Piemonts sich beschränkte. Mehrfache Versuche, ihn aneinzelnen Stellen der Schweiz und den Österreichischen Alpenwieder einzubürgern, haben keinen dauernden Erfolg gehabt, nurim Höllensteingebirge am Traunsee soll sich eine Kolonieerhalten und fortgepflanzt haben. Gegenwärtig findet sich nurnoch in den Thälern, welche vom Aostathal insüdwestlicher Richtung streichen, durch strengsteMaßregeln des Königs Viktor Emanuel geschützt, eineAnzahl von 300 bis 500 Stück, die aber doch trotz allenSchutzes an Terrain eher zu verlieren als zu gewinnen scheinen. Nureinzelne alte Böcke finden sich oft weit versprengt bisweilennoch in andern Gebieten. Im Aostathal legte der König auch einGehege für Steinbockzucht an und erzielte durch eineausgewählte Ziegenart, welche in das Gebirge zu den wildenSteinböcken getrieben wurde und von dort trächtigzurückkehrte, eine Kolonie von Steinbockbastarden, welche nursehr gute Kenner von den echten Steinböcken zu unterscheidenvermögen. Diese Steinbockbastarde haben 1 m lange Hörnerund sind zur Fortpflanzung durchaus geeignet. Beim Tode desKönigs kam der größte Teil des Bestandes von 52Stück in das fürstlich Pleßsche Gehege in Salzau,17 Stück aber wurden in Graubünden in Freiheit gesetzt,um das Rätische Gebirge mit Steinwild zu bevölkern. Vgl.Girtanner, Der Alpensteinbock (Trier 1878).

Steinbock, 1) das zehnte Zeichen des Tierkreises(^[...]);

2) Sternbild zwischen 301-326½° Rektaszension und9¾-28 1/3° südl. Deklination, nach Heis 63 dembloßen Auge sichtbare Sterne zählend, davon drei vondritter Größe.

Steinborn, Pfarrdorf im preuß. RegierungsbezirkTrier, Kreis Daun, in geognostisch merkwürdiger Gegend derEifel, hat (1885) 282 kath. Einwohner. Dabei der Felsberg,Rimmerich, Errensberg und Scharteberg mit deutlich erkennbarenLavaströmen.

Steinbrand, s. Brandpilze II.

Steinbrech, Pflanzengattung, s. Saxifraga.

Steinbrechartige Pflanzen, s. Saxifragaceen.

Steinbrecher, s. Adler, S. 122.

Steinbrechmaschine, mechan. Vorrichtung zur Zerkleinerungvon Gesteinen, Erzen etc., welche vielfach an Stelle der sonstüblichen Pochwerke und Walzen angewandt wird, besteht imwesentlichen nach der Figur aus zwei im spitzen Winkelgegeneinander gestellten eisernen Platten a c, zwischen welche diezu zerbrechenden Steine geschüttet werden. Die eine Platte asteht fest, die andre ist um Zapfen f beweglich und nähertsich der feststehenden Platte durch die Wirkung eines Kniehebels gh g', welcher sich gegen a' stützt, während dieRückbewegung durch das Gewicht der Platte, unterstütztdurch eine Feder i, erfolgt. Bei dieser Rückbewegung findetnatürlich eine Erweiterung des Brechmauls r statt, welche demdarin befindlichen Steinmaterial Gelegenheit gibt, tiefer zusinken, bis es wieder fest anliegt; die hierauf folgendeVerengerung wird sodann, wenn der Winkel zwischen beiden

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Steinbruch - Steindienst.

Backen genügend klein gewählt ist, um ein Ausweichender Steine nach oben auszuschließen, die Zerdrückung zurFolge haben. Bei rasch aufeinander folgender Wiederholung dieserSchwingungen des Backens c, hervorgerufen durch das Exzenter k,welches auf der Welle des Schwungrades l sitzt, werden sonach dieoben aufgegebenen großen Steine immer tiefer einsinken undallmählich zu immer feinerm Korn zerdrückt. Die Maschinearbeitet demnach kontinuierlich, indem regelmäßig obenaufgegeben und unten abgezogen werden kann. Um die Maschine selbstvor Abnutzung zu schützen und gleichzeitig die Form desBackenquerschnitts für verschiedenes Material verschiedenwählen zu können, sind die Backen noch mit besondernDruckplatten b d aus hart gegossenem Gußeisen vonwellenförmigem Querschnitt versehen, welche nach Bedarfausgewechselt oder erneuert werden können. Der Antrieb derMaschine erfolgt durch Riemenscheibe von einem Dampf- oderWassermotor aus, und ein Schwungrad l dient zur Regulierung desWiderstandes. Die S. von Blake zerkleinerte in der Stunde 200 Ztr.harten, körnigen Granit zu brauchbarem Chausseematerial, wenndie Betriebsarbeit 5 Pferdekräften entsprach.

Steinbruch (ungar. Köbánya), Ort bei Budapestin Ungarn und Station der Österreichisch-Ungarischen sowie derUngarischen Staatsbahn, hat (1881) 8804 Einw., 2 großeBierbrauereien, Schweinemastanstalten und 2 Hochreservoirs derBudapester Wasserleitung und bildet den 10. Bezirk der ungarischenHauptstadt (s. Budapest, S. 588).

Steinbrüche, s. Steine.

Steinbrück, Eduard, Maler, geb. 3 Mai 1802 zuMagdeburg, widmete sich in Berlin unter Wach der Kunst, ging 1829nach Düsseldorf, dann nach Rom, lebte von 1830 bis 1833 wiederin Berlin, darauf bis 1846 in Düsseldorf, seitdem abermals inBerlin und zog sich im März 1876 nach Landeck in Schlesienzurück, wo er 3. Febr. 1882 starb. Seine Bilder, deren Motivemeist der Sage und der Dichtung entnommen sind, tragen in derempfindsamen Auffassung wie in dem zarten, weichen Kolorit dasGepräge der Düsseldorfer Romantik. Die hervorragendstenderselben sind: Genoveva, Rotkäppchen, Nymphe der Düssel,Fischerfrau am Strand, Undine, die Magdeburger Jungfrauen, welchesich während der Plünderung der Stadt 1631 von denWällen herabstürzen, und Maria bei den Elfen, nach TiecksMärchen (1840, in der Nationalgalerie zu Berlin).

Steinbühler Gelb, s. v. w. chromsaurer Baryt oderchromsaurer Kalikalk, welcher aus Chlorcalciumlösung durchchromsaures Kali gefällt wird und einen schön gelbenFarbstoff bildet.

Steinburg, Kreis in der preuß. ProvinzSchleswig-Holstein, benannt nach einer alten Burg, östlich vonKrempe, mit der Hauptstadt Itzehoe.

Steinbutt, s. Schollen.

Steinbutter, s. Bergbutter.

Steindattel (Lithodomus lithophagus Cuv.), Muschel ausder Familie der Miesmuscheln (Mytilidae), lebt an den Ufern desMittelmeers in Felslöchern oder in Steinkorallen, in welchesie sich auf noch nicht sicher ermittelte Weise einbohrt.Wahrscheinlich sondert sie einen kalkauflösenden Saft ab, dasie nicht wie die Bohrmuschel (s. d.) sich durch Feilen helfenkann. Die Bohrlöcher sind innen völlig glatt. Besondersinteressant ist ihr Vorkommen in den Säulen des sogen.Serapistempels von Pozzuoli bei Neapel. Sie nehmen dort eine scharfbegrenzte, etwa 2 m hohe Zone ein und beweisen so, daß derTempel nach seiner Erbauung eine geraume Zeit im Wasser gestandenhaben muß. Da er aber gegenwärtig wieder auf demTrocknen steht, so hat man darin wahrscheinlich ein Beispiel vonSenkung und Hebung des Meeresbodens in vulkanischer Gegend und zuhistorischer Zeit (weiteres s. Hebung; vgl. indes Brauns, DasProblem des Serapeums zu Pozzuoli, Halle 1888).

Stein der Weisen, s. Alchimie.

Steindienst (Steinkultus), die dem gesamten Heidentum derVorzeit und Jetztwelt eigentümliche Verehrung erwählterSteine, sei es roher oder behauener, und zwar als Fetisch, Idol derGottheit oder als Opferstein. Die roheste und ursprünglichsteForm scheint diejenige zu sein, in welcher das Naturkind irgendeinen beliebigen Stein erwählt und zu seinem Fetisch macht.Die Dakota Nordamerikas nehmen einen runden Kieselstein und bemalenihn, dann reden sie ihn Großvater an, bringen ihm Opfer undbitten ihn, sie aus der Gefahr zu erretten. Ähnlichesbeobachtete man in Südamerika, in der Südsee, an vielenOrten Afrikas, Lapplands, Indiens etc. Bei den Kulturvölkernder Alten Welt finden sich ähnliche Gebräuche, die abermeist nur Meteorsteinen und prähistorischen Steinwaffen oderWerkzeugen, die man für vom Himmel gefallene Waffen derGötter, namentlich für Donnerkeile (Jupiter lapis-Kult),hielt und vielfach als Amulette trug, dargebracht wurden, wobei manbereits eine deutlichere Verknüpfung mit derübersinnlichen Welt gewahrt. Die hochgefeierten Palladien derTrojaner, Griechen und Römer waren meistens solche vom Himmelherabgefallene Göttergeschenke, die namentlich im Kulte derKybele, Minerva und des Mars eine Rolle spielten. Anderseitsscheint bei einer etwas höher gestiegenen religiösenBildung eine Art von Vermählung der Gottheit mit einembestimmten ihr errichteten Altarstein, Opfertisch oder Idolangenommen worden zu sein, sei es, daß man, wie im altenÄgypten, meinte, die Gottheit nehme in dem Stein Wohnung, oderauch, indem der Stein als uralte Opferstätte der Väterden Nimbus des nationalen Allerheiligsten eines Volkes oder Stammeserwarb. So wurden einfache Platten, Steinkegel, Opfertische etc. zudem Ursymbol der Nationalgottheit, dem man sich mit demhöchsten religiösen Schauder näherte. Hierhergehören: der schwarze Stein von Pessinus, das berühmtekonische Idol der Venus auf Cypern, der Stein, welcher bei denböotischen Festen als Vertreter des typischen Eros diehöchsten Ehren genoß, der rohe Stein zu Hyettos, welcher"nach alter Weise" den Herakles darstellte, die 30 Steine, welchedie Pharäaner in althergebrachter Weise an Stelle derGötter verehrten, die rohen Steinaltäre zu Bethel,Garizim und Jerusalem, der Steinkreis von Stonehenge (s. d.) alsvornehmstes Beispiel der unzähligen, über die ganze AlteWelt verbreiteten Cromlechs (s.d.) etc. Tacitus sagt, wo er von derVerehrung der paphischen Venus als Steinkegel spricht, die Ursacheruhe im Dunkel (ratio in obscuro); allein wir werden kaum irregehen, wenn wir in ihnen Überbleibsel aus einer rohernUrreligion suchen, die in dem philosophischer gewordenen KultusAufnahme fanden, wie z. B. so vielfach Isisbilder in "schwarzeMadonnenbilder" umgewandelt worden sind. Durch die Beibehaltung desalten Idols besiegelte die neue Religion ihren Frieden mit deralten. Wir sehen ganz dasselbe bei dem heiligen Stein in der Kaaba(s. d.) zu Mekka und an der heiligen Steinplatte in der MoscheeOmars zu Jerusalem, die eben uralte heilige Steine undOpferstätten der Araber und Juden waren, vielleicht seitJahr-

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Steindrossel - Steine, künstliche.

tausenden vor dem Auftreten Mohammeds. Aber gerade der mystischeReiz, welcher in der Verehrung des rohen Naturidols liegt,führte zu den tollsten Übertreibungen in dieserKultusform. Theophrast schildert im 4. Jahrh. v. Chr. den Typus desabergläubischen Griechen, der immer sein Salbfläschchenbei sich führt, um jedem heiligen Stein, dem er auf derStraße begegnet, Öl aufzuträufeln, dann davorniederzufallen und ihn anzubeten, ehe er seines Wegs weiterschreitet. Die Kirchenväter (Arnobius, Tertullian u. a.)machen sich lustig über diesen Gebrauch der Heiden, Steine zusalben und anzubeten; aber sie vergessen, daß dies eine gutbiblische Sitte war, die auch Jakob, der Erzvater, bei jenem Steinübte, der ihm als Kopfkissen gedient hatte. Noch Heliogabalbrachte das schwarze Steinidol des syrischen Sonnengottes untergroßer Feierlichkeit nach Rom und errichtete ihm einen durchorientalische Pracht ausgezeichneten Dienst. Viele Forscher nehmenan, daß die Menhirs, Bautasteine (s. d.) und megalithischenBauwerke, die sich in einer weiten Zone vom Westen Europas bis nachIndien ziehen, ähnliche Idole eines besondern Steinvolkesgewesen seien. Mehr an den reinen Fetischdienst erinnert diebesonders in Syrien und Phönikien heimisch gewesene Verehrungkleiner Meteorsteine oder Bätylien (s. Bätylus); denndiese Steine wurden speziell als Hausgötter etc. gebraucht,und die Dioskuren, welche als die Nothelfer des Altertums galten,wurden besonders häufig als Steine verehrt. Ähnlichesgilt von den Buddhasteinen in Indien. Vgl. v. Dalberg, ÜberMeteorkultus der Alten (Heidelb. 1811); Tylor, Anfänge derKultur (deutsch, Leipz. 1873).

Steindrossel (Felsschmätzer, Monticola Boie),Gattung aus der Ordnung der Sperlingsvögel, der Familie derDrosseln (Turdidae) und der Unterfamilie der Steinschmätzer(Saxicolinae), große, schlanke Vögel mit starkem,pfriemenförmigem, gestrecktem, seicht gewölbtem Schnabelmit überragender Spitze, langen Flügeln, in denen diedritte Schwinge am längsten ist, kurzem, schwach ausgerandetemSchwanz und mittelhohem, starkem, langzehigem Fuß mitgroßen, merklich gebogenen Krallen. Der Steinrötel(Steinmerle, Rotschwanz, M. saxatilis Cab.), 23 cm lang, 37 cmbreit, ist am Kopfe, Vorderhals, Nacken u. Bürzel blaugrau, amUnterrücken weißblau, an der Unterseite und am Schwanz,mit Ausnahme der beiden mittelsten dunkelgrauen Federn, rot, an denFlügeln schwarzbraun; die Augen sind rotbraun, der Schnabelschwarz, die Füße rötlichgrau. Er findet sich infast allen Gebirgen Südeuropas, brütet noch inÖsterreich, am Rhein, ausnahmsweise in Böhmen, in derLausitz und am Harz, geht im Winter nach Nordafrika, bewohnt weite,steinige Thalmulden, singt trefflich, nährt sich von Beerenund Kerbtieren, nistet in Mauer- und Felsspalten, auch imGestrüpp und legt 4-6 blaugrüne Eier (s. Tafel "Eier I",Fig. 59). Die Blaumerle (Blauamsel, Blaudrossel, Blauvogel,einsamer Spatz, Einsiedler, M. cyana Cab.) ist 25 cm lang, 37 cmbreit, schieferblau, mit mattschwarzen Schwingen und Steuerfedern,braunem Auge, schwarzem Schnabel und Fuß, bewohntSüdeuropa, Nordafrika, Mittelasien, findet sich auch in densüdlichen Kronländern Österreichs, als Strichvogelim Bayrischen Hochgebirge, lebt einsam in Einöden, singt sehrangenehm, nistet in Felsspalten, auf Kirchtürmen etc. und legtvier grünlichblaue, violett und rotbraun gefleckte Eier. InItalien, Griechenland und auf Malta ist sie als Stubenvogel sehrbeliebt.

Steindruck, s. Lithographie.

Steine, linksseitiger Nebenfluß der GlatzerNeiße, im preuß. Regierungsbezirk Breslau, entspringtunfern Görbersdorf im Waldenburger Gebirge, fließtsüdöstlich und mündet unterhalb Glatz; 55 kmlang.

Steine (Bausteine), Gesteine (s. d.) der verschiedenstenArt, welche zu Bauzwecken benutzt werden. Soweit sich dieselbennicht als lose Trümmer in der Nähe größererFelsmassen, als Rollsteine, Geschiebe oder erratische Blöckevorfinden, werden sie an ihren natürlichen Fundorten(Steinbrüchen) abgebaut oder gebrochen. Am häufigsten undleichtesten gewinnt man die S. durch Tagebau; liegt das brauchbareGestein tief unter der Erdoberfläche, so wird die Gewinnungdurch Grubenbau betrieben. Zur Abtrennung der S. von ihren Lagerndienen Brechstangen und Keile, und wo diese nicht ausreichen,sprengt man mit Pulver oder Dynamit, während das früherübliche Feuersetzen jetzt fast ganz aufgegeben ist. BeimSprengen werden Bohrmaschinen angewandt, und auch bei derAblösung der S. mittels der Keile benutzt man jetzt Maschinen,wie in einem Steinbruch bei Marcoussis (Paris) einen auf Schienenbeweglichen Dampfhammer, der die S. absprengt und spaltet. Die ausden Steinbrüchen gelieferten rohen S. werden zum Teil alssolche benutzt, meist aber zu Werkstücken, Schnittsteinen oderQuadern verarbeitet. Seit dem Altertum wird diese Steinmetzarbeitmit Hammer und sehr verschieden gestalteten Meißeln (Eisen)ausgeführt, in neuerer Zeit aber sind immer mehr maschinelleVorrichtungen in Gebrauch gekommen, welche erfolgreich mit derHandarbeit konkurrieren. Zum Zerschneiden der S. dienenSteinsägen, welche statt der gezahnten in der Regel einfacheStahlblätter oder Drähte enthalten, diescharfkörnigen Sand unter Zufluß von Wasser hin- undherschleifen. Die Bewegung des Gatters wird durch Menschen,Göpel oder andre Motoren hervorgebracht. Bei den Sägenmit Draht benutzt man oft einen sehr langen Draht, der sichabwechselnd von einer Rolle auf eine andre ab- und aufwickelt. ZurBearbeitung ebener Flächen benutzt man Maschinen, welche nachArt der Metallhobelmaschinen wirken, nur daß die Meißelwährend der Steinbewegung nicht stillstehen, sondern, unter45° geneigt, vermittelst schnell drehender Exzenter kurzeStöße gegen den Stein führen und so die Handarbeitnachahmen. Bei Anwendung profilierter Meißel erhält manhierbei Kehlungen etc. Andre Maschinen besitzen als Arbeitsorganeine sehr schnell rotierende Scheibe mit feststehendenMeißeln oder mit kleinen runden Scheiben aus Hartguß(Kreismeißel), welche bei der schnellen Rotation der Scheibegegen den Stein stoßen, sich an diesem wälzen undStücke bis 25 mm Dicke abtrennen. Auch schwarze Diamantenwerden statt der Meißel angewandt. Die ebenenSteinflächen werden mit scharfkörnigem Sand und Wassermittels hin und her bewegter, auch rotierender, belasteter eisernerSchleifschalen geschliffen und zuletzt mit Bimsstein (fürMarmor), Kolkothar (Granit, Syenit), Zinnasche (für weicheresGestein) poliert. Hierbei werden runde Formen (Säulen etc.)durch eine Drehbank gedreht, während die Schleifschalendagegen gedrückt werden. In neuerer Zeit benutzt man mehr undmehr auch Schmirgelscheiben zum Schleifen der S. Vgl. Gottgetreu,Physischen. chemische Beschaffenheit der Baumaterialien (3. Aufl.,Berl. 1880, 2 Bde.); Schwartze, Die Steinbearbeitungsmaschinen(Leipz. 1885).

Steine, künstliche, aus verschiedenen Substanzenhergestellte steinartige Massen, welche als Surrogate

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Steinen - Steingallen.

der natürlichen Steine benutzt werden. Hierher gehörenaußer den Mauersteinen (s. d.) die Kalkziegel(Kalksandziegel), die durch Mischen von Kalkmilch mit Sand zu einerplastischen Masse, Formen der letztern unter starkem Druck undTrocknen an freier Luft dargestellt werden. Vorteilhaft taucht mansie vor völligem Erhärten in schwacheWasserglaslösung. Auch der Zementguß muß zu denkünstlichen Steinen gerechnet werden. Sehr gute k. S.erhält man aus einer Mischung von Steinbrocken, Zement undWasser, welche in Formen gestampft wird. Aus derartigem Beton sindfür Hafenbauten Steine von 18 cbm Inhalt dargestellt worden.Cendrinsteine bestehen aus Zement mit Kohlenstaub oder Asche; eineandre Sorte aus gebranntem Kalk und Steinkohlenasche, welchebreiförmig zusammengestampft werden, worauf man die Masse inZiegelform bringt und die Steine nach dem Trocknen inWasserglaslösung taucht. Die englischen Viktoriasteine werdenaus kleinen Granitbruchstücken und Zement geformt und nach 4Tagen etwa 12 Stunden in Natronwasserglaslösung gelegt.Marmorartige und bei Zusatz von Quarzstückchen und Eisenoxydauch granitartige Steine stellt Ransome dar, indem er Zement,Kreide, feinen Sand und Infusorienerde mit Natronwasserglas zueinem dicken Brei anmacht, diesen in Formen gießt, dieerhärtete Masse wiederholt mit sehr starkerChlorcalciumlösung begießt, 3 Stunden hineinlegt undschließlich in Wasser bringt, um lösliche Salze zuentfernen. Diese Steine werden für solides Mauerwerk,Trottoirplatten und zu Ornamenten sehr viel benutzt und sindpolierbar. Die Marmormosaik-Bodenbelegplatten von Oberalm bestehenaus Marmorabfällen, welche durch eine Mischung von Zement undMarmorpulver zu einer Masse verbunden werden, die man in eiserneFormen preßt und nach dem Erhärten schleift und poliert.In Nordamerika finden Steinplatten aus Schieferpulver, mit geringemZementzusatz gepreßt, ausgedehnte Verwendung. DerBietigheimer künstliche Sandstein besteht ausSandkörnern, die durch ein gesintertes alkalisches Silikat(Feldspat, Glaspulver, Thon) verbunden sind. In Dirschau mischt man1 Teil Thon mit 4 Teilen Mergel (Wiesenkalk) im Thonschneider,zerschneidet den heraustretenden Strang, brennt die Steine imRingofen, mahlt sie mit 3 Volumen Sand und wenig Wasser inrotierenden Trommeln, setzt Farbstoff zu und formt daraus Steineunter dem Dampfhammer. Die Steine trocknen im Trockenschuppen undsind nach 3 Tagen verwendbar. Auch Magnesiazement, Kieserit, Gips(s. Zement) werden zu künstlichen Steinen verarbeitet, undnamentlich Schlacken bilden ein vortreffliches Material, auswelchem sehr allgemein Ziegel gegossen werden. Eine Mischung vonSodarückständen und geröstetem Schwefelkies mitkonzentrierter Wasserglaslösung liefert sehr harte Steine,welche dem Wasser Widerstand leisten. Zu den künstlichenSteinen gehören auch Mischungen aus Steintrümmern undharzigen Bindemitteln, wie die braune Metalllava aus Sand,Kalkstein, Teer und wenig Wachs. Aus dieser Masse gegossene Plattenlassen sich schön polieren.

Steinen, Karl von den, Forschungsreisender, geb. 7.März 1855 zu Mülheim a. d. Ruhr, studierte Medizin inZürich, Bonn und Straßburg, widmete sich dann in Berlinund Wien der Psychiatrie und war 1878-79 Assistenzarzt an derIrrenklinik der Charitee in Berlin. 1879-81 machte er eine Reise umdie Erde, studierte dabei das Irrenwesen in den Kulturstaaten undmachte auf mehreren Gruppen der Südsee ethnologischeForschungen. Nachdem er dann wiederum seine frühere Stellungin Berlin eingenommen hatte, ging er als Arzt und Naturforscher mitder von Deutschland ausgesandten Südpolarexpedition 1882 nachSüdgeorgien, wo er bis zum nächsten Jahr verweilte, umdarauf noch im Februar 1884 nach Asuncion zu gehen, von wo er mitseinem Vetter, dem Maler Wilhelm von den S., und Clauß sowieeinem Kommando brasilischer Soldaten den Lauf des Xingu, einesNebenflusses des Amazonas, erforschte. Nach Europazurückgekehrt, veröffentlichte er als Ergebnis dieserReise: "Durch Zentralbrasilien" (Leipz. 1886). Eine zweite Reise indasselbe Gebiet trat S. im Januar 1887 an; er untersuchte, durchden Ausbruch der Cholera am Paraguay aufgehalten, diemerkwürdigen Sambaquis in der Provinz Santa Catharina und traf16. Juli in Cuyaba ein, von wo er im August aufbrach. Er erforschteim östlichen Quellgebiet des Xingu eine Reihe vonStämmen, die noch in vorkolumbianischer Steinzeit lebten, undkehrte im August 1888 nach Europa zurück.

Steiner, 1) Jakob, Mathematiker, geb. 18. März 1796zu Utzendorf bei Solothurn, besuchte die heimatliche Dorfschule, woer erst mit 14 Jahren schreiben lernte, und ging im Alter von 17Jahren nach Yverdon zu Pestalozzi, an dessen Anstalt er spätereinige Zeit als Hilfslehrer thätig war. Von hier wandte ersich 1818 nach Heidelberg, um Mathematik zu studieren, sah sichaber fast ganz auf Privatstudien angewiesen. Seit 1821 lebte er inBerlin, anfangs als Privatlehrer der Mathematik, dann als Lehrer ander Gewerbeakademie, seit 1834 als außerordentlicherProfessor an der Universität und Mitglied der Akademie derWissenschaften. Die letzten Lebensjahre verbrachte er, von schwerenKörperleiden gequält, in der Schweiz, wo er 1. April 1863in Bern starb. Von seinem Hauptwerk: "Systematische Entwickelungder Abhängigkeit geometrischer Gestalten", haben wir nur denersten Teil (Berl. 1832); außerdem schrieb er noch: "Diegeometrischen Konstruktionen, ausgeführt mittels der geradenLinie und Eines festen Kreises" (das. 1833). Nach seinem Toderschienen seine "Vorlesungen über synthetische Geometrie"(hrsg. von Geiser und Schröter, Leipz. 1867, 2 Bde.; 2. Aufl.1875-76), und seine "Gesammelten Werke" (hrsg. vonWeierstraß, Berl. 1881-82, 2 Bde.). Vgl. Geiser, ZurErinnerung an Jakob S. (Schaffh. 1874).

2) Jakob, Instrumentenmacher, s. Stainer.

Steiner Alpen (auch Sannthaler oder Sulzbacher Alpen),südliche Vorlage der Karawanken zwischen Save und Sann, imsüdlichen Steiermark und dem angrenzenden Krain, erreichen mitder Oistritza 2350 m Höhe. Östlich davon das CillierBergland, vom Drann durchschnitten, reich an Mineralquellen. Vgl.Frischauf, Die Sannthaler Alpen (Wien 1877).

Steinernes Meer, s. Salzburger Alpen.

Steinfrucht, s. Steinbeere.

Steinfurt, ehemals (seit 1495) reichsunmittelbareGrafschaft im westfäl. Kreis, jetzt zum preußischenRegierungsbezirk Münster und zum Kreise S. gehörig,standesherrliche Besitzung der Grafen von Bentheim-S., mit demHauptort Burgsteinfurt.

Steingallen (blaue Mäler), die durch Quetschung undEntzündung der Hufsohle, namentlich in den Eckstrebenwinkelnbei Pferden entstehenden roten, resp. geröteten Flecke. DieUrsachen der S. beruhen in abnormem Druck auf die Sohlenschenkeldurch die übergewachsene Horn- und Eckstrebenwand oder durchunzweckmäßigen Beschlag. Am meisten wird das Übelbei sonst gesunden Hufen durch zu kurze Huf-

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Steingang - Steinhuhn.

eisen veranlaßt. Bei länger anhaltendem und starkemDruck auf die Eckstrebenpartie der Hufe entsteht Eiterung (feuchteoder eiternde S. im Gegensatz zu den trocknen S.). Die Behandlungwird durch zweckmäßige Beschneidung und Erweichung derHufe sowie durch Regelung des Hufbeschlags bewirkt. In letztererHinsicht bedient man sich meist eines langen und starken oder einesgeschlossenen oder auch eines Dreiviertelhufeisens. Die Entstehungvon Eiter in einer Steingalle erfordert eine frühzeitigeÖffnung in dem Sohlenschenkel und Erweichung der Hufe durchUmschläge von schleimigen und fetthaltigen Mitteln.

Steingang (Allée couverte), s. Dolmen.

Steingeier, s. Adler, S. 122.

Steingrün, s. Grünerde.

Steingut, s. Thonwaren.

Steinh., bei botan. Namen Abkürzung für A.Steinheil, geb. 1810 zu Straßburg, Pharmazeut, bereisteAlgerien; starb 1839 auf der Überfahrt von Martinique nachCaracas.

Steinhäger, Branntweinsorte, s. Genever.

Steinharz, s. Dammaraharz.

Steinhausen, Heinrich, Schriftsteller, geb. 27. Juli 1836zu Sorau in der Niederlausitz, studierte zu Berlin Theologie undPhilologie, bekleidete darauf Lehrerstellen an denKadettenanstalten in Potsdam und Berlin, trat 1868 in denKirchendienst über und wirkt seit 1883 als Prediger zu Beetzbei Kremmen im Regierungsbezirk Potsdam. Außer kritischen undandern Beiträgen zum "Reichsboten" veröffentlichte er:"Irmela. Eine Geschichte aus alter Zeit" (Leipz. 1881 , 10. Aufl.1887); "Gevatter Tod. Im Armenhaus. Mr. Bob Jenkins' Abenteuer",Novellen (2. Aufl., Barmen 1884); "Markus Zeisleins großerTag", Novelle (das. 1883); "Der Korrektor. Szenen aus demSchattenspiel des Lebens" (1.-4. Aufl., Leipz. 1885) u. a. Aufsehenerregte seine gegen G. Ebers' Romane gerichtete kritische Schrift"Memphis in Leipzig" (Frankf. a. M. 1880).

Steinhäuser, Karl, Bildhauer, geb. 3. Juli 1813 zuBremen, bildete sich an der Berliner Akademie, besonders unterRauchs Leitung, lebte seit 1836 längere Zeit in Rom und seit1863 als Lehrer an der Kunstschule zu Karlsruhe, wo er 9. Dez. 1879starb. Mehrere seiner zahlreichen Statuen zählen zu denvorzüglichsten Schöpfungen der neuern deutschen Plastik,so die von Olbers, Schmidt und dem heil. Ansgar in Bremen, Goethemit der Psyche in Weimar, die Gruppe von Hermann und Dorothea inKarlsruhe. Er war ein Vertreter der antikisierenden Richtung,wußte aber die Strenge der Behandlung durch Anmut zu mildern,was sich besonders in seinen weiblichen Figuren (Mädchen mitder Muschel, Deborah, Judith) kundgibt.

Steinheid, Dorf im sachsen-meining. Kreise Sonneberg, aufder Grenzscheide zwischen Thüringer und Frankenwald, 813 mü. M., hat eine evang. Kirche, Kaolingruben, Fabrikation vonGlasperlen, Porzellan und Holzschachteln und (1885) 1522 Einw.Nördlich dabei das Kieferle, 868 m hoch.

Steinheil, Karl August, Physiker, geb. 12. Okt. 1801 zuRappoltsweiler im Elsaß, studierte seit 1821 zu Erlangen dieRechte, hierauf zu Göttingen und Königsberg Astronomie,lebte seit 1825 auf dem väterlichen Gut zu Perlachseck, mitastronomischen und physikalischen Arbeiten beschäftigt, undward 1832 Professor der Physik und Mathematik an derUniversität München. 1846 ward er von derneapolitanischen Regierung zur Regulierung des Maß- undGewichtssystems berufen. 1849 trat er als Vorstand des Departementsfür Telegraphie im Handelsministerium in österreichischeDienste, richtete ein fast vollständiges Telegraphensystemfür alle Kronländer ein und beteiligte sich 1850 auch ander Gründung des Deutsch-ÖsterreichischenTelegraphenvereins. 1851 folgte er einem Ruf der SchweizerRegierung zur Einrichtung des Telegraphenwesens in diesem Land, und1852 kehrte er als Konservator der mathematisch-physikalischenSammlungen und Ministerialrat im Handelsministerium nachMünchen zurück; auch gründete er daselbst 1854 eineoptisch-astronomische Anstalt, aus welcher ausgezeichneteInstrumente hervorgingen. S. gilt als der wissenschaftlicheBegründer der elektromagnetischen Telegraphie, entdeckte dieBodenleitung, konstruierte den ersten Drucktelegraphen, der indeskeinen Eingang in die Praxis fand, erfand die elektrischen Uhren,konstruierte ein sinnreiches Pyroskop, fertigte das ersteDaguerreotypbild in Deutschland, vervollständigte undbegründete die Gesetze der Galvanoplastik, konstruierte einZentrifugalwurfgeschütz, mehrere optische Instrumente etc.Auch bei der Feststellung der bayrischen Maße und Gewichteund durch Verbesserung der Bier- und Spirituswagen erwarb er sichVerdienste. Er starb 12. Sept. 1870 in München. Die optischeWerkstätte wird seit 1862 von den Söhnen Steinheilsweitergeführt. Vgl. Marggraff, Karl August S. (Münch.1888).

Steinheim, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Minden,Kreis Höxter, an der Emmer und der Linie Hannover-Altenbekender Preußischen Staatsbahn, 135 m ü. M., hat eineevangelische und eine kath. Kirche, eine Synagoge, ein Amtsgericht,Maschinenfabrikation, Holzschleiferei, 3 Mahlmühlen,Steinbrüche und (1885) 2660 meist kath. Einwohner.

Steinhirse, s. Lithospermum.

Steinhorst, Gutsbezirk in der preuß. ProvinzSchleswig-Holstein, Kreis Herzogtum Lauenburg, hat ein Amtsgerichtund (1885) 295 Einw.

Steinhuder Meer, Binnensee in Schaumburg-Lippe und derpreuß. Provinz Hannover, ist 8 km lang, 5 km breit, 41 mtief, sehr fischreich und fließt durch die Meerbeke zur Weserab. Daran der lippesche Flecken Steinhude mit 1400 Einw.; im Seeselbst auf einer künstlichen Insel das 1761-65, vom GrafenWilhelm von der Lippe als Musterfestung angelegte kleine FortWilhelmsstein (ehemals mit Kriegsschule, in der auch derpreußische General v. Scharnhorst seine erstemilitärische Bildung erhielt), jetzt Gefängnis.

Steinhuhn (Caccabis Kp.), Gattung aus der Qrdnung derScharrvögel, der Familie der Waldhühner (Tetraonidae) undder Unterfamilie der Feldhühner (Perdicinae), kräftiggebaute Vögel mit kurzem Hals, großem Kopf, kurzem, aufder Firste gewölbtem Schnabel, mittelhohem Fuß mitstumpfem Sp*rn oder mit einer den Sp*rn andeutenden Hornwarze,mittellangem Flügel und ziemlich langem Schwanz. Das S. (C.saxatilis Briss.), 35 cm lang, 50-55 cm breit, an der Oberseite undBrust blaugrau, Kehle weiß, mit schwarzem Kehl- undStirnband, die Federn der Weichen gelbrotbraun und schwarzgebändert, an der Unterseite rostgelb, die Schwingenschwärzlichbraun mit gelblichweißen Schäften undrostgelblich gekantet, die äußern Steuerfedern rostrot;das Auge ist rotbraun, der Schnabel rot, der Fußblaßrot; lebte im 16. Jahrh. am Rhein, gegenwärtig inden Alpen, Italien, der Türkei, Griechenland und Vorderasien,eine Varietät lebt in ganz Nordasien. Es bewohnt sonnige,etwas begraste Schutthalden zwischen Holz- und Schneegrenze, imSüden auch die Ebene aus felsigem

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Steinhund - Steinkohle.

Boden, zeichnet sich durch Behendigkeit, Klugheit und Kampflustaus, läuft und klettert sehr gut, fliegt leicht und schnell,bäumt nur im Notfall, nährt sich von allerleiPflanzenstoffen und kleinen Tieren und frißt auch die Spitzenvon jungem Getreide. Im Winter lebt es in größernGesellschaften, im Frühjahr isolieren sich die Paare, und dasWeibchen legt in den Alpen im Juni oder Juli in einer Mulde unterGesträuch oder überhängendem Fels 12-15gelblichweiße, braun gestrichelte Eier, welche es in 26 Tagenausbrütet. Man jagt das S. des sehr wohlschmeckenden Fleischeshalber. Es kann auch leicht gezähmt werden, bleibt aber sehrkampflustig, und schon die Alten ließen Steinhühnermiteinander kämpfen. In Indien und China sind Steinhühnerhalbe Haustiere geworden, werden gezüchtet, auf die Weidegetrieben, laufen frei im Haus umher und werden auch hier zuKampfspielen benutzt. In Griechenland glaubt man, daß sieSchutz gegen Bezauberung gewähren, und hält sie in sehrengen, kegelförmigen Käfigen.

Steinhund, s. Nörz.

Steinicht, s. Vogtländische Schweiz.

Steinigtwolmsdorf, Pfarrdorf in der sächs. Kreis-und Amtshauptmannschaft Bautzen, an der Wesenitz, hat eine evang.Kirche, Lein- und Damastweberei, Bierbrauerei, Steinbrüche und(1885) 2529 Einw.

Steinigung (Lapidatio), Tötung mit Steinwürfen,gesetzliche Strafe bei den Römern, Juden und andernVölkern, besonders aber Akt der Volksjustiz.

Steinigwerden, eine Krankheit der saftigen Früchtemancher Pomaceen, besonders der Birnen, Quitten und Mispeln, wobeider größere Teil des saftigen Fruchtfleisches in meistisolierte steinharte Körner sich verwandelt und dabei anSüßigkeit verliert. Die Körner bestehen aus Zellenmit außerordentlich stark verdickten und vonPorenkanälen durchzogenen Wänden (Steinzellen).Anfänglich sind diese Zellen gleich den andern dünnwandigund stärkemehlführend; erst beim Reifen bilden sich ausder Stärke die Verdickungsschichten, anstatt daßdieselbe sich in Zucker umwandelt. Die Steinzellen fehlen auch innormalen, guten Früchten nicht ganz; ihre Menge ist in denwilden Birnen am größten, übrigens nach Sortenverschieden. Ihre reichlichere Bildung wird durch magern, trocknenBoden begünstigt, aus welchem oft die saftigsten Sortensteinig werden. Ähnliche Bildungen (Steinkonkretionen) tretenauch in fleischigen Wurzelknollen, bei Päonien, Georginen, imMark von Hoya und besonders in der Rinde vieler Bäume auf.

Steiningwer, s. Löß.

Steinig, Wilhelm, Schachspieler, geb. 18. Mai 1837 zuPrag, galt schon als Knabe für den besten Schachkämpenseiner Vaterstadt, erhielt aber die eigentliche Ausbildung darinerst bei Hamppe in Wien, wohin er sich 1858 als Student derMathematik begab. In dem großen internationalen Wettstreit zuLondon (mit Anderssen, Paulsen u. a.) gewann er 1862 den letztender sechs Preise, blieb in London und machte das Schach zu seinemHauptberuf. 1865 gewann er auf dem Kongreß der DublinerAusstellung den ersten Preis, 1866 siegte er im Wettkampf (match)mit acht zu sechs Spielen gegen Anderssen. Im Pariser Turnier 1867erhielt er den zweiten Preis, im Baden-Badener 1870 gleichfalls; imLondoner 1872 wurde er Hauptsieger, ohne eine einzige Partie zuverlieren, und in Wien erstritt er 1873 den großenKaiserpreis von 2000 Gulden. Nachdem er dann noch denEngländer Blackburne, den Gewinner des zweiten Wiener Preises,im Einzelkampf besiegt, beteiligte er sich längere Zeit nichtmehr an Turnieren. Auf den Schachkongressen zu Paris 1878 und zuWiesbaden 1880 war er als Berichterstatter für die englischeZeitung "The Field" erschienen, deren Schachrubrik er damalsleitete. Der Tod Anderssens und die großen Erfolge Zukertorts(s. d.), den er 1872 in einem Match leicht geschlagen, sp*rnten S.indessen zu neuer Thätigkeit an, doch mußte er sich,obwohl er im Wiener Turnier 1882 die beiden ersten Preise mitWinawer geteilt hatte, 1883 in London, wo Zukertort Erster blieb,mit der zweiten Stelle begnügen. Seitdem betrieb S.höchst eifrig einen neuen Einzelwettkampf mit Zukertort, dernach langen Verhandlungen in den ersten Monaten 1886 in Amerikaausgefochten wurde, und in welchem S. schließlich mit 10gegen 5 Gewinn- bei 5 Remisspielen siegte. In jüngster Zeitstellte sich S., nunmehr der erste Schachspieler der Gegenwart, demRussen Tschigorin auf Cuba, der eine Minderheit der Gewinnpartienerzielte.

Steinkauz, s. Eulen, S. 906.

Steinkern, in der Botanik s. Steinbeere; in derPetrefaktenkunde s. Abdruck.

Steinkind (Steinfrucht, Lithopaedion), eine unreifeLeibesfrucht, welche abgestorben in der Bauchhöhle liegt,eingekapselt, verschrumpft und durch Aufnahme von Kalksalzensteinhart geworden ist. Das S. verursacht der Mutter bisweilenallerhand Beschwerden; manchmal aber bleibt sie von solchen ganzverschont, kann sogar schwanger werden und normal gebären.Derartige Bildungen sind bei Menschen äußerst selten,bei Schafen häufiger.

Steinkirche, s. Dolmen.

Steinklee, s. Melilotus und Medicago.

Steinkochen, s. Kochkunst (in prähistorischerZeit).

Steinkohle (Schwarzkohle), im petrographisch-technischenSinn die schwarzen, kohlenstoffreichen, an Wasserstoff undSauerstoff armen Kohlen; im geologischen Sinn die Kohlen derältern Formationen vom Silur bis einschließlich derKreideformation, vorzüglich diejenigen der Steinkohlenperiode.Beide Begriffe decken sich meist insofern, als die älternKohlen der Regel nach auch die kohlenstoffreichern sind; indestragen eine Reihe jüngerer (tertiärer) Kohlen denpetrographischen Charakter der S. an sich, während umgekehrtKohlen, welche nachweisbar der Steinkohlenformation angehören,Braunkohlen zum Verwechseln ähnlich sehen. Die S. impetrographisch-technischen Sinn des Wortes ist eine dunkelgefärbte, undurchsichtige, höchstens in kleinen Splitterndurchscheinende amorphe Masse von Glas- und Fettglanz; Härte2-2,5, spez. Gew. 1,2-1,7; sie färbt heiße Kalilauge imGegensatz zur Braunkohle nicht oder unbedeutend; an der offenenFlamme verbrennt sie unter brenzligem Geruch (Unterschied vonAnthracit). Die Hauptbestandteile sind: Kohlenstoff (C), Sauerstoff(O) und Wasserstoff(H), daneben etwas Stickstoff (N), Schwefel (S),Bitumen und Asche (in reinen Kohlen unter 0,5 Proz.). Diequantitative Zusammensetzung der S. zeigt bedeutende Schwankungen,und an verschiedenen Stellen desselben Flözes entnommeneProben zeigen kaum je gleiche Zusammensetzung. Von denAschebestandteilen abgesehen, kann man folgende Grenzwerteannehmen: 55-98 Proz. Kohlenstoff, 1,75-7,85 Proz. Wasserstoff,0-38 Proz. Sauerstoff, Spuren bis 2,0 Proz. Stickstoff. BeiAbschluß der Luft erhitzt, liefern die Kohlen je nach ihrerchemischen Zusammensetzung und der Temperatur in sehr verschiedenenMengen: Kohlenwasserstoffgase (namentlich Methan und Äthylen),Wasserstoff, Kohlensäure, Kohlenoxyd, Stickstoff,Schwefelwasserstoff, Teerdämpfe (bestehend ausKohlenwasserstoffen, Phenolen und

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Steinkohle (chemische Zusammensetzung, Grubenbrände,Varietäten).

Basen), Ammoniak und Wasserdämpfe. Als accessorischeBegleiter der Kohle finden sich: Schieferthon, Kalkspat, Gips,Nakrit, Quarz, Eisenspat, Eisenkies, Bleiglanz, Kupferkies. Vondiesen Beimengungen verringert der Eisenkies den Wert der Kohle alsBrennmaterial, und wo er in größern Mengen auftritt,zwingt er zu einem Abschwefeln der Kohlen; er kann aber auch durchdie mit seiner Zersetzung verbundene Temperaturerhöhung zuSelbstentzündungen der Kohle führen. Es wird deshalb inden Kohlengruben auf das möglichst sorgsame Fördern dessogen. Grubenkleins Gewicht gelegt. Kohlenbrände entstehen, dasie die Mitwirkung der Atmosphäre voraussetzen, meist in demAbbau unterworfenen (verritzten) Flözen, währendunverritzte Flöze, namentlich an ihrem Ausgehenden(Kohlenausstrichen), derselben Gefahr ausgesetzt sind. Bei denKohlenbränden wird die Kohle teils vollkommen verbrannt, teilsin Koks umgewandelt; die begleitenden Schieferthone werdengefrittet (Kohlenbrandgesteine, Porzellanjaspis) und eine Reihe vonSublimationsprodukten (Salmiak, Schwefel, Alaun) gebildet. DieBekämpfung einmal ausgebrochener Kohlenbrände mußsich auf Isolierung der entzündeten Partien durch Abbau derbenachbarten Flözteile und Errichtung trennender Mauernbeschränken. - Nach äußern mineralogischenMerkmalen unterscheidet man unter den Steinkohlen schieferigeVarietäten (Schieferkohle), dünnblätterige(Blätterkohle), zu unregelmäßigenparallelepipedischen Formen zerfallende (Grobkohle), faserige(Faserkohle), erdige, stark abfärbende (Rußkohle),pechschwarze, lebhaft fettglänzende von muscheligem Bruch(Pechkohle). Weitere Abarten sind: die Kannelkohle (Cannel Coal,Candle Coal), eine schwer zersprengbare, gräulichschwarzeKohle; Glanzkohle mit muscheligem Bruch und stark glänzenden,öfters regenbogenartig angelaufenen Absonderungsflächen.In der Technik unterscheidet man nach dem Verhalten der Kohle imFeuer: Backkohlen, Sinterkohlen und Sandkohlen, zu welchen Artennoch die Gaskohlen, bald den einen, bald den andern nahestehend,als reichlich Leuchtgas liefernde hinzukommen. Das Pulver derBackkohlen (fette Kohlen) liefert beim Erhitzen einegleichmäßig zusammengeschmolzene Masse (Koks), dieSinterkohlen eine weniger gleichmäßige und wenigerfeste, nicht eigentlich geschmolzene, sondern nur"zusammengesinterte" Masse; die Sandkohlen (magere Kohlen) endlichliefern ein Pulver ohne Zusammenhang. Fleck versuchte dieser reinempirischen Einteilung einen wissenschaftlichen Hintergrund zugeben. Er unterschied den Wasserstoff in der S. als gebundenen undals disponibeln, von welchen der erstere denjenigen Bruchteil desGesamtgehalts darstellt, der mit dem gleichzeitig vorhandenenStickstoff und Sauerstoff zu Ammoniak und Wasser verbunden gedachtwerden kann, während der Überschuß an Wasserstoff"disponibel" bleibt. Nach Fleck sind alle Kohlen, welche auf 1000Gewichtsteile Kohlenstoff über 40 Teile disponibel und unter20 Teile gebundenen Wasserstoff enthalten, verkohlbar und bildendie Backkohlen. 40 Teile disponibler und über 20 Teilegebundener Wasserstoff geben Back- und Gaskohle; weniger als 40Teile disponibler und mehr als 20 Teile gebundener Wasserstoff sindin Gas- und Sinterkohlen enthalten; Sinterkohlen und Anthraciteenthalten weniger als 40 Gewichtsteile disponibeln und weniger als20 Teile gebundenen Wasserstoff. Da diese Unterschiede nichthinreichend scharf durchführbar sind, so hat Gruner eine neueKlassifikation gegeben, indem er fünf Typen unterscheidet,deren Zusammensetzung und Verhalten in folgender Tabelle angegebensind; an den Grenzen gehen dieselben ineinander über.

Klassen Zusammensetzung (C,H,O) O:H Spezifisches GewichtWärmeeffekt Wärmeeinheiten Wasserverdampfung Kilogr.Flüchtige Bestandteile Verhalten bei der Destillation (Koks,Beschaffenheit der Koks, Gas, Ammoniak Wasser, Teer)

1) Trockne Kohlen mit langer Flamme (Sandkohlen) 75-80 5,5-4,519,5-15 4-3 1,25 8000-8500 6,7-7,5 45-40 50-60 pulverförmigod. höchstens gefrittet 20-30 12-5 18-15

2) Fette Kohlen mit langer Flamme (Gaskohlen, Sinterkohlen)80-85 5,8-5 14,2-10 3-2 1,28-1,30 8500-8800 7,6-8,3 40-32 60-68geflossen, aber sehr aufgebläht 20-17 5-3 15-12

3) Fette oder Schmiedekohlen (Backkohlen) 84-89 5-5,5 11,5-5,52-1 1,30 8800-9300 8,4-9,2 32-26 68-74 geflossen, mitteldicht 16-153-1 13-10

4) Fette Kohlen mit kurzer Flamme (Verkokungs-K.) 88-91 5,5-4,56,5-5,5 1 1,30-1,35 9300-9600 9,2-10 26-18 74-82 geflossen, sehrkompakt, wenig blasig 15-12 1-1 10-5

5) Magere Kohlen od.Anthracite mit kurzer Flamme 90-93 4,5-45,5-3 1 1,35-1,4 9200-9500 9-9,5 18-10 82-90 gefrittet oderpulverförmig 12-8 l-0 5-2

Diese fünf Typen charakterisieren sich schon durchäußere Kennzeichen, welche aber durch Erhitzen beiAbschluß der Luft (trockne Destillation) kontrolliert werdenmüssen. Die den Braunkohlen sich nähernden Steinkohlenmit langer Flamme sind verhältnismäßig hart, beimAnschlagen klingend, zäh, von unebenem Bruch, matt schwarz undvon mehr braunem als schwarzem Strich. Mit abnehmendem Sauerstoffund damit abnehmender Produktion von Wasser beim Destillieren wirddie Kohle zerreiblicher, weniger klingend, schwärzer unddichter. Der Glanz nimmt mit dem Wasserstoffgehalt und damit auchdas Agglomerationsvermögen zu. Die den Anthraciten sichnähernden Kohlen sind rein schwarz und im allgemeinen einwenig mürber als fette Kohlen mit kurzer Flamme. DieEigenschaften werden indes durch erdige Beimengungen alteriert.Dichtigkeit und Härte wachsen mit dem Aschengehalt,während der Glanz sich vermindert. Die Brennbarkeit und dieLänge der Flamme hängen von der Gegenwart flüchtigerElemente ab. Die den Braunkohlen sich nähernden Steinkohlenentzünden sich leicht und brennen mit langer, rußigerFlamme. Die an flüchtigen Bestandteilen ärmern,namentlich wasserstoffarmen, Kohlen

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Steinkohle (Vorkommen, Entstehung).

entzünden sich, verbrennen weniger leicht und halten langean. Die Flamme ist kurz und wenig rauchig. Die Steinkohlen findensich, soweit es sich um größere, technisch wichtigeMassen handelt, in Schichten (Flözen), häufig inmehrfachem Wechsel, zwischen andern Gesteinen (Schieferthonen undSandsteinen). Das ganze Schichtensystem ist ältern Gesteinengewöhnlich muldenförmig eingelagert (Steinkohlenbecken,Steinkohlenmulden). Ein Kohlenfeld ist die Gesamtheitbauwürdiger Flöze in horizontal ununterbrochenemZusammenhang oder doch nur durch Verwerfungen getrennt, welche denursprünglichen Zusammenhang trotz der Trennungen erkennenlassen. Untergeordnete, technisch gewöhnlich wertloseVorkommnisse sind die in Form kleiner Lager, Nester, Schmitzchen,als einzelne Stämme und Stammfragmente. Die Flöze einesKohlenfeldes sind nach Lage und Mächtigkeitaußerordentlich verschieden. Als unterste Grenze derBauwürdigkeit wird gewöhnlich 0,6 m Mächtigkeitangegeben, aber auch hier kann das Auftreten mehrerer Flözeübereinander die Verhältnisse ändern. Es sind bis 30m mächtige Kohlenflöze bekannt, doch treten diebedeutendern Mächtigkeiten mehr bei lager- oderstockförmigen Einlagerungen als bei eigentlichen Flözenauf. Häufig stören Verwerfungen die ursprünglicheLage und unterbrechen den Zusammenhang der Flöze. SolcheFaltungen, Knickungen, Überkippungen und Verschiebungen derFlöze bereiten dem Abbau oft enorme Schwierigkeiten.Erfahrungsmäßig gehören die meisten und wichtigstenSteinkohlen dem Alter nach der Steinkohlenformation (s. d.) an,obgleich sie den andern Formationen nicht fehlen und hierwenigstens lokal ebenfalls Wichtigkeit erhalten können. Soführen das Silur und Devon mitunter anthracitische Flöze;im Rotliegenden, namentlich dem untern, tritt bauwürdige Kohlein der Saargegend, in Sachsen etc. auf; ein Teil der ostindischenund chinesischen Kohlenschätze und einige nordamerikanischeFlöze sind triasisch, in Deutschland gehört dem unternKeuper die meist unbauwürdige sogen. Lettenkohle an. In Polensind Keuperkohlen bauwürdig. Der Liasformation gehörendie für Ungarn sehr wichtigen Ablagerungen von Steyerdorf undFünfkirchen an. England, Polen, Rußland und Persienbesitzen ebenfalls jurassische Kohlen. Eine fürNorddeutschland sehr wichtige Kohle liegt in den Grenzschichtenzwischen Jura und Kreide, in der Wealdenformation im TeutoburgerWald, Wesergebirge und links der Weser und im Deister. In der nochjüngern Kreideformation sind bauwürdige Kohlen sehrselten. In Deutschland sind als abbauwürdig nur ein paardünne Flöze am Altenberg bei Quedlinburg sowie an einigenOrten (besonders bei Ottendorf) im Regierungsbezirk Liegnitz zunennen. Österreich gewinnt aus der der gleichen Formationangehörigen Mulde der Neuen Welt bei Wiener-Neustadtjährlich gegen ½ Mill. Ztr. Noch jüngere Kohlen,welche nach ihren petrographischen Eigenschaften ebenfalls alsSteinkohlen (Pechkohlen) bezeichnet werden müssen,während sie im geologischen Sinn Braunkohlen darstellen,finden sich als lokale Abänderungen typischer Braunkohlen invielen Tertiärbecken, so unter andern Orten in Böhmen undOberbayern. Die Steinkohlen stammen ohne Zweifel von pflanzlichen(nur selten und untergeordnet von tierischen) Organismen ab, welcheeinem langsamen Verkohlungsprozeß unterlegen sind. DieserProzeß verlief unter Entwickelung von wasserstoff- undsauerstoffreichen Gasen und mußte mithin einenkohlenstoffreichen Rückstand, die S., liefern. Amfrühsten ist der Zusammenhang zwischen Kohlen und Pflanzenwohl von Scheuchzer (gest. 1733) betont worden; bestimmter und denheutigen Ansichten sich vollkommen anschmiegend, betonte v.Beroldingen 1778 den Zusammenhang zwischen Torf, Braunkohle und S.,Hutton (1785) und Williams (1798) stellten für die englischeKohle gleiche Hypothesen auf. Das meiste Beweismaterial zurStützung der jetzt herrschenden Ansicht brachte aberGöppert bei. Ein Vergleich der mittlern chemischenZusammensetzung der Holzfaser, des Torfs, der Braunkohle, der S.und des Anthracits zeigt, daß diese fünf Körper inder genannten Folge eine Reihe bilden, in welcher ein anKohlenstoff relativ armer, an Wasserstoff und Sauerstoff reicherKörper allmählich andern Substanzen weicht, die immerreicher an Kohlenstoff, ärmer an Sauerstoff und Wasserstoffsind. Es ist nämlich die mittlere prozentige Zusammensetzungder genannten Körper:

C H O N

Holzfaser 50 6,0 43,0 1,0

Torf 59 6,0 33,0 2,0

Braunkohle 69 5,5 25,0 0,8

Steinkohle 82 5,0 13,0 0,8

Anthracit 95 2,5 2,5 Spur

Führt man statt Gewichtsprozente Atome ein und berechnetunter Vernachlässigung des Gehalts an Stickstoff denWasserstoff- und Sauerstoffgehalt auf je 100 Atome Kohlenstoff, soerhält man:

C H O

Holzfaser 100 150 65

Torf 100 115 40

Braunkohle 100 96 27

Steinkohle 100 80 12

Anthracit 100 27 2

welche Zahlen die Abnahme des Wasserstoffs und Sauerstoffs nochdeutlicher zeigen. Erfahrungsmäßig entwickeln sich inTorfmooren, in Braunkohlen- und Steinkohlengruben Gase undDämpfe, welche, wie das Grubengas (CH4) Kohlensäure (CO2)und Wasser (H2O), Wasserstoff und Sauerstoff neben Kohlenstoffenthalten. Es sind dies jene Gase, welche als schlagende undstickende Wetter in erster Linie den Steinkohlenbergbau sogefährlich machen, daß im Durchschnitt jährlich 3-4pro Mille aller Bergleute das Leben einbüßen, unddaß für jede 1½ Mill. Ztr. geförderter S.ein Menschenleben geopfert werden muß. Diese Gase entziehenaber, wie ihre chemische Formel zeigt, bei ihrer Bildung demMutterkörper mehr Wasserstoff und Sauerstoff als Kohlenstoff,so daß der letzte Rest eines solchen Verkohlungsprozesses einnur aus Kohlenstoff bestehender Körper sein muß. Erhitztman Holz in verschlossenen Röhren, so erhält man bei200-280° eine der Holzkohle, bei 300° eine der S.ähnliche Masse, die bei 400° anthracitartig wird. Hierhergehören auch die vielfältigen Beobachtungen, nach welchendas Holz der Grubenzimmerung in mitunter überraschend kurzerZeit in eine der Braunkohle ähnliche Masse umgewandelt wird.Einem gleichen Prozeß unterliegen Stämme, welche inTorfmoore geraten sind, und die tiefsten Schichten der Moore selbstliefern den Speck- oder Pechtorf, eine an Braunkohle oder noch mehran S. erinnernde Masse. Den vollgültigsten Beweis gibt endlichdas Mikroskop, indem es an zahlreichen Präparaten nicht nurdie pflanzliche Natur der Kohlen im allgemeinen zeigt, sondern auchdie systematische Stellung der kohlebildenden Pflanzen bestimmenläßt. Diese Pflan-

271

Steinkohle (Verbreitung in einzelnen Ländern).

zen sind aber in den verschiedenen Formationen sehr verschieden,und nur der Umstand, daß erfahrungsmäßig dieHolzfaser systematisch weit voneinander entfernter Pflanzenartendoch annähernd gleiche Zusammensetzung hat, erlaubte in deroben angenommenen Allgemeinheit von einem alle mineralischenBrennstoffe umfassenden Verkohlungsprozeß zu sprechen. DieKohlen des Silurs sind bei dem Fehlen sonstiger Pflanzenreste indieser Formation vermutlich auf Algen zurückzuführen,während im Devon schon einige der in der Steinkohlenformationihre Hauptentwickelung findenden Pflanzen kohlebildend auftreten.In den jüngern Formationen wurden Farne, Cykadeen undKoniferen aufgehäuft, und die letztere Klasse hat nebenDikotyledonen fast ausschließlich das Material dersteinkohlenartigen Tertiärkohlen geliefert. Den Konsequenzenaus der Annahme eines langsamen Verkohlungsprozesses entsprechend,sind die Steinkohlen im allgemeinen ältere Kohlen als dieBraunkohlen und werden ihrerseits durch Anthracit an Alterübertroffen. Abweichungen von dieser Regel lassen sich aufbesondere Umstände zurückführen, welche baldbeschleunigend, bald verlangsamend auf den Verlauf des Prozesseseinwirken mußten. So verschafften starkeSchichtenstörungen den sich entwickelnden Gasen durchSpaltenbildungen einen Ausweg; ein Gehalt an vitriolisierendemEisenkies bildet neben Eisenvitriol freie Schwefelsäure,welche verkohlend auf die pflanzliche Substanz einwirkt, und indemselben Sinn unterstützt eine Erhöhung der Temperatur,wie sie eruptierendes Gestein hervorbringen kann, den Prozeß.So ist am Meißner in Hessen Braunkohle durch einenbedeckenden Basalt stellenweise in einen stängeligabgesonderten Anthracit (Stangenkohle) umgewandelt, undähnliche Erscheinungen sind von Salesl bei Aussig inBöhmen, von Mährisch-Ostrau u. a. O. bekannt. Wurdendagegen die Schichten der betreffenden Formation nicht vonjüngern bedeckt, so fehlte ein Haupterfordernis der Einleitungdes Verkohlungsprozesses, der hohe Druck. So kommen in denGouvernements Tula und Kaluga Kohlen vor, welche nach ihrenorganischen Resten (Stigmaria, Lepidodendron) zweifellos derSteinkohlenformation angehören, während sie derBraunkohle durchaus ähnlich geblieben sind. Die die Kohlenbegleitenden Gesteine sind in einem ähnlichen unreifenZustand: statt der Schieferthone sind plastische Thone und Lettenentwickelt; die Sandsteine sind locker, fast lose Sande.

Verbreitung. Produktion. Verbrauch

Die wichtigsten Kohlenfelder (soweit sie derSteinkohlenformation angehören, der übrigen wurde schonoben Erwähnung gethan) sind in Deutschland, von W. nach O.geordnet. 1) das Aachener Becken oder das Doppelbecken an der Wormund Inde, nach Deutschland hereinragende Teile des großenbelgischen Beckens; 2) das Saarbecken oder SaarbrückenerBecken, an welchem außer Preußen auch Bayern undLothringen partizipieren; 3) das westfälische oder Ruhrbecken,zu welchem als äußerste Vorposten nach N. dieKohlenfelder von Ibbenbüren und Piesberg bei Osnabrückgehören; 4) und 5) die beiden unbedeutenden Kohlenvorkommnissevon St. Bilt im Elsaß und Berghaupten in Baden; 6)-10) dieebenfalls nur kleinen Becken von Ilfeld bei Nordhausen,Wettin-Löbejün in der Provinz Sachsen,Manebach-Kammerberg in Thüringen, Stockheim bei Koburg undErbendorf in Oberfranken; 11) und 12) im Königreich Sachsendas größere Zwickau-Chemnitzer und das kleinerePlauensche Becken; 13) und 14) die beiden schlesischen Becken, dasvon Waldenburg und das oberschlesische, in dessen ZentrumKönigshütte gelegen ist. Die relative Wichtigkeit derKohlenfelder Deutschlands erhellt aus der folgenden, aus dieProduktion des Jahrs 1873 bezüglichen Tabelle, welche fürdie Vergleichszwecke auch gegenwärtig noch ausreicht:

Steinkohlenbecken Zahl der Gruben Prozent der GesamtzahlProduktion in Zentnern Prozent der Gesamtproduktion Wert inMark Prozent des Gesamtwerts Arbeiter Prozent der Gesamtzahl

Westfälisches Becken 230 42,4 328161620 45,9 180227595 45,880281 46,0

Qberschlesisches Becken 132 24,3 155380208 21,8 62077491 15,832621 18,8

Saarbecken 38 7,0 96851737 13,6 79696177 20,2 24469 14,1

Zwickau - Plauen 73 13,5 63 321 518 8,938109831 9,7 164299,5

Waldenbura 35 6,5 45876197 6,4 1042384 5,7 12298 7,5

Aachener Becken 18 3,3 21037039 3,0 10788069 2,7 6078

Stockheim 6 1,1 1311879 0,2 745863 0,2 683 0,4

Wettin und Lödejün 3 0,5 1045137 0,1 681429 0,2 4000,3

Ilfeld 3 0,5 501095 0,1 262086 0,1 215 0,2

Berghaupten 3 0,5 253883 0,0 192024 0,0 142 0,1

Manebach und Kammerberg 2 0,4 19831 0,0 12981 0,0 36 0,0

Zusammen: 543 100,0 713760144 100,0 394035930 100,0 173652100,0

Während unter den außerdeutschen LändernBelgien reiche Kohlenlager im Zusammenhang mit dem AachenerBecken besitzt, sind die französischen Becken (St.-Etienne,Creusot, Autun, Alais etc.) unbedeutender. Spanien und Portugalscheinen große Vorräte an Steinkohlen zu bergen, wogegenItalien und die Schweiz nur wenige und kleine Partien derproduktiven Steinkohlenformation aufzuweisen haben. Im O.Deutschlands sind in Böhmen mehrere Becken (Kladno, Rakonitz,Pilsen) zu verzeichnen, ferner das Ostrauer in Mähren undÖsterreichisch-Schlesien. Rußland besitzt außerden oben erwähnten Kohlen der Gouvernements Kaluga und Tulasolche am Donez im Süden, am Ural und hoch im N. auf denBäreninseln und Spitzbergen. Das großbritannischeInselreich hat relativ zu seinem Gesamtgebiet das größteAreal Kohlenfelder. Es verteilen sich dieselben auf eine Anzahlisolierter Becken, unter denen die von Northumberland, Yorkshire,Derbyshire, Südwales und Schottland die wichtigsten sind.Unter den übrigen Erdteilen der Alten Welt ist besonders Asienund hier wiederum China, wo die Kohlenlager über ein Areal von200,000 QM. verbreitet sind (s. China, S. 4), sehr reich an Kohlen,die zum größten Teil der Steinkohlenformationangehören. Als unermeßlich werden die KohlenschätzeNordamerikas geschildert, die sich über sechs großeTerritorien verbreiten: 1) das appalachische Kohlenfeld, an welchemdie Staaten Pennsylvanien, Ohio, Virginia, Kentucky, Tennessee undAlabama partizipieren; 2) das Illinois-Missouri-Kohlenfeld, von demaußer auf die benennenden Staaten Teile auf Indiana,Kentucky, Iowa, Kansas

272

Steinkohle - Steinkohlensormation.

und Arkansas entfallen; 3) das Kohlenfeld in Michigan; 4) das inTexas; 5) Rhode-Island und endlich 6) das Doppelfeld vonNeuschottland und Neubraunschweig. Die Ausdehnung der Kohlenfelderin englischen Quadratmeilen wird veranschlagt für China aufmehr als 200,000, Nordamerika auf 193,870, Ostindien 35,500,Neusüdwales 24,000, Großbritannien 9000, Deutschland3600, Spanien 3500, Frankreich 1800, Belgien 900. DieKohlenproduktion hat in verhältnismäßig kurzer Zeiteinen rapiden Aufschwung genommen. Sie betrug 1860 in England,Deutschland, den Vereinigten Staaten von Nordamerika, inFrankreich, Belgien und Österreich 124 Mill. metr. Tonnen. DieGesamtproduktion (zu 1000 kg) betrug nach Neumann Spallart("Übersichten der Weltwirtschaft") 1884: 409,381,515 Ton.(à 1000 kg), die sich auf die einzelnen Länderfolgendermaßen verteilen: Großbritannien 163,329,904,Deutschlands 121,000, Frankreich 20,023,504, Belgien 18,051,499,Österreich 17,199,518, Rußland 3,500,000, Ungarn2,525,056, Spanien 979,350, Schweden 196,831, Italien 164,737,Niederlande 49,554, Portugal 17,000, Schweiz 5800, Europa298,163,753. Vereinigte Staaten 100,268,109, China 3,000,000,Neusüdwales 2,793,086, Britisch-Nordamerika 1,673,000,Ostindien 1,420,183, Japan 755,800, Chile 490,000, Neuseeland488,524. Die Steinkohlenproduktion im Deutschen Reich betrug 1887über 60 Mill. Ton. und verteilte sich wie folgt:

Westfalen 21528741

Schlesien 16187078

Rheinland 16127350

Hannover 581546

Königr. Preußen 54548283

Königreich Sachsen 4293417

- Bayern 683619

Baden 6006

Elsaß-Lothringen 693 679

Deutsches Reich 60333984

Der Kohlenverbrauch gibt einen Maßstab für diematerielle Kultur. Er betrug in metr. Tonnen in:

Absoluter Verbrauch Auf den Kopf der Bevölkerung

1865 1884 1865 1884

Großbritannien 90404000 140135000 3,092 3,900

Belgien 7 631 000 13483000 1,577 2,331

Vereinigte Staaten 18825000 98109000 0,598 1,766

Deutschland 26680000 69001000 0,730 1,505

Frankreich 8522000 30941000 0.470 0,816

Osterreich 5050000 18132000 0,139 0,464

Rußland 1085000 5200000 0,015 0,066

Die Frage nach der Möglichkeit einer Erschöpfung derS. hat namentlich für England größeres Interesse.Man nimmt an, daß das Land noch einen Vorrat von ca. 146Milliarden Ton. innerhalb der Tiefe von 4000 Fuß besitze;davon sind 90 Milliarden Ton. aufgeschlossen, während man 56Milliarden auf voraussichtlich zu erschließende Flöze(?) rechnet. Nimmt man an, daß sich der Kohlenverbrauch inbisheriger Weise weiter steigern werde, so würden dieseSchätze noch für 250 Jahre ausreichen. Auch Deutschlandkann seinen Bedarf noch für Jahrhunderte decken, dann aberbieten Rußland und andre Länder reichlichen Ersatz, dervoraussichtlich durch Herabsetzung der Transportkosten für dieeuropäischen Länder erreichbar werden wird. Nicht voreiner geologischen oder technischen, sondern vor einerökonomischen Frage werden also die folgenden Generationenhinsichtlich des Kohlenbedarfs stehen. - Die Benutzung der S. istwesentlich eine doppelte: die als Brennmaterial und die derGewinnung der Destillate, welch letztere sich inLeuchtgasfabrikation, Gewinnung des Teers und seiner Derivate etc.gliedert. Untergeordnet ist die Verwendung politurfähigerKohlen zu Schmuckgegenständen (Gagat in England undWürttemberg), an Eisenkies und Asche reicher Abarten zurAlaungewinnung, der Steinkohlenasche als Dünger und als Zusatzzum Mörtel.

Die Benutzung der S. reicht bei einigen Völkern weitzurück. So sollen die Chinesen schon frühzeitig ihrenWert erkannt haben, und in einigen englischen Gruben hat manSteinwerkzeuge vorgefunden, so daß die Kenntnis der Kohleälter als die des Eisens sein würde. Die alten Deutschenscheinen neben Holz nur den Torf als Brennmaterial verwendet zuhaben; es finden sich auch alte Schlackenhalden an der Ruhr, alsoin kohlenreicher Gegend, nicht im Thal, sondern offenbar wegen derbequemen Nähe der Wälder auf Bergesrücken. Daßdie Römer, als sie als Eroberer England betraten, die Kohlenwenigstens an den Ausstrichen benutzt haben, ist durch Funde aufdem Herd eines römischen Bades bewiesen. In Deutschlandscheint das Zwickauer Becken schon von den bergbautreibenden Sorbenbenutzt worden zu sein, während die Ausbeutung des belgischenund Aachener Beckens sich rückwärts bis ins 11., desRuhrbeckens bis ins 14. Jahrh. verfolgen läßt. InEngland werden schon im 9. Jahrh. Kohlen als Brennmaterialurkundlich erwähnt; im 12. Jahrh. sind sie bereits einwichtiger Handelsartikel, der sich nicht mehr vom Marktverdrängen ließ, obgleich mehrere Edikte ihre Benutzungals luftverpestend verboten. Vgl. Geinitz, Fleck und Hartig, DieSteinkohlen Deutschlands und andrer Länder Europas(Münch. 1865); v. Dechen, Die nutzbaren Mineralien undGebirgsarten im Deutschen Reich (Berl. 1873); Hull The coalfieldsof Great Britain (4. Aufl., Lond. 1880); Mac Farlane, Thecoalregions of the United States (New York 1873), Mietzsch,Geologie der Kohlenlager (Leipz. 1875); Pechar, Kohle und Eisen inallen Ländern der Erde (Stuttg. 1878); Höfer, Die Kohlen-und Eisenerzlagerstätten Nordamerikas (Wien 1878,Ausstellungsbericht); Muck, Grundzüge und ZielederSteinkohlenchemie (Bonn 1881); Derselbe, ChemischesSteinkohlenbüchlein (das. 1882); Toula, Die Steinkohlen (Wien1888); Demanet, Betrieb der Steinkohlenbergwerke (deutsch,Braunschw. 1886).

Steinkohleformation (Kohlenformation, karbonischeFormation; hierzu die Tafeln "Steinkohlenformation I-III"), einvorwaltend aus Kalksteinen, Konglomeraten, Grauwacken, Sandsteinenund Schieferthonen, untergeordnet aus Steinkohle,Sphärosideriten und Kieselschiefern bestehendespaläozoisches Schichtensystem, das bei vollkommenerEntwickelung der Systemreihe der devonischen Formation aufgelagertist und seinerseits vom Rotliegenden überlagert wird. DieTrennung von den beiden benachbarten Formationen wird häufigdurch vollkommene Konkordanz und petrographische Ähnlichkeitder betreffenden Grenzschichten, namentlich gegen das Rotliegendehin, erschwert. Paläontologisch wird die S. charakterisiertdurch die in keiner andern Periode erreichte Üppigkeit derKryptogamenflora und durch das erstmalige Auftretenvon Reptilienund luftatmenden Tieren. Sehr häufig ist die mitunter bis zu7000 m Mächtigkeit anschwellende Schichtenfolge denältern Formationen in Form flach tellerartiger Mulden, Beckenoder Bassins aufgelagert, deren Zusammenhang und ursprünglicheLage allerdings oft durch sekundäre Störungen(Verwerfungen) unterbrochen und verändert worden sind. Dasbeigegebene Profil (s. Tafel III) durch einen Teil des Kohlenfeldesvon Zwickau (Sachsen) soll ein Bild der allgemeinenLagerungsverhältnisse geben. Es ist der südwestlicheFlügel einer Mulde mit einer Mehrzahl

Steinkohlenformation I.

Säulenglieder (Entrochiten) von Rhodocrinus verus. (Art.Krinoideen.)

Palaeocidaris clliptica, ganze Schale. (Art. Echinoideen.)

Kinnlade von Cochliodus contortus. (Art. Selachier.)

Rückenstachel von Orodus cinctus.

(Art. Selachier.)

Geöffnet, mit : aufgerollte Armgerüst.

Rückenstachel von

Tristychius arcuatus.

(Art. Selachier.)

Spirifer hystericus. (Art. Brachiopoden.)

Platycrinus triacanmodactylus. (Art. Krinoideen.)

Vorderansicht. Seitenansicht. Conocardium fusiforme. (Art.Muscheln.)

Einzelner Arm mit den Ranken.

ChoilCtes Dalmanni. (Art. Brachiopoden.)

Von oben. Von der Seite. [Von unten. Pentremitesflorßalis. (Art. Krinoideen.)

Innere Seiten-Kammern, ansieht.

Chaetetes radians. (Art. Koranen.)

Nat. Vorder-Gr. ansieht.

Fusulina cylindrica. (Art. Rhizopoden.)

Oyclophthalmus Bucklandi, daneben -lie Flügeldecken einesKäfers.

(Art. Spinneniere.)

Goniatites sphaericus. (Art. Tintenschnecken.)

Meyers Konv. - Lexikon, 4. Aufl.

Bibliographisches Institut in Leipzig.

Goniatites Jossae (Art. Tintenschnecken.)

Zum Artikel »Steinkohlenformation«

Steinkohlenformation II.

1. Zahnfarn (Odontopteris). - 2. Schuppenbaum (Lepidodendron).-

3. Cordaites borassifolia. - 4.Pecopteris cyathea. - 5.Kalamiten. -

6. Sigillaria. - 7. Stigmarienform einer Sigillarie mit Wurzelnim

Wasser. - 8. Blattstern von Annularien.

Steinkohlenformation III.

GEOLOGISCHES PROFIL DURCH DAS KOHLENFELD VON ZWICKAU.

Von der Cainsdorfer Kirche nach Morgensternschacht II (NachMietzsch).

273

Steinkohlenformation (Abteilungen, Flora).

von Kohlenflözen und zeigt neben dem allgemeinen Einfallender Schichten nach Nordosten die Störungen dieserGesetzmäßigkeit durch die Verwerfungen, welche einzelneAbschnitte der Kohlenflöze und der übrige Schichtenlosgetrennt und, relativ zu ihrer Umgebung, in einegrößere Tiefe versetzt haben.

Wo immer alle Glieder der S. entwickelt sind, läßtsich eine Zweiteilung der Formation nach petrographischen u.paläontologischen Unterschieden nachweisen, deren unteresGlied zur Bildung von Facies neigt, für welche es aber anÜbergängen ineinander nicht mangelt. In Amerika, denmeisten Becken Englands, in Frankreich, Belgien, am Niederrhein, inSchlesien und Rußland wird die unterste Abteilung von einemgewöhnlich festen und dichten, mitunter (Rußland)kreideartigen Kalkstein (Bergkalk, Mountain limestone, Kohlenkalk,metallführender Kalk) gebildet, der reich an organischenResten meerischen Ursprungs ist. Untergeordnet kommen mit demBergkalk Dolomit, Anhydrit, Gips, Steinsalz (Westvirginia, Durham,Bristol) vor. In Devonshire, Irland, Nassau, am Harz, in Schlesien,Mähren und den Alpen (Gailthaler Schichten) bilden dagegenThonschiefer, Sandsteine, Grauwacken und Kieselschiefer ein alsKulm bezeichnetes Äquivalent des Kohlenkalks. Ärmer anVersteinerungen als der Kohlenkalk, führt der Kulm immerhinnoch genug Arten (Posidonomya Becheri, Goniatites sphaericus etc.)gemeinsam mit dem Kalk, um ihn als bloße Facies desselbenaufzufassen. Während die Thonschiefer oft sehr reich anPosidonomya Becheri sind (Posidonomyenschiefer), stellen sich inden Grauwacken und Sandsteinen Pflanzenreste ein (die im Kohlenkalknur als äußerste Seltenheiten bekannt sind), mituntersogar zu kleinen Flözen angehäuft (Calamitestransitionis, Sagenaria, Stigmaria). Man betrachtet diese Faciesals eine Bildung innerhalb flacher Meeresbuchten, während derKohlenkalk einen Absatz des hohen Meers darstellen würde. Einedritte Facies dieser untersten Abteilung ist endlich die von sehrgroben Konglomeraten mit untergeordneten Sandsteinen undSchieferthonen, an einigen Punkten Sachsens flözführend,in mehreren Becken durch auskeilende Wechsellagerung mit Kohlenkalkverknüpft. Es würde sich diese Art der Entwickelung alseine Uferbildung deuten lassen. - Über jeder dieser Facies istals zweites Glied der S. ein Sandstein mit untergeordnetenKonglomeraten entwickelt, der nur selten und dann gewöhnlichunbauwürdige Flöze enthält. Dieser flözleereSandstein (obere Kulmgrauwacke, Millstone grit) wird häufigdem Kohlenkalk und Kulm noch beigezählt und mit diesemzusammen als subkarbonische Formation der obern Abteilung, derproduktiven Kohlenformation (Hauptsteinkohlenformation),entgegengestellt. Diese besteht an den meisten Orten ausSandsteinen und Schieferthonen, aus Steinkohlen, thonigenSphärosideriten, bald in einzelnen Konkretionen in denSchieferthonen eingeschlossen, bald zusammenhängende Lagenbildend, und Kohleneisenstein (s. Spateisenstein). Die Kohleebensowohl als die Eisenerze sind lediglich gelegentliche Begleiterder übrigen Gesteine und, selbst wo sie vorhanden sind, in sogeringer Mächtigkeit gegenüber den Sandsteinen undSchieferthonen entwickelt, daß sie trotz ihrer großentechnischen Wichtigkeit nur als untergeordnete Glieder derproduktiven S. bezeichnet werden können. Es ist deshalb dieBenennung "produktiv" für die obere Abteilung keineglückliche, um so weniger, als neuere Untersuchungen zubeweisen scheinen, daß die nach dieser Bezeichnungvorausgesetzte ungefähre Gleichalterigkeit für diewichtigsten Kohlenvorkommnisse nicht besteht, daß vielmehreinige englische sowie die von Ostrau und Waldenburg dem Kulm, diewestfälischen, belgischen, nordfranzösischen und vieleenglische einer untern Stufe der obern Abteilung zugerechnet werdenmüssen, während die Flöze von Pilsen undZentralfrankreich eine jüngere Periode derselben Abteilungrepräsentieren. Aber auch diese Abteilung führt anmanchen Orten, z. B. Yorkshire, Kentucky, Öberschlesien undnamentlich in Rußland (Fusulinenkalk), Kalksteine mit reichenResten marinen Charakters. Das Hangende der produktiven S. wird ineinigen Gegenden (z. B. im Saargebiet) von einer Schichtenfolge(Ottweiler Schichten) gebildet, deren innige Verwandtschaft mithöher gelegenen (Cuseler Schichten, s. Dyasformation) die obenerwähnte Schwierigkeit der Abgrenzung gegen das Rotliegendebedingt. Die für die Kohle der S. gegebene geographischeVerbreitung (s. Steinkohle) stellt natürlich nur einen kleinenTeil derjenigen der S. dar, insofern als namentlich der Bergkalküber große Horizontalstrecken hin als anstehendesGestein dominiert. So nimmt derselbe einen großen Teil dessüdlichen und mittlern England ein und bildet im Innernmitunter groteske Bergpartien, an der Küste von Südwalessteile Klippen. In Schottland und in einigen Gegenden Englands sinddie Facies der Konglomerate und des Kulms die Unterlage derproduktiven S., in Irland fehlt die jüngere Abteilunggänzlich. In Deutschland tritt Kohlenkalk als unterstes Glieddes Aachener (und belgischen) sowie des westfälischen Beckensauf, weniger und meist durch Kulm vertreten in Schlesien,während in Hessen-Nassau nur die untere Abteilung (Kulm), beiSaarbrücken lediglich die obere Abteilung vorkommt. InBöhmen fehlt ebenfalls die subkarbonische Formation; dagegensind in Mähren, besonders aber in Rußland, aufSpitzbergen, auf den Bäreninseln und in NordamerikaKohlenkalke in großer Verbreitung bekannt.

Die pflanzlichen und tierischen Reste der S. unterliegen einerähnlichen Trennung wie das Gesteinsmaterial. Die erstern sindwesentlich auf die Steinkohlenflöze und die sie begleitendenSchieferthone beschränkt, die tierischen Reste an denKohlenkalk und den Kulm geknüpft. Die Flora der S. war trotzaller Üppigkeit, wie sie sich in der großartigenAufhäufung zu mächtigen Kohlenflözen ausspricht,eine formenarme: es fehlen die höhern Dikotyledonenvollständig, und auch Koniferen, Palmen und Cykadeen spieleneine untergeordnete Rolle. Der Schwerpunkt des pflanzlichen Lebenslag in den Kryptogamen, von denen einige Geschlechter ingrößter Anzahl der Individuen und in später niewieder erreichten Dimensionen auftreten. Die Kalamiten (s. Tafel"Steinkohlenformation II", Fig. 5) haben unter der Flora derJetztwelt die Schafthalme (Equiseten) zu nächsten Verwandten,und in die gleiche Klasse dürften auch die zierlichen Rosettender Annularien (Fig. 8 und Sphenophyllen gehören. Zu denLykopodiaceen zählen die Siegelbäume (Sigillarien, Fig.6), die Schuppenbäume (Lepidodendren, Fig. 2) und vielleichtauch die Cordaites-Arten (Fig. 3), die jedoch von andern mit mehrWahrscheinlichkeit den Cykadeen zugezählt werden. Besondersdie erstgenannten Angehörigen einer Familie, welche jetzt fastausschließlich niedrige, krautartige Pflanzen ausweist,mögen als baumartige Formen mit ihren Stämmen, welchedeutliche, im Quincunx gestellte, bald rhombische, baldsechsseitige Blattnarben tragen, den Wäldern der S.

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Steinkohlenformation (Tierreste).

den typischen Charakter aufgeprägt haben. Die Stigmarien(Tafel II, Fig. 7) gehören zu ihnen als die Wurzelstöckemit weithin verzweigten Wurzeln, während die Lückenzwischen den Stämmen durch zahlreiche krautartige Farne (mankennt über 200 Arten), zum Teil noch jetzt lebendenengverwandt, ausgefüllt waren (z. B. Odontopteris, Fig. I).Außer diesen niedrigen farnformen kamen aber auch Baumfarnevor (z. B. Pecopteris, Fig. 4). Neben denGefäßkryptogamen treten die Cykadeen (Noeggerathia,Pterophyllum) und die Koniferen (aus der Abteilung der Araukarien)nach Arten- und Individuenzahl weit zurück. Die meisten guterkennbaren Pflanzenreste sind den die Kohlenflözebegleitenden Schieferthonen eingelagert; es unterliegt aber keinemZweifel und ist durch viele mikroskopische Untersuchungendargethan, daß die Kohlenflöze selbst aus dem Detritusderselben Pflanzen bestehen, deren einzelne Fragmente in denbenachbarten Thon eingeschlossen wurden. Sigillarien, ihreWurzelstöcke, die Stigmarien, und Lepidodendren sindnachweisbar die Hauptkohlenpflanzen, schon der Masse nachuntergeordnet die Kalamiten (manche Rußkohle) und Araukarien,noch seltener Farne. Das Gesamtbild der Flora der S. ist das einerüppigen tropischen Sumpfflora; aber trotzdem ist die in denKohlenflözen aufgehäufte Pflanzenmenge eine erstaunliche:hat doch Chevandier berechnet, daß ein 100jährigerBuchenwald beim Verkohlen ein Schichtchen von nur 2 cm Kohleliefern würde. Man hat deshalb geglaubt, lokaleAufhäufungen der Pflanzenleichen durch Anschwemmungen annehmenzu müssen. Aber das Vorkommen aufrecht stehender Stämme,die große Reinheit des kohligen Materials, dieununterbrochene Verbreitung eines und desselben Kohlenflözesüber mitunter große Horizontalstrecken widersprecheneiner solchen Anschwemmungshypothese und lassen sie höchstensfür kleinere Kohlenschmitzchen oder stockartige, inhorizontaler Richtung unbedeutend entwickelte Vorkommnisse gelten.Man hat ferner (Mohr) das eigentliche kohlenbildende Material nichtin den oben beschriebenen Pflanzen, sondern vielmehr in Seetangengesucht, welche, wie die heutigen Sargassomeere (deren Ausdehnungübrigens nach neuern Forschungen auch nicht so bedeutend ist,als man bislang annahm), in großen Bänken aufgetretenund nach dem Absterben in geschlossenen Massen auf den Bodengesunken seien. Aber die mikroskopische Untersuchung derSteinkohlen widerspricht dieser Auffassung vollständig. Sobleibt nichts übrig, als Sümpfe und Moräste aufflachen Ufern des Meeresstrandes, den Dschangeln (s. d.)vergleichbar, anzunehmen, in denen unter tropischer Sonne eine dieunsrige an Üppigkeit weit übertreffende Pflanzenwelt sichentwickelte. Periodische Einbrüche des Meers vernichtetenvorübergehend dieses Leben und führten Schlamm und Sand,das jetzt als Schieferthon und Sandstein die einzelnenKohlenflöze trennende Material, herbei, welches nachRückzug des Meers für eine neue Vegetation den Bodendarbot. Ob sich von diesen pelagischen oder paralischenKohlenbecken einige kleinere als limnische abtrennen lassen, diesich an und in Süßwasserseen gebildet haben würden,diese Ansicht steht und fällt mit der Deutung gewisserMolluskenreste (Anthracosia) in der Unterlage der betreffendenFlöze als Süßwasser- oder Seeformen (vgl.Süßwasserformationen). - Der Typus der Kohlenpflanzenweist auf eine mittlere Temperatur von 20-25° hin, und derUmstand, daß selbst hochnordische Kohlenbecken einetropischen Charakter tragende Flora geliefert haben, scheint dieAnnahme zu rechtfertigen, es sei diese hohe Mitteltemperatur damalseine allgemein herrschende gewesen. Auf den Zustand derAtmosphäre während der S. lassen die großartigenKohlenschätze insofern schließen, als dieaufgehäuften Pflanzen zum Aufbau ihrer Körper derAtmosphäre den in ihr als Kohlensäure enthaltenenKohlenstoff entzogen. Vor und während der S. mußtedemnach die Luft viel reicher als heute an Kohlensäure sein.Man hat auf Grund einer Schätzung der Menge der Kohlen dendamaligen Gehalt auf 0,06 Proz. berechnet, also auf das 150fachedes heutigen. Die Tierreste der S. widersprechen der Annahme einerkohlensäurereichen Atmosphäre nicht: fehlen doch allewarmblütigen Tiere, während die Reptilienerfahrungsmäßig in kohlensäurereicher Luft lebenkönnen. In der obern Abteilung der S. war das tierische Lebenauf ein Minimum beschränkt, ähnlich wie heute in unsernUrwäldern. Interesse erregen einige Landschnecken, Skorpione(z. B. Cyclophthalmus Bucklandi, s. Tafel I), Spinnen,Tausendfüße, Heuschrecken, Schaben und Käfer (s.die Flügeldecke auf derselben Platte). Die Wassertümpelwaren von kleinen Schalenkrebsen (Leaia, Leperditia, Estheria)bevölkert, während als höchst organisierte TiereAmphibien auftreten. Die meisten derselben gehörenMittelformen zwischen den Echsen und Batrachiern an, dengroßschädeligen Labyrinthodonten. Weitgrößern Reichtum an tierischen Resten, unzweifelhaftenMeeresbewohnern, birgt der Bergkalk. Von Protozoen kommt eineweizenkorngroße Foraminifere, Fusulina cylindrica (s. TafelI), namentlich in Rußland und Amerika in zahllosen Exemplarenvor, bestimmte Lagen des Kalks (Fusulinenkalk) fastausschließlich zusammensetzend. Die Korallen (Chaetetes, s.Tafel I), welche ebenfalls mitunter in gesteinsbildender Fülleauftreten, gehören denselben Ordnungen wie die des Silurs undder Devonischen Formation (s. d.) an. Die Krinoideen sind zahlreichnach Formen und Individuen; zu der Krinoideenabteilung derBlastoideen gehört das Genus Pentremites (s. Tafel I), welcheszwar schon im Silur und Devon auftritt, in der Steinkohle aberseine zahlreichsten Vertreter besitzt. Aus der Ordnung derSeelilien stellt die Tafel die Stielglieder (Entrochiten) vonRhodocrinus Verus dar, welche sich schichtenweise ebensoaufgehäuft vorfinden wie die Säulenglieder von Encrinusim Muschelkalk oder von Pentacrinus im Lias sowie Platycrinustriacanthodactylus. Seeigel, aus 30-35 Reihen sechsseitiger Plattenzusammengesetzt, sind durch mehrere Genera (darunter Palaeocidaris,s. Tafel I) vertreten. Unter den Mollusken sind die Ordnungen derBrachiopoden und Cephalopoden, wenn auch noch artenreich, dochnicht mehr so vorwaltend wie in den noch ältern Formationen(Chonetes Dalmanni, Spirifer hystericus, Goniatites Jossae und G.sphaericus, s. Tafel I). Zu den Pelekypoden zählen die im Kulmhäufige Posidonomya Becheri, die Anthracosia und das nach vornabgestutzte, nach hinten schnabelförmig ausgezogene undklaffende Conocardium fusiforme (s. Tafel I). Die Gastropodengehören fast ausnahmslos denselben Genera wie die derdevonischen Formation an. Die Trilobiten klingen in der S. aus undsind nur noch durch die kleinen und seltenen Arten der GattungPhillipsia vertreten; daneben sind, wenn auch selten,Molukkenkrebse (Limulus) beobachtet worden. Von Fischen der S.findet man Zähne und Rückenstacheln besondershäufig. Sie gehören Haien an, wenn auch Abteilungen,welche in der Jetztwelt teils ganz erloschen, teils nur durchwenige Formen vertreten sind (Orodus. Tristychius

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Steinkohlengas - Steinla.

und Cochliodus, s. Tafel I). Die GanoidengeschlechterPalaeoniscus und Amblypterus kommen in sehr zahlreichenvollständigen Exemplaren in Schichten (Lehbach im Saarbecken)vor, welche jetzt dem Rotliegenden beigezählt werden. - Dievulkanische Thätigkeit lieferte während derSteinkohlenperiode Diabase (in Schottland, England, Frankreich, aneinzelnen Punkten Deutschlands), Felsitporphyre (Sachsen,Niederschlesien, Frankreich), seltener Diorite, Pechsteine undMelaphyre, während die eigentliche Eruptionszeit der zuletztgenannten erst in die Dyasperiode fällt. Namentlich dieDiabase sind durch Decken und Tuffe, welche sich zwischen diekarbonischen Gesteine einschalten, besonders häufig alszweifellos gleichzeitige Bildungen charakterisiert. Es mögendiese sowie jüngere Eruptivgesteine zum Teil auch diezahlreichen Schichtenstörungen (s. Verwerfungen), welchen dieGesteine der S. unterworfen sind, verursacht haben. - An technischwichtigen Materialien liefert die S. in erster Linie Kohlen undEisenerze, außerdem wichtige Erze besonders aufgangförmigen Lagerstätten. So gehört ein Teil derOberharzer Gänge von silberhaltigem Bleiglanz dem Kulm an;Englands und Amerikas Kohlenkalk birgt ebenfallsBleiglanzgänge. Von den Aachener und belgischenZinkerzlagerstätten bilden einige Gänge, andre Nester undLager, teils in karbonischen Gesteinen, teils an der Grenzezwischen diesen und devonischen Schichten, teils innerhalb desdevonischen Systems. Der Bergkalk selbst endlich dient hin undwieder als Marmor und als Zuschlag beim Hochofenbetrieb, gewisseVarietäten des flözleeren Sandsteins als Mühlstein(woher der englische Name: Millstone grit), andre als feuerfestesMaterial. Vgl. die bei Art. Steinkohle (S. 272) angeführtenWerke, außerdem: Weiß, Das Steinkohlengebirge an derSaar (Berl. 1875); Lottner, Das westfälischeSteinkohlengebirge (2. Ausg., Iserl. 1868); Geinitz, GeognostischeDarstellung der S. in Sachsen (Leipz. 1856); Römer, Geologievon Oberschlesien (Bresl. 1870); Geinitz, Die Versteinerungen derS. in Sachsen (Leipz. 1855); Andrae, Vorweltliche Pflanzen aus demSteinkohlengebirge der preußischen Rheinlande und Westfalens(Bonn 1865-69); Stur, Beiträge zur Kenntnis der Flora derVorwelt (Wien 1875-83).

Steinkohlengas, s. Leuchtgas.

Steinkohlenkreosot, s. Phenol.

Steinkohlenpech, pechartige Masse, welche ausSteinkohlenteer gewonnen wird. Destilliert man aus letzterm dieflüchtigern Öle ab, so erhält man als RückstandAsphalt, etwa 80 Proz. vom Gewicht des Teers; destilliert man etwa10 Proz. mehr ab, so bildet der Rückstand weiches und bei nochweiter fortgesetzter Destillation mittelhartes und hartes Pech.Seit Begründung der Anthracenindustrie destilliert manallgemein bis zur Bildung von hartem Pech, pumpt dann wiederschweres Teeröl in die Blase und erhält, je nach derMenge des letztern, weiches Pech, Asphalt, präparierten Teeroder künstlichen Stockholmer Teer. Weiches Pech erweicht bei40° und schmilzt bei 60°, mittelhartes erweicht bei 60°und schmilzt bei 100°, hartes erweicht bei 100° undschmilzt bei 150-200°.

Steinkohlenasphalt dient als Surrogat des natürlichenAsphalts und wird zu diesem Zweck mit Sand, Kies, Asche,Ziegelmehl, Kalkstein, Kreide etc. gemischt. Sehr verbessert wirder durch Erhitzen mit Schwefel, und ein derartiges Präparatbildet, vielleicht noch mit Zusatz von indifferenten erdigenBestandteilen, den Häuslerschen Holzzement. Hartes Pech wirdin weiches verwandelt (wiederbelebt), indem man es in Teer, Asphaltoder Schweröl schmelzt und mit Hilfe einer Schraube ohne Endebis zu völliger hom*ogenität knetet. Das S. dientbesonders zur Brikettfabrikation, eignet sich aber auchvortrefflich zur Darstellung von Ruß, als Reduktionsmittelbei chemischen Prozessen und zur Zementstahlfabrikation. Wird dasPech noch in der Blase mit sehr viel Schweröl verdünnt,so erhält man den präparierten Teer, der viel billigerist als roher Teer, dabei aber für Anstriche, zurDachpappenfabrikation, in der Seilerei etc. ungleich wertvoller alsletzterer. Er dringt schneller und tiefer in Holz und Stein ein,trocknet schneller und ohne Risse (in 12-24 Stunden) und gibt einenschönen glänzenden Überzug. Als Surrogat desHolzteers (Stockholmer Teer) führt er den Namenkünstlicher Stockholmer Teer. Einen feinern, noch schneller(in 4-6 Stunden) trocknenden Firnis für feinere Eisenwarenerhält man auf gleiche Weise aus Pech und Leichtöl, undendlich wird dieser noch mit Naphtha oder Petroleumäther u.dgl. gemischt, in welchem Fall der Lack in einer Stunde, ja ineiner Viertelstunde trocknet. Alle drei Firnisse haften ungemeinfest am Eisen und geben einen ziemlich harten, starkglänzenden und sehr glatten überzug. DieseVerwendungsarten des Steinkohlenpechs konsumieren nur sehr wenigvon der großen produzierten Menge, und man treibt deshalb dieDestillation noch weiter, um schließlich nur Koks alsRückstand zu erhalten, für welche stets Absatz gefundenwerden kann. Bei der Anwendung gußeiserner Retorten und einesExhaustors, welcher zur Beförderung der Dampfentwickelung einteilweises Vakuum in der Retorte erzeugt, erhält man zwischen260 und 315° meist Naphthalin, dann bis 370° einanthracenreiches Produkt und bei höherer Temperatur minderflüchtige Körper. Die Destillate geben beim Stehen einenAbsatz, aus welchem Rohanthracen gewonnen wird, und dasübrigbleibende Öl dient zum Schmieren. DerAusführung der Pechdestillation im größern Umfangsteht bis jetzt noch die Schwierigkeit entgegen, ein passendesRetortenmaterial zu finden. Vgl. Lunge, Die Industrie derSteinkohlenteer-Destillation etc. (2. Aufl., Braunschw. 1888).

Steinkohlensystem, s. v. w. Steinkohlenformation.

Steinkohlenteerkampfer, s. v. w. Naphthalin.

Steinkolik, s. Harnsteine, S. 175.

Steinkonkretionen, s. Steinigwerden.

Steinkrankheit, die durch Harnsteine (s. d.)hervorgerufenen Beschwerden.

Steinkraut, s. Alyssum.

Steinkreise, s. Steinsetzungen.

Steinkresse, s. Chrysospienium.

Steinkultus, s. Steindienst.

Steinla, Moritz, eigentlich Müller, Kupferstecher,geb. 1791 zu Steinla bei Hildesheim, bildete sich an der Akademiein Dresden, dann in Florenz unter Morghens und in Mailand unterLonghis Leitung. In Florenz vollendete er 1829 einenausgezeichneten Stich nach Tizians Zinsgroschen. Nach seinerRückkehr aus Italien ließ er sich in Dresden nieder, woer später Professor der Kupferstecherkunst an der Akademiewurde und 1830 die Pietà nach Fra Bartolommeo, 1836 denKindermord nach Raffael, 1838 die Madonna della Misericordia nachFra Bartolommeo, 1841 die Madonna des Bürgermeisters Meyernach Holbein stach, welche ihm von der Pariser Akademie diegroße goldene Preismedaille erwarb. Seine letzten Hauptwerkewaren die Stiche nach der Sixtinischen Madonna (1848) und derMadonna mit dem Fisch von Raffael. Er starb 21. Sept. 1858.

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Steinle - Steinmine.

Steinle, Eduard Jakob von, Maler, geb. 2. Juli 1810 zuWien, war Schüler der Akademie daselbst und von Kupelwieserund ging 1828 nach Rom, wo er sich eng an Overbeck und Ph. Veitanschloß und bis 1834 blieb. In die Heimatzurückgekehrt, lebte er mit einigen Unterbrechungen, unterandern veranlaßt durch einen Aufenthalt in München zurErlernung der Freskotechnik bei Cornelius, in Frankfurt a. M. undwurde dort 1850 erster Professor am Städelschen Institut. 1838führte er in der Kapelle des Bethmann-Hollwegschen SchlossesRheineck seine ersten Fresken aus. Dann begann er im Domchor zuKöln Freskogemälde, die Engelchöre auf Goldgrunddarstellend, Schöpfungen von großartiger Wirkung. 1844malte er für den Kaisersaal zu Frankfurt das Urteil Salomos.1857 begann die Ausmalung der Ägidienkirche in Münster.Von 1860 bis 1863 beschäftigten ihn die vier großen, dieKulturentwickelung der Rheinlande schildernden Fresken imTreppenhaus des Museums Wallraf-Richartz in Köln. Dann malteer von 1865 bis 1866 die sieben Chornischen der Marienkirche inAachen aus. Nach Beendigung der Ausschmückung derfürstlich Löwenstein-Wertheimschen Kapelle zu Heubach mitFresken und Ornamenten wurde ihm 1875 die Ausmalung des Chors imMünster zu Straßburg übertragen, und 1880 erhielter vom Frankfurter Dombauverein den Auftrag, das Innere des Domsvollständig auszumalen, wozu er einen umfangreichen Entwurf imVerein mit dem Architekten Linnemann aufstellte. S. hat auch einegroße Anzahl von meist religiösen Staffeleibilderngeschaffen, aber auch Porträte und romantisch gehalteneGenrebilder von feiner Färbung (der Türmer und derViolinspieler in der Galerie Schack zu München); ferner eineMenge von Zeichnungen und Aquarellen, teils religiösenInhalts, teils nach Shakespeareschen und andern Dichtungen. DieseAquarelle haben meist einen romantischen Zug, den er schonfrühzeitig durch den Verkehr mit Klemens Brentano angenommenhatte, dessen Dichtungen ihm ebenfalls mehrere Motive gebotenhaben. Seine Hauptwerke dieser Gattung sind: Rheinmärchen unddie mehreren Wehmüller nach Brentano, die Beichte in St. Peterzu Rom, Szene aus "Was ihr wollt" von Shakespeare (in der BerlinerNationalgalerie), Schneeweißchen und Rosenrot und derParzival-Cyklus, sämtlich Aquarelle. S. starb 19. Sept. 1886.Vgl. v. Wurzbach, Ein Madonnenmaler unsrer Zeit (Wien 1879);Valentin, Ed. Jak. v. S. (Leipz. 1887).

Steinlerche, s. Pieper und Flüevogel.

Steinlorbeer, s. Viburnum.

Steinmannit, s. Bleiglanz.

Steinmark, Sammelname für eine Reihe derber,dichter, weißer, gelblicher oder rötlicher,undurchsichtiger, matter, fettig anzufühlender,thonerdehaltiger Silikate, die als Zersetzungsprodukte feldspatigerMineralien in ihrer Zusammensetzung schwanken und sich zum Teil vomKaolin, zum Teil vom Nakrit nicht trennen lassen. Als typisches S.wird das aus dem Porphyr von Rochlitz in Sachsen aufgeführtund in Carnat und Myelin getrennt. Beide scheinen sich vom Kaolinnur in Bezug auf den Gehalt an Wasser zu unterscheiden,während die Varietäten aus dem Melaphyr von Kainsdorf beiZwickau und diejenige, welche den Topas am Schneckenstein inSachsen begleitet, dem Nakrit zuzuzählen sind.

Steinmasse, s. Steine, künstliche.

Steinmerle, s. Steindrossel.

Steinmetz, Karl Friedrich von, preuß.Generalfeldmarschall, geb. 27. Dez. 1796 zu Eisenach, ward imKadettenhaus erzogen, trat 1813 als Leutnant in das 1. Regiment,mit dem er fast alle Gefechte und Schlachten des Yorkschen Korps1813-14 mitmachte, ward mehrere Male verwundet und erwarb sich dasEiserne Kreuz. 1818 wurde er in das 2. Garderegiment versetzt, 1820zur Kriegsschule, 1824 zum topographischen Büreau kommandiert,1829 Hauptmann, erhielt 1839 als Major das DüsseldorferGardelandwehrbataillon und 1841 ein Bataillon Gardereserve inSpandau. Während des Barrikadenkampfs in Berlin 18. März1848 befehligte er das 2. Infanterieregiment, mit welchem er auchnach Schleswig ging. Im Oktober ward er Kommandeur des 32.Infanterieregiments, 1849 Oberstleutnant, 1851 Oberst undKommandeur des Kadettenkorps, 1854 Kommandant von Magdeburg undGeneralmajor, 1857 Kommandeur der 3. Gardeinfanteriebrigade, imOktober der 1. Division in Königsberg, 1858 Generalleutnant,1862 kommandierender General des 2., 1864 des 5. Korps und Generalder Infanterie. An der Spitze des 5. Korps, das zur zweiten Armeegehörte, siegte er 27. Juni 1866 bei Nachod, am 28. beiSkalitz und am 29. bei Schweinschädel nacheinander überdrei österreichische Korps und nahm denselben 2 Fahnen, 2Standarten, 11 Geschütze und gegen 6000 Gefangene ab. Fürdiese großartigen Leistungen, welche wesentlich zu derDurchführung des ganzen Operationsplans beitrugen, erhielt S.den Schwarzen Adlerorden sowie eine Dotation und ward auch 1867 inden norddeutschen Reichstag gewählt. 1870 erhielt er dasOberkommando der ersten Armee, welche den rechten Flügel desdeutschen Aufmarsches bildete. In dieser Stellung entsprach erjedoch den Erwartungen nicht. Sein durch seine großen Erfolgevon 1866 gesteigerter Eigensinn wirkte höchst nachteilig undstörend ein. Mit der zweiten Armee hatte er fortwährendStreitigkeiten über Quartiere und Marschrouten, mit Moltkeüber die Operationen seiner Armee. In der Schlacht beiGravelotte griff er bei St.-Hubert mit einem Kavallerieangriff sozur Unzeit ein, daß die Schlacht nahe daran war, verloren zuwerden. Infolge hiervon wurde S. nach der Schlacht bei Gravelottedem Prinzen Friedrich Karl unterstellt und, da er sich diesem nichtfügte, zum Generalgouverneur der Provinzen Posen und Schlesienernannt, aber 8. April 1871 zum charakterisiertenGeneralfeldmarschall ernannt und zu den Offizieren von der Armeeversetzt. S. lebte darauf zu Görlitz und starb 4. Aug. 1877 imBad Landeck. S. war ein rauher und herber Vorgesetzter, aber eindiensteifriger Offizier von spartanischer Strenge gegen sich selbstund ein tüchtiger Korpskommandeur.

Steinmeyer, Franz Ludwig, protest. Theolog, geb. 15. Nov.1812 zu Beeskow in der Mittelmark, war Prediger zu Kulm und Berlin,dann ordentlicher Professor der Theologie 1852 in Berlin, 1854 inBonn, 1858 in Berlin. Von ihm erschienen: "Beiträge zumSchriftverständnis in Predigten" (2. Aufl., Berl. 1859-66, 4Bde.); "Apologetische Beiträge" (das. 1866-73, 4 Bde.);"Beiträge zur praktischen Theologie" (das. 1874-79, 5 Bde.);"Beiträge zur Christologie" (das. 1880-82, 3 Bde.);"Geschichte der Passion des Herrn" (2. Aufl., das. 1882); "DieWunderthaten des Herrn" (das. 1884); "Die Parabeln des Herrn" (das.1884); "Die Rede des Herrn auf dem Berge" (das. 1885); "Dashohepriesterliche Gebet" (das. 1886); "Beiträge zumVerständnis des Johanneischen Evangeliums" (das. 1886-89, 4Bde.).

Steinmine (Erdwurf, Erdmörser), unter 45° in dieErde gegrabene und an den Seitenwänden

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Steinmispel - Steinschnitt.

mit Brettern bekleidete Gruben, die, mit Pulver und Steinengefüllt, demnächst mit Erde verdämmt, durchZündschnur entzündet, zur Sperrung von Engwegen oder inden letzten Stadien des Festungskriegs angewandt worden sind. Beiden Savartinen sind Cylinder aus Eisenblech in die Grubengesetzt.

Steinmispel, s. Cotoneaster.

Steinnuß, s. Elfenbein (Surrogat).

Steinobstgehölze, s. Amygdaleen.

Steinöl, s. Erdöl.

Steinoperationen, s. Steinschnitt.

Steinpappe, s. v. w. Dachpappe; auch eine Masse ausaufgeweichtem und zerkleinertem Papier, angemacht mit Leimwasserund versetzt mit Thon und Kreide (auch Leinöl), dient zuReliefornamenten.

Steinpfeffer, s. Sedum.

Steinpicker, s. Steinschmätzer.

Steinpilz, s. Boletus.

Steinpitzger, s. Schmerle.

Steinpleis, Dorf in der sächs. Kreis- undAmtshauptmannschaft Zwickau, an der Pleiße, hat eine evang.Kirche, Vigognespinnerei, Kunstwollfabrikation, Färberei, eineDampfmahlmühle und (1885) 2769 Einwohner.

Steinringe, s. Steinsetzungen.

Steinröschen, s. Daphne.

Steinrötel, s. Steindrossel.

Steinsalz, s. Salz, S. 236.

Steinsame, s. Lithospermum.

Steinsänger, s. v. w. Steinschmätzer.

Steinschmätzer (Saxicola Bechst.), Gattung aus derOrdnung der Sperlingsvögel, der Familie der Drosseln(Turdidae) und der Unterfamilie der S. (Saxicolinae), schlankeVögel mit pfriemenförmigem Schnabel, welcher an derWurzel breiter als hoch, auf der Firste kantig und an der Spitzeetwas abgebogen ist, etwas stumpfen Flügeln, in welchen diedritte und vierte Schwinge am längsten sind, ziemlich kurzemund breitem, gerade abgeschnittenem Schwanz und hohen unddünnen Füßen mit mittellangen Zehen. Der S.(Steinsänger, Steinpicker, Steinbeißer, S. oenantheBechst.), 16 cm lang, 29 cm breit, oberseits hellgrau, an der Brustrostgelblich, auf dem Bürzel, an der Unterseite und an derStirn weiß, mit weißem Augenstreifen, um die Augen, anden Flügeln und den beiden mittlern Schwanzfedern schwarz; dieübrigen Schwanzfedern sind am Grund weiß, an der Spitzeschwarz; das Auge ist braun, Schnabel und Fuß schwarz. Erbewohnt Mittel- und Nordeuropa, die asiatischen Ländergleicher Breite und den hohen Norden Amerikas. Bei uns weilt er vomMärz bis September. Er findet sich in steinreichen Gegendenund geht in der Schweiz bis über den Gürtel desHolzwuchses empor. Sehr gewandt, munter, ungesellig, vorsichtig,lebt er einsam, läuft ungemein schnell, fliegt ausgezeichnet,aber nicht hoch und macht, auf einem Felsen sitzend, wiederholtBücklinge. Sein Gesang ist unbedeutend. Er nährt sich vonInsekten, nistet in Felsritzen und Baumlöchern und legt im Mai5-7 bläuliche oder grünlichweiße Eier (s. Tafel"Eier I"), welche das Weibchen allein ausbrütet. In derGefangenschaft geht er durch seine Wildheit bald zu Grunde.

Steinschneidekunst (Glyptik, Lithoglyptik), die Kunst,Gegenstände aus Edel- und Halbedelsteinen reliefartig erhaben(Kameen, s. d.) oder vertieft (Gemmen, Intaglien) in dieselbeneingegraben darzustellen, sowie überhaupt die Kunst,Edelsteine und Halbedelsteine zu bearbeiten, d. h. ihnen durchSchleifen die verlangte Gestalt zu geben und sie zu polieren.Ersteres geschieht auf der Schleifmaschine und vermittelst derSteinzeiger, letzteres auf bleiernen und hölzernen Scheiben,erst mit Schmirgel und Bimsstein, dann mit Tripel und Wasser.Über die Geschichte der S. s. Gemmen nebst Tafel.

Steinschneider, Moritz, jüd. Gelehrter, geb. 30.März 1816 zu Proßnitz in Mähren, studiertePhilologie und Pädagogik an der Universität Prag, daraufOrientalia in Wien und wandte sich hier der jüdischenTheologie und Litteratur zu. Nachdem er seine Studien seit 1839noch in Leipzig, später in Berlin und 1842 in Pragfortgesetzt, wurde er hier Lehrer an einer höhernTöchterschule und ging 1845 nach Berlin, wo er seit 1859 ander Veitel-Heine-Ephraimschen Lehranstalt Vorlesungen hält undseit 1869 auch als Direktor der Töchterschule der Berlinerjüdischen Gemeinde thätig ist. Unter seinenwissenschaftlichen Arbeiten stehen obenan seine anForschungsergebnissen reichen Kataloge, von denen wir den"Catalogus librorum hebraeorum in bibliotheca Bodlejana" (Berl.1852-60), den dazu gehörigen "Conspectus codicum manuscr.hebraic. in bibl. Bodl." (das. 1857), "Die hebräischenHandschriften der königlichen Hof- und Staatsbibliothek inMünchen" (Münch. 1875), den "Katalog der hebräischenHandschriften in der Stadtbibliothek zu Hamburg" (Hamb. 1878) undden "Katalog der hebräischen Handschriften derköniglichen Bibliothek zu Berlin" (Berl. 1878) hervorheben.Steinschneiders Artikel "Jüdische Litteratur" in Ersch undGrubers "Encyklopädie" (2. Sekt., 27. Bd.; englisch, Lond.1857) ist die erste vollständige Darstellung des Gegenstandesin größerm Umfang. Seine sonstigen Arbeiten sind meistin der von ihm herausgegebenen "Hebräischen Bibliographie"(Berl. 1859-64, 1869-81) veröffentlicht. Auf dem Gebiet derarabischen Litteratur beleuchten seine Abhandlungenhauptsächlich Philosophie ("Alfarabi", 1869), Medizin("Donnolo. Pharmakologische Fragmente aus dem 10. Jahrhundert",Berl. 1868; toxikologische Schriften u. a. in Virchows "Archiv"1871, 1873) und Mathematik ("Baldi, Vite di matematici arabi", Rom1874; "Abraham ibn Esra", Leipz. 1880, u. a. in Zeitschriften).

Steinschnitt, ein Teil der Stereometrie, s.Stereotomie.

Steinschnitt (Blasensteinschnitt, Lithotomie), diekunstmäßige Eröffnung der Harnblase oder ihresHalses an irgend einer Stelle und in einem solchen Umfang,daß ein darin befindlicher Harnstein (s. Harnsteine) entferntwerden kann. Es gibt fünf verschiedene Methoden desSteinschnitts beim Mann. Der S. mit der kleinen Gerätschaft,von Celsus zuerst beschrieben, besteht darin, daß man am Dammund am Blasenhals einen Einschnitt nach dem Stein zu macht unddenselben mit dem Steinlöffel heraushebt. Beim S. mit dergroßen Gerätschaft, von Joh. de Romanis im 16. Jahrh.erfunden, wird zuerst eine gefurchte Leitungssonde in die Blasegebracht, an dem Damm die Harnröhre in ihrem schwammigen Teildurch einen Einschnitt geöffnet und der Blasenhals mittelsbesonderer Instrumente in dem Grad erweitert, daß der Steinherausgenommen werden kann. Diese Methode hat zwar unbestreitbarVorzüge vor der erstern, doch sind dabei ebenfallsZerreißung und Quetschung leicht möglich undaußerdem die Ausziehung des Steins mit bedeutendenBeschwerden für den Kranken verbunden. Der hohe Apparat oderBauchblasenschnitt, von Franco 1561 erfunden, besteht in derEröffnung der Blase zwischen dem obern Rande der

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Steinschönau - Steinthal.

Schambeine und der Falte des die Blase überziehendenBauchfells. Üble Umstände während dieser Operationund nach derselben sind besonders: Verletzung und heftigeEntzündung des Bauchfells, Infiltration des Harns in dasZellgewebe, Abscesse, Brand. Ausgeführt wird derselbebesonders bei Knaben und bei sehr großen Steinen, die sichauf den andern Wegen nicht herausbefördern lassen. DerSeitensteinschnitt, ebenfalls von Franco erfunden undgegenwärtig am meisten üblich, charakterisiert sich imallgemeinen dadurch, daß im Damm ein Einschnitt gemacht wird,welcher sich von der linken Seite der Naht des Hodensackes gegendas Sitzbein herzieht, darauf der häutige Teil derHarnröhre geöffnet und der Blasenhals, die Prostata undselbst ein Teil des Blasenkörpers eingeschnitten werden. DieMethode des Steinschnitts durch den Mastdarm, von L. Hoffmannvorgeschlagen, besteht darin, daß ein Bistouri durch denMastdarm eingeführt, die vordere Wand des Mastdarms und deräußere Sphinkter des Afters sowie dann auf dereingeführten Steinsonde der Blasenhals und die Prostataeingeschnitten und der Stein durch die Zange entfernt wird.Geringere Lebensgefahr, nicht gefährliche Blutung,Möglichkeit der Entfernung großer Steine gelten alsVorzüge, das Zurückbleiben einer Kot- und Urinfistel undImpotenz als Nachteile dieser Methode. Der S. kommt bei Weibernungemein viel seltener vor als bei Männern; einmal, weilSteine bei jenen überhaupt viel seltener sind, anderseits,weil nicht zu große Steine bei ihnen durch die kurze, geradeund sehr dehnbare Harnröhre leicht abgehen oder dochausgezogen oder zerstückelt (s. unten) werden können.Beim Weib wird der Schnitt entweder unterhalb des Schoßbogensmit Einschneidung der Harnröhre und des Blasenhalses oderunterhalb der Schoßfuge ohne Verletzung der Harnröhregeführt, oder es wird die Harnblase von der Scheide aus oderendlich oberhalb des Schoßbodens, wie beim Mann,geöffnet. - Denselben Zweck wie mit dem S. sucht man mit derSteinzermalmung (Steinzertrümmerung, Lithotritie,Lithotripsie) zu erreichen. Hierbei werden mittels in die Harnblaseeingebrachter Werkzeuge die Steine zerstückelt, so daßsie mit dem Urin abgehen. Dieses Verfahren, schon frühervorgeschlagen, wurde von Gruithuisen (1813), Amussat (1821),Civiale (1824), Heurteloup (1832) und Charrière durchErfindung passender Instrumente in Aufnahme gebracht. Hauptmethodensind: die jetzt obsolete Perforation oder Anbohrung des Steinsmittels eines in die Harnröhre einzuführenden, aus dreiineinander passenden Teilen bestehenden Instruments (Lithotritor),die lithoklastische Methode (Lithotripsie), welche bloßzerdrückend und zermalmend wirkt und bei nicht sehr hartenSteinen angewendet wird, und die Perkussion, die durch Stoßund Schlag wirkt, indem man mit einem zweiarmigen Instrument,welches geschlossen in die Harnröhre eingeführt, durchZurückziehen des einen Arms geöffnet und dann wiedervermittelst eines Hammers geschlossen wird, den Stein faßtund zu zerdrücken sucht. Die Lithotritie ist zwar nicht soverletzend wie der S., befreit aber den Kranken meist erst nachmehreren Operationsversuchen von seinem Übel. Sie ist daher zubeschränken auf weichere und namentlich kleinere Blasensteinebei jüngern Individuen mit sonst gesunden Harnorganen,während große und harte Steine bei ältern Personenund sonstigen, die an Blasenkatarrh, Nierenreizung etc. leiden, demS. anheimfallen.

Steinschönau, Marktflecken in der böhm.Bezirkshauptmannschaft Tetschen, an der FlügelbahnBöhmisch-Kamnitz-S. der Böhmischen Nordbahn, einHauptsitz der böhmischen Glasindustrie, mit Fachschule,zahlreichen Glasraffinerien, bedeutendem Export, Möbelfabrikund (1880) 4410 Einw.

Steinsetzungen, aus einzelnen oder mehreren Steinenbestehende Denkmäler, die in vorgeschichtlicher, zum Teil auchnoch in geschichtlicher Zeit zur Erinnerung an gewisse Ereignisseoder zum Gedächtnis der Toten errichtet wurden. Manunterscheidet Menhirs (maen, men, keltisch = Stein, hir = lang) undCromlechs (crom, keltisch = gekrümmt, lech = Stein) oderSteinkreise, Steinringe. Die Menhirs sind einzelne, senkrechtgestellte, meist sehr große (bis 19 m), nicht oder grobbehauene Monolithen. Bisweilen finden sich mehrere Menhirs aufbeschränktem Raum und in geordneter Stellung, wie auf demHeerberg bei Beckum in Westfalen und bei Carnac in der Bretagne, wosich eine Gruppe aus unbehauenen Steinen, von denen dergrößte 7,5 m hoch ist, in elf Reihen etwa 3 km weithinzieht. Die Menhirs bezeichnen oft die Stelle eines Grabes odereiner gemeinsamen Begräbnisstätte der Vorzeit; sie werdenin der Ilias und in der Bibel erwähnt, manche abergehören der historischen Zeit an, wie das Denkmal an dieSchlacht bei Largs in Schottland dem 13. Jahrh. Häufig bildenReihen von Menhirs die Seitenwände von Gängen, welche zurGrabkammer der Dolmen oder in das Innere prähistorischerGrabhügel führen. Über die Steinkreise s. Cromlech.Auf den Menhirs wie auf den Felsblöcken der Cromlechs findensich hier und da Inschriften (Striche, Kreise, Spiralen etc.), vondenen aber nur sehr wenige entziffert werden konnten; auch istzweifelhaft, ob diese Inschriften mit den S. gleichaltrig sind odereiner spätern Zeit angehören. Ausgrabungen inunmittelbarer Nähe der S. haben Stein-, Bronze-, Eisen-,Knochen- und Horngeräte, Thonscherben, Münzen ausfrühgeschichtlicher Zeit zu Tage gefördert. Mit denMenhirs und Cromlechs werden die Dolmen (s. d.) als megalithischeDenkmäler zusammengefaßt. S. Tafel "Kultur derSteinzeit".

Steintanz, s. Gräber, prähistorische.

Steinthal, Landstrich im Unterelsaß, KreisMolsheim, in den Vogesen zu beiden Seiten der Breusch, mit denOrten Rothau, Waldersbach und Fouday, ehedem eine unfruchtbare,öde und arme Gegend, jetzt durch die Bemühungen desPfarrers Oberlin (s. d.) in einen gewerbthätigen undwohlhabenden Distrikt umgewandelt.

Steinthal, Heymann, Sprachphilosoph und Linguist, geb.16. Mai 1823 zu Gröbzig im Anhaltischen, studierte in Berlinseit 1843 Philologie und Philosophie und habilitierte sich 1850 ander dortigen Universität, wo er über allgemeineSprachwissenschaft und Mythologie Vorträge hielt. 1852-55verweilte er zum Behuf chinesischer Sprach- und Litteraturstudienin Paris; seit 1863 ist er außerordentlicher Professor derallgemeinen Sprachwissenschaft zu Berlin, wo er seit 1872 auch ander Hochschule für die Wissenschaft des JudentumsReligionsphilosophie und Religionsgeschichte lehrt. Von Steinthalssprachwissenschaftlichen Werken, die sich im allgemeinen an die vonW. v. Humboldt begründete philosophische Behandlung derSprache anschließen, sind als die bedeutendsten zu nennen:"Der Ursprung der Sprache im Zusammenhang mit den letzten Fragenalles Wissens" (Berl. 1851, 4. erweiterte Aufl. 1888); die"Klassifikation der Sprachen, dargestellt als die Entwicke-

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Steintisch - Steinverband.

lung der Sprachidee" (das. 1850), welches Werk späterneubearbeitet unter dem Titel: "Charakteristik derhauptsächlichsten Typen des Sprachbaues" (das. 1860) erschienund sehr anregend gewirkt hat; ferner "Die Entwickelung derSchrift" (das. 1852); "Grammatik, Logik, Psychologie, ihrePrinzipien und ihre Verhältnisse zu einander" (das. 1855);"Geschichte der Sprachwissenschaft bei den Griechen undRömern" (das. 1863); "Die Mande-Negersprachen, psychologischund phonetisch betrachtet" (das. 1867); "Abriß derSprachwissenschaft" (Bd. 1: "Einleitung in die Psychologie undSprachwissenschaft", 2. Aufl. 1881). Von kleinern Arbeiten sind zunennen: "Die Sprachwissenschaft W. v. Humboldts und die HegelschePhilosophie" (Berl. 1848); "Philologie, Geschichte und Psychologiein ihren gegenseitigen Beziehungen" (das. 1864);"Gedächtnisrede auf W. v. Humboldt" (das. 1867) u. a. Voneiner Sammlung seiner "Kleinen Schriften" erschien der 1. Band(Berl. 1880). Mit Lazarus gibt S. die "Zeitschrift fürVölkerpsychologie und Sprachwissenschaft" (Berl. 1860 ff.)heraus, die von ihm namentlich kritische Aufsätzeenthält. Auch besorgte er eine Ausgabe der"Sprachwissenschaftlichen Werke W. von Humboldts, mit Benutzungseines handschriftlichen Nachlasses" (Berl. 1884). Seine neuesteVeröffentlichung ist "Allgemeine Ethik" (Berl. 1885).

Steintisch, s. Dolmen.

Steinverband, diejenige Anordnung der Mauersteine, durchwelche auch ohne Bindemittel ein möglichst fester Zusammenhangunter denselben hergestellt wird. Als Hauptregeln gelten: a) dieLagerfugen der Mauersteine müssen möglichst horizontaleEbenen bilden; b) die Stoßfugen der Mauersteine dürfenin unmittelbar aufeinander folgenden Schichten nicht aufeinandertreffen. Je nach der Gattung der Mauersteine unterscheidet man denVerband mit künstlichen Steinen (Backsteinen, Mauerziegeln),mit regelmäßig bearbeiteten natürlichen Steinen(Quadern, Hausteinen, Werksteinen), mit roh bearbeitetennatürlichen Steinen (Bruchsteinen) und den gemischtenVerband.

I. S. künstlicher Steine. Die deutschen Normalziegel sind25 cm lang, 12 cm breit und 6,5 cm dick, wobei zwei Steinbreiten,vermehrt um eine Stoßfuge von 1 cm, einer Steinlängegleich sind (2 x 12 + 1 = 25 cm). Man vermauert ganze Steine, halbeSteine von der halben Länge ganzer Steine, Dreiviertelsteine(Dreiquartierstücke) von ¾ der Länge ganzer Steineund Riem- oder Kopfstücke von der halben Breite und der vollenLänge ganzer Steine. Steine, welche der Länge nachparallel und normal zur Mauerflucht liegen, heißen bez.Läufer und Binder (Strecker) und die aus solchen Steinenhergestellten Mauerschichten bez. Läuferschichten undBinderschichten (Streckerschichten). Man unterscheidet folgendeHauptsteinverbände: 1) Den Schornsteinverband (Fig. 1), sogenannt, weil er für die meist ½ Stein starken Wangender Schornsteine verwendet wird, entsteht durch dieregelmäßige Versetzung der Stoßfugen vonLäufern um je ½ Stein und liefert also an den beidenEnden eine regelmäßige Abtreppung (Fig. 1, rechts) undeine regelmäßige Verzahnung (Fig. 1, links). 2) DerBlockverband (Fig. 2-4) entsteht durch regelmäßigeAbwechselung von Binder- und Läuferschichten, wenn derenStoßfugen in der Mauerflucht um je ¼ Stein versetztwerden. In der Ansicht bilden sich hierdurch die durchSchraffierung (in Fig. 2) hervorgehobenen, zusammenhängendenKreuze. Fig. 2 zeigt eine 1 Stein starke Mauer, deren Abtreppungrechts durch je zwei Stufen von ¾ und ¼ Stein, undderen Verzahnung links durch Vor- oder Rücksprünge von je¼ Stein gebildet wird. Aus Fig. 3 u. 4 ergeben sich dieBlockverbände für 1½ Stein u. 2 Steine starkeMauern mit ihren natürlichen Abtreppungen rechts undVerzahnungen links. 3) Der Kreuzverband (Fig. 5) entsteht aus demBlockverband, wenn die Stoßfugen der 3., 7., 11. etc.Läuferschicht in der Mauerflucht um ½ Stein verschobenwerden. In der Ansicht bilden sich hierdurch die durchSchraffierung hervorgehobenen unzusammenhängenden Kreuze,während die Abtreppung rechts durch Stufen von je ¼Stein und deren Verzahnung links durch Vor- oderRücksprünge von je 2¼ Stein gebildet wird. 4) Derpolnische oder gotische Verband (Fig. 6 u. 7) entsteht, wenn ineiner und derselben Schicht Läufer und Binder abwechseln,wobei sich in der Ansicht das in Fig. 6 durch Schraffierunghervorgehobene Muster ergibt. Dieser Verband verstößtgegen die unter b) gegebene Hauptreael, indem stellenweise Fuge aufFuge trifft. Fig. 6 zeigt eine 1 Stein, Fig. 7 eine 1½ Steinstarke Mauer, wobei diejenigen Fugen, welche aufeinander treffen,markiert sind, mit ihren Abtreppungen rechts und Verzahnungenlinks. 5) Der holländische Verband (Fig. 8) vermeidet zwar deneben angegebenen Fehler des polnischen Verbandes, findet abertrotzdem nur beschränkte Verwendung. In der Ansicht bildet

Fig. 1. Schronsteinverband.

Fig. 2. Blockverband.

Fig. 3. und 4. Blockverband für 1½ und 2 Steinestarke Mauern.

Fig. 5. Kreuzverband.

Fig. 6. Polnischer Verband (1 Stein).

Fig. 7. Polnischer Verband (1½ Stein).

Fig. 9. Haustein-Eckverband.

Fig. 8. Holländischer Verband.

Fig. 10. Haustein-Eckverband.

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Steinwald - Steinzeit.

sich das in der Figur durch Schraffierung hervorgehobene Muster,welche zugleich die Abtreppung links und die Verzahnung linksdarstellt. Verbände für Pfeiler und Säulen auskünstlichen Steinen sowie für Ecken und Kreuzungen vonMauern sind mit deren Stärke sehr verschieden und in den untenbezeichneten Werken mehr oder minder ausführlichdargestellt.

II. S. regelmäßig bearbeiteter natürlicherSteine. Bei schwächern Mauern wird dieser Verband dem in Fig.1 dargestellten Schornsteinverband nachgebildet. Bei stärkernMauern weicht man von dem Ziegelverband ab und zieht vor, nurLäufer von verschiedener Breite zu verwenden (Fig. 9 u. 10).Bei Mauerecken läßt man die in beiden Figuren durchSchraffierung hervorgehobenen sogen. Flügelsteine in beideMauern eingreifen, um hierdurch den beiden Schenkeln der Ecke mehrZusammenhang zu geben.

III. S. roh bearbeiteter natürlicher Steine. Da die Steinehierbei verwendet werden, wie sie aus dem Bruch kommen, und nur mitdem Mauerhammer etwas zugerichtet werden, so kann von einemregelmäßigen S. nicht mehr die Rede sein. Immerhin suchtman den Hauptregeln desselben möglichst zu entsprechen undmöglichst ebene und horizontale Lagerfugen wenigstens ingewissen, nicht zu hohen Schichten herzustellen, wobei man dieUnebenheiten durch passende Steinstücke ausfüllt, um dasAufeinandertreffen der Stoßfugen möglichst zuvermeiden.

IV. Gemischter S. Derselbe entsteht, wenn Bruchsteinmauern inden Außenflächen mit Quadern oder auch Backsteinen oderZiegelmauern mit Quadern verkleidet (verblendet) werden, weshalbdieses Mauerwerk auch Blendmauerwerk heißt. Gewöhnlichwechseln hierbei Läufer und Binder der regelmäßigenSteine in einer und derselben Schicht miteinander ab, währendderen Zwischenräume durch Bruchsteine ausgefülltwerden.

Steinwald, s. Fichtelgebirge, S. 239.

Steinwärder, Vorort von Hamburg, auf einer Elbinselim Freihafengebiet, hat große Schiffswerften,Maschinenfabrikation, Kesselschmiederei und (1885) 4039Einwohner.

Steinweg, Heinrich, Pianofortebauer, geb. 15. Febr. 1797zu Seesen, begann in Braunschweig mit dem Bau von Guitarren undZithern und ging dann zum Bau von Tafelklavieren, Pianinos undFlügeln über. Erlernt hatte er nur die Tischlerei und denOrgelbau zu Goslar. 1850 übergab er das BraunschweigerGeschäft seinem Sohn Theodor und ging mit vier andernSöhnen nach New York, wo sie zunächst in mehrerenKlavierfabriken arbeiteten, 1853 aber sich selbständig unterder Firma Steinway and Sons etablierten. Das Geschäft nahmschnell einen enormen Aufschwung, nachdem es 1855 auf der NewYorker Industrieausstellung den ersten Preis für seinekreuzsaitigen Pianofortes erhalten. Es liefert jetztwöchentlich ca. 60 Instrumente, und das Magazin der Firma isteins der schönsten Gebäude der Stadt New York sowie derMusiksaal "Steinway-Hall" einer ihrer größtenKonzertsäle. Heinrich S. starb 7. Febr. 1871 in New York. Vonden übrigen Begründern der New Yorker Firma lebt nur nochWilhelm, der vierte Sohn. Theodor S. gab 1865 das BraunschweigerGeschäft auf (jetzt: Theodor Steinweg Nachfolger, Helferich,Grotrian u. Komp.) und trat in das New Yorker ein, nachdem seineBrüder Heinrich 11. März 1865 in New York und Karl 31.März 1865 in Braunschweig gestorben waren; er selbst starb 26.März 1889 in Braunschweig; Albert S. war bereits 1876 in NewYork gestorben. Von den patentierten Verbesserungen der Firma seienerwähnt: die Patent-Agraffeneinrichtung (1855), welche dieWiderstandsfähigkeit des Rahmens gegen die Saiten erhöht;die Patentkonstruktion in Flügeln von kreuzsaitiger Mensur(1859), deren Vorteile der Hauptsache nach in den verlängertenStegen und deren Verschiebung von den Rändern ab nach derMitte des Resonanzbodens zu suchen sind, wodurch größereRäume zwischen den Chören der Saiten entstehen und somitgrößere Resonanzflächen in Bewegung gesetzt werden;der vibrierende Resonanzbodensteg mit akustischen Klangpfosten(1869), beruhend auf der Tonleitung durch Stäbe und besondersbei Pianinos und Flügeln von kleinerer Dimension angewendet;der Patentringsteg am Resonanzboden (1869), wodurch eine bis dahinunerreichte Gleichheit der Klangfarbe im Übergang von denglatten zu den übersponnenen Saiten erzielt wird; dieDoppelmensur (1872); das Patent-Tonhaltungspedal (1874); die neueMetallrahmenkonstruktion (1875) u. a.

Steinweichsel, s. Kirschbaum, S. 789.

Steinwein, s. Frankenweine.

Steinwurz, s. Agrimonia.

Steinzeit (Steinzeitalter, hierzu Tafel "Kultur derSteinzeit"), der erste große Abschnitt der Prähistorie,in welchem der auf niedriger Kulturstufe befindliche Mensch denGebrauch der Metalle noch nicht kannte und seine Geräte,Werkzeuge und Waffen aus Holz, Knochen, Horn, besonders aber ausStein herstellte. Solche Steingeräte wurden früher alsvom Himmel herabgefallene Blitzsteine oder Donnerkeile betrachtet,auch wegen ihrer Form Katzenzungen genannt. Im Gegensatz zurMetallzeit (s. d.) umfaßt die S. außerordentlich langeZeiträume, innerhalb deren der Kulturfortschritt durchallmähliche Vervollkommnung der besagten Geräte sich zuerkennen gibt. Man unterscheidet die ältere S. oderpaläolithische Periode und die jüngere S. oderneolithische Periode. In der ältern wurden die im allgemeinensehr primitiven Steingeräte durch Zuhauen, bez. vermittelstdes durch Schläge bewirkten Absplitterns geeigneterStücke von größern Steinklumpen hergestellt,während Waffen und Geräte der jüngern S. durchSchleifen und Polieren ihre Form erhalten haben. Eine scharfeGrenze zwischen beiden Perioden läßt sichselbstverständlich nicht ziehen, und bezüglich einzelnerFunde, wie der dänischen Küchenabfälle, ist eszweifelhaft, ob sie der paläo- oder der neolithischen Periodeoder einer Übergangszeit angehören. Die ältere S.fällt im allgemeinen zusammen mit der diluvialen undeiszeitlichen Existenz des Menschengeschlechts, die jüngere S.mit der alluvialen und nacheiszeitlichen Existenz des Menschen. DasZusammenfallen der ältern S. in Deutschland mit derDiluvialperiode erklärt sich nach Penck aus dem gegen Ende derDiluvialzeit stattgehabten klimatischen Wechsel (Abschmelzen derGletscher), welcher Veränderungen in der Bewohnbarkeitgewisser Länderstrecken hervorrief, die ihrerseits wieder zuWanderungen des vorgeschichtlichen Menschen Anstoß gaben, beiwelchen im Besitz der neolithischen Kultur befindlicheVolksstämme nach Europa gelangten und der paläolithischenKultur den Untergang bereiteten. Die Fundstätten, welcheüber die Existenzbedingungen und Lebensweise des Menschen derältern S. Aufschlüsse liefern, liegen in diluvialenAblagerungen der Flußthäler und in den KalkhöhlenDeutschlands, Belgiens, Frankreichs und Englands. Knochen desHöhlenbären und Höhlenlöwen, des Mammuts,Auerochsen, Hippopotamus, mehrerer Rhinozerosarten, des irischenRiesenhirsches u. a. werden mit körperlichen Überresten,Geräten und sonstigen

Kultur der Steinzeit.

(Shurb Hill.) (Poiton.) PaläolithischeFeuersteingeräte.

(Rügen.) (Irland.) (Schonen.)

_ (Dänemark.) (Dänemark.)

Feuersteinäxte und Schleifsteine.

(Rügen.) (Rügen.) (Schonen.) (Danemark.)Feuersteinnucleus, Messer, Pfeilspitzen und Schaber.

chönow.) (Lübben.) (Hadersleben.) (Tondern.)Brandenburg. Schleswig:.

(Schleswig.! (Rügen.)

Feuersteindolche, Lanzenspitze und Säge.

Meyers Konv. - Lexikon, 4. Aufl.

Tumulus mit Grabkammern.

Bibliographisches Institut in Leipzig.

(Waaren.) (Köthen.) (Asmusstadt.)

Mecklenburg. Anhalt.

Durchbohrte Steinhämmer.

Zum Artikel »Steinzeit«.

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Steinzeit.

Spuren des paläolithischen Menschen auf gemeinschaftlicherLagerstätte angetroffen. Im Rheinthal und in Frankreichaufgefundene Moschusochsenschädel, die hin und wieder dieSpuren menschlicher Thätigkeit erkennen lassen, sowie die inden Höhlen des Perigord, im Keßlerloch bei Thayingen(Kanton Schaffhausen) und anderwärts aufgefundenenbearbeiteten Renntiergeweihe beweisen, daß derpaläolithische Mensch diese Gegenden zu einer Zeit bewohnthat, wo das Klima Nord- und Mitteleuropas ein kälteres gewesenist als heutzutage. Während die Funde von Taubach (unweitWeimar) andeuten, daß der Mensch der ältern S. dasheutige Thüringen während der der letzten Vergletscherungvorausgehenden Interglazialepoche (zwischen zwei Vergletscherungenfallende wärmere Zwischenperiode) bewohnt hat, zeigen dieFunde von der Schussenquelle (Oberschwaben), bestehend in einernordische Moose enthaltenden, unmittelbar auf derRheingletschermoräne gelegenen Kulturschicht, daß derMensch hier während der letzten Vergletscherungsepoche lebte.Die Nahrung des paläolithischen Menschen bestand aus demFleisch der erwähnten Tiere und aus Fischen; auch dasdiluviale Pferd hat, wie die Funde zahlreicher, zur Gewinnung desKnochenmarks aufgeschlagener Pferdeknochen beweisen, alsNahrungsmittel des Menschen der ältern S. eine wichtige Rollegespielt. Außer den Höhlen dienten ihm Erdgruben und ausFellen hergerichtete Zelte als Wohnungen. Daß er die Felledes erlegten Wildes mit Hilfe von Tiersehnen zur Kleidunganeinander nähte, deuten die in diluvialen Höhlengefundenen Knochennadeln an, welche durch langen Gebrauch abgenutztsind. Man fand auch Stücke farbiger Erde zum Bemalen desKörpers und zum Teil höchst primitiveSchmuckgegenstände (durchbohrte Tierzähne, welche, mitDarmsaiten zur Kette aneinander gereiht, getragen wurden, Knochenkleiner Tiere, Schneckengehäuse und Muscheln, Stücke Jet,Plättchen von Renntierhorn u. dgl.). Die in französischenHöhlen, im Keßlerloch und anderwärts aufgefundenenGravierungen in Renntierhorn u. Mammutelfenbein und die aus diesemMaterial hergestellten Schnitzereien beweisen eine gewisse Begabungfür bildnerische Thätigkeit. Als Material für dieprimitiven Geräte, welche in paläolithischenFundstätten angetroffen werden, dienten vorzugsweiseFeuersteinknollen, die den Gegenstand eines ausgedehntenHandelsverkehrs bildeten und zum Teil durch primitiven Bergbau (s.Schmutzgruben) gewonnen wurden. In der Nachbarschaft derFeuersteinlager entstanden auch jene Feuersteinwerkstätten,von wo aus die Umgebung mit Werkzeugen und Waffen versehen wurde.Solche Werkstätten wurden in Frankreich zu Pressigny le Grand,in Belgien auf dem rechten Ufer der Trouille, unweit Spiennes,aufgedeckt. Während für schneidende oder stechendeWerkzeuge und Waffen Gesteinsarten, welche beim Behauen einescharfe Kante liefern, wie Feuerstein, Jaspis, Quarz, Achat,Obsidian u. dgl., vorzugsweise Verwendung fanden, wurdenHämmer und Äxte aus Diorit, Porphyr, Basalt u. dgl.angefertigt. Daß die Bearbeitung des Rohmaterials in dernämlichen Weise stattfand, wie noch heutzutage die EingebornenAustraliens ihr Steingerät herstellen, indem sie nämlichgegen den zwischen den Füßen festgehaltenen Steinblockrasch aufeinander folgende Schläge führen, dies beweisendie an der Mehrzahl der paläolithischen Geräte und Waffennachweisbaren Schlagmarken. Letztere lassen die von Menschenhandhergestellten Steinobjekte sicher von jenen Steinfragmentenunterscheiden, welche durch zufällige Zersplitterung ohneMitwirkung des Menschen entstehen. Indem von den Feuersteinknollenmesserförmige Späne oder Splitter abgesprengt werden,bleiben in der Regel jene charakteristisch geformten Steinkerne(nuclei, s. Tafel "Kultur der Steinzeit") übrig.Arbeitssteine, ovale Steine mit Aushöhlungen an einer oderbeiden Oberflächen, dienten als Hämmer oder Schnitzer.Die Schlagsteine (Schlagkugeln) zeigen auf den Rändern dieSpuren der mit ihnen ausgeführten Schläge. DieSteinmesser (s. Tafel) sind dünne, zweischneidige, einerBarbierlanzette ähnelnde, länglich-ovale Splitter, dieSchabsteine (s. Tafel) im allgemeinen von mehrunregelmäßiger Form. Sehr häufig finden sich in denältern paläolithischen Fundstättenmandelförmige Steinäxte (s. Tafel), die wahrscheinlichvermittelst Tiersehnen an einem Holzstiel befestigt, aber auch alsMeißel oder Pfrieme verwendet wurden. Steinobjekte von drei-oder viereckiger Form, die auf der einen Seite flach, auf derandern mehr oder weniger gewölbt, 2½-5½ Zolllang, 1½ bis 2½ Zoll breit sind, und die eine wennauch nicht scharfe, doch sehr starke Schneide besitzen, werdenvorzugsweise in den Küchenabfallhaufen Dänemarksangetroffen und in der Regel als kleine Steinbeile bezeichnet, vonSteenstrup aber als Angelschnurgewichte gedeutet. VonSchleudersteinen unterscheidet man einfache, roh bearbeiteteFeuersteinstücke und runde, etwas abgeflachte, zierlichgearbeitete Scheiben. Aus Feuerstein hergestellte Sägen (s.Tafel) gehören in paläolithischen Fundstättenebenfalls nicht zu den Seltenheiten. Die Pfeilspitzen (s. Tafel)der ältern Stadien der paläolithischen Zeit sind vonplumper, dreieckiger Gestalt, später finden sich leichter undbesser gearbeitete, rautenförmige, blattförmige oder mitWiderhaken versehene Stücke, und daß gegen das Ende derältern S. eine bedeutende Vervollkommnung in der Herstellungder Geräte und Waffen stattgefunden hat, beweisen diekunstvoll gearbeiteten, meist lorbeerblattförmigen Dolch- undSpeerspitzen (s. Tafel), wie sie in jüngernpaläolithischen Fundstätten wiederholt angetroffenwurden. Ferner finden sich Speerspitzen und Harpunen aus Knochen,Renntier- und Hirschgeweih sowie eigentümlich geformte, ausdem nämlichen Material hergestellte und mit Gravierungenversehene Objekte, welche als Kommandostäbe (Abzeichen desHäuptlings etc.) bezeichnet werden. In Gemeinschaft mitpaläolithischen Geräten werden in Deutschland undBelgien, aber nicht in Frankreich und England Scherben irdenenGeschirrs, die, mit der Hand geformt und an der Sonne getrocknet,nur geringe Kunstfertigkeit verraten, nicht selten angetroffen.

Die relativ hohe Entwicklungsstufe, welche der Mensch derjüngern S. im Vergleich zum paläolithischen Menscheneinnimmt, äußert sich zunächst in deraußerordentlich sorgfältigen und stellenweise einennicht geringen Geschmack bekundenden Herstellung der Waffen undWerkzeuge, die zum Teil auch bedeutende Dimensionen aufweisen. Sofanden sich z. B. in Skandinavien sorgfältig gearbeiteteSteinäxte, welche 33 cm lang sind und in der Mitte eine Breitevon 55-57 mm und eine Dicke von 35-38 mm aufweisen. Dieneolithischen Feuersteingeräte sind nicht von Knollenabgeschlagene Steinsplitter, sondern von allen Seiten bearbeiteteSteinstücke. Dieselben sind geschliffen oder mehr oder wenigersorgfältig gemuschelt, d. h. es sind aus dem FeuersteinTeilchen in muschelförmigem Bruch herausgehoben. Nebeneinfachen, beiderseits zur Schneide konvex sich zuschärfendenAxtblättern finden sich Steincelte,

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Steinzellen - Steißfuß

d. h. von der Schneide nach hinten zu schmäler werdendeGeräte, die als Messer, Hacken und Streitäxte dienten,sowie lange und schmale Instrumente mit einseitig flacher Schneide,die als Meißel oder Hobel bezeichnet werden; auchHohlmeißel wurden angetroffen. Ferner finden sich steinerneMörser und Handmühlen zum Zerreiben vonGetreidekörnern. Die Schleifsteine (s. Tafel) bestehengewöhnlich aus feinkörnigem Sandstein mit einer odermehreren Schliffflächen. Als Hämmer (s. Tafel) werdenÄxte bezeichnet, die statt der Schneide eine mehr oder wenigerabgestumpfte Fläche tragen, während Hammeräxte aneinem Ende die Schneide der Axt, am andern die Fläche desHammers besitzen. Zur Befestigung des keilförmigen Steinbeilsam hölzernen Stiel wurde es in einen Einschnitt an demumgebogenen Ende eines krummen Holzgriffs gesteckt und mitkreuzweise umgelegten Riemen oder mit einer Schnur befestigt, oderman höhlte ein Stück Hirschhorn oder Renntiergeweih zueiner das Steingerät teilweise umfassenden Hülse aus,welche dann am dicken Ende einer Holzkeule oder eines Stockesbefestigt wurde. Anderseits wurden die Steinäxte, um einenhölzernen Stiel hindurchzustecken, durchbohrt. Rau hatnachgewiesen, daß man das härteste Gestein mit einemhölzernen Stab oder einem cylinderförmigen Knochen, denman in schnelle Umdrehung versetzt, unter Anwendung von Sand undWasser durchbohren kann. Auch ein zugespitztes Hirschhornstückoder ein an einem Holzstab angebrachter spitzer Feuerstein, der mitHilfe einer an einem Bogen befestigten, sich auf- und abwickelndenSchnur in schnelle Umdrehung versetzt wurde, fand vielfachVerwendung. Zur Zerteilung eines großen Steinblocks bedienteman sich einer an einem hin- und herschwingenden Baumastbefestigten Feuersteinsäge, mit der man den Block vonverschiedenen Seiten ansägte, während dieübrigbleibende Verbindung mit dem Meißel durchgesprengtwurde. Besonderes Interesse knüpft sich an die aus Nephrit undJadeit hergestellten Geräte, da die Herkunft des Materialsmehr oder weniger zweifelhaft ist (vgl. Nephrit). Die aus Knochenund Horn hergestellten Objekte der jüngern S. bekunden zumTeil hervorragende technische Fertigkeit. Aus diesen Materialienhergestellte Angel-haken, Harpunen und Stechspeere für denFischfang, ferner knöcherne Pfrieme, Meißel, Dolche,Pfeil- und Lanzenspitzen, aus Rippen des Hirsches oder der Kuhhergestellte Kämme zum Flachshecheln und ähnliche Objektegehören nicht zu den Seltenheiten. Aus Holz gefertigteGegenstände, wie Speerstangen, Bogen, Kämme ausBuchsbaumholz, aus einem Baumstamm ausgehöhlte Kähne u.dgl., haben sich ebenfalls hier und da erhalten. Die neolithischenSchmuckgegenstände zeichnen sich vor den paläolithischendurch größere Mannigfaltigkeit aus.

Die Fundstätten der jüngern S. sind über ganzEuropa zerstreut, und auch außerhalb Europas werden dieselbenhäufig angetroffen; ganz besonders reich aber hat sichSkandinavien erwiesen. Außer den gewöhnlichenneolithischen Objekten finden sich im N. und O. Schwedens ausSchiefer hergestellte Altertümer, die man fürÜberreste der S. der Lappen hält und als arktischeSteinkultur bezeichnet. Außerordentlich reich anneolithischen Fundstücken ist Rügen, von wo aus inprähistorischer Zeit ein großartiger Export vonFeuersteingeräten stattfand. Außer in Höhlen,wohnte der neolithische Mensch auf im Wasser errichtetenPfahlgerüsten (s. Pfahlbauten). Im nördlichen Europadienten ihm wohl während des Sommers aus Fellen hergestellteZelte, im Winter vermutlich niedrige Hütten aus einemGerüst von Walfischrippen und Holz, das mit Rasenstückenoder mit einer Lage Torf und darübergeschütteter Erdebedeckt wurde, als Wohnungen. Die Form der letzterwähntenBehausungen ist nach Sven Nilsson in den skandinavischenGanggräbern nachgeahmt. Das Andenken seiner Toten ehrte derneolithische Mensch durch Aufwerfen von Grabhügeln (s.Gräber u. Tafel) sowie durch Errichtung von Dolmen undSteinsetzungen (s. d.). Ein besonders wichtiges Kennzeichen derneolithischen Kultur besteht darin, daß während diesesAbschnitts der Prähistorie der Mensch zuerst Tiere zähmt,daß ebensowohl die Anfänge der Viehzucht als diejenigendes Ackerbaues dieser Epoche angehören, daß derneolithische Mensch aus Pflanzenfasern rohe Gewebe und Gespinsteherstellt, und daß derselbe, wie die Funde anGefäßen und Gefäßscherben beweisen, in derThonbildekunst bereits erhebliche Fortschritte gemacht hat. Vgl.Joly, Der Mensch vor der Zeit der Metalle (Leipz. 1880); deNadaillac, Die ersten Menschen und die prähistorischen Zeiten(deutsch, Stuttg. 1884); Kinkelin, Die Urbewohner Deutschlands(Lindau 1882); Fischer, Betrachtungen über die Form derSteinbeile auf der ganzen Erde ("Kosmos", Bd. 10,S. 117); Tischler,Beiträge zur Kenntnis der S. in Ostpreußen etc.(Königsb. 1882-83, 2 Hefte); Montelius, Die Kultur Schwedensin vorchristlicher Zeit (deutsch, Berl. 1885); Maska, Der diluvialeMensch in Mähren (Neutit*chein 1886); Rau, Drilling in stonewithout the use of metals (Washington 1869); Baier, Die InselRügen nach ihrer archäologischen Bedeutung (Strals.1886).

Steinzellen, s. Steinigwerden.

Steinzeug, s. Thonwaren.

Steiß, das hintere Rumpfende der Wirbeltiere,besonders wenn es, wie bei den Vögeln, über den Rumpfhinausragt.

Steißbein (Os coccygis, Schwanzbein), derEndabschnitt der Wirbelsäule (s. d.) nach hinten vomKreuzbein. Während der Schwanzteil derselben bei den mit einemdeutlichen Schwanz versehenen Wirbeltieren oft aus sehr vielen undbeweglichen Wirbeln besteht, sind beim Menschen 4, seltener 5, beiandern Säugetieren noch weniger, bei den Vögeln 4-6, beiden Fröschen ebenfalls einige wenige Wirbel zu einemKnochenstück, dem sogen. S., verschmolzen. Die Wirbel, in dermenschlichen Anatomie als falsche Wirbel (vertebrae spuriae)bezeichnet, entbehren des dorsalen Bogens, so daß dasRückenmark hier nicht in einem Kanal, sondern frei liegt, wasauch schon am letzten Kreuzbeinwirbel der Fall ist (s. Tafeln"Nerven II", "Skelett II" und "Bänder"). In abnormenFällen, bei den sogen. geschwänzten Menschen, ist das S.nicht nach dem Innern des Körpers zu, sondern nach außenzu gekrümmt und bildet dann ein ordentliches Schwänzchen,das übrigens regelmäßig beim Embryo (s. d.)vorhanden ist.

Steißdrüse, ein kleiner, unpaarer,drüsenartiger Körper von unbekannter Bedeutung in derGegend des Steißbeins.

Steißfuß (Lappentaucher, Podiceps Lath.),Gattung aus der Ordnung der Taucher und der Familie der Seetaucher(Colymbidae), Vögel mit breitem, platt gedrücktem Leib,langem, ziemlich dünnem Hals, kleinem, gestrecktem Kopf,langem, schlankem, seitlich zusammengedrücktem, zugespitztem,an den Schneiden sehr scharfem Schnabel, am Ende des Leibeseingelenkten, nicht sehr hohen, seitlich starkzusammengedrückten Füßen, mit Schwimmlappen be-

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Steißfußhuhn - Stellvertretung.

setzten Vorderzehen mit breiten, platten Nägeln,stummelartiger Hinterzehe, kurzen, schmalen Flügeln und stattdes Schwanzes mit einem Büschel zerschlissener Federn. DieSteißfüße sind vollkommene Wasservögel,welche ausgezeichnet tauchen, unter Wasser sich sehr schnellfortbewegen, auch auf dem Wasser ruhen und in einem schwimmendenNest aus nassen Stoffen brüten. Das Gelege besteht aus 3-6Eiern, welche von beiden Eltern gezeitigt werden. Sie nährensich von Fischen, Insekten, Fröschen, verschlucken auchPflanzenteile und ihre eignen Federn, welche sie sich aus der Brustrupfen. Der Haubensteißfuß (Haubentaucher, Blitzvogel,Seedrache, Fluder, P. cristatus L.), 66 cm lang, 95 cm breit,oberseits schwarzbraun, mit weißem Spiegel an denFlügeln, weißen Wangen und weißer Kehle,unterseits weiß, seitlich dunkel gefleckt, im Hochzeitskleidmit zweihörnigem Federbusch auf dem Kopf und aus langen,zerschlissenen Federn gebildetem rostroten, schwarzgeränderten Kragen; die Augen sind karminrot, Zügel undSchnabel blaßrot, die Füße hornfarben. Er bewohntdie Seen und Gewässer Europas bis 60° nördl. Br.,weilt in Deutschland von April bis November, überwintert aufdem Meer, in Südeuropa oder Nordafrika und findet sich auch inAsien und Nordamerika. Er lebt paarweise an größernbewachsenen Teichen oder Seen, hält sich sehr viel auf demWasser auf, ist auf dem Land sehr unbehilflich, fliegt aberverhältnismäßig schnell und schwimmt und tauchtvortrefflich. Er ist sehr vorsichtig und sucht sich bei Gefahrstets durch Tauchen zu retten. Das Nest steht in der Nähe vonSchilf auf dem Wasser, und das Weibchen legt drei weiße Eier.Die Jungen werden von der Mutter beim Schwimmen oft auf demRücken, beim Fluge nicht selten zwischen den Brustfedernversteckt getragen. Man jagt ihn des kostbaren Federpelzes halber.Der Zwergsteißfuß (P. minor L.), 25 cm lang, 43 cmbreit, oberseits glänzend schwarz, unterseits grauweiß,dunkler gewölkt, an der Kehle schwärzlich, an Kopf-,Halsseiten und der Gurgel braunrot; das Auge ist braun, derZügel gelbgrün, der Schnabel an der Wurzel gelbgrün,an der Spitze schwarz, der Fuß schwärzlich. Er ist wieder vorige weit verbreitet, weilt in Deutschland vom März, bisdie Gewässer sich mit Eis bedecken, und überwintert inSüdeuropa. Man findet ihn an bewachsenen Teichen, inBrüchern und Morästen, er lebt wie der vorige, fliegtaber schlecht und deshalb sehr ungern, nährt sichhauptsächlich von Insekten, nistet im Schilf und legt 3-6weiße, schwach gefleckte Eier (s. Tafel "Eier II"), welche in20 Tagen ausgebrütet werden. Der Ohrensteißfuß (P.auritus L.), 33 cm lang, 60 cm breit, an Kopf, Hals und Oberteilenschwarz, mit breitem, goldgelbem Zügel, an Oberbrust undSeiten lebhaft braunrot, an Brust und Bauchmitte weiß, dasAuge ist rot, der Schnabel schwärzlich, der Fußgraugrün, bewohnt den gemäßigten Gürtel derAlten Welt. Die Eier (s. Taf. "Eier II") sind weiß, lehmgelbgefleckt.

Steißfußhuhn (Megapodius Quoi et Gai.),Gattung aus der Ordnung der Hühnervögel und der Familieder Wallnister (Megapodiidae). Das Großfußhuhn (M.tumulus Less.), von der Größe des Fasans, oberseitsbraun, unterseits grau, mit rötlich-braunem Auge und Schnabelund orangefarbigem Fuß, lebt auf den Philippinen undNeuguinea im Gestrüpp an der Küste paarweise odereinzeln, ist sehr scheu, fliegt schwerfällig und nährtsich von Wurzeln, Sämereien und Insekten. Es erbaut aus Sandund Muscheln große Haufen, welche, von mehreren Geschlechternbenutzt und vergrößert, 5 m Höhe und einen Umfangvon 50 m erreichen, und legt in diese sein weißes Ei, welcheses tief vergräbt.

Steißhühner, s. Hühnervögel.

Steißtier, s. Aguti.

Stele (griech.), Grabstein, gewöhnlich einviereckiger, nach oben sich etwas verjüngender und mitBlätter- oder Blumenverzierungen (Anthemien) gekrönterPfeiler, welcher den Namen des Verstorbenen trägt (s.Abbildung). Mitunter finden sich auch auf der S.Reliefdarstellungen, die sich auf das Leben des Geschiedenenbeziehen. In makedonischer und römischer Zeit wird die S.niedriger und breiter und meist mit einem Giebel besetzt. Vgl.Brückner, Ornament und Form der attischen Grabstele(Straßb. 1886).

Stell., bei naturwissenschaftl. Namen Abkürzungfür G. W. Steller, geb. 1709 zu Windsheim, Arzt in Petersburg,starb 1745 (Seetiere).

Stella (lat.), Stern.

Stella, 1) Pseudonym, s. Lewis 2);

2) s. Swift.

Stellage (französiert, spr. -lahsche), Gestell,Gerüst; auch s. v. w. Stellgeschäft (s. Börse, S.238).

Stellaland, s. Westbetschuanen.

Stellaria L. (Sternkraut, Sternmiere), Gattung aus derFamilie der Karyophyllaceen, kleine, einjährige oderausdauernde Kräuter mit weißen Blüten in allenKlimaten, doch meist auf der nördlichen Erdhälfte. S.Holostea L. (Augentrostgras, Jungferngras), in ganz Europa,ausdauernd, mit aufsteigendem, vierkantigem Stengel, sitzenden,lanzettlichen, lang zugespitzten, am Rand und auf dem Kiel scharfenBlättern, ward früher medizinisch benutzt; S. media Vill.(Vogelmiere, Hühnerdarm), sehr gemein, wird allgemein alsVogelfutter benutzt.

Stellaten, s. Rubiaceen.

Stellbrief, s. Engagementsbrief.

Stelldichein, s. Rendezvous.

Stellenvermittelungsbüreaus, s.Adreßbüreaus.

Stelleriden, s. Asteroideen.

Stellgeschäft, s. Börse, S. 238.

Stellio, Dorneidechse (s. d.). Der S. der Alten ist derGecko (s. Geckonen).

Stellionat (Crimen stellionatus), im römischenStrafrecht die Verletzung und Unterdrückung der Wahrheit zurGewinnung unrechtmäßiger Vorteile durch Täuschung,d. h. durch vorsätzliche Erweckung einer unrichtigenVorstellung bei andern. Der Name ist von der Behendigkeit derEidechse (stellio) im Entschlüpfen hergenommen.

Stellknorpel, s. Kehlkopf.

Stellmacher (Wagner), ehemals zünftige Handwerker,die das Holzwerk für Fuhrwerke, Kutschen, Schlitten,Pflüge etc. verfertigen. An manchen Orten fertigen dieRadmacher die Räder allein.

Stellung, s. Attitüde und Position.

Stellvertretung, das Rechtsverhältnis, in welchemeine Person die Geschäfte einer andern ausführt, sei es,daß es sich dabei um einzelne Geschäfte, sei es,daß es sich um eine Summe von Geschäften handelt. Im

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Stellvertretung, militärische - Stelzhamer.

privatrechtlichen Verkehr setzt die S. in der Regel einenAuftrag seitens der zu vertretenden Person voraus (s. Mandat).Handelt es sich dagegen um die Vertretung eines öffentlichenBeamten, so wird der Stellvertreter oder Vikar (s. d.) in der Regelvon der vorgesetzten Dienstbehörde bestellt. Dem alsVolksvertreter gewählten Beamten fallen die Kosten der S.nicht zur Last. Die S. des deutschen Reichskanzlers(Generalstellvertretung durch einen Vizekanzler oderSpezialvertretung durch die Chefs der Reichsämter) ist durchReichsgesetz vom 17. März 1878 geordnet. Bei gekröntenHäuptern wird zwischen S. und Regentschaft unterschieden.Letztere ist auf die Dauer berechnet und tritt kraft gesetzlicherBestimmung ein, während man unter S. die auf Anordnung desMonarchen selbst eintretende vorübergehende Vertretungversteht.

Stellvertretung, militärische, früherAbleistung der Dienstpflicht im Kriegsheer durch und für einenandern, wofür der Stellvertreter (Einsteher, Remplacant) einemeist gesetzlich geregelte Abfindungssumme erhielt. NachDeutschlands Vorgang bis auf Belgien und Niederlande, wo die m. S.noch heute besteht, nach dem Krieg 1870/71 überallabgeschafft. S. Loskauf.

Stelter, Karl, lyr. Dichter, geb. 25. Dez. 1823 zuElberfeld, widmete sich in einer Seidenweberei daselbst demkaufmännischen Beruf, zu dem er auch nach einem kurzenVersuch, als Schauspieler eine künstlerische Zukunft zugewinnen, zurückkehrte und bis 1880 (in den letzten 30 Jahrenals Prokurist) thätig war. Seitdem lebt er in Wiesbaden. S.gehört als Dichter zu der kleinen Gruppe der "WupperthalerPoeten", welche im materiellen Treiben ideale Gesinnungen zu weckenund zu erhalten bemüht waren und eine freisinnige und freudigeAuffassung des Daseins dem trüben Wupperthaler Pietismusentgegensetzten. Er veröffentlichte: "Gedichte" (Elberf. 1858,3. Aufl. 1880); "Die Braut der Kirche", lyrisch-epische Dichtung(Bresl. 1858); "Aus Geschichte und Sage", erzählendeDichtungen (Elberf. 1866, 2. Aufl. 1882); die Anthologie"Kompaß auf dem Meer des Lebens" (4. Aufl., Berl. 1884);"Kompendium der schönen Künste" (Düsseld. 1869);"Gedichte", 2. Band (Elberf. 1869); "Novellen" (das. 1882); "NeueGedichte" (das. 1886) u. a.

Stelvio, Monte, s. Stilfser Joch.

Stelzen, hohe Stäbe, an welchen in bestimmterHöhe Trittklötze angebracht sind, auf denen man, sich anden Stangen selbst festhaltend, stehen und gehen kann. Sie sind eingymnastisches Belustigungsmittel, während eine andre ArtStelzen, die ungefähr eine Elle hoch und oben so breit sind,daß sie an die Fußsohle festgeschnallt oder gebundenwerden können, besonders von den Äquilibristen zumStelzentanz benutzt werden. Beide Arten sind übrigens inMarschländern sehr gebräuchlich, um sumpfige oderüberschwemmte Stellen zu durchschreiten, namentlich im franz.Departement des Landes, woselbst die Schäfer sich den ganzenTag auf ihren S. bewegen. Zu Namur fand früheralljährlich zum Karneval ein zweistündiger Kampf zwischenzwei Armeen auf S. statt.

Stelzengeier (Kranichgeier, Sekretär, Gypogeranusserpentarius Ill.), Vogel aus der Ordnung der Raubvögel undder Familie der Kranichgeier (Gypogeranidae), 125 cm lang, sehrschlank gebaut, mit langem Hals, ziemlich kleinem, breitem, flachemKopf, kurzem, dickem, starkem, vom Grund an gebogenem, fast zurHälfte von der Wachshaut bedecktem Schnabel mit sehr spitzigemHaken, langen Flügeln, in welchen die ersten fünfSchwingen gleich lang sind, auffallend langem, aber sehr starkabgestuftem Schwanz, unverhältnismäßig langenLäufen und kurzen Zehen mit wenig gekrümmten,kräftigen, stumpfen Krallen. Das Gefieder ist am Hinterkopf zueinem Schopfe verlängert, oberseits hell aschgrau, amHinterhals gräulichfahl, an den Halsseiten u. Unterteilenschmutzig graugelb, Nackenschopf, Schwingen, Bürzel undUnterschenkel schwarz, die Steuerfedern weiß, graubraun,schwarz, an der Spitze wieder weiß; das Auge ist graubraun,der Schnabel dunkel hornfarben, an der Spitze schwarz, Wachshautund Lauf gelb. Er bewohnt die steppenartigen Ebenen Afrikas vom Kapbis 16° nördl. Br., lebt meist paarweise, läuft undfliegt vortrefflich und ist berühmt als Schlangenvertilger. Ernistet auf Büschen oder Bäumen und legt 2-3 weißeoder rötlich getüpfelte Eier, welche das Weibchen insechs Wochen ausbrütet. Die Tötung des Stelzengeiers istam Kap streng verboten. In der Gefangenschaft hält er sichgut, wird auch recht zahm.

Stelzenschuhe kamen im 15. Jahrh., wie es scheint zuerstin Spanien, auf, wo sich diese Mode eine Zeitlang mit der derSchnabelschuhe vereinigte. Schon in der ersten Hälfte des 16.Jahrh. kam sie hier wieder in Abnahme, wogegen sie erst jetzt inEngland, Italien und besonders in Frankreich (unter dem Namenpatins) Verbreitung fand. Allerdings gewannen sie im Nordeninsofern praktische Bedeutung, als der Straßenschmutz zurBenutzung hölzerner Unterschuhe zwang, die im Haus abgelegtwurden. Sie wurde hier in dem Maß übertrieben, daßman sie, nach Art eines förmlichen Piedestals, bis zu 2Fuß hoch trug und auch durch die Farbe derselben dieAufmerksamkeit zu erregen suchte. In Deutschland fand diese Modeweniger Anklang. Trotz häufiger Verbote kam man, wenn auch inmäßigerer Anwendung, immer wieder auf sie zurück S.die Abbildungen.

^[Stelzenschuhe.]

Stelzfuß, s. Bockhuf.

Stelzhamer, Franz, ausgezeichneter österreich.Dialektdichter, geb. 29. Nov. 1802 zu Großpiesenham bei Riedin Oberösterreich als der Sohn eines Bauern, besuchte,für den geistlichen Stand bestimmt, die Gymnasien zu Salzburgund Graz und sollte im Seminar zu Linz die Weihen empfangen,verließ aber, weltlich gesinnt, das Berufsstudium und gingnach Wien, wo er sich erst als Jurist, dann als Malerakademikerversuchte, bis er sich einer wandernden Schauspielertruppeanschloß. In dieser Laufbahn lernte er Sophie Schröderkennen, die ihn in der Deklamation unterrichtete. NachAuflösung der Truppe kehrte der mehr als 30jährige Sohn,von der Bäuerin-Mutter geholt, in die heimatliche Hüttezurück, wo er nun seine zerstreuten Dialektgedichte ordneteund herausgab ("Lieder in obderennsscher Mundart", Wien 1836; 2.Aufl. 1844), die einen durchschlagenden Erfolg hatten. Es folgten"Neue Gesänge" (Wien 1841, 2. Aufl. 1844)

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Stelzvögel - Stempelsteuern.

von gleichem Wert nach, und nun gehörte S. ganz demdichterischen Beruf an, indem er als wandernder Sänger, seineeignen Gedichte vortrefflich vortragend, Österreich und Bayernjahrelang durchzog. Weiter veröffentlichte er drei BändeErzählungen ("Prosa", Regensb. 1845); "Neue Gedichte" (das.1846); ferner "Heimgarten" (Pest 1846, 2 Bde.);"Liebesgürtel", in hochdeutscher Sprache (2. Aufl.,Preßb. 1876); endlich "D'Ahnl", ein Dialektepos in Hexametern(Wien 1851, 2. Aufl. 1855). S. starb zu Henndorf bei Salzburg 14.Juli 1874. Aus seinem Nachlaß erschienen: "Aus meinerStudienzeit" (Salzb. 1875); "Die Dorfschule" (Wien 1877)."Ausgewählte Dichtungen" Stelzhamers gab Rosegger heraus (Wien1884, 4 Bde.).

Stelzvögel, s. v. w. Watvögel (s. d.).

Stemma (griech.), Kranz, besonders als Schmuck derAhnenbilder; Stammbaum. Stemmatographie, Genealogie.

Stemm- und Stechzeug, Meißel zur Bearbeitung desHolzes, haben eine gerade, einseitig oder zweiseitigzugeschärfte oder eine bogen- oder winkelförmigeSchneide. Zu der ersten Klasse gehört der 3-50 mm breiteStechbeitel, dessen Zuschärfungsfläche mit dergegenüberstehenden Fläche einen Winkel von 8-30°bildet. Der englische Lochbeitel ist sehr viel dicker, 1,5-25 mmbreit und hat einen Zuschärfungswinkel von 25-35°. DieKantbeitel sind lange und starke Stechbeitel für Wagner miteiner niedrigen Rippe auf der Seite, wo die Zuschärfung liegt,so daß der Querschnitt ein gedrücktes Fünf*ckbildet. Zur zweiten Klasse gehört das Stemmeisen mitdünner Klinge und 12-36 mm breit. Zur dritten Klassegehören die Hohleisen mit rinnenartiger Klinge und ein- oderzweiseitig zugeschärfter Schneide, deren Mitte bei denHohleisen der Zimmerleute weit vorsteht. Der Geißfußhat zwei gleichlange, geradlinige Schneiden, welche unter einemWinkel von 45-90° zusammenstoßen. Stemm- und Stechzeugedienen zum Wegnehmen von Holzteilen, zur Bildung von Einschnitten,Ausarbeitung von Vertiefungen und Löchern etc. Stemmmaschinenzum Ausstemmen von Zapfen und durch Langlochbohrmaschinen erzeugtenNuten besitzen einseitig scharf geschliffene Meißel, die sichhin und her, resp. auf und ab bewegen und dabei in das auf demArbeitstisch liegende Holz einschneiden, welches nach jedem Schnittum die Stärke eines Spans vorrückt.

Stempel, Werkzeug, welches auf der einen Fläche miterhabenen oder vertieften Figuren, Buchstaben u. dgl. versehen ist,um mittels aufgetragener Farbe diese Figur abzudrücken odervermittelst eines Drucks diese Figuren in eine etwas weichere Masseeinzudrücken, wie namentlich die S. zur Verfertigung derMünzen und Medaillen; auch das mit einem solchen Werkzeugaufgedrückte Zeichen, welches als Merkmal der erprobtenGüte einer Ware, des Ursprungs (von woher) oder einerbezahlten Abgabe dient. - Im Staatshaushalt wird der S.(eigentlich: die Stempelung) als Mittel benutzt, um auf bequememund nicht kostspieligem Wege Gebühren und Steuern(Verkehrssteuern) zu erheben (Gebührenstempel, Steuerstempel).Derselbe soll wegen seiner finanziellen Ergiebigkeit zuerst imverkehrsreichen Holland (seit 1624) in Gebrauch gekommen sein. Erist überall da anwendbar, wo einer zu belastenden Leistungeine Schriftlichkeit zu Grunde liegt, die der Zahlungspflichtigeüberreicht oder empfängt. In diesen Fällenkönnen sowohl Stempelbogen (gestempeltes Papier) alsaufzuklebende, für den Gebrauch bequemere Stempelmarkenbenutzt werden, in andern bedient man sich auch wohl gestempelterUmschläge (Banderollen, z. B. beim Tabak), die bei demGebrauch zerrissen werden, während der Stempelbogen durch dasBeschreiben, die Stempelmarke durch Durchstreichen oderAusdrücken eines Zeichens für weitere Verwendungenunbrauchbar gemacht (nullifiziert, kassiert) wird. Endlich kannauch ein Gegenstand (z. B. Edelmetall, Zeitung, Kartenspiel)unmittelbar durch Aufdrücken des Stempels gestempelt und damitder Beweis der Steuer- oder Gebührenzahlung geliefert werden.Zu unterscheiden sind: 1) der Fixstempel, welcher mit einem festenGeldbetrag für die einzelne in Anspruch genommeneöffentliche Leistung heute meist in der Form der Stempelmarkeeintritt; 2) der Klassenstempel, bei welchem nach gewissenMerkmalen (Bedeutung des Gegenstandes, verursachte Kosten) dieverschiedenen Fälle in Klassen eingeteilt werden und innerhalbder einzelnen Klassen Festempel zur Anwendung kommen; 3) derDimensionsstempel, dessen Höhe sich nach der Ausdehnung desGegenstandes (Zeitung, Prozeßakten) richtet, an welchen derS. angeknüpft wird; 4) der Wert- (Gradations-, Proportional-)S., welcher sich nach dem durch die steuerpflichtige Urkunderepräsentierten Wert richtet und in Prozenten des letzternoder auch mit Abrundung der Prozenthöhe in festenBeträgen für gewisse Klassen (klassifizierterWertstempel) erhoben wird. Gegen Stempelfälschungenschützt man sich durch künstliche Herstellung derStempelzeichen (geschöpftes Papier, Wasserzeichen etc.), gegenUmgehungen dienen Kontrolle und Strafe. Die Strafe kann dadurchverschärft werden, daß das vorgenommeneRechtsgeschäft für nichtig erklärt wird. Dahierdurch jedoch auch leicht Unschuldige getroffen werden, sobegnügt sich die Stempelgesetzgebung meist mit Geldstrafen,während die Gültigkeit des Rechtsgeschäfts nichtweiter angefochten wird. Vgl. Stempelsteuern.

Stempel (Pistill), das weibliche Organ in denBlüten, s. Blüte, S. 67 f.

Stempelakte, brit. Gesetz, 22. März 1765 fürdie nordamerikanischen Kolonien gegeben, angeblich behufsAufbringung einer Summe zur Verteidigung der Kolonien gegenfeindliche Angriffe und zwar durch Auflegung einer Stempeltaxe aufalles bei Geschäften zu verwendende Schreibpapier, steigertedie Unzufriedenheit, ward zwar 18. März 1766 wiederaufgehoben, trug aber zum Abfall der Kolonien von England mit bei.S. Großbritannien, S. 806.

Stempelbogen, Stempelmarke etc., s. Stempel.

Stempelschneidekunst, die Kunst, Figuren und Buchstabenin Stempel von Metall je nach Erfordernis des Abdrucks vertieftoder erhaben darzustellen. Zu den Stempelschneidern gehörendaher auch die Petschaftstecher und die Schriftschneider, dochfindet die eigentliche Anwendung der S. besonders fürMünzen und Medaillen statt. Zahlen und sich oft wiederholendekleine Zeichen (Sternchen, Kreuze etc.) werden mit besondern Bunzeneingeschlagen. Über die geschichtliche Entwickelung und dasKünstlerische der S. vgl. Denkmünze und Münzwesen,S. 897.

Stempelsteuern, eine Reihe von Staatsabgaben (Steuern wieGebühren), welchen der Stempel (s. d.) als Erhebungsformgemeinsam ist. Im wesentlichen decken sie sich mit denVerkehrssteuern (s. d.). Das Deutsche Reich besitzt an solchen S.die Wechselstempelsteuer (s. d.), den Spielkartenstempel (s. d.)und die Börsensteuer (s. d.). Die Gliederstaaten habenmannigfaltige Urkundenstempel, Erbschaftsstempel undGebührenstempel. Die französischen S. sind teils

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Stempelzeichen - Stengel.

Verbrauchsstempel (Dimensionsstempel von Zeitschriften,öffentlichen Ankündigungen etc.), teils Urkundenstempel(als Dimensions- oder als Wertstempel auf alle Akte deröffentlichen Agenten, der Gerichte undVerwaltungsbehörden etc.). Der englische Stempel ist meistFixstempel. Proportionell abgestuft sind hauptsächlich nur dieWechselstempelsteuern, die Erbschaftssteuern (s. d.), die Stempelauf Übertragung von Grundeigentum und von gewissenWertpapieren.

Stempelzeichen (Kontermarke), Zeichen, welches in dieMünzen eingeschlagen wurde, um anzuzeigen, daß einebisher ungültige Münze Geltung erhält, oderdaß der Wert einer bisher kursierenden Münzeverändert worden ist. Dergleichen S. finden sich schon auf denMünzen der alten Griechen und Römer. In Frankreich wurdenfrüher bei jedem Regierungswechsel die Münzengestempelt.

Stenamma, s. Ameisen, S. 452.

Stenay (spr. stönä), Stadt im franz.Departement Maas, Arrondissem*nt Montmédy, an der Maas undder Eisenbahn Sedan-Verdun, mit Eisenhütte und (1881) 2794Einw.

Stenbock, Magnus, Graf, schwed. Feldmarschall, geb. 12.Mai 1664 zu Stockholm, studierte in Upsala, trat dann inholländische Dienste und focht seit 1688 unter dem Markgrafenvon Baden und dem Grafen Waldeck mit Auszeichnung am Rhein. Nachdemer 1697 als Oberst eines deutschen Regiments in die Dienste seinesVaterlandes getreten, begleitete er Karl XII. auf dessen meistenFeldzügen und wirkte namentlich bei Narwa bedeutend zum Siegmit. 1707 wurde er zum Statthalter von Schonen ernannt; alsFriedrich IV. von Dänemark 1709 in Schonen landete, siegte S.,von der Regentschaft jenem entgegengestellt, 28. Febr. 1710 beiHelsingborg, setzte 1712 nach Pommern über und schlug dieDänen 20. Dez. d. J. bei Gadebusch, wendete sich hierauf nachHolstein, wo er 9. Jan. 1713 Altona in Asche legen ließ,mußte sich aber 6. Mai bei Tönning, von dendänischen, russischen und sächsischen Truppeneingeschlossen, mit 12,000 Mann kriegsgefangen ergeben und wardnach Kopenhagen gebracht, wo er 23. Febr. 1717 im Kerker starb.Seine "Mémoires" erschienen Frankfurt 1745; seine Biographiegab Laenborn heraus (Stockh. 1757-65, 4 Bde.).

Stendal, Kreisstadt im preuß. RegierungsbezirkMagdeburg, an der Uchte, Knotenpunkt der LinienLeipzig-Wittenberge, Berlin-Lehrte und S.-Langwedel derPreußischen Staatsbahn sowie der EisenbahnS.-Tangermünde, 33 m ü. M., ist die ehemalige Hauptstadtder Altmark, hat 5 evang. Kirchen (darunter die spätgotischeDomkirche), eine kath. Kirche, eine Synagoge, 2 alte interessanteStadtthore, schöne Anlagen an Stelle der alten Festungswerke,eine Rolandsäule, ein Denkmal des hier gebornenArchäologen Winckelmann (von K. Wichmann), einöffentliches Schlachthaus und (1885) mit der Garnison (1 Reg.Husaren Nr.10) 16,184 meist evang. Einwohner, die Wollspinnerei,Tuch-, Öfen-, Maschinen- u. Goldleistenfabrikation,Kunstgärtnerei, Bierbrauerei etc. betreiben. Auch befindetsich hier eine Eisenbahnhauptwerkstatt und werden Pferde-, Vieh- u.Getreidemärkte abgehalten. S. hat ein Landgericht, einHauptsteueramt, ein Gymnasium, ein Johanniterkrankenhaus etc. ZumLandgerichtsbezirk S. gehören die 16 Amtsgerichte zu Arendsee,Beetzendorf, Bismark, Gardelegen, Genthin, Jerichow, Kalbe a. M.,Klötze, Öbisfelde, Österburg, Salzwedel, Sandau,Seehausen i. A., S., Tangermünde und Weferlingen. - S. ward1151 von Albrecht dem Bären gegründet, erhielt, wie diemeisten Städte im Slawenland, das Magdeburger Recht und gewannunter den folgenden Markgrafen mancherlei Privilegien, so 1215 dieBefreiung vom Gericht des Burggrafen, obwohl es mit der ganzenNordmark 1196 unter die Lehnshoheit des Erzstifts Magdeburg geratenwar. Bei der Teilung der Mark unter die Brüder Johann I. undOtto IV. 1258 ward S. Sitz der ältern (Stendalschen) Linie desHauses Askanien, die 1320 mit Heinrich von Landsberg erlosch.Damals war S. eine der bedeutendsten Städte der Mark, tratauch der Hansa bei und stand im 15. Jahrh. an der Spitze einesBundes der Städte der Altmark. 1530 fand hier die evangelischeLehre Eingang, wurde aber von Joachim I. mit Gewaltunterdrückt; erst unter Joachim II. wurde dann die Reformationin S. durchgeführt. Vgl. Götze, Urkundliche Geschichteder Stadt S. (Stend. 1871).

^[Wappen von Stendal.]

Stendhal (spr. stangdall), Pseudonym, s. Beyle.

Stenge, auf größern Schiffen die ersteVerlängerung des Mastes über dem Mars, mittels des sogen.Eselshaupts, eines starken Blocks von hartem Holz, mit demUntermast verbunden; s. Takelung.

Stengel (Caulis, Kaulom, Stamm, Achse), eins dermorphologischen Grundorgane der Pflanzen, in der Fähigkeitdauernder Verjüngung an seiner Spitze mit der Wurzelübereinstimmend, aber durch den Besitz von Blätternwesentlich verschieden. Man beschränkt gewöhnlich dasVorkommen des Stengels im Pflanzenreich auf die deshalb sogenannten stammbildenden Pflanzen (Kormophyten), welche, alleGewächse von den Moosen an aufwärts umfassend, denThallophyten gegenübergestellt sind, denen man den S.abspricht und einen Thallus beilegt.

Der S. ist an den Seiten immer mit Blättern besetzt; beimsogen. blattlosen S. sind in Wahrheit die Blätter entweder nurauf ganz unscheinbare Rudimente reduziert, oder umfassen ihn alsbloße Scheiden nur am Grund, oder der vermeintlich blattloseS. ist nur das zu ungewöhnlicher Länge gestreckteZwischenstück zwischen je zwei einander folgendenBlättern. Die Stellen des Stengels, an welchen ein Blattsitzt, die Knoten (nodus), sind nicht selten durch eineknotenartige Verdickung und oft auch durch andre anatomischeBeschaffenheit ausgezeichnet, insbesondere bei hohlen Stengeln mitMark erfüllt. Das zwischen je zwei aufeinander folgendenKnoten liegende Stück heißt Stengelglied (Internodium).Das aus dem Blatt in den S. übertretendeGefäßbündel wird als Blattspur bezeichnet. Die imjugendlichen Zustand an der Stengelspitze dichtzusammengedrängten Blätterrücken erst bei derweitern Ausbildung in der Regel mehr auseinander, indem dieStengelglieder sich strecken. Bei Stengeln, deren Internodienunentwickelt bleiben, stehen alle Laubblätter unmittelbarüber der Wurzel und heißen deshalb Wurzel- oderGrundblätter, während man solche Pflanzen ungenaustengellose Pflanzen (plantae acaules) nennt. Auch die Knospen, dieKöpfchen, die Blüten sind Beispiele für S. mitverkürzten Internodien. Einen sehr hohen Grad erreicht dieStreckung der Stengelglieder z. B. bei den Pflanzen mit windendenStengeln, bei den fadendünnen Ausläufern und beim Schaft(scapus), welcher ein einziges, ungemein gestrecktes Internodiumeines aus der Achsel

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Stengel (botanisch).

von Wurzelblättern entspringenden, eine Blüte odereinen Blütenstand tragenden Sprosses darstellt.

Der S. ist in Bezug auf seine Seitenorgane (Blätter, Haare)das Primäre; jene entstehen erst auf diesem. Wenn man die inder Fortbildung begriffene Spitze des Stengels der Länge nachdurchschneidet, so sieht man, daß der S. in eine halbkugel-bis schlank kegelförmige Kuppe endigt (Fig. 1), auf derenOberfläche noch keinerlei seitliche Organe vorhanden sind.Dieser Vegetationspunkt (punctum vegetationis) bewirkt durch seinezellenbildende Thätigkeit die Fortbildung des Stengels in dieLänge. Erst ein mehr oder minder großes Stückunterhalb des Scheitels (Fig. 1 ss) desselben zeigen sich aufseiner Oberfläche sanfte Höcker, die wir, nachrückwärts verfolgend, bald in größere Gebildeübergehen sehen und als die ersten Anlagen der Blättererkennen. Die ganze fortbildungsfähige Spitze eines Stengelssamt den daran sitzenden, den Vegetationspunkt bedeckenden jungenBlättern (Fig. 1 pb) nennt man Knospe (s. d.). DerVegetationspunkt ist aus lauter gleichartigen, sehr kleinen,polyedrischen, dünnwandigen, reichlich mit Protoplasmaerfüllten, sämtlich in Teilung begriffenen Zellenzusammengesetzt, welche das sogen. Urparenchym oder -Meristemdarstellen, aus welchem allmählich die Gewebe (Fig. 1 m) durchentsprechende Ausbildung der Zellen hervorgehen. Bei denGefäßkryptogamen und einigen Phanerogamen gibt es imScheitel des Vegetationspunkts eine Scheitelzelle, welche durchregelmäßige Teilungen stetig Zellen bildet, und vonwelcher alle Zellen des Meristems und somit des ganzen Stengelsabstammen. Bei andern Phanerogamen bilden sich dagegen imVegetationspunkt gewisse Gewebe selbständig undunabhängig voneinander fort, so daß keine Scheitelzelleanzunehmen ist.

Bei den meisten Pflanzen verzweigt sich der S., d. h. er erzeugtan seiner Seite neue Vegetationspunkte, die sich fortentwickeln zueiner neuen, der ersten gleichen und am Grund mit ihrzusammenhängenden Achse, welche in Bezug auf jene den Zweigoder Ast (ramus) bildet. Bei der normalen Verzweigung des Stengelsbilden sich die Vegetationspunkte der Zweige frühzeitig, schonin der Nähe der Spitze des Stengels und meist inregelmäßiger Stellung. Von dieser Verzweigung, aufwelcher hauptsächlich die Architektonik der ganzen Pflanzeberuht, muß man diejenigen Zweige unterscheiden, welche ausAdventivknospen (s. Knospe) hervorgehen, da diese fern von derSpitze des Stengels, an ältern Teilen, ohne bestimmte Ordnungund oft durch zufällige äußere Einflüsseveranlaßt entstehen. Bei jeder normalen Verzweigung tretendie neuen Vegetationspunkte meist in der Achsel der Blätterauf, und zwar an der Oberfläche des Stengels (Fig. 1 k). Daherist die Stellung der Zweige von der Blattstellung abhängig undzeigt dieselbe Regelmäßigkeit wie diese. Indessenerzeugen meist nicht alle Blätter in ihrer Achsel eine Knospe,und noch weniger oft bilden sich alle angelegten Knospen zuwirklichen Zweigen aus. Die Verzweigung des Stengels erfordert dieUnterscheidung von Hauptachse und Seiten- oder Nebenachsen oder, daman jede einzelne Achse samt allen ihren Blättern Sproßnennt, von Haupt- und Seitensprossen. Insofern aber die Nebenachsensich abermals verzweigen u. s. f., spricht man von Nebenachsenerster, zweiter etc. Ordnung. Nach dem Ursprung der Achsen und nachdem Grad ihrer Erstarkung unterscheidet man folgende Arten derVerzweigung: 1) Wenn die Hauptachse in gleicher Richtung sichfortbildet und stärker bleibt als alle ihre Nebenachsen, sonennt man ein solches Verzweigungssystem monopodial oder einMonopodium; es ist die gewöhnlichste Form. 2) Wenn der S. aberan einem Punkt endigt und daselbst in zwei ihm und einander nahezugleich starke, in der Richtung divergierende Zweige sich teilt, soheißt er gabelig verzweigt oder dichotom (cauli dichotomus),die Verzweigungsform Dichotomie. Dieses Verhältnis kann aufdreierlei Weise zu stande kommen. Entweder beruht es nur auf einerModifikation der monopodialen Verzweigung und wird dann falscheDichotomie genannt, wenn nämlich eine Nebenachse sich ebensostark entwickelt wie die Hauptachse und die letztere in ihrerRichtung etwas zur Seite drängt (Fig. 2 C, wo aaa dieHauptachse, bb die Nebenachsen), oder wenn unter der Spitze derHauptachse, deren Gipfelknospe entweder sich nicht ausbildet, oderwelche durch eine Blüte abgeschlossen ist, zweigegenüberstehende Seitensprosse sich entwickeln und indemselben Grad wie der Hauptsproß erstarken (Fig. 2 B,Mistel). Oder aber es liegt eine echte Dichotomie vor, ein seltenerbei den Selaginellen und Lykopodiaceen vorkommender Fall, der garnicht auf der Bildung von Nebenachsen, sondern darauf beruht,daß das Wachstum am Scheitel des

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Stengelbrand - Stenograph.

Stengels in der bisherigen Richtung aufhört und daneben inzwei divergierenden Richtungen sich fortsetzt, indem derVegetationspunkt selbst in zwei neue sich teilt (Fig. 2 A,Bärlapp). 3) Die Scheinachse (sympodium), wenn der S. inseiner Fortbildung an der Spitze unterbrochen wird, dafür aberdie der Spitze nächste Seitenachse das Wachstum in gleicherRichtung fortsetzt und dies nach einem oder einer Reihe vonInternodien sich wiederholt (Fig. 2 D, wo a die Hauptachse, bb' dieaufeinander folgenden Nebenachsen), so daß der scheinbarEiner Achse angehörige Sproß aus successiven Nebenachsenverschiedenen Grades zusammengesetzt ist.

Der Grad der Verzweigung und die Ausbildungsform der einzelnenSprosse, die Sproßfolge, beginnen in ihrer Entwickelung beiphanerogamen Pflanzen an dem Keimling. Das Stengelchen desselbenerwächst zur Hauptachse. In seltenen Fällenschließt schon diese mit einer Blüte ab, und der S. kanndabei einfach bleiben, so daß die Pflanze nur aus einereinzigen Achse besteht und als einachsige bezeichnet wird.Zweiachsige Pflanzen sind dagegen diejenigen, bei denen erst an denNebenachsen erster Ordnung Blütenentwickelung eintritt, alsoz. B. wenn die Hauptachse aufrecht steht und Laubblätterträgt, aus deren Achseln Blütenstiele entspringen, oderan der Spitze zu einer Traube, Dolde oder Ähre wird, denn auchjede Blüte dieser Infloreszenzen ist ein Sproß fürsich; aber auch der Fall gehört hierher, wo die Hauptachseunterirdisch als Rhizom wächst und einfache Nebenachsenüber den Boden treibt, die mit einer einzelnen Blüteabschließen, wie z. B. bei Paris quadrifolia. Man kannhiernach leicht selbst finden, was unter drei-, vierachsigen etc.Pflanzen zu verstehen ist. Sehr häufig sind bei mehrachsigenPflanzen die successiven Achsen nicht bloß dem Grad nach,sondern auch hinsichtlich der Ausbildung der Blätter, die sietragen, voneinander unterschieden. Durch die Metamorphose derBlätter werden nämlich bei fast allen Phanerogamenbestimmte Blattformationen bedingt, die man als Nieder-, Laub- u.Hochblätter charakterisiert (s. Blatt, S. 1016), und nachderen Auftreten am S. man eine Niederblattregion, Laubblattregionund Hochblattregion zu unterscheiden hat. Bei einachsigen Pflanzenfolgen diese drei Regionen an Einer Achse aufeinander, beimehrachsigen sind sie in der Regel auf die einzelnen Achsenverteilt, so daß man diese selbst als Niederblattstengel etc.unterscheiden kann. Diese Verhältnisse, von denenhauptsächlich mit das äußere Ansehen (Habitus) derPflanze abhängt, zeigen wiederum großeMannigfaltigkeiten.

Für die S. gewisser Pflanzen sind besondere Namenüblich. Bei den Kräutern redet man schlechthin vom S.oder Krautstengel, bei den grasartigen Monokotyledonen wird er Halm(culmus) genannt. Der hohe, meist einfache, an der Spitze mit einereinzigen großen Gipfelknospe endigende S. der Palmen undBaumfarne heißt Stock (caudex). Der holzige, lang dauernde,in Äste und Zweige sich teilende S. der Dikotyledonen undNadelhölzer wird Stamm (truncus) genannt (vgl. Baum).Abweichende, für besondere Lebenszwecke eingerichteteStengelformen sind die Knollen, Ranken und Dornen (s. d.). Beimanchen Pflanzen ist der S. fleischig verdickt und dann knollig,wie bei dem Kohlrabi (Fig. 3), nahezu kugelig, wie bei Melocactus(Fig. 4), aus ovalen, zusammengedrückten Gliedernzusammengesetzt, wie bei den Opuntien (Fig. 5). Ja, es gibt auchS., welche der Gestalt nach mit Blättern übereinstimmen,wie z. B. die Zweige von Ruscus aculeatus (Fig. 6), welcheflächenartig ausgebreitet sind und ein beschränktesLängenwachstum besitzen, daher sie eine begrenzteblattähnliche Form haben. Solche Blattzweige (phyllocladia)unterscheiden sich von wahren Blättern leicht dadurch,daß sie aus den Achseln kleiner, schuppenförmigerBlätter entspringen und auf ihrer Fläche selbst kleineBlättchen tragen, aus deren Achsel sie eine Blütehervorbringen. Über den innern Bau des Stengels vgl. dieArtikel Gefäßbündel, Holz, Rinde, Kambium.

^[Fig. 5. Stengel von Opuutia.]

^[Fig. 6. Phyllokladien von Ruscus aculeatus.]

^[Fig 3. Kohlrabi.]

^[Fig. 4. Stengel von Melocactus.]

Stengelbrand, s. Brandpilze III.

Stengelgläser, venezian. Gläser mitdünnem, stengelartigem Fuß (s. Tafel"Glaskunstindustrie", Fig. 8).

Stenochromie (griech.), Verfahren gleichzeitigen Druckeseiner beliebigen Anzahl von Farben, dessen Erfindung von Radde inHamburg und von dessen Kompagnon Greth beansprucht wird. Aus eigenspräparierten Farbentäfelchen werden der zu bedruckendenBildfläche entsprechende Teile mittels der Laubsägeherausgeschnitten, welche man, gleich den Teilen derZusammensetzspiele der Kinder, sodann zu einer Platte vereinigt, ineine besonders konstruierte Presse bringt, wo der Druck mitchemisch gefeuchtetem Papier derart erfolgt, daß das Papierdie zur Herstellung des Bildes erforderliche Farbenschicht von derFarbenplatte aufsaugt. Wird über solcherweise erzeugte Grund-oder Tonplatten eine denselben entsprechende, das Bild selbst alsphotographisches Positiv tragende Gelatinehaut gelegt, sokönnen damit überraschend schöne Resultate erzieltwerden.

Stenograph (griech.), im weitern Sinn jeder, der sich einSystem der Stenographie (s. d.) zu eigen

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Stenographie (Wesen und Zweck).

gemacht hat; im engern einer, dessen Beruf dasgeschwindschriftliche Aufnehmen von Reden u. dgl. ist.

Stenographie (griech., "Engschrift", auch Tachygraphie,"Schnellschrift", engl. Shorthand. "Kurzhand", deutsch amtreffendsten Kurzschrift genannt), eine Schriftart, welchevermittelst eines einfachen, von den gewöhnlichen Buchstabenabweichenden Alphabets, ferner durch eigne Grundsätzeüber deren Zusammenfügung und meist auch durchAufstellung besonderer Kürzungen zu ihrer Ausführung nurein Viertel der sonst nötigen Zeit erfordert und dazu bestimmtist, bei schreiblicher Thätigkeit als zeitersparendesErleichterungsmittel verwandt zu werden. Da die S. nichtbeabsichtigt, die gewöhnliche Schrift zu verdrängen,sondern nur neben derselben hergehen will, so nimmt sie in derLautbezeichnung hauptsächlich die gangbare Schrift zumVorbild; doch werden auch aus orthographischen VereinfachungenKürzungsvorteile gern benutzt. Phonetische Stenographien (s.Phonographie), wie sie in England (s. Pitman) und Frankreich (s.Duployé) vorhanden sind, lassen sich in Deutschland bei demMangel einer Behörde zur Entscheidung über dieRichtigkeit der provinziell verschiedenen Aussprache gewisser Lautevorläufig nicht durchführen. Hinsichtlich derZeichenauswahl für das Alphabet unterscheidet man zwei Artenvon Systemen der S.: geometrische, d. h. solche, welche nur dieeinfachsten geometrischen Elemente (Punkt, gerade Linie, Kreis undKreisteile) verwenden, und graphische, d. h. solche, die ihreZeichen aus Teilen der gewöhnlichen Buchstaben bilden unddadurch im Gegensatz zu den erstern geläufige, der Richtungder schreibenden Hand entsprechende Züge erzielen.Geometrische wie graphische Systeme vervielfältigen diegeringe Menge der verfügbaren Urzeichen durch allerhandAuskunftsmittel, wie Höhenwert, Neigungswert, Stellenwert,Schattierungswert etc., die zur Erreichung der verschiedenstenZwecke benutzt werden. An einer Klassifikation der Systeme nachdiesen Gesichtspunkten mangelt es noch vollständig. Zu dergraphischen Art gehören außer der altrömischenTachygraphie fast nur die modernen deutschen Systeme und derenÜbertragungen, während die übrigen meist aufgeometrischer Grundlage beruhen. In den Regeln über dieZeichenzusammenfügung herrscht außerordentlicheMannigfaltigkeit. Das Gleiche gilt von den Kürzungsregeln,doch ist fast allen Systemen gemeinsam die Anwendung von Siglen (s.d.). Schreibkürzungsmethoden, welche sich dergewöhnlichen Buchstaben, allenfalls mit einigen Signaturen,bedienen, fallen, auch wenn sie die angegebene Kürze erreichensollten, nicht unter den Begriff der S., ebensowenig Systeme,welche zwar eigne Zeichen verwenden, aber hinter dem Maß vonein Viertel der sonstigen Schreibzeit erheblich zurückbleiben.Die Veranlagung, schnelle Reden wörtlich nachzuschreiben,gehört nicht zu den Bedingnissen einer S., obgleich diemeisten Systeme dazu befähigen oder wenigstens sich dessenrühmen. Oft aber ist es dieses Bedürfnis, Redennachzuschreiben, gewesen, welches den Anstoß zur Aufstellungeiner Kurzschrift gegeben hat. Daher sehen die ersten Systeme mehrauf Kürze als auf genügende Bürgschaft fürrichtiges Wiederlesen des Geschriebenen. Sobald die S. die engenGrenzen der Redezeichenschrift verläßt, um ihreumfassendere und höhere Bestimmung zu erfüllen, mußdas Streben nach Kürze durch die Rücksicht aufDeutlichkeit, Zuverlässigkeit, Lesbarkeit undFormenschönheit eingeschränkt werden; auch darf die Zeitund Mühe, welche zur Erlernung eines solchen mechanischenErleichterungsmittels aufgewandt wird, nicht zu groß seinoder gar den Charakter eines förmlichen Studiums annehmen. Jemehr ein System bei theoretischer Konsequenz und ästhetischemÄußern Zuverlässigkeit mit Kürze vereinigt,ohne an leichter Erlernbarkeit zu verlieren, desto höher stehtes an Brauchbarkeit und Güte. Denn die S. ist für allebestimmt, welche viel zu schreiben oder Geschriebenes zu lesenhaben, nicht bloß für Gelehrte, Schriftsteller,höhere Beamte, Kaufleute, Studenten, Gymnasiasten etc.,sondern auch für Subalternbeamte, Sekretäre, Kanzlisten,Schreiber, Schriftsetzer etc., bei deren gegenseitigemZusammenwirken (ein einheitliches Stenographiesystem vorausgesetzt)sie erst ihren vollen Wert zeigen kann. Als rein mechanischesHilfsmittel für so verschiedene zum Teil wenig gebildeteKreise besitzt die S. keinerlei Anrecht auf die Bezeichnungen"Wissenschaft" oder "Kunst"; höchstens im uneigentlichen Sinn,wie man von Buchdrucker- oder Schreibkunst spricht, könnte dieS. eine Kunst heißen. Aus der Verwertungsprachlich-etymologischer und lautlich-physiologischerForschungsergebnisse vermag die Kurzschrift wohl Vorteile zuziehen, aber nur Schwärmer reden von hoherWissenschaftlichkeit und zahlreichen bildenden Elementen der S. DieKurzschrift hat ihren wissenschaftlichen Gehalt in der Konsequenz,in rationeller Ökonomie und einem systematischen Aufbau zusuchen; ihre wissenschaftliche Bedeutung liegt in den Diensten, diesie der Wissenschaft leistet. Eine kritisch-forschendeBeschäftigung mit Geschichte, Wesen und Wert der S. istdagegen sehr wohl als wissenschaftliche Thätigkeit zu denken.Zur Ausübung der redennachschreibenden Praxis bedarf es nebenstenographischer Virtuosität insbesondere scharfer Sinne,schneller Auffassung und fester Nerven. Wissenschaftliche Bildungist dafür nicht durchaus erforderlich, indessen gewährtdieselbe größere Bürgschaft fürzuverlässige und von Verständnis getragene Leistungen;darum verlangt gewöhnlich der Staat von seinen amtlichenStenographen außer der technischen Fertigkeit bestimmteBildungsnachweise. In den größern deutschen Staaten undin Österreich werden z. B. fast nur akademisch gebildeteMänner als Kammerstenographen zugelassen. Gegenwärtigdient die S. ihrem umfassendern, höhern Zweck umfänglichin Großbritannien, einem Teil des englisch sprechendenNordamerika, in Frankreich, Deutschland, der Schweiz,Österreich-Ungarn und langsam beginnend auch in Italien; inden übrigen europäischen und einigen überseeischenLändern erfährt sie fast nur in dem beschränktenSinn Anwendung zum Nachschreiben von Reden. Die Pflege derKurzschrift ruht zumeist in den Händen der stenographischenVereine, die zuerst in England aufgekommen sind. Ebenda entstand1842 die stenographische Presse, welche jetzt über fast 150Fachzeitschriften verfügt. Versuche zur Aufstellung einerstenographischen Tonschrift an Stelle des gewöhnlichenNotensystems sind von einigen Franzosen, Deutschen undEngländern gemacht worden, haben aber eine praktischeVerwertung ebensowenig gefunden wie die Entwürfe zu"Blindenstenographien". Vgl. Steinbrink, Über den Begriff derWissenschaftlichkeit auf dem Gebiet der S. (Berl. 1879); Hasemann,Prüfung der wichtigsten Kurzschriften (Trarbach 1883);Morgenstern, Wissenschaftliche Grundsätze zur Beurteilungstenographischer Systeme (im "Magazin für S." 1884); Brauns,Welche Anforderungen sind an eine Schulkurzschrift zu stellen?(Hamb. 1888); Hüeblin, Stimmen über die Bedeutung der S.(Wetzikon 1888).

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Stenographie (Geschichtliches, Verbreitung).

Geschichtliches. Verbreitung.

Den ersten Ansatz zu einer S. finden wir in Griechenland. EineMarmorinschrift von etwa 350 v. Chr., welche vor wenigen Jahren aufder Akropolis von Athen ausgegraben ward und im dortigenZentralmuseum aufgestellt ist, gibt Anweisungen einergekürzten Schriftart, mit welcher allerdings nur dieHälfte der Zeit erspart wird. Der frühsten Erwähnungeiner griechischen S. begegnet man erst ums Jahr 164 n. Chr. beiGalenos. Aus Zeugniffen späterer Schriftsteller geht hervor,daß die wörtliche Aufnahme einer griechischen Rede durchS. möglich war. Von der Beschaffenheit des dabei angewendetenSystems können wir uns keine rechte Vorstellung bilden, denndie Schriftproben, welche unter dem Namen griechische Tachygraphiegehen, repräsentieren nur eine ganz späte und entarteteGestalt, in der das System an Kürze sich wenig über diegewohnliche griechische Schrift erhebt und nicht mehr S., sondernnur noch Geheimschrift ist. Vgl. Gomperz, Über eingriechisches Schriftsystem aus der Mitte des 4. vorchristlichenJahrhunderts (Wien 1884); Mitzschke, Eine griechische Kurzschriftaus dem 4. vorchristlichen Jahrhundert (Leipz. 1885); Gitlbauer,Überreste griechischer Tachygraphie im "Codex Vaticanusgraecus 1809" (Wien 1878); Wessely, Wiener Papyrus Nr. 26 und dieÜberreste griechischer Tachygraphie in den Papyri von Wien,Paris und Leiden (in den "Wiener Studien" 1881, Bd. 3, S. 1-21);Rueß, Über griechische Tachygraphie (Neuburg a. D.1882). Reichlicher fließen die Quellen über diealtrömische S., deren Wesen und Geschichte vom Beginn bis zumUntergang sich verfolgen läßt. Nach ihrem Erfinder Tiroführt diese Kurzschrift den Namen Tironische Noten (weiteress. Tiro). Aus dem Mittelalter verdient nur hervorgehoben zu werden,daß ein Mönch, Johannes von Tilbury, den Versuch machte,durch eine Nova notaria die Tironischen Noten zu ersetzen (vgl.Rose, Ars notaria, im "Hermes", Bd. 8, S. 303 ff.). Die Nation, beiwelcher die Kurzschrift in neuer Zeit zuerst wieder erwachte, undvon wo der zündende Funke fast in alle Länder Europas undüber den Ozean übersprang, war die englische. Diefrühsten Spuren stenographischer Systeme zeigen sich inEngland schon zu Ende des 16. Jahrh. in den Schriften von Brightund Bales. Der erste aber, der hier von Bedeutung ward, ist JohnWillis ("The art of stenography, or short-writing", Lond. 1602).Von diesem Anfangspunkt an bis zur jüngsten Vergangenheit istdas stenographische Schrifttum Englands ein außerordentlichfruchtbares gewesen. Als besonders hervorragend sind zu nennenSamuel Taylors "Essay intended to establish a standard for anuniversal system of stenography" (Lond. 1786), wovonÜbertragungen auf viele andre europäische Sprachengemacht wurden, und Isaak Pitmans "Phonographie" (1837). Dieselbehat nach dem Taylorschen System die weiteste Verbreitung undpraktische Verwertung unter den Volksstämmen englischer Zungegefunden (näheres s. Pitman). In Frankreich blieben die erstenvon Cossard 1651 und dem Schotten Ramsay 1681 veröffentlichtenSysteme ohne Erfolg. Erst einer von Bertin verfaßtenÜbertragung des Taylorschen Systems, die 1792 unter dem Titel:"Système universel et complet de sténographie"erschien, gelang es, Anerkennung und praktische Verwendung zufinden. Noch heute besitzt dieselbe namentlich in denÜberarbeitungen von Prévost und Delaunay in denfranzöfischen und belgischen Kammern als Redezeichenkunst dasÜbergewicht, auch sonst einige Verbreitung im täglichenSchriftverkehr und eine Zeitschrift zur Vertretung ihrerInterefsen. Hinsichtlich der allgemeinen Ausbreitung und Benutzungbei schriftlichen Arbeiten hat aber neuerdings die S.Duployé (s. d.) alle andern französischen Methoden weitüberflügelt. In Italien ist der erste nachweisbareVersuch, zu einer Kurzschrift zu gelangen, der von Molina 1797. Ihmfolgte eine von Amanti 1809 bewirkte Übertragung desTaylorschen Systems ("Sistema universale e completo distenografia"), die mit einigen Modifikationen beim italienischenParlament Verwendung findet, sonst aber hinter einer von Noebewirkten Übertragung der deutschen Redezeichenkunst vonGabelsberger zurücktritt, welche bereits anfängt, inweitern Kreisen als Gebrauchsschrift sich Geltung zu verschaffen("Manuale di stenografia italiana", 9. Aufl., Dresd. 1887). InSpanien war es Marti, der, auf englischen Grundlagen bauend, durchseine "Tachigrafia castellana" (Madr. 1803) die Kurzschrift inseinem Vaterland einbürgerte und eine Stenographenschulegründete, deren Anhänger auch in Mexiko, Carácas,Buenos Ayres als Schnellschreiber der dortigen GesetzgebendenKörper thätig sind. Ihr ist in neuester Zeit die"Taquigrafia sistematica" (Barcel. 1864) des Garriga y Marill mitErfolg an die Seite getreten; ein thätiger und tüchtigerVerein in Barcelona wirkt für dieses System. Ein Sohn desvorgenannten Marti führte seines Vaters System, indem er esauf das Portugiesische übertrug, in Portugal ein ("Tachigrafiaportugueza", Lissab. 1828). In Brasilien kommt ein nachenglisch-französischen Mustern von Pereira da Silva Velhogeschaffenes System (Rio de Jan. 1844) im Parlament zur Verwendung.In Rumänien tauchte die Kurzschrift 1848 auf, als Rosetti dieTaylorsche S. seiner Muttersprache anzupassen suchte. Von einigemErfolg begleitet war erst Winterhalders 1861 bewirkteÜbertragung des französischen Systems von Tondeur. Auchin Schweden, Norwegen, Dänemark, den Niederlanden,Rußland, Polen, Böhmen und den übrigen slawischenLändern, Ungarn, Finnland, der Türkei, Griechenland,Armenien, Madagaskar, Japan trägt die S. das Geprägefremder Herkunft. Es gibt in diesen Ländern keinenational-eigentümlichen Stenographien, sondern nurÜbertragungen ausländischer Methoden, besonders derdeutschen von Gabelsberger und Stolze oderenglisch-französischer. Erst 1888 hat sich bei den Tschecheneine Richtung auf Nationalisierung der S. bemerkbar gemacht. Auchauf Schleyers Volapük sind schon mehrere Systeme der S.übertragen worden. In Deutschland begegnen unsmerkwürdige Beispiele großer Schreibgeschwindigkeitwährend der Reformationszeit, wo Luthers Freunde und Gehilfen(Cruciger, Dietrich und Röhrer) Predigten, Reden,Verhandlungen u. dgl. wörtlich nachgeschrieben haben sollen.Da jedoch nähere Angaben nicht erhalten sind, muß esunentschieden bleiben, welcher Hilfsmittel sich diese Männerbedient haben. Der Versuch des Schotten Ramsay, 1679 das englischeSystem von Shelton in Deutschland einzuführen, blieb ohneErfolg. Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts lenkte Buschendorf inseinem "Journal für Fabrik, Manufaktur etc." 1796 dieAufmerksamkeit der Deutschen auf die stenographischen SystemeEnglands und Frankreichs und wies auf die Wichtigkeit dieserKunstfertigkeit hin. Noch in demselben Jahr erschienen Mosengeils"Anleitung zur S. nach Tay-

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Stenographiermaschine - Stenotelegraph.

lor" und 1797 Horstigs "Erleichterte deutsche S.", beide ebensowie das vom Hauptmann Danzer in Wien 1800 veröffentlichte"Allgemeine System der S. des Herrn Sam. Taylor" nach englischemMuster gearbeitet. Seit jener Zeit ist in Deutschland eineaußerordentlich große Anzahl stenographischer Systemeaufgetaucht, unter denen aber nur die Methoden von Gabelsberger (s.d., 1834), Stolze (s. d., 1841) und Arends (s. d., 1850) in denVordergrund getreten sind. Gabelsberger schuf in seinerRedezeichenkunst das erste deutsche Nationalsystem und eroberte dergraphischen Richtung das Feld. Stolze hob die S. zur Bedeutungeines allgemeinen Hilfsmittels, brachte strengere Grundsätzezur Anwendung und belebte den früher toten Bindestrich. Arendsist darüber nicht hinausgekommen. Die Pflege dieser dreiHauptsysteme nebst Übertragungen stellt sich nach der neuestenStatistik folgendermaßen:

Gabelsberger 660 Vereine mit 17000 Mitgliedern,

Stolze 450 - - 10500

Arends 120 - - 2600

Erst in neuester Zeit hat der stenographische Gedanke wiedereine wirkliche Förderung erfahren durch Brauns, der in seinem"Entwurf eines Schulkurzschriftsystems" (Hamb. 1888) auf Grundeingehender Untersuchungen über die Häufigkeit derLautgruppen einerseits und die Schreibflüchtigkeit derverfügbaren Zeichen anderseits die Bahnen für einerationelle Ökonomie in der Kurzschrift vorgezeichnet hat.Diejenigen Systeme der S., welche in der Zwischenzeitveröffentlicht worden sind, haben wohl diesen oder jenen neuenEinzelvorteil sich zu nutze gemacht, für denAllgemeinfortschritt der S. aber nichts geleistet. FaulmannsPhonographie, die zuerst von Braut 1875 herausgegeben ward, hebtsich durch ihre Einfachheit hervor. Das sogen."Dreimännersystem" von Schrey, Johnen und Socin (1888),gewöhnlich nach dem Hauptautor Schrey allein benannt, versuchteine Vermittelung zwischen Gabelsberger, Stolze und Faulmann. DurchVereine sind folgende kleinere Systeme vertreten:

Roller (1875) 105 1450

Faulmann (1875) 25 1000

Lehmanns "Stenotachygraphie" (1875) 40 860

Schrey (1888) 30 450

Merkes (1880) 15 150

Velten (1876) 10 150

Ganz vereinzelt bestehen auch Vereine nach den Systemen vonAdler (1877), Herzog (1884) und einigen andern, wie denn dasstenographische Vereinswesen in Deutschland, dem gegenwärtigenHauptsitz stenographischer Thätigkeit, am meisten entwickeltist. Ein regelmäßiger Gedankenaustausch zwischen denStenographen aller Länder ist von Großbritannien ausdurch die Einführung internationaler Stenographenkongressegeschaffen worden. Die erste Zusammenkunft dieser Art fand 1887 inLondon statt (vgl. "Transactions of the first internationalshort-hand congress", Lond. u. Bath 1888). Einen Einblick in achtbedeutende Systeme der S. gewährt beifolgende Tafel"Stenographie". Für die umfängliche stenographischeLitteratur besteht bei J. H. Robolsky in Leipzig eine besonderebuchhändlerische Zentralstelle; Bücher von wirklichemWert sind seltene Erscheinungen. Vgl. Pitman, A historv ofshort-hand (Lond. 1852); Anderson, History of short-hand (das.1882) ; Rockwell, The teaching, practice and literature ofshort-hand (2. Aufl., Washingt. 1885); Scott de Martinville,Histoire de la sténographie (Par. 1849); Guénin,Recherches sur l'histoire, la pratique et l'enseignement de lasténographie (das. 1880); Depoin, Annuairesténographique international (das. 1887); Gabelsberger,Anleitung zur deutschen Redezeichenkunst oder S. (Münch.1834); Anders, Entwurf einer allgemeinen Geschichte und Litteraturder S. (Köslin 1855); Erkmann, Geschichte der S. imGrundriß (Görl.1875); Mitzschke, Beiträge zurGeschichte der Kurzschrift (Berl. 1876); Zeibig, Geschichte undLiteratur der Geschwindschreibkunst (2. Aufl., Dresd. 1878) ;Blenck, Die geschichtliche Entwickelung etc. der S. (Berl. 1887);Krieg, Katechismus der S. (2. Aufl., Leipz. 1888); Moser,Allgemeine Geschichte der S. (das. 1889, Bd. 1.);"Panstenographikon" (Dresd. 1869-74); Faulmann, HistorischeGrammatik der S. (Wien 1887); Keil und Hödel, Verzeichnis derstenographischen Litteratur Deutschlands etc. (Leipz. 1880 u.1888); Westby-Gibson, The bibliography of short-hand (Lond. u. Bath1887).

Stenographiermaschine, ein neuerdings konstruierterApparat, auf gleicher Idee beruhend und von ähnlicherEinrichtung wie die Schreibmaschine (s. d.), der indessen mitsolcher Schnelligkeit arbeiten soll, daß er gehaltenen Redenwörtlich zu folgen vermag. Dieses Ziel ist aber unerreichbar,und die unter dem Namen S. gehenden Apparate sind in der That nurSchreibmaschinen von größerer Leistungsfähigkeit.Am meisten hat die S. des Italieners Michela von sich redengemacht. Vgl. Petrie, Reporting and transcribing machines (Lond.1882); Guénin, Les machines à écrire (in Nr. 4des "Bulletin de l'Association des sténographes de Paris"vom 1. Febr. 1883). Vgl. Stenotelegraph.

Stenokardie (griech.), Herz- oder Brustkrampf.

Stenokephalen, s. v. w. Dolichokephalen, s.Menschenrassen, S. 475, und Schädellehre.

Stenopäisch (griech.), Bezeichnung für Brillenund andre optische Apparate, welche dem Licht nur durch eine engeÖffnung Zutritt zum Auge gestatten (z. B. zur Verkleinerungvon Zerstreuungskreisen).

Stenops, Lori.

Stenosis (griech.), Verengerung oder auchVerschließung von Gefäßen oder Kanälen,wodurch die normale Zirkulation des Inhalts verhindert wird, so z.B. S. der Herzöffnungen, der Luftröhre etc.

Stenotachygraphie (griech., "Engschnellschrift"), Nameder Kurzschrift von A. Lehmann; s. Stenographie, S. 291.

Stenotelegraph (griech.), von Cassagnes in Parisangegebener elektromagnetischer Druckapparat fürstenographische Zeichen, der die gewöhnlichenTelegraphenapparate an Geschwindigkeit weit übertreffen soll.Als Geber dient der mechanische Stenograph von Michela, welcherseit 1880 im italienischen Senat benutzt wird (vgl.Stenographiermaschine). Michela zerlegt die Wörter in ihrephonetischen Elemente und verwendet zu deren Wiedergabe 20Schriftzeichen, welche mittels einer Klaviatur auf mechanischem Weghervorgebracht werden. Bei Cassagnes ist jede Taste mit einem Poleiner Linienbatterie verbunden, deren andrer Pol an der Erde liegt,und zwar sind zwei Batterien vorhanden, welche mitentgegengesetzten Polen so an den Geber geführt werden,daß die Polarität von Taste zu Taste wechselt. DieTasten stehen mit den Kontaktplatten einer sehrgleichmäßig wirkenden Verteilerscheibe in Verbindung;über dieser Scheibe dreht sich eine metallische Bürste,welche die Leitung in jeder Sekunde mehrmals mit jederKontaktplatte in Berührung bringt. Auf der Empfangsstelle isteine gleichartige Verteilerscheibe mit

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Stenschewo - Stephan.

völlig übereinstimmend sich drehender Bürsteaufgestellt; letztere teilt jeden aus der Leitung kommendenStromstoß einem der 20 mit den Kontaktplatten verbundenenElektromagnete mit, welcher sodann die Wiedergabe desentsprechenden Zeichens auf dem Papierstreifen unter Zuhilfenahmeeiner Lokalbatterie durch eine einfache Druckvorrichtungherbeiführt. Nach jeder Zeichengebung tritt ein 21.Elektromagnet in Thätigkeit, dessen Anker beim Abfallenmittels eines Sperrrades den Papierstreifen um die Breite einesZeichens vorschiebt. Neuerdings hat Cassagnes die Anzahl derKontaktplatten in der Verteilerscheibe vergrößert, umbei jedem Umlauf mehr als ein stenographisches Zeichentelegraphieren zu können; statt einer einzigen Klaviaturtreten dann 2 oder 3 gleichzeitig in Thätigkeit, wobei aufjeder Klaviatur ein andres Telegramm übermittelt wird.Außerdem hat der Erfinder seinen Stenotelegraphen noch zurautomatischen Beförderung eingerichtet, indem er denselben miteinem mechanischen Lochapparat verbindet und den gelochten Streifendurch das Laufwerk der Verteilerscheibe hindurchgehenläßt, wobei eine Anzahl von Kontaktstiften durch dieLöcher des Streifens die zum Abdruck der Schriftzeichendienenden Ströme entsenden. Mit diesem Apparat sollen vonParis aus Versuche auf Entfernungen zwischen 200 und 920 kmangestellt und Leistungen von 12,000-24,000 Wörtern in derStunde erreicht worden sein.

Steuschéwo, Stadt im preuß. RegierungsbezirkPosen, Kreis Posen (West-), hat eine kath. Kirche und (1885) 1506Einw.

Stentando (ital.), musikal. Bezeichnung, s. v. w.hemmend, zögernd. Stentato, s. v. w. ritenuto, aber mit demAusdruck des Gehemmten, Mühevollen; in der Malerei s. v. w.gezwungen, steif.

Stentor, bei Homer ein Thraker (oder Arkadier) miteiserner Stimme, dessen Ruf so laut tönte wie der 50 andrerMänner; daher Stentorstimme.

Stenzel, Gustav Adolf Harald, deutscherGeschichtsforscher, geb. 21. März 1792 zu Zerbst, studierte inLeipzig Theologie und Geschichte, habilitierte sich, nachdem er alsfreiwilliger Jäger den Befreiungskrieg von 1813 mitgemacht, zuLeipzig, 1817 zu Berlin, folgte 1820 einem Ruf als Professor derGeschichte nach Breslau und ward 1821 Archivar des schlesischenProvinzialarchivs. 1848 war er Abgeordneter zur deutschenNationalversammlung in Frankfurt, später Mitglied derpreußischen Zweiten Kammer. Er starb 2. Jan. 1854. Von seinenArbeiten sind hervorzuheben: "Geschichte Deutschlands unter denfränkischen Kaisern" (Leipz. 1827, 2 Bde.); "Geschichte despreußischen Staats" (Hamb. u. Gotha 1830-54, 5 Bde.) und"Geschichte Schlesiens" (Bresl. 1853, Bd. 1). Auch besorgte er dieHerausgabe der "Scriptores rerum silesiacarum" (Bresl. 1835-1851, 5Bde.) und der "Urkunden zur Geschichte Breslaus im Mittelalter"(das. 1845).

Stenzler, Adolf Friedrich, namhafter Sanskritist, geb. 9.Juli 1807 zu Wolgast, studierte 1826-1829 in Greifswald, Berlin undBonn orientalische Sprachen, ging, nachdem er 1829 in Berlinpromoviert, nach Paris, wo er die Vorlesungen von Chezy, S. de Sacyund A. Remusat besuchte, arbeitete dann bis 1833 in der Bibliothekdes East-India House in London und erhielt noch im genannten Jahrdie Professur der orientalischen Sprachen an der UniversitätBreslau, wo er bis 1872 zugleich als Kustos und zweiterBibliothekar an der Universitätsbibliothek thätig war.Seine Hauptwerke sind: "Raghuvansa, Kâlidâsae carmen"(sanskr. u. lat., Lond. 1832); "Kumâra Sambhava,Kâlidâsae carmen" (sanskr. u. lat., das. 1838);"Mricchakatika. i. e. Curriculum figlinum, Sûdrakae regisfabula" (sanskr., Bonn 1847); "Yâjnavalkyas Gesetzbuch"(sanskr. u. deutsch, Berl. 1849); "Indische Hausregeln" (sanskr u.deutsch, 1. Teil: "Acvalâyana" . Leipz. 1864-65, 2 Bde.; 2.Teil: "Pâraskara", das. 1876-78, 2 Bde.); "Elementarbuch derSanskritsprache" (Bresl. 1868, 5. Aufl. 1885); "Meghadûta,der Wolkenbote, Gedicht von Kalidasa" (mit Anmerkungen undWörterbuch, das. 1874); "The Institutes of Gautama" (sanskr.,Lond. 1876); außerdem Abhandlungen in Webers "IndischenStudien" und in der "Zeitschrift der DeutschenMorgenländischen Gesellschaft" (z. B. über die indischenGottesurteile, im 9. Band) und Gelegenheitsschriften. S. starb 27.Febr. 1887 in Breslau.

Stepenitz, rechter Nebenfluß der Elbe impreuß. Regierungsbezirk Potsdam, entspringt bei Meyenburg,fließt in südwestlicher Richtung und mündet nach 75km langem Lauf bei Wittenberge.

Stepenitz (Groß- S.), Flecken im preuß.Regierungsbezirk Stettin, Kreis Kammin, am Einfluß desGubenbachs in das Papenwasser, hat eine evang. Kirche, einAmtsgericht, eine Oberförsterei, Sägemühlen,Fischerei, Dampfschiffahrt nach Stettin und (1885) 1572 Einw.

Stephan, Name von zehn Päpsten: 1) S. I., einRömer, folgte 253 Lucius als Bischof von Rom und entschied denStreit über die Ketzertaufe dahin, daß auch eine solchegültig sei; er starb 2. Aug. 257, nach der Sage alsMärtyrer, und ward später kanonisiert. Sein Tag ist der2. August. -

2) S. (II.), gewählt 27. März 752, starb zwei Tagenach der Wahl; wird daher gewöhnlich nicht gezählt. -

3) S. II. (III.) bestieg den päpstlichen Stuhl 752. Als erden Kaiser Konstantin Kopronymos gegen den LangobardenkönigAistulf, welcher das Exarchat eroberte, vergebens um Schutzangefleht hatte, rief er die Hilfe des Königs der Franken,Pippin, an und erhielt 755 von diesem das wiedereroberte Exarchatnebst der Pentapolis geschenkt, wodurch der Grund zum Kirchenstaatgelegt ward. S. starb 26. April 757. -

4) S. III. (IV.), ein Sizilier, folgte auf Paul I. nachAbfetzung des Gegenpapstes Konstantin 768 und bestimmte, daßkeiner, der nicht durch alle niedern Stufen der Geistlichkeit biszur Würde eines Kardinaldiakonus gestiegen sei, auf denpäpstlichen Stuhl erhoben werden sollte. Von demLangobardenkönig Desiderius bedrängt, suchte er bei denFrankenkönigen Karl und Karlmann Hilfe. Er starb 772. -

5) S. IV. (V.), erst Diakonus zu Rom, Nachfolger Leos III. seit816, krönte den Kaiser Ludwig den Frommen; starb 817. -

6) S. V. (VI.), ein Römer, solgte auf Hadrian III. 885,krönte den Herzog Guido von Spoleto zum Kaiser; starb 891.-

7) S. VI. (VII.) bestieg 896 den römischen Stuhl,ließ den ausgegrabenen Leichnam seines VorgängersFormosus in den Tiber werfen, wurde aber selbst schon 897 im Kerkererdrosselt. -

8) S. VII. (VIII.), ein Römer, Nachfolger Leos VI. seit929, stand ganz unter dem Weiberregiment der Theodora und Marozia;starb 931. -

9) S. VIII. (IX.), Verwandter des Kaisers Otto, folgte 939 LeoVII., ward aber von den Römern gefangen gesetzt und starb 942.-

10) S. IX. (X.) hieß früher Friedrich und war Bruderdes Herzogs Gottfried von Lothringen, ward vom Papst als Gesandternach Konstantinopel geschickt, blieb dann als Mönch in MonteCassino, ward Kardinal und nach Viktors II. Tod 1057 zum Papstgewählt. Als solcher stand er ganz unter dem Ein-

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Stephan (Fürsten) - Stephan (Zuname).

fluß Hildebrands. Er starb bereits 29. März 1058 inFlorenz. Vgl. Wattendorf, Papst S. IX. (Münster 1883).

Stephan, Name mehrerer Fürsten. Bemerkenswertsind:

1) S. von Blois, König von England, ward nach dem TodKönig Heinrichs I., dessen Schwester Adele seine Mutter war,1135 von den normännischen Großen an Stelle vonHeinrichs Tochter Mathilde als König anerkannt, wofür erden Prälaten und Baronen einen umfassenden Freibriefgewährte. Die Widersetzlichkeit der Großen suchte ernicht immer mit Erfolg durch vlämische und französischeSöldner niederzuhalten. Mit Schottland kämpfte erglücklich, als aber 1139 die von der Thronfolgeausgeschlossene Mathilde in England landete, fiel S. 1141 selbst inihre Gewalt, ward 1142 zwar befreit, behauptete sich aber nur unterfortwährenden Kämpfen im Besitz der Herrschaft und starb25. Okt. 1154, nachdem er Mathildens Sohn Heinrich Plantagenet alsErben anerkannt hatte.

2) Erzherzog von Österreich, Sohn des Erzherzogs Joseph(gest. 1847) und dessen zweiter Gemahlin, Hermine, gebornenPrinzessin von Anhalt-Bernburg-Schaumburg, geb. 14. Sept. 1817,wurde im Dezember 1843 Zivilgouverneur von Böhmen, 1847 nachdem Tod seines Vaters zum stellvertretenden Palatin von Ungarnernannt und im November d. J. durch die Wahl des Reichstags und dieBestätigung des Kaisers definitiv mit dieser Würdebetraut. Infolge der Märzereignisse 1848 wurde seine Stellungsowohl der nationalen Partei als auch der österreichischenRegierung gegenüber eine unhaltbare, namentlich als er imSeptember vom Reichstag zum Oberbefehlshaber der ungarischen Armeegegen Jellachich ernannt worden war; er entsagte daher 24. Sept.dem Palatinat, zog sich 1850 auf seine Besitzungen in Nassau(Grafschaft Holzappel und Schaumburg) zurück und starb 19.Febr. 1867 in Mentone. Vgl. "Erzherzog S. Viktor vonÖsterreich, sein Leben, Wirken etc." (Wiesb. 1868).

3) Bathori, König von Polen, geb. 1532 aus einer vornehmenungarischen Familie (s. Bathori), ward 1571 von densiebenbürgischen Ständen zum Großfürsten vonSiebenbürgen und 1575, nachdem er die Jagellonische PrinzessinAnna geheiratet, vom polnischen Reichstag zum König von Polenerwählt. Er verbesserte die Rechtspflege, suchte demJesuitenorden gegenüber die Gewissensfreiheit der Protestantenzu schützen, kämpfte im Bund mit Schweden glücklichgegen die Russen (1578-82) und eroberte einen Teil Livlands,versuchte aber mit seinem Günstling Zamojski vergeblich, einstarkes nationales Königtum in Polen zu schaffen und die Kronein seinem Geschlecht erblich zu machen. Er starb 12. Dez. 1586 inGrodno.

4) S. I., der Heilige, erster König von Ungarn, 997-1038,war der Sohn des Herzogs Geisa, Urenkels des GroßfürstenArpad (s. d.), hieß ursprünglich Wajk, ward 995 inseinem 20. Lebensjahr angeblich durch den Bischof Adalbert von Pragzum Christentum bekehrt und nahm in der Taufe den Namen Stephanusan. Mit der bayrischen Herzogstochter Gisela vermählt, zog erzahlreiche Deutsche nach Ungarn und rottete, zur Regierung gelangt,das Heidentum mit Feuer und Schwert in seinem Land aus. Er nahm denKönigstitel an, ließ sich mit der vom Papst SilvesterII. ihm gesandten Krone 1001 krönen und gab dem Land eineVerfassung, durch welche die Krone im Geschlecht Arpads fürerblich erklärt und eine geregelte politische Verwaltungeingeführt wurde. Die widerspenstigen Stammeshäuptlingeim Süden und Osten seines Landes zwang er in siegreichenKämpfen zur Anerkennung seiner Herrschaft. Er starb 1038 undward 1087 heiliggesprochen (sein Tag der 20. August). Nach ihmwerden Ungarn und seine Teile die "Länder der Stephanskrone"genannt. - S. II.-V., s. Ungarn (Geschichte).

Stephan, 1) Martin, Stifter einer nach ihm benanntenSekte, geb. 13. Aug. 1777 zu Stramberg in Mähren, machte, seit1810 Pfarrer der böhmischen Gemeinde in Dresden, hier, imMuldenthal und im Altenburgischen Propaganda für einstarkgläubiges Altluthertum. Seine Veranstaltung vonnächtlichen Erbauungs- und Erholungsstunden veranlagte endlichdie Einleitung einer Untersuchung gegen ihn; er entzog sich jedochderselben, indem er im Oktober 1838 sich von Bremen mit 700 seinerAnhänger nach Amerika einschiffte, wo er bereits zu Wittenbergam Mississippi Ländereien hatte ankaufen lassen. Er ließsich dort zum Bischof ernennen, ward aber schon 30. Mat 1839 wegenUnzucht und Veruntreuung von seiner Gemeinde abgesetzt und nachIllinois gebracht, wo er 21. Febr. 1846 starb. Über S. undseine Sekte schrieben unter andern v. Polenz (Dresd. 1840) undVehse (das. 1842).

2) Heinrich von, Staatssekretär des deutschenReichspostamtes, geb. 7. Jan. 1831 zu Stolp in Pommern, trat 1848in das Postfach ein, wurde 1856 als Geheimer expedierenderSekretär ins Generalpostamt nach Berlin berufen, 1858 zumPostrat, 1865 zum Geheimen Postrat und vortragenden Rat ernannt. Indieser Zeit war er in besonders hervorragender Weise auf dem Gebietder internationalen Postreform thätig, indem er denAbschluß von Postverträgen mit fast alleneuropäischen Staaten bewirkte. Daneben fand er Gelegenheit,sich reiche Sprachkenntnisse zu erwerben und durch weite Reisen dieinternationalen Kulturhebel des Postwesens näher kennen zulernen. Nachdem S. 1866 und 1867 die Verhandlungen zur Beseitigungder Thurn und Taxisschen Lehnspostwesens beendet und die taxisschePost durch einen Staatsvertrag vom 28. Jan. 1867 an die KronePreußen übereignet hatte, wurde er im April 1870 zumGeneralpostdirektor und obersten Chef des Postwesens desNorddeutschen Bundes ernannt. Gleich in den ersten Monaten seinerVerwaltung trat die große Aufgabe der Entwickelung derdeutschen Feldpost im deutsch-französischen Krieg an ihnheran, welche von ihm in vollendeter Weise gelöst wurde. 1871wurde S. zum kaiserlichen Generalpostdirektor, 1876 nach erfolgterVerschmelzung der Telegraphenverwaltung mit der Post zumGeneralpostmeister und 1879 zum Staatssekretär des deutschenReichspostamtes ernannt. Nach der Errichtung des Reichspostwesensbegann S. das Werk des innern Ausbaues, welches eine neue Epochefür das Postwesen eröffnete und die deutsche Reichspostzu mustergültiger Höhe erhoben hat. Er schuf eineeinheitliche Postgesetzgebung, führte den einheitlichen Tariffür Pakete durch, führte das von ihm erfundene neueVerkehrsmittel der Postkarten ein, rief den Postanweisungs- undPostauftragsverkehr sowie die für den litterarischen Verkehrwichtige Bücherpost ins Leben und führte eine Reiheerheblicher Erleichterungen bei Benutzung der Postanstalt ein. Dannfolgte 1875 die auf Stephans Veranlagung eingeleitete Vereinigungder Telegraphie mit der Reichspost, welche zur Folge hatte,daß die Zahl der deutschen Telegraphenanstalten sich seitdemvon 1700 auf 13,000 gehoben hat. Das bedeutendste Werk Stephansaber war die Gründung

294

Stephani - Stephansorden.

des Weltpostvereins. Er hat diese Bildung zuerst angeregt undsie mit umsichtiger und kräftiger Hand gefördert, sodaß dieser Gemeinschaft jetzt mit geringen Ausnahmen allezivilisierten Staaten der Erde angehören. Daneben hat S. inumfassendster Weise für Hebung der materiellen Lage und desgeistigen Wohls der Post- und Telegraphenbeamten (KaiserWilhelm-Stiftung für die Post- und Telegraphenbeamten,Bewilligung von Stipendien für Studienreisen, Einrichtung derPostspar- und Vorschußvereine, deren Vereinsvermögenjetzt 14 Mill. Mk. beträgt, Errichtung der Post- undTelegraphenschule in Berlin mit akademischem Lehrkursus, Errichtungdes Reichspostmuseums, Gründung von Amtsbibliotheken,Sonntagsruhe etc.) gesorgt. Bis in die neueste Zeit hinein hat S.die umfassendsten Umgestaltungen sowohl bei der Post als bei derTelegraphie durchgeführt; die Zahl der Postanstalten wurde von5400 im J. 1871 auf 18,000 im J. 1888 erhöht. Das flache Landist mit einem dichten Netz von Landbriefträgerverbindungen zuFuß und zu Wagen durchzogen (Verstärkung der Zahl derLandbriefträger im Reichspostgebiet von 10,000 auf über20,000), in den Städten machen die Fernsprecheinrichtungenzusehends Fortschritte; unterirdische Telegraphenleitungen sorgenfür eine von atmosphärischen Störungenunabhängige Zuverlässigkeit des Verkehrs;überseeische Kabel und Postverbindungen haben sich von Jahr zuJahr vermehrt, und seit 1886 haben die auf Stephans Initiative insLeben gerufenen deutschen subventionierten Postdampfschiffe ihreFahrten eröffnet. In den ersten zehn Jahren nach Gründungdes Weltpostvereins lieferte die Verwaltung unter Stephans Leitung180 Mill. Überschuß an das Reich ab. S. gründete imVerein mit Werner Siemens den Elektrotechnischen Verein in Berlin,welchem er seit seiner Errichtung als Ehrenpräsident vorsteht.Er ist Mitglied des preußischen Herrenhauses (seit 1872) unddes preußischen Staatsrats, Ehrendoktor der UniversitätHalle und Ehrenbürger der Städte Stolp und Bremerhaven.Auch als Schriftsteller zeichnete sich S. aus. Außer einem"Leitfaden zur Anfertigung schriftlicher Arbeiten für jungePostbeamte" schrieb er: "Geschichte der preußischen Post"(Berl. 1859), "Das heutige Ägypten" (Leipz. 1872), "Weltpostund Luftschiffahrt" (Berl. 1874) sowie zahlreiche kleinere Essays.Er begründete das "Archiv für Post und Telegraphie" undgab das "Poststammbuch" (3. Aufl., Berl. 1877) heraus.

3) (Meister Stephan), s. Lochener.

Stephani, 1) Heinrich, verdienter Pädagog derAufklärungszeit, geb. 1. April 1761 zu Gemünden imWürzburgischen, studierte zu Erlangen, ward 1808 bayrischerKirchen- und Schulrat und 1818 Dekan in Gunzenhausen, trat aber1834 infolge von theologischen Streitigkeiten vom geistlichen Amtzurück und starb 24. Dez. 1850 zu Gorkau in Schlesien. Erveröffentlichte zahlreiche ihrer Zeit angesehene theologische,kirchenrechtliche, pädagogische und methodologische Schriften.Sein bleibendes Verdienst besteht in der Ausbildung undEinführung der Lautiermethode beim ersten Leseunterricht,welche vom Lautwert der Buchstaben ausgeht, statt, wie dieältere Buchstabiermethode, von den Lautzeichen und Namen derBuchstaben.

2) Ludolf, Philolog und Archäolog, geb. 29. März 1816zu Beucha bei Leipzig, studierte hier, erhielt auf Grund seinerkunstgeschichtlichen Schrift "Der Kampf zwischen Theseus undMinotaurus" (Leipz. 1842) durch Gottfr. Hermanns Empfehlung eineHauslehrerstelle in Athen, gab diese aber bald auf, um zuwissenschaftlichen Forschungen eine Reise durch Nordgriechenlandund Kleinasien zu unternehmen, die sich schließlich bisUnteritalien und Sizilien erstreckte. Nach seiner Rückkehrfolgte er 1846 einem Ruf als Professor der Philologie an dieUniversität Dorpat und siedelte von da 1850 nach Petersburgüber, wo er als Mitglied der Akademie der Wissenschaften undKonservator der klassischen Altertümer eine große underfolgreiche Thätigkeit entwickelte. Er starb 11. Jun. 1887 inPawlowsk. Seine Hauptwerke sind: "Reise durch einige Gegenden desnördlichen Griechenland" (Leipz. 1843); "Über einigeangebliche Steinschneider des Altertums" (das. 1851); "Derausruhende Herakles" (das. 1854); "Antiquités du BosphoreCimmérien" (Petersb. 1854, Prachtwerk mit Bilderatlas);"Nimbus und Strahlenkranz in den Werken der alten Kunst" (das.1859); "Die Vasensammlung der kaiserlichen Eremitage" (das. 1869, 2Bde); "Die Antikensammlung zu Pawlowsk" (das. 1872) etc. ZahlreicheAbhandlungen von S. enthalten die "Comptes rendus" der kaiserlichenArchäologischen Kommission.

Stéphanie, Louise Adrienne Napoléone,Großherzogin von Baden, Tochter des Grafen Claude deBeauharnais (s. Beauharnais 1) und Nichte der Kaiserin Josephine,geb. 28. Aug. 1789, war 1806 von Napoleon I. adoptiert, zur Fillede France und kaiserlichen Hoheit erklärt und 8. April mitKarl Ludwig Friedrich, Erbgroßherzog von Baden,vermählt, welcher ihr aber mehrere Jahre lang entschiedeneAbneigung zu erkennen gab, da er nur gezwungen die Ehe eingegangenwar. Seit 1811 Großherzogin, aber seit 1818 verwitwet,residierte sie in Mannheim und starb 29. Jan. 1860 in Nizza. Siehinterließ zwei Töchter, Josephine, geb. 21. Okt. 1813,Witwe des Fürsten Karl Anton von Hohenzollern-Sigmaringen, undMaria, geb. 11. Okt. 1817, seit 1863 verwitwete Herzogin vonHamilton, gest. 18. Okt. 1888; ihre Söhne waren kurz nach derGeburt gestorben.

Stephanit, s. Sprödglaserz.

Stephanos, röm. Bildhauer zur Zeit Cäsars,durch eine Knabenstatue in Villa Albani bekannt, Schüler desPasiteles (s. d.).

Stephanos von Byzanz, griech. Grammatiker, lebte in derersten Hälfte des 6. Jahrh. n. Chr. und ward bekannt alsVerfasser eines umfangreichen geographischen Wörterbuchs("Ethnica"), das uns aber nur noch in einem Auszug des GrammatikersHermolaos erhalten ist. Die besten Ausgaben sind die von Westermann(Leipz. 1839) und Meineke (Berl. 1849).

Stephansfeld, Irrenanstalt, s. Brumath.

Stephanskörner, Stephanskraut, s. Delphinium.

Stephauskrone, s. Stephan 4).

Stephansorden. 1) Königlich ungarischerZivilverdienstorden, von Maria Theresia als Pendant desMilitär-Maria-Theresienordens 5. Mai 1764 gestiftet und unterden Schutz des heil. Stephan gestellt. Großmeister ist derKönig von Ungarn. Der Orden soll 100 Ritter und drei Gradehaben. Die Dekoration besteht in einem achteckigen, grünemaillierten, goldgeränderten Kreuz mit der Stephanskrone; imrot emaillierten Mittelschild steht auf einer goldenen, auf einengrünen Berg gestellten Krone ein silbernes apostolisches Kreuzund zu beiden Seiten M. T. mit der Umschrift: "Publicum meritorumpraemium"; auf dem Revers, umgeben von einem Eichenkranz: "STO.ST.R.I.AP." Das große

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Stephansstein - Stephenson.

Kreuz tragen die Ritter erster Klasse und Kommandeure, daskleine die Ritter, sämtlich am grünen Band mit rotemStreifen in der Mitte in der üblichen Weise. DieGroßkreuze tragen dazu einen brillantierten Silberstern, indessen Mitte das Ordensmedaillon angebracht ist, und außerdemnoch eine Kette aus S S und M T, der Königskrone und einemWolkenkranz, in dem ein Band die Inschrift: "Stringit amore"trägt, und zwischen dem ein Adler schwebt.

Auch hat der Orden, der nur dem Adel zugänglich, einebesondere Ordenskleidung, Beamte und seinen Ordenstag an St.Stephan. Die Großkreuze heißen Kousins des Königs.Vgl. Dominus, Der S. und

seine Geschichte (Wien 1873). - 2) ToscanischerMilitärorden, gestiftet 1562 von Cosimo de Me-

dici zur Bekämpfung der Seeräuberei und Verteidigungdes Glaubens, mit religiöser Observanz, wurde 22. Dez. 1817vom Großherzog Ferdinand III. erneuert und in vier Grade:Prioren- Großkreuze, Bali-Großkreuze, Kommendatoren undRitter (di giustizia und di grazia), eingeteilt. Jeder Adlige vonvier Ahnen, mit freiem Einkommen von 300 Skudi aus seinem Besitz,hat Anspruch auf den Orden, der in der Familie erblich ist, wennder Ritter eine Kommende als Majorat stiftet. Die Cavalieri digrazia erhalten solche Kommende für ihre Verdienste. DieDekoration besteht in einem achtspitzigen, rot emaillierten Kreuzmit Krone und goldenen Lilien in den Winkeln, das an rotem Band vonden drei ersten Klassen am Hals, von den Rittern im Knopflochgetragen wird. Die Plaque wird auf der Brust getragen. ViktorEmanuel hob den Orden 16. Nov. 1859 auf.

Stephansstein, s. Chalcedon.

Stephanus, Name zahlreicher Heiligen derrömisch-katholischen Kirche, von denen besonders zu nennensind : 1) Einer der sieben Armenpfleger der Christengemeinde zuJerusalem, der, ein eifriger Verkündiger des Evangeliums, vomfanatischen Pöbel als Gotteslästerer 36 oder 37gesteinigt wurde und deshalb für den ersten Märtyrer gilt(Apostelgesch. 6 und 7); sein Tag ist der 26. Dezember. DieSteinigung des S. wurde in der bildenden Kunst häufigdargestellt, namentlich von Raffael (in den Teppichen desVatikans), von Giulio Romano (in Santo Stefano zu Genua) u. a. 2)Erster König von Ungarn, s. Stephan 4).

Stephanus, Gelehrtenfamilie, s. Estienne.

Stephens, 1) Alexander Hamilton, amerikan. Politiker,geb. 11. Febr. 1812 zu Taliafero in Georgia, ward im FranklinCollege erzogen und studierte die Rechte, worauf er sich 1834 zuCrawfordsville in Georgia als Advokat niederließ,gleichzeitig aber sich der Politik widmete. Schon 1836 wurde er indie Legislatur, 1842 in den Senat von Georgia gewählt und 1843zum Mitglied des Repräsentantenhauses ernannt, welchem er bis1859 angehörte. Er schloß sich zuerst der Partei derWhigs, dann der demokratischen an, stimmte 1854 für dieKansas- und Nebraskabill und betrieb 1856 mit Eifer die WahlBuchanans zum Präsidenten. 1859 schied er aus demKongreß, weil er die extremen Ansichten derSklavenhalterpartei nicht billigte, wie er 1861 auch anfangs

gegen die Sezession war. Dennoch ließ er sich zumVizepräsidenten der südlichen Konföderationwählen und bekleidete diesen Posten bis zu deren Untergang1865. Er wurde auf Befehl der Unionsregierung verhaftet und nachFort Warren bei Boston gebracht, im Oktober 1865 aber freigelassen.1872-77 wieder demokratisches Mitglied des Kongresses, bemühteer sich um die Versöhnung der Parteien. Seit 1882 Gouverneurvon Georgia, starb er 4. März 1883. Er veröffentlichte:"A constitutional view of the late war between the states" (Philad.1869, 2 Bde.); "Compendium of the history of the U.S. (neue Ausg.,New York 1883). Ein Teil seiner Reden und Briefe wurde vonCleveland ("A. H. S.. in public and private life", Philad. 1867)herausgegeben.

2) George, Archäolog und Philolog, geb. 13. Dez. 1813 zuLiverpool, kam mit 20 Jahren nach Schweden, dessen Bibliotheken erbehufs altnordischer Studien eifrig durchforschte, wurde 1851 ander Universität zu Kopenhagen angestellt und 1855 zumProfessor ernannt. Sein Hauptwerk ist: "The old-northern Runicmonuments of ScandinaVia and England" (Lond. u. Kopenh. 1866-84, 3Bde.; abgekürzte Ausg. 1884). Von seinen übrigenSchriften sind zu ermähnen: "Bihang till Frithiofs saga"(1841); "Svenska folksagor och afventyr" (1844) und "Sverigeshistoriska och politiska visor" (1853); die beiden letzternSchriften sind im Verein mit G.O. Hylten-Cavalliusherausgegeben.

Stephenson (spr. stihwensson), 1) George, derHauptbegründer des Eisenbahnwesens, geb. 8. Juni 1781 zu Wylambei Newcastle als Sohn eines Kohlenarbeiters, arbeitete sich voneinem gewöhnlichen Maschinisten zum Direktor der großenKohlenwerke des Lord Ravensworth bei Darlington empor und baute1812 die erste Lokomotive fürdas Kohlenwerk Killingworth. 1824gründete er in Newcastle eine Maschinenfabrik, und imfolgenden Jahr wurde nach seinem Prinzip die erste Eisenbahn zurBeförderung von Personen zwischen Stockton und Darlingtonangelegt. Er gehörte zu den ersten, welche hierbei dieAnwendung glatter walzeiserner Schienen befürworteten undderen Konstruktion verbesserten. Die Erbauung derLiverpool-Manchester-Eisenbahn 1829 begründete seinen Ruffür immer. Bei der berühmten Preisausschreibung fürdie beste und schnellste Lokomotive dieser Bahn, welche ihrdreifaches Gewicht mit 10 engl. Meilen Geschwindigkeit in derStunde ziehen sollte,

ohne Rauch zu erzeugen, errang Stephensons Rocket den Preis,indem sie ihr fünffaches Gewicht zog und 14-20 engl. Meilen inder Stunde zurücklegte, also die gestellten Bedingungen weitübertraf. Dieser Erfolg war hauptsächlich derEinführung des eine lebhaftere Verbrennung erzeugendenBlasrohrs sowie des nach einer Idee Booths, desGeneralsekretärs der Gesellschaft, zu einer größernDampfentwickelungsfähigkeit geeigneten Röhrenkesselszuzuschreiben. Von da an leitete S. den Bau der bedeutendstenEisenbahnen in England oder baute Maschinen für dieselben undwurde zu gleichem Zweck nach Belgien, Holland, Frankreich,Deutschland, Italien und Spanien berufen. Er war zuletzt auchEigentümer mehrerer Kohlengruben und der großenEisenwerke von Claycroß und starb 12. Aug. 1848 in TaptonHouse bei Chesterfield. Seine Statue ward in Newcastle auf derStephensonbrücke aufgestellt. Vgl. Smiles, The life of GeorgeS. (Lond. 1884).

2) Robert, Baumeister, Sohn des vorigen, geb. 16. Dez. 1803 zuWilmington, studierte in Edinburg,

unterstützte seinen Vater bei dessen Unternehmungen,leitete den Bau mehrerer Eisenbahnlinien, verbesserte dieLokomotive, erbaute die unter dem Namen High Lewel Bridge bekannteeiserne Bogenhängwerkbrücke bei Newcastle, welche insechs Öffnungen von je 37,5 m Weite und 25,8 m Höhe denTyne überspannt, und erfand unter andern die sogen. Tubular-oder Röhrenbrücken, welche aus Blech zusammengesetzt undso weit sind, daß sie einem Eisenbahnzug die Durchfahrtgestatten. Eine Riesenbrücke dieser Art,

296

Steppe - Sterblichkeit.

die bekannte Britanniabrücke (s. d.), erbaute er von 1847bis 1850 über den Menaikanal, indem er deren Röhren andem Ufer zusammensetzte, auf Pontons zwischen die Pfeilerflößte und mittels hydraulischer Pressen bis zu dem Orteihrer Bestimmung aufzog. Das bedeutendste Beispiel dieserBrückengattung ist die von S. entworfene, 3 km langeViktoriabrücke bei Montreal in Kanada, welche den St.Lorenzstrom in 25 Öffnungen überspannt, deren mittlereeine Weite von 100,58 m besitzt. S. starb 12. Okt. 1859. Sein"Report on the atmospheric railway-system" wurde von Weber (Berl.1845) deutsch bearbeitet. Vgl. Smiles, Lives of George and RobertS. (8. Aufl., Lond. 1868); Jeaffreson und Pole, Life of Robert S.(das. 1864, 2 Bde.).

Steppe (v. russ. stepj, "flaches, dürres Land"), inder Erdkunde Bezeichnung für ausgedehnte Ebenen, die nur mitGras und Kräutern bewachsen sind, auch wegen Mangels anBewässerung keinen Anbau gestatten, in ihrem sonstigenphysiognomischen Charakter aber von der geognostischenBeschaffenheit des Bodens und dem Klima abhängig sind (vgl.Ebene). Die Steppen stellen mannigfaltige Übergänge zuden Wüsten dar und sind entweder Salzsteppen, deren kahlerBoden effloreszierendes Salz und magere Vegetation von Salzpflanzenträgt, oder mit Gerölle bedeckte Steinsteppen odereigentliche Grassteppen, die sich nach dem Regen mit einem dichtenund einförmigen Pflanzenteppich überziehen, derenAckerkrume aber nicht tief genug ist, als daß Bäumedarin Wurzel schlagen könnten; auch die mit Flechten undMoosen überzogenen Sumpfsteppen (Tundren) sind hierher zurechnen. Die Steppen kommen unter verschiedenen Namen in allenKontinenten vor; sie heißen im südlichen Rußlandund in Westasien Steppen, im nordwestlichen Deutschland Heiden, imsüdwestlichen Frankreich Landes, in Ungarn Pußten, inNordamerika Savannen und Prärien, in Südamerika Llanosund Pampas etc. Vgl. Humboldt, Über die Steppen undWüsten (in den "Ansichten der Natur", zuletzt Stuttg.1871).

Steppenhuhn (Syrrhaptes Ill.), Gattung aus der Ordnungder Scharrvögel und der Familie der Flughühner(Pteroclidae), gedrungen gebaute Vögel mit kleinem Kopf,kurzem, seitlich wenig komprimiertem, auf der Firste leichtgebogenem Schnabel, sehr spitzen Flügeln, in welchen die ersteSchwinge am längsten, nach der Spitze hin verschmälertund fast borstenartig ist, bis zur Spitze der Zehen mitzerschlissenen, daunenartigen Federn bekleideten, kleinenFüßen, fehlender Hinterzehe, durch eine Haut verbundenenVorderzehen und breiten, kräftigen Nägeln. Das S.(Fausthuhn, S. paradoxus Ill.), ohne die verlängertenMittelschwanzfedern 39 cm lang und ohne die verlängertenSchwingenspitzen 60 cm breit, am Kopf und Hals aschgrau, Kehle,Stirn und ein Streif über dem Auge lehmgelb, mit schwarzem undweißem Brustband, an der Brust grau isabellfarben, amÖberbauch schwarzbraun, Unterbauch hell aschgrau, Rückenlehmgelb, dunkel gefleckt und quergestreift, Schwingen aschgrau,die vorderste schwarz gesäumt, Schwanzfedern gelb, dunkelgebändert. Es bewohnt die Steppe östlich vom KaspischenMeer bis zur Dsungarei, im W. nördlich bis 46°, im O. nochdie Hochsteppen des südlichen Altai, geht im Wintersüdlich bis zum Südrand der Gobi, lebt im Frühjahrin kleinen Trupps, im Herbst in größern Flügen, inwelchen aber die Paare stets beisammen bleiben. Sie laufen rasch,aber nicht anhaltend, fliegen schneller und schneidender als Taubenund nisten in kleinen Gesellschaften. Das Gelege besteht aus vierhell grünlichgrauen bis schmutzig bräunlichgrauen Eiern.1860 zeigten sich Fausthühner in Holland und England, 1861 inNorwegen und Nordchina, 1863 aber erfolgte eine großeEinwanderung, welche sich von Galizien bis Island, vonSüdfrankreich bis zu den Färöerinseln ausdehnte. AufBorkum verschwanden die letzten im Oktober. Aber noch im folgendenJahr wurden sie in Deutschland mehrfach beobachtet, und inJütland und auf mehreren dänischen Inseln haben sie auchgebrütet. Eine ähnliche Einwanderung erfolgte 1888, bliebindes ebenfalls ohne weitere Folgen; nur im SO. Europas hat sichdas S. seßhaft gemacht. In der Gefangenschaft hält essich recht gut. Vgl. Holtz, Über das S. (Greifsw. 1888).

Steppenhund, s. Hyänenhund.

Steppenkuh, s. Antilopen, S. 640.

Steppstich, s. Nähen.

Ster (franz. stere, v. griech. stereos, starr, fest),Körpermaß (besonders Holzmaß), = 1 cbm, und zwarentweder Festmeter (fm) = 1 cbm fester Masse, oder Raummeter (rm) =1 cbm Schichtmaß.

Sterbekassen (Grabe-, Leichenkassen, Totenladen,Sterbeladen, Begräbniskassen) sind kleine, im wesentlichen dieDeckung der Beerdigungskosten bezweckende genossenschaftliche, oftzweckmäßig mit Krankenkassen verbundeneLebensversicherungsanstalten, welche im Todesfall das Sterbegeld andie Erben auszahlen oder, wenn solche nicht vorhanden, auch wohldie Beerdigung selbst besorgen. Es gab solche nachweisbar schon inRom und bei den alten germanischen Völkern. Sie sind inDeutschland sehr verbreitet und werden namentlich von den unternKlassen benutzt, ohne daß es jedoch möglich wäre,genauere Zahlenangaben über dieselben zu machen. S. bestehenauch als Nebenzweige von etwa zehn deutschen großenLebensversicherungsanstalten, meistens aber sind sie kleinerePrivatvereine, an welchen die Beteiligung entweder nur einerbestimmten Zahl von Personen (geschlossene Kassen) oder einer nichtfestgesetzten Zahl von Mitgliedern, entweder nur Personenbestimmter Kategorien (z. B. Beamten derselben Behörde,Arbeitern derselben Fabrik, Personen bestimmten Berufs etc.) oderjedem Beitrittswilligen offen steht. Viele derselben werden inalter unrationeller Weise ohne genügende Abstufung derPrämien (hier oft Totenopfer genannt) und ohne richtigeBemessung der Prämienreserven verwaltet und sind deshalb zumTeil wenig lebensfähig, doch haben es manche bereits zu hohemAlter gebracht. In England gehören viele S. zu denhauptsächlichsten Einrichtungen der Friendly Societies (s.d.), welchen gesetzlich verboten ist, für den Sterbefall vonFrau und Kind mehr als die Begräbniskosten zu versichern. Vgl.Lebensversicherung und Krankenkassen; Hattendorf, Über S.(Götting. 1867); Heym, Die Grabekassen (Leipz. 1850);Fleischhauer, Die Sterbekassenvereine (Weim. 1882).

Sterbelehen, Abgabe, welche bei einem durch den Todherbeigeführten Wechsel in der Person des Lehnsherrn oder desBeliehenen entrichtet werden mußte.

Sterbender Fechter, s. Gallierstatuen.

Sterbequartal, s. v. w. Gnadenquartal (s. Pension, S.832). Vgl. Deservitenjahr.

Sterbethaler, s. Begräbnismünzen.

Sterbevogel, s. Seidenschwanz.

Sterbfall, s. Bauer, S. 464.

Sterblichkeit (Sterblichkeitsziffer, Mortalität),das Verhältnis der Zahl der Gestorbenen einer Zeiteinheit(gewöhnlich das Jahr) zur Zahl derjeni-

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Sterblichkeit (statistisch).

gen, welche vorher am Leben waren. Dagegen versteht man unterIntensität der S. den Bruch, welchen man erhält durchDivision einer Anzahl Gestorbener durch die Zeit, welche diePersonen, aus denen jene weggestorben sind, während der Dauerdes Absterbens zusammen durchlebt haben. Zu unterscheiden ist dieS. einer gesamten Bevölkerung und diejenige einer Gruppe,insbesondere von gleichaltrigen Personen. So kamen im DeutschenReich im Durchschnitt der Jahre 1841-85 je auf 10,000 Köpfeder mittlern Bevölkerung 281,6 Todesfälle, die S. stelltesich demnach rund auf 0,028, dagegen findet man andre Zahlenfür verschiedene Altersklassen. Die Feststellung der S. istnicht allein für die Wissenschaft, sondern auch für diePraxis (Lebensversicherung, Gesundheitspflege etc.) von hoherWichtigkeit. Eine Tausende von Jahren umfassende Erfahrung hat zudem bekannten Satz geführt, daß jeder Mensch einmalstirbt. Wenn man auch das höchste überhaupt nurerreichbare Alter nicht kennt, so hat man doch beobachtet,daß die Zahl derjenigen, welche die Grenze von 90 und 100Jahren überschreiten, außerordentlich klein ist. Manfand ferner, daß die S. verschiedener Altersklassen, sobaldsie nur für genügend große Zahlen ermittelt wird,gewisse Regelmäßigkeiten aufweist. Diese Thatsache gabdazu Veranlassung, an der Hand von Volkszählungen Geburts-,Sterbelisten etc., Sterblichkeit (Überlebens-,Mortalitäts-) Tafeln oder Absterbelisten aufzustellen (dieersten von den Engländern Graunt 1661 und Halley 1691, vomHolländer Kerseboom 1742, vom Franzosen Deparcieux 1746, vomSchweden Wargentin 1766). Aus denselben ist die Absterbeordnung, d.h. die Art zu ersehen, wie eine Anzahl Gleichalteriger(Neugeborner) sich durch Absterben von Jahr zu Jahr mindert. DieseTafeln haben nur dann eine Bedeutung, wenn sie aus großenZahlen gewonnen werden. Sie geben alsdann die Wahrscheinlichkeitdes Sterbens an, ihreZahlen werden darum in Wirklichkeit um so mehrzutreffen, auf eine je größere Zahl von Personen sieangewandt werden. So wird die Zahl derjenigen, welche von 1 Mill.30jährigen Männern in den nächsten zwölfMonaten sterben werden, nicht viel von 0,928 Proz. abweichen,während der Prozentsatz, welcher von einer gegebenen kleinenAnzahl wirklich sterben wird, erheblich größer oderkleiner sein kann. Dann dürfen die Tafeln nur auf solcheBevölkerungsmassen angewandt werden, welche denen gleichartigsind, die Gegenstand der Erhebung waren. Denn die S. istverschieden je nach Wohnort (Stadt, Land, Gegend), Geschlecht (imallgemeinen geringere S. des weiblichen Geschlechts), Beruf (Gefahrfür Gesundheit, Anstrengung, Aufregung), Zivilstand,Lebensweise, Gesundheitspflege, Wohlstand etc. So wird dieSterblichkeitstafel einer Versicherungsanstalt, welche nurgenügend gesunde Personen aufnimmt, andre Zahlen aufweisen alsdiejenige, welche für die Gesamtbevölkerung eines Landesaufgestellt wurde. Aus den Sterblichkeitstafeln ist zunächstdie Sterbenswahrscheinlichkeit für jedes Lebensalter zuersehen. Ist die Zahl der $n+1$-und die der $n$-jährigenPersonen $m_{n+1}$ und $m_n$, so ist die Sterbenswahrscheinlichkeitder $n$-jährigen (für das nächste Jahr) gleich$\frac{m_{n+1}}{m_n}$, die Wahrscheinlichkeit des Gegenteils(Überlebenswahrscheinlichkeit) ist gleich$1-\frac{m_{n+1}}{m_n}$. Die Wahrscheinlichkeit eines$n$-jährigen, in einem der nächsten vier Jahre zusterben, ist $\frac{m_{n+4}}{m_n}$, wenn $m_{n+4}$ die Zahl derübriggebliebenen $n+4$jährigen bedeutet. Dieselbe Zahlerhält man, wenn man die Wahrscheinlichkeiten der einzelnenJahre miteinander multipliziert. Denn es ist$\frac{m_{n+4}}{m_n}=\frac{m_{n+1}}{m_n}\frac{m_{n+2}}{m_{n+1}}\frac{m_{n+3}}{m_{n+2}}\frac{m_{n+4}}{m_{n+3}}$.

Das mittlere Lebensalter (Durchschnittsalter, vie moyenne) einerAnzahl Personen (gleichzeitig Lebender oder Gestorbenerverschiedenen Alters) ist gleich der Summe der Jahre, welche allezusammen durchlebt haben, dividiert durch die Anzahl der Personen.Von demselben ist zu unterscheiden die nur an der Hand vonSterblichkeitstafeln als eine Wahrscheinlichkeit zu berechnendemittlere Lebenserwartung (auch mittlere Lebensdauer oderVitalität genannt), dieselbe ist gleich der Summe der nachMaßgabe der Tafel noch zu verlebenden Jahre, dividiert durchdie Zahl der Personen. Die wahrscheinliche Lebensdauer oderLebenserwartung (vie probable) ist gleich der Anzahl von Jahren,nach deren Verlauf gerade die Hälfte einer gegebenen Anzahl(wahrscheinlich) gestorben sein wird. Für diese Zeit sind alsoSterbens- und Überlebenswahrscheinlichkeit einander gleich (jegleich 1/2). Nach der vom kaiserlichen Statistischen Amtaufgestellten deutschen

Sterbetafel (1871-81) ist die S.:

Eben vollendetes Alter

Zahl der Überlebenden

Sterbenswahrscheinlichkeit für das nächste Jahr

Mittlere (durchschnittliche) Lebenserwartung

Wahrscheinliche Lebenserwartung

männl. weibl. männl. weibl. männl. weibl.männl. weibl.

0^1 104520 103692 0,2850 0,2453 34,0 37,1 34,2 39,6

0 100000 100000 0,2527 0,2174 35,6 38,5 38,1 42,5

1 74727 78260 0,0649 0,0636 46,5 48,1 53,2 56,3

2 69876 73280 0,0332 0,0326 48,7 50,3 54,6 57,7

3 67997 70892 0,0231 0,0225 49,4 51,0 54,6 57,7

13 61320 64390 0,0035 0,0039 44,1 45,8 47,4 50,2

20 59287 62324 0,0075 0,0061 38,5 40,2 41,2 44,0

30 54454 57566 0,0093 0,0097 31,4 33,1 33,2 35,6

40 48775 51576 0,0136 0.0122 24,5 26,3 25^3 27,6

50 41228 45245 0,0215 0,0160 18,0 19,3 18,0 19,6

60 31124 36293 0,0382 0,0329 12,1 12,7 11,5 12,3

70 17750 21901 0,0811 0,0747 7,3 7,6 6,5 6,7

80 5035 6570 0,1745 0,1683 4,1 4,2 3,3 3,4

90 330 471 0,3190 0,3138 2,3 2,4 1,8 1,8

100 2 3 0,5193 0,5180 1,4 1,2 1,0 0,9

1 Einschließlich der Totgebornen, die Zahl 100,000bedeutet die Lebendgebornen.

Die S. (Sterbenswahrscheinlichkeit) nimmt von Geburt an bis zum13. Lebensjahr beim männlichen wie beim weiblichen Geschlechtab; dann steigt sie mit einer kurzen Unterbrechung zuerst langsam,dann immer rascher bis zum höchsten Alter. Die S. desweiblichen Geschlechts bleibt mit Ausnahme der Zeit vom 9. bis 15.,dann vom 27. bis zum 35. Lebensjahr stets hinter derjenigen desmännlichen zurück. Die mittlere Lebenserwartung ist beimmännlichen Geschlecht bis zum 50., bei dem weiblichen bis zum54. Jahr kleiner und dann größer als diewahrscheinliche. Der Umstand, daß ermittelteAbsterbeordnungen einen regelmäßigen Verlauf aufweisen,gab zur Aufstellung von Formeln Veranlassung, welche dasSterblichkeitsgesetz darstellen sollten, und aus denen die S., bez.die Zahl der Überlebenden für jedes Alter zu ermittelnsei (bereits Lambert für die Londoner Bevölkerung 1776,Th. Young 1826, Gompertz 1825 mit Erweiterungen von Makeham undLazarus 1867, ferner Littrow 1832, Moser 1839,

298

Sterculia - Stereometer.

endlich Kaiser 1884), und zwar gelangte man, da dieSterbenswahrscheinlichkeit für kleine Zeitteilchen gleich demBruch aus dem Differential der jeweilig Lebenden und diesenletztern selbst ist, zu Exponentialfunktionen, deren Konstantedurch Ausgleichungsrechnung an der Hand wirklicher Beobachtungen zuermitteln sind; doch führen derartige Formeln nur fürgewisse Zeitstrecken zu genügend genauen Ergebnissen.Vgl.Wappäus, Allgemeine Bevölkerungsstatistik (Leipz.1859-61, 2 Bde.); Quételet, Sur l'homme (Par. 1835, 2 Bde.;deutsch, Stuttg. 1835); Derselbe, Physique sociale (Par. 1869, 2Bde.); Moser, Die Gesetze der Lebensdauer (Berl. 1839); Casper, Diewahrscheinliche Lebensdauer der Menschen (das. 1843);Österlen, Handbuch der medizinischen Statistik (Tübing.1865); Kolb, Handbuch der vergleichenden Statistik (8. Aufl.,Leipz. 1879); Beneke, Vorlagen zur Organisation derMortalitätsstatistik in Deutschland (Marb. 1875); dieVeröffentlichungen des königlich preußischenStatistischen Büreaus: "Deutsche Sterblichkeitstafeln aus denErfahrungen von 23 Lebensversicherungsgesellschaften" (Berl. 1883),nicht zu verwechseln mit der für die

ganze deutsche Bevölkerung aufgestellten Tafel(Novemberheft der "Statistik des Deutschen Reichs" von

1887); Oldendorff, Der Einfluß der Beschäftigung aufdie Lebensdauer des Menschen (das. 1877-78, 2 Tle.); Westergaard,Die Lehre von der Mortalität etc. (Iena 1882).

Sterculia L. (Stinkbaum), Gattung aus der Familie derSterkuliaceen, meist große Bäume mitwechselständigen, einfachen oder gelappten Blättern undfilzigen Blüten in Rispen, sämtlich in heißen

Ländern. S. foetida L. (Stinkmalve) ist ein großerBaum in Ostindien und auf den Molukken mit großen,gefingerten Blättern und dunkel karminroten, orangegelbgescheckten, sehr stark und unangenehm, dem Menschenkotähnlich riechenden Blüten, von welchem die jüngern,schleimigen Blätter nach Art der Malvenblätter benutzt,die haselnußgroßen Samen aber geröstet gegessenwerden und ein gutes Öl liefern. Einige andre Arten werden inGewächshäusern kultiviert. S. acuminata Beauv., welchedie Kolanüsse liefert, s. v. w. Cola acuminata (s. Cola).

Stereiden, in der Pflanzenanatomie die einzelnenBestandteile des Stereoms (s. d.).

Stereobat (griech.), der massive, abgestufte Unterbau dergriechischen Tempel. Weiteres s. Säule (S.

350) und Tempel.

Stereochromie (griech.), eine 1846 in München vonSchlotthauer (s.d.) und Oberbergrat Fuchs erfundene Art Malerei,welche eine Zeitlang angewendet wurde, um Wandflächenunmittelbar mit Gemälden, nach Art der Freskomalerei, zubedecken. Es wurde dabei ein Malgrund hergerichtet, der beiGemälden auf Leinwand in einer leichten Bindung, womitdieselbe gesättigt wurde, bei Wänden mit Stein oderMörtel

aus einem wenige Linien dicken Bewurf bestand, der mit derSteinunterlage zu einer mechanisch völlig untrennbaren Massesich verbindet. Auf diesem Grund wurde mit eigens präpariertenWasserfarben gemalt, und da diese sich mit dem Grund vereinigen unddie Bildfläche schließlich durch Aufspritzen vonWasserglas steinhart gemacht wurde, so glaubte man in diesemVerfahren eine Technik gefunden zu haben, welche besondersWandgemälde in großen Räumen gegen die nachteiligenEinflüsse des Temperaturwechsels, der Feuchtigkeit etc.unempfindlich machen würde. Doch hat auch die von Seibertzerfundene Vervollkommnung der S. durch Anwendung von trocknenFarben die Erwartungen, welche man von der S. hegte, nichtgerechtfertigt. Der von Kaulbach im Treppenhaus des Neuen Museumszu Berlin in großem Maßstab mit der S. gemachte Versuchhat vielmehr gezeigt, daß die Bildflächen über undüber mit störenden Riffen überzogen werden, weshalbman die S. wieder aufgegeben hat.

Stereograph (griech.), eine von Liwtschack zu Wilnaerfundene Maschine zur Anfertigung von Stereotypmatrizen ohnevorgängigen Schriftsatz. Die Herstellung der letztern erfolgtdurch Einschlagen von Typen, eine nach der andern, in einepräparierte, halbweiche Platte, welche stets um die Breite dereingeschlagenen Type durch den Mechanismus der Maschine weitergeschoben wird, wobei der Arbeiter den Wortlaut des Manuskripts aufeiner Tastatur, wie bei den meisten Setzmaschinen, abspielt. Bisjetzt sind technisch befriedigende Resultate mit dem Stereographennicht erzielt worden.

Stereographie (griech.), perspektivische Zeichnung vonKörpern auf einer Fläche.

Stereom (griech.), in der Pflanzenanatomie die Gesamtheitder Gewebe, welche die mechanische Festigkeit eines Pflanzenteilsbedingen, nämlich die Bastzellen, das Kollenchym und dasLibriform, im

Gegensatz zu dem Mestom (s.d.) oder dem Füllgewebe ohnemechanische Bedeutung.

Stereometer (griech.), Apparat zur Bestimmung des vonfester Substanz ausgefüllten Volumens pulverförmigerKörper. Das S. von Say (s. Figur) besteht aus einemGlasgefäß A, dessen eben geschliffener Rand durch eineGlasplatte luftdicht verschlossen werden kann; nach unten setztsich dasselbe in eine offene, mit einer Teilung verseheneGlasröhre fort, deren zwischen zwei Teilstrichen enthaltenerRauminhalt genau bekannt ist. Wird die Röhre, während Aoffen ist, in ein mit Quecksilber gefülltesStandgefäßbis zum Nullpunkt o der Teilung eingetauchtund die Glasplatte aufgelegt, so ist ein bestimmtes Luftvolumen vabgesperrt, dessen Druck durch den herrschenden Barometerstand bangegeben wird. Zieht man nun das Gefäß A in dieHöhe, so dehnt sich die in ihr enthaltene Luft um das an derTeilung abzulesende Volumen w aus, ihr Druck wird geringer, u. deräußere hebt eine Quecksilbersäule h in dieRöhre. Nach dem Mariotteschen Gesetz hat man nun dieProportion v+w:v=b:b-h, aus welcher, da w, b und h bekannt sind, vberechnet werden kann. Wiederholt man denselben Versuch, nachdemder pulverförmige Körper, dessen Volumen x bestimmtwerden soll, in das Gefäß A gebracht ist, so ist dasVolumen der abgesperrten Luft, wenn die Röhre bis zumNullpunkt eingetaucht ist, v-x. Erhebt man nun die Röhrewieder, bis das Volumen um w zugenommen hat, und wird dabei dieQuecksilbersäule h' gehoben, so kann man aus der Proportionv-x+w: v-x=b : b-h' das Volumen x finden. Mittels Division desabsoluten Gewichts des Pulvers (in Grammen) durch sein Volumen (inKubikzentimetern)ergibt sich das spezifische Gewicht desselben. DieVolumenometer von Kopp und Regnault gründen sich auf dasselbePrinzip und haben dieselbe Bestimmung wie das S.

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Stereometrie - Stereoskop.

Stereometrie (griech., "Körpermessung"), eigentlichdie Lehre von der Ermittelung des Inhalts und der Oberflächeder Körper; im weitern Sinn der Teil der Geometrie, welchersich mit den Gebilden beschäftigt, zu deren Konstruktion alledrei Dimensionen des Raums erforderlich sind, im Gegensatz zurPlanimetrie. Vgl. Geometrie.

Stereoskop (griech.), optisches Instrument, welches dazudient, zwei ebene Bilder desselben Gegenstandes derart zukombinieren, daß der Beschauer den Eindruck eineskörperlichen Gegenstandes erhält. Beim Betrachten naherGegenstände bietet das Sehen mit zwei Augen ein wesentlichesMittel zur richtigen Schätzung der Entfernungen. Mit demrechten Auge sehen wir einen nahen Gegenstand auf einen andernPunkt des Hintergrundes proji*ziert als mit dem linken, und dieserUnterschied wird um so bedeutender, je näher der Gegenstandrückt. Richten wir beide Augen auf einen nicht allzu weitentfernten Punkt, so machen die beiden Augenachsen einen Winkel(Gesichtswinkel) miteinander, der um so kleiner wird, je weitersich der Gegenstand entfernt. Die Größe

dieses Winkels gibt uns daher ein Maß für dieEntfernung der Gegenstände. Wir unterscheiden also beim Sehenmit zwei Augen deutlich, welche Punkte mehr vortreten, und welchemehr zurückliegen. Dazu kommt noch, daß wir naheGegenstände mit dem rechten Auge etwas mehr von der einen, mitdem linken Auge etwas mehr von der andern Seite sehen, unddaß gerade die Kombination dieser etwas ungleichen Bilder zueinem Totaleindruck wesentlich

dazu beiträgt, die flächenhafte Anschauung deseinzelnen Auges zu einer körperlichen, einer plastischen zuerheben. Eine auf einer Fläche ausgeführte Zeichnung oderein Gemälde kann immer nur die Anschauung eines einzelnenAuges wiedergeben; bietet

man aber jedem Auge das passend gezeichnete Bild einesGegenstandes dar, so werden sich beide Bilder zu einem einzigenTotaleindruck vereinigen. Wheatstone erreichte diese Vereinigungdurch sein Spiegelstereoskop^ (Figur 1). Dasselbe besteht

aus zwei rechtwinkelig gegeneinandergeneigten Spiegeln ab u. ac, deren Ebenen vertikal stehen. Der Beobachter schaut mit demlinken Auge l in den linken, mit dem rechten Auge r in den rechtenSpiegel. Seitlich von den Spiegeln find zwei vorschiebbareBrettchen angebracht, welche die umgekehrten perspektivischenZeichnungen d und e eines Objekts aufnehmen. Durch die Spiegelwerden nun die von entsprechenden Punkten der beiden Zeichnungenausgehenden Strahlen so reflektiert, daß sie von einemeinzigen hinter den Spiegeln gelegenen Punkt m zu kommen scheinen.Jedes Auge sieht also das ihm zugehörige Bild an demselbenOrte des Raums, und der Beobachter erhält daher den Eindruck,als ob sich daselbst der Gegenstand körperlich befände.Brewster hat die Spiegel dieses Instruments durch linsenartiggebogene Prismen ersetzt, und diese Stereoskope (Fig. 2) sind jetztallgemein im Gebrauch.

Fig. 1. Wheatstones Spiegelstereoskop.

^ Fig. 2. Brewster Linsenstereoskop.

Eine Sammellinse von etwa 18 cm Brennweite istdurchschnitten; die beiden Hälften A und B sind, mit ihrenscharfen Kanten gegeneinander gerichtet, in einem

Gestell befestigt, und am Boden desselben wird das

Blatt, welches die beiden Zeichnungen aa' und bb'(gewöhnlich

photographische Bilder) enthält,

eingeschoben. Durch die Anwendung der Linsenstücke ist eszunächst möglich, die Bilder dem

Auge näher zu bringen; dann aber wirken sie auch wiePrismen, indem die Linsenhälfte vor dem rechten Auge das Bildetwas nach dem linken schiebt, während das Bild der mit demlinken Auge betrachteten Zeichnung etwas nach rechts gerückterscheint. Auf diese Weise wird das vollständigeZusammenfallen der beiden Bilder bei CC' hervorgebracht. Wenn mandurch eine zwischen den Bildern befindliche senkrechte Scheidewanddafür sorgt, daß

jedes Auge nur das ihm zugehörige, nicht aber das fürdas andre

bestimmte Bild sieht, so ist eine besondere Vorrichtung, um dieBilder zur Deckung zubringen, gar nicht nötig

(S. von Frick). Im S. von Steinhauser mit konkaven Halblinsenmuß das für das rechte Auge bestimmte Bild links, dasfür das linke bestimmte rechts liegen;

die Bilder des Brewsterschen Stereoskops würden darin mitverkehrtem Relief erscheinen. Die Bedeutung der Stereoskope, welchedurch die Photographie eine so wesentliche Förderung gefundenhaben, ist bekannt; man benutzt sie außer zur Unterhaltungauch zur Veranschaulichung trigonometrischer und stereometrischerLehrsätze und zum Studium der Gesetze des binokularen Sehens.Dove demonstrierte mit Hilfe des Stereoskops die Entstehung desGlanzes. Ist nämlich die Fläche einer Zeichnung blau unddie entsprechende der andern gelb angestrichen, so sieht man sie,wenn man sie im S. durch ein violettes Glas

betrachtet, metallisch glänzend. Weiß und Schwarz

führen zu einem noch lebhaftern Bilde der Art. Auch zurUnterscheidung echter Wertpapiere von unechten hat Dove das S.benutzt. Betrachtet man nämlich die zu vergleichenden Papieremit dem Instrument, so werden sofort die kleinsten Unterschiedebemerkbar. Die einzelnen Zeichen, die nicht genau mit dem Originalübereinstimmen, decken sich nicht und befinden sichanscheinend in verschiedenen Ebenen. Es wurde schon erwähnt,daß der Gesichtswinkel sehr klein wird, wenn wir beide Augenauf einen weit entfernten Punkt richten. Darum vermindern sich dieVorteile des Sehens mit zwei Augen in dem Maß, als die zubeschauenden Gegenstände weiter weg liegen, und verschwindenbereits völlig beim Betrachten einer landschaftlichen Ferne.Die Augen liegen zu nahe, als daß sich einem jeden derselbenein merklich verschiedenes

Bild darstellen könnte. Helmholtz hat deshalb das

Telestereoskop konstruiert, welches dem Beschauer zwei sichdeckende Bilder einer Landschaft darbietet, gleich als ob das eineAuge von dem andern mehrere Fuß abstände. Das Instrumentbesteht aus vier Planspiegeln, welche senkrecht in einemhölzernen Kasten und unter 45° gegen die längstenKanten desselben geneigt befestigt sind. Das von dem fernen Objektkommende Licht fällt auf die zwei äußerngroßen Spiegel, wird von diesen rechtwinkelig auf diebeiden

300

Stereotomie - Sterigmen.

innern reflektiert und gelangt, nachdem es auch von den kleineninnern Spiegeln rechtwinkelig reflektiert wurde, in die Augen desBeobachters. Jedes Auge erblickt in den kleinen Spiegeln das vonden großen Spiegeln reflektierte Bild der Landschaft in einersolchen perspektivischen Projektion, wie sie von den beidengroßen Spiegeln aus erscheint. Will man das Bildvergrößern, so kann man die Lichtstrahlen, ehe sie indie Augen gelangen, auch noch durch kleine Fernrohre gehen lassen.Wie man mikroskopische Bilder körperhaft erscheinen lassenkann, ist unter Mikroskop, S. 602, angegeben worden. Vgl. Brewster,The stereoscope (Lond. 1856); Ruete, Das S. (2. Aufl., Leipz.1867); Steinhauser, Über die geometrische Konstruktion derStereoskopbilder (Graz 1870).

Stereotomie (griech.), der Teil der Stereometrie, welcherdie Durchschnitte der Oberflächen der Körper behandelt,insbesondere der sogen. Steinschnitt, welcher beiGewölbekonstruktionen in Anwendung kommt. Ihre Darstellungenwerden durch die beschreibende Geometrie zur Anschauunggebracht.

Stereotypie (griech.), das Verfahren, von aus beweglichenLettern gesetzten Druckseiten vertiefte Formen abzunehmen undvermittelst derselben erhöhte, den Satzseiten genauentsprechende Druckplatten zu gewinnen. Die S. bietet sehrgroße Vorteile dar; ohne sie würde die Schnellpresse beiweitem nicht ihren jetzigen hohen Wert erlangt haben, und dasZeitungswesen hätte nicht annähernd seinegegenwärtige Entwickelung gewinnen können. Die S.ermöglicht jederzeit den Druck neuer Auflagen von den durchsie erzeugten Platten; das Papierstereotypieverfahren bietet sogardie Möglichkeit der Aufbewahrung billiger Matrizen, aus denenbei Bedarf Platten gegossen werden können, reduziert somitganz außerordentlich die Anlagekosten für Druckwerke.Als erste Erzeugnisse der S. können betrachtet werden dieReproduktionen von Holzschnitten in einem 1483 zu Ulm von KonradDinkmut gedruckten Buch: "Der Seele Wurzgarten". Van der Mey undJohann Müller zu Leiden (1700-1716), Ged in Edinburg(1725-49), Valeyre in Paris (1735), Alexander Tilloch und Foulis zuGlasgow (um 1775), F. J. Joseph Hoffmann zu Schlettstadt imElsaß (1783), der eine Anzahl experimentierender Nachfolger(unter andern Carez in Toul) erhielt, sind nacheinander alsErfinder der S. bezeichnet worden; zu dauernder Verbreitung aberwurde das Verfahren erst gebracht durch Earl Stanhope (s. d. 2) inLondon (1800) sowie um dieselbe Zeit durch Pierre und Firmin Didotund Herhan in Paris. Zu ihrer heutigen großen Bedeutunggelangte die S. durch die Erfindung von Genoux (1829), welcher dieMatrize aus Lagen von Seidenpapier mit einem dazwischengestrichenenGemisch von Kleister und Schlämmkreide etc. bildete. Bei demStanhopeschen oder Gipsverfahren wird die Satzform in einemeisernen Rahmen festgeschlossen (eingespannt) und leichtgeölt, worauf der Gips als dünnflüssiger Breiüber den Typensatz gegossen und mit Bürste oder Pinselgehörig eingearbeitet wird. Die Gipsmatrize erstarrt in 15-20Minuten; sie wird dann abgehoben und in einen Trockenofen gebracht.Der Guß geschieht in sargähnlichen eisernenverschließbaren Pfannen. Auf den Boden der Pfanne wird zuersteine abgedrehte Eisenplatte gelegt, hierauf die erhitzte Gipsformmit der Bildfläche nach unten und nun der ebenfalls abgedrehtePfannendeckel, welcher an allen vier Ecken abgestumpft ist, um demMetall den Einlauf zu gestatten. Das Ganze wird durch einenBügel geschlossen und mittels eines Krans in den mitflüssigem Metall versehenen Schmelzkessel versenkt; nacherfolgtem Guß wird die Pfanne aufgewunden und auf ein mitnassem Kies angefülltes Kühlfaß abgesetzt. Nach demvölligen Erstarren des Metalls wird die Stereotypplattegerichtet, auf der Rückseite abgeebnet und an den Rändernbestoßen. Bei dem von Daulé in Paris um 1830erfundenen Flaschenguß bleibt die Gipsmater in dem nach innenmit einem Vorstoß versehenen Rahmen, welcher hinlänglichgroß ist, um noch Raum für einen Nachdruck gebendenAnguß zu gewähren. Nach dem Trocknen bringt man diesenMatrizenrahmen in die Gießflasche, die aus zwei abgeebnetenEisenplatten besteht, von denen die der Bildfläche zugekehrtemit Papier beklebt ist, um das Metall beim Eingießen wenigerabzuschrecken. Beide Platten sind unten durch ein Scharnierverbunden und während des Gusses durch einenSchraubenbügel zusammengehalten. Bei demPapierstereotypieverfahren wird die Matrize aus Seiden- undSchreibpapier angefertigt; zwischen die einzelnen Bogen kommendünne, gleichmäßig ausgestrichene Schichten einesBreies, der aus gekochter, mit Schlämmkreide oder Magnesia,wohl auch mit Asbest oder China Clay, versetzter Weizenstärkebesteht. Auf die mit einem zarten Pinsel oder auch mittels einermit Flanell bezogenen Walze leicht geölte Form wird dann dasMatrizenpapier gelegt und entweder mit einer Bürstegleichmäßig in den Schriftsatz eingeklopft, oder dieForm wird mit der Matrize unter eine feststehende Walze geschoben,mit Filzen bedeckt und unter derselben durchgedreht; sodann schiebtman dieselbe mit der darauf befindlichen Papiermatrize in eineerhitzte Trockenpresse und bedeckt sie reichlich mit Filz undFließpapier zum Aufsaugen der Feuchtigkeit; schon nach 6-8Minuten ist die Matrize trocken und kann abgenommen werden. Nachdemsie beschnitten, in größern, beim Druck weißbleibenden Stellen durch Hinterkleben von Pappstückchen oderauch durch Ausfüllen mit einer aus in dünnerGummiarabikumlösung verrührter Schlämmkreideerzeugten, leicht trocknenden Masse verstärkt und einEingußstreifen angeklebt worden, kommt sie mit dem Gesichtnach oben in das Gießinstrument, das dem beimDauléschen Verfahren gebräuchlichen sehr ähnlichist; ein verstellbarer eiserner Rahmen, Gießwinkel genannt,hält sie glatt und gibt das Maß ab für ihre Dicke,und der Guß kann erfolgen. Das Abschneiden des Angusses, dasAnhobeln von Facetten an den Rändern der Platten geschieht inZeitungsdruckereien mit eigens dafür hergerichteten Maschinen,wodurch eine große Betriebsbeschleunigung ermöglichtwird, so daß z. B. in der Londoner "Times" bei derenMorgenausgabe die letzte Druckplatte innerhalb 8 Minuten, vomEmpfang der Satzform seitens des Stereotypeurs ab gerechnet, fertiggestellt werden kann. Für den Kleinbetrieb der Buchdruckereienhat man die S. durch Konstruktion kleiner, kompendiöserStereotypie-Einrichtungen nutzbar gemacht; diese ermöglichendie Herstellung von Platten bis zu einer gegebenen Größeschon nach kurzer Übung bei geringen Anlagekosten. Vgl.außer den ältern Werken von Camus (Par. 1802) undWestreenen de Tiellandt (Haag 1833): H. Meyer, Handbuch der S.(Braunschw. 1838); Isermann, Anleitung zum Stereotypengießen(Lpz. 1869); Archimowitz, Die Papierstereotypie (Karlsr. 1862);Böck, Die Papierstereotypie (Leipz. 1885); Kempe, Wegweiserdurch die S. und Galvanoplastik (das. 1888).

Sterigmen, s. Basidien.

301

Steril - Stern.

Steril (lat.), unfruchtbar, dürr; Sterilität,Unfruchtbarkeit; sterilisieren, unfruchtbar machen, in derBakteriologie von entwicklungsfähigen Keimen befreien ; s.Bakterioskopische Untersuchungen.

Sterkoral (lat.), kotig.

Sterkrade, Dorf im preuß. RegierungsbezirkDüsseldorf, Kreis Ruhrort, Knotenpunkt der LinienOberhausen-Emmerich und Ruhrort-Wanne (Emscherthalbahn) derPreußischen Staatsbahn, 41 m ü. M., hat eineevangelische und eine kath. Kirche, ein großesEisenhüttenwerk, Maschinenfabrikation, Kettenschmiederei und(1885) 7164 meist kath. Einwohner.

Sterkuliaceen, dikotyle, etwa 500 Arten umfassende, derTropenzone eigentümliche Familie aus der Ordnung derKolumniferen, meist Bäume, deren grüne Teile mitsternförmigen Haaren bekleidet sind. Die

Blätter sind wechselständig, meist an der Basis desBlattstiels mit abfallenden Nebenblättern versehen. Dieregelmäßigen, meist zwitterigen,fünfzähligen

Blüten haben einen verwachsenblätterigen, in derKnospe klappigen Kelch, eine gedrehte, selten verkümmerte,fünfblätterige Blumenkrone, einen doppeltenStaubblattkreis mit mehr oder weniger verwachsenen, zum Teil durchSpaltung vermehrten oder auch zu Staminodien verkümmertenGliedern und einen

oberständigen, aus meist fünf Fruchtblätterngebildeten Fruchtknoten. Die Frucht ist entweder einefünffächerige Kapsel und springt meist fachspaltig mitfünf Klappen auf, welche auf ihrer Mitte die von derMittelsäule sich lösenden Scheidewände tragen, odersie ist eine Steinbeere oder Beere mit 5, 3, 2 oder einem Fach,oder sie besteht aus mehreren freien, holzigen, krustigen oderhäutigen Balgfrüchten, welche an der Bauchnaht aufgehenund innen häufig dicht wollig behaart sind. Die Samen habenein fleischiges oder kein Endosperm und einen geraden odergekrümmten Keimling mit faltigen, blattartigen oderfleischigen Kotyledonen. Die mit den Malvaceen verwandte Familie,zu welcher man auch die Bombaceen und Büttneriaceen (s. d.)rechnet, waren schon in der Tertiärzeit durch eine Anzahl vonArten aus den Gattungen Sterculia L. und Bombax L. vertreten.

Sterlett, s. Stör.

Sterling, im Mittelalter engl. Silbermünze,welche

um 1190 aufkam, jetzt englische Währung, die seit

1816 in dem in Gold ausgeprägten Sovereign ihre

Einheit findet. Ein Pfund S. in Gold wiegt gesetzlich 7,9881 g,enthält 7,3224 g fein Gold, ist 11/12 fein und hat einen Wertvon 20,4295 deutschen Goldmark.

Das Pfund S. (meist geschrieben L oder l.) zerfällt

in 20 Schillinge (s.) à 12 Pence (d.). Der Ursprung desNamens S. ist von den Osterlingen (Easterlings) abzuleiten,worunter die Normannen diejenigen deutschen Stämme verstanden,die den Dänen nahe wohnten. Ein damaliger Penny Easterling wog24 Gran, 240 machten 1 Pound Easterling (= 12 Unzen) aus, aus demdas neuere Pfund S. entstand.

Sterling, Stadt im nordamerikan. Staat Illinois, am RockRiver, 170 km westlich von Chicago, hat lebhaften Handel und (1880)5087 Einw.

Sterling, John, engl. Dichter und Schriftsteller, geb.20. Juli 1806 zu Kaimes-Castle auf der Insel Bute, Sohn desKapitäns Edward S. (geb. 1773, gest. 1847), eines eifrigen undangesehenen Mitarbeiters an der "Times" (genannt "the thunderer ofthe Times"), studierte in Glasgow und Cambridge, ging dann nachLondon, wo er für Zeitschriften thätig war und den Roman"Arthur Coningsby" (1833) veröffentlichte, ließ sich1834 zum Geistlichen ordinieren und erhielt das Pfarrverweseramt zuHurstmonceaux, das er indessen bald wieder aufgab. Er lebte nunwieder litterarischen Beschäftigungen meist

im Süden Englands und starb 18. Sept. 1844 in

Ventor auf der Insel Wight. Seine übrigen Werke sind:"Poems" (1839); "The election", ein satirisches Gedicht in 7Büchern (1841), und das Trauer-

spiel "Stafford" (1843). Seine gesammelten Prosawerke: "Essaysand tales" gab Hare (1848, 2 Bde.) heraus; aus seinem Nachlaßerschienen: "Twelve letters by John S." (1851) und "The onyxring"

(hrsg. von Hale, Boston 1856). Seine Biographie schrieb seinFreund Carlyle (Lond. 1851).

Sterlitamak, Kreisstadt im russ. Gouvernement Ufa, amFlüßchen Sterleja, das in die Bjelaja mündet, hat 2Kirchen, eine Moschee, bedeutende Gerbereien und (1886) 9447Einw.

Stern, leuchtender Himmelskörper, s. Fixsterne,Planeten, Kometen; heraldische Figur, Symbol des Glücks unddes Ruhms; in der Nautik (unrich-

tig) das Hinterteil des Schiffs (vgl. Heck); als kriti-

sches Zeichen, s. Asteriskos.

Stern, 1) Julius, Komponist und Dirigent, geb.

8. Aug. 1820 zu Breslau, trat schon mit zwölf Jahren alsViolinspieler öffentlich auf, ward 1834 auf

der Akademie der Künste zu Berlin Rungenhagens und BachsSchüler in der Komposition und empfing 1843 auf zwei Jahre einStaatsstipendium, das er zunächst zu einem längernAufenthalt in Dresden benutzte, um bei Mieksch gründlicheStudien im Gesang zu machen. Von hier begab er sich nach Paris, woer als Dirigent des Deutschen Männergesangvereinsglänzende Erfolge hatte. 1847 nach Berlin

zurückgekehrt, gründete er hier seinen späterberühmt gewordenen Chorgesangverein, dessen Direktion 1873

Stockhausen, 1878 M. Bruch, 1880 E. Rudorff übernahm. 1850begründete er gemeinschaftlich mit Kullak und Marx dasKonservatorium der Musik, welches er, nachdem 1855 Kullak und zweiJahre später auch Marx ausgeschieden waren, alleinübernahm und bis an seinen Tod mit ungewöhnlichemGeschick geleitet hat. Geringern Erfolg hatte seine Wirksamkeit alsOrchesterdirigent 1869-71 an der Spitze der BerlinerSymphoniekapelle sowie 1873-75 an der von ihm organisierten Kapelleder Reichshallen, wiewohl seine Leistungen auch auf diesem Gebiethervorragend waren. Er starb 27. Febr. 1883. Von seinenKompositionen haben namentlich die Lieder undGesangunterrichtswerke vielen Beifall gefunden. Vgl. R. Stern,Erinnerungsblätter an J. S. (Leipz. 1886).

2) Adolf, Dichter und Literarhistoriker, geb. 14. Juni 1835 zuLeipzig, trat, nachdem er seine Bildung in bedrängtenJugendjahren auf selbständigem Wege gewonnen, sehr frühin die Litteratur ein, indem er

mit "Sangkönig Hiarne" (Leipz. 1853, 2. Aufl. 1857),

einer nordischen Sage, debütierte, der die Dichtungen:"Zwei Frauenbilder" (das. 1856) und "Jerusalem"

(das. 1858, 2. Aufl. 1866) folgten. Nachdem S. 1852

bis 1853 in Leipzig philosophischen und historischen Studienobgelegen, lebte er in den folgenden Iahren teils in Weimar, teilsin Chemnitz und Zittau litterarischen Studien und ging 1859,nachdem er die

philosophische Doktorwürde erworben, als Lehrer derGeschichte und deutschen Litteratur nach Dresden, wo der Roman "Biszum Abgrund" (Leipz. 1861, 2 Bde.) und das Lustspiel "Brouwer undRubens" (das. 1861) entstanden. Im Herbst 1861 siedelte er dann zuerneuten sprachwissenschaftlichen und historischen Studien nachJena über, ließ sich 1863 in

Schandau nieder und kehrte 1865 nach Dresden zurück, wo er1868 zum außerordentlichen, 1869 zum

302

Sterna - Sternberg.

ordentlichen Professor der Litteratur und Kulturgeschichte amPolytechnikum ernannt ward. Als Resultate dieser Jahre traten seine"Gedichte" (Leipz. 1860, 3. Aufl. 1882), die Novellen: "AmKönigssee" (das. 1863) und "Historische Novellen" (das. 1866)hervor, welche einen bedeutenden Fortschritt bekundeten. AlsLitterarhistoriker veröffentlichte er die Anthologie:"Fünfzig Jahre deutscher Dichtung" (Leipz. 1871, 2. Aufl.1877); "Katechismus der allgemeinen Litteraturgeschichte" (das.1874, 2. Aufl. 1876); "Aus dem 18. Jahrhundert", Essays (das.1874); "Zur Litteratur der Gegenwart", Studien und Bilder (das.1880); "Lexikon der deutschen Nationallitteratur" (das. 1882);"Geschichte der neuern Litteratur" (das. 1883-85, 7 Bde.);"Geschichte der Weltlitteratur" (Stuttg. 1887-88) sowie mehrerelitterar-historische Monographien in Riehls "HistorischemTaschenbuch", Arbeiten, von denen namentlich der "Geschichte derneuern Litteratur" umfassendes Wissen, Sicherheit des Urteils,Geschmack in der Darstellung und Größe der historischenAuffassung zugestanden werden. Spätere poetische Werke sind:"Das Fräulein von Augsburg", Roman (Leipz. 1867); "NeueNovellen" (das. 1875); die Tragödie "Die Deutschherren"(Dresd. 1878); die epische Dichtung "Johannes Gutenberg" (Leipz.1873, 2. Aufl. 1889); das Novellenbuch "Ans dunklen Tagen" (das.1879, 2. Aufl. 1880); die Romane: "Die letzten Humanisten" (3.Aufl., das. 1889), "Ohne Ideale" (das. 1881, .2 Bde.) und "Camoens"(das. 1887); "Drei venezianische Novellen" (das. 1886), Werke,welche uns S. als einen Dichter von reicher Phantasie undkünstlerischer Darstellung erkennen lassen. Er schrieb noch:"Wanderbuch", Bilder und Skizzen (Leipz. 1877, 2. Aufl. 1886),"Hermann Hettner", Lebensbild (das. 1885), "Die Musik in derdeutschen Dichtung" (das. 1888) und gab "W. Hauffs sämtlicheWerke" (Berl. 1879, 4 Bde.), "Herders ausgewählte Schriften"(Leipz. 1881, 3 Bde.), "Chr. Gottfr. Körners gesammelteSchriften" (das. 1882) und die 22. Auflage von Vilmars "Geschichteder deutschen Nationallitteratur" mit Fortsetzung (1887, 23. Aufl.1889) heraus. - Seine Gattin Margarete, geborne Herr, geb. 25. Nov.1857 zu Dresden, Schülerin Liszts, ist eine namhafte, durchecht musikalische Natur und Poesie der Auffassung hervorragendeKlavierspielerin.

3) Alfred, Historiker, geb. 22. Nov. 1846 zu Göttingen,studierte in Heidelberg, Göttingen und Berlin, erhielt daraufeine Anstellung im badischen Generallandesarchiv zu Karlsruhe,habilitierte sich, nachdem er 1871 eine Studienreise nach Englandunternommen, 1872 für Geschichte in Göttingen und wurde1873 Professor der Geschichte in Bern, 1888 am Polytechnikum inZürich. Er schrieb: "Über die zwölf Artikel derBauern und einige andre Aktenstücke aus der Bewegung von 1525"(Leipz. 1868), wozu sich Ergänzungen in den "Forschungen zurdeutschen Geschichte" (Bd. 12, 1872) befinden; "Milton und seineZeit" (das. 1877-79, 2 Bde.); "Geschichte der Revolution inEngland" (in Onckens Geschichtswerk, Berl. 1881); "Briefeenglischer Flüchtlinge in der Schweiz", herausgegeben underläutert (Götting. 1874); "Abhandlungen undAktenstücke zur Geschichte der preußischen Reformzeit1807-15" (Leipz. 1885). Gemeinsam mit W. Vischer gab er den 1. Bandder "Baseler Chroniken" (Leipz. 1872) heraus.

4) Daniel, Pseudonym, s. Agoult.

Sterna, Seeschwalbe.

Sternanis, Pflanzengattung, s. Illicium.

Sternapfel, s. Chrysophyllum.

Sternb., bei naturwissenschaftl. Namen Abkürzungfür Kaspar Maria v. Sternberg (s. d. 1).

Sternbedeckugen, s. Bedeckung.

Sternberg, alte Landschaft im preuß.Regierungsbezirk Frankfurt, im O. von der Oder und im Südenvon der Warthe, bildet jetzt die beiden Kreise Oststernberg(Landratsamt in Zielenzig) und Weststernberg mit der HauptstadtDrossen. Vgl. Freier, Geschichte des Landes S. (Zielenzig1887).

Sternberg, 1) Stadt in Mähren, an derFerdinands-Nordbahn (Linie Olmütz-S.) und der MährischenGrenzbahn (S.-Grulich), Sitz einer Bezirkshauptmannschaft und einesBezirksgerichts, hat 9 Vorstädte, eine Landes-Unterrealschule,eine Webschule, Tabaksfabrik, sehr starke Leinen- undBaumwollwarenfabrikation, Obstbau (besonders Kirschen), Handel mitdiesen Erzeugnissen und (1880) 14,243 Einw. S. ist im 13. Jahrh.von Jaroslaw von Sternberg gegründet worden, der hier 1241 dieMongolen geschlagen hatte. Seit Ende des 17. Jahrh. bildet S. eineDomäne des Hauses Liechtenstein. -

2) Stadt im preuß. Regierungsbezirk Frankfurt, KreisOststernberg, an der Linie Frankfurt-Posen der PreußischenStaatsbahn, 91 m ü. M., hat eine evang. Kirche und (1885) 1568Einw. -

3) Stadt im Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin, KreisMecklenburg, an einem See, hat eine evang. Kirche, ein Amtsgericht,eine Forstinspektion, (1885) 2646 Einw. und ist abwechselnd mitMalchin Sitz der mecklenburgischen Stände. Nach S. benanntsind die sogen. Sternberger Kuchen, Reste der Tertiärformationinnerhalb der Diluvialschichten.

Sternberg, 1) altes freiherrliches, späterreichsgräfliches Geschlecht aus Franken, das inÖsterreich, Böhmen und Mähren begütert ist, inBöhmen seit dem 13. Jahrh. urkundlich auftaucht und 1663 vonKaiser Leopold I. in den Reichsgrafenstand erhoben ward. Dieböhmische Linie teilte sich Anfang des 18. Jahrh. in eineältere und jüngere. Jene erwarb durch Heirat 1762 diereichsunmittelbaren, in der Eifel gelegenen Herrschaften der GrafenManderscheid mit Sitz und Stimme im westfälischenGrafenkollegium, nannte sich seitdem S.-Manderscheid und wardfür den Verlust jener Besitzungen im Lüneviller Friedenmit den vormaligen Abteien Schussenried und Weißenauentschädigt, die jetzt eine Standesherrschaft unterwürttembergischer Oberhoheit bilden. Die Linie starb 1843 imMannesstamm aus. Die jüngere Linie, S.-Serowitz, inBöhmen begütert, hat zum Haupte den Reichsgrafen Leopoldvon S., geb. 22. Dez. 1811, erbliches Mitglied des Herrenhauses desReichsrats. Aus dieser Linie stammte auch Kaspar Maria von S., geb.6. Jan. 1761 zu Prag, anfänglich für den geistlichenStand bestimmt, sonders dem Studium der Kunst ergeben, 1748 imRegensburger, 1788 im Freisinger Kapitel, seit 1795 der Botanik undden Naturwissenschaften überhaupt ergeben und seit 1809für Böhmens geistige Kultur rastlos thätig; gest.20. Dez. 1838 zu Brzesina als Präsident des böhmischenNationalmuseums in Prag, dem er seine sämtlichen reichennaturwissenschaftlichen Sammlungen, darunter eine nachgeognostische Zeitperioden geordnete Petrefaktensammlung,vermachte. Man verdankt ihm die ersten tüchtigen Arbeitenüber gewisse Gruppen vorweltlicher Pflanzen; sein Hauptwerkist der "Versuch einer geognostisch-botanischen Darstellung derFlora der Vorwelt" (Prag 1820-32, 2 Bde. mit 160 Tafeln). Auchlieferte S. eine Monographie über die Saxifrageen und mehrereArbeiten über die böhmische Flora etc. SeinenBriefwechfel mit Goethe aus den Jahren 1820-32 gab Bratranek

303

Sternberger Kuchen - Sternkarten.

(Leipz. 1866) heraus. Vgl. Palacky, Leben des Grafen Kaspar S.(Prag 1868).

2) Alexander von, Schriftsteller, s. Ungern-Sternberg.

Sternberger Kuchen, s. Tertiärformation.

Sternbilder (Konstellationen), Gruppen von Fixsternen zuleichterer Übersicht und Bezeichnung, wurden schon von denalten Ägyptern aufgestellt und mit zum Teil noch jetztgültigen Namen belegt; die Griechen führten vielemythologische Bezeichnungen ein. Nähere Angaben sowie einVerzeichnis der S. enthält das Textblatt der Karte"Fixsterne".

Sternblume, s. Aster und Narcissus.

Sterndeutekunst, s. Astrologie.

Sterndienst (Sternanbetung), s. Sabäismus.

Sterndolde, s. Astrantia.

Sterne, 1) (spr. stern) Lawrence, berühmter engl.Humorist, geb. 24. Nov. 1713 zu Clonmel in Irland, widmete sich zuCambridge theologischen Studien und wurde 1720 Pfarrer in Sutton,siedelte 1760 nach London über, bereiste dann Frankreich undItalien und starb 18. März 1768 in London. Sein Hauptwerk ist: "The life and opinions of Tristram Shandy" (Lond. 1759-67, 9Bde., oft aufgelegt; deutsch von Gelbke, Hildburgh. 1869), von demdie beiden ersten Bände ihn bereits auf den Gipfel derPopularität erhoben. Die Neuheit und Seltsamkeit seines Stilserregte allgemeines Aufsehen; er wurde der verzogene Liebling derfeinen Gesellschaft Londons. "Tristram Shandy" ist eineErzählung, die aus einer Reihe von Skizzen besteht und teilsunter der Maske des Yorick (S. selbst), eines Geistlichen undHumoristen, teils unter derjenigen des phantastischen Tristramvorgetragen wird. Das Ganze ist, ähnlich wie bei unserm JeanPaul, mit wunderlicher Gelehrsamkeit verquickt und mehr ein buntesDurcheinander als ein planvolles Kunstwerk. Viel lesbarer als"Tristram Shandy" ist Sternes "Sentimental journey through Franceand Italy" (Lond. 1768 u. öfter; deutsch von Böttger,Berl. 1856; von Eitner, Hildburgh. 1868) geblieben. Der geistvolle,scharf beobachtende, tief empfindende Reisende, hinter dessenleicht hingeworfenen Liebesabenteuern man übrigens kaum einenGeistlichen vermutet, ist eins der frischesten undunvergänglichsten Charakterbilder des 18. Jahrh. Außerden genannten Schriften erschienen von S. mehrere Bände"Sermons" (1760 ff.), die nicht minder den Humoristen verraten,sowie nach seinem Tod "Letters to his most intimate friends" (1775,3 Bde.) und sein Briefwechsel mit Elisa (Elizabeth Draper), einerindischen Lady, zu der er eine Zeitlang in einemLiebesverhältnis stand (1775). Von den vielen Gesamtausgabender Sterneschen Werke ist die neueste, mit SternesSelbstbiographie, von Browne besorgt (1884, 2 Bde.). Vgl. Ferriax,Illustrations of S. (Lond. 1798); Traill, L. S. (das. 1882);Fitzgerald, Life of L. S. (das. 1864, 2 Bde.), worin auch Sternesmerkwürdiges Schicksal nach dem Tod mitgeteilt ist, indem seinLeichnam von den Wiederauferstehungsmännern nach Cambridge aufdie Anatomie verkauft wurde.

2) Carus, Pseudonym, s. Krause 5).

Sterneichuugen, das von William Herschel angewandteVerfahren, um die Verteilung der Sterne im Weltraum zu ermitteln:ein Fernrohr wird nach und nach auf verschiedene Punkte des Himmelseingestellt und die Zahl der gleichzeitig im Gesichtsfelderscheinenden Sterne abgezählt, worauf aus mehrerenbenachbarten Zählungen unter Berücksichtigung derGröße des Gesichtsfeldes ein Schluß auf die Dichteder Sterne an der betreffenden Stelle des Himmels gemacht werdenkann. Herschel kam 1785 auf dieses Verfahren und durchmusterte nachdemselben mit seinem 20füßigen Spiegelteleskop, dessenGesichtsfeld ungefähr 1/833000 des ganzen Himmels betrug, dieZone vom 45.° nördl. bis 15.° südl. Deklination,in welcher er 3400 Felder abzählte.

Sterngewölbe, s. Gewölbe, S. 312 (mitAbbild.).

Sterngucker, s. Dummkoller.

Sternhaufen, s. Fixsterne, S. 322, und Nebel(Nebelflecke).

Sternhaufen, s. Stör.

Sternjahr, s. Jahr.

Sternkammer (lat. Camera stellata, engl. Star Chamber),engl. Gerichtshof, von König Heinrich VII. eingesetzt,welcher, aus dem Lord-Kanzler und aus königlichen Rätenbestehend, über Staats- und Majestätsverbrechen urteilteund unter den letzten Stuarts durch Härte und Willkürsich sehr verhaßt machte. Sterne zierten die Decke desSitzungssaals, daher der Name. Sie ward 1641 aufgehoben (s.Großbritannien, S. 797).

Sternkarten, Darstellung der Himmelskugel mit den Sternenauf einer ebenen Fläche, gewöhnlich in stereographischeroder zentraler Projektton (vgl. Landkarten). Die ältestebemerkenswerte Sammlung von S. ist Bayers "Uranometria" (Augsb.1603), 51 Blätter nebst einem Katalog von 1706 Sternen;gleichfalls aus dem 17. Jahrh. ist Schillers "Coelum stellatumchristianum" (das. 1627) in 55 Blättern, worin an die Stelleder alten Sternbilder die Apostel, Propheten und Heiligen gesetztwaren, sowie Hevels "Firmamentum Sobiescianum" (Danz. 1690), 54Blätter mit 1900 Sternen. Verdrängt wurden diese Atlantendurch Flamsteeds "Atlas coelestis britannicus" (Lond. 1729, 28 Bl.;kleinere Ausg. von Fortin, Par. 1776, und neu aufgelegt 1796),welcher 2919 Sterne enthält und von Bode in Berlin 1782verbessert in 34 Blättern herausgegeben wurde. 1782 erschienBodes "Représentation des astres" (Stralsund), auf 34Blättern gegen 5000 Sterne enthaltend, worauf seine 20großen Himmelskarten in der "Uranographia" (Berl. 1802; 2.Aufl., das. 1819) mit 17,240 Sternen folgten. Diese älternKarten, auf denen überdies die ausführliche Zeichnung derSternbilder sehr störend wirkt, konnten dem Bedürfnis derAstronomen nicht mehr genügen, seitdem man das Kreismikrometerzur Beobachtung der Kometen anwandte; es kam jetzt darauf an,möglichst viel Sterne, auch schwächere, in der Karte zuhaben. Hardings "Atlas novus coelestis" (Götting. 1822; neueAusg., Halle 1856), der auf 27 Tafeln 120,000 Sterne enthält,war in dieser Hinsicht epochemachend. Aus späterer Zeit sindzu nennen: Argelanders "Neue Uranometrie" (Berl. 1843), welche eingetreues Bild des gestirnten Himmels gibt, wie er sich im mittlernEuropa dem bloßen Auge darstellt; dessen "Atlas desnördlichen gestirnten Himmels" (Bonn 1857-63, 40 Karten) undSchwincks "Mappa coelestis" (Leipz. 1843), welche in 5Blättern den nördlichen gestirnten Himmel bis zu 30°südl. Deklination darstellt. Eine bis dahin unbekannteAusführlichkeit zeigen die "Akademischen S.", welche aufBessels Anregung und auf Kosten der Berliner Akademie derWissenschaften 1830-59 von Argelander, Bremiker, Harding,Göbel, Hussey, Inghirami, d'Arrest, Boguslawski, Fellecker,Hencke, Knorre, Morstadt, Bluffen, Steinheil und Wolfersveröffentlicht worden sind und alle Sterne zwischen 15°nördlicher und südl. Deklination bis herab zur neuntenund teilweise bis zur zehnten Größe enthalten. Diese

304

Sternkataloge - Sternschnuppen.

Karten haben bei der ersten Aufsuchung des Planeten Neptun undbei der Entdeckung der Planetoiden wesentliche Dienste geleistet.Für derartige Zwecke genügt es aber, alle Fixsterne inder Nähe der Ekliptik genau zu verzeichnen, da jeder Planetzweimal bei seinem Umlauf die Ekliptik schneidet; dies gab denAnlaß zur Entwerfung der "Ekliptischen Atlanten" von Hind undChacornac, welcher letztere von der Pariser Sternwarte vollendetwird und die Sterne bis herab zur 13. Größe und bis auf2 1/2° Abstand von der Ekliptik auf mehr als 72 Kartendarstellen wird. Für Laien sind geeignet: Littrow, Atlas desgestirnten Himmels (3. Aufl., Stuttg. 1866); Dieu, Atlas celeste(Par. 1865); Proctor, A star atlas showing all the stars visible tothe naked eye and 1500 objects of interest in 12 circular maps(Lond. 1870); Heis, Neuer Himmelsatlas (Köln 1872), welcherauf 12 Karten alle im mittlern Europa am Himmel sichtbaren Objektedarstellt und namentlich auch durch sehr genaue Zeichnung derMilchstraße sich auszeichnet; etwas Ähnliches leistetfür den südlichen Himmel Gould, Uranometria Argentina(1879), und für beide Hemisphären Houzeau,Uranométrie générale (Brüssel 1878);Klein, Sternatlas (Köln 1887); Schurig, Himmelsatlas (Leipz.1886); Messer, Sternatlas für Himmelsbeobachtungen (Petersb.1888).

Sternkataloge, Verzeichnisse der Örter vonFixsternen für einen bestimmten Zeitpunkt mit Angabederjenigen Größen, welche notwendig sind, um dieÖrter zu andern Zeiten zu berechnen. Der älteste, vonHipparch entworfene enthielt 1080 Sternpositionen für das Jahr128 v. Chr.; ihm ist wahrscheinlich der im "Almagest" desPtolemäos enthaltene mit 1025 Sternen nachgebildet. Aus demMittelalter sind zu nennen die S. des Abd al Rahmân alSûfi (903-986): "Description des étoiles fixes,composée au milieu du X. siècle de notre èrepar l'astronome persan Abd al Rahmân al Sûfi, parSchjellerup" (Petersb. 1874) und der des Herrschers von Samarkand,Ulugh Beigh, mit 1019 Sternpositionen für 1437: "Ulugh Beigh,tabulae astronomicae, ed. Th. Hyde" (Oxf. 1665) und das Sammelwerkvon Baily: "The catalogues of Ptolemy, Ulugh Beigh. Tycho Brahe,Halley, Hevelius" (Lond. 1843). Im christlichen Abendland entwarfzuerst Tycho Brahe (1600) ein Verzeichnis von 777 Sternen, sodann(1660) Hevel eins von 1564 Sternen. Leider konnte der letztere sichnicht zum Gebrauch des Fernrohrs bei seinen Beobachtungenentschließen, weshalb auch sein Katalog rasch verdrängtwurde durch den von Flamsteed in der "Historia coelestisbritannica" (Lond. 1712; 2. Ausg. von Halley, 1725)veröffentlichten, welcher 2866 Sterne zählt. Lalandes"Histoire celeste" (Par. 1801) enthält die Örter von47,390 Sternen, die später von Baily mit Hilfe der vonSchumacher gegebenen Reduktionstafeln auf die Epoche 1800 reduziertwurden (Lond. 1847), und Piazzi veröffentlichte (1803) einVerzeichnis von 6748 Sternen, welche Zahl in der späternAusgabe ("Praecipuarum stellarum inerrantium positiones mediaeineuntesaeculo XIX., ed. altera", Pal. 1814) auf 7646 vermehrt ist.Epochemachend sind Bessels "Fundamentaastronomiae" (Königsb.1818), welche auf den Beobachtungen Bradleys fußen; daranreiht sich Argelanders "Bonner Durchmusterung" ("BonnerBeobachtungen", Bd. 3-5, 1859-62), welche 324,198 amnördlichen Himmel bis zu 2° südl. Br. sichtbareSterne aufzählt (von Schönfeld bis 10° südl. Br.fortgesetzt). Ferner sind zu nennen: Baily, "The catalogue of starsof the British Association" (Lond. 1845, 8377 Sternpositionenfür 1850); von Airy eine Reihe von Katalogen nach GreenwicherBeobachtungen von 1836-41 (das. 1843), 1836-47 (das. 1849), 1848-53(das. 1856), 1854-60 (das. 1862), 1861-67 (das. 1868); vonGroombridge "Catalogue of circumpolar stars"; Weißes"Positiones mediae stellarum tixarum in zonis Regiomontanis aBesselio observatarum" (Petersb. 1846 u. 1863, gegen 70,000Sterne); Argelanders "Zonenbeobachtungen" (geordnet von W.Öltzen, Wien 1851, 1852, 1857); Lamonts in den Annalen derMünchener Sternwarte erschienene Verzeichnisse von Sternenzwischen 15° nördlicher und südlicher Deklination(34,634 Sterne, darunter an 12,000 zum erstenmal bestimmte); dasVerzeichnis von Sternen in der Nähe der Ekliptik, die Cooperund Graham zu Markree Castle in Irland beobachteten, u. a. Von dersüdlichen Halbkugel hat zuerst Halley einen Sternkataloggeliefert, ferner im vorigen Jahrhundert Lacaille ("Coelum australestelliferum", Par. 1763; neue engl. Ausg., Lond. 1847); in unsermJahrhundert haben Henderson, Fallows, Brisbane, Maclear u. a.solche S. geliefert, der neueste ist Ellerys "Melbourne catalogue".Kataloge von Doppelsternen haben hauptsächlich W. Herschel, W.Struve und I. Herschel geliefert; den des letztern (mit 10,300Doppel- und vielfachen Sternen) haben Main und Pritchard im 40.Bande der "Memoiren der Londoner Astronomischen Gesellschaft"(Lond. 1874) veröffentlicht. Kataloge der veränderlichenSterne haben Schönfeld (1866 u. 1874), Dreyer (1888) undChandler (1889) geliefert.

Sternkegel, s. Globus, S. 436.

Sternkrant, s. Stellaria.

Sternkreuzorden, österreich. Frauenorden, 18. Sept.1668 von der Kaiserin Eleonore, zur Erinnerung an ein verlornes undwiedergefundenes Reliquienkreuz, für adlige Damen zurFörderung der Andacht zum heiligen Kreuz, des tugendhaftenLebens und wohlthätiger Handlungen gestiftet. Die Zahl derDamen ist unbeschränkt, alter Adel unbedingt erforderlich. DieErnennungen gehen von der Großmeisterin des Ordens, "derhöchsten Ordensschutzfrau", immer einer österreichischenErzherzogin, aus. Die Dekoration, welche viermal geändertwurde, besteht jetzt in einem kaiserlichen Adler, auf welchem einachteckiges rotes Kreuz auf einem blauen liegt; das Ganze istmedaillonartig gefaßt, und an dem obern Rand zieht sich einweiß emailliertes Band mit der Devise: "Salus et gloria" hin.Das Band ist schwarz. Ordensfesttage sind der 3. Mai und 14.September.

Sternkunde, s. Astronomie.

Sternmiere, s. Stellaria.

Sternocleidomastoideus (Musculus s.),Kopfnickermuskel.

Sternsaphir, s. Korund.

Sternschanze, Schanze mit sternförmigemGrundriß.

Sternschnuppen, Lichtpunkte, die in heitern Nächtenplötzlich am Himmel aufleuchten, rasch eine meist scheinbargeradlinige, mehr oder minder ausgedehnte Bahn beschreiben und dannerlöschen, öfters einen leuchtenden Schweifhinterlassend. Größere derartige Erscheinungen nennt manFeuerkugeln (s. d.). Während man sie früher fürentzündete, von der Erde aufgestiegene Gase hielt, hat sichseit Chladni die Überzeugung Bahn gebrochen, daß dieseErscheinungen herrühren von Körpern, die aus dem Weltraumzu uns kommen und in den obern Schichten unsrer Atmosphäre zumLeuchten erhitzt werden. Die

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Sternschnuppen.

Helligkeit der S. ist sehr verschieden, im Mittel gleichderjenigen von Fixsternen 4. Größe. Die Farbe ist meistweiß, ins Gelbe oder Blaue spielend. Nach Schmidt stehtdieselbe im Zusammenhang mit der mittlern Dauer der sichtbarenBewegung; er findet dieselbe nämlich für weiße S.0,75 Sekunden (886 Beobachtungen), für gelbe 0,98 Sek. (400Beob.), für rote 1,63 Sek. (188 Beob.) und für grüne1,97 Sek. (125 Beob.). Beim Erlöschen mancher S. beobachtetman, wie bei den Feuerkugeln, Funkensprühen, auch bisweilenein erneutes Aufleuchten. Der leuchtende Schweif, den vielehinterlassen, dauert häufig mehrere Minuten lang. DieseSchweife zeigen oft merkwürdige Formverändernngen,namentlich sieht man bei teleskopischer Beobachtung in den erstenSekunden starke wellenförmige Krümmungen; auch haben sienach Heis eine seitliche Bewegung. Das Spektrum der S. hat Konkolykontinuierlich von vorherrschend gelber oder grüner Farbe, jenach der Färbung der S., gefunden; Indigo wurde selten, Rotnur bei roten S., Violett nie beobachtet. Im Spektrum des Schweifswurde bei gelben S. Natrium, bei grünen Magnesium, bei rotenStrontium gefunden ; bei einem 156 Sekunden nachleuchtenden Schweifeiner Sternschnuppe, welche die Venus an Helligkeit übertraf,zeigten sich außer den Natrium- und Magnesiumlinien nochhelle Banden in Grün und Blau. Coulvier-Gravier hat zuerstdarauf aufmerksam gemacht, daß die Zahl der S., die einBeobachter stündlich zählt, im allgemeinen im Lauf derNacht von den Abendstunden an zunimmt, und Schiaparelli hat diesdadurch erklärt, daß ein Beobachter um so mehr S. sehenwerde, je höher über dem Horizont der Punkt des Himmelssteht, nach welchem hin die Bewegung der Erde gerichtet ist. DieserPunkt, der sogen. Apex, ist aber um einen Vierteltreis nach W. vonder Sonne aus ; er hat also seinen höchsten Stand umSonnenaufgang. Nach Schmidt fällt die größtestündliche Zahl auf die Stunde von früh 2 1/2-3 1/2 Uhr.Die stündliche Häufigkeit der S. ist auch nicht das ganzeJahr hindurch gleich; nach Schmidt fällt der kleinste Wert aufden Februar, der größte auf den August, wenn man absiehtvon den gleich zu erwähnenden großenNovemberströmen. Durch außerordentliche Häufigkeitder S. sind nämlich die Nächte um den 12. Nov.ausgezeichnet; insonderheit beobachtete man 12. Nov. 1799, 1833,1866 und 1867 förmliche Sternschnuppenregen. Es erreichtdieses Phänomen, wie H. A. Newton bis 902 zurückdargethan hat, alle 33 Jahre seinen Höhepunkt. Weniger dicht,aber gleichmäßiger wiederkehrend sind dieSternschnuppenregen in den Nächten um den 10. Aug.(Laurentiustag). deren schon in altenglischen Kirchenkalendernunter dem Namen der "feurigen Thränen des heil. Laurentius"gedacht wird. Außerdem sind auch die Nächte des 18.-20.April, 26.-30. Juni, 9.-12. Dez. u. a. durch größereHäufigkeit der S. ausgezeichnet. Bei denSternschnuppenfällen in diesen Nächten bewegt sich dieMehrzahl der S. in parallelen Bahnen; sie scheinen von einem unddemselben Punkte des Himmels ausgestreut zu werden, wie es seinmuß, wenn diese Körper in größernSchwärmen Bahnen um die Sonne beschreiben. DieserAusstreuungspunkt oder Radiant liegt für dieNovembersternschnuppen im Sternbild des Löwen (10 Stund.Rektaszension und 23° nördl. Deklination) , für dieLaurentius-S. im Perseus (2,9 Stund. Rektaszension und 56°nördl. Deklination), weshalb man jene auch Leoniden, diesePerseiden nennt. Doch gibt es in diesen Nächten nichtbloß einen, sondern immer mehrere Radianten, so beimNovemberphänomen nach Heis 5; derselbe Beobachter hat amnördlichen Himmel über 80 Radianten bestimmt. Imallgemeinen unterscheidet man die in bestimmten Nächten ingrößerer Häufigkeit fallenden S. als periodischevon den sporadischen, die unregelmäßig aus denverschiedensten Gegenden des Himmels kommen. Die Höhe, inwelcher die S. aufleuchten und verlöschen, läßtsich aus korrespondierenden Beobachtungen von verschiedenen Punktenaus ermitteln. Sie ist sehr verschieden; so fand Heis beimAugustphänomen 1867 Höhen zwischen 20 1/2 und 4 geogr.Meilen (im Mittel 13 1/2 Meilen) für das Aufblitzen, solchezwischen 11 1/2 und 3 Meilen (im Mittel 7 1/2) für dasVerlöschen; doch sind auch noch größere Höhenbis zu 40 Meilen und darüber beobachtet worden. DieGeschwindigkeiten, mit welchen sich die S. bewegen, sind solche,wie wir sie nur bei selbständig um die Sonne laufendenWeltkörpern antreffen, 3 und mehr, selbst 10-20 Meilen in derSekunde. Die kosmische Natur dieser Erscheinungen ist namentlichseit dem bereits erwähnen glänzenden Sternschnuppenfallim November 1866 außer Zweifel gestellt; derselbe hat unsauch noch weitere Aufschlüsse über dieselben gegeben.Schon früher hat man einen Zusammenhang zwischen denSternschnuppenschwärmen und den Kometen geahnt, und namentlichhat Chladni bereits 1819 sich für einen solchen ausgesprochen.Aber erst 1866 wurde es durch Schiaparelli fast außer Zweifelgesetzt, daß manche Kometen, wenn auch nicht alle, zu denErscheinungen der periodischen Sternschnuppenfälle beitragen.Insbesondere glaubte Schiaparelli aus der großenÄhnlichkeit der Bahn des August- oder Laurentiusstroms mitderjenigen des Kometen III des Jahrs 1862 auf eine Identitätbeider Erscheinungen schließen zu müssen. Diese Meinungfand rasch eine Bestätigung durch die von Leverrierausgeführte Berechnung der Bahn des großenNovemberschwarms von 1866. Es machte nämlich sehr bald Petersin Altona auf die auffallende Übereinstimmung dieser Bahn mitderjenigen des Tempelschen Kometen I von 1866 aufmerksam. Seitdemhat die Idee, daß die periodisch erscheinendenSternschnuppenschwärme Teile von Kometen seien, die, durch dieAnziehung der Erde aus ihrer Bahn abgelenkt, durch die obernRegionen unsrer Atmosphäre schießen und hier infolgeihrer raschen Bewegung durch die Luft ins Glühen geraten,immer mehr Anklang gefunden. Insbesondere führt man auch dieglänzenden Sternschnuppenregen vom 27. Nov. 1872 und 1885 aufkleine kosmische Körper zurück, die der zerfallendeBielasche Komet längs seiner Bahn ausgestreut hat.Während aus den größern Feuerkugeln nicht seltenMeteorsteine zur Erde niederfallen, ist bei den S. bis jetzt nochnichts Ähnliches nachgewiesen. Ob die eisenhaltigenStaubmassen, welche Nordenskjöld auf den SchneeflächenSkandinaviens, Gaston Tissandier in Paris und Umgegend gesammeltund untersucht haben, wirklich von den Schweifen der S. undFeuerkugeln herrühren, wie letzterer glaubt, ist nochzweifelhaft. Die gallertigen, frischem Eiweiß oderStärkekleister ähnlichen, oft tellergroßen Massen,die man hin und wieder am Boden findet, und welche die Volksmeinungin Europa und Nordamerika als Sternschnuppensubstanz bezeichnet,sind nach Cohn aufgequollene Frosch-Eileiter, welche wahrscheinlichvon Nachtvögeln ausgeleert werden. Vgl. Schiaparelli, Entwurfeiner astronomischen Theorie der S. (deutsch, Stett. 1871);Boguslawski, Die S. und ihre Beziehungen zu den Kometen (Berl1874).

306

Sternschnuppengallerte - Sternwarte.

Steruschnuppengallerte, s. Nostoc.

Sterusingen, der in der Weihnachtszeit bis zumDreikönigsabend ehedem weit und breit übliche Brauch, miteinem an einer Stange befestigten goldpapiernen Stern herumzuziehenund Weihnachts- oder Dreikönigslieder zu singen, um dafüreine Gabe zu erhalten. Bald sind es Erwachsene, bald Kinder,welche, meist als die drei Könige aus dem Morgenlandverkleidet, von Haus zu Haus ziehen, um ihre Lieder vorzutragen undden Stern oder statt dessen auch einen Kasten mit Puppen zuzeigen.

Sterustein, s. Korund.

Sterntag, s. Tag.

Sterntypen, s. Fixsterne, S. 325.

Sternum (lat.), Brustbein.

Sternutatio (lat.), das Niesen (s. d.).

Stern von Indien, großbrit. Orden, gestiftet 26.Juni 1861 von der Königin Viktoria für das indischeReich. Der Orden besteht aus dem Souverän, demGroßmeister, welcher der Vizekönig von Indien ist, und246 ordentlichen Genossen sowie einer unbegrenzten ZahlEhrenmitglieder. Die Genossen teilen sich in drei Klassen:Großkommandeure (30), Kommandeure (72) und Genossen (144).Die Dekoration besteht in einer Kette aus Lotus, Palmzweigen undroten und weißen Rosen, in der Mitte die königlicheKrone, an welcher das Ordenszeichen hängt, ein kameenartig inOnyx geschnittenes Brustbild der Königin in einemdurchbrochenen Oval, mit der Devise: "Heaven's light our guide",überragt von einem Stern aus Diamanten. Der Ordenssternbesteht in einem Mittelschild mit Diamantstern, von welchemGoldstrahlen ausgehen, und der auf einem blau und weißgeränderten Band ruht, welches die Devise in Diamantenzeigt.

Stern von Rumänien, fürstlich rumän.Zivil- und Militärverdienstorden, gestiftet 10. Mai 1877 vomFürsten Karl I. Der Orden hat fünf Klassen:Großkreuze, Großoffiziere, Kommandeure, Offiziere undRitter, deren Zahl festgestellt ist. Die Dekoration besteht ineinem blau emaillierten Kreuz, das, mit Strahlen verziert, diegoldene Fürstenkrone trägt. Militärverdienst wirddurch gekreuzte Schwerter gekennzeichnet. Der Mittelschild desKreuzes zeigt in rotem Email vorn einen Adler mit der Devise: "Infide salus" in grünem Randreif, hinten die fürstlicheChiffer. Die Ritter tragen das Kreuz in Silber, die andern vonGold; die Großkreuze und Großoffiziere außerdemeinen diamantierten Silberstern mit darauf liegendem Kreuz. DasBand ist rot mit dunkel-blauen Randstreifen.

Sternwarte (Observatorium, hierzu Taf. "Sternwarte"), einzu astronomischen Beobachtungen und Messungen bestimmtesGebäude. Während man früher die Sternwarten derbessern Umsicht halber gern auf Türmen einrichtete, hat man,namentlich im vorigen Jahrhundert, eingesehen, daß so hoheGebäude einen für Erschütterungen sehr empfindlichenund infolge der ungleichen Erwärmung durch die Sonne sehrschwankenden Standort gewähren, weshalb sich auf ihnen genaue,der gegenwärtigen Vollendung der Instrumente und derAusbildung der Beobachtungskunst entsprechende Beobachtungen garnicht ausführen lassen. Man baut daher die Sternwartenheutzutage niedrig und stellt die größern Instrumenteauf steinerne Pfeiler, die mit den übrigen Fundamentenaußer Zusammenhang stehen. Im Meridian, auch im erstenVertikal (s. d.), müssen Einschnitte für dasPassageinstrument vorhanden sein. Ferner baut man für diegrößern Äquatoriale Türme mit drehbarem Dach,die Beobachtungen nach den verschiedensten Richtungen gestatten;auch sorgt man für eine Terrasse od. dgl. zu Beobachtungen imFreien. Die ganzen Baulichkeiten, mit den Wohnräumen fürdas Personal, sollen an einem ruhigen, nicht zu nahe an frequentenStraßen gelegenen Platz, nicht im Innern größererStädte, gelegen sein; die freie Umsicht am Horizont ist nichtnötig, wenn nur in größerer Höhe der Himmelfrei ist, denn Beobachtungen dicht am Horizont sind wenigzuverlässig. Zur Ausstattung einer S. gehören:Meridiankreis, Mittagsrohr, Äquatorial, Vertikalkreis,Heliometer, kleinere Fernrohre, gute Uhren, elektrischeRegistrierapparate und meteorologische Instrumente, zunächstzur Reduktion der astronomischen Beobachtungen. Neuerdings sindaber viele Sternwarten auch zugleich meteorologischeBeobachtungsstationen. Die erste nach neuern Grundsätzenerbaute S. ist die von Greenwich, 1672 errichtet; die nochältere, 1664-72 erbaute Pariser S. ist den Ansprüchen derGegenwart nicht mehr ganz entsprechend. Ein großartigesInstitut ist die 1833-39 auf dem Pulkowaberg bei Petersburgerrichtete Nikolai-Zentralsternwarte. Auch die Vereinigten Staatenvon Nordamerika besitzen eine Anzahl sehr gut eingerichteterSternwarten, unter denen namentlich die Marinesternwarte inWashington sich durch ihre Leistungen hervorgethan hat und dasLick-Observatorium auf dem 1400 m hohen Mount Hamilton inKalifornien durch seine Lage und Ausstattung außerordentlichbegünstigt ist. Ebenso sind in Südamerika,Südafrika, Ostindien und Australien einzelne Sternwartenthätig. Die Gesamtzahl aller Observatorien übersteigtjetzt 200, während sie Ende des vorigen Jahrhunderts nur 130betrug. Auf dem Kontinent von Europa sind die meisten SternwartenStaatsanstalten, in Großbritannien aber haben sich vielePrivatsternwarten durch ihre Leistungen einen Namen erworben. AlsBeispiel einer allen Anforderungen der Neuzeit, sowohl für dieZwecke des Unterrichts als der wissenschaftlichen Forschung,entsprechenden S. dient uns die auf beifolgender Tafel dargestellteneue S. zu Straßburg (die Beschreibung derselben siehe aufder Textbeilage zur Tafel, wo sich auch eine Übersicht derbedeutendsten Sternwarten befindet). Seitdem in den letztenJahrzehnten Physik und Chemie insbesondere in der Photographie undSpektralanalyse neue Hilfsmittel dargeboten haben, welche denUntersuchungen über die physische Beschaffenheit derHimmelskörper einen früher ungeahnten Grad vonGenauigkeit und Zuverlässigkeit verleihen, bilden derartige,ehemals nur einzelnen Liebhabern überlassene Forschungen einewesentliche Aufgabe des Astronomen von Fach. Indessen sind dieältern Sternwarten neben ihren sonstigen, vorzugsweise aufErforschung der Bewegung der Himmelskörper gerichtetenArbeiten nur unvollkommen im stande, sich dieser Aufgabe zu widmen;denn dieselbe stellt nicht nur an die Ausbildung und Arbeitskraftder Beobachter Forderungen besonderer Art, sondern sie verlangtauch bedeutende instrumentelle Hilfsmittel und macht physikalischeund chemische Arbeiten nötig, für welche die älternSternwarten nicht eingerichtet sind. So wie man daher frühereinzelne Sternwarten speziell zur Beobachtung der Erscheinungen aufder Sonne eingerichtet hat, so ist man in der neuesten Zeit an dieErrichtung von Observatorien gegangen, welche der Pflege derverschiedensten Zweige der Astrophysik dienen sollen, so inFrankreich das Observatorium zu Meudon und in Deutschland dasastrophysikalische Observatorium auf dem Telegraphenberg beiPotsdam, das 1879 seiner Bestimmung übergeben wurde.

STERNWARTE DER KAISER WILHELMS-UNIVERSITÄT ZUSTRASSBURG.

Grosser Refraktorbau. (Ansicht.)

Grosser Refraktorbau. (Durchschnitt von A nach B.)

Grosser Refraktorbau.

a. Grosser Refraktor,

b. Raum für konstante Temperatur,

c. Halle.

d. Boden.

e. Gang.

f. Hörsaal.

g. Keller.

h. Vestibül.

i. Bibliothek

k. Direktionszimmer

Gemeinschaftliches Observatoriengebäude.

a. Treppenhaus.

b. Rechenzimmer.

c. Treppengang zum Instrument

d. Instrumente.

e. Eingang zum Meridiansaal.

f. Passageninstrument.

g. Meridiankreis.

Beamtenwohnhaus.

Situationsplan der Sternwarte

Gemeinschaftliches Observatoriengebäude. (Meridianbau.)(Durchschnitt von A nach B.)

Turm des Altazimuth

Turm des Bahnsuchers.

[Zu Artikel und Tafel Sternwarte.]

Die Sternwarte der Kaiser Wilhelms-Universität zuStraßburg.

Die im Sommer 1881 ihrer Bestimmung übergebene Sternwarteder Kaiser Wilhelms-Universität zu Straßburg besteht ausdrei Gebäuden, von denen das eine Wohnungen, die andern beidendie zur Aufstellung der Instrumente nötigen Räumeenthalten. Der Refraktorbau für das Hauptinstrument derSternwarte (s. Tafel) ist ein von einer mächtigen Kuppelgekrönter Turm, der sich 24 m über den Boden erhebt. DieMitte des aus Sandstein aufgeführten Unterbaues, dessenQuerschnitt die Form eines gleicharmigen Kreuzes zeigt, nimmt eineHalle ein, um welche sich eine Anzahl verschiedenen Zweckendienender Räume gruppieren. Die diese Halleeinschließenden sehr starken Mauerpfeiler tragen einmehrfaches Gewölbe, auf welchem die den großen Refraktortragende Säule ruht. Dieses Gewölbe ist von der obern,die Kuppel tragenden Umfassungswand des Turms und von demFußboden des Kuppelraums isoliert, so daß sichErschütterungen dieser Teile nicht direkt auf das Instrumentübertragen können; es umschließt einen Hohlraum,der im Innern des ganzen Mauerwerks zu allen Tages- undJahreszeiten sehr nahe dieselbe Temperatur behält, und inwelchem daher die Normaluhren des Observatoriums ihre Aufstellunggefunden haben. Ein zweiter Raum mit konstanter Temperatur ist nochinmitten des Kellergeschosses gelegen. Die halbkugelförmigeKuppel des Turms (vgl. den Durchschnitt auf der Tafel) von 11 mDurchmesser ist aus eisernen Bogenträgern konstruiert, dieeine außen mit Zink verkleidete Holzverschalung tragen, undan der Innenfläche zum Schutz gegen die sich hier leichtansetzende Feuchtigkeit mit Tuch ausgeschlagen. Ein Spalt von 2 mBreite, vom Horizont durch den Scheitel bis wieder zum Horizontgehend, ermöglicht den Ausblick auf den Himmel; beiungünstigem Wetter wird derselbe durch zwei halbcylindrischeStücke geschlossen, die sich beim Öffnen symmetrischvoneinander entfernen. Die Kuppel ist drehbar und läuft aufdem obern Rande der Turmwand vermittelst an ihr befestigterRäder von 1 m Durchmesser. Sie ist mit einem Zahnkranzversehen, in den eine Transmission eingreift, welche durch ca. 1000kg schwere, in tiefen, zu diesem Zweck im Mauerwerk ausgespartenSchächten niedersteigende Gewichte getrieben wird. DurchUmschaltung einer Welle in dieser Transmission kann man die Drehungrechts- oder linksherum vor sich gehen lassen, und diesesUmschalten ebenso wie das Auslösen der Gewichte erfolgt, indemman durch Schluß eines am Okularende des Fernrohrsangebrachten Kontakts einen Elektromagnet wirken läßt,so daß also der Beobachter, ohne seinen Platz zu verlassenund ohne alle Mühe den Spalt der ca. 34,000 kg schweren Kuppelauf die gerade zu beobachtende Himmelsgegend richten kann. Einebreite Terrasse um die Kuppel ist bestimmt für die mitbloßem Auge oder mit kleinem transportabeln Instrumentenanzustellenden Beobachtungen. Auf ihr befindet sich auch eingroßer Kometensucher von 16,2 cm Öffnung und 1,3 mBrennweite, welchen der auf einem Drehstuhl sitzende Beobachter aufjede Gegend des Himmels richten kann, ohne dabei die Lage seinesKopfes verändern zu müssen. Derselbe dient außerdemzur fortlaufenden Beobachtung des Lichtwechsels der in ihrem Glanzveränderlichen Fixsterne. Unter der Kuppel ruht auf einer 4 mhohen gußeisernen Säule der große parallaktischmontierte Refraktor, dessen Objektiv einen freien Durchmesser von48,7 cm und 7 m Brennweite hat (vgl. Äquatorial).Bemerkenswert sind noch die an der großen Drehkuppelangebrachten Vorrichtungen, um dieselbe auf ihrerAußenfläche vollständig mit Wasser zu berieseln undso im heißen Sommer vor Beginn der Beobachtungen eineraschere Abkühlung derselben zu bewirken. In den erstenAbendstunden würden sonst die das Instrument zunächstumgebenden Luftschichten eine bedeutend höhere Temperatur alsdie äußere Luft zeigen, was eine Störung derdurchgehenden Lichtstrahlen und ein verwaschenes und zitterndesAusheben der im Fernrohr beobachteten Gestirne zur Folge habenmüßte. Der Meridianbau (s. Tafel) enthält in seinemOstflügel den Meridiansaal, dessen Längsachse in derRichtung OW. liegt; er wird in nordsüdlicher Richtung von zweije 1 m breiten, durch Klappen verschließbaren Spaltendurchschnitten, unter denen der Meridiankreis von 16,2 cmÖffnung und 1,9 m Brennweite und das Passageinstrumentaufgestellt sind. Diese Instrumente ruhen, um ihnen eine feste undunveränderliche Aufstellung zu geben, auf starken Pfeilern,die frei aus dem Boden aufsteigen und vom ganzen übrigenGebäude isoliert sind. Die äußern Grundmauern desGebäudes sind gleichfalls sehr stark und mit zwischenliegendenLuftschichten aufgeführt, um die Instrumentenpfeilermöglichst vor Temperaturschwankungen, welche Verziehungenderselben zur Folge haben könnten, zu sichern; sie tragen einflaches Bogengewölbe, durch das jene Pfeiler freihindurchgehen. Der Fußboden ist in derverhältnismäßig beträchtlichen Höhe vonfast 5 m über der Erde angelegt, um die Gesichtslinien derInstrumente auch bei nahezu horizontaler Stellung des Fernrohrs ausdem Bereich der an der Erdoberfläche stattfindendenunregelmäßigen Strahlungen zu bringen. Der Oberbau desMeridiansaals ist aus Eisen konstruiert; Wandung und Dach sind ausverzinntem Wellenblech hergestellt und außen mit einerjalousieartigen Holzverkleidung versehen, um die Innentemperaturdes Raums möglichst gleich der äußernSchattentemperatur zu machen und auf diese Weise sowohl allestörenden Luftströmungen durch die geöffnetenSpalten zu vermeiden als auch namentlich die Bildung von nach obenwärmer werdenden Luftschichten zu verhindern, wodurch auch dieobern und untern Teile der Instrumente sich ungleich erwärmenund infolgedessen ihre genaue Gestalt verlieren würden. DerWestflügel des Meridianbaues wird im N. und S. von zwei mitDrehkuppeln versehenen Türmen begrenzt, die sich bis zurHöhe von 20 m erheben. In dem südlichen Turm istaufgestellt der Bahnsucher, in dem nördlichen das Altazimutmit einem Fernrohr von 13,6 cm Öffnung und 1,5 m Brennweite,welche Instrumente auf sehr starken, vom übrigen Gebäudevöllig getrennten Pfeilern ruhen. Diese verjüngen sichnach oben, sind im Innern bis auf radiale Versteifungen hohl undwerden zum Schutz gegen Wärmeänderungen, welche leichtmerkliche Schwankungen der 16 m hohen Pfeiler verursachenkönnten, von einem Hohlcylinder aus Backsteineneingeschlossen. Um diesen windet sich dann die Wendeltreppe, dievon der äußern Turmwand getragen wird. Die beidendrehbaren Kuppeln haben einen Durchmesser von 5,5 m; diesüdliche ist ganz ähnlich der des Refraktorbaues, dienördliche dagegen ist, weil das unter ihr befindlicheAltazimut eine besonders große Öffnung derselben bei derBeobachtung erforderte, durch einen senkrecht durch ihren Scheitelgelegten Schnitt in zwei gleiche Hälften geteilt, die sichdurch einen Bewegungsmechanismus bis zum Abstand von 2,5 mvoneinander entfernen lassen. Die Galerien und Terrassen, welchedie beiden Kuppeln umgeben, können ebenfalls mit Wasserberieselt werden. Außer den erwähntenMeßwerkzeugen besitzt die Sternwarte noch eine Anzahlkleinerer Instrumente, ein Heliometer, ein transportablesPassageinstrument, welche im Freien unter Bedachung ihreAufstellung gefunden haben, etc.

Übersicht der bedeutendsten Sternwarten.

Sternwarte Länge in Bogen von Greenwich Breite

Deutschland.

Berlin ö. 13° 23' 43" +52° 30' 16,7"

Bonn ö. 7 5 58 +50 43 45,0

Bothkamp b. Kiel (Priv.) ö. 10 7 42 +54 12 9,6

Breslau ö. 17 2 16 +51 6 56,5

Danzig ö. 18 39 51 +54 21 18,0

Düsseldorf (Bilk) ö. 6 46 13 +51 12 25,0

Gotha ö. 10 42 37 +50 56 37,5

Göttingen ö. 9 56 33 +51 31 47,9

Hamburg ö. 9 58 25 +53 33 7,0

Kiel ö. 10 8 52 +54 20 29,7

Königsberg ö. 20 29 43 +54 42 50,6

Leipzig ö. 12 23 30 +51 20 6,3

Lübeck ö. 10 41 24 +53 51 31,2

Mannheim ö. 8 27 41 +49 29 11,0

Marburg ö. 8 46 15 +50 48 46,9

München (Bogenhausen) ö. 11 36 28 +48 8 45,5

Straßburg ö. 7 45 35 +48 34 55,0

Wilhelmshaven ö. 8 8 48 +53 31 57,0

Österreich.

Krakau ö. 19 57 37 +50 3 50,0

Kremsmünster ö. 14 8 3 +48 3 23,7

Pola ö. 13 50 52 +44 51 49,0

Prag ö. 14 25 19 +50 5 18,5

Wien ö. 16 22 55 +48 12 35,5

Wien (Josephstadt) ö. 16 21 19 +48 12 53,8

Schweiz.

Bern ö. 7 26 24 +46 57 6,0

Genf ö. 6 9 16 +46 11 58,8

Neuchâtel ö. 6 57 31 +47 0 1,2

Zürich ö. 8 32 58 +47 22 42,1

Niederlande u. Belgien.

Leiden ö. 4 29 3 +52 9 20,3

Utrecht ö. 5 8 1 +52 5 10,5

Brüssel ö. 4 22 8 +50 51 10,7

Großbritannien.

Armagh w. 6 38 53 +54 21 12,7

Birr Castle w. 7 55 14 +53 5 47,0

Cambridge ö. 0 5 40 +52 12 51,6

Dublin w. 6 20 31 +53 23 13,0

Durham w. 1 34 57 +54 46 6,2

Edinburg w. 3 10 54 +55 57 23,2

Glasgow w. 4 17 39 +55 52 42,6

Greenwich 0 0 0 +51 28 38,4

Liverpool w. 3 4 17 +53 24 3,8

Markree w. 8 27 2 +54 10 31,8

Oxford w. 1 15 39 +51 45 36,0

Portsmouth w. 1 5 55 +50 48 3,0

Tulse Hill w. 0 6 56 +51 26 47,0

Rußland.

Abo (aufgelöst) ö. 22 17 2 +60 26 56,8

Charkow ö. 36 13 40 +50 0 10,2

Dorpat ö. 26 43 22 +58 22 47,1

Helsingfors ö. 24 57 16 +60 9 42,3

Kasan ö. 49 7 13 +55 47 24,2

Kiew ö. 30 30 16 +50 27 12,5

Moskau ö. 37 34 13 +55 45 19,8

Nikolajew ö. 31 58 31 +46 58 20,6

Odessa ö. 30 45 35 +46 28 36,2

Petersburg ö. 30 18 22 +59 56 29,7

Pulkowa ö. 30 19 38 +59 46 18,7

Warschau ö. 21 1 50 +52 13 5,7

Wilna ö. 25 17 58 +54 41 0,0

Schweden u. Norwegen.

Lund ö. 13° 11' 15" +55° 41' 54,0"

Stockholm ö. 18 3 32 +59 20 34,0

Upsala ö. 17 37 30 +59 51 31,5

Christiania ö. 10 43 32 +59 54 43,7

Dänemark.

Kopenhagen ö. 12 34 47 +55 41 13,6

Italien.

Bologna ö. 11 21 9 +44 29 47,0

Florenz ö. 11 15 22 +43 46 4,1

Mailand ö. 9 11 31 +45 28 0,7

Modena ö. 10 55 42 +44 38 52,8

Neapel ö. 14 14 42 +40 51 45,4

Padua ö. 11 52 14 +45 24 2,5

Palermo ö. 13 21 1 +38 6 44,0

Rom ö. 12 28 50 +41 53 53,7

Turin ö. 7 42 5 +45 4 6,0

Venedig ö. 12 21 11 +45 25 49,5

Frankreich.

Marseille ö. 5 23 50 +43 18 19,1

Paris ö. 2 20 13 +48 50 11,2

Toulouse ö. 1 27 44 +43 36 47,0

Spanien.

Madrid w. 3 41 18 +40 24 29,7

San Fernande w. 6 12 33 +36 27 40,4

Portugal.

Lissabon w. 9 6 15 +38 42 15,2

Griechenland.

Athen ö. 23 43 55 +37 58 20,0

Vereinigte Staaten von Nordamerika.

Albany w. 73 44 35 +42 39 49,6

Alfred Centre w. 77 46 46 +42 15 19,8

Alleghany-City w. 80 0 49 +40 27 36,0

Ann Arbor w. 83 43 44 +42 16 48,0

Cambridge w. 71 7 41 +42 22 48,0

Chicago w. 87 36 38 +41 50 1,0

Cincinnatiw. 84 29 41 +39 6 26,5

Clinton w. 75 24 18 +43 3 16,5

Georgetown w. 77 4 30 +38 54 26,1

Licks Sternwarte w. 98 54 34 +19 25 17,0

Mew York w. 73 59 12 +40 43 48,5

Philadelphia w. 75 9 37 +39 57 7,5

Washington w. 77 3 2 +38 53 38,8

Südamerika

Cordova w. 64 11 15 -31 25 15,0

Rio de Janeiro w. 43 8 56 -22 53 51,0

Santiago de Chile w. 70 40 34 -33 26 42,0

Ostindien.

Madras ö. 80 14 19 +13 4 8,1

Australien.

Melbourne ö. 144 58 34 -37 49 53,4

Sydney ö. 151 11 27 -33 51 41,1

Williamstown ö. 144 54 38 -37 52 7,2

Windsor ö. 150 48 50 -33 36 29,2

Kapland.

Kap der Guten Hoffnung ö. 18 28 44 -33 56 3,0

1 1825—63 unter dem Direktorat von J. F. Encke. — 2Bonn: Argelander, von 1837—75 Direktor, bearbeitete daselbstseine ausgezeichneten Sternkarten. — 3 Gotha: Encke begannhier seine astronomische Thätigkeit; ihm folgte 1825 imDirektorat P. A Hansen — 4 Göttingen: K F Gauß1807—55 Direktor. — 6 Königsberg: 1810—46 F.W. Bessel Direktor. — 6 Prag: Tycho Brahe und Kepler habendaselbst gewirkt. - 7 Greenwich: Halley beschloß hierselbstals Direktor der Sternwarte seine ruhmreiche Thätigkeit; ihmfolgte 1725 Bradley. — 8 Abo: ArgelandersFixsternbeobachtungen. — 9 Dorpat: W. Struves Untersuchungenüber Doppelsterne. 1840—66 J. H. Mädler Direktor. -10 Pulkowa: 1839 — 65 W. Struve Direktor. — 11 Bologna:Cassinis erste Beobachtungen. — 12 Palermo: Piazzi entdecktedaselbst den ersten kleinen Planeten. — 13 Rom: Pater Secchis(gest. 1878) spektralanalytische Untersuchungen. — 14 Paris:Cassini erster Direktor 1669; spätere: Bouvard, Arago,Leverrier.

307

Sternweite - Stettin.

Sternweite, Entfernung eines Fixsterns von der Sonne,wenn seine jährliche Parallaxe (s. d.) eine Bogensekundebeträgt, gleich 206,264,8 Erdbahnhalbmessern oderungefähr 30 2/3 Bill. km.

Sternwürmer, s. Gephyreen.

Sternzeit, die durch die scheinbare täglicheBewegung der Fixsterne bestimmte Zeit; vgl. Sonnenzeit und Tag.

Sterrometall, Legierung aus 55 Kupfer, 41 Zink und 4Eisen, von großer Festigkeit und Zähigkeit, dient zuBlech- und Gußwaren, Achsenlagern etc.

Stertmorchel, s. Phallus.

Stertor (lat.), das Röcheln (s. d.).

Stertz, ein steir. Nationalgericht, bestehend aus einemaus Buchweizenmehl bereiteten großen Kloß, welcher mitSpeckgriefen und Milch genossen wird.

Sterzing, Stadt in Tirol, Bezirkshauptmannschaft Brixen,am Eisack und an der Brennerbahn, 947 m ü. M.,altertümlich gebaut, mit gotischer Pfarrkirche, schönemgotischen Rathaus, einem Deutschordenshaus (1263 gestiftet),Kapuzinerkloster, einem Bezirksgericht, Fabrikation von Sensen,Sicheln, Beinlöffeln etc. und (1880) 1528 Einw.Südöstlich das nunmehr ausgetrocknete Sterzinger Moos. S.hieß zur Römerzeit Vipitenum. Gegenwärtig ist esein beliebtes Standquartier der Touristen. Vgl. Fischnaler S. amEisack (2. Aufl., Innsbr. 1885).

Stesichoros, der bedeutendste Vertreter der älterndorischen Lyrik, der "lyrische Homer" genannt, geb. um 630 v. Chr.zu Himera in Sizilien, starb erblindet 556 in Catana. Von ihmrührt die Einteilung der chorischen Lieder in Strophe,Gegenstrophe und Epode her, auch galt er für denBegründer des höhern frischen Stils. Seine vonSpätern in 26 Bücher eingeteilten Festgesängebehandelten in prächtiger Darstellung vorwiegend epischeStoffe; ebenso standen die einfachen metrischen Formen der epischennahe, wie auch der Dialekt der mit wenigen Dorismen gemischteepische war. Wir besitzen von ihm nur Bruchstücke (inSchneidewins "Delectus poesis Graecorum" , Götting. 1839, undBergks "Poetae lyrici graeci" , Bd. 3, 4. Aufl., Leipz. 1882).

Stethograph (griech.), ein Apparat, welcher dieAtmungsbewegungen einzelner Punkte des Brustkorbes in Form vonKurven graphisch darstellt.

Stethoskop (griech.), s. Auskultation.

Stetig, fest, unbeweglich; ununterbrochen, fortdauernd.Eine stetige (kontinuierliche) Größe ist eine solche,deren Teile keine Unterbrechung zeigen, z. B. eine Linie imGegensatz zu einer Reihe voneinander getrennter (diskreter)Punkte.

Stetigkeit, s. v. w. Kontinuität (s. d.).

Stetten, 1) (S. am Kalten Markt) Flecken im bad. KreisKonstanz, in rauher Gegend auf der Hardt, hat eine kath. Kirche,Weißstickerei, Korsettnäherei und (1885) 1037 Einw.-

2) Dorf im bad. Kreis Lörrach, im Wiesenthal, an der LinieBasel-Zell i. W. der Badischen Staatsbahn, hat eine kath. Kirche,Weinbau, Eisengießerei, Baumwollweberei,Gewehrschäftefabrikation und (1885) 2186 Einw.

Stettenheim, Julius, humorist. Schriftsteller, geb. 2.Nov. 1831 zu Hamburg, Sohn eines Kunsthändlers, verließ1857 das väterliche Geschäft, in das er eingetreten war,und begab sich nach Berlin, wo er studierte und gleichzeitig alsSchriftsteller auftrat. Unter den von ihm um jene Zeitveröffentlichten Humoresken, Singspielen, Possen etc.verdienen der "Almanach zum Lachen" (Berl. 1858-63) und das oftgegebene Liederspiel "Die letzte Fahrt" (das. 1861) besondereHervorhebung. Nach vollendetem dreijährigenUniversitätskurs kehrte er nach Hamburg zurück undgründete hier die bekannte humoristisch-satirische Zeitschrift"Die Wespen", die jedoch erst eigentlichen Erfolg hatte, nachdem ermit derselben Ende 1867 nach Berlin übergesiedelt war, wo imJanuar 1868 zuerst die "Berliner Wespen" erschienen, die er nochgegenwärtig redigiert. S. ist einer der glänzendstenVertreter des satirischen Wortwitzes. Von seinenVeröffentlichungen erwähnen wir noch: "Lohengrin",humoristische Albumblätter (Berl. 1859); "Die Hamburger Wespenauf der internationalen landwirtschaftlichen Ausstellung" (das.1863); "Die Hamburger Wespen im zoologischen Garten" (das. 1863);"Satirisch-humoristischer Volkskalender" (das. 1863); "Die BerlinerWespen im Aquarium" (das. 1869); "Ungebetene Gäste", Posse(das. 1869); "Berliner Blaubuch aus dem Archiv der Komik" (das.1869-70, 2 Bde.); "Ein gefälliger Mensch", Posse (das. 1872);"Wippchens sämtliche Berichte" (das. 1878-86, 5 Bde.);"Muckenichs Reden und Thaten" (das. 1885); "Unter vier Augen" (das.1885) u. a. Seit 1885 gibt er die illustrierte Monatsschrift "Dashumoristische Deutschland" (Bresl.) heraus.

Stettin (hierzu der Stadtplan), Hauptstadt derpreuß. Provinz Pommern und des gleichnamigenRegierungsbezirks, Stadtkreis, an der Oder, Knotenpunkt der LinienBerlin-Stargard, Breslau-S. und S.-Mecklenburgische Grenze, 7 mü. M., besteht aus der eigentlichen Stadt am linkenFlußufer mit ausgedehnten neuen Stadtteilen undVorstädten, welch letztere wegen der bis 1873 vorhandenenBefestigung der innern Stadt zum Teil in großer Entfernungvon derselben angelegt sind, und aus der Lastadie und denzugehörigen Anlagen am rechten User. Beide Ufer der Oder sindfür den allgemeinen Verkehr durch drei Brücken(Baumbrücke, Lange Brücke und Neue Brücke)verbunden; für den Eisenbahnverkehr sind über die Oderund ihre Nebenströme besondere Überbrückungenhergestellt. Die innere Stadt enthält acht Plätze: denParadeplatz, den Königsplatz mit den Statuen Friedrichs d. Gr.(von Schadow) und Friedrich Wilhelms III. (von Drake), denRoßmarkt mit monumentaler Fontäne, den Heumarkt und denNeuen Markt, zwischen denen das alte Rathaus steht, den Marktplatzund den Viktoriaplatz, durch das neue Rathaus getrennt, und den mitAnlagen gezierten Kirchplatz. S. hat 6 evang. Kirchen, unterwelchen die in ihrer jetzigen Gestalt spätgotische Petrikirche(1124 gegründet) als die erste christliche Kirche in Pommernund die Jakobikirche (aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrh.)wegen ihrer Größe etc. bemerkenswert sind;außerdem eine kath. Kirche (im Schloß), eineBaptistenkapelle, eine Kirche der Altlutherischen, eine derapostolischen Gemeinde und eine neue Synagoge. Andre hervorragendeGebäude sind: das königliche Schloß (1575 erbaut),jetzt Sitz der Regierung und des Oberlandesgerichts, dasMilitärkasino, das Schauspielhaus, die Börse, dasVereins- und Konzerthaus, der Zirkus, das neue großartigeKrankenhaus (auf einer Anhöhe vor der Stadt, vgl. den Plan beiArt. "Krankenhaus") etc. Bemerkenswert sind ferner zwei vonFriedrich Wilhelm I. erbaute monumentale Thorgebäude(Königsthor und Berliner Thor), welche, seit Abtragung derWälle freigelegt und von der Stadt

Wappen von Stettin.

STETTIN.

Albrecht-Straße

Arndt-Platz

Arndt-Straße

Artillerie-Kaserne

Artillerie-Straße

Artillerie-Zeughaus

Augusta-Straße

Bäckerberg-Straße

Badeanstalt

Bahnhof

Barnim-Straße

Baum-Brücke

Baum-Straße

Bellevue

Bellevue-Straße

Berg-Straße

Berliner Thor, Am

Birken-Allee

Bismarck-Platz

Bismarck-Straße

Bleichholm

Blumen-Straße

Bollwerk

Börse

Breite-Straße

Buggenhagen-Straße

Bürger-Ressource

Burg-Straße

Charlotten-Straße

Deutsche-Straße

Dom Straße, Große

Dom Straße, Kleine

Elisabeth-Straße

Exerzierplatz

Falkenwalder Straße

Fischer-Straße

Fort Preußen

Frauen-Straße

Friedrich-Karl-Straße

Friedrich-Straße

Friedrichs II. Denkmal

Friedrichs Wilhelms III. Denkmal

Fuhr-Straße

Furage-Magazin

Galg-Wiese

Garnison-Lazarett

Garten-Straße

General-Kommando

Gertruden-Kirche

Giesebrecht-Straße

Grabow

Grabower Straße

Grüner Graben

Grüne Schanze

Grünhof

Gastav-Adolf-Straße

Gutenberg- Straße

Güter-Bahnhof

Gymnasium, Kaiser-Wilhelm

Gymnasium, Marienstifts-

Gymnasium, Stadt-

Hauptwache

Heilige Geist-Straße

Heilige Geist-Thor

Heumarkt

Hohenzollern-Platz

Hohenzollern-Straße

Holzmarkt

Holz-Straße

Hühnerbeiner Straße

In den Anlagen

Jageteufel-Straße

Jakobi-Kirche

Johannes-Kirche

Johannis-Kloster

Johannis-Straße

Kaiser-Wilhelm-Platz

Kaiser-Wilhelm-Straße

Karl-Straße

Kirchen-Straße

Kirchplalz

Kohlmarkt

Kommandantur

König-Albert Straße

Königs-Platz

Königs-Straße

Königsthor, Am

Krankenhaus

Krautmarkt

Kronenhof-Straße

Kronprinzen-Straße

Kurfürsten-Straße

Landgericht

Lange Brücke

Lastadie

Linden-Straße

Loge

Logen-Garten.

Löwe-Straße

Luisen-Straße

Lutherischer Kirchhof

Marien-Platz

Marktplatz

Masches Insel

Militär-Kirchhof, Alter

Militär-Kirchhof, Neuer

Mittwoch-Straße

Moltke-Straße

Mönchen-Straße

Münz-Straße

Museum

Neue Brücke

Neuer Markt

Ober-Wick

Oder-Straße, Große

Oder-Straße, Kleine

Offizier-Kasino

Papen-Straße

Parade-Platz

Parnitzer Bollwerk

Passauer Straße

Pelzer Straße

Pölitzer Straße

Polizei-Direktion

Post

Preußische Straße

Prutz-Straße

Rahms Insel

Rathaus

Realschule

Reformierter Kirchhof

Reichsbank

Reifschläger-Straße

Rosengarten-Straße

Roßmarkt

Roßmarkt-Straße

Sankt Petri-Kirche

Sanne-Straße

Schiller-Straße

Schloßkirche

Schloß, Königliches

Schuh-Straße

Schulzen-Straße

Schützengarten

Schwerin-Straße

Schwimm-Anstalt

Sellhaus-Bollwerk

Silberwiese

Speicher-Straße

Synagoge

Tattersall

Theater

Töpfers Park

Töpfers Park-Straße

Turner-Straße

Unter-Wick

Viktoria-Platz

Wall-Straße

Westend

Wilhelm-Straße

Wollweher-Straße, Große

Wrangel-Straße

Zeughaus

Zirkus

Zum. Artikel "Stettin".

308

Stettiner Haff - Steub.

entsprechend ausgebaut, den Mittelpunkt breiter, mit Anlagenversehener Passagen bilden. Die Zahl der Einwohner belief sich 1885mit der Garnison (ein Grenadierregiment Nr. 2, 2 Füsilierbat.Nr. 34 und 2 Abteilungen Feldartillerie Nr. 2) auf 99,543 Seelen,darunter 2881 Katholiken, 923 sonstige Christen und 2501 Juden. DieIndustrie ist bedeutend. S. hat große Eisengießereienund Maschinenfabriken, darunter die große Maschinenfabrik undSchiffbauanstalt "Vulkan" in Bredow (s. d.) mit 4-5000 Arbeitern,Fabrikation von chemischen Produkten (in Pommerensdorf) mit 800-900Arbeitern, Zementfabriken (in Züllchow, Bredow und Podejuch)mit 300-600 Arbeitern, große Mühlenetablissem*nts (inZüllchow), ferner Fabriken für Zucker, Zichorie,Parfümerien, Seife, Stearin, Öl, feuerfesteGeldschränke, Kartonagen, Dachpappe etc., Gartenbau,Bierbrauerei und Branntweinbrennerei. Für den Handel, derdurch eine Handelskammer, eine Börse, eine Reichsbankstelle(Gesamtumsatz 1887: 756 Mill. Mk.) und andre großeGeldinstitute unterstützt wird, ist S. der erste Seeplatz despreußischen Staats. Ausgeführt werden vorzüglich:Getreide, Mehl, Sprit, Ölfrüchte, Holz, Chemikalien,Kartoffeln, Heringe, Zichorie, Zucker, Steinkohlen, Zink etc.,dagegen werden eingeführt: Eisen und Eisenwaren, Erden undErze, Getreide, Mehl, Bau- und Nutzholz, Heringe, Reis, Fettwaren,Petroleum, Steine, Schiefer, Steinkohlen etc. Der Wert der 1887eingeführten Waren betrug 16,760,036 Mk., derausgeführten Waren 17,019,190 Mk. Die Stettiner Reedereizählte 1887: 193 Schiffe, darunter 58 Seedampfer, mit zusammen44,259 Registertonnen Raumgehalt. In den Hafen liefen ein 1887:3826 Schiffe zu 1,116,438 Registertonnen, es liefen aus: 3884Schiffe zu 1,142,427 Registertonnen. RegelmäßigeDampferverbindungen unterhält S. mit den wichtigstenHäfen der Ostsee, mit London und New York. An Bildungs- undandern ähnlichen Anstalten besitzt S. 3 Gymnasien, 2Realgymnasien, eine Handelsschule, ein Lehrerinnenseminar, eineTaubstummen- und eine Blindenanstalt, ein Stadt-, ein pommerschesund ein antiquarisches Museum, einen Verein fürAltertumskunde, einen Kunstverein, mehrere Theater etc.; ferner:eine Hebammenlehranstalt, ein Johanniskloster,Diakonissenanstalten, ein Mädchenrettungshaus u. a. m. S. istSitz eines Oberpräsidiums, einer königlichen Regierung,eines Konsistoriums, eines Medizinal- und einesProvinzial-Schulkollegiums und einer Provinzial-Steuerdirektion,der Provinzialverwaltung , der pommerschenGenerallandschaftsdirektion, einer Rentenbank für dieProvinzen Pommern und Schleswig-Holstein, eines Oberlandes- undeines Landgerichts, einer Oberpostdirektion, eines Seeamtes, einesLandratsamtes (für den Kreis Randow) etc.; ferner: desGeneralkommandos des 2. Armeekorps, des Kommandos der 3. Division,der 5. und 6. Infanterie-, der 3. Kavallerie- und der 2.Feldartilleriebrigade. - Zum Landgerichtsbezirk S. gehören die14 Amtsgerichte zu Altdamm, Bahn, Gartz a. O., Greifenhagen,Kammin, Neuwarp, Pasewalk, Penkun, Pölitz, Stepenitz, S.,Swinemünde, Ückermünde und Wollin. Geschichte. S.ist schon im 11. Jahrh. gegründet worden, erscheint aber erstim 12. Jahrh., seit der Zerstörung von Jumne durch dieDänen, als der erste Seehandelsplatz an der Oder. Von HerzogBarnim I. erhielt es 1243 Stadtrecht. Seit 1107 war es Sitz einespommerschen Fürstenhauses und blieb es, den Zeitraum von 1464bis 1532 abgerechnet, bis zum Aussterben der einheimischenDynastie. 1360 trat es dem Hansabund bei und nahm 1522 dieReformation an. Hier wurde im Dezember 1570 ein Friede zwischenSchweden und Dänemark unter Vermittelung des Kaisersgeschlossen. Am 11. Juli 1630 wurde S. Gustav Adolfeingeräumt, der große Verbesserungen an der Befestigungvornahm. Im Westfälischen Frieden nebst Vorpommern an Schwedenabgetreten, ward die Stadt 6. Jan. 1678 von dem Kurfürsten vonBrandenburg durch Kapitulation eingenommen, aber schon 1679 anSchweden zurückgegeben. Eine abermalige Belagerung hatte sie1713 im Nordischen Krieg von den verbündeten Russen undSachsen auszuhalten, wurde infolge einer Übereinkunft (29.Sept.) von Preußen und Holstein besetzt und erst im Friedenvon Stockholm 1720 nebst Vorpommern an Preußen abgetreten.Nach der Katastrophe von 1806 ward die Festung 29. Okt. vom Generalv. Romberg ohne Widerstand den Franzosen übergeben, die siebis 5. Dez. 1813 besetzt hielten. Durch das Reichsgesetz überden Umbau der deutschen Festungen (19. Mai 1873) ist die Festung S.aufgehoben. Vgl. Thiede, Chronik von S. (Stett. 1849); Berghaus,Geschichte der Stadt S. (Wriezen 1875-76, 2 Bde.); Th. Schmidt, ZurGeschichte des Handels und der Schiffahrt Stettins 1786-1846(Stett. 1875); K. F. Meyer, S. zur Schwedenzeit (das. 1886); W. H.Meyer, S. in alter und neuer Zeit (das. 1887). Der RegierungsbezirkS. (s. Karte "Pommern") umfaßt 12,074 qkm (219,29 QM.) mit(1885) 728,046 Einw. (darunter 709,671 Evangelische, 8871Katholiken und 6832 Juden) und 13 Kreise:

Kreise QKilom. QMeil. Einwohner Einw. auf 1 qkm

Anklam 648 11,77 31088 48

Demmin 984 17,87 46464 47

Greifenberg 764 13,88 36257 47

Greifenhagen 964 17,51 52158 54

Kammin 1135 20,63 43626 38

Naugard 1228 22,30 55208 45

Pyritz 1045 18,98 43968 42

Randow 1316 23,90 109462 83

Regenwalde 1190 21,61 46036 40

Saatzig 1220 22,16 66688 55

Stettin (Stadt) 60 1,09 99543 -

Ückermünde 831 15,09 48693 59

Usedom- Wollin 689 12,51 48855 71

Stettiner Haff, s. Pommersches Haff.

Steub, Ludwig, Schriftsteller, geb. 20. Febr. 1812 zuAichach in Oberbayern, siedelte mit seinen Eltern später nachMünchen über und studierte daselbst erst Philologie, dannaber Rechtswissenschaft. 1834 ging er nach Griechenland, wo er ersteine Stelle im Büreau der Regentschaft zu Nauplia, dann aufdem Staatskanzleramt zu Athen bekleidete und bis 1836 blieb. Nachseiner Rückkehr, die ihn über Rom, Florenz und Venedigführte, ließ er sich in München nieder, wurde hier1845 zum Anwalt, 1863 zum Notar ernannt und starb 16. März1888. Steubs Schriften behandeln vorzugsweise die ethnographischenund kulturhistorischen Verhältnisse der Alpenländer;hierher gehören zunächst: "Über die UrbewohnerRätiens und ihren Zufammenhang mit den Etruskern" (Münch.1843); "Zur rätischen Ethnologie" (Stuttg. 1854); "Dieoberdeutschen Familiennamen" (Münch. 1870); "OnomatologischeBelustigungen aus Tirol" (Innsbr. 1879); "Zur Namens- undLandeskunde der Deutschen Alpen" (Nord l. 1885) und "Zur Ethnologieder Deutschen Alpen" (Salzb. 1887). Mit vielem Glück hat S.sodann die

309

Steuben - Steuerbewilligung.

Ergebnisse strenger Forschung in das Gewand des gefälligunterhaltenden Reisebildes zu kleiden gewußt, so in: "DreiSommer in Tirol" (Münch. 1846; 2. Aufl., Stuttg. 1871, 3Bde.); "Aus dem bayrischen Hochland" (das. 1850); "Das bayrischeHochland" (Münch. 1860); "Wanderungen im bayrischen Gebirge"(das. 1862); "Herbsttage in Tirol" (das. 1867); "AltbayrischeKulturbilder" (Leipz. 1869); "Lyrische Reisen" (Stuttg. 1878) und"Aus Tirol" (das. 1880). Eine Frucht seines Aufenthalts inGriechenland waren die "Bilder aus Griechenland "(Leipz. 1841, 2.Ausg. 1885). Außerdem veröffentlichte erBelletristisches, wie: "Novellen und Schilderungen" (Stuttg. 1853),"Deutsche Träume", Roman (Braunschweig 1858, 3 Bde.), dieErzählungen: "Der schwarze Gast" (Münch. 1863), "Die Roseder Sewi" (Stuttg. 1879), die Lustspiele: "Das Seefräulein"und "D1e Römer in Deutschland" (1873), "Sängerkrieg inTirol", Erinnerungen aus den Jahren 1842-44 (Stuttg. 1882), u. a.Seine "Kleinern Schriften" erschienen gesammelt Stuttgart 1873-75,4 Bde.; seine "Gesammelten Novellen" daselbst 1881 (2. Aufl. 1883).In der "Deutschen Bücherei" erschien von ihm: "Mein Leben"(mit Anhang von Felix Dahn: "Über Ludwig S.", Bresl.1883).

Steuben, 1) Friedrich Wilhelm von, amerikan. General,geb. 15. Nov. 1730 zu Magdeburg, wo sein Vater preußischerIngenieurhauptmann war, trat 1747 als Fahnenjunker in daspreußische Infanterieregiment Lestwitz, ward 1753 Leutnant,machte den Siebenjährigen Krieg meist als Adjutant mitAuszeichnung mit, nahm nach dem Ende desselben als Kapitänseinen Abschied, ward Hofmarschall des Fürsten vonHohenzollern-Hechingen und trat 1775 als Oberst in badischeDienste. Er begab sich 1777 auf Veranlassung des französischenMinisters Saint-Germain und Beaumarchais' nach Nordamerika, wo er1778 als Generalmajor und Generalinspektor der Armee in die Diensteder Vereinigten Staaten trat, erwarb sich um die Disziplinierung,die Organisation und die Einübung der Truppen großeVerdienste, war auch zeitweilig Generalstabschef Washingtons, derihn besonders hochschätzte, und beteiligte sich inhervorragender Weise am Entwerfen der Operationspläne. 1780ward er Greenes Generalquartiermeister in Virginia, wo er auchselbständig operierte und mit kleinen Mitteln bedeutendeErfolge errang. Trotz seiner Verdienste mußte er nachBeendigung des Kriegs sieben Jahre warten, ehe der Kongreßseinen Ansprüchen auf Entschädigung seiner Verluste undeine Pension einigermaßen gerecht wurde; doch machten ihmeinige Staaten Landschenkungen. S. lebte nach seiner Verabschiedungteils in New York, teils aus seiner Farm in Oneida County, wo er28. Nov. 1794 starb. Vgl. F. Kapp, Leben des amerikanischenGenerals F. W. v. S. (Berl. 1858).

2) Karl von, franz. Maler, geb. 19. April 1788 zu Bauerbach inBaden, bildete sich in Paris unter David und Gros und malte nachdem Vorbild dieser Meister eine große Zahl vonGeschichtsbildern von theatralischer Haltung, darunter Peter d. Gr.in einem Sturm auf dem Ladogasee (1813), der Schwur auf demRütli, Tell den Nachen von sich stoßend, Peter d. Gr.als Kind durch seine Mutter vor den aufständischen Strelitzengerettet, Napoleons I. Rückkehr von Elba und Napoleons I. Tod,die Schlachten von Tours, Poitiers und Waterloo (im Museum zuVersailles) u. a. Er starb 21. Nov. 1856 in Paris.

Steubenville (spr. stuhbenwill), nach Steuben 1) benannteStadt im nordamerikan. Staat Ohio, am Ohio, hat lebhaften Verkehr,eine höhere Schule, ein sehr geschätztes Seminar fürMädchen und (1880) 12,097 Einw. In der Nähe sindKohlengruben.

Steud., bei botan. Namen Abkürzung für H.Steudner (s. d.).

Steudner, Hermann, Naturforscher und Afrikareisender,geb. 1832 zu Greiffenberg in Schlesien, studierte in Berlin undWürzburg Botanik und Mineralogie und ließ sich danndurch Barth zur Teilnahme an der deutschen Expedition nach denNilländern unter Heuglin gewinnen. Er begleitete denselben1861 über Massaua und Keren (im Lande der Bogos) nach Adoa,Gondar und südlich davon über Magdala hinaus bis zumKriegslager des Kaisers Theodoros bei Edschebet. Die Rückreiseerfolgte vom Tsanasee ab in nordwestlicher Richtung zum Blauen Nilund nach Chartum. 1863 reiste er wieder mit Heuglin und imAnschluß an die Tinnésche Expedition von Chartum nachdem Bahr el Ghasal und zum See Reck; bei seinem weitern Vorgehenaber nach Westen über den Djurfluß erlag er in dem DorfWau 1863 einer Krankheit. Seine sorgfältigen Berichte (in der"Zeitschrift für allgemeine Erdkunde" 1862-64) sind um sowichtiger, als weite von ihm bereiste Strecken vorher von einemBotaniker von Fach noch nicht durchforscht waren.

Steuer, s. Steuerruder.

Steuerabwälzuug, s. Steuer, S. 312.

Steuerbewilliguug und Steuerverweigerung ist als Recht derVolksvertretung nicht erst mit der konstitutionellen Staatsformanerkannt worden. Die Entstehung dieser Befugnis reicht vielmehrviel weiter zurück. Den mittelalterlichen Ständen in deneinzelnen deutschen Territorien, welche allerdings nicht dieGesamtheit des Volkes, sondern nur gewisse bevorzugte Klassendesselben vertraten, stand sie unbestritten zu. Aus dem Recht,Steuern zu bewilligen, d. h. ihre Erhebung zuzulassen, entwickeltesich aber auch ein Recht der Mitwirkung bei ihrer Verwendung, undso entstand das parlamentarische Budgetrecht. In Englandunterscheidet man dabei einen festen und einen beweglichen Teil desStaatshaushalts. Zu dem festen Teil gehören alle diejenigenEinnahmen, welche durch Gesetz auf unbestimmte Zeit, d. h. auf solange bewilligt sind, bis sie durch ein andres Gesetz aufgehobenwerden, und alle diejenigen Ausgaben, welchedem Betrag nachgesetzlich feststehen. Von den Ausgaben für das Heerabgesehen, welche in England alljährlich neu bewilligt werdenmüssen, gehören die meisten Staatsausgaben dem festenTeil des Budgets an. Dieser feste Teil unterliegt derjährlichen Bewilligung nicht. Das Recht des Unterhauses beiFeststellung des Staatshaushalts besteht nur in folgendenBefugnissen: jeder neuen von der Regierung geforderten Steuer,jeder Verlängerung einer nur periodisch oder auf einenbestimmten Zeitraum eingeführten Steuer, jeder Erhöhungoder Abänderung bestehender Steuern die Zustimmung versagen zukönnen und in dem beweglichen Teil der Staatsausgaben die vonder Regierung geforderten Beträge im einzelnen abzusetzen oderzu streichen. Je nach der Richtung, in welcher diese Befugnisseausgeübt werden, spricht man von einer Bewilligung oderVerweigerung der Steuern. Diese beiden Rechte sind offenbarKorrelate: man kann nur bewilligen, was man auch verweigerndürfte. Die meisten Verfassungen enthalten gegenwärtigdie Bestimmung, daß alle Einnahmen und Ausgaben des Staatsjährlich auf den Staatshaushaltsetat gebracht und dortbewilligt werden müssen. Infolgedessen kann ein

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Steuerbord - Steuern.

Widerspruch zwischen einem Gesetz und einemGeldbewilligungsbeschluß entstehen und damit ein Konflikt,dessen Lösung nicht durch eine Interpretation des geltendenRechts herbeigeführt, sondern der als eine Machtfragebehandelt wird. Ein solcher Konflikt war der preußische"Militärkonflikt", der von 1862 bis 1866 währte.übrigens bleiben Steuergesetze, welche auf die Dauer erlassensind, so lange wirksam , bis sie auf verfassungsmäßigemWeg wieder aufgehoben werden; gleichviel ob das Budget zu standekommt oder nicht. Dies ist z. B. in der preußischenVerfassungsurkunde (Artikel 109) ausdrücklich anerkannt. Umder Volksvertretung ein wirksames Recht der S. u. S. zu geben, istnotwendig, daß wenigstens Eine periodische und beweglicheSteuer vorhanden sei, durch deren Bewilligung oder Verweigerung dieVolksvertretung einen Einfluß auf die beweglichen Ausgabengewinnt. Im Deutschen Reich ersetzen die Matrikularbeiträgediese periodische, bewegliche Steuer, und durch sie übt derReichstag ein Recht der S. u. S. Vgl. Gneist, Budget und Gesetz(Berl. 1867); Laband, Das Budgetrecht (das. 1871).

Steuerbord, die rechte Seite des Schiffs, wenn man in derRichtung von hinten nach vorn sieht. Der Ausdruck stammt daher,daß der Steuermann eines mit einem Riemen oder losen Rudergesteuerten Fahrzeugs seinen Platz an dessen hinterm Ende aufdieser Seite hatte. Vgl. Bord.

Steuerbuch, s. v. w. Kataster (s. d.).

Steuereinheit, die Maßeinheit der Gegenstände,für welche die Steuer ausgeworfen ist; dieselbe kann, wie beispezifischen Zöllen, in Stückzahl, Maß oder Gewicht(100 kg) oder, wie bei Wertzöllen und den meisten Steuern, ineiner Geldsumme angegeben sein. Auch ist S. s. v. w. einfacherSteuersatz oder Simplum, d. h. gleich der Summe, welche als normaleSteuerhöhe für die Einheit der Steuerbemessungsgrundlageangegeben ist und je nach Bedarf des Staats in einem mehrfachenBetrag zur Erhebung gelangt. Das Steuersimplum hat besonders seineBedeutung für die Fälle, in welchen ein eignesSteuerkapital (s. d.) berechnet oder überhaupt eine Steuer alsbewegliche in der Art benutzt wird, daß dieselbe eineErgänzung der übrigen Steuern bildet. Letzteres ist derFall bei der englischen Einkommensteuer, welche vorzüglich zurDeckung von etwanigem Mehrbedarf bestimmt ist, während diepreußische Einkommensteuer in einem festen Prozentsatz vomEinkommen erhoben wird.

Steuerfundation, Steuerdeckung, die Sicherung, welchegegen Entwertung von Staatspapiergeld dadurch geboten wird,daß dasselbe an öffentlichen Kassen an Zahlungs Stattangenommen wird, allenfalls in Verbindung mit dem Zwang, daßbei Meidung eines Strafa*gios wenigstens ein Teil der Steuern inPapiergeld (s. d.) entrichtet werden muß.

Steuerfuß, das Verhältnis der Steuer zuderjenigen Summe, von welcher sie erhoben wird. So ist, wenn voneinem Einkommen von 4-5000 Mk. 100 Mk. entrichtet werden, der S.gleich 0,020-0,025 oder, auf 100 als Einheit bezogen, gleich 2-2,5Proz. Auch wird die Summe, welche von der Einheit derBemessungsgrundlage, mag dieselbe in einer Geldsumme bestehen odernicht, als S. bezeichnet. Insofern wird auch von einem S. bei demDimensionsstempel (s. Stempel) oder bei Zöllen gesprochen,welche nach Maß, Gewicht oder Stückzahl erhobenwerden.

Steuergemeinschaft nennt man zum Zweck einergleichmäßigen Besteuerung geschlosseneStaatenverbindungen. So bilden die norddeutschen Gliederstaaten mitElsaß-Lothringen eine S. für Erhebung wichtigerVerbrauchssteuern.

Steuerkapital, bei verschiedenen direkten Steuern dieSumme, für welche die Steuer als ein Bruchteil in der Artausgeworfen ist, daß die relative Steuerhöhe(Steuerfuß) für alle steuerpflichtigen Personen oderGegenstände als gleich erscheint. Ein S. wird vorzüglichzu dem Zweck berechnet, um in Fällen, in welchen es an einemVergleichsmaßstab für verschiedene Steuern fehlt, eineEinheit zu schaffen und dann nach Bedarf für allegleichmäßig die Steuer in einem Ansatz erhöhen oderherabsetzen zu können. Die Einkommensteuer kann in der Artausgeworfen werden, daß in einer Tabelle die Summen(Prozente) angegeben sind, welche von den verschiedenenEinkommenshöhen erhoben werden. Nach Bedarf könnte einMehrfaches aller Prozente einverlangt werden. Zahlt man z. B. von6000 Mk. 3 Proz., von 1000 Mk. 1 Proz., und muß die Einnahmeauf das Doppelte gesteigert werden, so erhebt man einfach im einenFall 6, im andern 2 Proz. Statt dessen kann aber auch derProzentsatz scheinbar gleich gemacht werden. So könnte, wenn1000 Mk. das niedrigste noch zu besteuernde Einkommen ist, dieSumme als Einheit angenommen werden, von welcher 10 Mk. alsSteuersimplum (1 Proz.) zu erheben sind. Von 6000 Mk. wärenfür gewöhnlich 3 Simpeln zu bezahlen. Um aber auch hierauf 1 Simpel zu kommen, beziffert man das S. für ein Einkommenvon 6000 Mk. auf 18,000 Mk., von welchen ein Simplum sich auf 180Mk. stellt. Seine eigentliche Bedeutung gewinnt aber dieAufstellung eines Steuerkapitals für diejenigen Steuern,welche nach äußern Merkmalen gemessen werden; soinsbesondere für die Gewerbesteuer, zumal wenn diese Steuernmit progressivem Steuerfuß angelegt sind. Man bestimmt dannSteuerkapitalien für gewerbliche Unternehmungen, Grund undBoden, Gebäude, ferner für andre Einkommensquellen mitgenau bestimmbaren Erträgen und erhält eine Gesamtsummefür das ganze Staatsgebiet, von welcher der Normalbedarf dasSimplum (berechnet für 100 oder 1000) ausmacht. Ist der Bedarfm-mal so groß, so werden m Simpla ausgeschrieben underhoben.

Steuerkontingent, der bestimmte von einer Gesamtheit vonPflichtigen und auf die letztern zu verteilende Steuerbetrag, s.Kontingentierung der Steuern.

Steuerkredit, s.Steuern, S. 313, vgl. auchZölle.

Steuermann, auf Kriegsschiffen der Deckoffizier, welcherunter Verantwortlichkeit des wachthabenden Offiziers dieNavigierung des Schiffs leitet, das Steuern beaufsichtigt, loggtund den Wachthabenden bei Beobachtungen unterstützt. AufHandelsschiffen steht der S. zunächst unter dem Kapitän,beaufsichtigt das Steuern, die Takelung, das Ankergerät etc.Er muß im Stande sein, alle Instrumente und die Seekartenrichtig zu benutzen und das Schiff bei jedem Wetter zumanövrieren; im Notfall vertritt er den Kapitän. Ererwirbt seine Qualifikation durch eine reichsgesetzlich geregeltePrüfung für große oder kleine Fahrt. Vgl. Marine,S. 252.

Steuern im weitern Sinn sind alle nicht auf privatrechtlichemTitel beruhenden Abgaben, welche die Angehörigen eineröffentlich-rechtlichen Gemeinschaft an die letztereentrichten. Sie umfassen somit auch Gebühren, Strafgelder etc.sowie solche Abgaben, deren Zweck keineswegs eineEinnahmebeschaffung ist (sogen. Polizeisteuern, echte Luxussteuern,welche den Luxus hindern sollen, etc.). Heute versteht man unterdenselben Beiträge, welche zum Zweck allgemeiner Ko-

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Steuern (Allgemeines, Steuerpolitik).

stendeckung der Staats- oder Gemeindewirtschaft von Staats- oderGemeinde- (Kreis- etc.) Angehörigen sowie von im Staatsgebietsich aufhaltenden Ausländern zwangsweise erhoben werden.Dadurch, daß die S. nicht zur Vergütung eines durch denZahlenden veranlaßten Aufwandes dienen sollen, unterscheidensich dieselben von den Gebühren. Bisweilen wird verlangt, dieBesteuerung solle auch als Mittel benutzt werden, um eine fürdie untern Klassen günstigere Verteilung des Einkommens zubewirken (sogen. sozialpolitische Seite der S.). Während heuteder Zwang ein Merkmal der Steuerbegriffs bildet, war derselbe demletztern früher in Deutschland so fremd, daß V. L. v.Seckendorff in seinem "Deutschen Fürstenstaat" von 1656 die S.als "Extraordinar Anlagen" bezeichnete, welche "freywillig und alsguthertzige Beysteuern gereichet, und dahero auch in etlichen OrtenBethen (nach andrer Schreibweise Beden oder Beeden), das isterbetene Einkünffte, anderswo auch Hülffen und Praesentegenennet werden". Diese Beden (petitiones, precariae, Heischungen)wurden in Geld oder Naturalien entrichtet. Ritter und Geistlichewaren davon meist befreit. In außerordentlichen Fällenwurden sogen. Notbeden gefordert. Auch Städte zahlten oftBeden (Orbede) an den Landesherrn.

Auferlegte S. (Auflagen) wurden von den Germanen früher alsein Zeichen der Unfreiheit betrachtet; noch in den ersten Zeitendes Mittelalters durften die auf dem Reichstag bewilligten S. nurvon denen erhoben werden, die sie bewilligt hatten. Übrigenswaren die S. auch in der ältern germanischen Zeit durch dieSitte mehr oder weniger gebotene Beiträge, welche in der Zeit,als der Staatsgedanke mehr von privatrechtlichen Elementendurchsetzt war, vertragsmäßig geregelt wurden(Ordinarsteuern). Bei außerordentlichen Beihilfen(Extraordinarsteuern) ließen sich die Landständelandesfürstliche Reversbriefe ausstellen, "daß solcheBewilligungen künfftig zu keiner ordentlichen Beschwerung oderAufflage gereichen sollten". Die Einnahmen aus S. flossen in dieder Aufsicht und Kontrolle der Landstände unterstellteSteuerkasse, während die von den Landständenunabhängige Kammerkasse die Einnahmen aus Domänen undRegalien aufnahm. In den modernen Kulturstaaten unterliegt dieBesteuerung und die Verwendung der S. verfassungsmäßigerRegelung und Bewilligung. Die durch Geburt, Ernennung und Wahlbestimmten gesetzgebenden Gewalten ordnen die S. an, währendder einzelne Staatsangehörige sich solcher Anordnung zufügen hat (Steuerrecht des Staats, Steuerpflicht desStaatsangehörigen). Vertritt hierbei die Regierung mit ihrenAnforderungen das Interesse der Verwaltung, so wahrt dieVolksvertretung mit ihrem Steuerbewilligungsrecht dasjenige derSteuerzahler. Dem Steuerbewilligungsrecht entspricht das nicht demeinzelnen Steuerzahler, sondern der Volksvertretung zustehendeRecht der Steuerverweigerung. Doch wird dies Recht nicht alleindurch die gesetzlich feststehenden Ausgaben, sondern überhauptdurch die Notwendigkeit der Staatserhaltung praktischbeschränkt. Die Praxis (in England) und das formale Recht (inDeutschland) fassen das Steuerbewilligungsrecht auch nur in diesemSinn auf. Darum bleiben Steuergesetze, welche nicht für einenbestimmten Zeitraum erlassen werden, so lange bestehen, als sienicht auf verfassungsmäßigem Weg (Übereinstimmungder gesetzgebenden Gewalten) aufgehoben werden, währendfür Einführung neuer S. die Bewilligung derVolksvertretung erforderlich ist (vgl. Budget).

Steuerpolitik

Eine gute Steuerpolitik stellt folgende Anforderungen: I. ImInteresse einer geordneten, echt staatswirtschaftlichenBedarfsdeckung soll 1) die Steuer sich als ausreichend erweisen. 2)Ihr Ertrag soll genügend genau voraus bestimmbar sein und auchpünktlich und sicher eingehen. 3) Die S. müssenfähig sein, sich dem wechselnden Bedarf des Staats anzupassen,ohne daß ihre Erhöhung oder Erniedrigung anderweiteNachteile (z. B. Störungen der Verkehrs- und Erwerbsordnung)im Gefolge hat.

II. Im Interesse der Steuerzahler liegt es, daß 1) dieGesamtlast der Steuer richtig verteilt ist. Es solldemgemäß sein a) die Steuerpflicht eine allgemeine undzwar als subjektive, indem sie alle steuerpflichtigen Personen, alsobjektive, indem sie alle pflichtigen Gegenständeerfaßt. Steuerfreiheiten (Exemtionen, Steuerprivilegien)widersprechen dem herrschenden Gerechtigkeitsgefühl.Früher vielfach von privilegierten Ständen nicht alleinfür ihren Grundbesitz, sondern auch für indirekte Abgabenin Anspruch genommen, sind die Steuerfreiheiten in der neuern Zeitmeist (bei Grundsteuern in der Regel gegen Gewährung vonEntschädigung) aufgehoben worden. Dauernde Freiheiten vondirekten S. (allen, bez. einzelnen) genießen heute meist dasStaatsoberhaupt (in Preußen auch die 1866 depossediertenFürstenhäuser), ehemals reichsunmittelbare Standesherren(in Preußen nur für ihre Domanialgrundstücke),Gesandte fremder Mächte, Offiziere für den Fall derMobilmachung, Beamte für einen Teil der Gemeindesteuer. Dannwird freigelassen nicht allein der Arme, sondern auch von derEinkommensteuer das sogen. Existenzminimum in England bis zu 150Pfd. Sterl., in Preußen bis zu 900 Mk. VorübergehendeBefreiungen, insbesondere von Ertragssteuern, treten oft ein, wosie durch die persönliche Lage (thatsächlich mangelndeSteuerfähigkeit), Elementarereignisse, Meliorationen mitzeitweiliger Ertragslosigkeit auch wirklich geboten ist. Aber auchDoppelbesteuerungen sind zu meiden. Aus diesen Grundsätzenergibt sich bei Beachtung eines gegebenen Steuersystems, wer alspflichtiges Steuersubjekt (Inländer gegenüberAusländern, die Frage des abgeleiteten Einkommens, derBesteuerung von Gesellschaften, Stiftungen, Gemeinden etc.) durchdie Steuer zu erfassen ist. b) Die Steuer sollgleichmäßig verteilt und gerecht sein. Die ältereVergeltungstheorie betrachtete die Besteuerung als eine gerechte,wenn sie dem Vorteil entspreche, den der Steuerzahler von derStaatsverbindung habe (Leistung gleich der Gegenleistung). Dabeinahm man meist an, daß der Staat dem Reichen nachMaßgabe seines Reichtums mehr Vorteile biete als dem Armen.So gelangen wir praktisch zu dem meist vertretenen Steuerprinzip,welches die Steuerfähigkeit als richtigen Maßstabfür die Steuerverteilung betrachtet. Meist wird jetztverlangt, daß der Unkräftige freibleibe (Freilassung desExistenzminimums, die nicht bei allen S. möglich, beiAufwandssteuern durch Wahl der Objekte angestrebt werden kann).Dann sollen die Steuerkräftigenverhältnismäßig stärker belastet werden,indem, wenigstens bei kleinem und mittlerm Einkommen, individuelleVerhältnisse (Krankheit, Stärke der Familie etc.)berücksichtigt werden, das fundierte Einkommen höherbelastet wird. Streitig ist die Frage des Steuerfußes, d. h.hier des Verhältnisses von Gesamtsteuer des Pflichtigen zudessen Gesamteinkommen. Von der einen Seite wird diejenige Steuerals gerecht bezeichnet, welche vom Einkommen einen gleichbleibendenProzentsatz wegnehme

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Steuern (Steuersysteme).

(konstanter Steuerfuß), von der andern diejenige, welchedas höhere Einkommen auch mit einem höhern Prozentsatzbelaste (progressiver Steuerfuß, progressive Steuer). DieIdee der Progression findet mehrfach praktische Anwendung in derEinkommensteuer. Doch kann dieselbe immer nur darin bestehen,daß der Steuerfuß, wenn auch steigend, eine gewisseHöhe nicht überschreitet. weil sonst die baldübermäßig hoch werdende Steuer schädlichwirken würde. Infolgedessen wird sich bei großerVerschiedenheit des Einkommens die Steuer immer nur derartgestalten können, daß der Steuerfuß von unten aufsteigend bei einer gewissen Einkommenshöhe einengleichbleibenden Satz erreicht (degressiver Steuerfuß,degressive Steuer). Bei der Aufwandsteuer läßt sich dieProgression durch entsprechende Auswahl der Steuerobjekte,höhere Belastung der bessern Qualitäten anstreben. Ob sieim ganzen verwirklicht wird, hängt von der Gestaltung desSteuersystems ab. c)Die Steuer soll den Pflichtigen richtigerfassen. Viele

S. werden in der Absicht aufgelegt, daß dieselben vomZahler auf eine dritte Person übergewälzt werden (durchAbzug von Zahlungen, Erhöhung des Kaufpreises). Nicht immersind solche überwälzungen möglich, auch könnensie vorkommen, wo sie der Absicht des Gesetzgebers widersprechen.Die dadurch entstehenden Steuerprägravationen (einseitigenSteuerüberbürdungen), bez. Steuerfreiheiten sindmöglichst durch richtige Wahl der S. undzweckmäßige Ausführung der Besteuerung zu mindern.Von der Steuerüberwälzung (als Rückwälzung vomKäufer auf den Verkäufer als Fortwälzung von diesemauf jenen) ist die sogen. Steuerabwälzung zu unterscheiden,welche darin besteht, daß der Steuerzahler die Steuer durchwirtschaftliche Verbesserungen ausgleicht.

2) Die Steuer soll ferner die wirtschaftliche Lage vonSteuerzahler und Steuerträger, Erwerb und Verkehr nichtverkümmern. Dem entsprechend sind einseitigeSteuerüberlastungen zu meiden und geeignete Besteuerungsformenanzuwenden.

III. Bezüglich der Erhebung ist endlich im Interesse vonVerwaltung und Steuerzahler zu fordern: I) Einfachheit undBestimmtheit der Steuer. Viele Steuervergehen werden unbewußtbegangen, weil die S. und die Steuerbestimmungen zu verwickelt undunklar sind. 2) Möglichste Bequemlichkeit in Bezug auf Ort,Zeit und Art der Entrichtung. Der Zahlungsort soll dem Wohnort desPflichtigen nicht zu entlegen sein. Die Steuer soll möglichstin der Zeit der Zahlungsfähigkeit erhoben werden, darumrichtige Einteilung der Steuertermine, Zulassung vonSteuerkrediten, wenn ohnedies die frühere Erhebung nur derformellen, nicht der tatsächlichen

Fälligkeit der Steuer entspricht (Rohstoffbesteuerung),ferner von Vorauszahlungen und Teilzahlungen. Die Erhebungsformsoll mit ihrer Aufsicht, ihren Kontrollen und Vorschriftenmöglichst wenig lästig fallen.

3) Die Erhebungskosten sollen möglichst niedrig sein.

4) Die Steuer soll dem Reize zu Umgehungen (Ersatz besteuerterVerbrauchsgegenstände, Handlungen etc. durch unbesteuerte),Hinterziehungen (milder Ausdruck für zu niedrigeSteuerfassion), Unterschleif, Schmuggel, Bestechung keinenSpielraum gewähren. Es gibt nun keine Steuer, welche allendiesen Anforderungen gleich vollkommen entspricht. Die gesamteLeistungsfähigkeit läßt sich nicht direkt vollerfassen, weil dieselbe für Dritte nicht genau erforschbarist, vom Steuerpflichtigen aber richtige Angaben nicht zu erwartensind. Die Besteuerung von Einkommen, bez. Ertrag würde wederzureichen, den gesamten Staatsbedarf ohne einseitigen Druckzudecken, noch eine gleichmäßige Verteilung der gesamtenSteuerlast zu bewirken. Diese Steuer darf demnach eine gewisseGrenze nicht überschreiten und muß eine Ergänzungin der indirekten Steuer finden.

Steuersysteme.

Als indirekte Steuer (Aufschlag, in Österreich auchSteuergefälle genannt) wird meist eine solche verstanden,welche dem Steuerzahler in der Absicht aufgelegt wird, daßderselbe sie auf eine dritte Person, den Steuerträger,überwälze, während bei der direkten Steuer(Schatzungen) Zahler und Träger eine und dieselbe Person ist.Da die Erhebungsform der Aufwandsteuern vorwiegend eine indirekteist, so bezeichnet man dieselben meist schlechthin als dieindirekten S. und rechnet denselben vielfach noch die Gebührenund Verkehrssteuern hinzu, während die Ertragssteuern, diePersonal- und Einkommensteuern und die allgemeinenVermögenssteuern als direkte S. zusammengefaßt werden.Von dieser Auffassung weichen andre wesentlich ab. Hoffmann("Lehrevon den S.") bezeichnete als direkte S. solche, die auf den Besitz,als indirekte solche, die auf eine Handlung gelegt werden; Conradnennt indirekte S. diejenigen, bei denen man von den Ausgaben aufdie Einnahmen und somit indirekt auf die Leistungsfähigkeitschließt, während bei direkten S. vom Besitz oder vonden Einnahmen unmittelbar die Leistungsfähigkeitgeschätzt wird.

Aus dem genannten Grund war man von jeher dazu gezwungen,mehrere S. miteinander zu verbinden, von denen eine die andre zuergänzen bestimmt ist. Entspricht die Gesamtwirkung derselbenden Grundsätzen der Besteuerung, so bilden die S. eineinheitliches organisches Steuersystem. Im praktischen Leben kommenfolgende S. nebeneinander vor:

1) S., welche auf Produktions- und Erwerbsquellen gelegt werden,deren Erträge zu treffen bestimmt sind und demgemäßErtragsteuern (s. d.) genannt werden. Dieselben sind echteRealsteuern, wenn sie auf die persönlichen Beziehungen desBesitzers zur Steuerquelle (Schulden, Möglichkeit einer sehrvorteilhaften Ausnutzung infolge persönlicherTüchtigkeit, günstiger sozialer Stellung u. dgl., oderSchwierigkeit einer vorteilhaften Benutzung wegen Krankheit,Überbürdung mit andern Aufgaben, große Entfernungvom Wohnsitz etc.) gar keine Rücksicht nehmen. Einefolgerichtig durchgeführte Ertragsbesteuerung würde diegesamten Reinerträge, welche ein Volk zieht, und damit imwesentlichen auch das gesamte Einkommen desselben treffen. In derPraxis freilich kommt eine derartige Besteuerung nicht vor. Werdendoch in den meisten Ländern wichtige Produktionsquellen voneiner Ertragssteuer nicht belastet. Dann kommen bei Ertragssteuernleicht Doppelbesteuerungen vor, wenn bei denselben nicht scharfzwischen Real- und Personalsteuer unterschieden wird. Erträgewerfen nun ab das Kapital und die Arbeitskraft. Bei jederUnternehmung wären zu treffen alle Bezüge, welche den ander Unternehmung beteiligten Personen zufließen können,also der Unterschied zwischen dem gesamten Rohertrag und denjenigenAufwendungen, welche für den Zweck der Produktion gemachtwerden, ohne jenen Personen einen Genuß zu ermöglichen(Rohstoffe, Heizstoffe, Saatfrucht, Dünger etc.). DieserUnterschied umfaßt die für die Arbeit gezahlten undberechneten Löhne, die gezahlten und zu berechnendenKapitalzinsen und den dem Unternehmer verbleibendenÜberschuß. Trifft man

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Steuern (Veranlagung und Erhebung).

denselben mit einer Art Unternehmungssteuer voll bei jedemUnternehmer, so brauchen die Löhne und die Zinsen derLeihkapitalien nicht noch besonders belastet zu werden. Kommendagegen die Löhne in Abzug, so ist die Arbeitskraft alsErtragsquelle noch für sich zu besteuern. Einvollständiges Ertragssteuersystem müßte alsdanntreffen die Erträge: a) aus Grund und Boden (s. Grundsteuer);b) von Häusern (s. Gebäudesteuer); c) aus allen sonstigengewerblichen und industriellen Unternehmungen (s. Gewerbesteuer);d) aus der Arbeit (s. Lohnsteuer). Wird unter diesem Titel nur dievermietete Arbeitskraft besteuert, so sind die aus der eignenUnternehmung gezogenen Arbeitserträge unter den Titeln vonGrund-, Gebäude- und Gewerbesteuer zu treffen. MehrereLänder besteuern nun noch besonders e) die aus Leihkapitalienfließenden Zinsen (s. Kapitalrentensteuer). Voraussetzunghierfür aber ist, daß bei den Ertragsstenern dieVerschuldung berücksichtigt wird. Je mehr nun die S., welchedie Reinerträge eines ganzen Erwerbskörpers (Fabrik,Landgut) treffen sollen, auf die einzelnen Personen gelegt werden,auf welche sich jene Erträge verteilen, desto mehr nimmt dieRealsteuer den Charakter einer Personalsteuer an. Ganzvorzüglich ist dies der Fall, wenn die Steuer außerdemnicht nach den allgemein möglichen, sondern nach denwirklichen Erträgen bemessen wird.

2) S. auf persönliches Einkommen. Dieselben sindPersonalsteuern, weil sie die Leistungsfähigkeit der einzelnenPersonen treffen. Ist die Steuer auf das Gesamteinkommen gelegt, sonennt man sie allgemeine Einkommensteuer. (s. d.). Eine Abartderselben ist die Rang- oder Klassensteuer (s. d.), bei welchernicht direkt das wirkliche Einzeleinkommen ermittelt, sondern ausäußern Merkmalen, welche zu GruppenbildungenVeranlassung geben, auf die persönlicheLeistungsfähigkeit geschlossen wird. Hierher wird auchvielfach die Kopfsteuer (s. d.) gerechnet. Dieselbe haftetallerdings an einer Person, ist jedoch mit der Realsteuer insofernverwandt, als sie einen allgemein möglichen Erwerbvoraussetzt, ohne die wirkliche Höhe desselben zuberücksichtigen. Die Einkommensteuer kann jedoch auch in derArt aufgelegt werden, daß man die einzelnen Quellen desselbentrifft, wie Einkommensbezüge aus Arbeit (Dienstleistungen,Hilfe bei der Produktion) und aus Besitz (Grundeigentum,Gebäude, flüssiges Kapital) und aus Verbindung von Arbeitmit Besitz (eigne Bewirtschaftung landwirtschaftlichenGeländes, Betrieb industrieller Unternehmungen etc.). Diese"partiellen Einkommensteuern" fallen mit denjenigen Ertragssteuernzusammen, welche die Erträge der Steuerquellen bei ihrerVerteilung auf die einzelnen an denselben bezugsberechtigtenPersonen erfassen.

3) S., welche nach Maßgabe des Aufwandes erhoben werden,welchen ein Steuerpflichtiger macht. Die wichtigsten derselben sinddiejenigen, welche den Verbrauch von Sachgütern, wie Lebens-und Genußmittel (vgl. Zölle und Aufwandsteuern),treffen. Andre werden von Gebrauchsgegenständen erhoben, wieHäusern, Pferden, Hunden etc. Dann gehört hierher dieBesteuerung der Ausgaben, welche für persönlicheDienstleistungen und Vergnügungen (Schaustellungen,Tanzvergnügen etc.) gemacht werden.

4) S. vom Vermögen, welche in der Wirklichkeit jedoch meistAufwand- oder Einkommensteuern sind (vgl.Vermögenssteuern).

5) S., welche bei Gelegenheit von Handlungen und Ereignissenerhoben werden. Hierher gehören die Gebührensteuern (s.Gebühren), die Verkehrssteuern (s. d.), einschließlichder Erbschaftssteuern (s. d.).

6) S., welche ganz oder teilweise die Stelle anderweiter demStaat schuldiger Leistungen vertreten. Dazu gehörtinsbesondere die Wehrsteuer (s. d.).

Veranlagung und Erhebung. Die Ausführung der Besteuerung(Veranlagung, Feststellung der Steuergrundlagen und Erhebung) istbei vielen S., zumal bei denjenigen, bei welchen sich keinebleibenden Merkmale bieten, um Steuerpflicht und Steuerschuldigkeitzu erkennen und zu bemessen, mit großen Schwierigkeitenverknüpft. Zunächst handelt es sich um Feststellung desSteuersubjekts, bez. des für dasselbe haftpflichtigenStellvertreters. Dieselbe ist einfach bei den meisten direkten S.,bei welchen amtliche Nachforschung, Grundbücher, Meldezwangdes Pflichtigen zur Aufstellung von Steuerlisten führen,ebenso bei vielen indirekten Verbrauchssteuern, bei welchenäußere Thatsachen und gewerbepolizeiliche Listen dieErmittelung erleichtern. Bei Zöllen und Accisen ist derFrachtführer, bez. (besonders bei dem Begleitscheinverfahren)der Eigentümer zahlungspflichtig. Bei vielen Verkehrssteuernist durch Gesetz zu bestimmen, wer von beiden Parteien die Steuerzu entrichten hat. Bei mehreren S. fällt die Ermittelung derSteuersubjekte mit derjenigen der Steuerobjekte zusammen, vonwelchen S. zu entrichten sind. Großen Schwierigkeitenbegegnet meist die Bewertung der Objekte, zumal wo es anäußerlich leicht erkennbaren Merkmalen und an objektivenMaßstäben fehlte. Die Bemessung kann erfolgen durch diePflichtigen selbst (Fassion, Steuerbekenntnis bei derEinkommensteuer, der Kapitalrentensteuer, Deklaration), durchSteuergesellschaften, d. h. eine Gruppe von Steuerpflichtigen,welche eine ihr auferlegte Gesamtsumme auf die einzelnen Mitgliederverteilt, durch besondere Steuerkommissionen oderSteuerausschüsse, welche auf Grund äußererMerkmale, von Personal- und Sachkenntnis die Einschätzungvornehmen, durch die Steuerbehörde (Steuerkommissar,Steuerperäquator etc.) selbst, bei einigen S. unter Zuziehungvon Sachverständigen etc. (vgl. Kataster). Die Steuereinhebungwurde früher oft verpachtet, so in Rom, wo die Rittergewerbsmäßig als publicani (Steuerpachter) auftraten, inFrankreich, wo die fermiers généraux (Generalpachter)die S. der Regierung vorstreckten. Doch kommt die Verpachtung heutenur noch selten vor. In manchen Fällen besorgt die Gemeindedie Erhebung, bald als einfaches Erhebungsorgan, bald mit vollerSteuerhaftung, indem sie in diesem Fall oft eine Aversalsumme zahltund diese auf ihre Mitglieder verteilt. Ebenso können drittePersonen, bei welchen sich viele Steuerschuldigkeitenkonzentrieren, die Einhebung übernehmen (bei verschiedenenGebühren und Verkehrssteuern). Meist besorgt heute der Staatdie Erhebung in Regie durch eigne Steuerbeamte (Steuereinnehmer,Steuerempfänger, Steuerperzeptor etc.), insbesondere beimZollwesen, bei verschiedenen direkten Steuern etc. Bisweilen wirdhierbei unter Ersparung spezieller Berechnungen und lästigerEinzelkontrollen die Erhebung dadurch vereinfacht, daß derSteuerpflichtige eine vertragsmäßig festgesetzte Summefür eine bestimmte Periode als Steuerabfindung (Fixation)entrichtet. Im Interesse der Pflichtigen und des richtigenSteuereingangs sind nötig die amtliche Benachrichtigung undSteueransage (Zustellung von Steuerzetteln), Festsetzung vonSteuerterminen und Steuerfristen, die Gewährung vonSteuerkrediten (Gestattung der Zahlung zu späterer Zeit alsder gesetzlich bestimmten, wenn letztere

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Steuerrepartition - Steuerung.

eigentlich zu früh angesetzt ist) unterSicherheitsleistung, die Einräumung des Reklamations-,Beschwerde-, Steuerklagerechts gegenüber der Einschätzungund Erhebung und die Steuerrestitution (Rückersatz, auch alsExportbonifikation) bei Zahlungen, welche über die Grenze derSteuerschuldigkeit hinausgehen. Bei ausbleibender Zahlung trittMahnung und Pfändung (Steuerexekution) ein, allenfalls beiaugenblicklicher Zahlungsunfähigkeit die Steuerstundung, beiUneinbringlichkeit die Niederschlagung (Steuererlaß) oderSteuerabschreibung (der Steuerrückstände oderSteuerreste), ohne solche aber auch nach bestimmter Frist dieSteuerverjährung. Mittel zur richtigen Durchführunggegenüber Steuerhinterziehungen, Defraudationen etc. sind dieSteuerkontrolle, die Steuerstrafe, der Steuereid, dieDenunziantengebühr, die Öffentlichkeit desSteuerverfahrens, Begehung von gegensätzlichen Interessentenbei der Einsteuerung etc. Mitte der 80er Jahre waren dieEinnahmen

an direkten Steuern Mill. Mk. %

an indirekten Steuern Mill. Mk. %

aus andern Quellen Mill. Mk. %

pro Kopf d. Bevöl-kerung Mark

Deutsches Reich nebst Gliederstaaten 260 13 600 29 1240 59 30 7019,40

Österr.-Ungarn 280 21 670 49 410 31 30 70 26,00

Rußland 250 19 780 60 270 30 25 75 11,00

Italien 310 25 590 44 410 21 36 64 29,80

Frankreich 340 14 1800 74 290 18 15 85 56,80

Großbritannien. 270 15 1170 67 310 12 21 79 41,00

Vgl. Gebühren, Zölle, Aufwandsteuern sowie dieverschiedenen Artikel über die einzelnen S.

[Litteratur.] Außer den unter "Finanzwesen" angegebenenWerken vgl. Hofmann, Die Lehre von den S. (Berl. 1840); v. Hock,Die öffentlichen Abgaben und Schulden (Stuttg. 1863);Förstemann, Die direkten und indirekten S. (Nordh. 1868);Schäffle, Die Grundsätze der Steuerpolitik (Tübing.1880); Roscher, System der Finanzwissenschaft (Stuttg. 1886);Kaizl, Die Lehre von der Überwälzung der S. (Leipz.1882); v. Falck, Rückblicke auf die Entwickelung der Lehre vonder Steuerüberwälzung (Dorp. 1882); R. Meyer, DiePrinzipien der gerechten Besteuerung (Berl. 1884); Fr. J. Neumann,Die Steuer (Leipz. 1887, Bd. 1); Holzer, Historische Darstellungder indirekten S. (Wien 1888) ; Mangoldt, Das deutsche Zoll- u.Steuerstrafrecht (Leipz. 1886) ; Vocke, Die Abgaben, Auflagen unddie Steuer vom Standpunkt der Geschichte etc. (Stuttg. 1887);Rousset, Histoire des impôts indirects (Par. 1883).

Steuerrepartition, s. v. w. Steuerverteilung, Umlegungeiner bestimmten Summe auf die einzelnen steuerpflichtigen Personenoder Gegenstände. Vgl. Repartitionssteuern undKontingentierung der Steuern.

Steuerrollen, s. Heberolle n.

Steuerruder (Ruder), Vorrichtung zum Lenken des Schiffs,bestehend aus einem hölzernen oder eisernen Blatt, welches invertikaler Ebene, drehbar am Hintersteven des Schiffs, ähnlichwie eine Thür in ihren Angeln, befestigt ist. Manunterscheidet am S. das Ruderblatt, welches sich ganz oder zumgrößten Teil unter Wasser befindet, und den Ruderhalsmit dem Ruderkopf, welche, wenn erforderlich, wasserdicht durch dieSchiffswand geführt, in den innern Schiffsraum hineinragen. AmRuderkopf greift die Ruderpinne an, ein hölzerner odereiserner einarmiger Hebel, oder das Ruderjoch, ein eisernerzweiarmiger Hebel. Während die Pinne gewöhnlich mit demRuderblatt in einer Ebene liegt, steht das Ruderjoch im allgemeinenquerschiffs. Durch Drehung der Pinne oder des Jochs wird das Ruderum einen ebenso großen Winkel aus der Symmetrieebene desSchiffs herausgedreht und dadurch die Symmetrie des denSchiffskörper umgebenden Wasserstroms gestört,vorausgesetzt, daß ein solcher infolge der bis dahingeradlinigen Bewegung des Schiffs vorhanden ist. Das Schiff wirddadurch gezwungen, von seiner bisherigen Bahn in der Weiseabzuweichen, daß der Mittelpunkt der vom Schwerpunkt desSchiffs beschriebenen Bahnlinie auf derjenigen Seite des Schiffsliegt, nach welcher das Ruderblatt gedreht wurde. In neuerer Zeitist bei einzelnen größern Schiffen (König Wilhelm)das Balanceruder zur Anwendung gekommen, ein Ruder, dessenDrehachse die Fläche des Ruderblattes ungefähr in demVerhältnis von 1:2 teilt, so daß ein Drittel desFlächeninhalts des Blattes vor der Drehachse liegt. EinBalanceruder bedarf einer kleinern Kraft zum Drehen als ein ebensogroßes gewöhnliches Ruder und kann infolgedessenschneller gedreht werden. Anderseits kehrt es nicht so schnell inseine neutrale Lage zurück wie dieses. Die Bewegung der Pinneersolgt bei kleinern Schiffen direkt mit der Hand, beigrößern Schiffen durch Flaschenzüge,Zahnradübersetzungen, Schraubenräder, hydraulischePressen etc. Die Kraft wird am Steuerrad eingeleitet, einem mitGriffen versehenen, um eine horizontale Achse drehbarenSpeichenrad, welches eventuell in mehrfacher Ausführungvorhanden sein muß, um eine größere Anzahl vonLeuten zum Drehen des Ruders verwenden zu können. DerWiderstand des um einen gewissen Winkel gedrehten Ruders ist untersonst gleichen Umständen proportional mit dem Quadrat derSchiffsgeschwindigkeit; steigert man diese auf das Doppelte, sowächst dadurch der Widerstand des Ruders auf die vierfacheGröße. Es ist daher erklärlich, daß bei denneuesten Schiffen mit Geschwindigkeiten bis zu 20 Knoten unddarüber zur Bewegung des Ruders Menschenkraft nicht mehrausreicht, um das Schiff Bahnlinien von starker Krümmungbeschreiben zu lassen. Dies ist die Veranlassung zurEinführung des Dampfsteuerapparats, einer kleinen,zweicylindrischen Dampfmaschine, welche die Achse der bisherigenSteuerräder nach Steuerbord oder Backbord in Rotationversetzt. Die Verrichtung des Mannes am Ruder beschränkt sichalsdann auf das Anlassen dieser Maschine in der einen oder andernRichtung und deren rechtzeitige Arretierung.

Steuerüberwälzuug, s. Steuern, S. 312.

Steuer- und Wirtschaftsreformer, s. Agrarier.

Steuerung, Vorrichtung, mittels deren der Zuflußeiner gepreßten Flüssigkeit oder Luftart zu einerKraftmaschine und der Abfluß derselben nach ihrer Wirksamkeitso geregelt wird, daß der Gang der Maschine zu stande kommt.Die einer solchen S. benötigten Kraftmaschinen, mit Ausnahmeder nur ganz vereinzelt vorkommenden sogen. rotierendenDampfmaschinen, nehmen den Druck der Flüssigkeiten, Gase oderDämpfe mittels eines Kolbens auf, welcher in einem Cylinderdurch ebendiesen Druck hin- und hergetrieben wird. Um dies letzterezu ermöglichen, muß man den arbeitenden Dampf etc.abwechselnd gegen die eine oder andre Seite des Cylindersdrücken und den verbrauchten Dampf etc. auf der derjedesmaligen Druckrichtung entgegengesetzten

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Steuerverein - Stewarton.

Seite wieder austreten lassen. Dazu dient die S., welche in derRegel von der Maschine aus selbstthätig bewegt, seltener vonMenschenhand bedient wird (z. B. bei Hebemaschinen mit direktwirkendem hydraulischen oder Dampfcylinder, bei Dampfbremsen etc.).Man unterscheidet bei jeder S. eine innere und eineäußere S.: erstere bestehend aus irgend einer odermehreren Absperrvorrichtungen (Ventilen, Schiebern, Hähnen,Kolben), letztere aus Exzentriks, Daumen, Wellen, Stangen, Hebelnetc. oder auch aus kleinen Cylindern mit Kolben etc.,überhaupt aus Mechanismen, mittels welcher die erstern inpassender Weise geöffnet oder geschlossen werden. Schieber-,Ventil- und Hahnsteuerungen werden besonders bei Dampfmaschinen undähnlichen Umtriebsmaschinen, Kolbensteuerungen namentlich beiden Wassersäulenmaschinen verwendet. Die Einrichtungen deräußern Steuerungen sind außerordentlichmannigfaltig; man unterscheidet Einrichtungen für die eineRotation hervorbringenden Maschinen, welche ihre Bewegung meist voneiner rotierenden Welle (Schwungradwelle) aus erhalten, und solchefür die sogen. direkt wirkenden, d. h. ohne Rotation, nur hin-und hergehend arbeitenden Motoren, welche von einem hin und herbewegten Maschinenteil bethätigt werden. Hierher gehörendie Steuerungen von Dampfhämmern, Gesteinsbohrmaschinen,direkt wirkenden Dampfpumpen, Wasserhaltungsmaschinen etc. Sehrausgebildet sind die Steuerungen der Dampfmaschinen und besondersdie Expansionssteuerungen mit durch den Regulator verstellbaremExpansionsgrad oder Präzisionssteuerungen (s.Dampfmaschine, S.464 f.). Umsteuerungen bewirken bei Maschinen mit rotierenderBewegung eine Richtungsänderung der Rotation, z. B. beiLokomotiven, Dampfschiffen, Fördermaschinen, Walzwerken etc.Hierher gehören die Kulissensteuerungen (erfunden vonStephenson, abgeändert von Gooch, Allan u. a.), bestehend auseiner geschlitzten Schiene (Kulisse), deren Enden von zwei auf derKurbelwelle der Lokomotive etc. um 180° versetzten Exzentriksso bewegt werden, daß sie abwechselnd vor- undrückwärts gehen. In dem Schlitz der Kulisseläßt sich ein Gleitstück (Stein) auf- undniederschieben, welches mit einer die Bewegung des Schiebers, derVentile oder Hähne der S. vermittelnden Stange verbunden ist,so daß die betreffenden Absperrungsorgane bald von dem einen,bald von dem andern Exzenter ihre Bewegung erhalten oder in Ruhebleiben, je nachdem die Maschine vorwärts oderrückwärts gehen oder stillstehen soll. Steuerungen kommenauch bei manchen Arbeitsmaschinen vor, so z. B. bei denSchiebergebläsen und Schieberpumpen zur Bewegung ihrerSchieber. Die S. der Metallhobelmaschine erzeugt selbstthätigden regelmäßigen Wechsel der Bewegungsrichtung der dasArbeitsstück tragenden Platte (Tisch).

Steuerverein, s. Zollverein.

Steuerverweigerung, s. Steuerbewilligung etc.

Steuervorschuß, s. Antizipation.

Steuerzölle, s. Zölle.

Steuerzuschläge, die Abgaben, welche Gemeinden zurDeckung ihres Bedarfs als Zuschläge zu bestehenden (direkten)Staatssteuern erheben. Vgl. Gemeindehaushalt.

Stev., bei botan. Namen Abkürzung für Ch.Steven, geb. 1781 zu Fredriksham, bereiste Taurien und denKaukasus, gest. 1863 in Simferopol.

Steven, die das Schiff vorn (Vordersteven) und hinten(Achtersteven) begrenzenden, mehr oder weniger senkrechtaufsteigenden Hölzer; s. Schiff, S. 455.

Stevens, Alfred, belg. Maler, geb. 11. Mai 1828 zuBrüssel, besuchte das Atelier von Navez in Brüssel undspäter das von Roqueplan in Paris und malte anfangs kleineHistorienbilder, wandte sich aber bald der Schilderung deseleganten Pariser Lebens der Gegenwart zu. S. schildert mitVorliebe das Pariser Damenboudoir mit seinen Bewohnerinnen mitaußerordentlicher koloristischer Zartheit, seinem Geschmackdes Arrangements u. pikanter Charakteristik. Seine sehr zahlreichenBilder sind meist im Privatbesitz. Das Museum zu Brüsselbesitzt : die Allegorie des Frühlings, der Besuch; das zuMarseille: ausgelassene Maskengruppe am Aschermittwochsmorgen; dieRavené-Galerie in Berlin: die Tröstung. Von seinenübrigen Bildern sind hervorzuheben: die Unschuld, dasNeujahrsgeschenk, der Morgen auf dem Lande, die japanisiertePariserin, die Dame im Atelier, der Frühling des Lebens.Für den König der Belgier malte er in Fresko die vierJahreszeiten als Frauengestalten in moderner Tracht (auch alsÖlbilder wiederholt). Er lebt in Paris. Vgl. Lemonnier in der"Gazette des beaux-arts" 1878. -

Sein Bruder Joseph S. (geb. 1822 zu Brüssel) hat sichebenfalls in der Pariser Schule gebildet und ist als Tiermaler inBrüssel thätig. Seine Hauptwerke sind: der Hund desGefangenen, eine Episode auf dem Hundemarkt in Paris, und eineBrüsseler Straße am Morgen (beide im Museum zuBrüssel), der naschende Affe und der Hund mit der Fliege.

Stevens Point (spr. stihwens peunt), Stadt imnordamerikan. Staat Wisconsin, am obern Wisconsinfluß, mitSägemühlen, Holzhandel und (1885) 6510 Einw.

Steward (engl., spr. stjuh-erd), Verwalter, Ordner,Rentmeister; auf Schiffen s. v. w. Oberkellner. Vgl. HighSteward.

Stewart (spr. stjuh-ert), 1) Dugald, schott. Philo-soph,geb. 22. Nov. 1753 zu Edinburg, erhielt schon 1775 die Professurder Mathematik an der dortigen Universität als Nachfolgerseines Vaters, 1780 die der Moralphilosophie und starb, seit 1810in den Ruhestand versetzt, 11. Juni 1828 in Edinburg. Von seinenoft ausgelegten Schriften, die ihn als einen der Hauptvertreter dersogen. schottischen Schule kennzeichnen, sind hervorzuheben:"Elements of the philosophy of the human mind" (Edinb. 1792-1827, 3Bde.); "Outlines of moral philosophy" (das. 1793); "Philosophicalessays" (das. 1810); "Philosophy of the active and moral powers"(das. 1828). Eine Gesamtausgabe seiner Werke besorgte Hamilton(Edinb. 1854-58, 10 Bde.).

2) Balfour, Physiker, geb. 1. Nov. 1828 zu Edinburg, studiertedaselbst und in St. Andrews, wurde 1859 Direktor des Observatoriumsin Kew, 1867 Sekretär des meteorologischen Komitees, 1870Professor der Physik am Owen's College in Manchester und starb 21.Dez. 1887. Er lieferte mit De la Rue und Loewy sehr bedeutendeUntersuchungen über die Physik der Sonne und mit Taitüber die Erzeugung von Wärme bei der Rotation derKörper im luftleeren Raum; auch lieferte er mehrere Arbeitenüber Magnetismus und Meteorologie und schrieb: "Elementarytreatise on heat" (5. Aufl. 1888); "Lessons in elementary physics"(1871; erweiterte Ausg. 1888; deutsch, Braunschw. 1872); "Physics"(7. Aufl. 1878); "The conservation of energy" (4. Aufl. 1878;deutsch, Leipz. 1875); "The unseen universe" (mit Tait, 6. Aufl.1876); "Lessons in elementary practical physics" (mit Glee,1885-87, 2 Bde.).

Stewarton (spr. stjúh-ert'n), Binnenstadt imnördlichen Ayrshire (Schottland), mit Woll- undKappenfabrikation und (1881) 3130 Einw.

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Steyermark - Stickerei.

Steyermark, s. Steiermark.

Steyr, Stadt mit eignem Statut in Oberösterreich, ander Mündung des Flusses S. in die Enns und an der BahnlinieSt. Valentin-Pontafel, ist Sitz einer Bezirkshauptmannschaft(für die Umgebung von S.) und eines Kreisgerichts, hat eine1443 vollendete gotische Stadtpfarrklrche, eine 980 erbaute, jetztfürstlich Lambergsche Burg, ein Rathaus, eine Oberrealschule,Handelsschule, Fachschule für Eisen- und Stahlindustrie, einebedeutende Sparkasse (Einlagen 10 Mill. Guld.), einePfandleihanstalt und (1880) mit den Vorstädten 17,199 Einw. S.ist ein Hauptsitz der österreichischen Eisenindustrie und desEisenhandels. Es bestehen daselbst: eine große Waffenfabrik,welche hauptsächlich Armeegewehre verfertigt, außerdemMaschinenfabriken, Unternehmungen für Messerschmiedewaren,Ahlen, Feilen, Nägel, Bohrer, Ring- u. Kettenschmiedewaren;ferner Bierbrauereien, Druckereien und Färbereien, Gerbereienund Papiermühlen. S. war ehemals Hauptort einerMarkgrafschaft, welche dem Land Steiermark den Namen gab.Südlich von S. liegt das Dorf Garsten mitMännerstrafanstalt (ehemals Benediktinerstift). Vgl. Widmann,Fremdenführer für S. (Steyr 1884).

Stheino (Stheno), eine der Gorgonen (s. d.).

Sthelenos, nach griech. Mythus Sohn des Kapaneus und derEuadne, war Teilnehmer am Epigonenzug und am Trojanischen Krieg, woer als treuer Gefährte und Wagenlenker des Diomedes tapfermitkämpfte. Auch ein Sohn des Perseus und der Andromeda,welcher den König Amphitryon (s. d.) von Tiryns vertrieb,hieß S.; er war Vater des Eurystheus.

Sthenie (griech.), strotzende Kraftfülle (vgl.Asthenie); sthenisch, vollkräftig; sthenisieren,kräftigen, die Wirkung der Lebenskraft erhöhen.

St. Hil., bei botan. Namen Abkürzung für A. F.C. Prouvensal de Saint-Hilaire (s. d.).

Stibine (Antimonbasen), s. Basen.

Stibio-Kali tartaricum, s. v. w. Brechweinstein.

Stibium, Antimon; S. chloratum, muriaticum,Antimonchlorid; S. sulfuratum aurantiacum, s. Antimonsulfide; S.sulfuratum nigrum, Spießglanz, s. Antimonsulfide; S.sulfuratum rubrum, Mineralkermes, s. Antimonsulfide.

Stich, Bertha und Klara, Schauspielerinnen, s.Crelinger.

Stichblatt, an Schwertern und Degen die über demGriff zum Schutz der Hand angebrachte Platte, welche oftkünstlerisch verziert ist. Besonders von Sammlern gesucht sinddie in Eisen geschnittenen, mit Bronze, Silber und Goldtauschierten japanischen Schwertstichblätter.

Stiche, s. Seitenstechen und Bruststiche.

Stichel, s. v. w. Grabstichel.

Stichkappe, eine dreieckige gewölbte Fläche,welche an den Stirnseiten eines Tonnengewölbes in dieFläche desselben einschneidet. Vgl. Gewölbe, S. 312.

Stichkoupon, s. Koupon.

Stichling (Gasterosteus Art.), Gattung aus der Ordnungder Stachelflosser und der Familie der Stichlinge (Gasterostoidei),Fische mit spindelförmigem, seitlich zusammengedrücktemKörper, spitziger Schnauze, sehr dünnem Schwanzteil,Bürstenzähnen, freien Rückenstacheln vor derRückenflosse, bauchständigen, fast nur aus einemStachelstrahl bestehenden Bauchflossen und bisweilen mit 4-5 Reihenkleiner Schilder an den Seiten. Der gemeine S. (Stechbüttel,G. trachurus L., s. Tafel "Fische II", Fig. 16), 8 cm lang, mitdrei Stachelstrahlen vor der Rückenflosse, oberseitsgrünlichbraun oder schwarzblau, an den Seiten und am Bauchsilberfarben, an der Kehle und Brust blaßrot, variiertvielfach in der Färbung, findet sich in ganz Europa, mitAusnahme des Donaugebiets, und ebenso häufig imsüßen Wasser wie im Meer. Er ist lebhaft,räuberisch und streitsüchtig, kämpft tapfer mitseinen Stacheln und ändert in der Erregung seine Färbung;er jagt auf alle Tiere, welche er zu überwältigen vermag,besonders auf Fischbrut, und ist äußerstgefräßig. Er laicht in seichtem Wasser auf kiesigem odersandigem Grund und baut aus Wurzelfasern, Halmen etc., die er miteinem eigentümlichen Klebstoff verbindet, einfaustgroßes, länglichrundes Nest mit einem seitlichenEingang, welches er freischwebend zwischen Wasserpflanzen befestigtoder halb im Sand vergräbt. In dieses Nest legt das Weibchenseine Eier und bohrt dann auf der dem Eingang entgegengesetztenSeite ein Loch in das Nest, um sich zu entfernen. Das Männchenschafft noch mehrere Weibchen herbei, befruchtet die Eier, bewachtund verteidigt dann das Nest und sorgt durch Bewegung seinerFlossen für die nötige Strömung in demselben. Auchdie Jungen überwacht er und führt entweichende im Maulzum Nest zurück. Auch in der Gefangenschaft baut er Nester undpflanzt sich fort. Der S. soll nur drei Jahre alt werden. In derTeichwirtschaft ist der S. nicht zu dulden; an der Nordseefängt man ihn oft in großer Menge und benutzt ihn alsDünger, Schweinefutter und zum Thransieden.

Stichomantie (griech.), eine Art Wahrsagung aus Zeilenoder Versen (stichos), welche bei den Römern darin bestand,daß Stellen aus Dichtern (namentlich aus Vergil, auch aus denSibyllinischen Büchern) auf Zettel geschrieben und diese,nachdem man sie in einer Urne gemischt hatte, gezogen wurden. Ausdem zufällig gezogenen Los weissagte man sich Gutes oderSchlimmes. Außer andern Büchern wurde späterbesonders die Bibel zu ähnlichem Zweck benutzt.

Stichometrie (griech.), bei den Alten üblichesAbmessen oder Zählen der Zeilen (stichos) in denHandschriften, um den ungefähren Umfang einer Schriftbestimmen zu können (vgl. Ritschl, De stichometria veterum,Bonn 1840); in der Rhetorik eine Antithese, welche im Dialog durchBehauptung und Entgegnung entsteht, wie z. B. in der ersten Szenevon Schillers "Maria Stuart".

Stichtag, bei Zeitgeschäften der Tag derErfüllung; s. Börse, S. 236.

Stichwahl, s. Wahl.

Stichwort (Schlag- oder Merkwort), in derBühnensprache diejenigen Worte eines Darstellers, nach welchenein andrer aufzutreten oder seine Rede anzufangen hat. Ebenso gibtdas S. das Signal zu gewissen in der Handlung des Stücksbedingten szenischen Vorgängen.

Stickerei, eine Kunst, durch welche verzierendeDarstellungen auf schmiegsamen, Falten werfenden Stoffen, also aufGeweben, Gewändern, Leder etc., mit der Nadel hergestelltwerden. Von den Chinesen von alters her gepflegt, war die S. auchden alten Indern und Ägyptern bekannt. Diese gingen in ihrenverzierenden Zeichnungen noch nicht über geometrische Figurenhinaus, wogegen die Assyrer zuerst Tier- und Menschengestalten aufihren glatt anschließenden Kleidern und Vorhängen zurDarstellung brachten. Von ihnen lernten die Griechen und von diesendie Römer, welche die S. phrygische Arbeit nannten. ImMittelalter wurde sie in den Klöstern im Dienste des Kultusfür geistliche Gewänder und Altarbekleidung (Paramente)gepflegt. Ihre Arbeiten wurden vom 11. Jahrh. an von arabischenKunstanstalten

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Stickertressen - Stickmaschine.

übertroffen. Seltene Beispiele, wie ein deutscherKaiserkrönungsmantel, zeugen noch heute von der Höhe derdamaligen S. Mit der geistigen Bildung kam auch die Kunst desStickens in weltliche Hände. Erst in England, später aberin Burgund erreichte sie im 14. Jahrh. die höchste Ausbildungund ist seitdem langsam bis auf unsre Zeit ganz in Verfall geraten,wo auch sie an der allgemeinen Hebung des Kunstgewerbes ihrenAnteil erhielt und jetzt eine verständnisvolle Pflege, zumTeil durch größere Ateliers (Bessert-Nettelbeck inBerlin), findet. Die S. verziert nicht nur, sondern sie bedeckt oftden ihr zu Grunde gelegten Stoff ganz; man könnte danachWeiß- und Buntstickerei unterscheiden, wenngleich auch beider letztern zuweilen der Grund frei stehen bleibt. DieBuntstickerei kann entweder auf einen dichten Grund, auf Leinwand,Tuch, Seide, Leder, oder auf einen eigens dazu gefertigten,siebartig durchlöcherten Stoff, Kanevas, aus Hanf, Leinen,Baumwolle, auch Seide aufgesetzt sein. Auf Kanevas werdenhauptsächlich der gewöhnliche Kreuzstich und seineAbarten (Gobelinstich, Webstich) ausgeführt sowie der sehrfeine Petitpoint-Stich, welcher sehr zarte, mosaikartige Bildnereiermöglicht. Weniger mühsam als der letztere, aber besserals der Kreuzstich zur figürlichen Darstellung geeignet istder Plattstich, mit dem die mittelalterlichen Arbeiten fastdurchgängig auf dichtem Grund gefertigt sind. Während derPetitpoint-Stich nur mit Seidenfäden hergestellt wird,verwendet man für die andern Sticharten gewöhnlichgefärbte Wolle, wenn auch bei ihnen Seide, Goldfäden undsogar zeitweise mit eingenähte Perlen nicht ausgeschlossensind. Andre Arten der S. sind: der Kettenstich, bei welchem jederStich doppelt gemacht wird, indem der Faden von unten nach oben unddurch dasselbe Loch wieder zurückgeht, so eine Schleifebildend, durch welche er, nachdem er durch ein neues Loch wiedernach oben gekommen, gezogen wird; der Steppstich, bei welchem aufder untern Seite des Stoffes ein langer Stich gemacht wird, auf derobern Seite um die Hälfte der Ausdehnung desselben wiederzurückgegriffen wird, so daß auf der untern Seite jederStich doppelt so lang ist wie oben; in umgekehrter Anwendungentsteht der Stielstich. Noch andre Arten des Stichs(Flechtenstich, Doppelstich, Gitterstich, maurischer, spanischerStich) sind bei Lipperheide, Muster altitalienischerLeinenstickerei (Berl. 1881-85, 2 Bde.), beschrieben. Die Art derim Mittelalter hochberühmten Goldstickerei, die so wunderbareWirkung hervorbrachte, wie man sie noch an den in Wien aufbewahrtensogen. burgundischen Gewändern aus dem 15. Jahrh. sieht, isttechnisch sehr von der unsrigen verschieden. Während jetzt dieGoldfäden wie andre Fäden behandelt werden, legte man siefrüher parallel nebeneinander und nähte sie mitÜberfangstichen fest. Auf den so erst gebildeten Grund wurdenun mit Plattstich die eigentliche S. gesetzt, durch welche dasGold hindurchschimmerte (Reliefstickerei). Die heutige Gold- undSilber-Kannetillestickerei nähert sich schon derPerlenstickerei. Dieses reihenweise Aufnähen billigerGlasperlen hat dadurch, daß es den Grundstoff schwer undunbiegsam macht, viel zum Verfall der Kunst beigetragen. Fürden künstlerischen Wert ist allemal die Vorzeichnung desMusters wichtig, die jetzt selten die Erfindung des Verfertigerseiner S. ist. Die Herstellung der Muster ist dagegen zum besondernIndustriezweig der Dessinateure oder Musterzeichner geworden. Eineeigne Art der S. ist noch das Tamburieren, das nicht mit derNähnadel, sondern mit dem Häkelhaken geschieht, wie aufden Handrücken feiner Glaceehandschuhe. Ferner werden jetztfeine Lederwaren, namentlich in Amerika, sehr zart durch auf derNähmaschine hergestellten Steppstich verziert. DieWeißstickerei, abgesehen von der Namenstickerei, dem Zeichnender Wäsche, beschränkt sich auf Verzierung derWäsche und des Tischzeugs in Leinwand oder Baumwolle (deshalbauch Leinenstickerei genannt). In der sogen. französischenWeißstickerei herrscht mehr der Plattstich, in der englischender durchbrochene Arbeit liefernde Bindlochstich vor; doch kommenbei beiden noch der Languettenstich und verschiedenePhantasiestiche zur Anwendung. Die venezianischeWeißstickerei, bei der stellenweise der Grund nach der Arbeitentfernt wird, so daß die durchbrochenen Stellen durch feineFadenverschlingungen gefüllt werden, streift schon nahe an dieSpitzennäherei. Die Weißstickerei ist im westlichenEuropa mehr Sache der Industrie; in Deutschland wird sie imsächsischen Vogtland, namentlich in Plauen, und denangrenzenden Gegenden des Erzgebirges und des bayrischenOberfranken und zwar in ausgedehntester Weise mit Stickmaschinen(s. d.) betrieben. Vgl. die bei den Artikeln Handarbeiten undSpitzen angeführte Litteratur, insbesondere dieMusterbücher von H. Sibmacher (dazu noch: Kreuzstichmuster, 36Tafeln der Ausgabe von 1604, Berl. 1885), und Drahan, Stickmuster(Wien 1873); "Original-Stickmuster der Renaissance" (2. Aufl., daf.1880); Lessing, Muster altdeutscher Leinenstickerei (3 Sammlungen,Berl.); Teschendorff, Kreuzstichmuster für Leinenstickerei(das. 1878-83, 2 Hefte); Wendler, Stickmuster nach Motiven aus dem16. Jahrhundert in Farben gesetzt (das. 1881); H. Schulze,Mustersammlung alter Leinenstickerei (Leipz. 1887); Fröhlich:Neue farbige Kreuzstichmuster (Berl. 1888), Neue Borden (das.1888), Allerlei Gedanken in Vorlagen für das Besticken undBemalen unsrer Geräte (das. l888).

Stickertressen, s. Bortenweberei.

Stickftuß, s. Lungenödem.

Stickgas, s. v. w. Stickstoff.

Stickhusten, s. Keuchhusten.

Stickmaschine, von Josua Heilmann 1829 erfundeneVorrichtung zur Herstellung von Stickereien auf Geweben. DieFiguren entstehen hierbei dadurch, daß die Fäden an denFigurenrändern mittels Nadeln so durch das Gewebe gesteckt unddurchgezogen werden, daß sie nach und nach auf derFläche das Muster erhaben bilden, z. B. indem (Fig. 1) derFaden den durch die Zahlen 1-10 angedeuteten Verlauf nimmt, 1-2oben, 2-3 unten, 3-4 oben u. s. f. Die Heilmannsche S., welche bisheute keine wesentliche Abänderung erfahren hat, ahmt dieHandarbeit genau nach und besteht in der Hauptsache aus dreiTeilen, nämlich einem Rahmen, an welchem das mit Stickerei zuversehende Zeug ausgespannt wird, den Nadeln und einem Apparat,welcher die Nadel ergreift, durchs Zeug sticht und mit dem Fadendurchzieht, also die Hand des Arbeiters ersetzt. Bei der S. ist nunaber der Rahmen nicht, wie beim Handsticken, horizontalfeststehend, sondern beweglich und zwar so, daß das Zeugimmer in einer vertikalen Ebene bleibt, während die Nadeln nureine horizontale Bewegung machen. Wenn also eine Nadel durch dasZeug an einer Stelle, z. B. Punkt 1 der Fig. 1, durchgegangen ist,so wird der Rahmen so bewegt, daß die Nadel beimZurückstechen den nächsten Punkt, z. B. Punkt 2 der Fig.1,

[Fig 1.]

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Stickmaschine.

trifft. Die S. arbeitet mit einer großen Anzahl Nadeln,welche in zwei horizontale Reihen so verteilt sind, daß aufdem Zeuge gleichzeitig zwei kongruente Stickereien an zweiverschiedenen Stellen gebildet werden. Dazu ist es nötig,daß der Rahmen stets parallel verschoben wird. Zu dem Zweckliegt der vertikale Stickrahmen A (Fig. 2) mit zwei runden Schienena auf Rollen b, welche wieder in einem Rahmen c sitzen, der sichmit Schneiden auf das gegabelte Ende eines Hebels d stützt,welcher in Fig. 2 abgebrochen gezeichnet ist, jedoch sich inWirklichkeit über den Drehpunkt d' fortsetzt und am Ende einGegengewicht trägt. Die Gegengewichte beider Hebel halten demRahmen mit den darauf befindlichen Walzen e, e1, e2, e3 und demaufgespannten Zeug das Gleichgewicht. Da nun außerdem derRahmen unten an zwei Stellen durch vertikale Schlitze fgeführt und oben durch zwei Zapfen g des Gestells, welchezwischen Gleitschienen h des Rahmens stecken, gehalten wird, soläßt sich derselbe in horizontaler und vertikalerRichtung so verschieben, daß er in einer vertikalen Ebenebleibt, und daß auch jede in ihm liegende Linie ihrerursprünglichen Lage parallel bleibt. An dem Rahmen sind nunvier Walzen e, e1, e2, e3 in Zapfen drehbar angebracht, wovon jedemit einem Sperrrad versehen ist, in welches je eine Sperrklinke (e'e1', e2', e3') eingreift. Je zwei Walzen (e und e1, e2 und e3)dienen zur Aufspannung je eines Zeugstücks kk' parallel zu demRahmen, während die Sperrklinken die Rückdrehungverhindern. Ist auf jedem Stück eine horizontale Reihenebeneinander liegender Figuren fertig gestickt, so zieht man dasZeug von e auf e1 und von e2 auf e3 ein Stück weiter. DieBewegung zwischen je zwei Nadelstichen wird dem Rahmen nichtdirekt, sondern mit Hilfe eines sogen. Storchschnabels(Pantographen) übertragen. Fig. 3 zeigt denselben mit demRahmen A in verkleinertem Maßstab. I II III IV ist ein inseinen Ecken in Scharnieren drehbares Parallelogramm. Die Seite IIIII ist bis zum Punkt V, die Seite III bis zum Punkt VIverlängert, wobei die Dimensionen I VI und III V sogewählt sind, daß die Punkte V, IV und VI auf einerGeraden liegen. Wenn man daher den Punkt V festhält und denPunkt VI die Kontur irgend einer Figur umfahren läßt, sowird dabei Punkt IV eine dieser ähnliche Figur verkleinertbeschreiben. Der Punkt V ist nun an dem Gestell der S. drehbarbefestigt, während im Punkt IV ein am Rahmen A befindlicherZapfen angebracht ist. Da sich aber der Rahmen A so verschiebt,daß jede Linie in ihm ihrer ursprunglichen Lage parallelbleibt, so wird, wenn Punkt VI an einer vergrößertenFigur des Stickmusters entlang geführt wird, jeder Punkt desRahmens, also auch des aufgespannten Zeugs, dieselbe Figur in(gewöhnlich sechsfach) verkleinertem Maßstabbeschreiben. An dem Stickmuster sind die einzeln Fadenlagen durchLinien, die Nadelstiche durch Punkte angedeutet, der Arbeiterrückt einen in VI befestigten spitzen Stift zwischen je zweiNadelstichen von einem Punkt auf den nächstfolgenden, sodaß jeder Punkt des Zeugs in derselben Richtung um eineverkleinerte Strebe verschoben wird, die der wirklichenGröße des Musters entspricht. Die Nadeln werden durchjedes der beiden Zeugstücke in je einer horizontalen Reihe von50-75 Stück hin- und hergestochen. Dazu sind sie mit zweiSpitzen und einem in der Mitte sitzenden Öhr durch das derFaden gezogen ist, versehen und werden auf jeder Seite von Zangenerfaßt, durchgezogen, dann wieder nach Verschiebung desRahmens rückwärts eingestochen, losgelassen und von derauf der andern Seite dagegen geführten Zange ergriffen unddurchgezogen etc. Diese Zangen sitzen auf jeder Seite in zweihorizontalen Reihen an je einem mit Rollen ll' auf Schienen m m desUntergestells C gegen das Zeug zu bewegenden Gestell B B'. Dasselbebesteht aus einem Wagen n n' von der Breite des Zeugs mit Schilderno o', welche oben und unten prismatische Schienen p p' tragen. Andiesen sind die Zeuge mit ihren festliegenden Schenkeln q q'befestigt, welche an ihrer dem Zeug zugekehrten Seite eine kleinePlatte mit einem konischen Loch zum Einführen der Nadelnhaben. Die Nadel wird so weit eingeschoben, daß sie gegeneinen kleien Vorsprung stößt. Während sie nun ineiner kleinen Rille liegt, wird der bewegliche Backen r r' derZange dagegen gedrückt. Dies geschieht in folgender Weise: DerSchwanz der beweglichen Zangenschenkel steht fortwährendunter

Fig. 2. Stickmaschine (Querschnitt)

Fig. 3. Storchschnabel

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Sticknähmaschine - Stickstoffoxyd.

dem Druck einer auf Schließung der Zange wirkenden Feder ss'. Gegen die andre Seite des Schwanzes legt sich jedoch eineüber sämtliche Zangen einer Reihe fortgehende Welle t t',welche im allgemeinen von rundem Querschnitt und nur von einerSeite abgeflacht ist. Liegt diese Welle mit ihren runden Teilen aufden Zangen, so sind dieselben geöffnet; ist sie dagegen sogedreht, daß sie ihre flache Seite den Zangen zukehrt, sogeben die Schwänze dem Druck der Federn nach undschließen sich. Zur Drehung dieser Wellen dient derZahnsektor u u', in welchen die Zähne einer durch einenbesondern Mechanismus bewegten Zahnstange v v' eingreifen. An denStützen o' sind nun noch kleine durchgehende Wellen w w'gelagert, an deren beiden Enden die Hebelchen x x' und y y'befestigt sind. Die Enden der erstern sind durch je eine parallelzum Zeug liegende dünne Stange z z' verbunden, dieselben legensich unter der Einwirkung der Gewichte ß ß' auf die vondem Gewebe zu den Nadeln geführten Stickfäden und gebenihnen eine gleichmäßige Spannung, werden aberaufgehoben, sobald sich die Zangen dem Zeug so weit nähern,daß die Hebel y y' gegen kleine am Maschinengestellbefestigte Zapfen $\zeta\zeta'$ stoßen. Die Bewegung derWagen n n' mit den daran befindlichen Zangen erfolgt durch einenArbeiter von einer Seite der Maschine aus mittels Mechanismen,welche in der Figur fortgelassen sind. Die Maschine arbeitet nun infolgender Weise: Die einen Enden der Fäden mögen im Zeugbefestigt sein, während die andern in die Nadelneingefädelt sind. Ist der linke Wagen eben gegen das Zeuggefahren, und sind dabei die Nadeln mit ihren aus den Zangenherausstehenden Spitzen durchgestochen, dann muß der rechteWagen mit geöffneten Zangen vor dem Zeug stehen, um die Nadelnzu fassen. Darauf werden zugleich durch Verschiebung derZahnstangen v und v' unter Vermittelung der Zahnsegmente u u' undder Wellen t t' die linken Zangen geöffnet und die rechtengeschlossen, so daß die Nadeln nunmehr in den rechten Zangenfestgehalten werden. Während nun der linke Wagen in seinerStellung verbleibt, entfernt sich der rechte vom Zeug und nimmtdabei die Nadeln mit. Nachdem der Wagen einen kleinen Wegzurückgelegt hat, sind die an w drehbaren kleinen Stangen v anden Zapfen $\zeta$ so weit zurückgeglitten, daß sie sichzugleich mit den Hebeln x und den daran befestigten Querstangen zunter der Einwirkung des Gewichtshebels ß gesenkt haben, sodaß die Stangen z sich auf die durch das Zeughindurchgezogenen Fadenenden legen. Der Wagen wird so weitgeführt, bis die Fäden ganz ausgezogen sind, wobei siedurch die aufgelegte Stange z eine gleichmäßige schwacheSpannung erhalten, welche genügt, die eben auf der linkenSeite des Zeugs entstandene Lage von Fadenschleifen gehöriganzuziehen. Nun wird der Rahmen A mit Hilfe des Storchschnabelsverschoben, dann der Wagen B zurückgeführt, damit zgehoben und die Nadeln von rechts nach links durchgesteckt, woraufsich der beschriebene Vorgang abwechselnd von links und rechtswiederholt. In neuester Zeit ist für die S. eine neueGrundlage dadurch gewonnen, daß man, wie bei denNähmaschinen, Nadeln mit dem Öhr an der Spitze und kleineSchiffchen zum Durchbringen eines zweiten Fadens anwendet, also dieSticknähmaschine nachahmt. Vgl. Jäck, Die rationelleBehandlung der S. (3. Aufl., Leipz. 1886).

Sticknähmaschine, zum Sticken kleiner Mustereingerichtete Nähmaschine, besteht aus einer gewöhnlichenNähmaschine, auf deren Nähplatte der Stoff, in einenStickrahmen eingespannt, durch Führung des letzternvermittelst eines Storchschnabels, wie bei den Stickmaschinen,unter der Nadel hin- und hergeschoben wird, so daß dieFiguren durch Plattstich entstehen.

Stickoxyd und Stickoxydul, s. v. w. Stickstoffoxyd, resp.Stickstoffoxydul.

Stickseide, s. v. w. Plattseide.

Stickstoff (Stickgas, Azot, Luftgas, Nitrogenium) N,chemisch einfacher Körper, findet sich in der Atmosphäre(79 Volumprozent), mit Sauerstoff und Wasserstoff verbunden alssalpetrige Säure und namentlich als Salpetersäure, mitWasserstoff verbunden als Ammoniak weitverbreitet, mit Kohlenstoff,Wasserstoff und Sauerstoff verbunden in vielen Tier- undPflanzenstoffen, namentlich in den Proteinkörpern. ZurDarstellung von S. entzieht man der Luft den Sauerstoff durchEisen- oder Manganhydroxydul, alkalische Pyrogallussäure oderalkalische Kupferchlorürlösung, durch Phosphor,glühende oder mit Salzsäure befeuchteteKupferdrehspäne etc., oder man erhitzt eine Lösung vonsalpetrigsaurem Ammoniak (NH4NO2), welches dabei in S. und Wasser(H2O) zerfällt, oder man leitet Chlor in stetsüberschüssiges Ammoniak, wobei Salmiak (NH4Cl) und S.entstehen; auch kann man saures chromsaures Ammoniak (oder einGemisch von saurem chromsaurem Kali mit Salmiak) erhitzen, welchessich zu Wasser, Chromoxyd und S. zersetzt. S. ist ein farb-,geruch- und geschmackloses Gas, welches unter einem Druck von 200Atmosphären und bei sehr niedriger Temperatur zu einerfarblosen Flüssigkeit verdichtet werden kann. Es besitzt einspezifisches Gewicht von 0,971 (1 Lit. wiegt bei 0° und 760 mmBarometerstand 1,256 g); das Atomgewicht ist 14,01, 100 VolumenWasser lösen bei 0°: 2,035, bei 15°: 1,478 Vol. S.,Alkohol löst etwas mehr. S. ist sehr indifferent,unterhält weder die Verbrennung noch die Atmung, ist auchselbst nicht brennbar und verbindet sich direkt nur mit wenigenElementen; aus indirektem Weg aber bildet er eine Reihe vonVerbindungen, die meist durch sehr charakteristische Eigenschaftenausgezeichnet sind: manche von ihnen sind sehr beständig,andre höchst wandelbar, zum Teil explosiv, wie derChlorstickstoff, manche Nitrokörper etc. S. trittgewöhnlich dreiwertig, in manchen Verbindungen aber auchfünfwertig auf. Er bildet mit Sauerstoff fünfVerbindungen: Stickstoffoxydul N2O, Stickstoffoxyd NO,Stickstofftrioxyd (Anhydrid der salpetrigen Säure) N2O3,Stickstoffperoxyd NO2 und Stickstoffpentoxyd (Anhydrid derSalpetersäure) N3O5. Er wurde von Rutherford 1772 entdeckt,insofern dieser zeigte, daß die Luft, in welcher Tieregeatmet hatten, auch nach Beseitigung der ausgeatmetenKohlensäure die Verbrennung einer Kerze nicht mehrunterhält. Scheele sprach 1777 bestimmt von zwei Bestandteilender Luft, und Lavoisier erkannte den S. als einfachen Körperund nannte ihn Azot, weil er das Leben nicht unterhält,während Chaptal den Namen Nitrogène vorschlug, weil erin Salpeter enthalten sei. Vgl. König, Der Kreislauf desStickstoffs und seine Bedeutung für die Landwirtschaft(Münst. 1878); Frank, über die Ernährung der Pflanzemit S. etc. (Berl. 1888).

Stickstoffbor, s. Borstickstoff.

Stickstoffdioxyd, s. v. w. Stickstoffoxyd.

Stickstoffmonoxyd, s. v. w. Stickstoffoxydul.

Stickstoffoxyd (Stickstoffdioxyd, Stickoxyd) NO entstehtbei Einwirkung vieler Metalle (Kupfer, Silber, Quecksilber etc.),des Phosphors und andrer leicht oxydierbarer Körper aufSalpetersäure und beim Erwärmen von Eisenchlorür mitsalpetersaurem Kali und Salzsäure. Es ist ein farbloses Gasund wird

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Stickstoffoxydul - Sticta.

bei sehr niedriger Temperatur unter einem Druck von 104Atmosphären zu einer farblosen Flüssigkeit verdichtet.Das spezifische Gewicht ist 1,039, es verbindet sich mit demSauerstoff der Luft direkt unter Bildung roter Dämpfe vonStickstoffperoxyd, löst sich bei mittlerer Temperatur in 20Volumen Wasser, erträgt hohe Temperatur, ist nicht atembar,unterhält die Verbrennung von erhitztem Eisen und Phosphor,während eine Kerze darin erlischt; eine Mischung vonSchwefelkohlenstoffdampf und Stickstoffoxyd verbrennt mit einerblauen, an chemisch wirksamen Strahlen sehr reichen Flamme, welchezum Photographieren bei Ausschluß des Tageslichts dienen kann(Sellsche Lampe). Feuchte Zink- und Eisenfeilspäne,Schwefelleber etc. reduzieren S. zu Oxydul; Kalium undglühendes Kupfer reduzieren es vollständig.Eisennitriollösung absorbiert es reichlich und färbt sichdabei fast schwarz, auch Salpetersäure nimmt es auf und bildeteine blaue, grüne oder braune Flüssigkeit. Es wurde schonvon van Helmont beobachtet, aber erst von Priestley näheruntersucht und von ihm Salpetergas genannt.

Stickstoffoxydul (Stickstoffmonoxyd, Stickoxydul,Lustgas, Lachgas) N2O entsteht bei vorsichtigem Erhitzen vonsalpetersaurem Ammoniak, bei Einwirkung sehr verdünnter kalterSalpetersäure auf Zink- oder feuchter Eisen- oder Zinkfeile,Schwefelleber oder schwefliger Säure auf Stickstoffoxyd undbei Einwirkung von schwefliger Säure auf heißeverdünnte Salpetersäure. Dargestellt wird es stets durchErhitzen von salpetersaurem Ammoniak und Waschen des Gases mitEisenvitriollösung und Kalilauge; 1 kg des Salzes liefert 182Lit. Gas. Ein kontinuierlich arbeitender Apparat zur Darstellungdes Gases besteht aus einer mit gereinigtem groben Sandgefüllten, entsprechend erhitzten eisernen Röhre, inwelcher das geschmolzene salpetersaure Ammoniak, während esdurch den Sand sickert, vollständig zersetzt wird. Manversendet das Gas im flüssigen Zustand in starkwandigeneisernen oder kupfernen Flaschen. Es bildet ein farbloses Gas,riecht und schmeckt schwach süßlich, spez. Gew. 1,52;100 Volum. Wasser lösen bei 0°: 130,5, bei 15°: 77,8Vol. In Alkohol ist es noch leichter löslich; bei 0° undunter einem Druck von 30 Atmosphären wird es zu einerfarblosen Flüssigkeit kondensiert, welche bei -88° siedet,bei -115° erstarrt und, mit Schwefelkohlenstoff gemischt, beimVerdampfen im luftleeren Raum eine Temperatur von -140°erzeugt. Das Gas kann geatmet werden, unterhält den Atmungs-und Verbrennungsprozeß, und ein glimmender Holzspanentzündet sich darin fast wie in Sauerstoff. Ein Gemisch von 4Vol. S. mit 1 Vol. Sauerstoff erzeugt beim Einatmen nach 1 1/2-2Minuten Rausch und Heiterkeit (daher Lustgas). Bei längermEinatmen erzeugt es Ohrensausen, Rausch, Bewußtlosigkeit undtötet endlich durch Erstickung. Unterbricht man aber dieEinatmung, sobald die Bewußtlosigkeit eingetreten ist, soverschwinden alle Erscheinungen schnell und ohne bleibendenNachteil. Deshalb benutzt man das Gas als anästhetischesMittel bei kleinen Operationen. S. wurde 1772 von Priestleyentdeckt, Davy beobachtete 1799 seine eigentümliche Wirkungauf den Organismus, und Wells zu Hartford in Connecticut benutztees zur Hervorbringung einer schnell vorübergehenden Narkose.Es blieb indes ohne praktischen Wert, bis Colton und Porter 1863von neuem darauf aufmerksam machten. Letzterer führte es inEngland ein, und 1867 brachte es Evans in Paris zur eigentlichwissenschaftlichen Verwertung. Das S. erleidet bei der Einatmungdurchaus keine Veränderung, und dies Verhalten erschwert einegenügende Erklärung seiner Wirkung. Zur Hervorbringungeiner vollständigen Narkose sind im Durchschnitt 22-26 Lit.Gas erforderlich. Gewöhnlich währt dieselbe nur 30-90Sekunden, reicht also nur für kurze Operationen, wie dasAusziehen von Zähnen; doch hat man durch geschickte Leitungdes abwechselnden Einatmens von S. und Luft die Narkose auch schonauf 50-90 Minuten ausgedehnt. Unterbricht man die Zufuhr desStickstoffoxyduls vollständig, so tritt schon nach 1-2 Minutender normale Zustand wieder ein, ohne daß sich die mindesteNachwirkung bemerkbar macht. Lange fortgesetztes Einatmen von S.behufs Herbeiführung einer vollkommen und lange andauerndenEmpfindungslosigkeit erfordert immerhin große Umsicht desOperateurs, weil in solchem Falle leicht bedenklicheErstickungszufälle eintreten können. Nun hat aber Bertdas gleichzeitige Einatmen von S. und Luft ohne Abschwächungder Wirkung des erstern dadurch ermöglicht, daß ergleiche Volumen dieser Gase mischt und sie unter doppeltemAtmosphärendruck einatmen läßt. In gleicher Zeitwird dann dieselbe Menge S. den Lungen zugeführt wie beimEinatmen des reinen Gases unter gewöhnlichem Druck, nebenbeiaber erhält die Lunge die für eine normale Respirationerforderliche Menge Sauerstoff. Auf solche Weise vermochte Bert beiVersuchen an Tieren eine volle Stunde hindurch gänzlicheEmpfindungslosigkeit zu unterhalten und in dieser Zeit großeOperationen schmerzlos vorzunehmen. Nach 2-3 Atemzügen reinerLuft trat der normale Zustand wieder ein, ohne daß sichirgend welche Nachwirkungen gezeigt hätten. Vgl. Goltstein,Die physiologischen Wirkungen des Stickstoffoxydulgases (Bonn1878); Schrauth, Das Lustgas und seine Verwendbarkeit in derChirurgie (Bonn 1889).

Stickstoffpentoxyd, s. Salpetersäure, S. 226.

Stickstoffperoxyd (Stickstofftetroxyd) NO2 entsteht beiBerührung von Stickstoffoxyd mit Luft, beim Erhitzenverschiedener Salpetersäuresalze (wie Bleinitrat) und, mitStickstofftrioxyd gemischt, bei Einwirkung von Salpetersäureauf Stärkemehl, Zucker etc.; es bildet bei -9° farbloseKristalle und schmilzt leicht zu einer farblosen Flüssigkeit,die sich bei höherer Temperatur gelb färbt, bei 15°orangerot ist, bei 22° siedet und einen braunroten, erstickendriechenden Dampf bildet, welcher bei stärkerm Erhitzen immerdunkler, fast schwarz wird. In Form dieses Dampfes beobachtet manes am häufigsten. Mit wenig eiskaltem Wasser zersetzt sich dasPeroxyd in salpetrige Säure und Salpetersäure, mit Wasservon gewöhnlicher Temperatur (wegen Zersetzung der salpetrigenSäure) in Salpetersäure und Stickstoffoxyd und beiGegenwart von Sauerstoff zuletzt vollständig inSalpetersäure. Wegen der schnell eintretenden sauren Reaktiondes feuchten Peroxyds nannte man dasselbe früherUntersalpetersäure.

Stickstofftetroxyd, s. v. w. Stickstoffperoxyd.

Stickstofftheorie, s. Agrikulturchemie undLandwirtschaft, S. 478.

Sticta Schreb. (Grubenflechte), Laubflechten mitweißen, becherartig vertieften Flecken (Cyphellen) auf derUnterseite des Thallus, meist am Rande des letztern befindlichenApothecien und mit der Markschicht aufsitzender Apothecienscheibe.S. pulmonacea Ach. (Lungenflechte), mit lederartigem, buchtiggelapptem, netzförmig grubigem, grünem, trockenbräunlichem Thallus mit weißen Flecken und rotbraunenApothecien, wächst am Fuß alter Buchen und Eichen undwar früher als Lungenmoos offizinell.

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Stiefel - Stiehle.

Stiefel, Fußbekleidung, s. Schuh.

Stiefel, altdeutsches gläsernesTrinkgefäß in Form eines Stiefels, zum Willkomm oderRundtrunk benutzt, oft von bedeutender Größe; daher dieRedensart "einen S. vertragen". In der Technik heißt S. derCylinder, worin der Kolben einer Pumpe sich bewegt.

Stieffel, Michael, s. Stifel.

Stiefgeschwister, s. Halbgeschwister.

Stiefmütterchen, s. v. w. Viola tricolor.

Stiefverwandtschaft, s. Schwägerschaft.

Stiege, eine Anzahl von 20 Stück.

Stieglitz (Distelfink, Goldfink, Jupitersfink, Fringilla[Carduelis] elegans Cuv.), Sperlingsvogel aus der Gattung Fink, 13cm lang, 22 cm breit, mit langem, kegelförmigem, an derdünnen Spitze etwas gebogenem Schnabel, spitzigenFlügeln, mittellangem Schwanz, kurzen, starken, langzehigen,mit wenig gebogenen Nägeln bewehrten Füßen und sehrbuntem Gefieder. Den Schnabel umgibt ein schwarzer und diesen einbreiter, karminroter Kreis; der Hinterkopf ist schwarz, die Wangenund der Unterkörper sind weiß, der Rücken istbraun; Flügel und Schwanz sind schwarz mit weißemSpiegel, die Schwingen an der Wurzelhälfte goldgelb. BeideGeschlechter ähneln sich täuschend. Der S. findet sichfast in ganz Europa, auf den Kanaren, Madeira, in Nordwestafrika,weitverbreitet in Asien, verwildert auf Cuba, überall in baum-und obstreichen Gegenden. Im Herbst zieht er in Scharen weit umher,und im Winter trifft man ihn in kleinern Trupps. Er isthauptsächlich Baum-, aber nicht eigentlich Waldvogel, sehrlebhaft und gewandt, fliegt leicht und schnell, klettert wie eineMeise, nährt sich von allerlei Samen, besonders von Birken,Erlen, Disteln, frißt auch viele Kerbtiere, nistet aufBäumen und legt im Mai 4-5 weiße oderblaugrünliche, sparsam violettgrau punktierte, am stumpfenEnde kranzartig gezeichnete Eier, welche das Weibchen 13-14 Tagebebrütet. Wegen seines anmutigen Gesangs wird er viel in derGefangenschaft gehalten; er erzeugt leicht mit dem Kanarienvogeleigentümlich gefärbte Bastarde.

Stieglitz, 1) Ludwig, Baron von, Gründer desberühmten Handels- und Wechselhauses seines Namens inPetersburg, geb. 1778 zu Arolsen, ging früh nachRußland, erwarb sich dort durch sein kommerzielles Genie undseine rastlose Thätigkeit ein bedeutendes Vermögen,übte auf Rußlands Handel und Industrie einenweitgreifenden förderlichen Einfluß aus und war an allengrößern Kredit- und Finanzoperationen der russischenRegierung beteiligt. Seiner Bemühung hauptsächlichverdankt Rußland unter anderm die Einführung derDampfschiffahrt zwischen Petersburg und Lübeck. Dabei war seinHaus in Petersburg der Sammelplatz der geistreichstenNotabilitäten. Der Kaiser ernannte ihn 1825 zum Reichsbaron.Er starb 18. März 1843 in Petersburg. Nach seinem Todführte sein Sohn Alexander das Geschäft fort und wahrteihm als tüchtiger Finanzmann seinen alten Ruhm, dochlöste er 1863 die Firma auf. Er starb 24. Okt. 1884.

2) Heinrich, Dichter, geb. 22. Febr. 1803 zu Arolsen, studiertein Göttingen und Leipzig , ward 1828 in Berlin Gymnasiallehrerund Kustos an der königlichen Bibliothek und verheiratete sichin demselben Jahr mit Charlotte Sophie Willhöft (geb. 1806 zuHamburg). Ein Nervenleiden veranlaßte ihn jedoch bald, seineStellen niederzulegen; eine Reise nach Petersburg hatte nicht dengewünschten Erfolg der Heilung. Ein anempfindendes Talent, demStärke und Konzentration fehlten, fühlte S. diesen Mangelaufs tiefste; die Sehnsucht nach einer höchsten Leistungerfüllte und verzehrte ihn krankhaft. Seineschwärmerische Gattin nährte den unseligen Gedanken,daß ein großer Schmerz den Geliebten zum ganzen Mannund Dichter reifen würde, und gab sich deshalb 29. Dez. 1834durch einen Dolchstich den Tod (vgl. Mundt, Charlotte S., einDenkmal, Berl. 1835). Die That dieser opferfreudigen Verirrungkonnte indessen den geträumten Erfolg nicht haben, S. brachbeinahe völlig zusammen. Er lebte fortan meist zu Venedig undstarb daselbst 24. Aug. 1849 an der Cholera. Seine bedeutendstendichterischen Arbeiten sind: "Bilder des Orients" (Leipz. 1831-33,4 Bde.) mit der Tragödie "Sultan Selim III." Ihnenschließen sich die "Stimmen der Zeit in Liedern" (2. Aufl.,Leipz. 1834) an. Von seinen spätern Leistungen sind nur die"Bergesgrüße" (Münch. 1839) hervorzuheben. Vgl. dievon H. Curtze herausgegebenen Schriften: "H. S., eineSelbstbiographie" (Gotha 1865), "Briefe von S. an seine BrautCharlotte" (Leipz. 1859, 2 Bde.) und "Erinnerungen an Charlotte"(Marb. 1865).

Stiehl, Ferdinand, preuß. Schulmann, namentlichbekannt als Verfasser der "Regulative für das Volksschul-,Präparanden- und Seminarwesen" vom 1., 2. u. 3. Okt. 1854,wurde 12. April 1812 zu Freusburg (Kreis Altenkirchen) geboren,studierte in Bonn und Halle Theologie, kam 1835 als erster Lehreran das Seminar zu Neuwied und wurde 1839 zum Direktor ernannt. DerMinister Eichhorn berief ihn 1844 als Hilfsarbeiter in dasKultusministerium, 1845 ward er Regierungs- und Schulrat, 1848Geheimer Regierungs- und vortragender Rat, 1855 GeheimerOberregierungsrat. Um die Entwickelung des Seminarwesens in jenenJahrzehnten hat er sich bei aller Einseitigkeit seinerkonservativen Richtung unleugbare Verdienste erworben und dieEinfügung des Volksschul- und Seminarwesens der neuenProvinzen in die preußische Ordnung nach 1866 mit kundiger,sicherer, wenn auch bisweilen rauher Hand vollzogen. Kurz nachFalks Antritt des Kultusministeriums und nach dem Erlaß der"Allgemeinen Bestimmungen" vom 15. Okt. 1872 am 1. Jan. 1873 tratS. als Wirklicher Geheimer Oberregierungsrat in den Ruhestand undstarb 16. Sept. 1878 in Freiburg i. Br. Er veröffentlichte:"Der vaterländische Geschichtsunterricht" (Kobl. 1842);"Aktenstücke zur Geschichte und zum Verständnis der dreipreußischen Regulative" (Berl. 1855); "Die Weiterentwickelungder Regulative" (das. 1861); "Meine Stellung zu den dreipreußischen Regulativen" (das. 1872). Auch begründete er1859 das "Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltungin Preußen".

Stiehle, Gustav von, preuß. General, geb. 14. Aug.1823 zu Erfurt, trat 1840 in das 4. pommersche InfanterieregimentNr. 21, ward 1841 Offizier, 1845 bis 1847 zur Kriegsakademie und1852-55 zur trigonometrischen Abteilung des GroßenGeneralstabs kommandiert. 1858 als Hauptmann in dasKönigsgrenadierregiment versetzt, trat er 1859 als Major inden Generalstab zurück und ward Direktor der neuerrichtetenKriegsschule zu Potsdam, dann zu Neiße. 1860 erhielt er dieLeitung der historischen Abteilung des Generalstabs und hieltzugleich Vorlesungen an der Kriegsakademie. 1864 nahm er im Stabdes Feldmarschalls v. Wrangel am Feldzug gegen Dänemark teil,wurde geadelt, zum Oberstleutnant und Flügeladjutanten desKönigs ernannt und dann als Militärattaché denGesandtschaften in London und Wien zugeteilt. Den Feldzug von 1866machte er im großen Hauptquartier des Königs mit; ererwarb sich hier den Orden pour le mérite, nahm an denNikolsburger

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Stielbrand - Stiergefechte.

Verhandlungen teil u. leitete die militärischenSchlußverhandlungen, welche dem Prager Frieden folgten. 1868ward er zum Kommandeur des Gardegrenadierregiments KöniginAugusta in Koblenz ernannt, 1869 jedoch in den GroßenGeneralstab zurückgerufen. 1870 wurde er Chef des Generalstabsder zweiten Armee und nahm an allen kriegerischen Thaten dieserArmee in einflußreichster Weise teil. S. war es, der am 27.Okt. mit dem französischen General Jarras die Kapitulation vonMetz abschloß. Nach dem Friedensschluß trat er alsAbteilungschef in den Generalstab zurück, wurde 1871 Direktordes allgemeinen Kriegsdepartements und Mitglied des Bundesrats,1873 Generalleutnant à la suite und Inspekteur derJäger und Schützen, 1875 Kommandeur der 7. Division inMagdeburg, 1881 kommandierender General des 5. Armeekorps in Posenund 1886 Chef des Ingenieur- und Pionierkorps und Generalinspekteurder Festungen; im September 1888 nahm er seinen Abschied.

Stielbrand (Stengelbrand), s. Brandpilze III.

Stieler, 1) Adolf, Kartograph, geb. 26. Febr. 1775 zuGotha, studierte die Rechte, erhielt 1797 eine Anstellung beimMinisterialdepartement in Gotha, ward 1813 zum Legationsrat und1829 zum Geheimen Regierungsrat befördert und starb 13.März 1836. S. hat sich um die Geographie besonders durchgründliche und geschmackvolle Behandlung des Kartenwesensverdient gemacht. Sein Hauptwerk ist der bekannte "Handatlas", dener unter Mitwirkung von Reichard (Gotha 1817-23) in 75Blättern herausgab, und der in neuester Bearbeitung seit 1888(in 90 Bl.) erscheint. Auch sein "Schulatlas" und seine "Karte vonDeutschland" in 25 Sektionen fanden weite Verbreitung.

2) Karl Joseph, Maler, geb. 1. Nov. 1781 zu Mainz, bildete sichals Autodidakt zum Pastell- und Miniaturmaler, widmete sich dannseit 1805 als Schüler Fügers in Wien der Ölmalereiund eröffnete sich hier eine glänzende Thätigkeitals Porträtmaler. Sein Ruf führte ihn von da nach Ungarnund Polen, wo er zahlreiche Bildnisse malte, dann nach Paris, wo erzwei Jahre verweilte und sich weiter bei Gerard ausbildete, dessenelegante und anmutige, aber oberflächliche und charakterloseArt für ihn maßgebend blieb. Nach einem Besuch Roms, woer das jetzt in der Leonhardskirche zu Frankfurt a. M. befindlichegroße Altarblatt malte, ließ er sich 1812 inMünchen nieder. 1816 nach Wien gerufen, um den Kaiser Franz zumalen, verweilte er dort bis 1820 und kehrte dann nach Münchenzurück, wo er 9. April 1858 starb. Von seinen Arbeiten sindnoch hervorzuheben: die Bildnisse Goethes (1828), Schellings,Tiecks, A. v. Humboldts, Beethovens, der Familie des KönigsMaximilian von Bayern und die Galerie weiblicher Schönheitenin der königlichen Residenz zu München.

3) Karl, Dichter und Schriftsteller, Sohn des vorigen, geb. 15.Dez. 1842 zu München, studierte auf der Universitätdaselbst die Rechte und promovierte, unternahm dann Reisen nachEngland, Frankreich, der Schweiz, Belgien, Italien, Ungarn undNorddeutschland, über die er meist in der "AllgemeinenZeitung" berichtete, und übernahm endlich eine Beamtenstelleim bayrischen Staatsarchiv zu München, wo er 12. April 1885starb. Sein Ruf als Dichter gründet sich auf seinevolkstümlich frischen und von köstlichem Humorgewürzten Dichtungen in oberbayrischer Mundart, von denenmehrere Sammlungen vorliegen, wie: "Bergbleameln" (Münch.1865), "Weil's mi freut!" (Stuttg. 1876), "Habt's a Schneid'?!"(das. 1877), "Um Sunnawend" (das. 1878), "In der Sommerfrisch"(das. 1883) und "A Hochzeit in die Berg" (das. 1884), letzterebeiden mit Zeichnungen von H. Kauffmann. Alle diese (meist inwiederholten Auflagen erschienenen) Bücher fanden, wie auchseine hochdeutschen "Hochlandlieder" (Stuttg. 1879), "NeueHochlandlieder" (das. 1883) und das Liederbuch "Wanderzeit" (das.1882), allgemein die günstigste Aufnahme. Außerdembeteiligte sich S. an der Herausgabe mehrerer illustrierterPrachtwerke, so: "Aus deutschen Bergen" (mit H. Schmid, Stuttg.1871); "Weidmanns-Erinnerungen" (Münch. 1874); "Italien" (mitE. Paulus und W. Kaden, Stuttg. 1875); "Rheinfahrt" (mit H.Wachenhusen und Fr. W. Hackländer, das. 1877) und"Elsaß-Lothringen" (das. 1877). Nach sei- nem Tod erschienennoch: "Ein Winteridyll" (Stuttg. 1885); "Kulturbilder aus Bayern"(das. 1885); "Natur- und Lebensbilder aus den Alpen" (das. 1886);"Aus Fremde und Heimat", vermischte Aufsätze (das. 1886);"Durch Krieg zum Frieden. Stimmungsbilder aus den Jahren 1870/71"(das. 1886).

Stielstich, s. Stickerei.

Stier, 1) das zweite Zeichen des Tierkreises (*);

2) ein Sternbild zwischen 46-87° Rektaszension und 0-281/2° nördl. Deklination, nach Heis mit 188 dembloßen Auge sichtbaren Sternen, darunter der Aldebaran vonerster Größe sowie die Plejaden und Hyaden. DerPoniatowskische S. ward 1777 vom Abt Poczobut zu Wilna als eineignes Sternbild aus Sternen gebildet, die zwischen deröstlichen Schulter des Ophiuchus und dem Adler sich befindenund größtenteils zum Ophiuchus gehören.

Stier, Ewald Rudolf, protestant. Theolog, geb. 17.März 1800 zu Fraustadt in Posen, studierte erst Jura, dannTheologie, war bis 1819 Vorsteher der Halleschen Burschenschaft,hielt sich hierauf an verschiedenen Orten auf, teils lernend, teilslehrend, wurde, ohne eine Prüfung absolviert zu haben, 1829Pfarrer zu Frankleben bei Merseburg, 1838 in Wichlinghausen beiBarmen; 1846-50 privatisierte er in Wittenberg , dann wurde er zumSuperintendenten ernannt zuerst 1850 in Schkeuditz, 1859 inEisleben, wo er 16. Dez. 1862 starb. Unter seinen zahlreichenexegetischen Werken nennen wir: "Siebzig ausgewählte Psalmen"(Braunschw. 1834-36, 2 Bde.); "Die Reden des Herrn Jesu" (3. Aufl.,Leipz. 1865 bis 1874, 7 Bde.); "Die Reden der Engel" (das. 1860);"Die Reden der Apostel" (2. Aufl., das. 1861); "Jesaias, nichtPseudo-Jesaias" (Barm. 1851). Auch beteiligte er sich am Streitüber die Apokryphen (zu gunsten derselben), über dieUnion, an der Revision der deutschen Bibel etc. Sehr verbreitet war"Luthers Katechismus als Grundlage des Konfirmandenunterrichts" (6.Aufl., Berl. 1855). Seine Auslegung ist mehr von einem kraftvollenInspirationsglauben, den er von J. F. v. Meyer übernommenhatte, als vonwissenschaftlichen Gesichtspunkten bestimmt. Auch warer Mitherausgeber der "Polyglotten-Bibel" (mit Theile, 4. Aufl.,Bielef. 1875). Sein Leben beschrieben seine Söhne G. und F. S.(Wittenb. 1868).

Stiergefechte (Corridas ["Rennen"] oder Fiestas ["Feste"]de Toros), Kämpfe von Menschen zu Fuß und zu Pferd mitStieren, eine spezisisch spanische Volksbelustigung, die,wahrscheinlich durch die Mauren in Spanien eingeführt, auch inden spanischen Kolonien (nur schwach in Portugal) sich erhaltenhat. Als ritterliches Vergnügen, ähnlich dem Turnier undden Eberhetzen, waren sie nachweislich schon im Anfang des 12.Jahrh. in Spanien üblich, wie denn auch der Cid Campeador alsglänzender echter gerühmt wird, und unter Philipp IV.

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Stieringen-Wendel - Stift.

erreichten die S. den Höhepunkt ihres Glanzes. Erst PhilippV. trat, wenn auch ohne Erfolg, als offener Gegner der S. auf,welche von nun an gewerbsmäßig von bezahltenStierkämpfern (Toreros) betrieben wurden, die heute in ganzSpanien der Gegenstand allgemeinster Popularität und derübertriebensten Huldigungen sowohl innerhalb alsaußerhalb der Arena sind. Fast jede irgend bedeutende Stadthat ihre in Form eines Amphitheaters errichtete Plaza de Toros. Diegrößten finden sich in Valencia (16,000 Plätze) undMadrid (14,000). In Madrid finden, mit einer kurzen Unterbrechungim Sommer, von Ostern bis Allerheiligen jeden Sonntag undDonnerstag, oft auch häufiger, S. statt, so im J. 1887 deren34 mit 217 Stieren und 372 Pferden als Opfer; in denProvinzialstädten nicht so oft, dennoch kann man 200 S.jährlich in Spanien annehmen. Das moderne Stiergefecht bestehtaus drei Akten, in welchen die vier Gruppen der Cuadrilla (alleToreros, welche irgendwie am Gefecht teilnehmen) nacheinander ihreGeschicklichkeit entfalten. Die Picadores (Lanzenreiter) aufelenden Kleppern reizen zunächst den auf den Kampfplatzgelassenen Stier durch Lanzenstiche in den Nacken; seine Wut wirdgesteigert durch die Banderilleros, welche zu Fuß dem Stiermit Widerhaken versehene aufgeputzte Stäbe (Banderillas,Fähnlein) ins Fleisch stoßen. Die Chulos (auchCapeadores, von Capa, Mantel, genannt) unterstützen dieandern, indem sie durch geschicktes Schwingen roter Mäntel dieAufmerksamkeit des Stiers von seinen Verfolgern, sobald diese inGefahr schweben, ablenken. Die Hauptperson aber ist der Espada(Degen), der dem Stier mit der blanken Waffe, einem ca. 90 cmlangen, starken Stoßdegen (Espada), den Todesstoß ineine bestimmte Stelle des Nackens zu versetzen hat. Der Espada (derAusdruck Matador [Töter] ist in Spanien weniger üblich)reizt den Stier durch die Muleta, ein an einem Stock befestigtesStück roten Tuches, das er mit der Linken vor sich flatternläßt, und stößt dann dem angreifenden Stierden Degen zwischen den Hörnern hindurch bis ans Heft in denLeib. Berühmte Espadas erhalten 6-8000 Frank für jedesStiergefecht. Feige Stiere werden erst gebrannt und dann durchHunde zerrissen, oder man durchschneidet ihnen von hinten dieFesseln, und der Cachetero, der auch die andern Stiere, die nichttödlich getroffen sind, abfängt, tötet sie durcheinen Dolchstoß ins Genick. Jeder einzelne Stierkampf dauertungefähr eine halbe Stunde; meist kommen bei einer Vorstellungsechs Stiere und ungefähr doppelt so viel Pferde ums Leben.Man kann heute die Opfer auf jährlich 1000 Stiere undmindestens 3500 getötete Pferde berechnen. Die jährlichenAusgaben für S. betragen viele Millionen Frank. In Spanien wiein den südamerikanischen Republiken widmen sich zahlloseZeitschriften dem nationalen Sport der S., und die Litteraturüber dieselbe ist eine sehr reichhaltige. Vgl. Joest,Spanische S. (Berl. 1889).

Stieringen-Wendel, Gemeinde im deutschen BezirkLothringen, Kreis Forbach, an der Eisenbahn S. (PreußischeGrenze)-Novéant, hat ein bedeutendes Eisenhüttenwerkmit 1250 Arbeitern (Fabrikation von Trägern, Eisenbahnschienenetc.), eine Glashütte und (1885) 3854 meist kath.Einwohner.

Stiersucht, s. Brüllerkrankheit.

Stier von Uri, im Mittelalter der Hürner (Hornist)der Männer von Uri, so benannt, weil er die Mannschaft durchdas Blasen eines Auerochsenhorns zusammenrief.

Stieve, Felix, Geschichtsforscher, geb. 9. März 1845zu Münster in Westfalen als Sohn des damaligenGymnasialdirektors, spätern vortragenden Rats impreußischen Unterrichtsministerium, Friedrich S. (gest.1878), studierte in Breslau, Innsbruck, Berlin und MünchenGeschichte und erlangte mit einer Dissertation: "De FranciscoLamberto Avenionensi". 1867 zu Breslau die philosophischeDoktorwürde. Hierauf trat er im Herbst 1867 bei derHistorischen Kommission in München als Mitarbeiter an den"Wittelsbacher Korrespondenzen zur Geschichte desDreißigjährigen Kriegs" ein, habilitierte sich 1874 alsPrivatdozent der Geschichte an der Münchener Universität,wurde 1878 Mitglied der königlich bayrischen Akademie derWissenschaften und 1886 Professor der Geschichte am Polytechnikumin München. Er veröffentlichte: "Die ReichsstadtKaufbeuren und die bayrische Restaurationspolitik" (Münch.1870); "Der Ursprung des Dreißigjährigen Kriegs 1607-19"(Bd. 1: "Der Kampf um Donauwörth", das. 1875); "Das kirchlichePolizeiregiment in Bayern unter Maximilian I." (das. 1876); "ZurGeschichte der Herzogin Jakobe von Jülich" (Bonn1878); "DiePolitik Bayerns 1591-1607" (als Band 4 u. 5 der "Briefe und Aktenzur Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs", Münch.1878-82); "Die Verhandlungen über die Nachfolge Kaiser RudolfsII. in den Jahren 1581-1602" (das. 1879); "Der Kalenderstreit des16. Jahrhunderts in Deutschland" (das. 1880); "Über dieältesten halbjährigen Zeitungen oder Meßrelationenund insbesondere über deren Begründer Freiherrn v.Aitzing" (das. 1881) ; "Wittelsbacher Briefe aus den Jahren1590-1610" (das. 1885-88, 3 Tle.) u. a.

Stifel (Styfel, auch Stieffel), Michael, Algebrist, geb.1487 zu Eßlingen, ging in das dortige Augustinerkloster, ausdem er aber 1522 als Anhänger Luthers entfloh, worauf er alsevangelischer Prediger erst bei einem Grafen von Mansfeld, dann inOberösterreich, 1528-34 zu Lochau bei Torgau, hierauf bis 1547zu Holzdorf bei Wittenberg, nachher zu Haberstrohm beiKönigsberg i. Pr. wirkte. Später scheint er in Jenagelebt zu haben, wo er 19. April 1567 starb. Sein Hauptwerk ist die"Arithmetica integra" (Nürnb. 1544). Vgl. Cantor inSchlömilchs "Zeitschrift für Mathematik und Physik", Bd.2.

Stift (das S.; Mehrzahl: die Stifter), jede mitVermächtnissen und Rechten ausgestattete, zu kirchlichenZwecken bestimmte und einer geistlichen Korporation übergebeneAnstalt mit allen dazu gehörigen Personen, Gebäuden undLiegenschaften. Die ältesten Anstalten dieser Art sind dieKlöster, nach deren Vorbild sich später das kanonischeLeben der Geistlichen an Kathedralen und Kollegiatstiftskirchengestaltete. Im Gegensatz zu den mit den Kathedralkirchenverbundenen Erz- und Hochstiftern mit je einem Erzbischof oderBischof an der Spitze hießen die Kollegiatkirchen, beiwelchen kein Bischof angestellt war, Kollegiatstifter. DieMitglieder derselben wohnten in Einem Gebäude zusammen undwurden von dem Ertrag eines Teils der Stiftsgüter und Zehntenunterhalten. So bildeten sich die Domkapitel, deren Glieder, dieCanonici, sich Kapitularen, Dom-, Chor- oder Stiftsherren nannten.Infolge des häufigen Eintritts Adliger entzogen sich dieselbenschon im 11. Jahrh. der Verpflichtung des Zusammenwohnens(Klausur), verzehrten ihre Präbenden einzeln in besondernAmtswohnungen, bildeten jedoch fortwährend ein durch Rechteund Einkünfte ausgezeichnetes Kollegium, welches seitdem 13.Jahrh. über die Aufnahme neuer Kapitularen zu entscheiden, beiErledigung eines Bischofsitzes (Sedisvakanz) die

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Stifte - Stigel.

provisorische Verwaltung der Diözese zu führen und denneuen Bischof aus seiner Mitte zu wählen hatte. Vor der durchden Reichsdeputationshauptschluß vom 25. Febr. 1803verfügten Säkularisation hatten die deutschen Erz- oderHochstifter Mainz, Trier, Köln, Salzburg, Bamberg,Würzburg, Worms, Eichstätt, Speier, Konstanz, Augsburg,Hildesheim, Paderborn, Freising, Regensburg, Passau, Trient,Brixen, Basel, Münster, Osnabrück, Lüttich,Lübeck und Chur sowie einige Propsteien (Ellwangen,Berchtesgaden etc.) und gefürstete Abteien (Fulda, Korvei,Kempten etc.) Landeshoheit und Stimmrecht auf dem Reichstag, dahersie auch reichsunmittelbare Stifter hießen und denFürstentümern gleich geachtet wurden. In andernLändern waren die Stifter niemals zu so hoher Macht gelangt.Auch in den bei der Reformation protestantisch gewordenenLändern blieben meist die Stifter und die Domkapitel, jedochohne einen Bischof und ohne Landeshoheit, und ihre Einkünftewurden als Sinekuren vergeben. Ausnahmen bildeten nur das ganzprotestantische Bistum Lübeck und das aus gemischtenKapitularen bestehende Kapitel zu Osnabrück. Jetzt sind alleStifter mittelbar, d. h. der Hoheit des betreffenden Landesherrnunterworfen. Bei den unmittelbaren Hoch- und Erzstisternmußten die Domherren ihre Stiftsfähigkeit durch 16 Ahnenbeweisen; sie waren Versorgungsanstalten für die jüngernSöhne des Adels geworden. Während diese adligenKapitularen sich den Genuß aller Rechte ihrer Kanonikatevorbehielten, wurden die geistlichen Funktionen den regulärenChorherren auferlegt, woher sich der Unterschied der weltlichenChorherren (Canonici seculares), welche die eigentlichenKapitularen sind, von den regulierten Chorherren (Canoniciregulares) schreibt. Die säkularisierten und protestantischgewordenen Stifter behielten häufig ihre eigne Verfassung undVerwaltung; meist wurden aber ihre Präbenden in Pensionenverwandelt, welche zuweilen mit gelehrten Stellen verbunden sind.In Preußen sind die evangelischen Domkapitel zu Brandenburg,Merseburg und Naumburg sowie das Kollegiatstift in Zeitzbemerkenswert. Vgl. Schneider, Die bischöflichen Domkapitel(Mainz 1885). Außer den Erz-, Hoch- und Kollegiatstifterngibt es auch noch weibliche Stifter und zwar geistliche undweltliche. Erstere entstanden durch eine Vereinigung regulierterChorfrauen und glichen den Klöstern; bei den freien weltlichenStiftern dagegen legen die Kanonissinnen nur die Gelübde derKeuschheit und des Gehorsams gegen ihre Obern ab, könnenjedoch heiraten, wenn sie auf ihre Pfründe verzichten, undhaben die Freiheit, die ihnen vom S. zufließendenEinkünfte zu verzehren, wo sie wollen. Nur die Pröpstinund Vorsteherin nebst einer geringen Zahl Kanonissinnen pflegensich im Stiftsgebäude aufzuhalten. Auch die Pfründendieser Stifter wußte der stiftsfähige Adel vielfachausschließlich für seine Töchter zu erlangen, dochhängt häufig die Aufnahme auch von einer Einkaufssummeab. Auch sind für die Töchter von verdienten BeamtenStiftsstellen geschaffen worden. Die Kanonissinnen dieser "freienweltadligen Damenstifter" werden jetzt gewöhnlich Stiftsdamengenannt.

Stifte, s. Nägel, S. 977.

Stifte (Balzstifte), die kleinen hornartigen Federchen anbeiden Seiten der Zehen des Auerhahns, welche er zu Ende der Balzverliert.

Stifter, Adalbert, Dichter und Schriftsteller, geb. 23.Okt. 1806 zu Oberplan im südlichen Böhmen, studierte inWien die Rechte, daneben Philosophie und Naturwissenschaften, wardLehrer des Fürsten Richard Metternich und 1849 zum Schulratfür das Volksschulwesen Oberösterreichs ernannt. Alssolcher nahm er seinen Wohnsitz in Linz, von wo aus er vielfach dieAlpen, Italien etc. bereiste, ward 1865 pensioniert und starbdaselbst 28. Jan. 1868. Seine Idylle und Novellen erschienengesammelt unter den Titeln: "Studien" (Pest 1844-51, 6 Bde.; 8.Aufl. 1882, 2 Bde.) und "Bunte Steine" (das. 1852, 2 Bde.; 7. Aufl.1884). Namentlich die "Stadien" erregten von ihrem Erscheinen anTeilnahme und selbst Enthusiasmus. Die unbedingte Hinwegwendung vonallen Problemen und Tendenzen des Tags, der idyllische, fastquietistische Grundzug, die meisterhaften Details, namentlich diesinnigen Naturschilderungen, die feine, gleichmäßigeDurchführung bildeten einen so wohlthuenden Gegensatz zurTagesbelletristtk, daß man darüber die Mängel derüberwiegend kontemplativen, aller Leidenschaft und Thatkraftabgewandten, zur lebendigern Menschendarstellung daherunfähigen Natur des Autors übersah. Diese Mängeltraten namentlich in den größern Romanen Stifters: "DerNachsommer" (Pest 1857, 3. Aufl. 1877) und "Witiko" (das. 1864-67,3 Bde.), hervor. Stifters Nachlaß ("Briefe", Pest 1869, 3Bde.; "Erzählungen", das. 1869, 2 Bde.; "VermischteSchriften", das. 1870, 2 Bde.) gab Aprent heraus. "AusgewählteWerke" von ihm erschienen in 4 Bänden (Leipz. 1887). Vgl. EmilKuh, Adalbert S. (Wien 1868); Derselbe, Grillparzer und A. S.(Preßb. 1872); Markus, A. Stifter (2. Aufl., Wien 1879).

Stiftsherr, s. Domherr.

Stiftshütte (Bundeshütte), das zeltartigetragbare Heiligtum, welches Moses auf dem Zug der Israeliten durchdie Wüste zum Gottesdienst anfertigen ließ. Es wardspäter in Kanaan an verschiedenen Orten, zuletzt unter Davidin Jerusalem, aufgestellt und darin bis zur Erbauung des Tempelsdurch Salomo der Opferkultus verrichtet. Die S. (hebr. Ohel moed,wobei man Ohel und Mischkan unterschied) bildete ein Rechteck von30 Ellen Länge, 10 Ellen Breite und 10 Ellen Höhe. IhreWände bestanden aus 48 übergoldeten Brettern vonAkazienholz, welche durch goldene Ringe zusammengehalten wurden.Über diesen Wänden hing ein einfacher Teppich. Dievordere, zum Eingang dienende Seite war mit einem an fünfSäulen befestigten Vorhang verhängt. Das Innere teilteein andrer Vorhang (Parochet) in eine vordere Abteilung, dasHeilige, worin der Tisch mit den Schaubroten, der goldene Leuchterund der Räucheraltar, und in eine hintere Abteilung, dasAllerheiligste, worin die Bundeslade stand. Das Ganze war mit einemfür das Volk bestimmten Vorhof umgeben. Salomo ließ nachErbauung des Tempels die Überreste der S. in diesemaufstellen. Vgl. Naumann, Die S. (Gotha 1869).

Stiftslehen, s. Kirchenlehen.

Stiftsschulen, s. Domschulen.

Stiftung, s. Milde Stiftungen.

Stigel, Johann, neulat. Dichter, geb. 13. Mai 1515 beiGotha, studierte in Leipzig und Wittenberg, wo er Luthers undMelanchthons Freundschaft genoß, Humaniora, ward 1542, zuRegensburg vom Kaiser als Dichter gekrönt, Professor derlateinischen Sprache in Wittenberg, eröffnete 1558 als ersterProfessor der Beredsamkeit die Universität Jena mit derWeihrede und starb 11. Febr. 1562. Unter seinen Schriften sind die"Carmina" (Jena 1660 ff., 4 Bde.) hervorzuheben. Vgl.Göttling, Vita Joh. Stigelii (Jena 1858; abgedr. in den"Opusc. acad.", S. 1-64).

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Stiglmayer - Stil.

Stiglmayer, Johann Baptist, Erzgießer, Bildhauerund Medailleur, geb. 18. Okt. 1791 zu Fürstenfeldbruck beiMünchen, kam zu einem Goldschmied in München in dieLehre, ward 1810 in die Akademie der bildenden Künsteaufgenommen, 1814 als Münzgraveur angestellt und 1819 nachItalien gesandt, um die Technik des Erzgusses kennen zu lernen. InRom gründete er seinen Ruf durch den Guß der Büstedes spätern Königs Ludwig I. von Bayern nach ThorwaldsensModell. 1822 ins Vaterland zurückgekehrt, schnitt er Stempelzu Kurrentmünzen und Medaillen und ward dann zum Inspektor derköniglichen Erzgießerei ernannt, in welcher Stellung ereine lebhafte Thätigkeit entfaltete. Aus seiner Werkstattgingen folgende Güsse hervor: der Kandelaber für das vomGrafen von Schönborn in Gaibach errichteteKonstitutionsdenkmal, der auf dem Karolinenplatz in Münchenerrichtete Obelisk, Bronzethore nach Zeichnungen L. v. Klenzesfür die Glyptothek und die Walhalla, das Denkmal desKönigs Maximilian I. im Bad Kreuth, nach eignem Entwurf, dasMonument des Königs Maximilian I. auf dem Max Josephsplatz inMünchen, nach Rauchs Modell (1835), die Reiterstatue desKurfürsten Maximilian aus dem Wittelsbacher Platz daselbst,nach Thorwaldsens Modell (1836), die zwölf kolossalenStandbilder der Fürsten des Hauses Wittelsbach im Thronsaalder Residenz, nach Schwanthalers Modellen, die Statue Schillers aufdem Schloßplatz zu Stuttgart, nach Thorwaldsen, dieStandbilder Jean Pauls in Baireuth, Mozarts in Salzburg, desMarkgrafen Friedrich von Brandenburg in Erlangen, desGroßherzogs Ludwig von Hessen-Darmstadt in Darmstadt, nachSchwanthaler. Das kolossalste Werk der MünchenerGießerei, dessen Guß S. aber nur in seinen erstenTeilen ausführte, war die Bavaria in München, seinletztes die Goethestatue in Frankfurt a. M. Er starb 2. März1844 in München.

Stigma (griech., "Stich"), bei den Griechen undRömern ein Brandmal, das Verbrechern, namentlich diebischenoder entlaufenen Sklaven, eingebrannt wurde (gewöhnlich aufder Stirn); in der Botanik s. v. w. Narbe (s. Blüte, S. 69);in der Zoologie s. v. w. Luftloch (s. Tracheen).

Stigmaria Brongn., s. Lykopodiaceen, S.6.

Stigmatisation, das angebliche freiwillige Auftreten derfünf Wundmale Christi bei Personen, die sich in eineschwärmerische Betrachtung seiner Leiden versenkt hatten.Nachdem der heil. Franz von Assisi (s. Franziskaner) zuerst dieseAuszeichnung erhalten haben soll und die heil. Katharina von Sienawenigstens einen Ansatz dazu genommen, hat sich diese Erscheinungim Lauf der Jahrhunderte an sehr zahlreichen Personen, namentlichweiblichen Geschlechts, wiederholt, und zwar sowohl bei Nonnen alsbei weiblichen Laien, und bei einigen blieb die S. eine dauernde,indem die Wundmale alle Freitage und am stärksten in derPassionszeit bluteten, was dann häufig zu SchaustellungenAnlaß gegeben hat. Insbesondere wiederholte sich die S. inZeiten religiöser Aufregung, und in unserm Jahrhundert habenKatharina Emmerich, die Freundin Klemens Brentanos, Maria v.Mörl und insbesondere Louise Lateau in dem belgischenDörfchen Bois d'Haine in dieser Richtung großes Aufsehenerregt. Diese Personen gaben bestimmten VerehrerkreisenSchaustellungen, indem sie theatralisch die Leiden Christi,während sie dieselben angeblich empfanden, in lebenden Bilderndurchführten; daneben bekamen sie kataleptische Zufälle(Verzückungen), in denen sie unempfindlich gegen Schmerzen zusein vorgaben, und mancherlei andre Wundergaben (vollkommenesFasten, Empfindung der Nähe heiliger Gegenstände etc.).Das Urteil über diese Fälle hat sich zuerstnaturgemäß nur in den beiden Gegensätzen: Wunderoder Betrug! kundgegeben, und in der unendlichen Litteratur, dieüber Louise Lateau entstand, vertrat der belgische ArztProfessor Lefebvre ("Louise Lateau", Löwen 1873) mit allerEntschiedenheit die Überzeugung, daß hier einübernatürliches Ereignis vorliege, während Virchowu. a. es einfach als Betrug brandmarkten. In der That sind dennauch nicht wenige Fälle von sogen. S. vor den Gerichten alsgrober Betrug entlarvt worden. Bei der Bedeutung, welche vonmanchen Seiten dem Fall der Louise Lateau beigelegt wurde, ernanntedie Brüsseler Akademie der Wissenschaften eine Kommission zurUntersuchung desselben, und in dem Bericht, welchen Warlomontüber die Arbeiten dieser Kommission erstattet hat, wird nunauf Grund sehr sorgfältiger und den Betrugausschließender Untersuchungen und in Übereinstimmungmit andern belgischen und französischen Ärzten die schonvon Montaigne vertretene Meinung ausgesprochen, daß eine biszur Krankheit gesteigerte Einbildungskraft das wiederholtefreiwillige Bluten der irgendwie erworbenen Wunden hervorbringenkönne. Außerdem bieten viele den Stigmatisierteneigentümliche Zufälle, wie die Katalepsie,Unempfindlichkeit, die Nachahmungssucht u. a., eine bedeutendeÄhnlichkeit mit den neuerdings genauer untersuchtenZuständen des Hypnotismus (s. d.), welche in ähnlicherWeise durch Konzentration der Gedanken und Sinneseindrücke aufbestimmte eng begrenzte Gebiete hervorgerufen werden. Danachwürde sich die S. in den Fällen, wo nicht grober Betrugvorliegt, jenen zahlreichen Erscheinengen anreihen lassen, welchemit hochgradiger Hysterie einhergehen, und bei denen Krankheit undSelbstbetrug so merkwürdig miteinander verbunden sind. DiesenStandpunkt nehmen die Schriften von Warlomont (Brüssel 1875)und Bourneville (Par. 1875) über Louise Lateau und Charbonnier("Maladies des mystiques", Brüssel 1875) ein; aus derunübersehbaren fernern Litteratur vgl. Schwann. Mein Gutachtenüber die Versuche etc. (Köln 1875).

Stigmatypie (griech.), ein von Fasol in Wien erfundenesSetzverfahren zur Herstellung von Bildern durch Punkte auftypographischem Weg.

Stikeen (spr. -kihn, Stachine), Fluß inNordamerika, entspringt auf dem Tafelland von Britisch-Columbia,durchfließt in seinem untern, schiffbaren Teil dasTerritorium Alaska und mündet unterm 57.° nördl. Br.in den Stillen Ozean. An seinen Ufern wurde 1862 Golo entdeckt.Dampsschiffe befahren ihn 320 km weit.

Stil (v. lat. stilus, "Griffel", Schreibart), bezeichnetin der Litteratur die Art und Weise der sprachlichen Darstellung,wie sie sowohl durch die geistige Fähigkeit und subjektiveEigentümlichkeit des Schriftstellers als auch durch den Inhaltund den Zweck des Dargestellten bedingt wird. Da der S. also alsdie durch das Ganze der schriftlichen Darstellung herrschende Art,einen Gegenstand aufzufassen und auszudrücken, nicht nur vondem Inhalt des Gegenstandes, sondern auch von dem Charakter und derBildung des Menschen abhängig ist, so hat eigentlich jederSchriftsteller seinen eignen S., was Buffon meint, wenn er sagt:"Der S. ist der Mensch selbst" ("le style c'est l'hommemême"). Die erste Forderung, die man an jede Art des Stilsmacht, ist Deutlichkeit und Klarheit. Die Deutlichkeit verlangtaber Reinheit der Sprache oder Vermeidung aller

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Stilbit - Stilke.

Wörter, die das Bürgerrecht in der Sprache nichterlangt haben, z. B. aller Provinzialismen, ausländischer,ohne Not neugeschaffener oder veralteter Wörter; treueBeobachtung der durch die Grammatik bestimmten Gesetze;Korrektheit, wonach man das den darzustellenden Begriffbezeichnende und deckende Wort wählt; Präzision oderBestimmtheit, wonach alles Überflüssige entfernt undnicht mehr oder weniger gegeben wird, als was zur genauenDarstellung des Gedankens erforderlich ist. Inhalt und Zweck derstilistischen Darstellung können verschieden sein, und manunterscheidet insbesondere drei Kräfte, die bei derselben inWirksamkeit treten: Verstand, Einbildung und Gefühl, weshalbman von einem S. des Verstandes, der Einbildung und desGefühls spricht. Bei dem erstern wird man sich vor allem derDeutlichkeit, bei dem zweiten der Anschaulichkeit und bei demdritten der Leidenschaftlichkeit zu befleißigen haben. Zu demersten gehört die prosaische Darstellung im allgemeinen, zudem zweiten die Epik und das Drama, zu dem dritten die Lyrik unddie Rede. Die alten Griechen und Römer unterschieden,ungefähr dem entsprechend, aber ohne Rücksicht auf Inhaltund Zweck der Darstellung, in der Prosa einen niedern (genussubmissum), einen mittlern (g. medium) und einen höhern S. (g.sublime), und es sollen nach ihrer Regel z. B. in einer Rede alledrei Stilarten miteinander abwechseln (vgl. Rede). Im übrigenunterscheidet man mehrere stilistische Gattungen mit gewissenfeststehenden Formen, z. B. den philosophischen, den didaktischen,den historischen, den Geschäfts- und Briefstil. Die Theoriedes Stils oder Stilistik ist die geordnete Zusammenstellung allerRegeln des guten Stils oder der üblichen Art, sich schriftlichauszudrücken. Vgl. Wackernagel, Poetik, Rhetorik und Stilistik(2. Aufl., Halle 1888). - In der bildenden Kunst versteht man unterS. einerseits die in einem Kunstwerk zur Darstellung gebrachteformale und geistige Anschauung, wie sie bei einem Volk oder ineiner gewissen Zeit für die verschiedenen Künste alsmaßgebend angesehen ward, anderseits die individuelle, sichvon der allgemeinen Richtung in Einzelheiten unterscheidendeDarstellungsweise eines Künstlers. Wenn sich dieserindividuelle S. zu einseitig ausprägt oder seinen geistigenInhalt verliert, nennt man diese Darstellungsweise Manier (s. d.).Ebenso bezeichnet S. in der Musik sowohl die für eineKompositionsgattung oder für bestimmte Instrumenteerforderliche Schreibweise (Opernstil, Klavierstil, Kirchenstil,Vokalstil etc.) als auch die eigentümliche Schreibweise einesMeisters. Auch spricht man von einem strengen oder gebundenen S.und versteht darunter die Schreibweise mit reellen Stimmen unterBeobachtung der für den Vokalstil gültigen Gesetze, undvon einem freien oder galanten S., welcher sich nicht an einebestimmte Anzahl Stimmen bindet, sondern dieselben nach Beliebenvermehrt oder vermindert etc. Endlich heißt auch S. dieverschiedene Rechnungsart nach dem julianischen und gregorianischenKalender. Man unterscheidet alten S., nach dem julianischen (nochjetzt bei den Russen gebräuchlich), und neuen S., nach demgregorianischen Kalender, die beide um zwölf Tage voneinanderabweichen; daher datiert man meist 12./24. Jan., d. h. 12. Jan.nach dem alten und 24. Jan. nach dem neuen S.

Stilbit (Heulandit, Blätterzeolith), Mineral aus derOrdnung der Silikate (Zeolithgruppe), kristallisiert monoklinisch,findet sich aufgewachsen oder in Drusen (s. Tafel "Mineralien",Fig. 7), auch derb in strahligblätterigen Aggregaten, istfarblos, gelblich, grau, braun oder durch eingeschlosseneSchüppchen von Eisenoxyd rot, glasglänzend, durchsichtigbis kantendurchscheinend, Härte 3,5-4, spez. Gew. 2,1-2,2,besteht aus Thonerdekalksilikat H4CaAl2Si6O18+3H2O mit geringemNatriumgehalt. Fundorte aus Erzlagern oder Gängen (Arendal,Kongsberg, Andreasberg), häufig in Blasenräumen derBasalte und Basaltmandelsteine auf den Färöern, Island,Skye, im Fassathal und in Nordamerika. S. auch s. v. w. Desmin (s.d.).

Stilett (ital.), Spitzdolch, ein kleiner Dolch mitschlanker, spitzer Klinge; s. Dolch.

Stilfser Joch (Monte Stelvio, Wormser Joch), derhöchste fahrbare Alpenpaß, 2756 m ü. M., an derNordwestseite der Ortleralpen in Tirol, mit prachtvollerKunststraße, welche das Etschthal (Vintschgau) mit dem Thalder Adda (Veltlin) verbindet. Die Straße wurde 1820-25 vomIngenieur Donegani angelegt, ist 53 km lang und führt vonSpondinig im Vintschgau über Gomagoi (Mündung desSuldenthals), Trafoi und Franzenshöhe in 48 Windungen, vondenen die letzten teilweise durch Galerien gedeckt sind, bis zurPaßhöhe und von dort in 38 Windungen in das Brauliothalund weiter nach Bormio in der italienischen Provinz Sondrio. DieStraße übertrifft an Großartigkeit der Umgebungalle fahrbaren Alpenübergänge. Seinen Namen erhielt dasJoch nach dem oberhalb der Straße gelegenen TirolerDörfchen Stilfs.

Stilicho, röm. Feldherr und Staatsmann, Sohn einesim römischen Heer dienenden Vandalen, schwang sich durch Mut,Einsicht und Treue unter Kaiser Theodosius I. zu den höchstenStellen empor und ward von diesem zum Gemahl seiner Nichte undPflegetochter Serena und zum Vormund seines Sohns Honorius, welcher395 als elfjähriger Knabe die Herrschaft desweströmischen Reichs antrat, erwählt. S. ließseinen Nebenbuhler Rufinus ermorden, zwang 396 den GotenkönigAlarich, das von ihm verwüstete Griechenland zu räumen,unterdrückte 398 den Aufstand des Gildo in Afrika, brachteAlarich, als derselbe 403 in Italien einfiel, zwei Niederlagen beiPollentia und Verona bei, durch die derselbe genötigt wurde,Italien zu verlassen, und als 405 oder 406 ein großes Heerdeutscher Völker unter Radagaisus in Italien eindrang, wurdedieses bei Fäsulä von ihm eingeschlossen und fastvöllig vernichtet. Dagegen vermochte er nicht, Gallien gegendie Vandalen und Alanen, welche dasselbe 406 überschwemmten,zu schützen und Britannien, wo sich Constantinus zumGegenkaiser erhoben hatte, wieder zu unterwerfen. Er wurde 408durch Olympius gestürzt und in Ravenna ermordet. Vgl. Keller,Stilicho (Berl. 1884).

Stilisieren, stilmäßig formen, besonders inBezug auf die Schreibweise (s. Stil); in der Zeichenkunst undMalerei das Zurückführen der Naturformen unterFortlassung des Zufälligen und Willkürlichen aufGrundformen, in welchen eine gewisse Gesetzmäßigkeitwaltet. So ist z. B. der Akanthus (s. d., mit Abbildung) amkorinthischen Kapitäl stilisiert. Über stilisierte oderstilistische Landschaften s. Heroisch.

Stilistik (lat.), s. Stil.

Stilke, Hermann, Maler, geb. 29. Jan. 1803 zu Berlin,studierte auf der Akademie daselbst, dann seit 1821 in Münchenunter Cornelius, folgte demselben nach Düsseldorf, malte mitStürmer gemeinsam im Assisensaal zu Koblenz das (unvollendete)Jüngste Gericht, führte darauf mehrere Fresken in denArkaden zu München aus, besuchte 1827 Oberitalien und ging1828 nach Rom. 1833 kehrte er nach Düsseldorf zurück,stellte 1842-46 im Rittersaal des Schlosses

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Stille - Stiller Ozean.

Stolzenfels die sechs Rittertugenden in großen Wandbilderndar, siedelte 1850 nach Berlin über und starb daselbst 22.Sept. 1860. Außer einigen Fresken für daskönigliche Schloß in Berlin und das Schauspielhaus inDessau malte er dort nur Staffeleibilder. Von seinen übrigenWerken sind hervorzuheben: Kreuzfahrerwacht (1834), St. Georg mitdem Engel, Pilger in der Wüste (Nationalgalerie in Berlin),die Jungfrau von Orléans, die letzten Christen in Syrien(1841, Museum in Königsberg), Raub der Söhne Eduards(Nationalgalerie in Berlin). - Seine Gattin Hermine S., gebornePeipers, geb. 1808, gest. 1869, hat sich als talentvolle Zeichnerinund Aquarellmalerin bekannt gemacht.

Stille, Karl, Pseudonym, s. Demme 1).

Stille Gesellschaft, s. Handelsgesellschaft.

Stillen der Kinder, die Ernährung der Kinder in denersten Lebensmonaten durch die Mutter- oder Ammenmilch. Fürdas neugeborne Kind, den Säugling, ist die Milch seiner Mutterdie natürlichste und gesündeste Nahrung. Anderseits istdas Stillen ihrer Kinder für die Mutter eine natürlichePflicht und für die Erhaltung ihrer eignen Gesundheit, zumalwährend des Wochenbettes, erforderlich. Bleibt die Muttergesund, und wird die Milchabsonderung nicht gestört, sogenügt die Mutterbrust dem Kind bis zu der Zeit, wo mit demDurchbruch der Zähne sich der Trieb nach festenNahrungsmitteln äußert. Mit dem ersten Anlegen desKindes darf man nicht warten, bis die Brüste reichlichere undwirkliche Milch geben. Gerade durch das Saugen des Kindes wird dieMilchabsonderung am besten befördert, und das Kolostrum,welches vom Kind zuerst verschluckt wird, begünstigt denAbgang des Kindspechs aus dem Darm. Schon in den ersten 24 Stundennach der Geburt, am besten, sobald das Kind ordentlich aufgewachtist, legt man dasselbe an die Brust und wiederholt dies etwa alle 3Stunden, im allgemeinen um so häufiger, je schwächlicherdas Kind ist, und läßt es dann um so weniger auf einmaltrinken. Sonst aber läßt man es saugen, bis es satt ist,d. h. bis es zu trinken aufhört, oder bis es einschläft.Man läßt das Kind nun so lange schlafen, bis es vonselbst aufwacht, und gibt ihm dann wieder die Brust. Nach einigenMonaten braucht dem Kinde die Brust nur in größernZwischenräumen gereicht zu werden, und es pflegt dann um sogrößere Portionen auf einmal zu trinken. Wegen dernachteiligen Wirkung auf die Milchabsonderung und somit auch aufden Säugling darf dieser niemals gleich nach einem heftigenGemütsaffekt, Zorn oder Ärger, der Mutter an die Brustgelegt werden; man kennt viele Fälle, wo Kinder unter solchenUmständen plötzlich erkrankt und selbst gestorben sind.Nach jedesmaligem Trinken muß der Mund des Säuglings miteinem zarten, in Wasser getauchten Leinwandläppchensorgfältig gereinigt werden. Es ist dies das sicherste Mittelgegen Schwämmchenbildung auf der kindlichen Mundschleimhautsowie gegen das Wundwerden der Brustwarzen. Mit der Entwickelungder Zähne müssen dem Kind noch andre Nahrungsmittel alsMilch gereicht werden, und jetzt, wenn das Kind die Mutterbrustbeißen kann, soll es von derselben entwöhnt werden,gewöhnlich etwa nach Vollendung des ersten Lebensjahrs, oftaber auch erst später. Je schwächlicher undkränklicher das Kind, je schlechter es genährt ist, um sospäter ist dasselbe zu entwöhnen, desgleichen beibestehendem Verdacht auf erbliche Anlage zu gewissen Krankheiten.Hier fahre man womöglich mit dem Stillen über das ersteZahnen hinaus fort. Überhaupt warte man mit dem Entwöhneneine Zeit ab, wo das Kind ganz gesund ist, und nehme eswomöglich erst im Frühjahr oder Sommer vor. Immer solltedas Kind schon vorher mit Vorsicht und allmählich andünnen Milchbrei, Suppen mit Zwieback, Arrowroot u. dgl.gewöhnt werden. Dem entwöhnten Kind gibt man täglichvier- bis fünfmal einen dünnen Brei aus feinemWeizenmehl, fein gestoßenem Zwieback und Milch mit wenigZucker. Nebenher gibt man dem Kind gute, erwärmte, nichtabgekochte Kuhmilch, unter Umständen mäßigverdünnt, zu trinken. Wird das Kind stärker, so reichtman ihm Kalbfleisch- und Hühnerfleischbrühe, späterauch andre Fleischbrühsuppen mit Grieß, Reis u. dgl.,die aber durchgeseiht und einem dünnen Brei ähnlich seinmüssen, bis man endlich nach dem Zahndurchbruch zu festernNahrungsmitteln übergeht.

Stiller Freitag, s. Karfreitag.

Stiller Ozean (engl. Pacific Ocean, franz. OcéanPacifique), derjenige Teil des Weltmeers, welcher sich zwischenAmerika, Asien und Australien von der Beringsstraße bis zumsüdlichen Polarkreis ausbreitet (s. Karte "Ozeanien") undgegen den Atlantischen Ozean durch den Meridian des Kap Horn, gegenden Indischen Ozean durch den Meridian des Kap Liuwin abgegrenztwird. Er überdeckt (uneingerechnet das Chinesische Meer unddie australisch-ostindischen Archipelgewässer) einenFlächenraum von 2,926,210 QM. oder 161,125,673 qkm (nachKrümmels Berechnung), übertrifft also an Ausdehnung dieGesamtoberfläche der fünf Kontinente (2,441,642 QM.). Dieälteste Benennung des Stillen Ozeans war Mar del Zur, dieSüdsee, weil dieses Meer bei der ersten Entdeckung 1513 vonVasco Nunez de Balboa im Süden des Isthmus von Darien gesehenwurde. Die Benennung Südsee ist noch jetzt für dasgesamte inselreiche Meer südlich von Japan und denSandwichinseln, namentlich bei den Seeleuten, allgemein inGebrauch. Die von Malte-Brun herrührende Bezeichnung alsGroßer Ozean hat sich nicht allgemein einzubürgernvermocht und verschwindet mehr und mehr. Die in allen Spracheneingebürgerte Bezeichnung Pacific oder S. O. rührt vonMagelhaens her, welcher nach stürmischer Fahrt drei Monatelang bei beständigem stillen Wetter dieses Meer durchsegelte,bis er die Ladronen erreichte. Die Erforschung des Stillen Ozeansauf wissenschaftlicher Grundlage datiert von Cook und seinenunmittelbaren Nachfolgern. Krusenstern, Dumont d'Urville, King undFitzroy und eine Reihe andrer hervorragender Seeoffiziere setztendiese Arbeiten in unserm Jahrhundert fort. Die Hydrographie desStillen Ozeans ist so weit gefördert, daß Entdeckungenneuer Inseln als ausgeschlossen gelten dürfen, wenn auch diegenauere Bestimmung und Kartierung der zahlreichen kleinen Inseln(nahe 700) noch zum größern Teil der Zukunft vorbehaltenbleibt.

Die Tiefenverhältnisse des Stillen Ozeans sind durch eineReihe von Forschungen in den beiden letzten Jahrzehnten ingroßen Zügen bestimmt worden. Danach befindet sich imnördlichen Stillen Ozean ein großes Depressionsgebietvon über 6000 m Tiefe (Tuscaroratiefe), dessen westlicher Teildie größte bisher gelotete Tiefe aufweist (8513 m; vgl.die Tabelle im Art. "Meer", S. 411). Der steile Abfall von derKüste von Japan zu diesen großen Tiefen istbemerkenswert. Ein kleines tiefes Gebiet liegt in großerNähe des südamerikanischen Kontinents. Dagegen ist dersüdliche Stille Ozean, soweit bis jetzt erforscht,verhältnismäßig arm an großen Tiefen. DieTiefenverhältnisse zwischen den einzelnen Inselgruppensind

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Stiller Ozean (Hydrographisches, Verkehrsverhältnisse).

noch wenig bekannt und nach den vereinzelten Lotungen als sehrungleichmäßig zu betrachten.

Die für den Stillen Ozean charakteristischenErdbebenwellen, welche von Zeit zu Zeit beobachtet worden sind,lassen einen Schluß zu auf die mittlere Tiefe desdurchlaufenen Meeresgebiets. Die Erdbebenwellen von 1854, 1868 und1877 sind zu solchen Berechnungen benutzt und haben für dieRichtung Kalifornien-Japan rund 4050 m, für die RichtungPeru-Neuseeland 2750 m ergeben (Hochstetter 1869, Geinitz 1877 in"Petermanns Geographischen Mitteilungen"). Bisher sind solcheBeobachtungen nur immer an einer Seite des Ozeans mitselbstregistrierenden Apparaten angestellt, während dieZeitangaben für die andre Seite schwankend waren. DieErgebnisse sind daher noch ungenau. Auf Grund der verschiedenenLotungen und Berechnungen bis zum Jahr 1878 ist die mittlere Tiefedes Stillen Ozeans von Supan gefunden worden zu 3370 m, vonKrümmel (ohne Rücksicht auf die Wellenrechnung) zu 3912m. Das Stromsystem an der Oberfläche des Stillen Ozeans zeigtin seinen Hauptzügen Analogien mit dem des AtlantischenOzeans. Auch hier wird ein Äquatorialstrom von den Passaten zubeiden Seiten des Äquators nach W. getrieben. Die Nordgrenzedieser Westströmungen setzt Duperrey in 24° nördl.Br., die Südgrenze in 26° südl. Br. In der Nähedes Äquators findet sich ein östlich gerichteterÄqnatorialgegenstrom, in der Regel zwischen 2 und 6°nördl. Br. angegeben. Diese Strömungen sind bei weitemnicht so stark und beständig wie die analogen des AtlantischenOzeans. Da außerdem ihre Grenzen nach N. und Süden mitden Jahreszeiten schwanken müssen, so bedarf es einer sehrgroßen Zahl von Beobachtungen, um ein zuverlässiges Bilddieser Verhältnisse zu erlangen. Daran mangelt es so sehr,daß die Fortführung dieser Strömungen über denganzen Ozean auf einer Verbindung von Einzelbeobachtungen undWahrscheinlichkeiten beruht, welche noch weiterer Bestätigungbedürfen. Die weitaus größte Fläche desStillen Ozeans ist frei von regelmäßigenStrömungen, an den Küsten der Kontinente dagegen findensich ausgeprägte Stromverhältnisse, welche denen desAtlantischen Ozeans nahekommen. Namentlich der Kuro Siwo (Schwarzeroder Japanischer Strom, s. Kuro Siwo), welcher warmes Wasser an derOstküste von Japan nach N. führt, ist stets gern mit demGolfstrom verglichen worden. Seine Fortsetzung macht sich an derWestküste Nordamerikas in warmem, feuchtem Klima bemerklich.Der Labradorströmung der Ostküste von Nordamerikaentspricht das kalte Wasser im Ochotskischen Meer und bis zurHalbinsel von Korea. Im südlichen Stillen Ozean finden sichebenfalls analoge Strömungen wie im südlichenAtlantischen Ozean. Eine nach Süden setzende australischeStrömung macht sich an der Küste von Neusüdwalesbemerklich. Im Süden von Australien herrscht einöstlicher Strom vor, welcher den australischen Strom nachNeuseeland hin ablenkt.

Südlich von 30° südl. Br. herrschen Westwinde undmit ihnen laufende Ostströme vor, welche nach derWestküste Südamerikas das Wasser hintreiben. Darausresultieren an dieser Küste die an der patagonischenKüste nach Süden um das Kap Horn setzende Strömungund nach N. die kalte Peru- oder Humboldt-Strömung, welchesich bis über die Galapagosinseln hinaus fortsetzt und auf dasKlima der ganzen Küste einen so wohlthätigenEinfluß ausübt. Die an der Küste von Chile und Perubekannten dichten Nebel werden diesem kalten Wasser zugeschrieben.Doch wird selbst diese Strömung streckenweise durch anhaltendeNordwinde in ihren obern Schichten zum Stillstand gebracht. NeuereForschungen machen es wahrscheinlich, daß das kalte Wasser ander peruanischen Küste nicht der Strömung direktentstammt, sondern aus der Tiefe aufsteigt.

Die Temperaturverteilung an der Oberfläche diesesausgedehnten Wasserbeckens ist nur lückenhaft erforscht. Esknüpft sich jedoch an die Kenntnis derselben das für dieSüdsee so wichtige Problem von der Verbreitung der Riffebauenden Korallen; man hat daher aus direkten Beobachtungen, ausden Strömungen und aus der Lage der Koralleninselnwechselseitig Schlüsse gezogen. Danach ist dieOberflächentemperatur zwischen 28° nördl. Br. und28° südl. Br. im allgemeinen nicht niedriger als 20°C., mit Ausnahme der Gewässer im Bereich der peruanischenStrömung und der Küste von Kalifornien, während imO. das warme Wasser noch höhere Breiten (Japan) erreicht. ImBereich des Äquatorialgegenstroms ist das Wasser, ebenso wieim Atlantischen Ozean, am wärmsten. Das Gebiet, in welchem dasWasser über 20° warm bleibt, bietet die Lebensbedingungenfür die Riffe bauenden Korallen, welche im Stillen Ozean eineso große Verbreitung aufweisen (vgl. Dana, Corals andcoral-islands) und Inselgruppen von der Ausdehnung der Karolinen u.der Tuamotus u.a. ganz ausschließlich aufgebaut haben. Einecharakteristische Eigentümlichkeit des westlichen StillenOzeans sind die tiefen Meeresbecken, welche von der freienZirkulation des Tiefenwassers durch unterseeische Bodenerhebungenabgeschlossen werden (vgl. Tiefentemperatur im Art. "Meer", S. 413f.). Eine solche Erhebung verbindet in ca. 2600 m Tiefe Japan mitden Bonininseln, Marianen und Karolinen und umschließt ein8400 m tiefes Becken. Das Korallenmeer mit Tiefen von 4900 m ist in2500 m durch eine Bodenerhebung abgesperrt, ebenso sind die Sulusee(4700 m), Mindorosee (4800 m), Celebessee (5150 m) in Tiefen von600-1200 m umrandet, wie sich aus ihren warmen Bodentemperaturenunzweifelhaft ergibt.

Die Windverhältnisse des Stillen Ozeans sind im allgemeinendenen des Atlantischen Ozeans ähnlich. Zwischen 25°nördl. Br. und 25° südl. Br. wehen vorherrschendNordost- und Südostpassate, welche jedoch hier nur durch einenschmalen, im mittlern Teil sogar überhaupt nicht durch einenStillengürtel voneinander getrennt sind. An der Westküstevon Nordamerika sind nördliche, an der von Südamerikasehr beständige, aber schwache südliche Winde das ganzeJahr hindurch vorherrschend. Die Westseite des Stillen Ozeans,namentlich die oben genannten, durch ihre Tiefentemperaturenmerkwürdigen Meeresteile liegen im Gebiet der Monsune, welchesie mit dem Indischen Ozean (s. d.) gemeinsam haben. Diehöhern Breiten beider Hemisphären weisen, ähnlichwie im Atlantischen Ozean, vorherrschend Westwinde auf, welchenamentlich im Süden sehr kräftig und beständigangetroffen werden.

Verkehrsverhältnisse des Stillen Ozeans.

Der Stille Ozean ist erst sehr spät dem Weltverkehreröffnet worden. Seine nordwestliche Küste wurdeallerdings schon in früher Zeit befahren, ohne daß manaber eine Ahnung davon hatte, daß man sich hier in andernGewässern befinde als denen des Atlantischen Ozeans. AuchKolumbus meinte, daß letzterer bis nach Japan und Chinareiche. Erst dem Vasco Nunez de Balboa verdanken wir die Entdeckungder Existenz einer zwischen der Westküste Amerikas und Asiensich hinziehenden Meeresfläche. Als der

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Stillfried-Rattonitz - Stillleben.

eigentliche Entdecker des Stillen Ozeans muß aberMagelhaens gelten, welcher ihn in seiner ganzen Ausdehnung von SO.nach NW. durchquerte. Aber erst 44 Jahre später (1565) gelangdem Mönch und Seefahrer Urbaneta der oft gemachte, stetsmißglückte Versuch, den Stillen Ozean von W. nach O. zudurchmessen. Doch bot trotz mancher neuen Unternehmungen noch 250Jahre nach Magelhaens der Stille Ozean noch immer ein ungeheuresFeld für Entdeckungen; der Ruhm, nicht nur die in ihmverstreuten Archipele und einzelnen Inseln, auch seineTiefenverhältnisse und Riffe näher bekannt gemacht zuhaben, gebührt unbestritten Cook, und wenn auch nach ihm nochviel gethan wurde, die Hauptarbeit hatte er doch geleistet.Indessen eine Verkehrsstraße wurde der Stille Ozean erst vielspäter. Seine Ränder freilich wurden an den asiatischenund den australischen Küsten sowie entlang der WestseiteAmerikas mit dem wirtschaftlichen Aufschwung, bez. derErschließung derselben für den europäischen Handelmit jedem Jahr belebter; allein ein Bedürfnis, durch die ganzeweite Fläche des Ozeans einen regelmäßigen Verkehrhindurchzuleiten, stellte sich erst weit später ein. Dies fanderst nach dem Aufblühen der australischen Kolonien und nachder regern Anteilnahme Nordamerikas an dem Handel mit Ostasienstatt. Die Vollendung der Eisenbahn über den Isthmus vonPanama führte zur Errichtung einer Dampferlinie von Panamanach Sydney als Fortsetzung einer in Aspinwall endigendenenglischen Linie, aber die Pacificbahn von New York nach SanFrancisco gab dem Verkehr sofort eine andre Bahn. Die Dampferverließen in Zukunft San Francisco, um über Honolulu undAuckland nach Sydney zu gelangen, und kehrten auf demselben Weg zuihrem Ausgangspunkt zurück. Eine Linie von Segelschiffenstellte regelmäßige Verbindung zwischen San Franciscound den französischen Markesas und Tahiti her. Eine bessereKenntnis der Winde und Meeresströmungen bestimmte vieleSegler, den Weg von Australien nach Europa um die SüdspitzeAmerikas zu nehmen. Die zunehmende volkswirtschaftliche Bedeutungder australischen Kolonien führte Hand in Hand mit einemschnell wachsenden Handelsverkehr zu einer Vermehrung der zwischenEuropa und dem fünften Weltteil fahrenden Postdampferlinien.Zu den Linien, welche um die Südküste desAustralkontinents dessen Ostküste erreichen, traten solche,welche die Torresstraße durchziehen, kamenAnschlußlinien in Sydney nach Neukaledonien, demFidschiarchipel, der Samoa- und Tongagruppe sowie nach Neuguinea.Englische, französische und deutsche Dampfer traten hier inKonkurrenz. Den nördlichen Stillen Ozean durchziehen zwei vonHongkong über Jokohama gehende Dampferlinien, deren eine inSan Francisco, deren andre in Vancouver endet. Eingrößerer Verkehr mit und zwischen den einzelnen Inselnwurde erst dann zum Bedürfnis, als man auf denselben oder inderen Gewässern Waren entdeckte, deren der Welthandelbenötigt, wie Kopra und Kokosnußkerne, Perlen undPerlmutter, Trepang, Schildkrötenschalen, und als die voneuropäischen Unternehmern in Ostaustralien und auf mehrerenInselgruppen begonnene Plantagenwirtschaft eine Nachfrage nachArbeitern erzeugte, die nur durch Herbeiziehung von Bewohnerngewisser Inselgruppen befriedigt werden konnte. Daß dasTelegraphenkabel hier noch einen wenig bedeutenden Platz einnimmt,ist bei der ungeheuern Ausdehnung des Stillen Meerserklärlich. Doch haben bereits seit längerer ZeitTasmania und Neuseeland Anschluß an den Australkontinentgefunden, der wiederum durch Kabel und Landlinien mit derübrigen Welt in Verbindung steht.

Stillfried-Rattonitz, Rudolf Maria Bernhard, Graf von,preuß. Geschichtsforscher, geb. 14. Aug. 1804 zu Hirschbergaus einem alten, ursprünglich böhmischen, jetzt auch inSchlesien verzweigten Geschlecht, studierte zu Breslau die Rechte,trat für kurze Zeit in den Staatsverwaltungsdienst und widmetesich dann historisch-antiquarischen Studien. Er begründete,von Friedrich Wilhelm IV. an den Hof gezogen und 1840 zumZeremonienmeister ernannt, das königliche Hausarchiv und ward1856 Direktor desselben. Seit 1853 Oberzeremonienmeister und 1856Wirklicher Geheimer Rat, ward er 1858 in Lissabon zum Grandenerster Klasse mit dem Titel eines Grafen von Alcantara und 1861 zumpreußischen Grafen ernannt. Auch ward er zum Ehrenmitgliedder Akademie der Wissenschaften gewählt. Er starb 9. Aug.1882. S. machte sich unter anderm durch folgende Arbeiten bekannt:"Altertümer und Kunstdenkmale des Hauses Hohenzollern" (Berl.1838-67, 2 Foliobände), "Geschichte der Burggrafen vonNürnberg" (Görl. 1843), "Monumenta Zollerana" (Berl.1843-62, 7 Bde.), "Der Schwanenorden" (Halle 1845), "Beiträgezur Geschichte des schlesischen Adels" (Berl. 1860-64, 2 Hefte),"Stammtafel des Gesamthauses Hohenzollern" (das. 1869; neue Ausg.1879, 6 Blatt), "Hohenzollern. Beschreibung u. Geschichte der Burg"(Nürnb. 1871), "Friedrich Wilhelm III. und seine Söhne"(Berl. 1874), "Die Attribute des neuen Deutschen Reichs" (3. Aufl.,das. 1882), "Die Titel und Wappen des preußischenKönigshauses" (das. 1875), "Kloster Heilsbronn" (das. 1877)und gab mit Kugler das Prachtwerk "Die Hohenzollern und dasdeutsche Vaterland" (3. Aufl., Münch. 1884, 2 Bde.) sowie mitHänle "Das Buch vom Schwanenorden" (das. 1881) heraus. Auchleitete er den Bau der Burg Hohenzollern und die Wiederherstellungder Klosterkirche zu Heilsbronn.

Stillgericht, s. Femgerichte.

Stilling, Schriftsteller, s. Jung 2).

Stillingia L. (Talgbaum), Gattung aus der Familie derEuphorbiaceen, meist Sträucher mit wechselständigen,ganzen Blättern, endständigen Blütenähren unddreisamigen Kapseln. S. sebifera Michx. (Exoecaria sebifera J.Müll., s. Tafel "Öle und Fette liefernde Pflanzen"), einkleiner Baum mit langgestielten, breit rhombisch-eiförmigen,ganzrandigen Blättern und großer, kugelig-elliptischerKapsel, besitzt haselnußgroße, schwarze Samen, welchemit talgartigem Fett umgeben sind. Er ist in China und Japanheimisch, wird dort sowie in Ost- und Westindien, Nordamerika,Algerien und Südfrankreich kultiviert und liefert denchinesischen Talg. Durch Pressen der von der Fetthüllebefreiten Samen erhält man fettes Öl. S. silvatica J.Müll., ein Strauch mit fast sitzenden und linealischen biselliptisch lanzettlichen Blättern, im südlichenNordamerika, liefert eine purgierend wirkende Wurzel.

Stillkoller, s. Dummkoller.

Stillleben (holländ. Stilleven, engl. Still-life,franz. Nature morte, ital. Riposo), ein Zweig der Malerei, welcherdie Darstellung lebloser Gegenstände, wie toter Tiere (Wild,Geflügel und Fische), Haus-, Küchen- undTischgeräte, Früchte, Blumen, Kostbarkeiten,Raritäten etc., zum Gegenstand hat und besonders durch eingeschicktes Arrangement, durch koloristische Reize und feineBeleuchtung zu wirken sucht. Schon im Altertum entwickelte sich dasS. seit

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Stillwater - Stimme.

der alexandrinischen Zeit zu größter Blüte,wofür die pompejanischen Wandbilder noch zahlreiche Beispieleliefern. Die Malerei der Renaissance behandelte das S. nicht alseine selbständige Gattung der Malerei. Seit dem Anfang des 17.Jahrh. wurde es jedoch von den niederländischen Malern ingroßem Umfang kultiviert und zur höchstenVirtuosität entwickelt, wobei man zwei Richtungen zuunterscheiden hat, deren eine nach glänzender koloristischerWirkung bei einer mehr aufs Ganze gerichteten dekorativenBehandlung strebte, während die andre mehr auf peinliche,miniaturartige Wiedergabe der Einzelheiten sah. Die Hauptvertreterder niederländischen Stilllebenmalerei sind: J. Brueghel derältere, Snyders, Seghers, die Familie de Heem, A. vanBeijeren, W. Kalf, Heda, W. van Aelst, Dou, Fyt, Weenix, R. Ruysch,van Huysum u. a. m. Im 19. Jahrh. ist das S. wieder sehr inAufnahme gekommen, in Frankreich besonders durch Robie, Vollon undPh. Rousseau, in Deutschland durch Preyer (Düsseldorf), dieBerliner Hoguet, P. Meyerheim, Hertel, Th. und R. Grönland,Heimerdinger (Hamburg), namentlich aber durch die MalerinnenBegas-Parmentier, H. v. Preuschen, Hormuth-Kallmorgan, Hedinger u.a. Vgl. Blumen- und Früchtemalerei.

Stillwater, Stadt im nordamerikan. Staat Minnesota, 25 kmnordöstlich von St. Paul, am schiffbaren St. Croix, hat einStaatsgefängnis, bedeutenden Holzhandel und (1885) 16,437Einw.

Stilo (ital.), Stil; S. osservato, der "hergebrachte",strenge Stil, besonders der reine Vokalstil, a cappella-Stil,Palestrinastil; S. rappresentativo, der für die szenischeDarstellung geeignete, dramatische Stil, die um 1600 zu Florenzerfundene begleitete Monodie (s. Oper, S. 398).

Stilo, Stadt in der ital. Provinz Reggio di Calabria,Kreis Gerace, am Stillaro, hat ein merkwürdiges altesKirchlein, Seidenzucht, Weinbau und (1881) 2655 Einw. Dassüdöstlich davon gelegene Kap S. schließtsüdlich den Golf von Squillace.

Stilpnosiderit (Eisenpecherz, Pecheisenstein), Mineralaus der Ordnung der Hydroxyde, tritt gewöhnlich gleichzeitigmit Brauneisenstein in nierenförmigen oder stalaktitischen,amorphen, pechschwarzen oder schwärzlichbraunen Massen mitstarkem Fettglanz auf; Härte 4,5-5, spez. Gew. 3,6-3,8. S.enthält Eisenoxyd und Wasser und nähert sich bald demBrauneisenerz (14 Proz. Wasser), bald dem Goethit (10 Proz.Wasser); er findet sich bei Siegen, Sayn, Amberg, in Böhmenund Mähren und wird mit Brauneisenstein verhüttet.

Stilpon, griech. Philosoph, aus Megara, blühte um300 v. Chr. und erhob, durch Ernst und Reinheit seiner Ethik, inwelcher er ein Vorläufer der Stoiker war, sowie durchSchärfe seiner Dialektik ausgezeichnet, die megarische Schulezu großem Ansehen. Von seinen Schriften hat sich nichtserhalten.

Stilton, Dorf in Huntingdonshire (England), mit (1881)645 Einw., hat seinen Namen einer berühmten Sorte Käsegegeben, der hier zuerst verkauft wurde, indes meist ausLeicestershire kommt.

Stimmbänder, s. Kehlkopf.

Stimmbildung. Die verschiedenen, bei der Ausbildung derSingstimmen (s. Stimme, S. 321) in Betracht zu ziehenden Momentesind: 1) Bildung des richtigen Ansatzes (s. d.) der für denGesang geeigneten Resonanz der Vokale; 2) Schulung des Atemholensund Atemausgebens (mittels des messa di voce), also Kräftigungder Respirationsorgane, welche die erste Vorbedingung einerKräftigung der Stimme ist; 3) Übung im Festhalten derTonhöhe (zugleich eine Übung der beteiligten Muskeln undBänder und des Gehörs, ebenfalls mittels des Messa divoce); 4) Ausgleichung der Klangfarbe der Töne (wobei zubeachten ist, daß manchmal ein einzelner Ton schlechtanspricht); 5) Erweiterung des Stimmumfanges (durch Übung derTöne, welche dem Sänger bequem zu Gebote stehen); 6)Übung der Biegsamkeit der Stimme (zunächst langsameTonverbindung in engen und weiten Intervallen, späterLäuferübungen, Triller, Mordente etc.); 7) Ausbildung desGehörs (systematische Treffübungen, Musikdiktat); 8)Übungen in der richtigen Aussprache (am besten durchLiederstudium) ; 9) Übungen im Vortrag (durch geschickteAuswahl von Werken verschiedenartigen Charakters für dasStudium). Vgl. Gesang.

Stimmbruch, s. Mutation.

Stimme (Vox), im physiologischen Sinn der Inbegriff derTöne, welche im tierischen Organismus beim Durchgang des Atemsdurch den Kehlkopf willkürlich erzeugt werden. Das menschlicheStimmorgan zerfällt in das Windrohr, das Zungenwerk und in dasAnsatzrohr. Der Kehlkopf ist ein Zungenwerk mit membranösenZungen (den Stimmbändern). Als Windrohr dienen dieLuftröhre und deren Verästelungen, als Zungen die beidenuntern Stimmbänder, und das Ansatzrohr wird gebildet von denobern Teilen des Kehlkopfes (den Morgagnischen Taschen und densogen. obern Stimmbändern) sowie von der Schlund-, Mund- undNasenhöhle. Der Vorgang bei der Stimmbildung, welche aufregelmäßigen periodischen Explosionen der durch die engeStimmritze tretenden Luft beruht, ist nun folgender: DieLuftröhre leitet die unter einem gewissen Druck stehendeAusatmungsluft gegen die mehr oder weniger gespannten und alsoschwingungsfähigen Stimmbänder, die jedoch für sichkeine oder nur ganz schwache Töne geben. Die beiden unternStimmbänder treten von den Seiten her einander entgegen undverwandeln die zwischen ihnen liegende Stimmritze in eine feineSpalte, welche dem Luftaustritt ein gewisses Hindernisentgegensetzt. Dadurch wird eine zu schnelle Entleerung des in denLungen vorhandenen Luftvorrats verhindert, und es wirdmöglich, einmal den Ton längere Zeit hindurch auszuhaltenund das andre Mal die Luft des Windrohrs durch den Druck derAusatmungsmuskeln in eine bestimmte Spannung zu versetzen. DerLuftstoß drängt die Stimmbänder in die Höheund etwas auseinander; sofort aber schwingen die Bänderzurück, und die Stimmritze wird dadurch wieder verengert.Dieses Schwingen der Stimmbänder mit abwechselnder minimalerVerengerung und Erweiterung der Stimmritze wiederholt sich oft undin rhythmischer Weise, d. h. die Schwingungen sindregelmäßige. Dadurch wird auch die Luft des Ansatzrohrsin regelmäßige, stehende, also tönende Schwingungenversetzt. Zur Hervorbringung selbst der schwächsten Töneist eine gewisse Stärke des Anblasens nötig, d. h. esmuß die Luft im Windrohr eine gewisse Spannung haben, welchewir ihr durch Zusammendrücken des Brustkorbes, d. h. durch dieAusatmung, geben. Bei großer Kraftlosigkeit derAtmungsmuskeln und bei einer Öffnung in der Luftröhre(Wunde) geht daher die S. verloren. Übrigens dienen dieWandungen der Luftröhre und der Bronchien sowie die in ihneneingeschlossenen Luftmassen als Resonanzapparate, denn sieverstärken durch ihr Mitschwingen die Töne. Menschen mitentwickeltem Brustkorb haben darum eine kräftige S.; derBrustkorb selbst wird durch die

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Stimme (des Menschen).

S. in Schwingungen versetzt, welche die auf den Brustkorbaufgelegte Hand wahrzunehmen vermag (Stimmvibration des Thorax).Selbst beim heftigsten und schnellsten Ausatmen entstehen keineTöne, welche der S. irgendwie vergleichbar wären, sondernnur blasende oder keuchende Geräusche infolge der Reibung derLuft im Kehlkopf und an andern Stellen der Luftwege. Tonbildung istimmer nur möglich, wenn der Luftstrom regelmäßigunterbrochen wird durch die gespannten Stimmbänder. Aus diesemGrund muß eine feine Stimmritze vorhanden sein, wenn es zurTonbildung kommen soll, denn die weite Stimmritze gibt keinhinreichendes Hemmnis für den Luftstrom ab. Diese Stimmritzewird ausschließlich durch die untern Stimmbändergebildet, denn wenn man am toten Kehlkopf die unternStimmbänder abträgt, so bekommt man mittels der obernStimmbänder allein keine Töne mehr. Bei höhernTönen näherten sich zwar auch die obern Bändereinander, doch nie in dem Grade, daß dadurch ein zurTonbildung hinreichendes Lufthindernis gebildet wurde. Entfernt manaber am toten Kehlkopf die obern Bänder, so erlangt man durchdie untern Bänder immer noch mit Leichtigkeit Töne, nurvon etwas anderm Klang als bei unversehrtem Kehlkopf. Ebensowenigwird durch Verstümmelung der obern Bänder dieTonhöhe verändert. Die untern Bänder sind demnachunentbehrlich zur Tonerzeugung, und sie allein verdienen daher denNamen der Stimmbänder. Die Bildung der engen Stimmritze wirddadurch bewirkt, daß die Gießkannenknorpel aneinanderrücken und somit den freien Rand der Stimmbänder einandernähern. Mit zunehmender Tonhöhe wird die Stimmritze engerund kürzer. Ganz unentbehrlich für die Stimmbildung istdie gehörige Spannung und Elastizität derStimmbänder. Ist der Schleimüberzug derselbenentzündlich geschwollen, mit zähem und dickem Schleimbelegt, oder sind die Stimmbänder durch andre krankhafteProzesse, Neubildungen etc., verdickt, so sind sie unfähig, ingehöriger Weise zu schwingen. Die Tongebung ist dann mehr oderweniger gehindert, die Töne werden rauh, unangenehmer undtiefer; in höherm Grade tritt völlige Stimmlosigkeit ein.Außerdem ist zum Hervorbringen eines Tons von bestimmterHöhe erforderlich, daß Länge und Spannung derStimmbänder unverändert bleiben. Die Bildung undÖffnung der Stimmritze ist an die Ortsbewegungen gebunden,welche die beiden Gießkannenknorpel ausführen. Durch dasAuseinanderrücken letzterer wird die Stimmritze gebildet(geschlossen), durch die Rückwärtsbewegung derselbenwerden die Stimmbänder gespannt und umgekehrt. DieTonhöhe ist abhängig von der Länge und der Spannungder Stimmbänder. Die Länge der Stimmbänder ist vongroßem Einfluß auf die Stimmlage in der Art, daßmit langen Stimmbändern (beim Mann) eine tiefe, mit kurzenStimmbändern (beim Kind und Weib) eine hohe Stimmlageverbunden ist. Für jedes einzelne Stimmorgan ist die Spannungder Bänder das Hauptveränderungsmittel der Tonhöhe:je größer die Spannung, um so höher der betreffendeTon. Die Spannung der Stimmbänder erfolgt durch Muskelwirkung, wobei ihr hinterer Insertionspunkt sich von dem vordern entfernt.Für alle die Formveränderungen, welche mit der Stimmritzebei der Tonbildung vor sich gehen, sind besondere Muskeln amKehlkopf angebracht. Die Tonhöhe steigt jedoch nichtbloß mit zunehmender Spannung der Stimmbänder, sondernauch mit zunehmender Stärke des Luftstroms, welcher durch dieStimmritze geht. Eine und dieselbe Tonhöhe ist also erreichbarentweder durch stärkere Bänderspannung bei zugleichruhigem Ausatmungsstrom oder mittels schwächerer Spannung derBänder bei stärkerm Luftstrom. Im erstern Fall hat derTon einen angenehmern Klang, aber beide Faktoren sind wichtigeKompensationsmittel der Tonhöhe. Auch erklärt sichhieraus, daß die höchsten Töne niemals schwach, dieniedrigsten niemals sehr stark gegeben werden können. Obschonwährend des Ausatmens mit Abnahme des Luftvorrats auch dieKraft des Anblasens abnimmt, so kann der Ton trotzdem auf gleicherHöhe erhalten werden durch zunehmende Spannung derStimmbänder. Das Ansatzrohr der musikalischen Zungenwerke wirdam menschlichen Stimmorgan mit mannigfachen, der S. zu gutekommenden Modifikationen durch diejenigen Abschnitte der Luftwegevertreten, welche oberhalb der untern Stimmbänder liegen, alsodurch die Rachen-, Mund- und Nasenhöhle. Dieses Ansatzrohrverändert zwar nicht wesentlich die Tonhöhe, wohl aberden Klang und besonders die Stärke des Tons. Zuhalten derNase, Schließen oder Öffnen des Mundes z. B.verändern in der That niemals die Höhe, wohl aber denKlang und die Stärke der Töne. Ein Verschluß derNase ändert, wenn der Ausatmungsstrom schwach und der Mundweit geöffnet ist, den Klang der Töneverhältnismäßig nur wenig; bei starkem Luftstromaber wird der Klang näselnd, indem die Wände derNasenhöhle die Schallwellen nicht bloß reflektieren,sondern auch selbst in stärkere, den Klang modifizierendeSchwingungen geraten. Zunehmende Räumlichkeit der Mund- undNasenhöhle begünstigt, umfänglicheVerknöcherung der Kehlkopfknorpel vermindert dieTonstärke.

Nach dem Umfang der menschlichen S. unterscheidet man den Sopranoder die höhere Frauenstimme, den Alt oder die tiefereFrauenstimme, den Tenor oder die hohe Männerstimme und denBaß oder die tiefe Männerstimme. Der Sopran liegtungefähr eine Oktave höher als der Tenor, der Alt umebensoviel höher als der Baß. Zwischen dem tiefstenBaß- und höchsten Sopranton liegen etwas über 3 1/2Oktaven. Rechnet man die Stimmen von seltener Tiefe und Höhedazu, so beträgt der ganze Umfang der Menschenstimme sogar 5Oktaven; ihr tiefster Ton hat 80, ihr höchster 1024Schwingungen in der Sekunde. Eine gute Einzelstimme umfaßt 2Oktaven (und etwas darüber) musikalisch verwendbarerTöne. Stimmen von größerm Umfang sind nicht soselten, ja selbst ein Gebiet von 3 1/2 Oktaven wurde schonbeobachtet. Der Baß erreicht ausnahmsweise f1, Kinderstimmenund der Frauensopran manchmal f3, ja selbst a3. Nur wenigeTöne, nämlich von c1-f1, sind allen Stimmlagen gemein.Die Menschenstimme zeigt unendlich viele individuelleModifikationen oder Klangarten. Hierfür sind außer derRegelmäßigkeit, d. h. der gleichen Dauer, derSchwingungen der Stimmbänder, wodurch die Reinheit der S.vorzugsweise bedingt wird, namentlich die Teile des Ansatzrohrs,deren Form, Größe, Elastizität etc.maßgebend. Abgesehen von den individuellen Klangarten,unterscheidet man zwei Hauptregister von Tönen: Brusttöneund Falsetttöne. Der Klang der erstern ist voll und stark, dieauf die Brust gelegte Hand fühlt deutliche Vibrationen; dieFalsett- oder Fisteltöne (s. Falsett) dagegen sind weicher.Weiteres s. unter Stimmbildung.

Vgl. v. Kempelen, Der Mechanismus der menschlichen Sprache nebstder Beschreibung einer sprechenden Maschine (Wien 1791); Joh.Müller, über die

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Stimmer - Stimmführung.

Kompensation der physischen Kräfte am menschlichenStimmorgan (Berl. 1839); Liskovius, Physiologie der menschlichen S.(Leipz. 1846); Merkel, Anthropophonik (das. 1857); Derselbe, DieFunktionen des menschlichen Schlund- und Kehlkopfes (das. 1862);Roßbach, Physiologie der menschlichen S. (Würzb. 1869);Luschka, Der Kehlkopf des Menschen (Tübingen 1871);Fournié, Physiologie des sons de la voix et de la parole(Par. 1877); Helmholtz, Lehre von den Tonempfindungen (4. Aufl.,Braunschw. 1876); Grützner, Physiologie der S. und Sprache (inHermanns "Handbuch der Physiologie", Bd. 1, Tl. 2, Leipz. 1879);Mandl, Die Gesundheitslehre der S. in Sprache und Gesang(Braunschw. 1876).

Die Stimmen der Tiere.

Mit Ausnahme der walfischartigen Tiere und des Stachelschweins,die weder Stimmbänder noch Morgagnische Taschen besitzen,treffen wir bei sämtlichen Säugetieren stimmbildendeApparate an, die dem beschriebenen des Menschen ganz ähnlichsind. Oftmals finden sich große resonatorische Nebenapparatevor, welche die S. zu verstärken und in ihrer Klangfarbe zubeeinflussen berufen sind. Je umfangreicher der Kehlkopf und dieStimmbänder, desto lauter ist die S. Die S. der meisten Tiereist nicht sehr umfangreich; bei den meisten Wiederkäuernbewegt sie sich nur innerhalb ein bis zwei Tonstufen. Oftmalsbringen Tiere Töne hervor, die in ihrer Höhe sehr weitauseinander liegen, ohne daß sie zur Erzeugung derzwischenliegenden Töne befähigt wären. Bei einigenTieren dient nicht allein der Ausatmungs-, sondern auch derEinatmungsluftstrom der Stimmbildung; in diesen Fällen istmeistens der Kehlkopf mit besondern Apparaten ausgestattet, z. B.beim Esel. Bei der Erzeugung hoher Töne bedienen sich dieTiere oftmals der Fistelstimme, z. B. der Hund, wenn er sich nachetwas sehnt, oder wenn er Schmerzen empfindet. Die S. derVögel, namentlich der Männchen, ist ungemein entwickelt.Obenan stehen hier die Singvögel und die Papageien. MitAusnahme einiger straußartiger Vögel und Geier habensämtliche Vögel einen doppelten Kehlkopf. Der eine davonentspricht vollständig dem Kehlkopf der Säugetiere, hataber mit der eigentlichen Stimmbildung gar nichts zu thun undbesitzt keine knorpelige, sondern eine knöcherne Grundlage.Der andre liegt im Brustraum an der Vereinigungsstelle derLuftröhrenzweige und stellt den eigentlichen stimmbildendenApparat dar. Derselbe ist entweder einfach oder doppelt vorhandenund liegt im erstern Fall entweder im Anfangsteil derLuftröhre oder an der Übergangsstelle in die Bronchien;im andern Fall befindet sich in jedem der beiden Bronchien einStimmapparat. Schon Cuvier und Johannes Müller konntenexperimentell nachweisen, daß die S. der Vögel in demuntern Kehlkopf gebildet wird; letzterm gelang es auch, durchAnblasen des ausgeschnittenen untern Kehlkopfes der S.ähnliche Töne zu erzeugen. Die Stimmbildung beruht beiden Vögeln im wesentlichen auf demselben Prinzip wie beidenSäugetieren, da wir es auch hier mit membranösenZungenpfeifen zu thun haben. Die S. der Amphibien ist nur vonuntergeordnetem Interesse. Die Krokodile haben eine durchdringendeund schreiende S., die allerdings in der Gefangenschaft kaumbeobachtet wird. Bei den Lurchen, besonders bei denungeschwänzten, findet man neben den stimmbildenden Apparatenvielfach noch resonatorische Einrichtungen, die wesentlich zurVerstärkung der S. dienen (z. B. die Luftsäcke der Kehlebei den Fröschen). Sind auch die meisten Fische stumm, sowußte doch schon Aristoteles, daß manche Fischebrummende, singende Töne zu erzeugen im stande sind.Allerdings kann man hier von einer S. nur dann sprechen, wenn manunter letzterer die Fähigkeit eines Tiers versteht, Töneals Mittel zur gegenseitigen Verständigung zu benutzen. Auchnur im letztern Sinn können wir von einer S. der Insektensprechen; hierbei kommen die durch den Flügelschlag erzeugtenTöne kaum in Rechnung. über die Einrichtung derStimmapparate s. Insekten, S. 978.

Stimmer, Tobias, Maler und Zeichner für denHolzschnitt, geb. 1539 zu Schaffhausen, war dort, inStraßburg und Frankfurt a. M. als Fassaden- undPorträtmaler thätig und hat besonders eine großeAnzahl von Zeichnungen für den Holzschnitt (biblischeDarstellungen, Allegorien, Embleme, Genrebilder etc.) gefertigt,welche von dem Buchdrucker S. Feierabend in Frankfurt a. M.herausgegeben wurden. Er starb 1582 in Straßburg. S.schloß sich an H. Holbein den jüngern an, verfiel aberzuletzt in leere Manier. Von seinen Fassadenmalereien hat sich diedes Hauses zum Ritter in Schaffhausen erhalten. Bildnisse von ihmbefinden sich im Museum zu Basel.

Stimmfehler (Vitia vocis), organische oder funktionelleAffektionen des Kehlkopfes und des oberhalb desselben gelegenenTeils des Respirationsorgans, bei welchen entweder die Erzeugungder tongebenden Schwingungen der Stimmbänder mehr oder wenigeraufgehoben, oder die willkürliche Modifizierung derselbenunmöglich gemacht worden, oder die Klangfarbe der im Kehlkopferzeugten Töne eine abnorme geworden ist. Die wichtigsten S.sind Heiserkeit und Aphonie. Häufig, namentlich beimStimmwechsel und männlichen Geschlecht, ist auch dasÜberschnappen der Stimme (Hyperphonie), wobei die Töneder Stimme leicht aus dem Brustregister in das Falsettregisterumschlagen.

Stimmführung nennt man den musikalischen Satz in Bezugauf die Behandlung der einzelnen denselben hervorbringendenStimmen. Das Wichtigste der Lehre von der S. läßt sichin wenige Worte zusammenfassen. Die Seele der S. ist dieSekundfortschreitung. Der Satz erscheint um so glatter,vollkommener, je mehr die Akkordfolgen durch Sekundschritte dereinzelnen Stimmen bewerkstelligt werden. Selbst harmonisch sehrschwer verständliche Folgen geben sich mit einer gewissenUngezwungenheit, wenn alle oder die meisten Stimmen Sekundschrittemachen, seien diese Ganztonschritte, Leitton- oder chromatischeHalbtonschritte (s. Beispiel). Ein vorzügliches Bindemitteleinander folgender Akkorde ist ferner das Liegenbleiben gemeinsamerTöne. Eine Ausnahme macht die Führung derBaßstimme, welche gern von Grundton zu Grundton der Harmonienfortschreitet und wesentlich der Förderung des harmonischenVerständnisses dient; auch von Hauptton zu Terzton und vonTerzton zu Terzton oder Hauptton geht der Baß gern, dagegenist der Sprung der Baßstimme zum Quintton mit Vorsicht zubehandeln (s. Quartsextakkord und Konsonanz). Überhaupt aberist die Sekundbewegung zwar erstrebenswert, jedoch keineswegs immererreichbar, und gerade die Stimme, welche zumeist frei und zuersterfunden wird, die eigentliche Melodiestimme (in der neuern Musikgewöhnlich die Oberstimme), unterbricht die Sekundbewegunggern durch größere, sogen. harmonische Schritte. Dasolche Schritte, wie bereits bemerkt, den Effekt derMehrstimmigkeit durch Brechung machen, so sind sie

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Stimmgabel - Stimmung.

eine Bereicherung des Satzes; es blüht sozusagen einezweite Stimme aus der einen heraus (im Orchester- und Klaviersatzgeschieht das oft genug wirklich). Von solchem Gesichtspunkt auserscheint das Abweichen von der Sekundbewegung auch für dieMittelstimmen oft als ein Vorzug, indem dieselben sich dadurchselbständiger herausheben. Gewisse Stimmschritte, dieharmonisch schwer verständlich und darum schwer rein zutreffen sind, vermeidet der Vokalsatz gern (der "strenge" Stilvermeidet sie ganz), nämlich die übermäßigenSchritte (Tritonus, übermäßiger Sekundschritt etc.)und den verminderten Terzschritt (cis-es). Die in allenLehrbüchern der Harmonie zu findenden Regeln, daß derLeitton einen kleinen Sekundschritt nach oben mache und die Septimenach unten fortschreiten müsse, sind nur bedingungsweiserichtig. Wo der Leitton in Dominantenakkord auftritt und dieserschließend sich zur Tonika fortbewegt, wird natürlichder Leittonschritt gemacht werden, weil überhauptHalbtonfortschreitungen überall zu machen sind, wo sichGelegenheit bietet und dadurch nicht gegen eine andre Satzregelverstoßen wird; deshalb wird auch die Septime in denFällen gern nach unten fortschreiten, wo sie einen fallendenLeittonschritt ausführen kann, z. B. wo sich derDominantseptimenakkord in die Durtonika auflöst (s. dasBeispiel). In diesem Fall ist sowohl der steigende Leittonschritth'-c'' als der fallende f'-e' obligatorisch und wird nur inAusnahmefällen von einem von beiden abzusehen sein. Dagegenist kein Grund abzusehen, warum in Akkorden wie h:d:f:a oderc:e:g:h die Septime sich abwärts bewegen sollte, wenn nichtGefahr der Quintenparallelen od. dgl. dazu zwingt. Es wird immerdarauf ankommen, was für eine Harmonie folgt; enthältdieselbe die Oktave des Grundtons, so wird die Septime häufigsteigen. Die Regel der abwärts zu führenden Septime wiedes aufwärts zu führenden Leittons ist also nichts andresals ein praktischer Fingerzeig, weil bei den gewöhnlichstenAkkordfolgen sich diese S. als eine bequeme ergibt. Dagegen sindvon höchster Bedeutung für die S. die negativen Gesetze:das Quintenverbot und Oktavenverbot (s. Parallelen), da falscheParallelen dem Grundprinzip des mehrstimmigen Satzes, eineVereinigung mehrerer sich selbständig und wohl unterscheidbarbewegender Stimmen zu sein, widersprechen.

Stimmgabel, ein nach Gerber im 18. Jahrh. von demenglischen Musiker John Shore erfundenes, aus Stahl gabelartigzweizinkig gearbeitetes, unten mit einem Stiel von gleicher Masseversehenes Instrument, das, wenn seine beiden Zinken durchAnschlagen in Vibration gesetzt werden, einen sanften, einfachenTon von bestimmter Tonhöhe gibt. Die S. ist in den meistenFällen auf das eingestrichene a (Kammerton) gestimmt und dientzur Bewahrung einer absolut gleichen Tonhöhe. S. Schall, S.392.

Stimmrecht, allgemeines, s. Allgemeines S.

Stimmritze, s. Kehlkopf.

Stimmritzenkrampf (Laryngospasmus infantilis, Asthmalaryngeum, Laryngismus stridulus), krampfhafte Zusammenziehungderjenigen Muskeln, welche die Stimmritze verschließen,beruht auf einem krampfhaften Erregungszustand der Nerven, welchejene Muskeln innervieren. In manchen Fällen scheint die Anlagezum S. angeboren zu sein, da in einzelnen Familien fast alle Kinderdaran erkranken. Der S. tritt in Anfällen auf, zwischenwelchen freie Pausen liegen. Der Anfall ist charakterisiert durcheine plötzliche gewaltsame Unterbrechung des Atmens, welchemehrere Minuten lang andauern kann, wenn die Stimmritze nichtgänzlich verschlossen, sondern nur stark verengert ist. DasAtmen ist dabei mit einem pfeifenden langgezogenen Geräuschverbunden. Das Kind ist voll der höchsten Angst und Unruhe,wird blau im Gesicht und macht angestrengte Bewegungen, um zuatmen. Husten, Heiserkeit und Fieber fehlen dabei. Ist der Krampfvorüber, und hat das Kind seine Angst vergessen, so ist wiedervollständiges Wohlbefinden da. Manchmal sind krampfhafteBewegungen der Finger und Zehen, der Arme und Beine mit denAnfällen von S. verbunden oder wechseln mit ihnen ab. DieAnfälle treten in verschiedenen Zeiträumen auf; oftwiederholen sie sich erst nach acht und mehr Tagen, in schlimmenFällen folgen sie schneller aufeinander. Immer bleibtgroße Neigung zu Rückfällen zurück, welche manselbst dann noch zu fürchten hat, wenn das Kind monatelangfrei geblieben ist. In seltenen Fällen trat der S. nur inEinem Anfall auf und kehrte nie wieder. Der Krankheitsanfall gehtmeist binnen wenigen Sekunden oder Minuten vorüber, endet aberauch manchmal mit dem plötzlichen Tode der Kinder durchErstickung. Sobald sich ein Anfall einstellt, soll man das Kindaufrichten, ihm Wasser in das Gesicht spritzen, kühle Luftzufächeln, den Rücken reiben und ein Klystier vonKamillen-oder Baldrianthee setzen. Auch ist es gut, einen Senfteigvorrätig zu halten, um denselben, sobald der Anfall eintritt,in die Magengrube zu legen. In der freien Zwischenzeit mußman alle Unregelmäßigkeiten in der Verdauung beseitigen,den Stuhlgang regulieren und für eine möglichstzweckmäßige Ernährung des Kindes sorgen.

Stimmung, in der Musik s. v. w. Feststellung derTonhöhe und zwar 1) Feststellung der absoluten Tonhöhe,d.h. der Schwingungszahl eines Tons, nachdem die übrigengestimmt werden. In ältern Zeiten hatte man verschiedeneStimmungen für verschiedene Instrumente: die einen waren inden Chorton (s. d.), die andern in den Kammerton (s. d.) gestimmt;in der neuern Zeit bediente man sich allgemein des Kammertons (vgl.A). Indessen war nicht nur die Tonhöhe des letztern anverschiedenen Orten eine verschiedene, so daß man von einerPariser, Wiener, Berliner, Petersburger S. etc. spricht, sondern eshat sich außerdem in den letzten anderthalb Jahrhunderten einstetiges Hinauftreiben der S. herausgestellt. Zu Lullys Zeiten(1633-87) war dieselbe fast anderthalb Töne tiefer als jetzt;seit Händel und Gluck ist sie um einen ganzen Ton gestiegen,seit Mozart um einen halben. Nach der Pariser S. von 1788 zeigtedas eingestrichene a 409 (Doppel-) Schwingungen in der Sekunde,nach der ältern Mozart-Stimmung etwas über 421, nach derPariser S. von 1835: 449, nach der Wiener und Berliner S. von etwa1850: 442. Um diesem fortdauernden Schwanken des Kammertons Einhaltzu thun und die Einführung einer allgemein gültigen S.anzubahnen, nahm man in Deutschland in Übereinstimmung mit derDeutschen Naturforschergesellschaft (1834) Scheiblers Bestimmungals für den Kammerton maßgebend an, nach welcher demeingestrichenen a in der Sekunde 440 Schwingungen zukommen,während man 1858 zu Paris auf Anlaß Napoleons III. durcheine Kommission von Sachverständigen einen neuen Kammerton(diapason normal) feststellte, welcher zunächst fürFrankreich die normale Tonhöhe auf 870 einfache (= 435Doppel-) Schwingungen bestimmte. Dieselbe kam bald auch aufmehreren deutschen Bühnen (z. B. der Wiener, Dresdener undBer-

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Stimmungsbild - Stinktier.

liner) zur Geltung und wurde auf der 16.-19. Nov. 1885 in Wientagenden internationalen Konferenz zur Feststellung eineseinheitlichen Stimmtons endlich einstimmig angenommen. - 2)Theoretische Bestimmung der relativen Tonhöhen, derVerhältnisse (Intervalle) der Töne untereinander, welchewieder auf zweierlei Weise möglich ist: a) abstrakttheoretisch als mathematisch-physikalische Tonbestimmung (s. d.),und b) für die Praxis berechnet, welche statt der zahllosentheoretisch definierten Tonwerte nur wenige substituierenmuß, wenn sie einen sichern Anhalt für die Intonationgewinnen will, als Temperatur (s. d.). - 3) Die praktischeAusführung der Temperatur, welche jetzt für Orgel wieKlavier allgemein die gleichschwebende zwölfstufige ist. Exaktdurchführbar ist dieselbe nicht, doch erreicht die Routinebefriedigende Resultate. Was mit der Undurchführbarkeit dergleichschwebenden Temperatur versöhnen kann, ist der Umstand,daß diese selbst keine exakten Werte vorstellt, sondern nurNäherungswerte, Mittelwerte, und daß eine etwanigeAbweichung ein Intervall schlechter, dafür aber ein andresbesser macht. Das einzige Intervall, das absolut rein gestimmtwerden muß, ist die Oktave; die Quinte muß ein wenigtiefer sein, und zwar beträgt die Differenz in dereingestrichenen Oktave etwa eine Schwingung, d.h. wenn man jedeQuinte so viel tiefer stimmt, daß sie gegen die reine Quinteeine Schwebung in der Sekunde macht, und jede Quarte um ebensovielhöher, so wird man ungefähr genau auskommen. VonSchriften, welche die S. der Klavierinstrumente behandeln, seienbesonders die von Werkmeister (1691 und 1715), Sinn (1717), Sorge(1744, 1748, 1754, 1758), Kirnberger (1760), Marpurg (1776 und1790), Schröter (1747 und 1782), Wiese (1791, 1792, 1793),Türk (1806), Abt Vogler (1807) und Scheibler (1834, 1835 und1838) erwähnt. Die Mehrzahl der ältern Stimmmethoden sindgemischte, ungleich schwebend temperierte, d.h. sie bewahren einerAnzahl Intervallen ihre akustische Reinheit, während andredafür desto schlechter ausfallen. - Im geistigen Sinnbezeichnet S. einen bestimmten Gemütszustand, den in allerReinheit zum Ausdruck zu bringen eine der Hauptaufgaben der Musikwie jeder andern Kunst ist.

Stimmungsbild, s. Landschaftsmalerei.

Stimmwechsel, s. Mutation.

Stimulieren (lat.), anreizen; Stimulantia, Reizmittel (s.Erregende Mittel); Stimulation, Reizung, Anregung.

Stinde, Julius, Schriftsteller, geb. 28. Aug. 1841 zuKirch-Nüchel in Holstein, studierte Chemie undNaturwissenschaften, war, nachdem er 1863 promoviert, in Hamburgmehrere Jahre als Fabrikchemiker thätig, übernahm aberschließlich die Redaktion des "Hamburger Gewerbeblatts" undwidmete sich ganz der Schriftstellerei, insbesondere demnaturwissenschaftlichen Feuilleton. Außer zahlreichenAufsätzen in Fachzeitschriften veröffentlichte er:"Blicke durch das Mikroskop" (Hamb. 1869); "Alltagsmärchen",Novelletten (2. Aufl., das. 1873, 2 Bde.); "NaturwissenschaftlichePlaudereien" (das. 1873); "Die Opfer der Wissenschaft" (unter demPseudonym Alfred de Valmy, 2. Aufl., Leipz. 1879); "Aus derWerkstatt der Natur" (das. 1880, 3 Bde.) u. a. Für dieBühne schrieb S. eine Anzahl mit großem Erfolgaufgeführter plattdeutscher Komödien, wie: "HamburgerLeiden", "Tante Lotte", "Die Familie Karstens", "Eine HamburgerKöchin", "Die Blumenhändlerin" u. a.; ferner dasLustspiel "Das letzte Kapitel", die beiden Weihnachtsmärchen:"Prinzeß Tausendschön" und "Prinz Unart" sowiegemeinschaftlich mit G. Engels das Volksstück "Ihre Familie".Seit 1876 in Berlin lebend, schrieb er noch: "Waldnovellen" (Berl.1881, 2. Aufl. 1885); "Das Dekamerone der Verkannten" (das. 1881,2. Aufl. 1886); "Berliner Kunstkritik und Randglossen" (das. 1883)und seine ergötzlichen Bücher über die FamilieBuchholz: "Buchholzens in Italien" (Berl. 1883), "Die FamilieBuchholz" (das. 1884), "Der Familie Buchholz zweiter Teil" (das.1885), "Der Familie Buchholz dritter Teil: Frau Wilhelmine" (das.1886), welche seinen Namen am bekanntesten machten und inzahlreichen Auflagen erschienen; endlich "Frau Buchholz im Orient"(das. 1888); "Die Perlenschnur und andres" (das. 1887).

Stinkasant, s. Asa foetida.

Stinkasantpflaster, s. Pflaster.

Stinkbaum, s. Sterculia.

Stinkholz von Guayana, s. Gustavia.

Stinkkalk, s. Kalkspat.

Stinkkohle, s. Braunkohle, S. 356.

Stinkmalve, s. Sterculia.

Stinkmarin, s. Skink.

Stinknase (griech. Ozäna), eine krankhafte Affektionder Nasenhöhle mit äußerst widerwärtigem,manchmal direkt fauligem Geruch der ausströmenden Luft.Derselbe rührt in vielen Fällen von einer fauligenZersetzung des zurückgehaltenen Schleimhautsekrets her,besonders bei engen und verbogenen Nasenkanälen undKrankheiten der Nebenhöhlen der Nase. In andern Fällenist ein wirklich jauchiger Ausfluß vorhanden, herstammend vonwirklichen Nasengeschwüren und am häufigsten durchsyphilitische oder skrofulöse Verschwärung derSchleimhaut und der Nasenknochen bedingt. Die Behandlung kann nurauf Grund sorgfältiger ärztlicher Untersuchung erfolgenund hat das Grundübel sowie das Symptom selbst zubekämpfen. Letzteres geschieht durch Ausspülen der Nasemit schwachem Salzwasser, Lösungen von Alaun, Tannin,übermangansaurem Kali etc. mit Hilfe der Nasendouche, derenungeschickter Gebrauch aber böse Entzündungen desMittelohrs veranlassen kann.

Stinkspat (Stinkstein), s. Kalkspat.

Stinktier (Mephitis Cuv.), Raubtiergattung aus derFamilie der Marder (Mustelida), dem Dachs ähnlich, nurschlanker gebaute Tiere mit kleinem, zugespitztem Kopf,aufgetriebener, kahler Nase, kleinen Augen, kurzen, abgerundetenOhren, kurzen Beinen, mäßig großen Pfoten,fünf fast ganz miteinander verwachsenen Zehen, ziemlichlangen, schwach gekrümmten Nägeln, mindestens auf denBallen nackten Sohlen und langem, dicht behaartem Schwanz. Siebesitzen zwei haselnußgroße Stinkdrüsen, welchesich innen in den Mastdarm öffnen und eine gelbe,ölähnliche Flüssigkeit von furchtbarem Gestankabsondern, die das Tier zur Verteidigung mehrere Meter weitfortspritzen kann. Die Stinktiere leben in Amerika und Afrika,besonders in steppenartigen Gegenden, liegen am Tag in hohlenBäumen, Felsspalten oder selbstgegrabenen Erdhöhlen undjagen nachts auf kleine Wirbeltiere und niedere Tiere, fressen aberauch Beeren und Wurzeln. Die Chinga (M. varians Gray), 40 cm lang,mit fast ebenso langem Schwanz, ist schwarz, mit zwei weißenStreifen auf dem Rücken und Schwanz, und bewohnt Nordamerika,besonders die Hudsonbailänder. Sie lebt in Gehölzenlängs der Flußufer und in Felsengegenden, ist in ihrenBewegungen langsam und unbeholfen, verteidigt sich lediglich durchAusspritzen des stinkenden Sekrets, gerät aber leicht in Zornund greift dann auch an.

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Stint - Stirling-Maxwell

In der Gefangenschaft wird sie sehr zahm und entleert ihreDrüse nur, wenn sie stark gereizt wird. Man benutzt das Fellals Pelzwerk (s. Skunks), den Drüseninhalt alsnervenstärkendes Mittel.

Stint (Osmerus Cuv.), Gattung aus der Ordnung derEdelfische und der Familie der Lachse (Salmonoidei), gestrecktgebaute Fische mit starker, von der der Lachse bedeutendabweichender Bezahnung und mittelgroßen Schuppen. Der gemeineS. (Alander, O. eperlanus Lac.), 13-20 und 30 cm lang, auf demRücken grau, an den Seiten silberfarben, bläulich odergrünlich schimmernd, am Bauch rötlich, lebt in der Nord-und Ostsee, auch in Haffen und größernSüßwasserseen Norddeutschlands, bildet stetsgrößere Gesellschaften, hält sich im Winter in derTiefe verborgen, geht im Frühjahr weit in die Flüssehinauf (bis Anhalt, Sachsen, Minden) und legt seine kleinen, gelbenEier aus sandigen Stellen ab. Die Jungen gehen im August ins Meer.Das Auftreten des Stints ist sehr schwankend: während er inmanchen Jahren in unschätzbarer Menge erscheint, findet ersich in andern Jahren nur spärlich, ohne daß sichhierfür bestimmte Gründe angeben ließen. Manfängt den S. während des Aufsteigens in großenMassen; er riecht zwar unangenehm, schmeckt aber trefflich.Vorteilhaft wird er auch als Nahrung für wertvollere Fische inTeiche gesetzt. Bisweilen benutzt man ihn als Dünger.

Stintzing, Johann August Roderich von, namhafter Romanistund Literarhistoriker, geb. 8. Febr. 1825 zu Altona, studierte inJena, Heidelberg, Berlin und Kiel die Rechte, bestand 1848, nachdemer sich an der Erhebung der Herzogtümer gegen Dänemarkbeteiligt, das Amtsexamen und ließ sich als Advokat inPlön nieder, siedelte 1851 nach Heidelberg über, wo ersich 1852 mit der Schrift "Das Wesen von bona fides und titulus inder römischen Usukapionslehre" (Heidelb. 1852) alsPrivatdozent in der juristischen Fakultät habilitierte. 1854ging er als ordentlicher Prosessor der Rechte nach Basel, 1857 nachErlangen, wo ihm der persönliche Adel verliehen ward, 1870 mitdem Charakter eines Geheimen Justizrats nach Bonn. Er starb 13.Sept. 1883 durch einen Sturz von einem Berghang in Oberstdorf beiSonthofen (Bayern). Seine bedeutendsten Werke sindlitterargeschichtlichen Inhalts, wie: "Ulrich Zasius" (Basel 1857);"Geschichte der populären Litteratur desrömisch-kanonischen Rechts in Deutschland" (Leipz. 1867);"Hugo Donellus in Altdorf" (Erlang. 1869); "Geschichte derdeutschen Rechtswissenschaft" (Münch. u. Leipz. 1880-84, 2Abtlgn.). Auch gab er J. de Wals "Beiträge zurLitteraturgeschichte des Zivilprozesses" (Erlang. 1866) heraus.Außerdem erwähnen wir: "Über das Verhältnisder Legis actio sacramento zu dem Verfahren durch Sponsiopraejudicialis" (Heidelb. 1853); "Friedrich Karl v. Savigny" (Berl.1862); "Macht und Recht" (Bonn 1876); "Georg Tanners Briefe anBonifacius und Basilius Amerbach" (das. 1879).

Stinzomarin, s. Skink.

Stipa L. (Pfriemengras), Gattung aus der Familie derGramineen, weitverbreitete, zierliche, ausdauernde Gräser miteinblütigen, großen Grasährchen, grannenartiggespitzten Hüllspelzen und lang begrannten, zusammengerolltenDeckspelzen. S. pennata L. (Federgras, Marienflachs, Reihergras),30-90 cm hoch, mit steifem, hartem Halm, borstenartigenBlättern, sparsam verästelter Rispe und 30 cm langen,geknieten, federigen Grannen, wächst auf dürrem Boden,wird zu Winterbouketts benutzt; ebenso S. capillata L.(Federhaargras), mit sehr langen, geknieten, kahlen Grannen. S.tenacissima L. (Macrochloa tenacissima Kunth), mit 90 cm langen,cylindrischen, halmähnlichen Blättern, wächst inSpanien und Nordafrika und findet als Esparto (s. d.) ausgedehnteVerwendung.

Stipendium (lat.), Geldunterstützung, welchenamentlich Studierende auf eine bestimmte Zeit erhalten. DieStipendien werden entweder ganz im allgemeinen für Studierendeoder für ein besonderes Fachstudium oder mitBerücksichtigung eines bestimmten Landes, Ortes, eines Standes(Adelsstipendien) oder auch der Familienherkunft(Familienstipendien) vergeben und zwar nach Maßgabeausdrücklicher Verfügungen der Stifter, wo solchevorhanden sind. Vgl. Baumgart, Die Stipendien und Stiftungen anallen Universitäten des Deutschen Reichs (Berl. 1885). Diesogen. Reisestipendien werden jungen Gelehrten oder Künstlernnach Vollendung ihrer Studien zu weiterer Ausbildung auf Reisenverliehen.

Stipes (Mehrzahl: Stipites, lat.), Stiel, Stengel;Stipites Dulcamarae, Bittersüßstengel.

Stipula (lat.), Nebenblatt (s. Blatt, S. 1015).

Stipulation (lat.), vertragsmäßige Festsetzungzwischen zwei oder mehreren Personen, s. Vertrag.

Stirbey (Stirbei, Kalarasch), Hauptstadt des KreisesJalomitza in der Walachei, an dem Donauarm Bortscha, nahe demgroßen See von Kalarasch, Silistria gegenüber, Sitz desPräfekten und eines Tribunals, mit 3 Kirchen, einem Gymnasiumund 7734 Einw. Hier hatten 1854 die Russen sich verschanzt undschlugen 4. März d. J. einen Angriff der Türkenzurück.

Stirling, Hauptstadt der nach ihr benannten schott.Grafschaft, am schiffbaren Forth und am Abhang eines steilenHügels (mit dem altberühmten S. Castle) gelegen, hat einaltertümliches Gepräge, eine Kirche aus dem 15. Jahrh.,ein Militärhospital (in dem ehemaligen Palais der Grafen vonArgyll), eine Kornbörse, ein Versorgungshaus, einAthenäum, landwirtschaftliches Museum, Latein- undKunstschule, Fabrikation von Wollwaren (Tartans), Gerberei,Malzdarren, Ölmühlen und (1881) 12,194 Einw. Südlichdavon liegt das Dorf St. Ninian's, mit Nagelschmieden. - Als"Schlüssel der schottischen Hochlande" spielte das inunbekannter Zeit erstandene Schloß eine große Rolle. Inder benachbarten Ebene schlug Wallace 1297 die Engländer,welchen Sieg ein Denkmal verherrlicht. 1304 bemächtigten sichdie Engländer des Schlosses, mußten es aber nach derSchlacht von Bannockburn (1314) wieder räumen. An diesen Siegder Schotten erinnert eine 1877 vor dem Schloß errichteteStatue von Robert Bruce. 1651 nahm der englische General Monk dasSchloß, und 1745 wurde es von den Hochländern vergeblichbelagert.

Stirling-Maxwell, Sir William, engl. Gelehrter, geb. 1818zu Kenmure bei Glasgow, ward im Trinity College zu Cambridgegebildet, lebte längere Zeit in Frankreich und Spanien, ward1866 durch den Tod seines Onkels John Maxwell Baronet, 1872 Rektorder Universität Edinburg, 1875 Kanzler der UniversitätGlasgow sowie Kommissar am Britischen Museum und an derNational-Porträtgalerie. Er starb 15. Jan. 1878 in Venedig. S.schrieb: "The annals of the artists of Spain" (1848, 3 Bde.; 2.Aufl. 1853); "Cloister-life of Charles V." (1852; deutsch, Leipz.1853) und "Velasquez and his works" (1855; deutsch, Berl.1856).

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Stirlingshire - Stöber.

Stirlingshire, Grafschaft im südlichen Schottland,westlich am Forthbusen der Nordsee, umfaßt 1195 qkm (21,7QM.) mit (1881) 112,443 Einw. und bildet im NW. ein kahlesGebirgsland (Ben Lomond 973 m), das ein Strich Moorlandes von denCampsie Fells (577 m) im Süden trennt, während deröstliche Teil eine Ebene mit fruchtbarem Ackerland darstellt.Die bedeutendsten Flüsse sind: der Forth, Carron und Endrick.Die Grafschaft enthält großen Mineralreichtum, besondersan Steinkohlen und Eisen. Nur 24,9 Proz. der Oberflächebestehen aus Ackerland, 14,8 Proz. aus Wiesen, 1,8 Proz. aus Wald.Die Viehzucht ist von Bedeutung (17,575 Schafe, 28,052 Rinder). DieIndustrie beschäftigt sich mit Wollweberei, Kattundruckerei,Hüttenbetrieb und Eisengießerei. Der Südosten derGrafschaft wird von dem Forth-Clydekanal durchzogen, welcher dieNordsee mit dem Irischen Meer verbindet. - Geschichtlichmerkwürdig ist S. als der Schauplatz heftiger Kämpfe derRömer mit den Kaledoniern, gegen welche jene denberühmten Pikten- oder Hadrianswall (s. d.) zwischen demForthbusen und dem Clydebusen errichteten.

Stirm, Karl Heinrich, protest. Theolog, geb. 22. Sept.1799 zu Schorndorf, ward 1828 Landgeistlicher und 1835 Hofkaplanund Mitglied des Konsistoriums in Stuttgart. In dieser Eigenschaftentfaltete er eine einflußreiche Thätigkeit im Kirchen-und Schulwesen seines Vaterlandes und starb als Prälat undOberkonsistorialrat 24. April 1873. Sein bekanntestes Werk ist die"Apologie des Christentums in Briefen für gebildete Leser" (2.Aufl., Stuttg. 1856).

Stirn (Frons), bei den Wirbeltieren diejenige Gegend desKopfes, welche die Stirnbeine zur knöchernen Grundlage hat,beim Menschen also der vorderste unterste Teil des Vorderkopfes. Imgewöhnlichen Leben wird sie mit zum Gesicht gerechnet, dasjedoch für den Anatomen erst unterhalb derselben anfängt.Beim Menschen ist sie haarlos und ragt weit hervor, währendsie bei den übrigen Säugetieren gewöhnlich behaartist und stark hinter dem Mundteil zurücktritt. Bei denGliedertieren (Insekten, Krebsen etc.) wird der zwischen den Augenliegende Teil des Kopfes gleichfalls S. genannt.

Stirnbein, s. Schädel, S. 373.

Stirner, Max, s. Schmidt 4).

Stirngrübler, Schafbremse, s. Bremen, S. 384.

Stirnhöhlen, s. Schädel, S. 373.

Stirnmauer, s. Gewölbe, S. 311.

Stirnnaht, s. Schädel, S. 373.

Stirnrad, Zahnrad, dessen Zähne auf einercylindrischen Fläche radial angebracht sind.

Stirnzapfen, am Ende einer Welle etc. befindliche Zapfen,bei welchen der Druck rechtwinkelig gegen ihre Achse wirkt. Vgl.Zapfen.

Stirnziegel, in der antiken Baukunst aufrecht stehendeZiegel in Form von Palmetten und Köpfen, welche an der Eckeeines Daches angebracht wurden. Vgl. Akroterien.

Stirps (lat.), Stamm.

Stirum, Ort, s. Styrum.

Stitny, Thomas von, Philosoph aus altem böhmischenGeschlecht, lebte im 14. Jahrh., wahrscheinlich von 1325 bis 1410,und hat sich als einer der ersten Zöglinge der von Kaiser KarlIV. 1348 gegründeten Universität zu Prag durchzahlreiche, meist auf seiner Burg Stitné bei Pilgramverfaßte philosophische Schriften, die zu den bestenProsawerken der böhmischen Litteratur gerechnet werden,bekannt gemacht. Die darin niedergelegte Weltanschauung stimmt mitder christlich-scholastischen, insbesondere des von ihm alsAutorität verehrten Thomas von Aquino, dem Inhalt nachüberein, unterscheidet sich von derselben jedoch sehrwesentlich der Form nach, welche vielmehr homiletisch alssyllogistisch ist. Nähert er sich hierin den eifrigenPredigern seines Zeitalters, den Vorläufern des späternHussitentums, so entfernt er sich anderseits von deren fanatischemVernunfthaß, indem er die Vernunft als höchsteAutorität aufstellt. Sein Hauptwerk sind die bisher nurteilweise veröffentlichten "Gespräche" (hrsg. von Erben,Prag 1850; von Vrtátko, das. 1873). Vgl. Wenzig, Studienüber Ritter Thomas von S. (Leipz. 1856).

Stoa (griech.), s. v. w. Portikus (s. Halle); auchgebraucht für die Lehre der Stoiker (s. d.), weil Zenon, derStifter dieser Philosophie, seine Vorträge in der S. Poikilezu Athen zu halten pflegte.

Stobäos, Joannes, aus Stobi in Makedonien, um 500 n.Chr., ist Verfasser einer philosophischen Blumenlese aus mehr als500 griechischen Dichtern und Prosaikern, der wir die Erhaltungzahlreicher Bruchstücke aus jetzt verlornen Schriftenverdanken. Ursprünglich ein Ganzes bildend, ist die Sammlungim Lauf der Zeit in zwei besondere Werke von je zwei Bücherngetrennt worden: "Eclogae physicae et ethicae" (hrsg. von Gaisford,Oxf. 1850, 2 Bde.; von Meineke, Leipz. 1860-64, 2 Bde., undWachsmuth, Berl. 1884, 2 Bde.) und "Anthologion" oder "Florilegium"(hrsg. von Gaisford, Oxf. 1822-25, 4 Bde., und Meineke, Leipz.1856-57, 4 Bde.).

Stobbe, Johann Ernst Otto, angesehener Germanist, geb.28. Juni 1831 zu Königsberg i. Pr., widmete sich daselbstzuerst philologischen und historischen Studien, dann derRechtswissenschaft und promovierte 1853 mit der Differtation "Delege Romana Utinensi" (Königsb. 1853), worauf er seinegermanistischen Studien zu Leipzig im nahen Anschluß anAlbrecht und in Göttingen fortsetzte. Nachdem er sich 1855 inKönigsberg als Privatdozent für deutsches Rechthabilitiert hatte, wurde er 1856 zum außerordentlichen undnoch in demselben Jahr zum ordentlichen Professor ernannt. 1859 ingleicher Eigenschaft nach Breslau versetzt, folgte er 1872 einerBerufung nach Leipzig an v. Gerbers Stelle. 1880 wurde er zumGeheimen Hofrat ernannt. Er starb 19. Mai 1887. Seinehervorragendsten Schriften, sämtlich durch Klarheit undGründlichkeit ausgezeichnet, sind: "Zur Geschichte desdeutschen Vertragsrechts" (Leipz. 1855); "Geschichte der deutschenRechtsquellen" (Braunschw. 1860-64, 2 Bde.); "Beiträge zurGeschichte des deutschen Rechts" (das. 1865); "Die Juden inDeutschland während des Mittelalters" (das. 1866) ; "HermannConring, der Begründer der deutschen Rechtsgeschichte" (Berl.1870); "Handbuch des deutschen Privatrechts" (das. 1871-85, 5 Bde.;2. Aufl., Bd. 1 u. 2, 1882-83). Aus seinem Nachlaß erschiennoch "Zur Geschichte des ältern deutschen Konkursprozesses"(Berl. 1888). Seit 1857 beteiligte er sich an der Redaktion der"Zeitschrift für deutsches Recht", seit 1862 an der Herausgabedes "Jahrbuchs des gemeinen deutschen Rechts" von Bekker undMuther. Vgl. E. Friedberg, O. S. (Berl. 1887).

Stober, rechter Nebenfluß der Oder in Schlesien,entspringt in der Nähe von Rosenberg, mündet beiStoberau; 98 km lang und flößbar.

Stöber, 1) Daniel Ehrenfried, elsäss. Dichterund Schriftsteller, geb. 9. März 1779 zu Straßburg,studierte hier und später in Erlangen Rechtswissenschaft undwurde 1806 zu Straßburg Lizentiat der Rechte. Hier gab er das"Alsatische Taschenbuch" (1806-1809) heraus, übersetztefranzösische Dramen

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Stobi - Stöcker.

und veröffentlichte nach Pfeffels Tode die "Blätter,dem Andenken K. G. Pfeffels gewidmet" (Straßb. 1810). Unterder Restauration gehörte S. zur liberalen Opposition; erübersetzte die Schriften des Generals Foy, gab politischeBroschüren in Form von Dialogen ("Gradaus") heraus undveröffentlichte: "Gedichte" (Basel 1814; 3. Aufl., Stuttg.1821) sowie das volkstümliche "Neujahrsbüchlein vomVetter Daniel" (das. 1818) und eine Biographie Oberlins ("Vie deFrédéric Oberlin", Straßb. 1821), der er seine"Kurze Geschichte und Charakteristik der schönen Litteraturder Deutschen" (das. 1826) nachfolgen ließ. Sein letztesgrößeres Werk war die Übersetzung von Lamennais'"Paroles d'un croyant". S. starb 28. Dez. 1835. Seine"Sämtlichen Gedichte und kleinen prosaischen Schriften"erschienen in 4 Bänden (Straßb. 1835-36). Zu seinenbesten poetischen Leistungen gehören seine inelsässischer Mundart geschriebenen Gedichte, die voller Witzund Humor sind.

2) August, Sohn des vorigen, geb. 8. Juli 1808 zuStraßburg, studierte 1826-32 Theologie, wirkte 1838-41 alsLehrer der deutschen Sprache und Litteratur am Kollegium zuBuchsweiler, 1841-71 als Professor am Kollegium zu Mülhausenund ward 1864 zugleich zum Oberstadtbibliothekar, 1874 zumKonservator des von ihm mitbegründeten historischen Museumsernannt. Er starb daselbst 19. März 1884. Gleich seinem Vaterund Bruder trug er durch seine litterarische Thätigkeit vielzur Erhaltung des deutschen Wesens im Elsaß bei. Erveröffentlichte: "Alsabilder", vaterländische Sagen undGeschichten (mit seinem Bruder Adolf, Straßb. 1836);"Gedichte" (das. 1842; neue Aufl., Basel 1873); "OberrheinischesSagenbuch", Gedichte (Straßb. 1842); "ElsässischesVolksbüchlein", Kinder- und Volkslieder, Märchen etc.(das. 1842; 2. Aufl., Mülh. 1859); "Der Dichter Lenz undFriederike von Sesenheim" (Basel 1842); "Geschichte derschönen Litteratur der Deutschen" (Straßb. 1843); "DieSagen des Elsasses" (St. Gallen 1852, 2. Aufl. 1858); "Der AktuarSalzmann, Goethes Freund" (Mülh. 1855); "Zur Geschichte desVolksaberglaubens im 16. Jahrhundert" (Basel 1856); "Chr. Fr.Pfeffel" (daf. 1859); "E Firobe (ein Feierabend) im e SundgauerWirtshaus" , Volksszene in zwei Abteilungen (Musik von Heyberger,Mülh. 1865, 2. Aufl. 1868); "Jörg Wickram,Volksschriftsteller und Stifter der KolmarerMeistersängerschule" (das. 1866); "Aus alten Zeiten. Allerleiüber Land und Leute im Elsaß" (2. Aufl., das. 1872);"Erzählungen, Märchen, Humoresken etc." (das. 1873);"Drei-Ähren", Gedichte (das. 1873, 2. Aufl. 1877); "J. S.Röderer und seine Freunde" (2. Aufl., Kolm. 1874). Auch gab er"Elsässische Neujahrsblätter" (mit Otte, Straßb.1843-48, 6 Bde.), "Erwinia", belletristische Wochenschrift (daf.1838-39), und "Alsatia", Jahrbuch für elsässischeGeschichte etc. (Mülh. 1850-75, 10 Bde.), zu denen nachStöbers Tod noch ein Band "Neue Alsatia" (das. 1885) erschien,heraus.

3) Adolf, Bruder des vorigen, geb. 7. Juli 1810, studierte1826-31 in Straßburg Theologie, wurde 1839 Lehrer amKollegium zu Mülhausen, 1840 Pfarrer daselbst und ist seit1860 Präsident des reformierten Konsistoriums und Oberschulratzu Mülhausen. Außer den mit dem vorigen herausgegebenen"Alsabildern" veröffentlichte er: "Gedichte" (Hannov. 1845);"Reisebilder aus der Schweiz" (St. Gallen 1850, neue Folge 1857);"Reformatorenbilder" (Basel 1857); "Einfache Fragen eineselsässischen Volksfreundes" (Mülh. 1872) und einigesTheologische.

Stobi (Stoboi), Stadt im alten Päonien (Makedonien),westlich vom Axios (Wardar), bei der Mündung des Erigon, nachder Diokletianischen Einteilung Hauptstadt der nordwestlichenHälfte Makedoniens, wurde 479 von den Ostgoten zerstört,wird aber in den Kämpfen zwifchen Bulgaren und Byzantinernnoch 1014 erwähnt. Ruinen bei Gradsko.

Stöchaden, s. v. w. Hyèrische Inseln, s.Hyères.

Stochasmus (griech.), veraltete Bezeichnung fürWahrscheinlichkeitsberechnung; Stochastik, Lehre von derWahrscheinlichkeit.

Stöchiometrie (griech.), chemische Meßkunst,die Lehre von den Gewichts- und Raumverhältnissen, nachwelchen sich ungleichartige Materien zu neuen gleichartigenKörpern chemisch verbinden, und die Anwendung derselben zuchemischen Berechnungen (vgl. Atom und Äquivalent). Die S.wurde von J. B. Richter gegen Ende des 18. Jahrh. begründetund seitdem vielfach, unter andern von Meineke, Bischof,Döbereiner, Gay-Lussac, Berzelius, Liebig, Dumas, Laurent,Gerhardt u. a. bearbeitet. Vgl. Rammelsberg, Lehrbuch der S. (Berl.1842); Frickhinger, Katechismus der S. (5. Aufl., Nördling.1873).

Stock (Caudex), bei den Pflanzen im allgemeinen der mitBlättern besetzte Stengel; dann der einfache, am Grund nurdurch Nebenwurzeln befestigte, am obern Ende mit einer einzigengroßen Gipfelknospe abschließende, holzige Stamm derBaumfarne, Cykadeen und baumartigen Monokotyledonen, besonders derPalmen und Drachenbäume. - Über S. in der Geologie s.Lagerung der Gesteine.

Stock (engl.), Stamm, Grundlage; übertragen:Grundkapital von Aktiengesellschaften, dessen einzelne Teile(Aktien) shares heißen. S.-exchange, "Aktienbörse",thatsächlich Effektenbörfe, da an derselben auchObligationen (bonds), Staatspapiere (funds) und andre Wertpapieregehandelt werden; S.-holder, Eigentümer von Stocks; S.-broker,Makler für Wertpapiere, S.-jobber. Spekulant in Wertpapieren(vgl. Jobber).

Stockach, Stadt im bad. Kreis Konstanz, an der Stockachund der Linie Radolfzell-Mengen der Badischen Staatsbahn, 494 mü. M., hat eine evangelische und eine kath. Kirche, einBezirksamt, ein Amtsgericht, eine Bezirksforstei, Spinnerei,Weberei, Teigwarenfabrikation, 3 Kunstmühlen und (1885) 2065meist kath. Einwohner. - S. war ehedem Hauptstadt derLandgrafschaft Nellenburg-Thengen, mit welcher es 1645 anÖsterreich, 1805 an Württemberg und 1810 an Badenüberging. Hier siegte 25. März 1799 Erzherzog Karlüber die Franzosen unter Jourdan (s. Liptingen).

Stockausschlag, s. Knospe.

Stockbörse, s. Stock.

Stockbücher, s. Grundbücher.

Stöckke und Stockwerke, s. Bergbau, S. 722,Erzlagerstätten und Lagerung der Gesteine.

Stößer, Adolf, preuß. Hofprediger, geb.11. Dez. 1835 zu Halberstadt, studierte in Halle und BerlinTheologie und Philologie, wurde 1863 Pfarrer in Seggerde beiHalberstadt und 1866 in Hamersleben. 1871 ging er alsDivisionspfarrer nach Metz und 1874 als Hof- und Domprediger nachBerlin. Das dreiste Auftreten der Sozialdemokratie und ihreoffenkundigen revolutionären Bestrebungen veranlagen S., 1877in öffentlichen Versammlungen gegen die Führer derSozialdemokraten aufzutreten und durch Stiftung einerchristlich-sozialen Partei die Arbeiter für christliche undpatriotische Anschauungen wiederzugewinnen, zugleich aber ihreForderungen des Schutzes gegen die Ausbeutung des Kapitals und

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Stockerau - Stockhausen.

einer bessern sozialen Lage zu unterstützen. Die neuePartei gewann aber nur an wenigen Orten zahlreichere Anhänger,da S. durch seinen fanatischen Eifer gegen alles, was liberalhieß, besonders in kirchlicher Beziehung die Opposition deröffentlichen Meinung gegen sich herausforderte. Auch ging erin seinen Agitationen gegen das Judentum oft weiter, als es sichmit seiner Stellung vertrug. 1879 wurde er von einemwestfälischen Wahlkreis in das Abgeordnetenhaus und 1880 auchin den Reichstag gewählt, wo er sich der streng konservativenPartei anschloß. Da S. durch seine sozialpolitischeThätigkeit die auf der Mitwirkung derMittel-(Kartell-)Parteien beruhende Politik der Regierungstörte, so mußte er 1889 versprechen, ferner aufpolitische Agitationen zu verzichten. Er veröffentlichtemehrere Jahrgänge "Volkspredigten" und eine Sammlung seinerReden und Aufsätze: "Christlich-sozial" (Berl. 1885).

Stockerau, Marktflecken in der niederösterreich.Bezirkshauptmannschaft Korneuburg, am Göllersbach und an derÖsterreichifchen Nordwestbahn, Sitz eines Bezirksgerichts, mitPfarrkirche, Kavalleriekaserne, Realgymnasium, Fabriken fürCeresin, Kerzen u. Seifen, Farben, Posamentierwaren u. (1880) 5955Einw.

Stockfa*gott, f. Rackett.

Stockfalke, s. Habicht.

Stockfäule, f. Rotfäule.

Stockfisch, f. Schellfisch.

Stockfleth, Niels Joachim Christian Vibe, Apostel derLappländer, geb. 11. Jan. 1787 zu Christiania, stand erst inschleswigschen und norwegischen Militärdiensten, studiertedann Theologie in Christiania und ward 1825 Prediger zu Vadsöein Ostfinnmarken, in der Nähe des Nordkaps. Hier sowie inLebesby, ebenfalls in Ostfinnmarken, wohin er dannübersiedelte, war sein Streben auf Herstellung einervolkstümlichen lappländischen Litteratur gerichtet. Eserschienen von ihm in lappländischer Sprache eine Fibel, eineÜbersetzung von Luthers "Kleinem Katechismus", einelappländische Grammatik (1840) und ein Neues Testament (1850).Seit 1839 seines Predigerdienstes enthoben, um ungestörterseinen Studien obliegen zu können, veröffentlichte ernoch : "Lappisk Sproglære" (Christ. 1850) ; "NorsklappiskOrdbog" (das. 1852); eine Untersuchung "Om de finske Sprogforholdein Finmarkens og Nordlandenes Amter" (das. 1851) und "Dagbog overmine Missionsreiser i Finmarken" (das. 1860). Er starb 26. April1866 in dem Städtchen Sandefjord.

Stockgetriebe, s. Trilling.

Stöckhardt, 1) Julius Adolf, Chemiker, geb. 4. Jan.1809 zu Röhrsdorf bei Meißen, erlernte die Pharmazie inLiebenwerda, studierte dann in Berlin, arbeitete nach einer Reisenach England und Frankreich bei Struve in Dresden, ward 1838 Lehrerder Naturwissenschaft daselbst, 1839 Lehrer der Chemie und Physikan der Gewerbeschule in Chemnitz und 1847 Professor derAgrikulturchemie an der Akademie zu Tharandt, wo er 1. Juni 1886starb. Früherhin besonders der gewerblichen Chemie, namentlichin Bezug auf Farbenfabrikation, beflissen, wandte er sich seitdemvornehmlich der Agrikulturchemie zu und erwarb sich namhafteVerdienste um dieselbe, besonders auch durch seine zahlreichenVorträge in Vereinen und Versammlungen. Er schuf das Institutder agrikulturchemischen Versuchsstationen, welche sich in derFolge zu landwirtschaftlichen Stationen erweiterten und fürden Fortschritt der Landwirtschaft höchst bedeutend wurden.Von seinen Schriften sind hervorzuheben: "Schule der Chemie"(Braunschw. 1846, 19. Aufl. 1881); "Chemische Feldpredigtenfür deutsche Landwirte" (4. Aufl., Leipz. 1857);"Guanobüchlein" (4. Aufl., das. 1856). Seit 1840 gab er mitSchober die "Zeitschrift für deutsche Landwirtschaft" herausund seit 1855 als Fortsetzung der "Chemischen Feldpredigten" den"Chemischen Ackersmann" (Lpz.).

2) Ernst Theodor, Landwirt, geb. 4. Jan. 1816 zu Bautzen,widmete sich der Landwirtschaft und errichtete auf dem von ihmgepachteten Rittergut Brösa bei Bautzen einelandwirtschaftliche Lehranstalt, welche bald bedeutenden Ruferlangte. 1850 ward er Professor der landwirtschaftlichenDisziplinen an der höhern Gewerbeschule zu Chemnitz und wirktehier sehr wesentlich für die Hebung der Landwirtschaft. 1861folgte er einem Ruf nach Jena als Professor der Landwirtschaft undDirektor einer landwirtschaftlichen Lehranstalt. 1862 übernahmer auch die Direktion der Ackerbauschule zu Zwätzen, undgleichzeitig war er als Vorsitzender der landwirtschaftlichenZentralstelle, der Thüringer Wanderversammlung etc.thätig. 1872 ward er als Ministerialrat nach Weimar berufenund gleichzeitig zum Kommissar der landwirtschaftlichenZentralstelle, der Gewerbekammer für das Großherzogtumund zum Immediat-Finanzkommissar der Universität Jena ernannt.Dem deutschen Landwirtschaftsrat gehört er seit dessenGründung an. Er schrieb: "Bemerkungen über daslandwirtschaftliche Unterrichtswesen" (Chemn. 1851); "Die Drainage"(Leipz. 1852); "Der angehende Pachter" (mit A. Stöckhardt, 2.Aufl., Braunschw. 1869); "Die Entwickelung der landwirtschaftlichenLehranstalt zu Jena 1861-67". Auch redigierte er 1855-66 die"Zeitschrift für deutsche Landwirte" und 1863-1872 die"Landwirtschaftliche Zeitung für Thüringen".

Stockhausen, Julius, Konzertsänger (Bariton), geb. 22. Juli1826 zu Paris als Sohn des Harfenspielers Franz S. aus Köln,wurde am Pariser Konservatorium gebildet und zeichnete sich schonwährend seiner Lehrzeit so vorteilhaft aus, daß ihm vonHabeneck die Leitung der Proben zu den musikalisch-dramatischenÜbungen der Schüler übertragen wurde. Seinehöhere Ausbildung als Sänger erhielt er von Manuel Garciain London, woselbst er auch 1848 am Italienischen Theater mitGlück debütierte. Später wirkte er mit gutem Erfolgals Bühnensänger in Mannheim und an der OpéraComique in Paris. Seine Haupttriumphe feierte S. aber alsKonzertsänger, namentlich steht er als Liedersängereinzig in seiner Art da. 1862 übernahm er die Direktion derHamburger philharmonischen Konzerte, nachdem er das Jahr zuvor inGebweiler im Elsaß seine Kräfte als Chor- undOrchesterdirigent erprobt hatte. Sieben Jahre später folgte ereinem Ruf nach Stuttgart, wo er zum Kammersänger undGesangsinspektor ernannt war, gab jedoch diese Stelle im folgendenJahr wieder auf, um längere Konzertreisen zu unternehmen. Von1874 bis 1878 wirkte er in Berlin als Direktor des SternschenGesangvereins und entwickelte zugleich eine ungemein fruchtbareLehrthätigkeit. Dann nahm er ein Engagement als ersterGesanglehrer am Hochschen Konservatorium in Frankfurt a. M. an,legte indessen 1880 dies Amt nieder und gründete daselbst eineeigne Schule. S. verdankt seine außerordentlichen Erfolge alsSänger nicht so sehr seinen natürlichen Stimmmitteln alsvielmehr dem vollendeten Kunstgeschmack, mit welchem er seinelyrischen Gebilde zu beleben weiß, wobei die tadelloseReinheit seiner Textesausspache wesentlich mitwirkte. Seine"Gesangsmethode" erschien in der Edition Peters (Leipz. 1885).

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Stockholm (Län) - Stockholm (Stadt).

Stockholm, schwed. Län, begreift den östlichenTeil von Upland und den nordöstlichen Teil vonSödermanland, grenzt im W. an das Län Upsala, im SW. anSödermanland, ist zu fast 4/5 des Umfanges von der Ostsee unddem Mälar umgeben und hat (mit der Stadt S.) ein Areal von7643,7 qkm (138,6 QM.). Die Küstenlandschaften sind bergig undbewaldet, während weiter im Innern offene Ebenen mit Seen undWäldern und größere oder kleinere Bodenerhebungenabwechseln. Die Bevölkerung zählt ohne die Stadt S.(1888) 152,160 Seelen. Von der uralten Kultur Uplands zeugen unteranderm zahlreiche Runensteine. Der Boden ist im ganzen fruchtbar,doch nimmt das Ackerland nur 14,5 Proz. der Bodenfläche ein,während auf natürliche Wiesen 9 und auf Wald 51 Proz.entfallen. Angebaut werden vornehmlich Hafer (1886: 744,000 hlgeerntet), Roggen (353,000 hl), Mengkorn, Gerste und Weizen. 1884zählte man 21,397 Pferde, 84,389 Stück Rindvieh, 39,823Schafe, 16,441 Schweine. Von großer Bedeutung sind Fischerei,Schiffahrt und Handel.

Stockholm (hierzu der Stadtplan, mit Karte der Umgebungvon S.), Haupt- und Residenzstadt des Königreichs Schweden,liegt am Ausfluß des Mälar in die Ostsee (Salzseegenannt), welche einen insel- und schärenreichen Busen bildet,und ist durch Eisenbahnen mit Malmö, Gotenburg, Christianiaund Drontheim verbunden. Die einzelnen Teile der Stadt sind:Staden, die eigentliche Stadt, in der Mitte des Ganzen auf einerInsel gelegen, mit den dazu gehörigen kleinern InselnRiddarholm und Helgeandsholm; Södermalm ("Südvorstadt")im Süden, groß und regelmäßig gebaut, abersehr uneben, durch zwei Zugbrücken mit der eigentlichen Stadtverbunden; Norrmalm ("Nordvorstadt") im N., durch die ausGranitquadern erbaute neunbogige Nordbrücke und seit 1878durch die westlich davon belegene Wasabrücke mit der Stadt unddurch eine 1861 vollendete eiserne Brücke mit dem Skeppsholm("Schiffsinsel") verbunden, von wo eine hölzerne Brückenach dem Kastellholm führt, welche beide Inseln dieMarineetablissem*nts enthalten; Kungsholm ("Königsinsel") imW. von Norrmalm; Ladugårdslandet ("Meiereiland") im NO. vonNorrmalm, jetzt Östermalm genannt, die Kasernen enthaltend.Hierzu kommt noch die mit dem vorigen Stadtteilzusammenhängende Tiergartenstadt mit Beckholm. Außerdemliegen bei Södermalm im Mälar die beiden InselnLangholmen, mit Straf- und Besserungsanstalt, und Reimersholmen.Die Stadt enthält 40 öffentliche Plätze und ca. 300Straßen und Gassen. Die Eisenbahn, welche über denMälar mittels einer großen Brücke geführt ist,durchschneidet einen großen Teil der Stadt. Die eigentlicheStadt ist an der Salzsee und am Mälar mit einem Kai von Granitumgeben, welcher sich auch jenseit der Nordbrücke am Norrmalmnoch eine gute Strecke fortsetzt und den Hafen begrenzt. An derSalzsee zieht sich eine breite Straße, die Schiffbrücke,hin, an der Westseite mit ansehnlichen Häusern besetzt(darunter die Bank und das Pack- oder Zollhaus). Am Fuß desmit einem hohen Obelisken von Granit gezierten Schloßbergssteht die Statue Gustavs III. (von Sergel) sowie zwischen demMälarsee und der Salzsee die Reiterstatue von Karl XIV. Johann(von Fogelberg). Plätze am Mälar sind: derRitterhausplatz (mit der Statue Gustav Wasas), von wo man übereine Brücke auf den Riddarholm gelangt, welcher außerder als Königsgruft benutzten Riddarholmskirche (mit 90 mhohem Turm, zum Teil Gußeisen, seit 1839) mit fast lauteröffentlichen Gebäuden (Haus des Reichstags, Hofgerichtetc.) besetzt und mit der Statue des Birger Jarl, des Gründersder Stadt, geziert ist. Für den täglichen Verkehrbestimmt sind die Plätze: Mönchsbrücke, Fleischmarktund Kornhafen. Unter den Plätzen der innern Stadt ist nur derGroße Markt bemerkenswert wegen des Stockholmer Blutbades vom8. Nov. 1520, mit dem schönen Börsengebäude. AufNorrmalm sind der Gustav Adolfsplatz, mit der Reiterstatue desHelden und dem königlichen Theater, sodann derBrunkebergsplatz, der Heumarkt und der Platz Karls XIII. an derSalzsee (mit der Statue des Königs), endlich auf Blasiiholmder Berzeliusplatz, mit der Statue des berühmten Chemikers(von Quarnström), zu bemerken. Die schönstenStraßen hat Norrmalm, darunter die Regierungs-(Regeringsgata)u. Königinstraße (Drottninggata). Unter den Kirchen istkeine von besonderer architektonischer Bedeutung. Die HauptkircheSt. Nikolai (aus dem 13. Jahrh., 1736-43 umgebaut) wird alsKrönungskirche benutzt. Unter den weltlichen Gebäudennimmt das königliche Schloß, am nördlichen Ende dereigentlichen Stadt, den ersten Rang ein. Es wurde 1697-1753 nachNik. Tessins Plänen im edelsten neuitalienischen Stilaufgeführt und bildet ein großes Viereck mit vierniedrigern Flügeln an den Ecken und zwei halbrunden, freistehenden Flügelgebäuden an der Westseite. Sonst sind vonGebäuden noch zu nennen: der Palast des Oberstatthalters; inNorrmalm der Palast des Erbprinzen (gegenwärtig unbewohnt),die Akademie der Wissenschaften, das Observatorium, dasNationalmuseum (1850-65 nach Stülers Zeichnungenaufgeführt), der große Zentralbahnhof, das Gebäudeder Reichsbibliothek (ca. 250,000 Bände) u. a.; auf Kungsholmdie Krankenhäuser und außerhalb der Stadt dieKriegshochschule Marieberg u. a. Die Stadt besitzt seit 1861 einetreffliche Wasserleitung. Promenaden sind: das Stromparterre, derHumlegarten, besonders aber der Tiergarten im O. der Stadt, mitVillen, Wirtshäusern, Theater, dem königlichenLustschloß Rosendal etc. Die Bevölkerung der Stadtbetrug Ende 1887: 227,964 Seelen, meist Lutheraner (1880 nur 577Römisch-Katholische und 1259 Juden). Die Industrie istlebhaft. Die meisten Gewerbe werden fabrikmäßigbetrieben; außerdem gibt es mehrere Zuckerraffinerien,Tabaks-, Seiden- und Bandfabriken, mechanische Werkstätten(darunter 3 große), Stearin- und Talgfabriken, Lein- undBaumwollzeugwebereien, Lederfabriken, Eisengießereien etc.1883 besaß die Stadt 292 Fabriken, deren Fabrikate einen Wertvon 33 1/2 Mill. Kronen hatten. Der Handel, durch die Lage derStadt und gute Häfen sehr begünstigt, ist zwar noch sehrlebhaft; doch beginnen andre Städte des Landes, namentlichGotenburg, mit S. erfolgreich zu rivalisieren. Drei Wasserwegeführen durch die Schären zur Stadt: im N. bei Furusund,im O. bei Sandhamn und im Süden bei Landsort an Dalarövorbei. Da aber diese Wege lang und schwierig sind und der Hafenjährlich 3-5 Monate lang durch Eis gesperrt ist, so ist dieAnlage eines äußern Hafens bei dem Gut Nynäs, etwa50 km von der Stadt, projektiert, welcher durch Eisenbahn mit S. inVerbindung gesetzt werden soll. Die Stockholmer Schiffsdocks sindneuerdings sehr erweitert worden. Die Stadt be-

Wappen von Stockholm.

UMGEBUNG VON STOCKHOLM. 1 : 15OOOO.

339b

STOCKHOLM

Adolf Fredriks-Kyrka BC1

Arfprinsens-Pal. C3

Baptist-K. C2

Bibliotheket D4

Blasiholmen D3

Bernharden B3

Börsen CD4

Djurgarden F3,4

Dramat. Teater

Drottninggatan D3

Gustav-Adolfs-Torg C3

Helgeandsholm C3

Hötorget C2

Hundegarden D1

Jakobs-K. C3

Johiannis-K. C1

Kanzli C3,4

Karl Johanns-K. E4

Karl XIII Torg CD2,3

Kastellholmen E4

Katharina-K. D5

Konigl. Slottet D3,4

Konigl. Stora Teater C3

Konst. Akademi C3

Kungsholms Kyrka A3

Lodugardslands-K. D2

Lif Gardets-Kas. E2

Mosebacke D5

Musik Akademi B3

National-Museum D3

Nia. Teater D3

Nikolai-K. CD4

Nord. Museum B2

Norrbro C3

Norska Statsmin. Höt. D3

Posthuset C3

Radhuset C4

Regeringsgatan C1-3

Riddarholmen C4

Riddarholms-K. C4

Riddarhuset C4

Riksbanken D4

Serafaner Laz. B3

Skeppsbron D3,4

Skeppsholmen E4

Slöjdskolan C2

Slussen D5

Stortorget CD4

Strömparterren CD3

Sven Lif-Gardets-Kas. F2

Synagoge D2,3

Trädgardsgatan CD2,3

Tyska Kyrka D4

Vetenskaps-Akad. BC4

Wasabro C3

Westerlängatan CD4

Wasagatan BC2,3

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl. Bibliographisches Institut inLeipzig. Zum Artikel »Stockholm«.

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Stockhorn - Stockport.

saß 1883 eine Handelsflotte von 277 Schiffen, davon 192Dampfschiffe von 21,184 Ton. Die innere Kommunikation der Stadtwird durch viele kleine Dampfschiffe sowie Omnibusse undPferdebahnen besorgt. Als Beförderungsmittel des Handels sindzu nennen: die Reichsbank, die Stockholmer Privatbank, dieBörse, die Seeassekuranz etc. Die Einfuhr besteht vornehmlichin Getreide (Roggen, Weizen), Mehl, Wein, Reis, Heringen, Ölenund Ölkuchen, Kupfer, Zink, Baumwolle, Korkrinde, die Ausfuhrin Eisen und Stahl, Hafer, Teer, Thran, Asphalt. Imausländischen Verkehr kamen 1886: 1769 Schiffe von 598,889Ton. an, 1790 Schiffe von 605,572 Ton. gingen ab. VonWohlthätigkeitsanstalten sind das große und dasFreimaurerwaisenhaus, die Murbeksche Erziehungsanstalt, eingroßes Entbindungshaus (auf Kungsholm), ein Taubstummen- undBlindeninstitut, das Irrenhaus auf Konradsberg zu bemerken. Vonwissenschaftlichen Anstalten hat die Stadt eine Akademie derWissenschaften mit Sternwarte und das naturhistorische Relchsmuseumsowie Akademien der Geschichte und Altertumskunde, der freienKünste, der Musik, der Kriegswissenschaften, des Landbaues(mit Versuchsstation). S. besitzt zahlreiche öffentlicheLehranstalten, darunter zwei für Ausbildung von Lehrerinnen,und gelehrte Schulen. Fachschulen sind außer der genanntenKriegshochschule: eine Artillerie- und eine Seekriegsschule, dasKarolinische medizinisch-chirurgische Institut, das gymnastischeZentralinstitut, eine technische Hochschule, eine Gewerbeschule,Navigationsschule, Veterinärschule, ein pharmazeutisches undein Forstinstitut. Eine Universität ist in der Bildungbegriffen. Von Kunstinstituten verdienen Erwähnung dasNationalmuseum, welches Sammlungen ägyptischer undvorhistorischer Altertümer, von Skulpturen, Gemälden undKupferstichen enthält, und das für die Völkerkundedes skandinavischen Nordens wichtige Nordische Museum. Von denfünf Theatern sind am bedeutendsten das Opernhaus, das NeueTheater und das Dramatische Theater. S. ist Sitz dersämtlichen höchsten Reichskollegien u.Regierungsdepartements sowie zahlreicher auswärtigerGesandtschaften und Konsuln (darunter auch ein deutscherBerufskonsul). Die Ausgaben der Stadt beliefen sich 1884 auf 16,6Mill. Kronen, das Vermögen auf 43,2 Mill. Kr., die Schuldenauf 41,3 Mill. Kr. In der Umgebung Stockholms liegen dasLustschloß Haga mit Park, Ulriksdal und auf derMälarinsel Lofö Drottningholm, das schönste derköniglichen Lustschlösser, mit herrlichen Parkanlagen.Die Stadt S. ist wahrscheinlich aus einem Fischerdorf entstanden,das auf einer der zahlreichen Inseln lag. Als 1187 die Esthen inSchweden einfielen, erbaute der König Knut Erikson, um dieRäuber abzuhalten, an der Stelle, wo jetzt S. liegt, einSchloß, um welches sich nach und nach ein Flecken bildete,den König Birger 1255 zur Stadt erhob. 1389 wurde S. von derKönigin Margarete von Dänemark belagert und auf Befehldes gefangenen Königs Albrecht (von Mecklenburg)übergeben. In der Nähe erfochten 14. Okt. 1471 dieSchweden unter Sten Sture jenen glänzenden Sieg über dieDänen, welcher der dänischen Herrschaft überSchweden ein Ende machte. 1497 ward hier von den Schweden einabermaliger Sieg über die Dänen erfochten. Christian II.belagerte die Stadt 1518 vergebens, nahm sie aber 1520 nach einerneuen Belagerung durch Vertrag ein, worauf im November dasberüchtigte Stockholmer Blutbad erfolgte, bei welchemChristian, um seinen Thron zu befestigen, mehrere hundertschwedische Edelleute und Bürger hinrichten ließ. Vgl.Ferlin, Stockholmstad (Stockh. 1854-58, 2 Bde.); Wattenbach, S.,ein Blick auf Schwedens Hauptstadt (Berl. 1872); Lundin undStrindberg, Gamla S. ("Das alte S.", Stockh. 1882); Heurlin,Illustrated guide to S. (das. 1888).

Stockhorn, s. Freiburger Alpen.

Stockkrankheit (Knoten, Kropf, Wurmkrankheit), eine durchÄlchen (Anguillula) veranlaßte Krankheit des Roggens,bei welcher die jungen Pflanzen nach Ausgang des Winters dicht beieinander stehende, schmale und kurze Blätter entwickeln, meistkeinen langen Halm treiben und zuletzt unter Gelbwerden absterben.Die Parasiten leben in den Stengelgliedern des jungen Halms und imGrunde der Blattscheiden. Nach Kühn erzeugt dieselbeÄlchenart auch die Kernfäule der Kardenköpfe(Kardenkrankheit), bei welcher dieselben im Innern sichbräunen und die Fruchtknoten sich zu verkümmertenKörnern entwickeln.

Stocklack, s. Lack.

Stockloden, aus dem Stock eines abgehauenen Baumstammssich entwickelnde Schößlinge.

Stockmalve, Stockrose, s. Althaea.

Stolkmar, Christian Friedrich, Freiherr von, deutscherStaatsmann, geb. 22. Aug. 1787 zu Koburg aus einer mit Gustav Adolfnach Deutschland gekommenen schwedischen Familie, studierte 1805-10Medizin, ließ sich darauf in Koburg als Arzt nieder, diente1814 und 1815 als Militärarzt in den Lazaretten am Rhein, ward1816 Leibarzt des Prinzen Leopold von Koburg, als dieser sich mitder präsumtiven Thronerbin von England vermählte, undblieb von da an der einsichtigste, einflußreichste unduneigennützigste Ratgeber und Vertraute desselben. 1821 warder in den Adel- und 1831 in den bayrischen Freiherrenstand erhoben.Bei den Verhandlungen über die Erhebung Leopolds auf dengriechischen und dann auf den belgischen Thron stand S. dem Prinzenaufs treueste zur Seite, er war sein Agent bei den LondonerKonferenzen, und während er ihm von der Annahme dergriechischen Krone abriet, beförderte er seine Wahl zumKönig von Belgien und unterstützte ihn durch weiseRatschläge. Nachdem er 1834 aus seiner Stellung bei Leopoldausgeschieden, stand er 1837 der Königin Viktoria bei ihrerThronbesteigung mit seinem Rat bei, begleitete 1838-39 den PrinzenAlbert von Koburg nach Italien und blieb nach dessenVermählung mit der Königin Vertrauter und Hausfreund desKönigspaars. Er nahm, teils in England, teils in Koburglebend, an allen wichtigen Verhandlungen beratenden Anteil, war1848 koburgischer Gesandter beim Bundestag, wo er für dieEinigung Deutschlands unter Preußens Führung zu wirkensuchte, und starb 9. Juli 1863 in Koburg. Vgl. die von seinem SohnErnst von S. (geb. 7. Aug. 1823, gest. 6. Mai 1886) herausgegebenen"Denkwürdigkeiten aus den Papieren des Freiherrn Chr. F. v.S." (Braunschw. 1872); Juste, Le baron S. (Brüssel 1873).

Stockmorchel, s. Helvella.

Stockport, Fabrikstadt in Cheshire (England), 8 kmsüdöstlich von Manchester, am Mersey, über denfünf Brücken und ein großartiger Eisenbahnviaduktführen, alt, aber erst in neuerer Zeit infolge derBaum-wollindustrie zu einer volkreichen Stadt herangewachsen. Sieist auf unebenem Terrain unregelmäßig gebaut, hat einegroße eiserne Markthalle, ein Theater, eine Freibibliothek u.großartige Baumwollindustrie,

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Stockrose - Stoffwechsel.

ferner Fabriken von Hüten, Maschinen, Bürsten, Eisen-und Messingwaren und (1881) 59,553 Einw.

Stockrose, s. Althaea.

Stockschnupfen, s. Schnupfen.

Stockschwamm, s. Agaricus V.

Stockflößer, s. Sperber.

Stockteilung, Vermehrungsmethode bei Stauden und kleinenSträuchern mit vielen Trieben, besteht im Zerschneiden desWurzelstocks in so viele Teile, als sich Triebe oder Knospen daranbefinden.

Stockton, Stadt im nordamerikan. Staat Kalifornien, amschiffbaren San Joaquin, inmitten eines der ergiebigstenWeizengebiete, mit 2 Irrenanstalten, bedeutendem Handel und (1880)10,282 Einw.

Stockton on Tees (spr. tihs), Stadt in der engl.Grafschaft Durham, am Tees, 6 km oberhalb Middlesbrough , mit SouthS. (Yorkshire) durch eine Brücke verbunden. Beide zusammenhaben (1881) 41,015 Einw. S. hat Segeltuchfabriken , Seilerbahnen,Schiffswerfte, Hochöfen, Gießereien, Glashüttenetc. Zum Hafen gehörten 1887: 26 Seeschiffe von 10,323 Ton.;Wert der Einfuhr vom Ausland 192,923 Pfd. Sterl., der Ausfuhr27,641 Pfd. Sterl. S. ist Sitz eines deutschen Konsulats.Nördlich davon Wynyard, Sitz des Grafen Clarendon.

Stockwerk, in der Baukunst s. Geschoß.

Stockwerksbau, s. Bergbau, S. 725.

Stockwerksporphyr, s. Greisen.

Stoddard, Richard Henry, amerikan. Dichter undSchriststeller, geb. 2. Juli 1825 zu Hingham (Massachusetts), kammit zehn Jahren nach New York, wo er bei einem Erzgießer indie Lehre gegeben wurde, begann aber früh sich als Mitarbeiteran Zeitschriften litterarisch zu bethätigen. Von 1853 anbekleidete er eine Stelle beim Steueramt zu New York, bis er zuAnfang der 70er Jahre Stadtbibliothekar von New York wurde. AlsDichter hat S. mit besonderm Erfolg das Gebiet kleiner, sangbarerLieder angebaut, die nicht selten an den Ton deutscher Volksliedererinnern. Wir nennen von seinen zahlreichenVeröffentlichungen, die außer poetischen Sachenhauptsächlich populär-historische Werke umfassen:"Footprints", Gedichte (1849); "Poems "(1850); "Adventures infairy-land", Kindermärchen (1853); "Songs of summer" (1857);"Town and country" (1857); "Life, travels and books of Alexandervon Humboldt" (1859); "Loves and heroines of the poets", geistvollgeordnete Sammlung englischer Liebesgedichte (1860); "The king'sbell" (1863); "The story of little Red Riding Hood" (1864); "Undergreen leaves" (1865); "The children in the wood" (1866); "Putnam,the brave" (1869); "The book of the East, and other poems" (1871);schließlich das wichtige "Memoir of Edgar Allan Poe" (1875),die "Anecdote biography of Percy B. Shelley" (1876) und "H. W.Longfellow" (1882). Seine gesammelten "Poetical works" erschienen1880.

Stoff, s. Materie.

Stoffdruckerei, s. Zeugdruckerei.

Stoffe, s. Gewebe.

Stoffel, Eugène Georges Henri Céleste,Baron von, franz. Offizier, geb. 1. März 1823 zu Arbon imThurgau, erhielt seine Bildung auf der polytechnischen Schule zuParis, trat in die Artillerie und zog 1856 durch ein"Militärisches Wörterbuch" die Aufmerksamkeit des KaisersNapoleon III. auf sich, der ihn zu verschiedenen Missionenverwendete und ihn 1866 als Oberstleutnant undMilitärattaché bei der kaiserlichen Botschaft nachBerlin schickte. Von hier erstattete er 1866 bis Juli 1870eingehende, sehr sachkundige Berichte über das deutscheHeerwesen nach Paris, welche den Kaiser vom Kriege gegenDeutschland hätten abhalten müssen, wenn siegebührend gewürdigt worden wären. Sie wurden nachdem 4. Sept. 1870, zum Teil noch versiegelt, in den Tuilerienaufgefunden und 1871 veröffentlicht ("Rapport militaireécrit de Berlin", Par. 1871; deutsch, Berl. 1872). Im Krieg1870/71 war S. zuerst in der Operationskanzlei des Kaisers, entkamnach der Kapitulation von Sedan, befehligte beim Ausfall von Paris30. Nov. bis 2. Dez. 1870, dann auf dem Mont Avron mit Auszeichnungdie Artillerie, ward aber, weil er Thiers' Armeereorganisationopponierte und eifriger Bonapartist war, nicht befördert undnahm 1872 seinen Abschied, ja er wurde wegen Beleidigung desBerichterstatters im Prozeß Bazaine, des GeneralsRivière, 1873 zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. Ersetzte die Geschichte Cäsars von Napoleon III. fort ("Histoirede Jules César: guerre civile", Par. 1887, 2 Bde.).

Stoffmühle, s. v. w. Holländer, s. Papier, S.674.

Stoffwechsel, die Gesamtheit der chemischen Vorgängeim Organismus, auf welchen die Lebenserscheinungen beruhen, unddurch welche der Organismus als solcher erhalten wird. DerOrganismus lebt, indem er fortwährend Stoffe aufnimmt, dieseumwandelt, assimiliert und in integrierende Teile seinesKörpers verwandelt, während andre, ältere Teile desKörpers aus dem Verband, in welchem sie bis dahin standen,ausscheiden, umgewandelt und aus dem Körper entfernt werden.Unterscheidet sich das Reich der Organismen von der unbelebtenNatur wesentlich durch den S., so sind wieder Pflanzen und Tieredurch die besondere Art des Stoffwechsels voneinander verschieden,aber so, daß sie durch diese Verschiedenheit innigzusammenhängen. Die Pflanzen nehmen aus Luft und Bodenanorganische Verbindungen (Kohlensäure, Wasser und Ammoniakoder Salpetersäure und gewisse Salze) auf und bilden unter demEinfluß des Lichts und unter Abscheidung von Sauerstofforganische Verbindungen von zum Teil sehr komplizierterZusammensetzung. Über die hierbei verlaufenden Prozesse wissenwir sehr wenig. Aus Kohlensäure und Wasser entstehenKohlehydrate, Fette und andre Verbindungen, durch Einwirkung vonAmmoniak auf einige derselben wahrscheinlich die weitverbreitetenAmidosubstanzen und aus diesen eiweißartige Körper. DiePflanzen atmen aber auch: sie nehmen Sauerstoff auf, und unterdessen Einfluß wird ein Teil der gebildeten organischenSubstanz oxydiert. Immerhin tritt dieser Prozeß gegen den derErnährung, der Bildung organischer Substanz, starkzurück, und so präsentiert sich der S. der Pflanzewesentlich unter dem Bild eines Reduktionsprozesses, bei welchemlebendige Kraft (die Wärme der Sonnenstrahlen) in Spannkraftumgesetzt wird. Im Gegensatz zu den Pflanzen nehmen die Tiere alsNahrungsmittel wesentlich organische Stoffe auf, direkt oderindirekt die wichtigsten Pflanzenbestandteile; sie sind nicht imstande, wie die Pflanzen, aus unorganischen Stoffen synthetischorganische zu bilden, vielmehr bedürfen sie der letztern, dienach verhältnismäßig geringer Wandlung zuBestandteilen des tierischen Organismus werden und dann einerrückschreitenden Metamorphose unterliegen, unter Mitwirkungdes eingeatmeten Sauerstoffs oxydiert und in Form sehr einfacherchemischer Verbindungen ausgeschieden werden. Der tierische S. istmithin im wesentlichen ein Oxydationsprozeß, als dessenEndglieder Kohlensäure, Wasser und Ammoniak, die Nah-

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Stoffwechsel - Stoffwechselgleichungen.

rungsstoffe der Pflanzen, auftreten. Die von den Pflanzenaufgespeicherte Spannkraft gibt das Tier hauptsächlich in Formvon Wärme und Arbeit wieder aus. Die zum Teil sehrverwickelten Vorgänge des tierischen Stoffwechsels sind nochwenig bekannt. Die Nahrungsstoffe: Eiweißkörper, Fette,Kohlehydrate, Salze, werden durch die Verdauungssäfte mehroder weniger verändert, die Produkte werden dem Blut und durchdieses den Geweben zugeführt, um letztere zu ernähren.Gleichzeitig findet eine Abnutzung der Gewebe statt, dieAbnutzungsprodukte gelangen in das Blut, unterliegen hier einerweitern Umbildung und werden schließlich ausgeschieden: diestickstoffhaltigen Substanzen wesentlich in der Form von Harnstoff(der leicht in Kohlensäure und Wasser zerfällt) durch dieNieren, die schwefelhaltigen durch die Leber, die letztenOxydationsprodukte, Kohlensäure und Wasser, durch Lunge undHaut. Die Energie, mit welcher der S. verläuft, ist sehrverschieden. Der Säugling verbraucht an Nahrungsmittelntäglich 1/7 seines Körpergewichts, später 1/5, derErwachsene 1/20. Während des Schlafs ist der S. wesentlichvermindert, bei Bewegung und Arbeit beträchtlich erhöht,aber auch im hungernden Tier steht der S. nicht still, derhungernde Organismus lebt von sich selbst, bis dieMöglichkeit, dies zu thun, erschöpft ist. Da dasKörpergewicht des erwachsenen und gesunden tierischenKörpers konstant bleibt, so müssen die durchschnittlichentäglichen Zufuhren genau die durchschnittlichen Ausgabendecken, es muß ein Zustand des Gleichgewichts zwischenEinnahmen und Ausgaben vorhanden sein, und in der That haben genaueVersuche ergeben, daß bei Berechnung des Gehalts der Nahrungund der Ausscheidungsstoffe an Kohlenstoff, Wasserstoff,Sauerstoff, Stickstoff und Salzen im wesentlichen dieselben Zahlenerhalten werden. Ein gut beköstigter gesunder Mensch verliertin 24 Stunden bei mäßig bewegter Lebensweise durch dieAtmung etwa 32, die Hautausdünstung 17, den Harn 46,5, den Kot4,5 Proz. der gesamten Exkretionsmasse, und zwar scheidet dieAtmung aus: Wasser 330, Kohlensäure 1230, dieHautausdünstung Wasser 660, Kohlensäure 9,8, der HarnWasser 1700, Harnstoff 40, Salze 26 g, der Kot Wasser 128, andre,meist organische Substanzen 53 g. Die Bilanz zwischen Einnahmen undAusgaben des Körpers bezieht sich auf denDurchschnittsmenschen, der weder ungewöhnlichenäußern Einflüssen ausgesetzt ist, noch voneinzelnen Funktionen, namentlich der Muskelthätigkeit, eineneinseitigen Gebrauch oder Nichtgebrauch macht. Derselbe vollbringtein bestimmtes Mittelmaß der Leistungen, d. h. von innernBewegungen, von nach außen übertragener mechanischerArbeit und von Wärmeeinheiten. Für die beiden letzternVerausgabungen verlangt er ein bestimmtes Äquivalent anZufuhren. Dafür ist er im stande, diese Leistungen Tagfür Tag in derselben Größe zu wiederholen, ohnedaß sein Körpergewicht oder die proportionale Menge derEinzelbestandteile seines Körpers wesentlicheVeränderungen erleidet. Dieses Durchschnittsverhältniskann aber bedeutend abgeändert werden, und zwar entweder durchVeränderung der Zufuhren, dann ändern sich natürlichauch die Leistungen, ja unter Umständen sogar der Körperselbst; oder durch Veränderung der Leistungen, welche nunwiederum eine entsprechende Modifikation der Zufuhren erheischt.Wenn die Zufuhren steigen, so sind zwei Erfolge möglich.Entweder nehmen die Verausgabungen in äquivalenter Weise zu,der Körper leistet jetzt mehr (an mechanischer Arbeit undWärmebildung), aber er verändert sein Gewicht nicht; oderdie Verausgabungen steigen nicht oder doch nicht in gleichem Gradmit der Zufuhr, dann vermehrt sich das Körpergewicht, es wirdmehr Stoff angesetzt. Werden die Zufuhren mäßiggemindert, so zehrt der Körper, insoweit das Bedürfnisnicht von außen her gedeckt wird, aus eigne Kosten, erverliert allmählich an Gewicht. Mit Abnahme derKörpermasse sinken auch die Umsetzung gen, überhaupt dieLeistungen; es muß aber ein Punkt kommen, wo die gemindertenZufuhren hinreichen, die nunmehrigen Verausgabungen zu decken. Aufdiesem neuen Beharrungszustand bleibt der mager gewordeneKörper stehen, und zwar, wenn die Zufuhren nur einemäßige Herabsetzung erfahren haben, im Zustand relativerGesundheit. Werden endlich die Zufuhren bedeutend geschmälertoder gänzlich aufgehoben, so magert der Körper ab, um soschneller, je beträchtlicher die Nahrungsentziehung; er wirdimmer leistungsunfähiger und geht endlich dem Hungertodentgegen. Der Gesamtstoffwechsel bewegt sich auch im normalenZustand innerhalb einer bedeutenden Breite, das Körpergewichtwechselt nicht unbeträchtlich. Damit gehen aber auchSchwankungen der Funktionen Hand in Hand; doch gibt esgenügende Ausgleichungsmittel, welche das Bestehen desOrganismus sichern und ihn den jedesmaligen Verhältnissenanpassen. Eins der wichtigsten Ausgleichungsmittel besteht darin,daß der schlecht genährte Körper wenig, der reichbeköstigte viel verausgabt. Auch die Individualität istvon dem verschiedensten und mannigfachsten Einfluß auf den S.Der Einfluß des Körperzustandes auf die Intensitätund Richtung des Stoffwechsels tritt besonders hervor in gewissenKrankheiten, wo der S. manchmal ganz sein gewohntes Geleiseverlassen hat, z. B. in der Zuckerharnruhr. Besonders interessanteBeispiele hierfür bieten die heftigern Fiebergrade. BeimUnterleibstyphus z. B. kann die tägliche Harnstoffmenge auffast das Doppelte steigen, obschon der Kranke sich nicht bewegt unddie stickstoffhaltige Zufuhr so gut wie vollständigabgeschnitten ist, er sich also unter Bedingungen befindet, unterwelchen der normale Körper nur sehr wenig Harnstoff bildenwürde. So verschieden auch der S. sich gestalten mag infolgeäußerer Verhältnisse oder im Individuum selbstliegender Ursachen, so handelt es sich doch dabei im wesentlichenimmer um dieselben Vorgänge und zwar sogar unter derabweichendsten Bedingungen der Ernährung. Das hungernde Tierso gut wie das wohlgenährte scheidet Harnstoff,Kohlensäure und Wasser aus. Das Tier mag ausschließlichvon Fleischnahrung oder von Pflanzenkost leben, der Organismus maggesund oder schwer erkrankt sein, er mag gemästet odergehörig genährt, unzureichend beköstigt oder imVerhungern begriffen sein: er lebt zunächst immer nur aufKosten seiner eignen Bestandteile. Der S. wird somit zunächstausschließlich bestimmt durch den jedesmaligen Zustand derGewebe, Organe und Säfte des Körpers, und die uns nochunbekannten vitalen Energien der Gewebe und Organe geben bei derBestimmung des Stoffumsatzes, der Anbildung wie derRückbildung, sowohl in Bezug auf Qualität alsQuantität den Hauptausschlag. Vgl. Moleschott, Der Kreislaufdes Lebens (5. Aufl., Mainz 1876-86, 2 Bde.); Voit, Physiologie desallgemeinen Stoffwechsels und der Ernährung (Leipz. 1881);Wilckens, Briefe über den tierischen S. (Bresl. 1879); Seegen,Studien über S. (Berl. 1887).

Stoffwechselgleichungen, s. Respirationsapparat.

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Stohmann - Stokes.

Stohmann, Friedrich Karl Adolf, Agrikulturchemiker undTechnolog, geb. 25. April 1832 zu Bremen, studierte inGöttingen und London, war 1853-1855 Assistent von Graham undarbeitete in der Folge in mehreren chemischen Fabriken. 1857 wurdeer Assistent von Henneberg erst in Celle, dann in Weende beiGöttingen, und hier beteiligte er sich an den klassischenUntersuchungen Hennebergs über die Ernährung derHaustiere. 1862 begründete er die landwirtschaftlicheVersuchsstation in Braunschweig, 1865 folgte er einem Ruf nachMünchen, ging aber noch in demselben Jahr nach Halle undübernahm 1871 die Leitung deslandwirtschaftlich-physiologischen Instituts in Leipzig. Erschrieb: "Handbuch der technischen Chemie" (auf Grundlage vonPayen, Précis de chimie technique, mit Engler, Stuttg.1870-1874, 2 Bde.); "Biologische Studien" (Braunschw. 1873);"Handbuch der Zuckerfabrikation" (2. Aufl., Berl. 1885); "DieStärkefabrikation" (das. 1878); "EncyklopädischesHandbuch der technischen Chemie" (auf Grundlage von Muspratts"Chemie", 4. Aufl. mit Kerl, Braunschw. 1886 ff.).

Stöhrer, Emil, Mechaniker, geb. 25. Sept. 1813 zuDelitzsch, lernte bei Wießner in Leipzig und gründete1846 daselbst ein eignes Geschäft, welches er 1863 seinem SohnEmil (geb. 2. März 1840) Übergab. Er gründete daraufin Dresden ein zweites Geschäft, speziell fürelektro-therapeutische Apparate, übergab dasselbe 1880ebenfalls seinem Sohn, mußte aber nach dessen Tod, 26. Dez.1882, beide Geschäfte wieder übernehmen. Er konstruierteweitverbreitete Batterien und Induktionsapparate und 1846 denersten mit Wechselströmen eines Magnetinduktors betriebenenZeigertelegraphen, auch einen elektrochemischen undelektromagnetischen Doppelschreiber.

Stoiker, griech. Philosophenschule, welche sichgleichzeitig mit dem Epikureismus entwickelte und ihren Namen vondem Säulengang (stoa) hat, wo der Gründer derselben,Zenon aus Kittion auf Kypros, in Athen zu lehren pflegte (340-260v. Chr.). Zenons Lehrbegriff ward zum Teil im Kampf mit derjüngern Akademie durch seine nächsten Schüler undAnhänger, Kleanthes aus Assos in Troas, Chrysippos aus Soli inKilikien (280-210), bestimmter ausgebildet, während andre, wieAriston aus Chios und Heryllos aus Karthago, sich ihm vorzugsweisenur in der Strenge der sittlichen Denkart angeschlossen zu habenscheinen. Ein allgemeines Merkmal der Lehre der S. liegt in demBemühen, die Philosophie in einer einfachen undgemeinverständlichen Form und mit vorherrschenderRücksicht auf das praktische Leben zu entwickeln, daher dieeigentliche Bedeutung derselben in ihrer Ethik zu suchen ist,welcher sie zwar die Physik beiordnen, weil diese die allgemeinstenGrundbestimmungen für jene darbiete, die Logik aberunterordnen, so daß diese ihnen mehr für ein Werkzeugals für einen Teil der Philosophie gilt. In der Logik ward dieErfahrung als Grundlage aller Erkenntnis statuiert, insofern alleVorstellungen in einem Leiden der Seele durch den Eindruck desVorgestellten bestehen sollen. In Übereinstimmung hiermit gehtauch ihre Physik von dem Satz aus, daß alles, was Ursachesei, Körper sei, welcher Begriff bei ihnen wesentlich durchden Gegensatz von Thun und Leiden bestimmt wird.Demgemäß unterscheiden sie die Materie als dasqualitätslose leidende und Gott als das thätige undbildende Prinzip, so jedoch, daß nicht das eine wirklichgetrennt von dem andern existiere, sondern die wirkliche Kraft indem Stoff selbst vorhanden sei. So wie daher die Weltvernünftig und göttlich ist, so hat auch jeder einzelneTeil seinen besondern Anteil an der allgemeinen Vernunft. Diesebestimmte schon Zenon, sich an die Naturlehre des Heraklitanschließend, als ein denkendes, lebendiges Feuer, welchessich in stetigen Übergängen und nach einem bestimmtenunausweichlichen Gesetz in die Elemente und die daraus entstehendenbesondern Bedingungen verwandle, um nach periodischem Kreislaufwieder in die ursprüngliche Einheit zurückzukehren(Weltverbrennung). In genauem Zusammenhang mit dieser Physik stehtder oberste Grundsatz der Ethik, welcher für derenhöchsten Endzweck die Übereinstimmung mit der Naturerklärt. Die Unabhängigkeit der sittlichen Gesinnungstellten sie der äußerlich erscheinenden Handlung undderen zufälligen Umständen gegenüber. Einerselbständigen Fortbildung war das System an sich nichtfähig. Die wesentlichste Umbildung erfuhr die stoische Lehredurch Panaitios und Posidonios, welche auch hauptsächlich ihreVerpflanzung nach Rom bewirkten. Durch Wechselwirkung der stoischenPhilosophie und des römischen Geistes aufeinander entwickeltesich hier aus ersterer eine räsonnierende praktischePopularphilosophie von zum Teil fromm-erbaulichem Charakter. Unterdem Despotismus der Cäsaren erhielt der Stoizismus einepolitische Bedeutung, denn zu ihm flüchteten sichgrößtenteils die Oppositionsmänner; er wurde einGegenstand der Verfolgung, bis er mit Marcus Aurelius Antoninus aufden Kaiserthron kam und kaiserliche Fürsorge demselben nocheinmal Geltung und Anhang erwarb. Nach der Zeit der Antonineverschwindet er völlig aus der Geschichte, in dem allgemeinenphilosophischen und religiösen Synkretismus aufgehend, inwelchen die antike Weltanschauung sich auflöste. Vgl.Tiedemann, System der stoischen Philosophie (Leipz. 1776, 3 Bde.);Ravaisson, Essai sur le stoicisme (Par. 1856); Noack in derZeitschrift "Psyche", Bd. 5 (Leipz. 1862); Winckler, Der Stoizismus(das. 1878); Weygoldt, Die Philosophie der Stoa (das. 1883) ;Ogereau, Essai sur le système philosophique des stoiciens(Par. 1885); L. Stein, Die Psychologie der Stoa (Berl. 1886-88, 2Bde.); Zeller, Philosophie der Griechen, Bd. 3.

Stoische Philosophie, s. Stoiker.

Stoizismns, Lehre der Stoiker (s. d.); streng moralischesoder vielmehr finsteres, freudenloses Leben.

Stoke Poges (spr. stohkpódschis), DorfinBuckinghamshire (England), bei Slough, mit Denkmal des DichtersGray, der hier seine Elegie schrieb, u. 109 Einw.

Stokes (spr. stohks), 1) George Gabriel, Mathematiker undPhysiker, geb. 13. Aug. 1819 zu Skreen in Irland, studierte zuCambridge und wurde 1849 Professor der Mathematik daselbst. Seit1854 ist er auch Sekretär der Royal Society. S.' Arbeitenerstrecken sich über das Gebiet der reinen Mathematik, derMechanik und der mathematischen und experimentellen Physik. Seinetheoretischen Untersuchungen beschäftigen sichhauptsächlich mit Hydrodynamik, der Theorie des Lichts und derTheorie des Schalles, seine experimentellen Arbeiten vorwiegend mitden Erscheinungen des Lichts. Eine seiner hervorragendsten Arbeitenist die über die Fluoreszenz des Lichts, deren Natur er zuersterkannte. Die frühern Beobachter, Brewster und Herschel,glaubten in der Erscheinung eine eigentümliche Zerstreuung desLichts zu erkennen; S. wies aber nach, daß diefluoreszierenden Substanzen in der That selbst leuchtend werden,indem sie das auf sie treffende Licht in sich aufnehmen, und indemdadurch die Moleküle der Körper in Schwingungen geraten.S. begründete durch diese Ar-

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Stokessche Regel - Stolberg.

beiten gleichzeitig die richtige Theorie der Absorption desLichts. In der Folge beschäftigte er sich viel mitderAbsorptions-Spektralanalyse und untersuchte den ultravioletten Teildes Spektrums. Gesammelt erschienen seine "Mathematical andphysical papers" (Cambr. 1880-83, 2 Bde.), deutsch die Vorlesungen:"Das Licht" (Leipz. 1888).

2) Whitley, engl. Keltolog, geb. 28. Febr. 1830, studierte inDublin Rechtswissenschaft und Philologie, insbesondere Keltologie,begab sich als Barrister 1862 nach Indien (Madras), wurde zweiJahre später zum Sekretär des Legislative Council zuKalkutta ernannt und war 1877-82 Law Member of the Council of thegovernor general of India (s. v. w. Justizminister), in welcherStellung er sich um die Gesetzgebung Indiens große Verdiensteerwarb. Seine wichtigsten keltologischen Arbeiten sind: "Irishglosses" (Dubl. 1860); "Three Irish glossaries" (Kalk. 1868);"Goidelica", Sammlung altirischer Texte (2. Aufl., Lond. 1872);"Fis Adamnain" (Simla 1870); "A Cornish glossary" (Lond. 1870);"The life of Saint Meriasek, a Cornish drama" (das. 1872);"Middle-Breton hours" (Kalk. 1876); "Three middle Irish homilies"(das. 1879); "Togail Troi. The destruction of Troy" (das. 1881);"On the calendar of Oengus" (Dubl. 1881); "Saltair na Rann" (Oxf.1883). Neuerdings erschienen von ihm "The Anglo-Indian codes"(Lond. 1887-88, 2 Bde.).

Stokessche Regel, s. Fluoreszenz.

Stoke upon Trent (spr. stóhk oponn trent),schmutzige Stadt in Staffordshire (England), im Distrikt derPotteries (s. d.), hat einen großartigen Bahnhof (mit denBildsäulen Wedgwoods und Mintons), ein Athenäum, eineKunstschule, Fabriken für Porzellan und Steingut (Minton,Copeland and Sons u. a.) und (1881) 19,261 Einw.

Stola (lat.), langes, faltiges, bis auf die Knöchelherabreichendes und unten mit einer Falbel (instita) verziertesKleid der römischen Frauen, das auch vom Pontifex maximusgetragen ward; jetzt Festgewand der katholischen Geistlichen, beidenen es jedoch nur aus einer langen Binde von weißer Seideoder Silberstoff besteht, die, mit drei Kreuzen am Ende versehen,bei den Priestern über beide Schultern und die Brustkreuzweise, bei den Diakonen bloß über die linkeSchulter nach der rechten Hüfte zu herabhängt (s. Alba,Abbild.). Ein ähnliches Gewandstück trugen auch dieältern französischen und englischen Könige.

Stolac, Bezirksstadt in Bosnien (Kreis Moftar), an derBregava, hat eine weitläufige, mit Türmen verseheneuralte Burg, ein Bezirksgericht, (1885) 3397 meist mohammedan.Einwohner und Weinbau.

Stolberg (Stollberg), ehemalige Grafschaft amsüdlichen Fuß des Harzes, deren Gebiet, 429 qkm (7,8QM.) mit 33,000 Einw., seitdem die Landeshoheit auf Preußenübergegangen ist (seit 1815), zwei Standesherrschaften,S.-Stolberg und S.-Roßla, im Regierungsbezirk Merseburg,Kreis Sangerhausen, bildet. - Die Stadt S. (S. am Harz), Hauptortder Standesherrschaft S.-Stolberg, in einem engen Waldthal an derTyra, 297 m ü. M., hat eine evang. Kirche, ein gräflichesKonsistorium, ein Waisenhaus, ein Amtsgericht, Bergbau auf Eisenund Kupfer, eine Zigarren- und eine Pulverfabrik, 2Sägemühlen und (1885) 2140 Einw. über der Stadt dasgräfliche Residenzschloß mit ansehnlicherBibliothek.

Stolberg (Stollberg), Stadt im preuß.Regierungsbezirk und Landkreis Aachen, an der Vicht, Knotenpunktder Linien M'Gladbach-S., Langerwehe-Herbesthal, S.-Alsdorf,Stolberger Thalbahn, Eschweiler-Velau, S.-Münsterbusch undMorsbach-S. der Preußischen Staatsbahn, hat 2 evangelischeund 2 kath. Kirchen, ein uraltes Schloß (nach der SageJagdschloß Karls d. Gr.), ein Amtsgericht, eineHandelskammer, Sayettspinnerei, großartige Zink- undMessingindustrie, Eisengießereien, Dampfkesselfabriken,Bleihütten, Kupferhämmer, Glasfabriken mitGlasschleiferei, ein Walzwerk, Fabriken für Spiegelglas,Maschinen, Nähnadeln, Haken und Schlingen, Messing- u.Eisendraht, ferner Gerberei, Kalkbrennerei, Seifensiederei, einegroße chemische Fabrik (Waldmeisterhütte) derGesellschaft Rhenania, Bergbau auf Steinkohlen, Eisen, Blei, Galmeiund Zinkblende und (1885) 11,835 meist kath. Einwohner. DieMessingindustrie der Stadt wurde im 16. und 17. Jahrh. durch ausFrankreich und Aachen vertriebene Protestanten begründet.

Stolberg, altadliges Geschlecht aus Thüringen,welches bis ins 11. Jahrh. zurückreicht, und dessen Stammlanddie Grafschaft S. in Thüringen ist. Schon 1412 in denReichsgrafenstand erhoben, vermehrte es seinen Besitz durchErwerbung der Grafschaften Hohnstein, Wernigerode, Königstein,von welch letzterer jetzt nur noch Gedern und Ortenberg dem Hausangehören, Wertheim und Rochefort in Belgien, die 1801verloren ging, sowie des hennebergischen Fleckens Schwarza. Von denbeiden Linien, in welche sich das Geschlecht früher teilte,der Harz- und der Rheinlinie, erlosch erstere 1631. Letztere teiltesich 1645 in die Linien: S.-Wernigerode, S.-Stolberg undS.-Roßla. Die erste hat außer der GrafschaftWernigerode im Harz nebst Schwarza noch große Besitzungen inSchlesien, dem Großherzogtum Hessen und Hannover und wirdgegenwärtig durch Graf Otto von S., geb. 30. Okt. 1837,repräsentiert (s. S.-Wernigerode 2). Dieser Liniegehörten an: Graf Ferdinand von S., geb. 18. Okt. 1775, gest.20. Mai 1854 in Peterswaldau als preußischer Geheimrat, undGraf Anton von S., geb. 23. Okt. 1785, gest. 11. Juli 1854, der bis1840 Oberpräsident der Provinz Sachsen und von 1842 bis 1848zweiter Chef des Ministeriums des königlichen Hauses war.Dessen Sohn war Graf Eberhard von S., gest. 1872 (s. S.-Wernigerode1). Die Linie S.-Stolberg, die ein Areal von 200 qkm besitzt,blüht in dem Hauptast, repräsentiert durch den GrafenAlfred von S., geb. 23. Nov. 1820, preußischen Standesherrn,und einem Nebenast, dessen Chef derzeit Graf Günther von S.,geb. 22. Nov. 1820, ist. Ein Oheim desselben war Graf Joseph vonS., geb. 12. Aug. 1804, gest. 5. April 1859 in Mecheln, bekanntdurch die Stiftung des Bonifaciusvereins (s. d.). Der Stifterdieses Nebenastes war Graf Christian Günther von S., gest. 22.Juni 1765 als dänischer Geheimrat, der Vater der als Dichterbekannten Grafen Christian und Friedrich Leopold zu S. Die LinieS.-Roßla, deren Besitzungen in Preußen, demGroßherzogtum Hessen und Anhalt 300 qkm betragen, wirdgegenwärtig durch Graf Botho August Karl, Standesherrn inPreußen und Hessen, geb. 12. Juli 1850, vertreten. Vgl. GrafBotho zu S.-Wernigerode, Geschichte des Hauses S. 1210-1511(Magdeb. 1883) ; Derselbe, Regesta Stolbergica (das. 1886).

Stolberg, 1) Christian, Graf zu, Dichter, der LinieS.-Stolberg angehörig, geb. 15. Okt. 1748 zu Hamburg, Sohn desGrafen Christian Günther, studierte seit 1769 in Halle,1772-74 in Göttingen, wo er dem Göttinger Dichterbund (s.d.) beitrat, erhielt 1777 die Amtmannsstelle zu Tremsbüttel inHolstein und vermählte sich hier mit der in vielen

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Stolberger Diamanten - Stolberg-Wernigerode.

seiner Gedichte gefeierten Luise, Witwe desHofjägermeisters v. Gramm, einer gebornen Gräfin vonReventlow. Nach 23jähriger musterhafter Verwaltung

seines Amtes legte er dasselbe (1800) nieder und lebte

fortan auf seinem Gut Windebye bei Eckernförde. Er

starb 18. Jan. 1821. Seine kleinern "Gedichte" (Elegien, Lieder,Balladen etc.) sind mit denen seines Bruders zuerst 1779 in Leipzig(neue Aufl. 1822) erschienen; ebenso die "Schauspiele mitChören" (1787), von

denen ihm "Belsazar" und "Otanes" angehören. BeidenBrüdern gemeinsam waren auch die "VaterländischenGedichte" (Hamb. 1810, 2. Aufl. 1815), in

welchen sie freilich an die neue Zeit einen veraltetenMaßstab legten. Christian lieferte außerdem "Gedichteaus dem Griechischen" (Hamb. 1782) und eine

Übersetzung des Sophokles (Leipz. 1787, 2 Bde.) in

fünffüßigen Iamben, Übertragungen, diefür ihre Zeit nicht ohne Wert waren. Seine sämtlichenpoetischen Arbeiten befinden sich in der Ausgabe der

"Werke der Brüder S." (Hamb. 1820-25, 20 Bde.);

eine Auswahl aus den Gedichten beider gab Kreiten heraus(Paderb. 1889).

2) Friedrich Leopold, Graf zu, jüngerer Bruder des vorigen,Dichter und Schriftsteller, geb. 7.

Nov. 1750 in dem holsteinischen Flecken Bramstedt, gehörtein Göttingen, wo er von 1772 an studierte,

gleichfalls zu dem erwähnten Dichterbund. Nach Beendigungder Universitätsstudien wurde er als königlicherKammerjunker dem dänischen Hof attachiert

und bekleidete später (1777) den Posten eines LübeckerGeschäftsträgers bei der dänischen Regierung.Vermählt (1782) mit der mehrfach von ihm besungenen Agnes,einer Gräfin von Witzleben, lebte er mehrere Jahre ganz seinemhäuslichen Glück und den Musen. Nach dem Tod seinerGattin bekleidete er den Gesandtschaftsposten in Berlin und schritthier 1790 zu

einer zweiten Vermählung mit der Gräfin Sophie vonRedern. Von Berlin ging er 1791 als Präsident derfürstbischöflichen Regierung nach Eutin, wo er mitVoß den alten Bund der Freundschaft neu knüpfte

und durch ihn wieder zu litterarischer Thätigkeitangesp*rnt wurde. Nach einer Reise durch die Schweiz und Italienlegte er 1800 seine sämtlichen Ämter nieder, zog nachMünster und trat mit Weib und Kindern (die älteste,später dem Grafen Ferdinand von S.-Wernigerode vermählteTochter ausgenommen) zur römisch-katholischen Kircheüber. Von Stolbergs alten Freunden machten namentlichVoß und Jacobi ihrem Unwillen über den Abtrünnigendurch den Druck, ersterer auf ebenso derbe und bittere wieletzterer auf eine würdevolle Weise, Luft. Stolbergs

litterarische Thätigkeit beschränkte sich seitdemvorzugsweise auf seine "Geschichte der Religion Jesu

Christi" (Hamb. 1807-18, 15 Bde.; fortgesetzt von Fr. v. Kerz,Bd. 16-45, Mainz 1825-48, und von Brischar, Bd. 46-53, das.1850-64) und ein tendenziös gefärbtes "Leben Alfreds d.Gr." (Münst.

1815, 2. Aufl. 1837), Werke, die durchgehend von

der geistigen Befangenheit ihres Urhebers zeugen, und aufasketische Produkte, die kein Blatt in feinen Lorbeerkranz flechtenkonnten. "Gedichte", "Schauspiele mit Chören" und"Vaterländische Gedichte"

gab er mit seinem Bruder gemeinsam heraus. Stolbergs Lyrik istvielfach altertümelnd, in ihrer Freiheitsbegeisterung ganz vagund phrasenhaft, oft gesucht einfachen Gepräges; sie stand imallgemeinen noch unter den Einwirkungen Klopstocks. Als Prosaikerversuchte er sich auch in einem Roman: "Die Insel" (1788), undeiner weitschweifigen "Reise durch Deutschland, die Schweiz,Italien u. Sizilien" (1794);

als Übersetzer trat er mit der ersten Übertragung derIliade, einer vorzüglichen Nachdichtung von vierTragödien des Äschylos und mehreren Schriften Platonshervor. S. starb 5. Dez. 1819 auf dem Gut Sondermühlen beiOsnabrück, nachdem er kurz zuvor "Ein Büchlein von derLiebe" (Münst. 1820, 5. Aufl. 1877)

vollendet hatte. Seine Schriften nehmen den größtenTeil der "Werke der Brüder S." (Hamb. 1820-1825, 20 Bde.) ein.Vgl. Nicolovius, F. L., Graf

zu S. (Mainz 1846), mehr apologetische Parteischrift

als Lebensbeschreibung; Menge, Graf F. L. S. und

seine Zeitgenossen (Gotha 1863, 2 Bde.): Hennes, Aus Fr. L. v.Stolbergs Jugendjahren (das. 1876);

Janssen, F. L., Graf zu S. (3. Aufl., Freiberg 1882).

3) Auguste Luise, Gräfin zu, Schwester der vorigen, geb. 7.Jan. 1753 zu Bramstedt, wurde durch

ihre Brüder mit Klopstock, Miller und andern Mitgliederndes Göttinger Dichterbundes bekannt und

trat auch mit Goethe in Briefwechsel, den sie übrigenspersönlich nie kennen lernte. Sie heiratete 1783 dendänischen Minister Grafen A. P. Bernstorff, wurde

1797 Witwe und starb 30. Juni 1835. Vgl. "Goethes Briefe an dieGräfin Auguste zu S." (mit Einleitung von W. Arndt, 2. Aufl.,Leipz. 1881).

Stolberger Diamanten, Bergkristalle vom Auerberg imUnterharz.

Stolberg-Wernigerode, 1) Eberhard, Graf von,Präsident des preuß. Herrenhauses, geb. 11. März1810 zu Peterswaldau bei Reichenbach i. S., Sohn

des 1854 gestorbenen Generalleutnants und Ministers Grafen Antonaus der schlesischen Seitenlinie des Hauses S., diente zuerst inder Armee, verwaltete dann die FideikommißherrschaftKreppelhof bei

Landeshut in Schlesien, ward 1853 erbliches Mitglied desHerrenhauses, in welchem er sich durch seine schroff feudaleGesinnung hervorthat und bald zum Präsidenten gewähltwurde, und war 1867-69 konservatives Mitglied des norddeutschenReichstags.

1864 organisierte er die Johanniter-Lazarettpflege mit solchemEifer und Geschick, daß ihn der König

1866 zum Kommissar und Militärinspektor der freiwilligenKrankenpflege bei der Feldarmee ernannte. In dieser Eigenschaftgründete der Graf den "Preußischen Verein zur Pflege imFeld verwundeter und erkrankter Krieger". 1869 zumOberpräsidenten von Schlesien ernannt, starb er 8. Aug. 1872kinderlos zu Johannisbad in Böhmen.

2) Otto, Graf von, Chef des Hauses, geb. 30. Okt. 1837 zu Gedernin Hessen, Sohn des Erbgrafen Hermann (geb. 30. Sept. 1802, gest.24. Okt. 1841),

besuchte das Gymnasium in Duisburg und, nachdem er seinemGroßvater, Grafen Heinrich, 16. Febr. 1854

gefolgt war, die Universitäten Göttingen undHeidelberg, diente 1859-61 als Offizier in der preußischenArmee, ward 1867 zum Oberpräsidenten von Hannover ernannt,welches Amt er bis 1873 mit Takt, Umsicht und großem Erfolgverwaltete, im

März 1876 Botschafter des Deutschen Reichs zu Wien

und 1. Juni 1878 Stellvertreter des Reichskanzlers

und Vizepräsident des preußischen Staatsministeriums.Dies Amt legte er 20. Juni 1881 nieder und ward 1884Oberstkämmerer und stellvertreten-der Minister desköniglichen Hauses, welches letztere

Amt er 1888 aufgab. 1867-78 Mitglied des Reichstags, 1872-86Kanzler des Johanniterordens, 1872 bis 1877 Präsident desHerrenhauses und 1875 Vorsitzender der außerordentlichenGeneralsynode, gehört er zur gemäßigt konservativenPartei. Er ist erster Vorsitzender des Zentralkomitees derdeutschen Vereine und des preußischen Vereins vom RotenKreuz.

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Stolgebühren - Stollenschrank.

Stolgebühren (Jura stolae), die nach der Stola (s.d.) benannten Gebühren, welche die Geistlichen fürkirchliche Handlungen, namentlich Taufen, Trauungen, Abnahme derBeichte und Begräbnisse, beziehen. Schon zu Ende des 5. Jahrh.war eine Taxe für alle geistlichen Verrichtungen vorhanden;doch floß das von den Laien dafür in den Opferstock derKirche gelegte Geld anfangs der Kirchenkasse zu, die davon denPfarrern ihren Anteil gab. Erst später war jeder Parochusbefugt, die S. für sich allein einzunehmen. Auch in derprotestantischen Kirche bilden die S. (als zufällige Einnahmenjetzt gewöhnlich Accidenzien oder Kasualien genannt) einenTeil der Einnahmen des Pfarrers; doch sind sie in Deutschlandvielfach abgeschafft und durch festen Gehalt ersetzt worden.

Stoliczka (spr. -litschka), Ferdinand, Paläontolog,geboren im Mai 1838 in Mähren, war nach Vollendung seinerStudien mehrere Jahre ein thätiges Mitglied der geologischenReichsanstalt zu Wien und wurde 1862 als Mitarbeiter an derGeological Survey ofIndia nach Kalkutta berufen. Seine Arbeitensind meist paläontologischen Inhalts. Eine Reihe vonAufsätzen behandelt die Kreidefossilien Südindiens.Daneben publizierte er wichtige zoologische Arbeiten in denSchriften der Asiatic Society of Bengal, deren Sekretär erseit 1868 war. 1864 und 1865 machte er Forschungsreisen nach demenglischen Tibet, nahm 1873 als Geolog an der ForsythschenGesandtschaftsreise nach Kaschgar teil, ging dann mit Oberst Gordonund Kapitän Trotter nach dem Tschatyrkul im Thianschan,über die Pamirs nach Wachan und zurück, starb aber aufdem Marsch 19. Juni 1874 in Murghi am Shayok, unfern desSasserpasses in Ladak. Vgl. Ball, Memoir of the life and work of F.S. (Lond. 1886).

Stolidität (lat.), Albernheit, Dummheit.

Stoljetow, Nikolai Grigorjewitsch, russ. General, geb.1834, trat 1855 als Offizier in ein Regiment der Kaukasusarmee,avancierte in derselben bis zum Oberstleutnant und ward 1867 zumChef der Kanzlei der Militärverwaltung von Turkistan ernannt.Kurz darauf zum Obersten befördert, erhielt er 1872 dasKommando des uralischen Infanterieregiments. Nicht lange nachherward ihm die Leitung der Amu Darja-Expedition, einerwissenschaftlichen Unternehmung und zugleich auchmilitärischen Rekognoszierung, übertragen. 1875 zumGeneralmajor befördert, erhielt er 1877 den Auftrag, diebulgarischen Druschinen (Milizbataillone) zu organisieren, und ander Spitze von sechs bulgarischen Bataillonen nahm er an Gurkoserstem Zug über den Balkan teil, kämpfte 31. Juli 1877bei Eski-Sagra mit und hatte den ersten Anprall Suleiman Paschasauf dem Schipkapaß auszuhalten. Auch beim zweitenBalkanübergang im Winter 1877-78 befehligte er eine Brigade.Nach dem Frieden von San Stefano ward er an der Spitze einergroßen Gesandtschaft nach Kabul zum Emir von Afghanistangeschickt, um diesen zum Widerstand gegen die Engländeraufzureizen, zog sich aber mit diesem nach Turkistan zurück,als die Engländer in Afghanistan einrückten.

Stollberg, 1) Stadt in der sächs.Kreishauptmannschaft Zwickau, Amtshauptmannschaft Chemnitz,Knotenpunkt der Linien S.-Chemnitz und St. Egidien-Zwönitz derSächsischen Staatsbahn, 418 m ü. M., hat 2 Kirchen, einneues Rathaus, eine Realschule, ein Amtsgericht, eine bedeutendeStrumpfwarenfabrik (800 Arbeiter), Strumpfstuhl-, Zigarren-,Metallwaren- u. Kartonagenfabrikation, Maschinenbau, mechanischeWeberei und Zwirnerei, Dampfsägewerke und (1885) 6541 fast nurevang. Einwohner. Dabei das Dorf Hoheneck mit dem hoch gelegenengleichnamigen Schloß (jetzt Arbeitshaus für Männer)und (1885) 1210 Einw. -

2) S. Stolberg.

Stollbeulen (Ellbogenbeulen), bei PferdenGeschwülste an der hintern Seite und auf der Spitze desEllbogens, die infolge von Quetschungen der Haut und Unterhautentstehen. Diese Quetschungsentzündung wird in einzelnenFällen durch den Druck der Stollen des Hufeisens währenddes Liegens der Pferde mit untergeschlagenen Füßenhervorgerufen (daher der Name), kommt aber auch bei stellenlosenHufeifen und unbeschlagenen Pferden vor. Die Entzündungbreitet sich gewöhnlich auf das benachbarte Bindegewebe aus;die zunächst mit Blut gefüllten Hohlräume werdendurch Wucherung und Verdichtung des Bindegewebes zumgrößten Teil wieder ausgefüllt, und die Geschwulstwird infolgedessen fest und derb (Stollschwamm). In der ersten Zeitbildet sich in der Geschwulst nicht selten eine Eiterung. DieBehandlung verlangt Abstellung der Ursache fortgesetzterQuetschung; bei frischer Entzündung sind kühlende Mittel,sonst Entleeren der Flüssigkeit, Einreibungen mit grünerSeife und Einspritzungen von Jodtinktur angezeigt. Veraltete,speckartige Stollschwämme können nur durch Ätzmitteloder auf operativem Weg entfernt werden. Besonderszweckmäßig ist das Abbinden der S., weil mit demselbendie Verheilung ohne Zurücklassung einer narbigenDeformität erzielt wird. Übrigens stören S. denDienstgebrauch der Pferde wenig, beeinträchtigen aber oft dasgute Aussehen. Die alte Annahme, daß S. am häufigstenbei lungenkranken Pferden vorkommen, ist unbegründet.

Stolle, Ludwig Ferdinand, Belletrist, geb. 28. Sept. 1806zu Dresden, studierte in Leipzig die Rechte undStaatswissenschaften, widmete sich dann zu Grimma und seit 1855 inDresden der Litteratur und starb in letzterer Stadt 29. Sept. 1872.Durch die Herausgabe des humoristisch-politischen Volksblattes "DerDorfbarbier" (1844-63) in weitern Kreisen bekannt geworden, fand ermit feinen zahlreichen historischen und humoristischen Romanen, vondenen wir nur "1813" (Leipz. 1838, 3 Bde.), "Elba und Waterloo"(das. 1838, 3 Bde.), "Deutsche Pickwickier" (das. 1841, 3 Bde; 3.Aufl. 1878), "Napoleon in Ägypten" (das. 1843, 3 Bde.) und"Die Erbschaft in Kabul" (das. 1845) namentlich anführen, wiemit seinen Erzählungen und Novellen ("Frühlingsglocken","Moosrosen" etc.) zahlreiche Leser. Sie wurden unter dem Titel:"Des Dorfbarbiers ausgewählte Schriften" (2. Aufl., Leipz.1859-64, 30 Bde.; neue Folge, Plauen 1865, 12 Bde.) gesammelt.Außer "Gedichten" (Grimma 1847) gab er auch die lyrischeSammlung "Palmen des Friedens" (Leipz. 1855, 5. Aufl. 1873) herausund schrieb zuletzt das Idyll "Ein Frühling auf dem Lande"(das. 1867).

Stollen, ein möglichst horizontaler, vom Tagausgehender, nach Umständen verzweigter unterirdischerGrubenbau, welcher verschiedenen Zwecken dient; in der Poetik einTeil der Strophe der alten Minnelieder (s. Aufgesang undAbgesang).

Stollenrösche, der vom Mundloch eines Stollens biszum nächsten Wasserlauf geführte Graben.

Stollenschrank, ein auf Pfosten (Stollen) ruhenderSchrank mit Doppelthüren, im Mittelalter und in derRenaissancezeit vornehmlich in den Rheinlanden verfertigt. DiePfosten waren meist durch eine Rückwand und unten durch einQuerbrett verbunden. S. Tafel "Möbel", Fig. 10.

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Stollhofen - Stolze.

Stollhofen, Dorf im bad. Kreis Baden, unweit des Rheins,hat (1885) 1139 Einw., ehemals Mittelpunkt der Stollhofer Linien,die, jetzt vollständig verschwunden, im spanischenErbfolgekrieg vom Markgrafen Lndwig von Baden bis zu seinem Tod(1707) behauptet, nachher von den Franzosen genommen wurden.

Stolnik (russ.), Titel eines Hofbeamten im moskowitischenGroßfürsten- und Zartum; Truchseß.

Stolo(lat.), in der Botanik s. v. w. Ausläufer (s.d.).

Stolp, Kreisstadt im preuß. RegierungsbezirkKöslin, an der Stolpe, Knotenpunkt der Linien Stargard i.P.-Zoppot und Neustettin-Stolpmünde der PreußischenStaatsbahn, 35 m ü. M., hat 3 evang. Kirchen (darunter dieMarienkirche mit hohem Turm und die im 13. Jahrh. erbauteSchloßkirche), eine altlutherische und eine kath. Kirche,eine Synagoge, ein altes Schloß und (1885) mit der Garnison(3 Eskadrons Husaren Nr. 5) 22,442 Einw. (darunter 542 Katholikenund 867 Juden), welche Eisengießerei und Maschinenbau,Tabaks-, Zigarren-, Bernsteinwaren und Lederfabrikation,Wollspinnerei, Dampftischlerei, Ziegelbrennerei, Lachsfischereietc. betreiben; auch hat S. 2 große Mahl- und 5Sägemühlen. Der Handel, unterstützt durch eineReichsbanknebenstelle, ist lebhaft in Getreide, Vieh, Spiritus,Holz, Fischen und Gänsen. S. ist Sitz eines Landgerichts,zweier Oberförstereien, einerMobiliar-Brandversicherungsgesellschaft und hat ein Gymnasium,verbunden mit Realprogymnasium, ein Fräuleinstift, einInvalidenhaus, ein Krankenhaus, ein Militärlazarett und 2Hofpitäler. Zum Landgerichtsbezirk S. gehören die siebenAmtsgerichte zu Bütow, Lauenburg, Pollnow, Rügenwalde,Rummelsburg, Schlawe und S.

Wappen von Stolp.

Stolpe, Küstenfluß in Hinterpommern,entspringt aus dem Stolper See im Regierungsbezirk Danzig, nimmtdie Bütow, Kamenz und Schottow auf, ist flößbar undmündet nach einem Laufe von 150 km bei Stolpmünde in dieOstsee.

Stolpen, Stadt in der sächs. KreishauptmannschaftDresden, Amtshauptmannschaft Pirna, an der Wesenitz und der LinieNeustadt-Dürrröhrsdorf der Sächsischen Staatsbahn,auf steilem Basaltberg, hat ein Amtsgericht, ein dreitürmigesaltes Schloß, in welchem die Gräfin Cosel (s. d.)1716-65 gefangen saß, Messerfabrikation und (1885) 1367Einw.

Stolpmünde, Flecken im preuß. RegierungsbezirkKöslin, Kreis Stolp, an der Mündung der Stolpe in dieOstsee und an der Linie Neustettin-S. der PreußischenStaatsbahn, hat eine evang. Kirche, eine Navigationsvorschule, einSeebad, 2 Dampfschneidemühlen, Schiffahrt, Holz- undSpiritushandel und (1885) 1974 fast nur evang. Einwohner. Vgl.Zessin, Das Ostseebad S. (Stolp 1885).

Stolze, Friedrich, Frankfurter Dialektdichter, geb. 21.Nov. 1816 zu Frankfurt a. M., ward von seinem Vater zumKaufmannsstand bestimmt, verließ diesen aber nach des VatersTod, um sich den schönen Wissenschaften zuzuwenden, undließ sich nach mehrfachen Reisen als Schriftsteller in seinerVaterstadt nieder, wo er von 1852 an die im Dialekt geschriebene"Frankfurter Krebbelzeitung" und daneben seit 1860 mit dem MalerSchalk die "Frankfurter Laterne" herausgab, die beide 1866 bei derBesetzung Frankfurts durch die Preußen unterdrücktwurden. S. lebte seitdem in Stuttgart, dann in der Schweiz, kehrteaber nach erfolgter Amnestie nach Frankfurt zurück, wo er dieRedaktion der "Frankfurter Laterne" von neuem übernahm. Erveröffentlichte: "Skizzen aus der Pfalz" (Frankf. 1849);"Gedichte in hochdeutscher Mundart" (das. 1862); "Gedichte inFrankfurter Mundart" (das. 1865, 6. Ausl. 1883; 2. Bd., 1884);"Novellen und Erzählungen in Frankfurter Mundart" (das.1880-85, 2 Bde.) u. a.

Stolz kommt mit der Eitelkeit (s. d.) darin überein,daß er, wie diese, als Wirkung des Ehrtriebs auf den Besitzpersönlicher Vorzüge Wert legt, unterscheidet sich abervon dieser dadurch, daß dieselben nicht eben durchausunbedeutende oder gar nur vermeintlich besessene (wirkliche odervermeintliche körperliche Schönheit u. dgl.) Gütersind, sondern wahre und tatsächlich besessene, sogar sittlichwertvolle Güter (Charakterfestigkeit, wissenschaftliche oderkünstlerische Leistungsfähigkeit u. dgl.) seinkönnen. Geht derselbe so weit, daß er, um sich zubehaupten, lieber äußere Vorteile opfert, so heißter edler S. Überschätzt er seinen Wert oderläßt sich durch das Gefühl desselben zurGeringschätzung andrer verleiten, so geht er in Hochmut (wiedie Eitelkeit in gleichem Fall in Hoffart) über.

Stolz, Alban, bekannter kathol. Theolog, geb. 8. Febr.1808 zu Bühl im Badischen, ward 1833 zum Priester geweiht undgab seit 1843, wo er Repetent am theologischen Konvikt zu Freiburgi. Br. wurde, den vielgelesenen "Kalender für Zeit undEwigkeit" heraus. Seit 1848 war er Professor der Pastoraltheologieund Pädagogik an der theologischen Fakultät. Mehr jedochwirkte er durch eine Unzahl von asketischen und kirchenpolitischenSchriften, wie er denn überhaupt als der originellste undfruchtbarste aller populären Vertreter des deutschenUltramontanismus gelten darf. Er starb 16. Okt. 1883. Vongrößern Werken sind anzuführen: "Spanischesfür die gebildete Welt" (8. Aufl., Freiburg 1885); "Besuch beiSem, Ham und Japhet" (5. Aufl., das. 1876), beidesReisefrüchte. Die meisten seiner zahlreichen Schriften(gesammelt, Freiburg 1871-87, 15 Bde.) wurden in fremde Sprachenübersetzt. Vgl. Hägele, Alban S. (3. Aufl., Freiburg1889).

Stolze, Heinrich August Wilhelm, Begründer des nachihm benannten stenographischen Systems, geb. 20. Mai 1798 zuBerlin, besuchte das Joachimsthalsche Gymnasium daselbst, um sichzum Studium der Theologie vorzubereiten, mußte aberbeschränkter Vermögensverhältnisse wegen 1817 eineAnstellung im Büreau der Berliner Feuerversicherungsanstaltannehmen. Schon 1815 beim Eintritt in die Prima wurde S. auf denGedanken geführt, zur Erleichterung der Arbeitslast sich mitder Kurzschrift bekannt zu machen, und der große Umfangseiner neuen Berufsarbeiten lenkte ihn 1818 abermals undernstlicher auf die Stenographie. Er erlernte 1820 dasMosengeilsche System, fand es aber feinen Erwartungen nichtentsprechend. Von da ab versuchte er selbst neue Wege einzuschlagenund machte die Stenographie zum Gegenstand seiner besondernBeschäftigung, indem er alle ihm zugänglichen älternund neuern Systeme der Kurzschrift durcharbeitete. Das Studium derLautphysiologie und der damals jungen Sprachwissenschaft zeigteihm, welche Kürzungsvorteile eine Stenographie aus derBeachtung des Wesens der Laute und aus dem Anschluß an dieEtymologie ziehen könne. Durch das Erscheinen vonGabelsbergers Redezeichenkunst und W. v. Humboldts Werk überdie

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Stolze - Stölzel.

Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues wurde S. aus dieIdee der symbolischen Vokalbezeichnung geführt. Er gab 1835seine Stelle bei der Feuerversicherungsanstalt auf und widmete sichganz der Ausarbeitung seiner Stenographie, welche 1840abgeschlossen und 1841 mit Unterstützung des preußischenKultusministeriums in dem "Theoretisch-praktischen Lehrbuch derdeutschen Stenographie" (Berl.) veröffentlicht ward. WeiterePublikationen von S. sind: "Ausführlicher Lehrgang derdeutschen Stenographie" (Berl. 1852, 9. Aufl. 1886); "Anleitung zurdeutschen Stenographie" (das. 1845, 52. Aufl. 1889);"Stenographisches Lesebuch" (das. 1852, 2. Aufl. 1861);"Normalübertragung der Aufgaben etc." (das. 1865). Seit 1852war S. Vorsteher des stenographischen Büreaus des Hauses derAbgeordneten in Berlin und starb daselbst 8. Jan. 1867. Vgl.Michaelis, Nachruf an W. S. (Berl. 1867); Derselbe, Festrede zurÜbergabe der S.-Büste etc. (das. 1882); Kreßler, W.Stolze (das. 1884); Käding, Die Denkmäler Stolzes (das.1889). Das Ziel, welches S. im Auge hatte, war nicht die Schaffungeines Werkzeugs zum Redennachschreiben, sondern das höhere derHerstellung eines allgemeinen Erleichterungsmittels bei jederausgedehntern Schreibthätigkeit. Vollständigkeit undGenauigkeit der Lautbezeichnung galten ihm ebensosehr alsGrundbedingungen wie die Kürze. Erst später, nachdem dieStolzesche Stenographie in den preußischen Kammern Eingangals Mittel zum Nachschreiben der Reden gefunden, fügte S.für diesen Zweck weitere Bestimmungen hinzu, die aber nichterschöpfend waren und sich als hinderlich bei der Erreichungdes eigentlichen Ziels erwiesen. Systemreformen von 1868 und 1872gingen daher wieder auf Stolzes ursprüngliches Zielzurück, eine weitere von 1888 schuf abermals wesentlicheVereinfachungen. In dieser neuesten Gestalt ist das System etwaviermal kürzer als die gewöhnliche Schrift und erfordertungefähr 10 Unterrichtsstunden. Seine Zeichen bildete S. nachGabelsbergers Vorgang aus Teilzügen der gewöhnlichenSchrift und verteilte dieselben nach bestimmt ausgesprochenenGrundsätzen auf das Alphabet. Die meisten Vokale bezeichnet ersymbolisch durch Stellung des Wortbildes zur Schriftlinie, durchkurzen oder langen Bindestrich sowie durch Druck oder Nichtdruck imbegleitenden Konsonanten. In der hierbei durchgeführten Idee,den sonst bedeutungslosen Bindestrich als Träger derVokalsymbolik zu verwenden, liegt neben Erhebung der Kurzschrift zuhöherer Bestimmung Stolzes Hauptverdienst um die Fortbildungder Stenographie. Endlich werden gewisse häufig vorkommendeWörter und Silben durch feststehende, aus Teilen des Ganzengebildete Abkürzungen (Siglen) bezeichnet. Das StolzescheSystem ist auf eine Reihe fremder Sprachen übertragen worden,nämlich auf das Niederländische, Schwedische, Englische;Lateinische, Italienische, Französische, Portugiesische,Spanische; Russische, Serbische; Magyarische. Eine nennenswertestaatliche Fürsorge genießt die Stolzesche Stenographienicht, sie verdankt ihre Ausbreitung fast allein derPrivatthätigkeit ihrer Anhänger. In einigen LehranstaltenPreußens und der Schweiz wird sie fakultativ, in mehrerenpreußischen Militärschulen obligatorisch gelehrt; dieamtliche Kommission zur Prüfung der Stenographielehrer inBudapest prüft sowohl Kandidaten, welche das Stolzesche, alssolche, die das Gabelsbergersche System vortragen wollen. Imdeutschen, schwedischen und ungarischen Reichstag, impreußischen, anhaltischen und württembergischen Landtag,in mehreren preußischen Provinziallandtagen und imGroßen Rat zu Bern dient die Stolzesche Stenographie wiederen Übertragungen teils allein, teils neben andern Systemenzur amtlichen Aufnahme der gehaltenen Reden. Zur größtenVerbreitung als Verkehrsschrift ist das Stolzesche System in derSchweiz gelangt; ferner besitzt es in seinem UrsprungslandPreußen sowie in ganz Nord- und Mitteldeutschland außerSachsen das Übergewicht, während es in Österreichund Süddeutschland neben der staatlich gepflegtenRedezeichenkunst Gabelsbergers nicht aufgekommen ist. Von denStolzeschen Lehrmitteln wurden mehr als 1/4 Mill. Exemplareabgesetzt. Infolge der oben erwähnten Systemrevisionen von1868, 1872 und 1888, denen sich ein Teil der Schule widersetzte,enstand eine Spaltung in die kleine, unter sich wieder geteiltealtstolzesche und die numerisch bedeutend überwiegendeneustolzesche Richtung. Beide Richtungen zusammen zählengegenwärtig 450 Vereine (der älteste und zugleich erstedes europäischen Kontinents der zu Berlin seit 1844) mit10,500 Mitgliedern und werden durch 20 Fachzeitschriften vertreten,deren älteste, das "Archiv für Stenographie", seit 1849erscheint. Nach Gegenden und Provinzen sind diese Vereine inVerbänden zusammengefaßt. Jede der beiden StolzeschenRichtungen besitzt eine eigne Organisation; an der Spitze derNeustolzeaner steht der Vorstand des Verbandes StolzescherStenographenvereine (Sitz Berlin), während die vereinigtenaltstolzeschen Körperschaften in dem Vorstand derVerbände (Sitz Berlin) eine leitende Stelle besitzen. Aus demStolzeschen System sind mehrere abgeleitete Systeme hervorgegangen,z. B. die von Erkmann (1876), Velten (1876), Lentze (1881). Vgl."Systemurkunde der deutschen Kurzschrift von W. S." (Berl. 1888);Stolze, Anleitung zur deutschen Stenographie (52. Aufl., das.1889); Derselbe, Ausführlicher Lehrgang der deutschenStenographie (9. Aufl., das. 1886); Frei, Lehrbuch der deutschenStenographie (9. Aust., Wetzikon 1889); Käding, Der Unterrichtin der Stolzeschen Stenographie (2. Aufl., Berl. 1885);Knövenagel und Ryssel (Altstolzeaner), Vollständigespraktisches Lehrbuch der deutschen Stenographie (7. Aufl., Hannov.1886); Simmerlein, Das Kürzungswesen in der stenographischenPraxis (4. Aufl., Berl. 1887); Knövenagel, Redezeichenkunstoder deutsche Kurzschrift? (3.Aufl., Hannover 1880); F. Stolze,Gabelsberger oder S.? (Berl. 1864); Häpe, Die Stenographie alsUnterrichtsgegenstand (Dresd. 1863); Kaselitz, KritischeWürdigung der deutschen Kurzschriftsysteme von S.,Gabelsberger und Arends (Berl. 1875); Miller, Die Stenographien vonS. und Faulmann (Wien 1886); Steinbrink, Zur Entstehungsgeschichtedes Stolzeschen Systems (im "Archiv für Stenographie" 1885);Müller, Die Organisationsbestrebungen der Stolzeschen Schule(Berl. 1883); Krumbein, W. S. und der Entwicklungsgang seinerSchule (Dresd. 1876); Mitzschke, Museum der StolzeschenStenographie (2. Aufl., Berl. 1877); Alge, Geschichte derStenographie in der Schweiz (Gossau 1877); "Serapeum derStolzeschen Stenographie" (Berl. 1874, Nachtrag 1876).

Stölzel, 1) Karl, Technolog, geb. 17. Febr. 1826 zuGotha, studierte in Jena und Heidelberg Staatswirtschaftslehre,dann Naturwissenschaft und besonders Chemie in Berlin und unterLiebigs Leitung in Gießen. Er habilitierte sich 1849 inHeidelberg als Privatdozent, war in der Folge Lehrer an denGewerbeschulen zu Kaiserslautern und Nürnberg und

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Stolzenau - Stopfbüchse.

wurde 1868 als Professor der chemischen Technologie undMetallurgie an die technische Hochschule in München berufen.S. war auch bei den Weltausstellungen zu London 1851, Paris 1867und Wien 1873 amtlich beschäftigt und an der Berichterstattungüber die letzten beiden beteiligt. Sein Hauptwerk ist die"Metallurgie" (Braunschw. 1863-86, 2 Bde.).

2) Adolf, Rechtsgelehrter, Bruder des vorigen, geb. 28. Juni1831 zu Gotha, studierte in Marburg und Heidelberg, war 1860-66Richter beim Kasseler Stadtgericht und Obergericht, trat dann inden preußischen Staatsdienst und wurde 1872 zumKammergerichtsrat, 1873 zum Ministerialrat in Berlin ernannt, wo ergleichzeitig seit 1875 als Mitglied der oberstenJustizprüfungsbehörde fungiert, deren Präsident erseit 1886 ist. Von seinen zahlreichen rechtswissenschaftlichenArbeiten sind hervorzuheben das im Verein mit andern anonymherausgegebene "Handbuch des kurhessischen Zivil- undZivllprozeßrechts" (Kassel 1860-61, 2 Bde.); "Die Lehre vonder operis novi nunciatio und dem interdictum quod vi aut clam"(Götting. 1863): "Kasseler Stadtrechnungen aus der Zeit von1468 bis 1553" (Kassel 1871); "Die Entwickelung des gelehrtenRichtertums in deutschen Territorien" (Stuttg. 1872) ; "Das Rechtder väterlichen Gewalt" (Berl. 1874); "DasEheschließungsrecht im Geltungsbereich des preußischenGesetzes vom 9. März 1874" (das. 1874 u. öfter);"Wiederverheiratung eines beständig von Tisch und Bettgetrennten Ehegatten" (das. 1876); "DeutschesEheschließungsrecht nach amtlichen (Ermittelungen alsAnleitung für die Standesbeamten" (das. 1876 u. öfter);"Karl Gottlieb Svarez" (das. 1885); "Brandenburg-PreußensRechtsverwaltung und Rechtsverfassung, dargestellt im Wirken ihrerLandesfürsten und obersten Justizbeamten" (das. 1888, 2 Bde.).Schon 1872 zum Ehrendoktor der Universität Marburg promoviert,wurde S. 1887 zum ordentlichen Honorarprofessor derUniversität Berlin ernannt.

Stolzenau, Flecken und Kreishauptort im preuß.Regierungsbezirk Hannover, an der Weser, hat eine evang. Kirche,ein Schloß, ein Amtsgericht, Branntweinbrennerei,Seifenfabrikation, Lachsfischerei, Wollhandel, Schiffahrt und(1885) 1483 Einw.

Stolzenfels, Bergschloß im preuß.Regierungsbezirk und Kreis Koblenz, am linken Rheinufer, bei demDorf Kapellen, war im Mittelalter häufig die Residenz derErzbischöfe von Trier und ward 1689 von den Franzosen inTrümmer gelegt. 1836-45 ward das Schloß nach SchinkelsPlan im mittelalterlichen Stil in großartiger Weise neuaufgeführt und im Innern mit allerlei Kunstwerken, darunterFreskomalereien von Deger, Lasinsky, Stilke etc.,geschmückt.

Stolzer Tritt, in der Reitkunst, s. Piaffe.

Stolzit, s. Wolframbleierz.

Stoma (griech.), Mund, Mündung.

Stomachika (lat.), die Verdauung anregende Mittel, s.Digestivmittel.

Stomachus (lat.), der Magen.

Stomakace (griech.), Mundfäule, s.Mundkrankheiten.

Stomatitis (griech.), Entzündung derMundschleimhaut, s. Mundkrankheiten.

Stomatoskop (griech.), Instrument zur Untersuchung desMundes, besonders der Zähne, beruht auf einer Durchleuchtungderselben mittels galvanisch weißglühenden Drahts, dervon einem Glasmantel umgeben ist, oder mittels des DrummondschenKalklichts und soll die ersten Anfänge von Erkrankungenerkennbar machen; vgl. Beleuchtungsapparate.

Stone (engl., spr. stohn, "Stein"), Handelsgewicht, s.Avoirdupois.

Stone (spr. stohn), Stadt in Staffordshire (England), amTrent, mit Brauereien und (1881) 5669 Einw.

Stonehaven (spr. stóhn-hewen), Hauptstadt vonKincardineshire (Schottland), an der Mündung des Carron in dieNordsee, hat einen kleinen Hafen, Fischerei und (1881) 3957 Einw.Dabei das Schloß Dunnottar (s. d.).

Stonehenge (spr. stohn-hendsch, "hängender Stein"),eins der imposantesten vorgeschichtlichen Bauwerke bei Amesbury inder englischen Grafschaft Wilts auf der Heide von Salisbury. DerBau bestand einstmals aus einem kreisrunden Säulengang von ca.88 m im Durchmesser, welcher einen Kreis von einzeln stehendenmächtigen Steinen (Menhirs) umgab. Innerhalb dieses zweitenKreises folgte ein eiförmiger Ring aus Trilithen (zweiaufrecht stehende Steine, welche eine Felsplatte tragen) und indiesem wiederum Menhirs in gleicher Anordnung. Dieser vierfacheRing von unbehauenen oder nur roh zugehauenen Granitblöckenwar von einem Wassergraben umgeben. Ungefähr 30 m von demäußern Ring entfernt ragt ein einzeln stehenderFelsblock empor; am Horizont schließt ein andrer gewaltigerRing von Felsblöcken dieses merkwürdige Bauwerk, welchesdie meisten Archäologen als ein von einer Nekropole umgebenesHeiligtum betrachten, ein.

Stonington, Hafenstadt im nordamerikan. StaatConnecticut, Grafschaft New London, am Long Island-Sound, hatSeebäder, Dampfschiffsverbindung mit New York und Boston und(1880) 1755 Einw.

Stonsdorf (Stohnsdorf), Dorf im preuß.Regierungsbezirk Liegnitz, Kreis Hirschberg, östlich vonWarmbrunn, hat eine evang. Kirche, ein Schloß, Bierbrauerei,Likörfabrikation und (1885) 680 Einw.; dabei der Prudelberg,470 m hoch, mit wunderbaren Felspartien.

Stonyhurst (spr. stóhni-hörrst),Jesuitenseminar und Schule in Lancashire (England), in einemSeitenthal des Ribble, 10 km nördlich von Blackburn, 1794gegründet.

Stoof, altes Hohlmaß, besonders in den russischenOstseeprovinzen, =1,275-1,530 Liter.

Stoos (Stoß), Luftkurort im schweizer. KantonSchwyz, 1293 m ü. M., südöstlich von Brunnen, hochüber dem Vierwaldstätter See, unterhalb der Fronalp.

Stoósz, Bergstadt im ungar. Komitat Abauj-Torna,hat (1881) 1076 slowakische und deutsche Einwohner, Eisenwerke undMesserfabriken. 1 km entfernt liegt (622 m ü. M.) derklimatische Kurort S. mit Wasserheilanstalt u. eisenhaltigenQuellen.

Stopfbüchse (Stopfbuchse), Maschinenelement, welcheseine Öffnung in einer Gefäßwand dampf-, luft- oderwasserdicht machen soll, wenn durch dieselbe eine beweglicheStange, z. B. die Kolbenstange einer Dampfmaschine, hindurchgeht.Es hat in der Regel die nebenstehende Form; a ist dieGefäßwand mit dem Stopfbüchsenunterteil, b dieBrille, welche durch Schrauben gegen erstere angedrückt werdenkann. Der

Stopfbüchse.

350 Stopfen - Storch.

Raum c enthält das Dichtungsmaterial (Packung), ausHanfzöpfen mit Talg oder einer mit Talkum gefülltenBaumwollschnur oder aus Asbest bestehend. Durch Anziehen derSchrauben wird die vollkommene Dichtigkeit hergestellt. Dievielfach gemachten Versuche, die bisher gebräuchlichen, oft zuerneuernden Packungsmaterialien durch eine dauerhaftereMetallliderung, wie bei den Kolbendichtungen, zu ersetzen, habenbisher noch zu keinem brauchbaren Resultat geführt.

Stopfen, eine Nadelarbeit, durch welche die fehlenden oderzerrissenen Fäden einer Strickarbeit oder eines Gewebesersetzt werden. Man bedient sich beim S. einer Strickarbeitdesselben Materials, aus dem das beschädigte Stückhergestellt ist. Zum S. eines Kleiderstoffs nimmt man am bestenausgezogene Fäden eines neuen Stücks desselben Stoffes.Bei leinenen Geweben verwendet man Glanzgarn, bei baumwollenenStopfgarn (Twist). Die Stopffäden dürfen nur lose gedrehtsein, damit sie gut füllen. Die Stopfnadeln sind lang, vomAnfang bis zum Ende fast gleich stark, haben ovales Öhr undstumpfe Spitze. Da die Stopfe möglichst genau das Gewebenachahmen soll, gibt es verschiedene Stopfstiche (Leinen-,Köper-, Damast-, Tüll-, Strickstopfstiche etc.). DieGewebestopfen unterscheiden sich durch die zur Herstellung desMusters verschiedene Anzahl der aufgenommenen Fäden. DieStrickstopfe bildet Maschen, die Tüllstopfe ahmt dieeigentümliche, aber gleichmäßige Art des Gewebesnach. Zur Herstellung einer Gewebestopfe zieht man zuerst dieparallel nebeneinander liegenden Kettenfäden ein und danachdie quer durchlaufenden Einschlagfäden, mit welchen man dasMuster bildet. Beide müssen so weit durch den Stoff gezogenwerden, wie derselbe schadhaft ist. Alle Gewebestopfen werden aufder linken Seite ausgeführt. Zum S. einer Strickerei verwendetman außer der Maschen- auch die Gitterstopfe, welchevollkommen der Leinwandstopfe gleicht. Die Fäden desTülls laufen in drei Richtungen. Man zieht zuerst dieschrägen, sich kreuzenden Fäden ein und dann diewagerechten, welche die andern befestigen.

Stopfer, s. Steckling.

Stoppelrübe, s. Raps.

Stoppelschwamm, Pilz, s. v. w. Hydnum repandum.

Stoppine (ital.), ein früher zur Entzündung vonGeschützladungen dienendes Ende Zündschnur inPapierhülse, auch die Zündschnur selbst.

Stor (schwed.), in zusammengesetzten Ortsnamenvorkommend, bedeutet "groß".

Stör (Acipenser L.), Gattung aus der Ordnung derSchmelzschupper und der Familie der Störe (Acipenserini),Fische mit gestrecktem, mit fünf Reihen großer,gekielter Knochenschilder bedecktem Körper, gestreckter,unbeweglicher Schnauze, unten mit vier Barteln undunterständigem, weit nach hinten gerücktem, kleinem,zahnlosem Maul. Der Kopf ist von Knochenplatten dicht undvollständig eingehüllt, und über dem Kiemendeckelbefindet sich jederseits ein Spritzloch. Die nicht mit Knochenbelegten Hautstellen sind durch kleinere oder größereKnochenkerne oder Knochenspitzen rauh. Die zwei Flossenpaare sowiedie drei unpaarigen Flossen werden von gegliederten, biegsamenKnochenstrahlen gestützt, nur die beiden Brustflossen besitzenaußerdem einen starken Knochen als ersten Flossenstrahl. Diekurze Rückenflosse steht dicht vor der Afterflosse, das nachaufwärts gebogene, den obern Lappen der großenSchwanzflosse bildende Schwanzende ist sensenförmiggekrümmt. Der gemeine Stör (A. Sturio L., s. Tafel"Fische II", Fig. 20), bis 6, meist nur 2 m lang, mitmäßig gestreckter Schnauze, einfachen Bartfäden,dicht aneinander gereihten, großen Seitenschildern und vornund hinten niedrigen, in der Mitte hohen Rückenschildern, istoberseits bräunlich, unterseits weiß, bewohnt denAtlantischen Ozean, die Nord- und Ostsee und das Mittelmeer, geht,um zu laichen, bis Mainz, Minden, Böhmen, Galizien und liefertviel Elbkaviar und Hausenblase. Der Sterlett (A. Ruthenus L.), 1 mlang, bis 12 kg schwer, mit langgestreckter, dünner Schnauze,ziemlich langen, nach innen gefransten Bartfäden, nach hintenan Höhe zunehmenden und in eine scharfe Spitze endigendenRückenschildern, ist oberseits dunkelgrau, unterseits heller,bewohnt das Kaspische und Schwarze Meer und steigt in der Donau bisUlm empor; er liefert Kaviar und Hausenblase. Der Scherg(Sternhausen, Sewruga, A. stellatus Pall.), 2 m lang, bis 25 kgschwer, mit sehr langer, schwertförmiger, spitzer Schnauze,einfachen Bartfäden, voneinander getrennten Seiten- und nachhinten an Höhe zunehmenden, in eine Spitze endigendenRückenschildern, ist auf dem Rücken rötlichbraun,oft blauschwarz, an den Seiten und am Bauch weiß, bewohnt dasSchwarze und Kaspische Meer und liefert Kaviar und Hausenblase. DerOsseter (Esther, Waxdick, A. Gueldenstaedtii Brandt), 2-4 m lang,mit kurzer, stumpfer Schnauze, einfachen Bartfäden u.sternförmigen Knochenplättchen, ist dem S. ähnlichgefärbt, bewohnt die Flußgebiete des Schwarzen undKaspischen Meers, gelangt bisweilen nach Bayern, liefert Kaviar undHausenblase. Der Hausen (A. Huso L.), bis 8 m lang und 1600 kgschwer, mit kurzer Schnauze, platten Bartfäden, vorn undhinten niedrigen, in der Mitte höhern Rückenschildern undkleinen, voneinander getrennt stehenden Seitenschildern, istoberseits dunkelgrau, unterseits schmutzig weiß, bewohnt dasSchwarze Meer und liefert die größte Menge desrussischen Kaviars, auch Hausenblase. Die Störe leben amGrunde der Gewässer und bewegen sich in Sand oder Schlamm halbeingebettet langsam fort, mit der Schnauze Nahrung suchend. Diesebesteht aus Würmern, Weichtieren und Fischen, welch letzteresie jagend verfolgen. Sie wandern in Gesellschaften von Märzbis Mai, legen ihre zahlreichen Eier am Grunde der Flüsse abund kehren bald ins Meer zurück, während die Jungenlange, vielleicht zwei Jahre, in den Flüssen verweilen. ImSpätherbst gehen sie wieder in die Flüsse, um, mit denKöpfen in den Schlamm vergraben, Winterschlaf zu halten. Durchdie rücksichtslose Verfolgung hat die Zahl der Störestark abgenommen. Die großartigsten Fischereien befinden sichin den Strömen, welche ins Schwarze und Kaspische Meermünden, an den Mündungen der Wolga, des Dnjestr, Dnjepr,der Donau und in der Meerenge von Jenikale oder Kaffa. Das Fleischaller Störe ist wohlschmeckend und kommt frisch, gesalzen undgeräuchert in den Handel. Es wurde schon von den Altenhochgeschätzt, und in England und Frankreich gehörte eszu den Vorrechten der Herrscher, Störe für den eignenBedarf zurückzuhalten.

Stör, Fluß in der preuß. ProvinzSchleswig-Holstein, entspringt südwestlich vonNeumünster, ist 75 km lang (40 km schiffbar) und mündetrechts unterhalb Glückstadt bei Störort in die Elbe.

Storax, Storaxbalsam, s. Styrax.

Storaxbaum, Pflanzengattung, s. v. w. Styrax;amerikanischer S., s. Liquidambar.

Storch (Ciconia L.), Gattung aus der Ordnung der Reiher-oder Storchvögel und der Familie der Störche (Ciconiidae), verhältnismäßig plump ge-

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Storch - Storchschnabel.

baute Tiere mit langem, kegelförmigem, geradem, an denscharfen Schneiden stark eingezogenem Schnabel, hohen, weitüber die Fersengelenke hinauf unbefiederten Beinen, untenbreiten Zehen, deren äußere und mittlere bis zum erstenGelenk durch eine Spannhaut verbunden sind, stumpfen, glattenKrallen, langen, breiten, ziemlich stumpfen Flügeln, inwelchen die dritte und vierte Schwinge am längsten sind,kurzem, abgerundetem Schwanz und oft nackten Stellen an Kopf undHals. Sie sind über alle Erdteile verbreitet, amhäufigsten in den heißen; sie bevorzugen ebene,wasserreiche, waldige Gegenden, ruhen nachts und nisten aufBäumen, einzelne aber mit Vorliebe auf Gebäuden. Siefliegen sehr schön, gehen schreitend, waten gern im Wasser,schwimmen aber nur im Notfall; ihre Stimme besteht nur in Zischen,dafür klappern sie mit dem Schnabel besonders in der Erregungsehr laut. Sie leben gesellig, manche als halbe Haustiere, ohneindes jemals ihre Selbständigkeit aufzugeben. Sie stellenallen Tieren nach, welche sie bewältigen können, und sindsehr raubgierig; einzelne fressen auch Aas. Der weiße S.(Adebar, Ebeher, Honoter, Haus-, Klapperstorch, C. alba L.), 110 cmlang, 225 cm breit, ist weiß mit Ausnahme der schwarzenSchwingen und längsten Deckfedern; die Augen sind braun, derkahle Fleck um dieselben grauschwarz, Schnabel und Füßesind rot. Er bewohnt Europa mit Ausnahme des höchsten Nordens,auch Vorderasien, Persien, Japan, die Atlasländer und dieKanaren, ist aber höchst selten in England, in fast ganzGriechenland seit dem Unabhängigkeitskrieg ausgerottet;häufig findet er sich in Norddeutschland und Westfalen; imGebirge ist er unbekannt. Im Winter durchschweift er ganz Afrikaund Indien. In Norddeutschland erscheint er etwa Mitte Märzund weilt bis Mitte August. Er baut sein Nest aus groben Reisernauf starken Bäumen, am liebsten auf den Dächern derHäuser in Städten und Dörfern, und daswiederkehrende Paar bezieht stets das alte Nest wieder. Ernährt sich von Fröschen, Schlangen, Eidechsen, nacktenSchnecken, Fischen, Regenwürmern, Mäusen,Maulwürfen, jungen Hasen, mancherlei Insekten (Bienen!),plündert aber auch die Nester aller Bodenbrüter,verschlingt die Eier und die Jungen und zeigt bisweilen großeMordlust. Die unverdaulichen Bestandteile seiner Nahrung speit erin Gewöllen aus. Der angeschossene S. kann Menschen und Hundengefährlich werden. Die Ehe des Storchenpaars wird imallgemeinen für das ganze Leben geschlossen, doch hat manmehrfach Fälle von Untreue beobachtet. Das einmalbegründete Nest wird von demselben Paar lange Jahre benutzt,aber jährlich ausgebessert. Mitte oder Ende April legt dasWeibchen 2-5 weiße Eier und brütet sie in 28-31 Tagenaus. Vor dem Abzug versammeln sich alle Störche einer Gegend,und unter großem Geklapper bricht endlich das ganze Heer auf.Man kann die Jungen leicht zähmen, so daß sie auf demHof unter dem andern Geflügel herumlaufen. Der schwarze S. (C.nigra Bechst.), 105 cm lang, 198 cm breit, ist schwärzlich,mit grünem und Purpurschiller, an Brust und Bauch weiß;das Auge ist braun, Schnabel und Fuß rot. Er bewohnt Mittel-und Südeuropa, viele Länder Asiens, im Winter Afrika,brütet in ruhigen Waldungen der norddeutschen Ebene, weilt beiuns von Ende März bis August, hat die Lebensweise desHausstorchs, ist aber viel scheuer und wird oft der Fischereischädlich. Bei uns brütet er einzeln, in Ungarn aberbildet er Siedelungen, in welchen 20 und mehr Nester in kurzenEntfernungen voneinander stehen. Das Weibchen legt 2-5 Eier undbrütet dieselben in vier Wochen aus. Der S. ist allenthalbenein gern gesehener Gast, der mitunter selbst abergläubischeAchtung genießt, indem sein Nest das Haus gegen Blitz undFeuersgefahr schützen soll. Auch bei den mohammedanischenVölkern wird er sehr respektiert, weil er zur Verminderungschädlicher Reptilien viel beiträgt. In der Mythologierepräsentiert der S. die regnerische winterliche Jahreszeit.Aus der Wolke oder dem Winter kommt die junge Sonne, dasHeldenkind, heraus, daher der deutsche Kinderglaube, daß dieStörche die Kinder aus dem Wasser bringen.

Storch, Ludwig, Schriftsteller, geb. 14. April 1803 zuRuhla bei Eisenach, studierte in Göttingen und LeipzigTheologie, wandte sich jedoch, von Not und Beruf getrieben,früh der schriftstellerischen Laufbahn zu, welche sichäußerlich zu einer vielbewegten gestaltete und ihm denSegen einer ruhigen Existenz und eines festen Aufenthalts nicht zugewähren vermochte. Am längsten hielt es ihn in Leipzigund Gotha. Seit 1866 lebte er zu Kreuzwertheim in Franken, wo er 5.Febr. 1881 starb. Storchs Talent ist ein begrenztes; doch erfreuenseine "Erzählungen und Novellen" (Leipz. 1853-62, 31 Bde.),wenn sie auch des tiefern poetischen Gehalts ermangeln, ebenso wieseine "Gedichte" (das. 1854) als der Ausdruck eines patriotisch undfreisinnig gestimmten Geistes und eines warm empfindendenGemüts. Die beliebtesten unter den erzählenden Schriftenwaren: "Der Freiknecht" (Leipz. 1829, 3 Bde.); "Die Freibeuter"(das. 1832, 3 Bde.); "Der Jakobsstern" (Frankf. 1836 bis 1838, 4Bde.); "Die Heideschenke" (Bunzl. 1837, 3 Bde.); "Max von Eigl"(Leipz. 1844, 3 Bde.); "Ein deutscher Leinweber" (das. 1846-50, 9Bde.) und "Leute von gestern" (das. 1852, 3 Bde.). Seinen"Poetischen Nachlaß" gab Alex. Ziegler (Eisenach 1882)heraus.

Storchnest, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Posen,Kreis Lissa, hat eine evangelische und eine kath. Kirche, einDemeritenhaus (Disziplinarstrafanstalt für Geistliche) und(1885) 1693 Einw.

Storchschnabel, Pflanzengattung, s. Geranium.

Storchschnabel (Pantograph, früher auch Affe), einzuerst von Christ. Scheiner 1635 in seiner "Pantographia seu arsdelineandires quaslibet" beschriebenes Instrument zurÜbertragung von Zeichnungen in verkleinertem odervergrößertem Maßstab. Die jetzt üblichsteEinrichtung zeigt die beistehende Figur. AB, BC, CD, DA sind vierLineale, die in den Punkten A, B, C, D drehbar miteinanderverbunden sind. Eine Ecke C, auf dem Zeichentisch befestigt, bildetden Drehpunkt (Pivot), die diagonal gegenüberliegende Ecke Aträgt den Fahrstift, welcher mittels einer Handhabe auf der zureduzierenden Zeichnung geführt wird. D und B sind mit Kugelnoder Rollen versehen. Eine fünfte, parallel AD verstellbareLeitschiene trägt den Zeichenstift G, welcher mit AG ingerader Linie liegt. Er wird so eingestellt, daß der AbstandGC zu CA sich verhält wie der Maßstab der reduziertenZeichnung zur Originalzeichnung. Soll eine Zeichnungvergrößert werden, so wird G der Fahrstift und A derZeichenstift. Die Schienen erhalten eine einfache Teilung mitNonien oder eine transversale Teilung. Bei den schweben-

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Storchschnabelgewächse - Störungen.

den Pantographen fällt die Schiene AD fort, das Instrumenthängt mittels Drähte an einem kranenartigen Gestell, sodaß nur der Fahrstift auf der Zeichnung ruht. Das Instrumentist mit einer Libelle, das Gestell mit Dosenniveau versehen.

Storchschnabelgewächse, s. Geraniaceen.

Storchvögel (Reihervögel), s. v. w.Watvögel.

Storck, Wilhelm, Romanist und Übersetzer, geb. 5.Juli 1829 zu Letmathe in Westfalen, studierte von 1850 an inMünchen, Münster und Bonn, später noch in BerlinPhilologie und wurde 1859 außerordentlicher, 1868ordentlicher Professor der deutschen Sprache und Litteratur an derAkademie zu Münster, wo er außer seiner Fachwissenschaftzeitweise auch Sanskrit sowie Provencalisch, Italienisch, Spanischund Portugiesisch lehrt. Litterarisch hat er sich namentlich alsÜbersetzer verdienten Ruf erworben. Seinem Werk "Lose Ranken.Ein Büchlein Catullischer Lieder" (Münst. 1867) und dem"Buch der Lieder aus der Minnezeit" (das. 1872) folgten als seinHauptwerk "Luis de Camoens' sämtliche Gedichte. Zum erstenmaldeutsch" (Paderb. 1880-85, 6 Bde.), denen sich "Hundertaltportugiesische Lieder" (das. 1885) und "Ausgewählte Sonettevon Anthero de Quental" (das. 1887) anschlossen. S. hat auchAusgaben der Gedichte von L. Ponce de Leon (Münst. 1853), Juande la Cruz und Teresa de Jesus (das. 1854) sowie desMinnesängers von Sahsendorf (das. 1868) besorgt.

Store (franz., spr. stör), s. v. w. Rouleau (s.d.).

Store (engl., spr. stohr), Vorrat, Lager.

Storfjord (auch Wijbe Jans Water), Meerbusen imsüdlichen Teil von Spitzbergen, zwischen der Hauptinseleinerseits, Barentsinsel und Edgeinsel anderseits. Zwischen denInseln führen die Walter Thymen-Straße und der Helissundnach O. Im SO. liegen die Tausend Inseln.

Störkanal, s. Elde.

Storkow, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Potsdam,Kreis Beeskow-S., am Dolgensee und am Storkower Kanal, der, 28 kmlang, aus dem Scharmützelsee in die Dahme führt, hat eineevang. Kirche, ein Amtsgericht, eine Dampfmahl- undÖlmühle, Tabaksfabrikation und (1885) 2025 Einw. DieHerrschaft S. kam 1555 durch Kauf an Brandenburg.

Storm, Theodor Woldsen, Dichter und Novellist, geb. 14.Sept. 1817 zu Husum in Schleswig, studierte Rechtswissenschaft zuKiel und Berlin, wo er mit dem Brüderpaar Theodor und Tychom*ommsen in nähere Verbindung trat, und ließ sich nachabgelegter Staatsprüfung 1842 als Advokat in seiner Vaterstadtnieder, verlor aber 1853 als Deutschgesinnter sein Amt und wardhierauf erst als Gerichtsassessor zu Potsdam, dann als Landrichterzu Heiligenstadt angestellt. Nach der Befreiung Schleswig-Holsteinsging er 1864 nach Husum zurück, wo er zunächst zumLandvogt, 1867 zum Amtsrichter und 1874 zum Oberamtsrichterbefördert wurde. Seit 1880 als Amtsgerichtsrat quiesziert,siedelte er nach dem Kirchdorf Hademarschen über, wo er 3.Juli 1888 starb. S. nimmt unter den Lyrikern, besonders aber unterden Novellisten der Gegenwart einen vordersten Rang ein. Alsersterer führte er sich mit dem im Verein mit den beidenMommsen herausgegebenen "Liederbuch dreier Freunde" (Kiel 1843) indie Litteratur ein; "Sommergeschichten und Lieder" (Berl. 1851) undein Band "Gedichte" (das. 1852, 8. Aufl. 1888) folgten nach.Besonders letztere brachten ihm stets wachsende Anerkennung ein.Der Dichter S. erweist sich als eine tiefsinnige, dabei frische undwarmblutige Natur, welche den tausendmal besungenen uralten Themender Lyrik den Stempel des eigensten Empfindens und Genießensaufdrückt. Reicher und mannigfaltiger noch sind seine Gabenauf dem Gebiet der Novellistik. Nachdem er 1852 mit dervielgelesenen, poetisch duftigen Novelle "Immensee" (31. Aufl.,Berl. 1888) aufs glücklichste debütiert, ließ erzahlreiche andre Erzählungen und Novellen erscheinen, diesämtlich Stimmungsbilder von einer Tiefe, Zartheit und Kraftder Empfindung sind, wie sie nur eine ursprüngliche und echteDichternatur schaffen kann. Der Kreis des Lebens, den erdarzustellen liebt, ist eng, aber innerhalb dieses engen Kreiseswaltet Lebensfülle und Lebensglut; der norddeutscheMenschenschlag mit seiner Eigenart, seinem tiefinnerlichenPhantasie- und Gemütsreichtum findet sich in StormsGeschichten in einer fast unerschöpflichen Mannigfaltigkeitder Charaktere geschildert. Dabei ist seine Vor-tragsweisekünstlerisch fein und durchgebildet. Die Titel seiner meistvielfach aufgelegten Novellen sind: "Im Sonnenschein", dreiErzählungen (Berl. 1854); "Ein grünes Blatt", zweiErzählungen (das. 1855); "Hinzelmeier" (das. 1856); "In derSommermondnacht" (das. 1860); "Drei Novellen" (das. 1861); "Lenore"(das. 1865); "Zwei Weihnachtsidyllen" (das. 1865); "DreiMärchen" (Hamb. 1866; 3. vermehrte Aufl. u. d. T.:"Geschichten aus der Tonne", 1888); "Von jenseit des Meers"(Schlesw. 1867); "Zerstreute Kapitel" (Berl. 1873); "Novellen undGedenkblätter" (Braunschw. 1874); "Waldwinkel etc." (das.1875); "Ein stiller Musikant. Psyche. Im Nachbarhause links" (das.1877); "Aquis submersus" (Berl. 1877); "Carsten Curator" (das.1878); "Neue Novellen" (das. 1878); "Drei neue Novellen"("Eekenhof" etc., das. 1880); "Die Söhne des Senators" (das.1881); "Der Herr Etatsrat" (das. 1881); "Schweigen" und "Hans undHeinz Kirch" (das. 1883); "Zur Chronik von Grieshuus" (das. 1884);"Ein Bekenntnis" (das. 1887); "Der Schimmelreiter" (das. 1888) etc.Außerdem besitzen wir von S. eine wertvolle kritischeAnthologie: "Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius" (4.Aufl., Braunschw. 1877). Eine Gesamtausgabe seiner Schriftenerschien in 18 Bänden (Braunschw. 1868-88). Vgl. ErichSchmidt, Theodor S. (in "Charakteristiken", Berl. 1886), und dieBiographien von Schütze (das. 1887) und Wehl (Altona1888).

Stormarn, Landschaft im südlichen Teil derpreuß. Provinz Schleswig-Holstein, bildet ein Dreieck,welches im N. durch die Stör von dem eigentlichen Holstein, imO. durch die Trave von Wagrien und durch die Bille vonSachsen-Lauenburg, im SW. durch die Elbe von Hannover geschiedenwird. Sie war mit Holstein stets denselben Fürsten unterthan.Ein Teil derselben bildet jetzt den Kreis S. mit Wandsbeck alsKreisstadt.

Storno (Ritorno), s. v. w. Ristorno (s. d.).

Stornoway (spr. stórno-ue), Hafenstadt auf derOstküste der Hebrideninsel Lewis, mit großartigemFischereibetrieb (Kabeljau, Heringe und Leng) und (1881) 2627 Einw.Zu seinem Hafengebiet gehören (1887) 695 Fischerboote. S. istSitz eines deutschen Konsuls.

Storozynetz, Hauptort einer Bezirkshauptmannschaft in derBukowina, am Sereth, mit Bezirksgericht und (1880) 4852 Einw.

Storthing, die reichsständige Versammlung vonNorwegen (s. d., S. 250).

Störungen (Perturbationen), in der Astronomie diedurch die Anziehung der übrigen Körper des Sonnensystemsbewirkten Änderungen in der Bewegung der Planeten und Kometenum die Sonne

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Story - Stosch.

sowie der Monde um ihre Hauptplaneten. Gehörte nur eineinziger Planet zur Sonne, so würde sich dieser genau nach denbeiden ersten Keplerschen Gesetzen (s. Planeten, S. 109) bewegen.Durch die Anziehung der Massen der übrigen Planeten wird aberder Planet gezwungen, von dieser Bewegung abzuweichen. Ein Teildieser Abweichungen wiederholt sich nach Verlauf eines gewissenZeitraums sowohl der Art als der Größe nach, es sinddies die periodischen S.; andre, die säkularen S., gehen immerin derselben Richtung weiter und veranlassen also dauerndeÄnderungen der Planetenbahnen. Laplace hat gezeigt, daßdie großen Achsen der Planetenbahnen und daher auch dieUmlaufszeiten keinen säkularen S. unterworfen sind; auch dieExzentrizitäten und Neigungen der Bahnen unterliegen nichteigentlichen säkularen, aber doch periodischen S. von solanger Dauer, daß sie den Charakter säkularer haben.Dagegen sind die Längen der Perihelien und der Knotensäkularen S. unterworfen und können daher im Lauf derJahrtausende alle Werte von 0-360° annehmen. Die S. dergroßen Planeten sind von Leverrier untersucht worden, derauch durch eine umgekehrte Störungsrechnung den PlanetenNeptun entdeckte. Weit beträchtlicher als die S., welche diegroßen Planeten erleiden, die ziemlich weit voneinanderentfernt sind und sich nahezu in derselben Ebene bewegen, sinddiejenigen, welche die kleinen Planeten und die Kometen erfahren,weil sie nicht selten in die Nähe größererPlaneten, namentlich des Jupiter, kommen. Die S. des Mondesrühren fast ausschließlich von der Sonne her, die vonden Planeten verursachten sind sehr unbedeutend. Diebemerkenswertesten S. des Mondes sind: die von Ptolemäos (130n. Chr.) entdeckte Evektion (s. d.), die Variation, von Abul Wefaim 10. Jahrh. und später von Tycho Brahe entdeckt, welcheihren größten Wert, 0,65° Länge, in den vierOktanten, d. h. den zwischen den Syzygien und Quadraturen in derMitte liegenden Punkten, erreicht, in letztern aber verschwindet,und die jährliche Gleichung, welche die Länge des Mondes6 Monate lang vermehrt und 6 Monate lang vermindert, in dermittlern Entfernung der Erde von der Sonne (Anfang April undOktober) aber verschwindet. Bemerkenswert sind noch ein paar kleineS. des Mondes, die von der Sonnenparallaxe und der Abplattung derErde abhängen, so daß man umgekehrt aus der Mondbewegungdiese Größen berechnen kann (vgl. Erde und Sonne). Vgl.Dziobek, Die mathematischen Theorien der Planetenbewegungen (Leipz.1888).

Story, 1) Joseph, nordamerikan. Staatsmann undRechtsgelehrter, geb. 18. Sept. 1779 zu Marblehead bei Boston, wardals Advokat in seiner Vaterstadt 1805 in das Unterhaus vonMassachusetts gewählt, 1811 zum Richter an demalljährlich sich in Washington zur Kongreßzeitversammelnden Bundesgerichtshof berufen und 1829 zum Professor derRechte an der Harvard-Universität zu Cambridge bei Bostonernannt. Als solcher hatte er über Naturrecht,Völkerrecht, See- und Handelsrecht, Billigkeitsrecht undStaatsrecht der Vereinigten Staaten zu lesen und verfaßteüber fast alle diese Disziplinen Lehrbücher, die auch inEngland für klassisch gelten. Das für Deutschlandbedeutendste unter diesen Werken sind die "Commentaries on theconstitution of the United States" (4. Aufl., Bost. 1873, 2 Bde.;deutsch im Auszug, Leipz. 1838). Nach diesen sind hervorzuhebenseine "Miscellaneous writings, literary, critical. juridical andpolitical" (Bost. 1835). S. starb 10. Sept. 1845 in Cambridge. Vgl.W. Story, Life and letters ofJ. S. (Lond. 1851).

2) William Wetmore, nordamerikan. Bildhauer und Dichter, Sohndes vorigen, geb. 19. Febr. 1819 zu Salem in Massachusetts,studierte Rechtswissenschaft und war eine Zeitlang als praktischerJurist thätig, wandte sich dann aber ausschließlich derKunst und Litteratur zu und ließ sich 1848 in Rom nieder, woer noch lebt. S. schuf teils Idealgestalten, welche sich durchGröße der Auffassung, geistige Vertiefung undmeisterhafte Marmorbearbeitung auszeichnen, wie z. B. Kleopatra,Sappho, Judith, Medea, eine Sibylle, Moses, Saul, teilsPorträtstatuen, wie z. B. die seines Vaters, Peabodys(London), E. Everetts (Boston) und das Nationaldenkmal inPhiladelphia. Von seinen poetischen Werken nennen wir: "Nature andart" (1844); "Poems" (1847; neue Ausg. 1885, 2 Bde.); "A Romanlawyer in Jerusalem" (1870, Versuch einer Rettung desVerräters Judas); die "Tragedy of Nero" (1875); dieDichtungen: "Ginevra da Siena" (1866, in "Blackwood's Magazine"),"Vallombrosa" (1881), "He and she, or a poet's portfolio" (1883, 8.Aufl. 1886) und "Fiammetta, a summer idyl" (1885). Außer derBiographie seines Vaters (s. S. 1) schrieb er noch: "Roba di Roma,or walks and talks about Rome" (Lond. l862, 7. Aufl. 1875), wozu1877 eine Fortsetzung unter dem Titel : "Castel St. Angelo"erschien; "Proportions of human figure; the new canon" (1866);"Graffiti d'Italia" (1869, 2. Aufl. 1875) u. a.

Stosch, 1) Philipp, Baron von, Kunstkenner, geb. 22.März 1691 zu Küstrin, widmete sich theologischen undhumanistischen Studien und suchte dann auf Reisen seine Kenntnisder alten Kunstdenkmäler auszubilden. Später lebte er alsenglischer Agent in Rom und seit 1731 in Florenz, wo er 7. Nov.1757 starb. Er hinterließ einen reichen Schatz vonKunstsachen aller Art, Landkarten, Kupferstichen, Zeichnungen (324Folianten, jetzt in der kaiserlichen Bibliothek zu Wien), Bronzen,Münzen, besonders aber geschnittenen Steinen, deren KatalogWinckelmann ("Description des pierres gravées du feu baronde S.", Flor. 1760) herausgab. Friedrich II. kaufte 1770 dieHauptsammlung, mit Ausnahme der etrurischen Gemmen, die nach Neapelverkauft waren, der Prinz von Wales die Sammlung von Abgüssenneuerer Münzen. Eine Auswahl von Gemmen aus dem StoschschenKabinett, das Merkwürdigste der alten Mythologiezusammenfassend, findet sich in Schlichtegrolls "DactyliothecaStoschiana" (Nürnb. 1797-1805, 2 Bde.) erläutert. Vgl.Justi, Briefe des Barons Phil. v. S. (Marb. 1872).

2) Albrecht von, Chef der deutschen Admiralität, geb. 20.April 1818 zu Koblenz, erhielt seine Erziehung im Kadettenkorps undtrat 1835 als Sekondeleutnant in das 29. Infanterieregiment, ward1856 Major im Großen Generalstab, 1861 Chef des Generalstabsdes 4. Armeekorps und Oberst, 1866 Generalmajor. Im Kriege gegenÖsterreich war er Oberquartiermeister der zweiten Armee, vomDezember 1866 bis 1870 Direktor desMilitärökonomiedepartements im Kriegsministerium, ward1870 Generalleutnant, erhielt im Krieg 1870/71 den schwierigenPosten eines Generalintendanten der deutschen Heere und erwarb sichauf demselben durch seine musterhafte Leitung desVerpflegungswesens die allergrößten Verdienste. ImDezember 1870 ward er zum Generalstabschef des Großherzogsvon Mecklenburg und nach dem Friedensschluß zumGeneralstabschef bei der in Frankreich bleibendenOkkupationsarmee

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Stoß - Stösser.

ernannt. Am 1. Jan. 1872 ward er Chef der deutschenAdmiralität und Staatsminister sowie Mitglied des Bundesratsund 1875 zum General der Infanterie und Admiral befördert. S.entwickelte eine große Energie und Thatkraft, indem erwissenschaftliche Institute (Seewarte, hydrographisches Büreauund Marineakademie) schuf, die deutsche Kriegsflottebeträchtlich vergrößerte, den Bau der Schiffe aufeinheimischen Werften ermöglichte und die straffe Disziplinder preußischen Landarmee auf die Marine übertrug. Dasletztere Bestreben stieß allerdings vielfach auf Widerstandseitens der ältern Seeoffiziere. Auch für dasUnglück des Großen Kurfürsten wurde S.verantwortlich gemacht, zumal er den Admiral Batsch (s. d.) eifrigin Schutz nahm. Er erhielt 20. März 1883 auf sein Gesuch denAbschied und lebt in Östrich am Rhein.

Stoß , das Zusammentreffen eines in Bewegungbefindlichen Körpers mit einem andern ebenfalls in Bewegungoder in Ruhe befindlichen Körper. In Beziehung auf dieRichtung, in welcher beide Körper zusammentreffen, macht manfolgende Unterschiede. Man nennt den S. zentral, wenn die Richtung,in welcher er erfolgt, mit der Verbindungslinie der Schwerpunktebeider Körper zusammenfällt; ist diese Bedingung nichterfüllt, so nennt man ihn exzentrisch. Ferner nennt man den S.gerade, wenn die Richtung, in welcher er erfolgt, auf derBerührungsfläche beider Körper senkrecht steht; istdies nicht der Fall, so nennt man ihn schief. Treffen zwei Massen(m und m'), die sich mit verschiedenen Geschwindigkeiten (v und v')in derselben Richtung fortbewegen, in geradem, zentralem S.zusammen, so üben sie, während sie sich berühren,einen Druck aufeinander aus, infolge dessen die Geschwindigkeit desvorangehenden vermehrt, die des nachfolgenden vermindert wird. Dadieser Druck auf beide Massen während derselben Zeit wirkt, somüssen sich die hervorgebrachtenGeschwindigkeitsveränderungen umgekehrt verhalten wie dieMassen. Sind also c und c' die Geschwindigkeiten der Körpernach dem S., so verhält sich $c-v:v'-c'=m':m$, woraus folgt,daß $mc+m'c'=mv+m'v'$. Das Produkt einer Masse mit ihrerGeschwindigkeit nennt man ihre "Bewegungsgröße"; dievorstehende Gleichung drückt also aus, daß die Summe derBewegungsgrößen vor und nach dem S. die nämlicheist. Sind die beiden Körper unelastisch, so gehen sie, nachdemjeder eine Abplattung erfahren hat, vereinigt mitgemeinschaftlicher Geschwindigkeit weiter, d. h. es ist $c'=c$ undfolglich $(m+m')c=mv+m'v'$. Die gemeinsame Geschwindigkeit nach demS. ($c$) ergibt sich demnach, wenn man die Summe derBewegungsgrößen durch die Summe der Massen dividiert.Bewegen sich die Körper in entgegengesetzter Richtung, so istdie Geschwindigkeit des einen negativ zu rechnen. Mit dem S.unelastischer Körper ist ein Verlust an lebendiger Kraftverbunden, welcher für die Zusammendrückung derKörper, Erzeugung von Wärme, Schall etc. verbraucht wird.Sind die Körper dagegen vollkommen elastisch, so gleicht sichdie Formänderung sofort wieder aus, indem jeder Körperseine ursprüngliche Gestalt wieder annimmt; ein Verlust anlebendiger Kraft findet also hier nicht statt, sondern die Summeder lebendigen Kräfte muß vor und nach dem S. dienämliche sein, d. h. es muß $mc^2+m'c'^2=mv^2+m'v'^2$sein. Diese Bedingung, mit der obigen, daß die Summe derBewegungsgrößen ungeändert bleibt,zusammengenommen, erlaubt auch in diesem Fall, dieEndgeschwindigkeiten c und c' zu bestimmen. Sind z. B. dieelastischen Massen einander gleich, so geht jede nach dem S. mitderjenigen Geschwindigkeit weiter, welche die andre vor dem S.besaß: sie vertauschen ihre Geschwindigkeiten. Eine ruhendeBillardkugel z. B., welche von einer bewegten zentral getroffenwird, nimmt die Geschwindigkeit der letztern an, während diesean ihrer Stelle in Ruhe bleibt.

Stoß, in der Schweiz die Viehzahl, welche auf einKuhrecht gehalten werden kann (s. Alpenwirtschaft); in derJägersprache der Schwanz des Auerhahns (s. Spiel, S. 142).

Stoß, 1) fahrbarer Paß der Appenzeller Alpen(997 m), führt von Altstätten (470 m) im St. GallischenRheinthal steil hinauf zur Paßhöhe und nun mit geringemGefälle abwärts nach Gais (934 m). Hier 17. Juni 1405Sieg der Appenzeller über Herzog Friedrich vonÖsterreich. -

2) Luftkurort, s. Stoos.

Stoß, Veit, Bildhauer und -Schnitzer, geboren um1438 oder 1440 zu Nürnberg, ging 1477 nach Krakau und war dortbis 1496 thätig. Er schuf daselbst von 1477 bis 1484 denHochaltar für die Marienkirche, in dessen Mittelschrein Todund Himmelfahrt der Maria in überlebensgroßen,vollrunden Figuren, auf dessen Flügeln Szenen aus dem LebenChristi und der Maria in Reliefs dargestellt sind. Nach dem Todedes Königs Kasimir IV. 1492 arbeitete S. dessen Grabmal ausrotem Marmor für die Kathedrale zu Krakau. Gleichzeitigentstand die in Marmor ausgeführte Grabplatte des ErzbischofsZbigniew Olesnicki im Dom zu Gnesen und bald darauf der Altar desheil. Stanislaus für die Marienkirche zu Krakau. 1496 kehrteS. nach Nürnberg zurück, wo er ebenfalls eine sehrfruchtbare Thätigkeit in der Anfertigung von in Holzgeschnitzten Altären, Gruppen und Einzelfiguren entfaltete,deren Umfang zur Zeit noch nicht festgestellt ist. Seine Hauptwerkesind: ein Relief mit der Krönung der Madonna im GermanischenMuseum zu Nürnberg, eine Statue der Madonna in derFrauenkirche, der Englische Gruß in der Lorenzkirche (1518von Anton Tucher gestiftet), vom Gewölbe des Chorsherabhängend und die Figuren des Engels und der Maria in einemmit sieben Medaillons geschmückten Kranz darstellend (voneinem der Medaillons die Figur der Maria auf Tafel "BildhauerkunstVI", Fig. 3), die Meisterschöpfung des Künstlers, und dieRosenkranztafel im Germanischen Museum. In den Köpfen seinerFiguren spricht sich innige und zarte Empfindung aus; doch ist dieFormengebung noch gebunden und der Faltenwurf von der krausenManier des spätgotischen Stils beherrscht. S. war einunruhiger Bürger, welcher dem Rat von Nürnberg vielVerdruß bereitete. Wegen Fälschung wurde er gebrandmarktund beging Verrat an seiner Vaterstadt, den er mit Gefängnisbüßen mußte. Er starb 1533. Vgl. Bergau, DerBitdschnitzer Veit S. und seine Werke (Nürnb. 1884).

Stöße, die Wände der Stollen undSchächte.

Stößen, Stadt im preuß. RegierungsbezirkMerseburg, Kreis Weißenfels, hat eine evang. Kirche, eineZuckerfabrik und (1885) 1404 Einw.; nahebei Braunkohlengruben.

Stösser, Franz Ludwig von, bad. Staatsmann, geb. 21.Juni 1824 zu Heidelberg aus einer alten, aus Straßburgstammenden Beamtenfamilie, studierte in Heidelberg Rechts-, Staats-und Finanzwissenschaft und ward 1855 als Universitätsamtmannund Mitglied des Spruchkollegiums an der dortigen Universitätangestellt. 1859 wurde er Amtsvorstand in Eppingen und 1862 inKonstanz, wo er als Mitbegründer des VolkswirtschaftlichenVereins für die

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Stößer - Stoy.

Errichtung von Vorschußvereinen eifrig thätig war undzu den Führern der deutschen Partei gehörte. Nachdem er1866-69 den Posten eines Stadtdirektors von Heidelberg bekleidethatte, wurde er zum Rat im Ministerium des Innern und zumLandeskommissar für die Kreise Mosheim, Heidelberg und Mosbachbefördert. Seit 1871 Mitglied der Zweiten Kammer, wurde er1876 zum Präsidenten des Ministeriums des Innern an JollysStelle ernannt. Nachdem er das Gemeindesteuerwesen zumAbschluß gebracht hatte, legte er Anfang 1880 der ZweitenKammer einen Gesetzentwurf über die Prüfungen derkatholischen Geistlichen vor, der aber nicht den Beifall derliberalen Mehrheit der Kammer fand und erst in veränderterGestalt angenommen wurde. Bei Gelegenheit der Vereinfachung derbadischen Staatsverwaltung ward daher S. 20. April 1881 seinesMinisterpostens enthoben u. zum Senatspräsidenten desOberlandesgerichts ernannt und mit der Leitung des evangelischenOberkirchenrats beauftragt.

Stößer, f. v. w. Habicht.

Stoßfuge, beim Vermauern von Steinen die senkrechteFuge im Gegensatz zur wagerechten Lagerfuge; bei Bogen die mit derBogenlinie konzentrische Fuge. Vgl. Gewölbe, S. 311.

Stoßheber, s. Hydraulischer Widder.

Stoßherd, s. Aufbereitung, S. 53.

Stoßmafchine, f. Hobelmaschinen, S. 588, undLochen.

Stoßvogel, s. v. w. Habicht.

Stoßwerk, s. v. w. Prägmaschine, s.Münzwesen, S. 895.

Stötteritz, Dorf in der sächs. Kreis- u.Amtshauptmannschaft Leipzig, südöstlich bei Leipzig, hatEisengießerei und Maschinenfabrikation, Dampfbierbrauerei,Zigarrenfabrikation, Ziegelei u. (1885) 4980 Einw. In der Nähedie Irrenanstalt von Thonberg (s. d.).

Stottern und Stammeln, Bezeichnung der fehlerhaftenSprachweisen, regelwidrigen Lautbildungen und Lautverbindungen,welche nicht auf einem Mangel in dem anatomischen Bau derSprachorgane, sondern lediglich auf mangelhafter Beherrschungderselben durch den Willen beruhen. Dieser Fehler ist namentlichbei jüngern Individuen sehr häufig. Er tritt zurückoder verschwindet, wenn das stotternde Individuum für sichallein spricht, wenn es singt, mit Pathos deklamiert etc. Sobaldaber diese den Stotternden unbefangen machenden Einflüssewegfallen, so tritt ein Mißverhältnis zwischen denBewegungen ein, welche zur Lautbildung, und denjenigen, welche zurAusatmung dienen. Der Stotternde verweilt nämlich bei seinenSprechversuchen unwillkürlich auf der jeweiligen Artikulationder Sprachorgane zu lange und vermag den Vokal nicht unmittelbaranzufügen, so daß der exspiratorische Fluß derSprache durch die zur Lautbildung erforderlichen Muskelaktionennicht momentan, wie im normalen Sprechen, sondern anhaltendunterbrochen wird. Merkel bezeichnet daher das Stottern einfach alseinen Sprachfunktionsfehler, der darin besteht, daß dieMuskelkontraktionen, die wir zum Zweck der Lautbitdung vornehmen,nicht von den Ausatmungsbewegungen überwunden werdenkönnen, wie es eigentlich geschehen sollte. DasMißverhältnis beruht wahrscheinlich zum großenTeil auf einem angebornen Moment, welches wir nicht näherkennen, zum Teil aber sicher auch in einer falschen Erziehung undGewöhnung der für die Sprache thätigenMuskelgruppen. Die Beseitigung des Stotterns erfordert immerlängere Zeit und Geduld, zumal wenn das Übel schon langegedauert hat und der Stotternde über die erste Jugend hinausist. Der Stotternde muß tief einatmen, mit voller Lunge undmit enger Stimmritze ausatmen lernen; die gewaltsame Aktion derlautbildenden Organe muß mechanisch verhindert und derFluß der Rede durch rhythmische Hilfsmittelherbeigeführt und erhalten werden. Zu diesem Zweck müssenbesondere sprachgymnastische Übungen unter der Leitung einesmit der Natur des Stotterns vertrauten Lehrers angestellt werden.Abgesehen von dem eigentlichen Stottern, gibt es auch noch eineUnfähigkeit, gewisse Sprachlaute zu bilden; diesenSprachfehler pflegt man als Stammeln zu bezeichnen. Die Fehler,welche man hierzu rechnen muß, sind fast so zahlreich, als esverschiedene Buchstaben gibt. Bemerkenswert ist ein Stammeln,welches in fehlerhafter Verbindung von Silben und Wörternbesteht und bei Kindern, namentlich bei Mädchen von 9-10Jahren, öfter als Symptom des Veitstanzes vorkommt.Gebildetere Personen, welche in der Jugend an einem solchen Fehlerlitten, lernen zuweilen allmählich den Fluß der Rededadurch herstellen, daß sie beliebige fremdartige Töne,Silben oder selbst Wörter (in welchen besonders der Laut ngund gn vorwaltet) stellenweise ihrer Rede beimischen und damit diePausen und Unterbrechungen ausfüllen, welche sonst entstehenwürden. Vgl. Merkel, Anthropophonik (Leipz. 1856);Kußmaul, Die Störungen der Sprache (2. Aust., das.1881); Gutzmann, Das Stottern (2. Aufl., Berl. 1887); Coen,Therapie des Stammelns (Stuttg. 1889); Derselbe, DasStotterübel (das. 1889).

Stotternheim, Dorf im sachsen-weimar. Verwaltungsbezirk I(Weimar), an der Linie Sangerhausen-Erfurt der PreußischenStaatsbahn, hat eine evang. Kirche, eine Saline (Luisenhall) mitSolbad und (1885) 1301 Einw.

Stou, 2239 m hoher Berggipfel der Karawanken inKärnten.

Stour (spr. staur), Name mehrerer Flüsse in England,deren wichtigster bei Harwich in die Nordsee fällt.

Stourbridge (spr. staur-bridsch), Stadt imnördlichen Worcestershire (England), südwestlich vonDudley, am Stour, hat wichtige Fabrikation von Glas und Glaswaren,Töpferwaren, feuerfesten Ziegeln und Schmelztiegeln,Eisenwerke und (1885) 9757 Einw.

Stourdza, s. Sturdza.

Stourport (spr. staur-port), Fabrikstadt inWorcestershire (England), an der Mündung des Stour in denSevern, mit Spinnerei, Teppichweberei und (1881) 3358 Einw.

Stout (engl., spr. staut), in England gebrautes starkes,dunkles Bier, wird vielfach gemischt mit dem hellern Ale oderBitter getrunken ("s. and bitter").

Stowe (spr. stoh), Harriet Eliz., s. Beecher 2).

Stowmarket (spr. stohmarket), Stadt in der engl.Grafschaft Suffolk, am schiffbaren Gipping, hat Fabrikation vonKunstdünger und landwirtschaftlichen Geräten und (1881)4052 Einw.

Stoy, Karl Volkmar, namhafter Pädagog, geb. 22. Jan.1815 zu Pegau, studierte in Leipzig und Göttingen Theologie,habilitierte sich 1843 als Privatdozent der Philosophie in Jena, woer zugleich ein pädagogisches Seminar sowie eineErziehungsanstalt gründete, ward 1845 Professor derPhilosophie, 1857 Schulrat; 1865 folgte er einem Ruf an dieUniversität zu Heidelberg, begab sich mit Urlaub 1867 nachBielitz, um dort ein Lehrerseminar nach seinen Grundsätzeneinzurichten, und kehrte 1868 nach Heidelberg zurück. Seit1874 wirkte er wieder als Professor und Schulrat in Jena und starbdaselbst 23. Jan. 1885.

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Strabane - Stradivari.

Seiner philosophischen Richtung nach gehört S. zur SchuleHerbarts. Von seinen Schriften sind hervorzuheben: "Schule undLeben" (Jena 1844-51, 5 Hefte); "Hauspädagogik in Monologenund Ansprachen" (Leipz. 1855); "Haus- und Schulpolizei" (Berl.1856); "Zwei Tage in englischen Gymnasien" (Leipz. 1860);"Encyklopädie, Methodologie und Litteratur der Pädagogik"(2. Aufl., das. 1878); "Organisation des Lehrerseminars" (das.1869); "Philosophische Propädeutik" (das. 1869-70, 2 Tle.) undzahlreiche Aufsätze in der "Allgemeinen Schulzeitung", die S.1870-82 herausgab. Vgl. Fröhlich, Stoys Leben, Lehre undWirken (Dresd. 1885); Bliedner, S. und das pädagogischeUniversitätsseminar (Leipz. 1886).

Strabane (spr. strebänn), Stadt in der irischenGrafschaft Tyrone, am Mourne (Lifford gegenüber), mitLeinweberei, Flachshandel und (1881) 4196 Einw.

Strabismus (griech.), s. Schielen.

Strabon, griech. Geograph, geboren um 60 v. Chr. zuAmasia in Kappadokien aus einer griechischen Familie, unternahmausgedehnte Reisen im Gebiet des Mittelmeers, östlich bisArmenien, westlich bis Etrurien und kam 29 v. Chr. nach Italien, woer sich in Rom längere Zeit aufhielt. Am besten waren ihm auseigner Anschauung Kleinasien, Griechenland, Italien undÄgypten bekannt. Sein Werk "Geographica" (17 Bücher) istneben dem des Ptolemäos die Hauptquelle der alten Geographie;namentlich wurde die Kenntnis des westlichen und nördlichenEuropa durch S. sehr gefördert. Von den Ausgaben sind die vonKramer(Berl. 1844-52, 3 Bde.; kleine Ausg. 1852, 2 Bde.),Müller und Dübner (Par. 1853-56, 2 Bde.) und Meineke(Leipz. 1852-53, 3 Bde.) hervorzuheben. Die beste Übersetzungdes Werkes ist die von Groskurd (Berl. 1831-33, 4 Bde.).

Strabotomie (griech.), Schieloperation.

Stracchino (spr. strackino), s. Käse, S. 584.

Strachwitz, Moritz Karl Wilhelm, Graf von, Dichter, geb.13. März 1822 zu Peterwitz in Schlesien, studierte zu Breslauund Berlin und lebte dann auf seinem Gut Schebetau in Mährenseiner Muse. Auf einer Reise in Venedig erkrankt, starb er bereits11. Dez. 1847 in Wien. Seine Gedichte: "Lieder eines Erwachenden"(Bresl. 1842, 5. Aufl. 1854), "Neue Gedichte" (das. 1848, 2. Aufl.1849) und "Gedichte" (Gesamtausg., das. 1850; 7. Aufl., Berl. 1878)bekunden ein selbständiges, kräftiges Talent und einemännlich starke Individualität, welche in derBegeisterung für das Edle wie im Kampf gegen das Gemeinegleiche Tiefe der Empfindung offenbarte, so daß seinfrüher Tod einen Verlust für die deutsche Dichtung insich schloß. Auch nach formeller Seite reihen sich S.'Gedichte durch ihre hohe künstlerische Durchbildung,Prägnanz und Frische des Ausdrucks den besten lyrischenDichtungen der Neuzeit an.

Strack, 1) Johann Heinrich, Architekt, geb. 24. Juli 1805zu Bückeburg, absolvierte das Feldmesserexamen und kam dann indas Atelier Schinkels. 1834 machte er mit Ed. Meyerheim eineStudienreise in die Altmark, als deren Ausbeute die"Architektonischen Denkmäler der Altmark Brandenburg" mit Textvon Kugler (Berl. 1833) erschienen. 1838 wurde er Baumeister undwar nun bis 1843 als Lehrer der Architektur an der Artillerie- undIngenieurschule, seit 1839 als solcher an der Kunstakademie undspäter in gleicher Eigenschaft an der Bauakademie zu Berlinthätig. Studienreisen führten ihn mit Stüler nachEngland und Frankreich, mit Rauch nach Dänemark. 1845 ward ihmdie Oberleitung des Baues des Schlosses Babelsberg bei Potsdamübertragen. Im Winter 1853/54 begleitete er den PrinzenFriedrich Wilhelm (Kaiser Friedrich) auf einer Reise durch Italienund Sizilien und baute für denselben 1856-58 das alte PalaisKönig Friedrich Wilhelms III. in Berlin aus. 1862 weilte er imAuftrag der preußischen Regierung mehrere Monate in Athen, woer das Dionysostheater am Abhang der Akropolis auffand; 1866-76erbaute er die Berliner Nationalgalerie, und gleichzeitig entstanddas Siegesdenkmal auf dem Königsplatz. Von seinen weiternBauten sind zu nennen: die Petri- und Andreaskirche in Berlin undSchloß Frederiksborg bei Kopenhagen. Er starb 12. Juni 1880in Berlin. Von bleibendem Wert ist seine Schrift "Das griechischeTheater" (Berl. 1863).

2) Hermann, protestant. Theolog, geb. 6. Mai 1848 zu Berlin,studierte daselbst und in Leipzig, wurde 1872 Lehrer in Berlin,arbeitete 1873-76 mit Unterstützung der preußischenRegierung in St. Petersburg und ist seit 1877außerordentlicher Profefsor der Theologie in Berlin. Unterseinen Schriften sind zu nennen: "Prolegomena critica in VetusTestamentum hebraicum" (Leipz. 1873); "Katalog der hebräischenBibelhandschriften in St. Petersburg" (das. 1875, zusammen mitHarkowy); "Prophetarum posteriorum codex BabylonicusPetropolitanus" (das. 1876); "Die Sprüche der Väter" (2.Aufl., Berl. 1888); "Hebräische Grammatik" (2. Aufl., Karlsr.1885); "Elementarschule und Lehrerbildung in Rußland" (in"Rußlands Unterrichtswesen", Leipz. 1882); "Lehrbuch derneuhebräischen Sprache und Litteratur" (mit Siegfried, das.1884); die Streitschrift "Herr Adolf Stöcker" (das. 1886);"Einleitung in das Alte Testament" (3. Aufl., Nördling. 1888)und gab mit Zöckler den "Kurzgefaßten Kommentar zu denHeiligen Schriften Alten und Neuen Testaments" (das. 1888 ff.)heraus. 1885 begründete er die Zeitschrift fürJudenmission "Nathanael".

Strada (ital.), Straße; S. ferrata, Eisenbahn.

Stradbroke (spr. sträddbrok), große Insel ander Südostküste der britisch-austral. Kolonie Queensland,welche mit der Moretoninsel, von der sie durch den Rouskanalgetrennt ist, die Moretonbai (s. d.) bildet; hat einen Leuchtturm.Beide Inseln sind auf der Westküste bewohnt.

Stradella, Stadt in der ital. Provinz Pavia. KreisVoghera, am Aversa und an der Eisenbahn Alessandria-Piacenza, mitIndustrie in Seide, Leder, Weinstein und Weingeist und (1881) 6344Einw.

Stradella, Alessandro, Sänger und Komponist, geb.1645 zu Neapel, wo er auch seine Ausbildung erhielt, begab sichspäter nach Venedig und von dort, nachdem er die Geliebteeines vornehmen Venezianers entführt hatte, nach Rom. Hierentging er mit Glück einem von seinem Nebenbuhler gegen ihnveranstalteten Attentat und floh nach Turin, wo er bei einemzweiten, von Venedig aus gegen ihn unternommenen Mordversuch schwerverwundet wurde. Ein dritter sollte für ihnverhängnisvoll werden; denn als er 1678 einem Ruf nach Genuagefolgt war. um für den Karneval die Oper "La forza dell' amorpaterno" in Szene zu setzen, wurde er am Tag nach seiner Ankunftauf seinem Zimmer erdolcht gefunden. über sein Leben und seineWerke, unter denen er selbst das Oratorium "San Giovanni Battista"als sein vorzüglichstes bezeichnet hat, gibt P. RichardsArbeit "S. et les Contarini" (in der Pariser Musikzeitung "LeMenestrel" 1865, Nr. 51; 1866, Nr. 18) ausführliche undzuverlässige Auskunft.

Stradioten, s. Stratioten.

Stradivari, Antonio, der größte Meisterdes

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Straelen - Strafe.

Violinbaues, geb. 1644 zu Cremona aus einer alten CremoneserPatrizierfamilie, war Schüler von Niccolo Amati, zeichneteseine ersten, für seinen Meister gearbeiteten Violinen mitdessen Namen, verheiratete sich 1667 und fing wohl um dieselbe Zeitan für eigne Rechnung zu arbeiten. Von seinen Söhnenwurden zwei ebenfalls Geigenbauer, nämlich Francesco, geb. 1.Febr. 1671, gest. 11. Mai 1743, und Omobono, geb. 14. Nov. 1679,gest. 8. Juli 1742. Beide arbeiteten mit dem Vater gemeinsam undwaren selbst fast schon Greise, als ihr Vater 18. Dez. 1737 starb.S. baute eine sehr große Zahl Instrumente und zwar ebensovorzügliche Celli wie Violinen, Bratschen und Violen derältern Art (Gamben etc.), Lauten, Guitarren, Mandolinen etc. ;seine letzte bekannte Violine ist von seiner Hand mit 1736 datiert.Sein Sohn Francesco zeichnete von 1725 ab mit seinem Namen, Omobonoarbeitete einige Instrumente mit ihm zusammen, "sotto la disciplinad'A. S."; er scheint mehr mit der Beschaffung des Materials und demVertrieb als mit dem Bau der Instrumente zu thun gehabt zu haben.Vater und beide Söhne ruhen in einem gemeinschaftlichen Grab.Vgl. Fétis, Antoine S. (Par. 1856); Lombardini, Ceuni sullacelebre scuola cremonese etc." (1872); Niederheitmann, Cremona (2.Aufl., Leipz. 1884).

Straelen, Flecken im preuß. RegierungsbezirkDüsseldorf, Kreis Geldern, unweit der Niers und an der LinieVenloo-Haltern der Preußischen Staatsbahn, hat eine kath.Kirche, Seiden- und Samtweberei, Ölmühlen und (1885) 5928meist kath. Einwohner.

Strafabteilungen, in Preußen die durch dasMilitärstrafgesetz von 1873 in Militärgefängnisseumgewandelten Strafanstalten, in welchen an degradiertenUnteroffizieren und Gemeinen Festungs- (jetzt Gefängnis-)Strafe vollstreckt wurde.

Strafanstalten, s. Gefängniswesen.

Strafaufschub (Aufschub des Strafverfahrens), dievorläufige Aussetzung der Vollstreckung einerrechtskräftig zuerkannten Strafe. Solange ein Strafurteil nochnicht rechtskräftig ist, d. h. solange es noch durch einordentliches Rechtsmittel, wie Berufung oder Revision, angefochtenwerden kann, ist die Strafe nicht vollstreckbar. Wird innerhalb derdazu gesetzten Frist ein solches Rechtsmittel eingelegt, so kanndie erkannte Strafe nicht vollstreckt werden, bis über dasRechtsmittel entschieden ist (sogen. Suspensiveffekt desRechtsmittels). Ist aber eine Strafe rechtskräftig erkannt, soist sie zu vollstrecken, doch kann nach der deutschenStrafprozeßordnung (§ 488) ein S. gewährt werden,wenn durch die sofortige Vollstreckung dem Verurteilten oder seinerFamilie erhebliche, außerhalb des Strafzwecks liegendeNachteile erwachsen würden. Der S. darf aber in solchenFällen den Zeitraum von vier Monaten nicht übersteigen;er kann an eine Sicherheitsleistung oder an andre Bedingungengeknüpft werden. In einigen andern Fällen muß einS. eintreten; so, wenn der Verurteilte eine Freiheitsstrafe zuverbüßen hat und in Geisteskrankheit verfällt,ebenso bei andern Krankheiten, wenn von der Strafvollstreckung einenahe Lebensgefahr für den Verurteilten zu besorgen steht, oderwenn dieser sich in einem körperlichen Zustand befindet, beiwelchem eine sofortige Vollstreckung mit der Einrichtung derStrafanstalt unverträglich ist (Strafprozeßordnung,§ 487). Bei Todesurteilen tritt insofern stets ein S. ein, alssie nicht eher vollstreckt werden dürfen, bis dieEntschließung des Staatsoberhaupts, und in denjenigen Sachen,in denen das Reichsgericht in erster Instanz erkannt hat, dieEntschließung des Kaisers ergangen ist, von demBegnadigungsrecht keinen Gebrauch machen zu wollen. An schwangernoder geisteskranken Personen dürfen Todesurteile nichtvollstreckt werden. Durch einen Antrag auf Wiederaufnahme (s. d.)des Verfahrens wird dle Vollstreckung des Urteils nicht gehemmt.Das Gericht kann jedoch einen S. oder eine Unterbrechung derVollstreckung anordnen. Strafbefehl (Strafmandat,Strafverfügung), bei Übertretungen und geringfügigenVergehen der Erlaß des Strafrichters, welcher demBeschuldigten ohne vorgängiges Gehör eine bestimmteStrafe festsetzt. Diese Strafe wird vollstreckbar, wenn derBeschuldigte nicht binnen einer Woche nach der ZustellungEinwendung (Einspruch) dagegen erhebt. Im Fall eines Einspruchswird zur Hauptverhandlung geschritten. Nach der deutschenStrafprozeßordnung darf die in dem S. angedrohte Strafe nichtüber 150 Mk. Geldstrafe oder sechs Wochen Freiheitsstrafehinausgehen. Bei Übertretungen können auchPolizeibehörden Strafbefehle erlassen und Haft bis zu 14 Tagenoder Geldstrafe verfügen. Derartige Strafbefehle heißenStrafverfügungen im Gegensatz zum S. des Amtsrichters und zumStrafbescheid (s. d.) der Verwaltungsbehörde. Vgl. DeutscheStrafprozeßordnung, § 447 ff., 453 ff.;Österreichische, § 460 ff.

Strafbescheid, die von einer Verwaltungsbehörde beiZuwiderhandlungen gegen die Vorschriften über die Erhebungöffentlicher Abgaben und Gefalle erlassene Straffestsetzung.Binnen einer Woche kann in solchen Fällen von demBeschuldigten auf gerichtliche Entscheidung angetragen werden. Vgl.Deutsche Strafprozeßordnung, § 459 ff.

Strafbills, engl. Ausnahmegesetze, welche in Bezug aufbesondere Verbrechen und aufrührerische Zustände erlassenwerden.

Strafe, das wegen eines begangenen Unrechts über denThäter verhängte Übel oder Leiden. Unter den Begriffder S. in diesem weitesten Sinn fällt zunächst diejenigeS., welche ein Ausfluß der Erziehungsgewalt und einesgewissen Aufsichtsrechts ist, wie es namentlich dem Lehrer denSchülern, dem Dienstherrn dem Gesinde, dem Lehrherrn demLehrling gegenüber zusteht. Ferner gehört hierher dieeigentliche Disziplinarstrafe, welche die vorgesetzteDienstbehörde vermöge ihrer Disziplinargewalt (s. d.) demUnterbeamten gegenüber bei Ordnungswidrigkeiten auszusprechenbefugt ist; ebenso die Ordnungsstrafe, welche eine öffentlicheBehörde androhen und in Vollzug setzen kann, um die Befolgungamtlicher Verfügungen zu erzwingen, z. B. bei Vorladungen zuTerminen u. dgl. Auch die Konventionalstrafe, d. h. dievertragsmäßig festgesetzte S. für den Fall derNichterfüllung einer übernommenen Verbindlichkeit,fällt unter den Begriff der S. in dieser Allgemeinheit. Imengern Sinn aber versteht man unter S. nur die sogen. Rechtsstrafe,d. h. diejenige S., welche unmittelbar auf eine Gesetzesvorschriftzurückzuführen und gegen den Übertreter der letzternauszusprechen ist. Hierbei ist dann wiederum zwischen Privatstrafeund öffentlicher S. zu unterscheiden, je nachdem die S. an denVerletzten oder an den Staat zu verbüßen ist, und zwarsind die Privatstrafen in der Gegenwart auf ein Minimum reduziert.Die öffentlichen Strafen aber werden wiederum inPolizeistrafen und Kriminalstrafen eingeteilt, je nachdem es sichnur um die Übertretung einer polizeiltchen Vorschrift oder umdas Zuwiderhandeln gegen ein eigentliches Strafgesetz handelt. Nachden Strafmitteln wird zwischen Todesstrafe, Frei-

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Straferkenntnis - Strafgerichtsbarkeit.

heits- und Vermögensstrafen unterschieden. Die früherüblichen qualifizierten Todesstrafen sind ebenso wie dieverstümmelnden und die in körperlicher Züchtigungbestehenden Leibesstrafen, wenigstens in allen zivilisiertenLändern, abgeschafft. Ehrenstrafen kommen nach Abschaffunggewisser beschimpfender Strafarten, wie z. B. der Prangerstrafe,nur noch als Nebenstrafen, d. h. als die Folgen anderweiter, inerster Linie erkannter Strafen, vor. Das Strafensystem desdeutschen Reichsstrafgesetzbuchs (§ 13 ff.) insbesondere istfolgendes. A. Hauptstrafen: 1) Die mittels Enthauptung zuvollstreckende Todesstrafe (s. d.). 2) Freiheitsstrafen: a)Zuchthausstrafe, entweder lebenslänglich oder zeitig, imMindestbetrag von einem und im Höchstbetrag von 15 Jahren. Diedazu Verurteilten sind zu den in der Strafanstalteingeführten, nach Befinden auch zu öffentlichen Arbeitenaußerhalb der Strafanstalt anzuhalten. Die Zuchthausstrafezieht die dauernde Unfähigkeit zu öffentlichenÄmtern, zum Dienst im Heer und in der Marine nach sich. b)Gefängnisstrafe (Höchstbetrag 5 Jahre, Mindestbetrag einTag). Die dazu Verurteilten können in der Gefangenanstalt aufeine ihren Fähigkeiten und Verhältnissen angemesseneWeise, außerhalb der Anstalt jedoch nur mit ihrer Zustimmungbeschäftigt werden. Auf ihr Verlangen sind dieGefängnissträflinge in angemessener Weise zubeschäftigen. c) Festungshaft, lebenslänglich oder zeitigund zwar im Mindestbetrag von einem Tag, im Höchstbetrag von15 Jahren. Dieselbe besteht lediglich in Freiheitsentziehung mitBeaufsichtigung der Beschäftigung und Lebensweise derGefangenen; sie wird in Festungen oder in andern dazu bestimmtenRäumen vollzogen (sogen. Custodia honesta). Dabei wirdachtmonatige Zuchthausstrafe einer einjährigenGefängnisstrafe, achtmonatige Gefängnisstrafe einereinjährigen Festungshaft gleich geachtet. d) Haft, einfacheFreiheitsentziehung im Mindestbetrag von einem Tag, imHöchstbetrag von 6 Wochen. 3) Geldstrafe, deren Mindestbetragbei Verbrechen und Vergehen auf 3 Mk., bei Übertretungen auf 1Mk. fixiert ist. 4) Verweis, der ausnahmsweise bei jugendlichenPersonen unter 18 Jahren und nur bei besonders leichten Vergehenund Übertretungen zulässig ist. Die Deportation (s. d.)ist dem Strafsystem des deutschen Strafgesetzbuchs unbekannt. B.Nebenstrafen: 1) Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte (s. d.);2) Polizeiaufsicht (s. d.); 3) Ausweisung (s. d.) vonAusländern; 4) Überweisung (s. d.) an dieLandespolizeibehörde; 5) Einziehung oder Konfiskation vonVerbrechensgegenständen. Gegen Militärpersonen kommennach dem deutschen Militärstrafgesetzbuch (§ 14 ff.)folgende Strafen (Militärstrafen) zur Anwendung: DieTodesstrafe, welche im Feld stets, außerdem nur dann, wennsie wegen eines militärischen Verbrechens erkannt worden,durch Erschießen zu vollstrecken ist; als FreiheitsstrafenArrest (s. d.), Gefängnis und Festungshaft. IstZuchthausstrafe verwirkt, oder wird auf Entfernung aus dem Heeroder der Marine oder auf Dienstentlassung erkannt, oder wird dasmilitärische Dienstverhältnis aus einem andern Grundaufgelöst, so geht die Strafvollstreckung auf diebürgerlichen Behörden über. Wo die allgemeinenStrafgesetze Geld- und Freiheitsstrafe wahlweise androhen, darf,wenn durch die strafbare Handlung zugleich eine militärischeDienstpflicht verletzt worden ist, auf Geldstrafe nicht erkanntwerden. Endlich kommen als besondere Ehrenstrafen gegenMilitärpersonen vor: Entfernung aus dem Heer oder der Marine,gegen Offiziere Dienstentlassung, gegen Unteroffiziere Degradationund gegen Unteroffiziere und Gemeine Versetzung in die zweiteKlasse des Soldatenstandes.

Straferkenntnis, s. Urteil.

Strafford, Thomas Wentworth, Graf von, engl. Staatsmann,geb. 13. April 1593 aus einer alten Familie der Grasschaft York,trat 1621 in das Unterhaus, wo er der Politik Jakobs I. und KarlsI. Opposition machte. Bald aber veranlaßte ihn sein Ehrgeiz,seinen Frieden mit dem Hof zu machen; nach Buckinghams Ermordungernannte ihn der König 1628 zum Peer und 1629 zum Mitglied desGeheimen Rats und Präsidenten der Regierung der Nordprovinzen.Wentworth ward bald neben dem Bischof Laud die festeste StützeKarls I., dessen Bestrebungen, die Macht der Krone bis zurUnumschränktheit zu steigern, an ihm den kräftigstenHelfer fanden. 1632 als Statthalter nach Irland gesandt, brachte erdort, allerdings nur durch despotische Herrschaft, das Ansehen desKönigtums zu unbedingter Anerkennung. Beim Ausbruch desschottischen Aufstandes 1638 drängte er dem irischen Parlamentdie Bewilligung reichlicher Subsidien für dieUnterdrückung der Bewegung ab und ward hierfür von KarlI. zum Grafen von S. und Lord-Lieutenant von Irland erhoben. Nachder Auflösung des Kurzen Parlaments von 1640 kommandierte erwährend des Kampfes gegen die Schotten die königlichenTruppen in Yorkshire. Als dann aber der König sichgenötigt sah, das Parlament wieder zu berufen, erhob 11. Nov.1640 das Haus der Gemeinen gegen ihn die Anklage auf Hochverrat,weil er dem König zum Kriege gegen das Volk und zurUntergrabung der Grundgesetze des Reichs geraten habe. S.verteidigte sich sehr geschickt, und seine Freisprechung bei denLords schien gesichert, als das Unterhaus auf Haslerighs Antrag denWeg des gerichtlichen Verfahrens verließ und durch die Billof attainder den verhaßten Minister wegen Hochverrats zum Todverdammte. Die Lords, vom Volk terrorisiert, traten mit 7 StimmenMehrheit diesem Beschluß bei; als der König schwankte,denselben zu bestätigen, beschwor S. ihn in einemgroßherzigen Brief, ihn um seines eignen Heils willen zuopfern. Da unterzeichnete der Monarch 10. Mai 1641 das Urteil, undStraffords Haupt fiel 12. Mai 1641 unter dem Schwerte des Henkers.Nach der Restauration Karls II. wurde seine "Ehrewiederhergestellt"; sein ältester Sohn erhielt Titel undPeerswürde des Vaters. Seine Briefe etc. wurden 1740 in 2Bänden veröffentlicht. Vgl. Lally-Tollendal, Vie du comtede S. (Lond. 1795, 2 Bde.; Par. 1814); Cooper, Life of Thom.Wentworth Earl of S. (Lond. 1874).

Strafgerichtsbarkeit (Kriminalgerichtsbarkeit, peinlicheGerichtsbarkeit, Jurisdictio criminalis), die Befugnis zurAusübung der Rechtspflege auf dem Gebiet des Strafrechts. AlsAusfluß der Staatsgewalt kann die Ausübung der S. nurdem Staat und seinen Organen zustehen, wie dies im deutschenGerichtsverfassungsgesetz vom 27. Jan. 1877 (§ 15)ausdrücklich erklärt ist. Diese Ausübung der S. istaber regelmäßig den ordentlichen Gerichten und nurausnahmsweise in leichtern Fällen den Polizeibehördenübertragen. Nach der deutschen Strafprozeßordnung(§ 453 ff.) darf sich die Strafgewalt der letztern nur aufÜbertretungen erstrecken, auch kann die Polizeibehördekeine andre Strafe als Geldstrafe oder Haft bis zu 14 Tagenaussprechen; indes ist dem Beschuldigten derartigenStrafverfügungen der Polizeibehörde gegenübernachgelassen, binnen einer Woche nach der Bekanntmachung der Strafeauf gerichtllche Entscheidung anzutragen. Wer die S. aus-

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Strafgerichtsverfassung - Strafprozeß

zuüben hat, ist in der Gerichtsverfassung (s. Gericht), undwie, d. h. in welcher Form, sie auszuüben ist, imStrafprozeßrecht bestimmt (s. Strafprozeß). Die dabeizur Anwendung kommenden Strafnormen bilden den Gegenstand desStrafrechts (s. d.).

Strafgerichtsverfassung, s. Gericht, S. 166.

Strafgefetzbuch, umfassendes Gesetz über die von derStaatsgewalt zu ahndenden verbrecherischen Handlungen und überdie Strafen, welche dieselben nach sich ziehen. Von den einzelnenVerbrechen handelt der besondere Teil, während die allgemeinenstrafrechtlichen Grundsätze in dem allgemeinen Teildargestellt sind. Der allgemeine Teil des deutschenStrafgesetzbuchs insbesondere handelt im ersten Abschnitt von denStrafen, im zweiten vom verbrecherischen Versuch, im dritten vonder Teilnahme am Verbrechen und im vierten Abschnitt von denGründen, welche die Strafe ausschließen oder mildern. Imbesondern Teil sind dann die einzelnen Verbrechen, Vergehen undÜbertretungen sowie deren Bestrafung behandelt (s.Strafrecht).

Strafgewalt, s. Strafrecht, S. 362.

Strafkammer, s. Landgericht.

Strafkolonien, s. Kolonien, S. 956, und Deportation.

Strafkompanie (Disziplinartruppen), in Frankreich,Italien und Rußland Truppenteile, in welche Soldatenstrafweise versetzt werden.

Strafliste, s. Strafregister.

Strafmandat, s. Strafbefehl.

Strafpolitik, s. Strafrecht, S. 362.

Strafprozeß (Strafverfahren, Kriminalprozeß,franz. Procédure oder Instruktion criminelle), dasgerichtliche Verfahren, welches in denjenigen Fällen Platzgreift, in denen es sich um die Untersuchung und Bestrafung vonVerbrechen handelt; auch Bezeichnung für dasStrafprozeßrecht, d. h. für die Gesamtheit derRechtsgrundsätze, welche jenes Verfahren normieren. DieZusammenstellung solcher Normen in einem ausführlichen Gesetzwird Strafprozeßordnung genannt, so dieStrafprozeßordnung für das Deutsche Reich vom 1. Febr.1877, die österreichische Strafprozeßordnung vom 23. Mai1873 und der Code d'instruction criminelle Napoleons I. von 1808.Der S. gehört im weitesten Sinn zum Strafrecht und wirdebendeswegen auch als sogen. formales Strafrecht dem materiellenStrafrecht (s. d.) gegenübergestellt. Während derbürgerliche oder Zivilprozeß, in welchem überPrivatstreitigkeiten zu entscheiden ist, ursprünglich von denRömern dem Privatrecht zugerechnet wurde und diesem jedenfallsauch heute noch nahesteht, kann über die ausschließlichöffentlich-rechtliche Natur des Strafprozesses ein Zweifelnicht obwalten. Während nämlich die Mehrzahl derPrivatrechtsansprüche ohne gerichtliche Hilfe durchfreiwillige Leistung von seiten des Schuldners erfüllt wird,kann der Strafanspruch des Staats gegen Übelthäter ohneförmliches Verfahren niemals verwirklicht werden. Niemand kannsich unter Verzichtleistung auf den Prozeß eineröffentlichen Strafe freiwillig unterwerfen oder auf einStrafurteil des Richters verzichten, denn die Rechte, in welche dieStrafe eingreift, sind vom Standpunkt des einzelnen ausunverzichtbar; eine Regel, die eine geringfügige Ausnahme beiGeldbußen nur insoweit erleidet, als beiPolizeiübertretungen der Schuldige sich einem Zahlungsbefehl(sogen. Strafmandat) freiwillig unterwerfen kann. Der Unterschiedzwischen Zivilprozeß und S. tritt, zusammenhängend mitdiesem Prinzip, auch darin hervor, daß der Strafrichter dermateriellen Wahrheit in ganz anderm Maß bei der Prüfungder Thatsachen und der Handhabung der Prozeßregelnnachzustreben hat, als dies im Zivilverfahren zulässig ist, wodie sogen. formale Wahrheit eine hervorragende Rolle spielt. So istz. B. im Zivilverfahren der Wahrhaftigkeit eines denklägerischen Anspruch anerkennenden Beklagten nicht weiternachzuforschen, während das Geständnis eines Angeklagtenimmer noch einer Prüfung von seiten des Richters zuunterwerfen ist, ehe die Verurteilung zur Strafe ausgesprochenwerden kann. Auf den untersten Stufen staatlicher Kultur sehen sichdiese beiden Grundformen des Prozesses allerdings sehrähnlich, weil das Verbrechen zunächst alsSchadenzufügung aufgefaßt wird und der unmittelbarVerletzte mit der Geltendmachung seiner Forderungen auchgleichzeitig die staatlichen Interessen vertritt. Auf dieser Stufesteht der altgermanische S. mit seinem Grundsatz: "Wo keinAnkläger ist, da ist auch kein Richter". Die Verwirklichungdes staatlichen Strafrechts ist dabei von dem Verhalten derParteien abhängig (sogen. Privatklageprozeß im engernSinn). Auf einer höhern Entwicklungsstufe steht dasStrafverfahren da, wo jeder Bürger, unabhängig von einerihm selbst widerfahrenen Verletzung, als Ankläger die Rechteder staatlichen Gesamtheit wahrnehmen kann. Dieser Art waren dieEinrichtungen in den antiken Republiken, zumal in Griechenland undRom; insbesondere bietet uns das Recht der römischen Republikin ihrer Blütezeit ein klassisch vollendetes Muster desstaatsbürgerlichen Anklageprozesses dar. Wenn freilich derSittenverfall um sich greift und Verbrechen häufig werden, somuß die Anklagethätigkeit der einzelnenStaatsbürger als unzulänglich erscheinen. Diegewöhnlichen Folgen des staatsbürgerlichenAnklageprozesses in solchen Zeiten sind alsdann: zunehmendeStraflosigkeit, Bestechung des Anklägers durch reicheVerbrecher, Erpressungsversuche durch Androhung einer Anklage gegenUnschuldige, die ein gerichtliches Verfahren fürchten,Aussetzung von Prämien oder Denunziantenbelohnungen, um vonStaats wegen eigennützige Menschen zur Anklägerschaftanzureizen. Schon die Römer hatten, wie auch die Athener, alleSchattenseiten der staatsbürgerlichen Anklage in denspätern Zeiten zu erfahren. Gleichwohl blieb auch dasältere kirchlich-kanonische Recht bei dieser Organisation derStrafverfolgung stehen. Erst im 13. Jahrh. tritt in dem deutschenauf volks-tümlicher Basis ruhenden Anklageprozeß einbemerkenswerter Umschwung ein. Schon in den ältestenAnschauungen der christlichen Kirche lag nämlich die sittlicheAnforderung begrün-det, daß der sündige Christ zurSelbstbeschuldigung im Beichtstuhl und zur Reinigung mittelsBuße durch sein Gewissen verpflichtet sei. In ihrenSendgerichten wahrte die Kirche diese Anzeigepflicht in derAnwendung auf Dritte. Sie hielt in ihrer Gerichtsbarkeit darauf,daß gewisse stark verdächtigte Personen sich durch Eidzu reinigen hatten von den gegen sie vorliegenden Beschuldigungen(sogen. Reinigungseid). Diese vereinzelten, übrigens auchschon im römischen Recht bemerkbaren Anfänge einesamtlichen Einschreitens wurden nun durch Innocenz III. seit demEnde des 12. Jahrh. auf dem dritten lateranischen Konzil derAnknüpfungspunkt zu einer Ausbildung des sogen.Inquisitionsprozesses (Untersuchungsprozesses). Ursprünglichwar dieser Inquisitionsprozeß als Ausnahme gedacht neben demFortbestand des ältern Anklageverfahrens als der Regel.Dennoch entsprach das neue Verfahren so sehr den vorhandenenBedürf-

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Strafprozeß (geschichtliche Entwickelung).

nissen, daß es nicht nur in den geistlichenGerichtshöfen bald herrschend wurde, sondern auch in derweltlichen Justiz mehr und mehr die Oberhand gewann. Der Richterhatte hiernach von Amts wegen überall einzuschreiten und alleVerhältnisse der Beschuldigung und Verteidigung kraft seinesAmtes zu erforschen. Von bestimmten Rechten der Parteien konntesomit keine Rede sein. Man unterschied dabei die Generalinquisitionals das einleitende Stadium von der Spezialinquisition als derUntersuchung, die ihre Richtung bereits gegen bestimmte Personengenommen hatte. Zugleich ward bei der Ketzerinquisition dieHeimlichkeit des Verfahrens vorgeschrieben und, unterAnknüpfung an das römische Recht, die Folter angewendet.So war gegen das Ende des Mittelalters der Inquisitionsprozeßin den kontinentalen Ländern herrschend geworden, mit ihm dieSchriftlichkeit des Verfahrens an Stelle der Mündlichkeit unddie Entwickelung eines Instanzenzugs. Eine Ausnahme machte nurEngland, wo im Zusammenhang mit dem Schwurgericht (s. d.) sich diealtgermanischen Prozeßeinrichtungen in wesentlichenStücken erhielten, so daß England noch gegenwärtigder einzige Kulturstaat ist, in dem sich der alteAnklageprozeß, wenn schon mannigfach modifiziert, bis zurGegenwart erhalten hat. Die (peinliche) Halsgerichtsordnung KaiserKarls V. von 1532 (die sogen. Carolina) schloß sich in ihremstrafprozessualischen Inhalt eng an die bestehendenVerhältnisse der damaligen Zeit an. Sie begünstigtenamentlich die Schriftlichkeit, worin man damals ein Schutzmittelgegen willkürliche Verfolgungen erblicken mußte, undschrieb deswegen die Zuziehung von Gerichtsschreibern (Aktuaren)als wesentlichen Prozeßorganen vor. Ein hervorragendesVerdienst erwarb sich die Carolina dadurch, daß sie das inDeutschland völlig zerrüttete Beweisverfahren neuordnete, indem von ihr eine feste Beweistheorie aufgestellt wurde.Niemand sollte ohne ausreichenden, vollen Beweis verurteilt werden.Einen vollen Beweis lieferten aber nur das Geständnis, dieübereinstimmende Aussage mindestens zweier Zeugen oder derrichterliche Augenschein, wohingegen eine Verurteilung auf Grundsogen. Anzeigen oder Indizien ausgeschlossen wurde. Jederunvollständige, auch der zur Verurteilung nicht genügendeIndizienbeweis konnte jedoch durch peinliche Frage (Folter)ergänzt werden, so daß das auf der Folter abgelegte undhinterher bestätigte Geständnis die Verurteilungbegründete.

So gestaltete sich der S. seit der Mitte des 17. Jahrh. in derHauptsache für ganz Deutschland zu derjenigen Form desVerfahrens, welche der sächsische Jurist Carpzov bezeugt: derreine Untersuchungsprozeß, daher erstes Einschreiten desRichters, dem die Kriminalpolizei untergeben ist,Voruntersuchungsführung des Richters im Sinn der durchZwangsmittel oder Kunstgriffe herbeizuführendenGeständnisse, genaue Aufzeichnung aller Ermittelungen in denKriminalakten, nach der Erschöpfung der BeweisaufnahmeAktenschluß, Einforderung einer Verteidigungsschrift in denschwersten, Zulassung einer solchen in minder schweren Fällen,Versendung der Akten von den Untersuchungsgerichten(Inquisitoriaten) an das urteilende Gericht, das entweder in derSache selbst nach Lage der Akten auf Vortrag eines Referentenendgültig erkennt, oder weitere Beweisaufnahme anordnet, oderdie peinliche Frage erkennt. An Rechtsmitteln kennt derUntersuchungsprozeß nur das der weitern Verteidigung zugunsten des Inquisiten. Die Urteilsvollstreckung leitet derUntersuchungsrichter. Die alte Beweistheorie fand ihren Mittelpunktin der Folter. Sobald diese (zuerst durch Friedrich d. Gr.) inDeutschland abgeschafft wurde, was allgemein gegen das Ende des 18.Jahrh. geschah, mußte das Gebäude desInquisitionsprozesses ins Wanken kommen. Schon in der Mitte desvorigen Jahrhunderts, zumal nachdem man durch Montesquieu undVoltaire mit den englischen Einrichtungen bekannt geworden war,bestand auf dem Kontinent eine dem alten S. ungünstige Meinunginnerhalb der gebildeten Klassen. Die Überlieferung des altenInquisitionsprozesses war indessen so fest in Deutschlandeingewurzelt, daß die Kriminalordnung von Preußen(1805) und der bayrische S. (1813) gleichwie auch Österreichan dem alten Verfahren noch im 19. Jahrh. zäh festhielten.Erst mit der allgemeinen Bewegung der Geister 1848 vollzog sich derlängst notwendig gewordene Bruch. Die meisten deutschenStaaten führten ein öffentliches und mündlichesAnklageverfahren ein, und die Grundrechte des deutschen Volkesbestimmten die wesentlichen Grundsätze der Reform. Längstvor 1848 hatten aber Theorie und Wissenschaft die Notwendigkeiteiner durchgreifenden Besserung der Strafprozeßeinrichtungendargethan. Das Muster, das man 1848 und in den folgenden Jahrenvorzugsweise zu befolgen sich entschloß, bot derfranzösische Prozeß, der in den linksrheinischenLandesteilen deutscher Staaten aus dem Napoleonischen Zeitalterbestehen geblieben war. Frankreich selbst hatte im ersten Beginnder Revolution 1789 mit der Beseitigung des alten StrafprozessesErnst gemacht. Während das Verfahren selbst den deutschenZuständen des Strafprozeßrechts sich erheblichnäherte, hatte Frankreich aus dem Mittelalter eine Magistraturererbt, deren Stellung nachmals von entscheidender Bedeutung undVorbildlichkeit für den gesamten europäischen Kontinentwerden sollte: die Staatsanwaltschaft (ministère public),hervorgegangen aus den königlichen Prokuratoren, welche diefiskalischen Interessen der Krone bei den Gerichten wahrzunehmenursprünglich bestimmt gewesen waren und nach und nach einenerheblichen Einfluß auf den Gang des Strafprozesses erlangthatten. Aus diesen Elementen der königlichenProzeßvertretung formte die französische Revolution dieStaatsbehörde, zu deren wesentlichen Funktionen die Betreibungder öffentlichen Anklage (action publique), die Sammlung derBelastungsbeweise, die Vornahme schleuniger, einen Aufschub nichtgestattender Beweiserhebungen, die Vertretung der Anklage imöffentlichen Verfahren, die Einlegung von Rechtsmitteln unddie Vollstreckung der Urteile gehören. Der französischeProzeß, im Code d'instruction criminelle von 1808 zumAbschluß gekommen, bedeutet den Untersuchungsprozeß mitäußerlicher Anklageform. Das Wesen des echtenAnklageprozesses bedingt nämlich die Annahme desParteibegriffs und die Gleichheit der Parteirechte. Davon kann abernach französischem Recht keine Rede sein. Der Staatsanwalt isteine Behörde, unabhängig vom Richter, für etwaigeAusschreitungen der gerichtlichen Disziplin nicht unterworfen, demWort nach beauftragt mit der Wahrung des Gesetzes, ohne Garantiender persönlichen Unabhängigkeit, absetzbar und denWeisungen der Justizminister unterthan, dennoch aber wiederum inmanchen Dingen dem richterlichen Amt bezüglich derGeschäftsführung übergeordnet, wofern er als Organder Justizaufsicht thätig zu sein hat. Diesemfranzösischen Muster entsprechend ist denn auch in dendeutschen Gesetzen die öffentliche Anklagebehörde inDeutschland seit 1848

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Strafprozeß - Strafrecht.

in der Mehrzahl der deutschen Staaten eingerichtet worden. DieStaatsanwaltschaft ist demgemäß das ausschließlichberechtigte Organ der Strafverfolgung. Eine Beschränkung dessogen. Anklagemonopols liegt nur darin, daß nach einmalerhobener Anklage der Richter die Untersuchung auch gegen denAntrag der Staatsanwaltschaft weiter fortführen undverurteilen kann, nach französischem Recht sogar dieStaatsbehörde zur Erhebung der Anklage durch dieAppellhöfe angehalten werden darf, daß ferner ingewissen fiskalischen Angelegenheiten (z. B. in Zollstrafsachen undSteuerkontraventionen) administrative Organe an die Gerichte gehenkönnen, und daß bei sogen. Antragsdelikten dieStaatsbehörde an den Strafantrag des Verletzten gebunden ist.Die Mängel der kontinentalen Prozeßorganisation tretenvorwiegend darin hervor, daß die Staatsbehörde durchunterlassene Anklageerhebung gleichsam mitbeteiligt wird an derAusübung des Begnadigungsrechts und, in Abhängigkeit vonden jeweilig herrschenden Parteiströmungen, wenig geneigt seinwird, den Ausschreitungen des Beamtentums wirksam entgegenzutreten.Auf den deutschen Juristentagen wurde daher wiederholt dieZulassung der sogen. subsidiären Privatanklage fürdiejenigen Fälle befürwortet, in denen dieStaatsbehörde ihr Einschreiten verweigert. In dem Zeitraumzwischen 1848 und 1877 war übrigens das Strafprozeßrechtin Deutschland sehr verschiedenartig gestaltet. Eine Gruppe vonGesetzgebungen behielt die ältern, auf der Basis derInquisitionsprozedur ruhenden Gesetze bei und verknüpfte damitin äußerlicher Weise die Einrichtungen derStaatsanwaltschaft, des Schwurgerichts, der Öffentlichkeit undMündlichkeit im Hauptverfahren (so in Preußen undBayern). Eine zweite Gruppe verhielt sich gegen alle Reformenablehnend (z. B. Mecklenburg). Eine dritte Klasse ließ neue,einheitlich gearbeitete Strafprozeßordnungen ergehen, indemman sich bald den französischen Mustern enger anschloß(so in Hannover, Rheinhessen), bald die Erfahrungen des englischenRechts verwertete (Braunschweig), bald in mehr selbständigerBehandlung das Prozeßrecht ordnete (Baden, Württemberg,Sachsen). Diesen Verschiedenheiten ist schließlich durch dieReichsstrafprozeßordnung vom 1. Febr. 1877 in Verbindung mitdem Gerichtsverfassungsgesetz 27. Jan. 1877 ein Ende gemachtworden. Auch dieses neue Recht ruht auf der Grundlage desfranzösischen Strafprozesses. Die Grundzüge desgegenwärtigen Rechtszustandes sind folgende: 1) Dreiteilungder Strafgerichtsbarkeit in der untern Instanz in der Weise,daß die leichten Straffälle von Amtsgerichten unterZuziehung von Schöffen, die mittelschweren Vergehen von denStrafkammern der Landgerichte, die schweren Verbrechen vonGeschwornen abgeurteilt werden (s. Gericht, S. 166). 2) Einrichtungder Staatsanwaltschaft (s. d.) wesentlich nach französischemMuster. Nur ausnahmsweise bei Beleidigungen und leichtenKörperverletzungen tritt der Privatkläger an die Stelledes Staatsanwalts. 3) Beibehaltung der schriftlichen und geheimenVoruntersuchung im Gegensatz zu den in England geltenden Regeln derÖffentlichkeit und Mündlichkeit. Der zur Führung derVoruntersuchung bei den Landgerichten bestellteUntersuchungsrichter darf an dem Hauptverfahren nicht teilnehmen.Notwendig ist die Voruntersuchung indes nur bei denschwurgerichtlichen Fällen. 4) Beweiserhebung imHauptverfahren durch den Richter im Gegensatz zu der englischenForm des Kreuzverhörs, wonach die Parteien selbst die vonihnen vorgeführten Zeugen befragen unter Zulassung derGegenfrage von seiten des Prozeßgegners. 5) Beibehaltung desVerhörs der Angeklagten, das dem englischen Recht fremd blieb.6) Beseitigung aller die richterliche Überzeugungeinschränkenden Beweisregeln mit alleiniger Ausnahme der aufdie Vereidigung der Zeugen und Sachverständigenbezüglichen Vorschriften, während in England eingerichtsgebräuchliches System von Beweisregeln bestehen blieb.7) Öffentlichkeit (s. d.) und Mündlichkeit desHauptverfahrens; erstere neuerdings etwas eingeschränkt. 8)Das Institut der notwendigen, erforderlichen Falls von Amts wegenzu veranlassenden Verteidigung in schweren Verbrechensfällen.9) Beseitigung des Rechtsmittels der Berufung gegenlandgerichtliche Erkenntnisse, was die hauptsächlichste, ihremWert nach zweifelhafte Abweichung vom französischen Rechtbildet. Die Wiedereinführung der Berufung gegen die Urteileder landgerichtlichen Strafkammern wird vielfach angestrebt.Gegenwärtig ist die Berufung nur gegen Erkenntnisse derSchöffengerichte zulässig. Sie geht an die Strafkammerdes Landgerichts. Urteile der Strafkammern der Landgerichte und derSchwurgerichte sind nur durch das Rechtsmittel der Revision (s. d.)anfechtbar. Die Revision befaßt sich lediglich mit derRechtsfrage, nicht mit der Thatfrage. 10) Erweiterung desRechtsmittels der Wiederaufnahme des Verfahrens zum teilweisenErsatz der Berufung und zur Anfechtung der Thatfrage. BesondereVerfahrensregeln gelten gegen ungehorsam Ausbleibende (sogen.Kontumazialverfahren). Auch bestehen Ausnahmegerichte für denFall des Belagerungszustandes und für Anklagen auf Hochverratgegen das Reich, für welche der höchste Reichsgerichtshofkompetent ist.

[Litteratur.] Für das ältere Recht vor 1848:Mittermaier, Das deutsche Strafverfahren (4. Aufl., Heidelb. 1846,2 Bde.); Feuerbach, Betrachtungen über die Öffentlichkeitund Mündlichkeit der Gerichtspflege (Gieß. 1821 u.1824); Martin, Lehrbuch des Kriminalprozesses (5. Aufl. von Temme,Leipz. 1857). Für das Übergangsstadium von 1848-77:Planck, Systematische Darstellung des deutschen Strafverfahrens aufGrundlage der neuen Strafprozeßordnungen seit 1848(Götting. 1857); Zachariä, Handbuch des deutschenStrafprozesses (das. 1861-68). Für die neue deutscheReichsstrafprozeßordnung: Kommentare von Dalke (2. Aufl.,Berl. 1880), Hahn (2. Aufl., das. 1884 ff.), Keller (2. Aufl., Lahr1882), Löwe (5. Aufl., Berl. 1888), Puchelt, Schwarze, Thilou. a.; v. Holtzendorff, Handbuch des deutschenStrafprozeßrechts, in Einzelbeiträgen mehrerer Verfasser(das. 1877-79, 2 Bde.); Lehrbücher des deutschenStrafprozeßrechts von v. Bar (das. 1878), Dochow (3. Aufl.,das. 1880), John (2. Aufl., Leipz. 1882), Meves (3. Aufl., Berl.1880), Stenglein (Stuttg. 1887) u. a. Für denösterreichischen S.: Ullmann, ÖsterreichischesStrafprozeßrecht (2. Aufl., Innsbr. 1882); Herbst,Österreichisches Strafprozeßrecht (Wien 1872);Kommentare zur österreichischen Strafprozeßordnung vonMayer (das. 1876, 4 Bde.), Mitterbacher (das. 1882) u. a. Fürden französischen Prozeß: das klassische Werk vonFaustin Hélie, Traité de l'instruction criminelle (2.Aufl., Par. 1866-67, 8 Bde.); Richard-Maisonneuve, Droitpénal et d'instruction criminelle (4. Aufl., das. 1881).Für England: H. Stephen, Criminal law (4. Aufl., Lond. 1887);Glaser, Das englisch-schottische Strafverfahren (Erlang. 1851).

Strafrecht (Kriminalrecht, früher auch "peinlichesRecht" , lat. Jus poenale , franz. Droit criminel, engl. CriminalLaw, ital. Diritto criminale),

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Strafrecht (Allgemeines).

im objektiven Sinn der Inbegriff der Rechtsnormen überstrafbare Verbrechen; im subjektiven Sinn die Befugnis, wegenverübten Unrechts Strafe zu verhängen (Strafgewalt,Strafzwang, Jus puniendi). Das S. im objektiven Sinn enthältdie Grundsätze, welche der Staat bei der Ausübung seinesRechts, zu strafen (S. im subjektiven Sinn), zur Anwendung zubringen hat. Wie nun jeder Teil der Rechtswissenschaft sichphilosophisch, dogmatisch, historisch und rechtspolitisch behandelnläßt, so wird auch bezüglich des Strafrechtszunächst zwischen natürlichem (allgemeinem,philosophischem) und positivem (dogmatischem) S. unterschieden.Ersteres enthält die strafrechtlichen Grundsätze, welchewir durch Denken als die der Idee der Gerechtigkeit und densozialen Verhältnissen entsprechenden erkennen, letzteresdagegen ist das geltende S. eines bestimmten Staats. Diehistorische Behandlung des Strafrechts beschäftigt sich mitseiner geschichtlichen Entwickelung, während diestrafrechtspolitische Untersuchung (Kriminalpolitik, Strafpolitik)sich mit der zweckmäßigen Weiterentwickelung dereinzelnen Strafrechtsinstitute befaßt. Was das positive S.anbetrifft, so haben gegenwärtig fast alle zivilisiertenStaaten umfassende strafrechtliche Kodifikationen aus- unddurchgeführt, deren Ergebnis sich in einem einheitlichenStrafgesetzbuch darstellt. Daneben enthalten aber Spezialgesetze(Nebengesetze) noch besondere Strafvorschriften, und so entstehtder Gegensatz zwischen allgemeinem und besonderm S. in diesem Sinn.Das S. ist ein Teil des öffentlichen Rechts, und zwargehören, um die Strafgewalt des Staats wirksam werden zulassen, drei Materien des öffentlichen Rechts zusammen: das S.enthält die Strafgebote und -Verbote der Staatsgewalt, dieStrafgerichtsverfassung schafft die staatlichen Organe fürihre Anwendung (s. Gericht), und der Strafprozeß (s. d.)regelt ihre Thätigkeit. Strafprozeß undStrafgerichtsverfassung werden wohl auch unter der Bezeichnung"formelles S." zufammengefaßt, indem man alsdann daseigentliche S. als "materielles S." bezeichnet. Jede Verwirklichungdes staatlichen Strafrechts setzt ferner dreierlei voraus: 1) einedurch die gesetzgebende Macht ergangene Strafdrohung; 2) ein inGemäßheit dieser Androhung vom Richter nach den Formendes Strafprozesses ergangenes Strafurteil; 3) eine inGemäßheit des Strafurteils bewirkte Strafvollstreckung.Jeder dieser Sätze enthält auch gleichzeitig eineNegation. Keine Strafe kann nämlich auf Grund freiwilligerUnterwerfung eines sich selbst Anklagenden oder bei Ergreifung auffrischer That vollzogen werden, so daß eine sogen.Lynchjustiz mit dem Bestand eines geordneten Staatswesensunverträglich ist. Anderseits kann aber auch der Richterniemals eine Strafe erkennen, die nicht auf gewisse Handlungen oderUnterlassungen im voraus angedroht war (nulla poena sine legepoenali); ein Grundsatz, der von so großer Wichtigkeit ist,daß er vielfach in die Urkunden des neuern Verfassungsrechtsaufgenommen wurde. Im konstitutionellen Staat liegt dabei derNachdruck darauf, daß Strafdrohungen nur in der Form desGesetzes, nicht auch in Gestalt sogen. Verordnungen der Monarchenoder der Verwaltungsbehörden ergehen dürfen, noch vielweniger aber der Richter befugt ist, gemeinschädliche oderunsittliche Handlungen auf Grund einer von ihm angenommenenStrafwürdigkeit mit Strafe zu belegen. Wie aber der Richter andie Schranken des Gesetzes überall gebunden ist, so bleibtauch wiederum der Gesetzgeber an die Schranken der Rechtsideegebunden. Die wissenschaftliche Entwickelung der letztern und dienotwendige Begrenzung der Strafgesetzgebung ist eine derwichtigsten Aufgaben der Rechtswissenschaft. Die wesentlichenSchranken, welche der Betätigung der Strafgesetzgebunggegenwärtig auf Grundlage allgemein wissenschaftlicherErkenntnis gezogen werden, sind aber folgende: 1) Zeitliche,insofern das Gesetz niemals hinterher bezogen werden darf auffrüher straflos gewesene Handlungen. Mißbräuchlichwaren daher die in der englischen Rechtsgeschichte vorkommendenBills of attainder, wonach im Weg der Gesetzgebung gewisseHandlungen nicht für die Zukunft für strafbarerklärt, sondern hinterher bestraft wurden. In der Hauptsachegilt also der Satz, daß Strafgesetze keine rückwirkendeKraft haben in Beziehung auf die früher vor ihrer Geltungbegangenen, straflos oder minder strafbar gewesenen Handlungen. 2)Örtliche Grenzen. Der Wille des Strafgesetzgebers ist nurinnerhalb des von ihm beherrschten Staatsgebiets verpflichtend;niemand hat das Recht, Ausländern im Ausland bindende Befehlezu erteilen: das Gesetz ist territorial. Von diesem Grundsatz gibtes indessen Ausnahmen, welche sich einerseits aus dem praktischenBedürfnis eines wirksamen Rechtsschutzes, anderseits aus demmangelhaften Zustand des Völkerrechts ergeben. Jeder Staatbestraft seine Unterthanen heutzutage wegen gewisser auch imAusland begangener Verbrechen, und meistenteils werdenausnahmsweise auch Ausländer wegen einzelner im Auslandbegangener Missethaten schwersten Ranges (z. B. Hochverrat,Münzverbrechen) einer Ahndung unterworfen. Die Begrenzungdieser Strafgewalt gegenüber dem Ausland ist jedoch noch heuteeine der schwierigsten und streitigsten Angelegenheiten derWissenschaft. Während nämlich einige von einem sogen.Territorialitätsprinzip ausgehen und danach die im Auslandbegangenen Missethaten grundsätzlich straflos lassen wollen,huldigen andre (Mohl, Geyer, Carrara) einer Anschauung, die alsWeltrechtsprinzip (Weltordnungsprinzip) bezeichnet wird und den Ortder That regelmäßig gar nicht beachtet, endlich wiederandre dem sogen. Personalitätsprinzip, wonach wenigstens dieUnterthanen des Staats an die heimischen Strafgesetze auch imAusland überall gebunden bleiben sollen. 3)Gegenständliche Schranken. Das einfach Unsittliche oderIrreligiöse scheidet aus dem Gebiet der Strafgesetzgebung aus,was um so wichtiger für das heutige S. ist, als infrühern Zeiten die Strafgesetzgebung überall mitreligiösen und kirchlichen Elementen stark versetzt war,vornehmlich im Mittelalter, wo der Einfluß des kanonischenRechts überwog. Der Strafzwang des Staats wird ferner nur daangewendet, wo der Zivilzwang nicht ausreicht, d. h. der Zwang zurErfüllung, zur Erstattung, zum Ersatz und zur Herausgabe. Inletzterer Beziehung lehrt uns aber die Geschichte des Strafrechts,daß die Ansichten über das Verbrecherische in einerstarken Umwandlung begriffen sind. Vom Standpunkt desgegenwärtigen Wissens aus ist zu sagen, daß die Grenzeder kriminalistischen Handlungen gegenüber derzivilrechtlichen Materie nach einer einfachen, allgemeingültigen Formel nirgends gezogen werden kann. DerStrafgesetzgeber hat vielmehr notwendig, wenn er dieverbrecherischen Handlungen richtig erkennen will, zweiGesichtspunkte zu vereinigen: den ethischen, wonach nur diejeweilig unsittlichen Handlungen dem Volksbewußtsein auch alsverbrecherisch erscheinen können, und den kriminalpolitischen,wonach eine empfindliche, dauernde Schädigung oderGefährdung

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Strafrecht (Theorien).

der gesellschaftlichen Gesamtordnung von gewissen Handlungen zubesorgen ist. Wie verschieden in diesem Stück die Denkweiseder Kulturvölker ist, zeigt sich am deutlichsten darin,daß die Römer den Diebstahl nur als einePrivateigentumsverletzung mit zivilen Folgen (von Ausnahmenabgesehen) behandelten, während für uns der Diebstahl daswichtigste aller Verbrechen geworden ist. Betrachtet man ferner dieMasse der regelmäßig als verbrecherisch erklärtenHandlungen, so wird man nicht umhin können, drei Gruppen vonTatbeständen zu sondern: 1) solche Verbrechen, deren Inhaltein nach Ort und Zeit besonders wandelbarer ist und sich in hohemMaß veränderlich zeigt. Es sind dies vorzugsweise diesogen. politischen oder Staatsverbrechen, in denen sich dasnationale Element der einzelnen Gesetzgebungen kundgibt. Weil dieseThatbestände als schlechthin unsittlich nicht geltenkönnen, begründen sie auch keine Ablieferungspflichtunter zivilisierten Staaten; 2) solche Verbrechen, dievergleichungsweise einen annähernd gleichen Inhalt zu allenZeiten gehabt haben und deswegen das kosmopolitische Element derRechtsordnung repräsentieren: Mord, Totschlag, Fälschung,Betrug, Notzucht etc.; 3) solche, bei denen die rechtswidrigeVerletzung des Privatwillens die Schädigung der allgemeinenInteressen überwiegt und deswegen die Bestrafung von demAntrag des Verletzten abhängig gemacht wird (sogen.Antragsdelikte). In dieser letztern Gruppe liegen dieBerührungspunkte zwischen zivilem u. kriminellem Unrecht.

Mit dem eigentlichen Grund und Zweck der Strafebeschäftigen sich die Strafrechtstheorien. Es besteht aber indieser Hinsicht durchaus keine wissenschaftlicheÜbereinstimmung. Die bisherigen, äußerstzahlreichen Straftheorien sind nach folgenden Gesichtspunktenklassifiziert worden: I. Relative Theorien(Nützlichkeitstheorien), welche die Strafe als ein Mittelbetrachten, durch welches der Staat berechtigt ist, die ihmobliegenden Wohlfahrtszwecke zu fördern. II. AbsoluteTheorien(Gerechtigkeits-, Vergeltungs-, auchVergütungstheorien, im Unterschied vonVerhütungstheorien), welche die Strafe, unabhängig vongewissen Zweckbestimmungen, als schlechthinpflichtmäßige Bethätigung der im Staat waltendensittlichen Idee auffassen. III. Gemischte Theorien (auchVereinigungstheorien), welche sowohl die absolute Notwendigkeit derStrafe als auch ihre Zweckmäßigkeit hervorheben.

Die wichtigsten relativen Theorien waren: dieAbschreckungstheorie, wonach durch den Strafvollzug andre von demBegehen von Verbrechen abgehalten werden sollen; dieAndrohungstheorie (Theorie des psychologischen Zwanges), namentlichvon Feuerbach vertreten, wonach die Menschen durch dieStrafandrohung von verbrecherischen Handlungen abgeschreckt werdensollen, von Bauer Warnungstheorie genannt. Hierher gehörenferner die sogen. Präventionstheorie, welche den einzelnenVerbrecher durch die Strafe von der Begehung weiterer Verbrechenabhalten will, also eine "Spezialprävention" im Gegensatz zuder "Generalprävention" der Androhungstheorie beabsichtigt,namentlich von Grolman aufgestellt; dann die BesserungstheorieRöders, wonach die Sicherung der Gesellschaft durch Umstimmungdes verbrecherischen Willens vermöge der strafweisenNacherziehung erreicht werden soll; endlich die Theorie des durchStrafe zu leistenden moralischen Schadenersatzes von Welcker unddie Theorie der in der Strafe bewirkten gesellschaftlichen Notwehrgegen das Verbrechen, die schon von Beccaria und von Blackstone imvorigen Jahrhundert aufgestellt und in Deutschland von Martinverteidigt ward. - Zu den absoluten Theorien zählenvorzugsweise: die Wiedervergeltungstheorie Kants, gestützt aufden kategorischen Imperativ der Gleichheit zwischen Strafübelund Verbrechensübel (nachmals weiter entwickelt von Henke,Zachariä, Berner), und die Gerechtigkeitstheorie Hegels,wonach das Verbrechen Negation des Rechts und die Strafe Negationder Negation, also Affirmation des Rechts, sein soll. Auch dieTheorie der religiösen Sühnung der göttlichenWeltordnung, wie solche von ultramontanen oderlutherisch-orthodoxen Rechtslehrern verfochten wird, gehörthierher. - Die Vereinigungstheorien (vertreten von Abegg, Berner,Heinze, Merkel u. a.) beruhen auf einer doppeltenEntwickelungsreihe. Entweder wird die Nützlichkeitsrelationals Grund der Strafe anerkannt und der Verfolgung derNützlichkeitszwecke eine Schranke an der Gerechtigkeitsideegegeben, oder die Gerechtigkeit soll das sittliche Fundament derStrafe abgeben, wobei aber die Zweckwidrigkeit eine Grenze fürdie Verwirklichung der Rechtsidee bezeichnet. Endlich hat man auch(Abegg) den Identitätsbeweis von Nützlichkeit undGerechtigkeit auf dem Boden des Strafrechts zu führenunternommen. Zum endgültigen Austrag ist der Streit um dieStrafrechtstheorie noch nicht gebracht worden.

Was Deutschland anbelangt, so beruhte der ältereStrafrechtszustand vor dem 16. Jahrh. auf denselben formellenGrundlagen wie das gesamte Recht überhaupt: auf älterngermanischen Rechtsgewohnheiten, auf der spezifischen Wirkungkirchlich-kanonischer Anschauungen, endlich auf der Rezeption desrömischen Rechts. Merkwürdig genug gelangte Deutschland1532 unter Karl V. zu einem einheitlichen Straf- undStrafprozeßgesetzbuch (Constitutio Criminalis Carolina = C.C. C.), welches unter den Denkmälern der deutschenRechtsgesetzgebung früherer Jahrhunderte unzweifelhaft denhervorragendsten Platz verdient. Diese notdürftig, mitgroßen Schwierigkeiten erreichte, den Fortbestand altergermanischer Gewohnheiten und des römischen Rechts aberanerkennende Gesetzgebungseinheit zersetzte sich im 18. Jahrh.vollständig, insofern der Gerichtsgebrauch die alten, mit derfortschreitenden Humanität unvereinbaren Leibesstrafenbeseitigte. Friedrich d. Gr. erkannte zuerst die Notwendigkeiteiner umfassenden neuen Kodifikation. Das alte gemeine Recht wurdemehr und mehr durch die Partikularstrafgesetzbücher aus deneinzelnen Ländern verdrängt, und so entstand derUnterschied zwischen gemeinem und partikulärem deutschen S.Dem vorigen Jahrhundert gehören das Josephinische Gesetzbuchvon 1787 und das Allgemeine preußische Landrecht von 1794 an.Von weitreichendem Einfluß ward der französische Codepénal von 1810,. welcher in Frankreich nochgegenwärtig, wenn schon mannigfach modifiziert, inGültigkeit ist (auch in Holland und in revidierter Gestaltselbst in Belgien). Verhältnismäßig minderbemerkbar war dieser Einfluß in den vor 1848 entstandenendeutschen Strafgesetzbüchern, unter denen das bayrische,dessen Urheber Feuerbach war, hervorragt und das braunschweigischevon 1840 und badische von 1845 besonders erwähnenswert sind(außerdem: Königreich Sachsen 1838, Hannover 1840 undHessen-Darmstadt 1841). Dagegen war nach 1848 der Einfluß desfranzösischen Rechts dadurch gesteigert, daß man in derEile sich zur Annahme des französischenStrafprozeßmusters bestimmen ließ. Kein Gesetzbuch hatsich jedoch dem

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Strafrechtstheorien - Strafregister.

Code pénal in seiner Technik so eng angeschlossen wie daspreußische vom 14. April 1851, das nach 1866 und 1867 auch inden neueinverleibten Landesteilen zur Geltung gelangte. Der Periodevon 1848 bis 1870 gehören außerdem folgendeStrafgesetzbücher an: Nassau 1849, Thüringen (nebstAnhalt, aber ohne Altenburg) 1850, Oldenburg 1858, Bayern 1861,Lübeck 1863, Hamburg 1869. In einigen wenigen Ländern(Mecklenburg, Bremen, Schaumburg-Lippe, Kurhessen) hatte sich dasalte gemeine Recht im Gerichtsgebrauch erhalten. Schon 1848erkannte man allgemein das Willkürliche der strafgesetzlichenZersplitterung in Deutschland; die Grundrechte verordneten eineinheitliches deutsches Strafgesetzbuch, und auch der erstedeutsche Juristentag in Berlin erklärte auf v. KräwelsAntrag die Strafrechtseinheit für notwendig. In dienorddeutsche Bundesverfassung ging dieser nationale Wunsch alsVerfassungsartikel über. Auf der äußerlichenGrundlage des preußischen Strafgesetzbuchs von 1851 ruhend,entstand alsdann das ehemalige norddeutsche Strafgesetzbuch vom 31.Mai 1870, das demnächst nach Begründung des Kaisertums inveränderter Redaktion als deutsches Reichsstrafgesetzbuch vom15. Mai 1871 noch einmal publiziert ist, seit 1. Jan. 1872 in ganzDeutschland gilt und auch im Reichsland eingeführt wurde.

Nicht alles S. ist für Deutschland einheitlich geordnet.Neben dem Reichsstrafrecht besteht ein Landesstrafrecht innerhalbderjenigen Materien, die von Reichs wegen nicht geordnet wurdenoder der Gesetzgebung der einzelnen Staaten ausdrücklichüberlassen blieben. Im großen und ganzen trägt dasReichsstrafgesetzbuch den Grundzug der Milde, diehauptsächlichsten Mängel des preußischenStrafgesetzbuchs sind beseitigt. Solange jedoch das vom Reichstagerforderlich erachtete Strafvollzugsgesetz fehlt, bleibt diestrafrechtliche Einheit unvollständig. Einzelnenfühlbaren Mißgriffen des Strafgesetzbuchs hat dieStrafrechtsnovelle vom 26. Febr. 1876 abgeholfen. EinMilitärstrafgesetzbuch ist 20. Juni 1872 für das DeutscheReich erlassen. Der Entwurf eines österreichischenStrafgesetzbuchs und das ungarische von 1878 schließen sichdem deutschen an. Gegenwärtig gilt in Österreich noch dasStrafgesetzbuch vom 27. Mai 1852. Neuere Strafgesetzbüchersind die der schweizerischen Kantone Zürich (1871), Genf(1874), Schwyz (1881) u. a., das Strafgesetzbuch der Niederlande(1881), Belgien (1867), Dänemark (1866), Schweden (1864),Island (1869), Ungarn (1878), Bosnien (1881), Rußland (1866),Spanien (1870), Rumänien (1864) und Serbien (1860). In Englandfehlt ein Strafgesetzbuch.

[Litteratur.] Unter den ältern Lehrbüchern desdeutschen Strafrechts sind die Werke von Feuerbach, Grolman,Mittermaier, Wächter, Heffter und Abegg hervorzuheben. NeuereLehrbücher von Berner (15. Aufl., Leipz. 1888), Hugo Meyer (4.Aufl., Erlang. 1886), Schütze (2. Aufl., Leipz. 1874), v. Bar(Bd. 1, Berl. 1882), v. Lißt (2. Aufl., das. 1884) und v.Wächter (Vorlesungen, Leipz. 1881). Vgl. auch v. Holtzendorff,Handbuch des deutschen Strafrechts in Einzelbeiträgen(verschiedene Verfasser, Berl. 1871^77). Kommentare desReichsstrafgesetzbuchs von Oppenhoff (11. Aufl., Berl. 1888),Schwarze (5. Aufl., Leipz. 1884), Olshausen (2. Aufl., Berl. 1886,2 Bde.), Rüdorff (13. Aufl., das. 1885) u. a. Grundrisse zuVorlesungen von Binding (3. Aufl., Leipz. 1884), Geyer (Münch.1884 f.) u. a. Herbst, Handbuch des österreichischenStrafrechts (7. Aufl., Wien 1883, 2 Bde.); Janka,Österreichisches S. (Prag 1884); Nypels, Le droit pénalfrancais progressif et comparé (Par. 1864). Zeitschriften:"Der Gerichtssaal" (seit 1874 verschmolzen mit der von v.Holtzendorff seit 1861 herausgegebenen "Allgemeinen deutschenStrafrechtszeitung"); Goltdammers "Archiv fürpreußisches (und seit 1871 auch für deutsches) S.";"Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft" (seit1881); "Rivista penale di dottrina, legislazione e giurisprudenza"(seit 1874). Die Entscheidungen des deutschen Reichsgerichts inStrafsachen werden unter dem Titel: "Rechtsprechung des deutschenReichsgerichts in Strafsachen" von den Mitgliedern derReichsanwaltschaft herausgegeben.

Strafrechtstheorien, s. Strafrecht, S. 363.

Strafregister (Strafliste), das amtliche Verzeichnis derin dem Bezirk der Registerbehörde ergehenden gerichtlichenVerurteilungen. Wird dann aus diesem allgemeinen S. ein Auszugangefertigt, enthaltend die Bestrafungen einer einzelnen bestimmtenPerson, so erhält man die Strafliste (das Strafregister,Strafverzeichnis) ebendieser Person. Ein solches S. ist fürdie rechtliche Beurteilung einer Person vielfach von großerWichtigkeit. Für das Deutsche Reich ist jetzt durch Verordnungdes Bundesrats vom 16. Juni 1882 die Führung vonStrafregistern allgemein vorgeschrieben (vgl. "Zentralblattfür das Deutsche Reich", S. 309). In diese S., welche nachbestimmten Formularen zu führen sind, werden alle durchrichterliche Strafbefehle, polizeiliche Strafverfügungen,Strafurteile der bürgerlichen Gerichte, einschließlichder Konsulargerichte, sowie durch Strafurteile derMilitärgerichte ergehenden rechtskräftigen Verurteilungeneingetragen und zwar wegen eigentlicher Verbrechen und Vergehensowie wegen folgender Übertretungen: Bruch der Polizeiaufsichtoder der Ausweisung aus dem Reichsgebiet, Landstreicherei,Bettelei, das strafbare Verhalten derjenigen Personen, welche sichdem Spiel, dem Trunk oder dem Müßiggang dergestalthingeben, daß sie in einen Zustand geraten, in welchem zuihrem Unterhalt oder zum Unterhalt derjenigen, zu derenErnährung sie verpflichtet, durch Vermittelung derBehörde fremde Hilfe in Anspruch genommen werden muß,gewerbsmäßige Unzucht unter Verletzung polizeilicherVorschriften, Arbeitsscheu der aus öffentlichen ArmenmittelnUnterstützten und selbstverschuldete Obdachlosigkeit.Ausgenommen sind die Verurteilungen in den auf Privatklageverhandelten Sachen, in Forst- und Feldrügesachen, wegenZuwiderhandlungen gegen Vorschriften über Erhebungöffentlicher Abgaben und Gefälle und wegen gewissermilitärischer Verbrechen und Vergehen. In die S. sind fernerdie Beschlüsse der Landespolizeibehörden über dieUnterbringung verurteilter Personen in ein Arbeitshaus oder derenVerwendung zu gemeinnützigen Arbeiten, desgleichen die aus demAusland eingehenden Mitteilungen über dort erfolgteVerurteilungen einzutragen. Bezüglich derjenigen Verurteilten,deren Geburtsort nicht zu ermitteln oder außerhalb desReichsgebiets gelegen ist, wird das S. bei dem Reichsjustizamt inBerlin geführt, während im übrigen dieRegisterführung den zuständigen Behördenbezüglich aller Personen obliegt, deren Geburtsort im Bezirkderselben gelegen ist. Diese Behörden sind in Preußenund in den meisten übrigen deutschen Staaten die Staatsanwaltebei den Landgerichten, in Bayern und in Bremen die Amtsanwalte, inSachsen und Baden die Amtsgerichte, in Württemberg dieOrtsvorstände jeder Gemeinde und in Elsaß-Lothringen dieGerichtsschreibereien der Landgerichte. Die Auf-

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Strafsachen - Strafverfahren.

sicht und Leitung der Registerführung liegt unter allenUmständen der Staatsanwaltschaft bei den Landgerichten ob. Dienötigen Mitteilungen über die erfolgten Verurteilungensind von den betreffenden Behörden an die Registerbehördedes Geburtsorts oder, sofern diese Behörde der mitteilendenBehörde nicht bekannt ist, an die Staatsanwaltschaftdesjenigen Landgerichts, zu dessen Bezirk der Geburtsortgehört, zu richten. Ist der Geburtsort nicht zu ermitteln oderaußerhalb Deutschlands gelegen, so ergeht die Mitteilung andas Reichsjustizamt. Diese Strafnachricht erfolgt nachvorschriftsmäßigem Formular. Gerichtlichen und andernöffentlichen deutschen Behörden ist auf jedes einebestimmte Person betreffende Ersuchen über den Inhalt der S.kostenfrei amtliche Auskunft zu erteilen. Ersuchen und Auskunfterfolgen nach vorgeschriebenem Formular. Inwieweit auswärtigenBehörden solche Auskunft zu erteilen, bestimmt die jeweiligeLandesregierung und in Ansehung des bei dem Reichsjustizamtgeführten Registers der Reichskanzler. Eine internationaleRegelung dieser Sache steht in Aussicht. Vgl. Hamm, DieEinführung einheitlicher S. (Mannh. 1876).

Strafsachen, diejenigen Rechtsangelegenheiten, beiwelchen es sich um die Untersuchung und Bestrafung von Verbrechenhandelt. Ihre Behandlungsweise bestimmt sich nach denRechtsgrundsätzen über den Strafprozeß (s. d.).

Strafsenat, Abteilung des Reichsgerichts (s. d.) odereines Oberlandesgerichts (s. d.), welche mit der Bearbeitung vonStrafsachen betraut ist.

Strafurteil (Straferkenntnis), die in einerstrafrechtlichen Untersuchung erteilte richterliche Entscheidung,teilt sich in Haupt- oder Endurteile (sententiae detinitivae) undZwischenurteile (s. interlocutoriae). Die erstern sindEntscheidungen in der Hauptsache, durch die ein Strafprozeßzu Ende gebracht wird; die andern werden gegeben, bevor dieUntersuchung das zur Fällung eines Endurteils nötigeResultat geliefert hat, wie z. B. ein Beschluß überEröffnung des Hauptverfahrens, über Zulässigkeit derUntersuchungshaft, Ablehnung eines Richters etc. Im engern Sinnversteht man jedoch unter S. nur dasjenige gerichtliche Urteil,welches das Hauptversohren abschließt (Endurteil), sei esdurch Verurteilung, sei es durch Freisprechung, sei es endlichdurch Einstellung des Verfahrens. Manche Kriminalisten bezeichnenendlich als S. lediglich das verurteilende Endurteil (s.Urteil).

Strafverfahren, sowohl Bezeichnung für eine einzelnestrafrechtliche Untersuchung als für das Verfahrenüberhaupt, welches zum Zweck der Untersuchung und Bestrafungvon verbrecherischen Handlungen stattfindet. Die Einleitung einesStrafverfahrens (einer strafrechtlichen Untersuchung, eines Straf-,Kriminalprozesses) ist heutzutage der Regel nach Sache derStaatsanwaltschaft. Nur ausnahmsweise ist es dem Verletztenüberlassen, sein durch strafbares Unrecht angeblich verletztesRecht vor Gericht selbst zu verfolgen, so nach deutschemStrafprozeßrecht bei einfachen Beleidigungen und bei leichtenKörperverletzungen im Weg der Privatklage (s. d.). DieStaatsanwaltschaft, bei leichtern Vergehen und Übertretungendie Amtsanwaltschaft, schreitet ein auf erstattete Anzeige, welchejedoch nicht nur bei dem Staats- oder Amtsanwalt, sondern auch beiden Behörden und Beamten des Polizei- und Sicherheitsdienstessowie bei den Amtsgerichten angebracht werden kann. BeiAntragsverbrechen (s. d.), welche nur auf Antrag des Verletztenstrafrechtlich verfolgt werden, bedarf es eines förmlichenAntrags. Das S. selbst zerfällt in ein Vorverfahren und einHauptverfahren. Ersteres hat den Zweck, festzustellen, ob gegeneine bestimmte Person wegen eines bestimmten Verbrechens dasHauptversohren zu eröffnen sei. Zweck des Hauptverfahrensdagegen ist es, festzustellen, ob der Angeklagte des ihm zur Lastgelegten Verbrechens schuldig sei. Bezüglich des Vorverfahrensist zwischen dem Vorbereitungsverfahren (Ermittelungs-,Skrutinialverfahren) und der Voruntersuchung (s. d.) zuunterscheiden. In dem erstern ist hauptsächlich dieStaatsanwaltschaft mit Unterstützung der Polizeibehördenthätig. Sie kann aber auch den Einzelrichter in Anspruchnehmen, welch letzterer bei Gefahr im Verzug schleunigeUntersuchungshandlungen auch von Amts wegen vorzunehmen hat. DasVorbereitungsverfahren richtet sich zunächst nicht notwendiggegen eine bestimmte Person; es handelt sich vielmehr bei demselbenvor allen Dingen um die Frage, ob überhaupt ein Verbrechenvorliegt, und im Bejahungsfall demnächst allerdings auch umdie Ermittelung des Thäters. Bei der Voruntersuchung dagegensteht ein bestimmter Angeschuldigter und ein bestimmtes Verbrechenin Frage. Die Voruntersuchung wird von dem Richter(Untersuchungsrichter) geführt, und Zweck derselben ist es,durch Klarstellung des Sachverhalts eine Entscheidung darüberzu ermöglichen, ob das Hauptverfahren gegen denAngeschuldigten zu eröffnen, oder ob derselbe außerVerfolgung zu setzen sei. Die Eröffnung des Hauptverfahrens(s. d.) setzt eine Anklageschrift der Staatsanwaltschaft voraus;sei es, daß sie auf Grund des Vorbereitungsverfahrens, seies, daß sie auf Grund der Voruntersuchung eingereicht wird.Das Vorbereitungsverfahren schließt entweder mit derEinleitung der Voruntersuchung, oder mit der Eröffnung desHauptverfahrens, oder aber mit der Einstellung (s. d.) desStrafverfahrens durch den Staatsanwalt ab. Ist dagegen eineVoruntersuchung geführt, so beschließt das Gerichtdarüber, ob das Hauptverfahren zu eröffnen, oder ob dasS. definitiv oder vorläufig einzustellen sei. DasHauptverfahren selbst findet vor dem erkennenden Gericht (s. d., S.166) statt. Der Schwerpunkt des Hauptverfahrens, wie derjenige desganzen Strafverfahrens, liegt in der Hauptverhandlung (s. d.).Diese schließt mit dem Urteil ab, welches entweder einfreisprechendes oder ein verurteilendes und nur ausnahmsweise aufEinstellung der Untersuchung gerichtet ist. Natürlich brauchtdurchaus nicht jede Strafsache alle drei Stadien desStrafverfahrens, Vorbereitungsverfahren, Voruntersuchung undHauptverhandlung, zu durchlaufen. Doch ist die Voruntersuchung beiden vor das Reichsgericht oder vor das Schwurgericht gehörigenStrafsachen notwendig, bei den Schöffengerichtssachen dagegenunzulässig (deutsche Strafprozeßordnung, § 176). Andas S. in erster Instanz kann sich ein Verfahren in der Instanz derRechtsmittel (s. d.), möglicherweise auch einmal ein Verfahrenzum Zweck der Wiederaufnahme des Verfahrens anschließen. Demrechtskräftigen verurteilenden Straferkenntnis folgt dieStrafvollstreckung. Als besondere Arten des Strafverfahrens sindnach der deutschen Strafprozeßordnung folgende zu nennen: 1)das S. bei dem amtsgerichtlichen Strafbefehl (s. d.); 2) das S.nach vorangegangener polizeilicher Strafverfügung (s. d.); 3)das S. bei dem Strafbescheid (s. d.) der Verwaltungsbehörden(administratives S.); 4) das Verfahren gegen Abwesende, welche sichder Wehrpflicht entzogen haben; 5) das S. bei Einziehungen und

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Strafverfügung - Strahlapparate.

Vermögensbeschlagnahmen (objektives S.). Bei dem letzternbesteht die Eigentümlichkeit, daß die Hauptverhandlungauch dann stattfindet, wenn die Strafverfolgung oder Verurteilungeiner bestimmten Person nicht ausführbar ist. Im einzelnenrichtet sich das S. nach den Vorschriften desStrafprozeßrechts (s. Strafprozeß).

Strafverfügung, s. Strafbefehl.

Strafversetzung, Disziplinarstrafe, welche in derVersetzung eines Beamten in ein andres Amt von gleichem Rangbesteht; zumeist mit einer Schmälerung des Gehalts verbunden,welche z. B. nach dem deutschen Reichsbeamtengesetz vom 31.März 1873, § 75, nicht über ein Fünftel desDiensteinkommens betragen soll. Statt der Verminderung desDiensteinkommens kann auch eine Geldstrafe ausgesprochen werden,welche ein Drittel des jährlichen Diensteinkommens nichtübersteigt.

Strafverzeichnis, s. Strafregister.

Strafvollstreckung, s. Zwangsvollstreckung.

Strafzwang, s. Strafrecht, S. 362.

Stragelkaffee, s. Astragalus.

Strahl, Vogel, s. Star.

Strahlapparate, mechanische Vorrichtungen zum Heben oderFortschaffen von flüssigen, gasförmigen oderkörnigen und schlammigen Körpern mittels eines unterDruck, also mit einer gewissen Geschwindigkeit, ausströmendenStrahls einer Flüssigkeit oder Luftart. Die hierbeierforderliche Bewegungsübertragung von der bewegenden auf dieFörderflüssigkeit findet nicht, wie etwa bei denKolbenpumpen, durch direkten Druck, sondern durch die bei derAusströmung angesammelte lebendige Kraft statt. An Fig. 1läßt sich der Vorgang erklären. Der aus demkegelförmigen Mundstück (Düse) M des Rohrs Aaustretende Strahl reißt die ihn umgebende Flüssigkeit,welche durch das Rohr B in den Raum D gelangen kann, mit sich indie Mündung (Fangdüse) des Rohrs C fort. Die beimEintritt in das Rohr C in der Mischflüssigkeit vorhandeneGeschwindigkeit wird durch allmähliche Erweiterung von C inDruck umgewandelt, welcher die Überwindung einer gewissenSteighöhe oder das Eindringen in einen unter Druck stehendenRaum gestattet. Bei der Übertragung der Geschwindigkeit vonder bewegenden auf die bewegte Flüssigkeit finden bedeutendeKraftverluste statt, welche den Nutzeffekt der S. um soungünstiger beeinflussen, je größer der Unterschiedzwischen dem spezifischen Gewicht der beiden zur Verwendungkommenden Flüssigkeiten ist; mithin werden die S. die Kraftdes bewegenden Mediums am besten übertragen, wenn der bewegteKörper denselben Aggregatzustand hat wie jenes (wenn also z.B. Wasser durch einen Wasserstrahl, Luft durch einen Dampfstrahlbewegt wird). Trotzdem werden vielfach S. mit Medien verschiedenenZustandes verwendet (der bei weitem verbreitetste Strahlapparat,der Injektor, wirkt mit Dampf auf Wasser), einerseits, weil die S.außerordentlich einfach und billig sind, keiner besondernKraftmaschine bedürfen, sehr geringe Dimensionen haben undwegen Mangels aller beweglichen Teile weder Reparatur- nochSchmierkosten verursachen, anderseits, weil die bei Verwendung vonDampf auftretende Erwärmung der Förderflüssigkeitoft erwünscht ist (z. B. in Badeanstalten, bei Dampfkesselnetc.). Wegen der genannten Vorzüge haben die S. in den letztenJahrzehnten eine ausgedehnte Verwendung überall da gefunden,wo eine gute Ausnutzung der vorhandenen Betriebskraft erst inzweiter Linie berücksichtigt zu werden braucht. Um dieVerbreitung der S. und die Anpassung derselben an allemöglichen speziellen Verhältnisse haben sich inDeutschland besonders Gebr. Körting in Hannover verdientgemacht.

Verwendungsarten der S. 1) Das bewegende Medium isttropfbarflüssig (Druckwasser mit natürlichem oderkünstlichem Gefälle). - Wasserstrahlpumpen (s. Pumpen)eignen sich zum Entwässern von Kellern und Baugruben, zumEntleeren von Jauchegruben, nach Körting als Hilfsapparate inBergwerken etc. Bei Körtings Schlammelevatoren (Fig. 2) zumReinigen der Brunnen von Triebsand, Fortschaffen von Baggerschlamm,Heben von Kohlenschlamm etc. wird ein Teil des durch das Rohr bzufließenden Betriebswassers bei a ausgespritzt, um denSchlamm etc. aufzurühren, worauf derselbe mit viel Wasserdurch eine Wasserstrahlpumpe d gehoben wird und bei cabfließt. Wasserstrahlluftpumpen finden in Apotheken undLaboratorien Verwendung. Körtings Wasserstrahlkondensatoren,s. Dampfmaschine, S. 462. Wassertrommelgebläse (s.Gebläse, S. 977) sind die ältesten, schon seitJahrhunderten bekannten S., welche in verbesserter Form inLaboratorien gebraucht werden. 2) Das bewegende Medium istluftförmig (fast ausschließlich Dampf).Dampfstrahlgebläse (s. Gebläse, S. 978) finden entwederzum Eindrücken von Luft Verwendung (KörtingsUnterwindgebläse bei Feuerungsanlagen, Rührgebläse,welche durch Einblasen von Luft in die umzurührendeFlüssigkeit arbeiten, Luftdruckapparate zur Absorption vonGasen durch Flüssigkeiten, Regeneriergebläse fürGasreinigungsapparate, Kohlensäuregebläse fürZuckerfabriken etc.), oder dienen zum Ansaugen von Luft oder andernGasen (Blasrohr an Lokomotiven, KörtingsSchornsteinventilatoren, Ventilatoren für Bergwerke,Ventilatoren für Trockenapparate, Filtrierapparate,Papiermaschinen, Dampfstrahlgasexhaustoren fürTeerschwelereien und Gasfabriken, Exhaustoren fürEisenbahnbremsen etc.). Lnftstrahlgebläse werden in Bergwerkenmit komprimierter Luft betrieben und dienen zur Ventilation vorOrt. Körtings Ventilator für Eisenbahnwagen benutzt dendurch die Bewegung des Wagens und den

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Strahlbeinslahmheit - Strahlenbrechung.

Wind hervorgebrachten Luftstrom. Ein solcher Ventilator (Fig. 3)wird oben auf die Wagendecke gesetzt und mit dem Innern des Wagensdurch eine Röhre C verbunden. Der Luftstrom tritt durch A inden Raum B und wirkt hier saugend, so daß durch C Luftemporsteigt und mit der Betriebsluft bei D ins Freie tritt. Einkleiner Schieber, welcher unterhalb des Saugrohrs C angebrachtwird, gestattet die Regulierung der Ventilation von seiten derPassagiere. Der ganze obere Teil ist um den Zapfen E drehbar undkann sich deshalb immer nach der Zug-, resp. Windrichtungeinstellen. Injektoren (s. d.) benutzen die Kondensierung des ausdem zu speisenden Kessel entnommenen Betriebsdampfs durch dasFörderwasser dazu, dem letztern eine Geschwindigkeit zuerteilen, welche höher ist als die dem Druck in dem Kesselentsprechende Wassergeschwindigkeit. Es ist das dadurchmöglich, daß der Dampf, der bei seinerAusströmungaus der Dampfdüse des Injektors unter der Einwirkung desKesseldrucks eine viel bedeutendere Geschwindigkeit annimmt als einunter gleichem Druck ausströmender Wasserstrahl, diese bei derKondensation mit dem Förderwasser austauscht.Dampfstrahlpumpen oder Ejektoren, welche zum Fördern vonWasser mittels eines Dampfstrahls dienen, wirken, was dieKraftausnutzung betrifft, sehr ungünstig, können aberdoch da, wo es auf die Übertragung der Wärme ankommt,recht vorteilhaft sein, so zur Wasserförderung inBadeanstalten, zum Füllen der Tender aus Brunnen von derLokomotive aus, als Zirkulationsvorrichtungen für Bleich- undWaschapparate etc. Zum Heben von Säuren, Laugen, saurenWassern etc. fertigt Körting Dampfstrahlpumpen von Porzellan.Körtings Dampfstrahlfeuerspritzen sind als Hausspritzen,Fabrikspritzen etc. da zweckmäßig, wo Dampfkesselvorhanden sind; es bedarf dann nur der Öffnung einesDampfventils, um die Spritzen in Betrieb zu setzen.Dampfstrahlschlammelevatoren sind in ähnlicher Weise wie dieWasserstrahlschlammelevatoren konstruiert.Dampfstrahlanwärmeapparate wirken in der Weise, daß einDampfstrahl, welcher in das anzuwärmende Wassereingeführt wird, das umgebende Wasser ansaugt, seineWärme an dasselbe abgibt und es mit einer gewissenGeschwindigkeit vor sich hertreibt, so daß immer neueWasserteile zum Apparat gelangen. Zerstäuber dienen zurnebelartigen Verteilung von wohlriechenden Flüssigkeitenmittels eines Luftstrahls (die sogen. Rafraichisseure oderRefrigeratoren), von Petroleum in Feuerungsanlagen mittels einesDampfstrahls etc. Um feste Körper durch einen Dampfstrahl zuheben, wird die Geschwindigkeit des Dampfes zunächst aufatmosphärische Luft übertragen. Bei einem Kornelevator(Fig. 4 u. 5) wird das Heben des Getreides dadurch bewirkt,daß mittels des Dampfstrahlapparats r in demSammelgefäß d eine Luftverdünnung hervorgebrachtwird, die sich in das Steigrohr e fortsetzt, die mit großerGeschwindigkeit nachtretende Luft reißt das imFülltrichter a (Fig. 5) befindliche Korn empor bis in dasSammelgefäß d (Fig. 4), wo infolge der plötzlichenGeschwindigkeitsverringerung das Korn zu Boden fällt,während staubförmige Verunreinigungen mit der Luft durchr und f abgehen; g ist das Dampfzuführungsrohr.

Strahlbeinslahmheit, s. Hufgelenkslahmheit.

Strahlblüten, s. Kompositen.

Strahlegg, Gebirgssattel zwischen dem Finsteraarhorn undSchreckhorn in den Berner Alpen, 3373 m hoch, schwierige, aber sehrlohnende Gletscherpartie.

Strahlenblende, s. Zinkblende.

Strahlenbrechung, die Veränderung der Richtung,welche die Lichtstrahlen bei ihrem Übergang aus einem Mittelin ein andres erleiden. Tritt der Lichtstrahl aus einemdünnern Medium in ein dichteres über, so wird er nach demEinfallslot zu gebrochen. Dies findet z.B. statt, wenn das Lichtder Gestirne in unsre Atmosphäre tritt, und wir sehen daherdie Gestirne nicht nach der Richtung hin, wo sie sich wirklichbefinden, und wo wir sie sehen würden, wenn dieAtmosphäre fehlte. Diese Veränderung des scheinbarenOrtes der Gestirne nennt man die astronomische S. oder Refraktion.Sie vermindert alle Zenitdistanzen, d. h. wir sehen alle Gestirnein einer größern Höhe, als wir sie ohne Refraktionsehen würden,

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Strahlende Materie - Stralsund.

und zwar ist diese Vermehrung der Höhe um so bedeutender,je näher dem Horizont ein Stern steht: während sie imZenith gleich Null ist, beträgt sie im Horizont 33-35Bogenminuten. Daher ist die S. auch Ursache, daß die Gestirnefür jeden Ort früher auf- und später unterzugehenscheinen, als sie in der That durch den Horizont dieses Ortesgehen. Dies hat zunächst eine Verlängerung des Tags zurFolge (bei uns um 4 Minuten), die in der Polarzone ambeträchtlichsten ist, da dort die Sonne mehrere Tage, jaWochen über dem Horizont gesehen wird, obschon sie unter ihmsteht. Die S. ist ferner der Grund, warum Sonne und Mond nahe amHorizont stark abgeplattet erscheinen.

Strahlende Materie, s. Geißlersche Röhre, S.30.

Strahlenkranz wird in der antiken Kunst allen Lichtgottheitengegeben, vorzugsweise dem Helios (Sol), der Selene, der Eos,dem Phosphoros und Hesperos (vgl. Nimbus). - In der Anatomie(Corona ciliaris) s. Auge, S. 74.

Strahlerz (Klinoklas, Abichit, Aphanesit, Siderochalcit),Mineral aus der Ordnung der Phosphate, findet sich inglasglänzenden, monoklinen Kristallen und inradialstängeligen Aggregaten, ist spangrün bisblaugrün, glasglänzend, kantendurchscheinend, Härte2,5-3, spez. Gew. 4,2-4,5, besteht aus wasserhaltigemKupferarseniat Cu3As2O8 + 3H2CuO2, mit 50 Proz. Kupfer, findet sichauf englischen Kupfererzgängen und bei Saida.

Strahlgebläse, s. Strahlapparate.

Strahlkies, s. Markasit.

Strahlpumpe, s. Strahlapparate.

Strahlstein, s. Hornblende.

Strahlsteinschiefer, Gestein, s. Hornblendefels.

Strahltiere, s. Radiaten.

Strahlungsmesser, s. Radiometer.

Strahlzeolith, s. Desmin.

Strähne, s. Strang und Garn, S. 911.

Strait (engl., spr. streht), Straße, Meerenge.

Straits Settlements (spr. strehts), engl. Provinz auf derhinterindischen Halbinsel Malakka, 3742 qkm (68 QM.) groß mit(1887) 536,000 Einw., besteht aus den unter sich durchVasallenstaaten getrennten Inseln und Landschaften: Singapur(Insel), Wellesley mit Pinang (Insel) und Malakka. Sitz desGouverneurs ist Singapur. 1886 betrugen die Einfuhr 20,151,763, dieAusfuhr 17,459,312 Pfd. Sterl., der Schiffsverkehr 7,491,099 Ton.,die öffentlichen Einnahmen 671,427, die Ausgaben 626,302, dieSchuld 40,700 Pfd. Sterl. Es waren eine Eisenbahn von 45 km undTelegraphenlinien von 611 km Länge im Betrieb. Bis 1867unterstanden die S. der indischen Regierung, seither dem englischenKolonialamt.

Strakonitz, Stadt im südwestlichen Böhmen, ander Wotawa und der Staatsbahnlinie Wien-Eger, Sitz einerBezirkshauptmannschaft und eines Bezirksgerichts, mit einemSchloß des Johanniterordens aus dem 13. Jahrh., einerDechantei- und 3 andern Kirchen, bedeutender Fabrikation vonWirkwaren und orientalischen Fes, Bierbrauerei, lebhaftem Handelund (1880) 5835 Einw. S. ist Geburtsort des Dichters Celakovsky.Dabei Neu-S. mit 2064 Einw.

Stralau (Stralow), Dorf im preuß. RegierungsbezirkPotsdam, Kreis Niederbarnim, auf einer Halbinsel in der Spree undan der Berliner Ringbahn, mit Berlin durch Dampfschiffahrtverbunden, hat eine evang. Kirche, Jutespinnerei und -Weberei,Teppich-, Anilin-, Margarin-, Palmkernöl-, Palmkernmehl-,Maschinen- und Schwefelkohlenstofffabrikation, Gärtnerei,Fischerei u. (1885) 737 Einw. S. ist ein uraltes Fischerdorf;alljährlich findet hier 24. Aug. eins der bekanntestenBerliner Volksfeste, der "Stralauer Fischzug", statt. Vgl.Beringuier in "Der Bär" 1876.

Stralsund, Hauptstadt des gleichnamigen Regierungsbezirksin der preuß. Provinz Pommern und Stadtkreis, bis 1873 auchFestung, am Strelasund, der Rügen vom Festland scheidet,Knotenpunkt der Linien Berlin-S., Angermünde-S., Rostock-S.und S.-Bergen der Preußischen Staatsbahn, hat 3 Land- und 4Wasserthore, 5 evangelische und eine kath. Kirche, eine Synagogeund (1885) mit der Garnison (2 Bat. Infanterie Nr. 42) 28,984 Einw.(darunter 998 Katholiken und 126 Juden), welche Spielkarten-, Lack-und Firnis-, Zigarren-, Strohhülsen-, Leinenwaren-,Glaceehandschuh-, Konserven-, Seifen-, Stärke-, Maschinen-,Kumt-, Möbel- und Thonwarenfabrikation, Fischerei,Ziegelbrennerei, Bierbrauerei etc. betreiben, auch hat S. einegroße Öl- und eine Dampfkunstmühle mitGetreidebrennerei. Der Handel, unterstützt durch eineHandelskammer und eine Reichsbanknebenstelle wie durch die lebhafteSchifffahrt (dabei regelmäßiger Postdampferverkehr mitMalmö in Schweden), befaßt sich vorzugsweise mitHeringen, geräucherten Aalen, Steinkohlen, Getreide undHülsenfrüchten, Kolonialwaren, Wolle, Öl etc. DieReederei zählte 1887: 164 Schiffe zu 21,712 Registertonnen, inden Hafen liefen ein 1886: 701 Schiffe zu 86,522 Registertonnen; esliefen aus: 598 Schiffe zu 82,737 Registertonnen. S. hat einGymnasium, ein Realgymnasium, eine Prüfungskommission fürSteuermänner und Schiffer, eine Navigationsschule, eineTaubstummenanstalt, ein durch seine Fassade interessantes Rathaus(1306) mit Rügenschen Altertümern, ein Theater, eineAnstalt für Irre und Sieche, ein Fräuleinstift, eineLotsenstation, ein Seebad etc. Sonst ist S. Sitz einerköniglichen Regierung, eines Amtsgerichts, einerForstinspektion, eines Hauptzollamtes, von 9 Konsuln etc. Auf demKnieperkirchhof das Grab Ferdinand v. Schills. - S. wurde 1209 vonJarimar I., Fürsten von Rügen, gegründet und baldeins der bedeutendsten Mitglieder der Hansa. Obwohl denHerzögen von Pommern unterthan, wußte sich die Stadtauch später im Besitz einer fast reichsfreien Stellung zuerhalten. 1429 belagerten die Dänen die Stadt, erlitten aberauf der kleinen vor der Stadt gelegenen Insel Strela eineNiederlage, woher jene Insel den Namen Dänholm erhalten hat.1628 schloß S. ein Bündnis mit Gustav Adolf von Schwedenund wurde von Wallenstein belagert. Die Belagerung dauerte vom 23.Mai bis 4. Aug., an welchem Tag Wallenstein mit einem Verlust von12,000 Mann unverrichteter Sache abziehen mußte. ImWestfälischen Frieden 1648 wurde S. an Schweden abgetreten. Am15. Okt. 1678 mußte es sich nach einem heftigen Bombardementdem Großen Kurfürsten ergeben, kam aber schon 1679 anSchweden zurück. Im Nordischen Krieg wurde die Stadt 1715 vonden vereinigten Preußen, Sachsen und Dänen belagert und23. Dez. von den Schweden durch Kapitulation geräumt, aberihnen schon 1720 zurückgegeben. Im Juli 1807 kamen dieFranzosen durch Kapitulation in den Besitz der Stadt undließen die Festungswerke schleifen. Am 31. Mai 1809 wurde dievon Schills Freischar besetzte Stadt von Dänen,Holländern

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Stralzio - Strandläufer.

und Oldenburgern erstürmt. Durch den Kieler Frieden vom 14.Jan. 1814 kam S. nebst ganz Schwedisch-Pommern an Dänemark undvon diesem durch Vertrag vom 4. Juni 1815 an Preußen. Vgl.Mohnike und Zober, Stralsundische Chroniken (Strals. 1833-34, 2Bde.); Kruse, Geschichte der Stralsunder Stadtverfassung (das.1848); Fock, Wallenstein und der Große Kurfürst vor S.(Bd. 6 der "Rügensch-pommerschen Geschichten", Leipz.1872).

Der Regierungsbezirk S. (s. Karte "Pommern") umfaßt 4010qkm (72,83 QM.) mit (1885) 210,165 Einw. (darunter 207,004Evangelische, 4268 Katholiken und 196 Juden), und fünfKreise:

Kreise QKilometer QMeilen Einwohner Einw. auf 1QKil.

Franzburg 1102 20,01 41985 38

Greifswald 962 17,47 58551 61

Grimmen 959 17,42 35606 37

Rügen 968 17,58 45039 47

Stralsund (Stadt) 9 0,34 28894 -

Stralzio (ital. stralcio, "gütlicher Vergleich"), inÖsterreich s. v. w. Liquidation, Geschäftsauflösung;stralzieren, s. v. w. liquidieren.

Stramberg, Stadt in der mähr. BezirkshauptmannschaftNeutit*chein, an der Lokalbahn Stauding-S., mit altem Schloß,Baumwollweberei, Samtbandfabrikation, Kalkbrennerei und (1880) 2282Einw.

Stramin, s. Kanevas.

Strand, s. Küste.

Strand (spr. strännd), eine der HauptverkehrsadernLondons, verbindet Charing-Croß mit der City. ZahlreicheTheater liegen dort oder in der Nähe.

Strandämter, s. Strandung.

Strandbatterien, s. Festung, S. 187.

Strandbehörden, s. Strandung.

Strandberg, Karl Wilhelm, schwed. Dichter und Publizist,geb. 16. Jan. 1818 zu Stigtamta in Södermanland, studierte zuLund, ließ sich 1840 in Stockholm als Schriftsteller niederund übernahm in der Folge die Redaktion der "Post- ochInrikes-Tidningar" ("Post- und Reichszeitung"), die er bis zuseinem Tod führte. Er starb 5. Febr. 1877 als Mitglied derschwedischen Akademie. Als Dichter erwarb er sich zuerst durchseine unter dem Pseudonym Talis Qualis veröffentlichten,politisch gefärbten "Sangar i pansar" ("Geharnischte Lieder",1835), durch die ein Zug nordischer Kraft und Einfachheit geht,einen gefeierten Namen. In spätern Jahren erschien ein zweiterBand Gedichte, die einen weichern und innigern Ton anschlugen, abersich nicht minder als die ersten durch begeisterte Vaterlandsliebe,Adel der Gesinnung u. Formvollendung auszeichneten. Umfangreicherals seine Originalarbeiten sind seine vortrefflichen metrischenÜbersetzungen, unter denen wohl der genialen Übertragungvon Byrons "Don Juan" und poetischen Erzählungen der ersteRang gebührt. Seine "Samlade vitterhetsarbeten" erschienenStockholm 1877-78 in 2 Bänden.

Strandelster, s. v. w. Austerndieb (s. d.).

Strandgut, die von einem gescheiterten, gestrandeten odersonst verunglückten Schiff geretteten Güter undSchiffstrümmer. Dabei wird unterschieden zwischen S. im engernSinn, den bei einer Seenot geborgenen Gegenständen;Seeauswurf, Gegenständen, welche außer dem Fall einerSeenot von der See auf den Strand geworfen werden; Strandtrift(strandtriftigem Gut), Gegenständen, die von der See gegen denStrand getrieben und vom Strand aus geborgen wurden; Wrackgut,versunkenen Schiffstrümmern oder sonstigen Gegenständen,die vom Meeresgrund heraufgebracht sind, und Seetrift (seetriftigemGut), von welchem man dann spricht, wenn ein verlassenes Schiffoder sonstige besitzlos gewordene Gegenstände, in offener Seetreibend, von einem Fahrzeug geborgen werden. Alles S. ist an denEmpfangsberechtigten gegen Bezahlung der Bergungskostenherauszugeben. Die Ermittelung des Empfangsberechtigten ist nachder deutschen Strandungsordnung vom 17. Mai 1874 Sache derStrandämter (s. Strandung). Ist der Empfangsberechtigte auchdurch das Aufgebotsverfahren nicht zu ermitteln, so werdenGegenstände, welche in Seenot vom Strand aus geborgen sind,desgleichen Seeauswurf und strandtriftiges Gut dem Landesfiskus,versunkenes und seetriftiges Gut aber dem Berger überwiesen.Die Höhe der Bergungskosten richtet sich nach den Bestimmungendes deutschen Handelsgesetzbuchs (s. Bergen). Vonbeschädigten, auf dem Weg des öffentlichen Ausgebotsverkauften Strandgütern ist auf Antrag nur ein Zoll von 10Proz. zu entrichten. Inländische Strandgüter, welche nachdem Auslaufen verunglücken, sind frei vom Eingangszoll.

Strandhafer, s. Elymus.

Strandhauptmann, s. Strandung.

Strandlachs, s. Forelle.

Strandläufer (Tringa L.), Gattung aus der Ordnungder Watvögel (Grallae) und der Familie der Schnepfen(Scolopacidae), Vögel mit geradem Schnabel, der längerals der Lauf, aber kürzer als der nackte Teil des Fußes,an der Spitze verdickt und verbreitert und nur an den Rändernder Oberschnabelspitze hornig ist. In den mittellangen, spitzenFlügeln ist die erste Schwinge am längsten, der Schwanzist kurz, abgerundet, die Füße sind kurz, dick, der Lauflänger als die Mittelzehe, die Krallen sind kurz, starkgekrümmt. Die S. leben in den nordischen Gegenden der Altenund Neuen Welt an Gewässern, in deren Uferschlamm sie ihreNahrung suchen; im Winter wandern sie, meist den Küstenentlang, in Scharen südwärts, im Frühling wiedernordwärts, nur selten geraten sie ins Binnenland. Alle habenim Sommer ein anders gefärbtes Gefieder als im Winter. Dieetwa 25 Arten umfassende Gattung ist in mehrere Gattungen:Actodromas Kaup., Calidris IU., Limicola Koch, Arquatella Baird undPelidna Cuv., geteilt worden. Roststrandläufer (Kanutsvogel,T. canuta L.), 25 cm lang, im Sommer oberseits schwarz mitrostroten Flecken, weißlichen Federspitzen und rostgelbenFedersäumen, unterseits dunkel braunrot, im Winter oberseitsaschblau, unterseits weiß, an der Unterkehle dunkel gefleckt; der Schnabel schwarz, der Fuß grauschwarz. Er bewohnt denNorden der Alten Welt und weilt in Deutschland von August bis Maian der Küste der Nord- und Ostsee, nistet aber nur im hohenNorden. Er ist sehr beweglich, fliegt und schwimmt gut und besitzteine laute, pfeifende Stimme. Die Nahrung besteht in allerleiKleingetier. Der Zwergstrandläufer (Raßler, T.[Actodromas] minuta Kaup), 14 cm lang, im Sommer oberseits schwarzmit rostroten Federkanten, an der Oberbrust hell rostfarben, feinbraun gefleckt, unterseits weiß, im Winter oberseits dunkelaschgrau, braunschwarz gestrichelt; das Auge ist braun, derSchnabel schwarz, der Fuß grünlichschwarz. Er bewohntden hohen Norden, findet sich aber an fast allen MeeresküstenEuropas, Asiens, Afrikas und Australiens und weilt bei uns vonAugust bis April. Er nistet in den Tundren Europas und Asiens.Seine Eier (s. Tafel "Eier II", Fig. 17) sind trübgelblichgrau bis ölgrün,

370

Strandlinien - Strangulieren.

aschgrau und dunkelbraun gefleckt. DerAlpenstrandläufer (T.[Pelidua] alpina Cuv.), 15-18 cm lang, im Sommer oberseitsrotbraun, schwarz gefleckt, unterseits weiß mit schwarzenSchaftstrichen, an Unterbrust und Vorderbauch schwarz, im Winteroberseits aschgrau, unterseits weißlich; das Auge ist braun,Fuß und Schnabel schwarz. Er bewohnt den hohen Norden,brütet aber schon in Deutschland, wo er von August bis Maiverweilt, durchstreift im Winter mit Ausnahme von Australien undPolynesien die ganze Erde und erscheint auch oft in Scharen imBinnenland und im Gebirge. Er nistet an sandigen oder feuchtenStellen in der Regel nicht weit vom Meer auf dem Boden; die vierschmutzig ölfarbenen, dunkel ölbraun gefleckten Eier (s.Tafel "Eier II", Fig. 19) werden vom Weibchen alleinausgebrütet. Das Fleisch des Alpenstrandläufers ist sehrschmackhaft, und er wird daher in großer Zahl auf denSchnepfenherden erlegt oder gefangen.

Strandlinien, die durch den Anprall der Meereswogen anden die Küste bildenden Felsen und an Klippen hervorgebrachtenLinien, welche sich zusammen mit Anhäufungen vonGeröllen, Bruchstücken der Gehäuse vonMeeresbewohnern und Zusammenschwemmungen von Meerestangen(Strandterrassen) sowie auch den Ansätzen (Balanen) oder denEinbohrungen (Bohrmuscheln) von Seetieren als ein das Uferumziehender Saum oft meilenweit in ununterbrochenem Zusammenhangverfolgen lassen. Steigt das Land, und verschiebt sich dadurch dieGrenzlinie zwischen Wasser und Land, so bleiben diese Signale alsProdukte eines frühern, jetzt nicht mehr vorhandenen Zustandeszurück und bilden als alte S. für die Geologie wichtigeAnhaltspunkte zur Kontrolle der Hebungserscheinungen (vgl. Hebung).Die Küsten Skandinaviens, Schottlands, Italiens etc. bietenzahlreiche Beispiele solcher oft zu dritt und mehrübereinander hinziehender alter S.

Strandpfeifer, s. Regenpfeifer.

Strandpflanzen, die den Seeküsteneigentümlichen Gewächse, von denen manche auch imBinnenland an Salinen als sogen. Salzpflanzen vorkommen; vonKräutern zahlreiche Chenopodiaceen, unter denen besonders dieGattungen Salsola und Salicornia zu nennen sind, ferner: Glauxmaritima, Plantago maritima, Triglochin maritimum, Aster Tripolium,Artemisia maritima, Statice Limonium, Eryngium maritimum, Juncusmaritimus, Lepturus filiformis, Crambe maritima. Cochleariaofficinalis, Ammophila arenaria; von Holzpflanzen: Hippophaerhamnoides, in Südeuropa Pinus maritima und Pinus Pinea.

Strandrecht, s. Grundruhrecht.

Strandtrift (strandtriftiges Gut), Gegenstände, dieinfolge eines Seeunfalls von der See gegen den Strand getrieben undvon dem Strand aus geborgen werden. Vgl. Strandung.

Strandung, das Auflaufen und Festsitzen eines Schiffs aufdem Strand, auf einer Klippe oder auf einer Sandbank. Wird die S.absichtlich bewirkt, um das Scheitern des Schiffs zu vermeiden, sogehört der dadurch verursachte Schade zur großen Havarie(s. d.). Die in verbrecherischer Absicht mit Gefahr für dasLeben andrer herbeigeführte S. wird nach dem deutschenStrafgesetzbuch (§ 323) mit Zuchthaus nicht unter fünfJahren und, wenn dadurch der Tod eines Menschen verursacht wordenist, mit Zuchthaus nicht unter zehn Jahren oder mitlebenslänglichem Zuchthaus bestraft. Wurde eine S.fahrlässigerweise verursacht, so tritt (§ 326)Gefängnisstrafe ein. Wer endlich ein Schiff, welches alssolches oder in seiner Ladung oder in seinem Frachtlohn versichertist, sinken oder stranden macht, wird mit Zuchthaus bis zu zehnJahren und zugleich mit Geldstrafe von 150-6000 Mk. bestraft(§ 265). Für das Deutsche Reich ist das Strandungswesenim übrigen durch die Strandungsordnung vom 17. Mai 1874geregelt. Dieselbe handelt namentlich von den Strandbehörden,welchen die Sorge für die Rettung und Bergung der in Seenotbefindlichen Personen und Güter anvertraut ist, ferner von demVerfahren der Bergung und Hilfsleistung in Seenot, von denBergungs- und Hilfskosten und von denPrivatrechtsverhältnissen in Ansehung des sogen. Strandguts(s.d.). Als Strandbehörden fungieren Strandämter, welchedas Strandgut zu verwalten und den Empfangsberechtigten,nötigen Falls nach einem Aufgebotsverfahren, zuübermitteln haben. Den Strandämtern sind Strandvögteuntergeordnet, welchen das eigentliche Hilfs- und Rettungswerkobliegt. Ihrer Aufforderung zur Hilfsleistung müssen alleanwesenden Personen nachkommen, sofern sie dazu ohne erheblicheeigne Gefahr im stande sind. Sie sind ferner befugt, zur Rettungvon Menschenleben die erforderlichen Fahrzeuge undGerätschaften in Anspruch zu nehmen und jeden Zugang zumStrand zu benutzen. Der Vorsteher eines Strandamtes(Strandhauptmann) kann zugleich zum Strandvogt bestellt werden.Diese Strandbeamten sind Beamte der betreffenden Landesregierungen.Vgl. die Instruktion zur Strandungsordnung vom 24. Nov. 1875("Zentralblatt für das Deutsche Reich" 1875, S. 750).

Strandvogt, s. Strandung.

Strandwolf, s. Hyäne.

Strang (Strähne), ein Garnmaß, 1) fürLeinengarn: = 10 Gebinde à 120 Fäden = 1200 Fäden= 2743,15 m; 2) für Baumwollgarn: a) englisch: = 560Fäden à 1 1/2 Yards = 840 Yards = 768,08 m, b)französisch: = 10 Gebinde à 70 Fäden = 700Fäden = 1000 m; 3) für Wollgarn: A. Kammgarn: a) deutscheWeife: 1 S. = 7 Gebinde à 80 Fäden = 560 Fäden(à 1 1/2 Yards) = 768,08 m, b) englische Weife: 1 S. = 7Gebinde à 80 Fäden à 1 Yard = 512,05 m; B.Streichgarn: a) preußische Weife: 1 S. = 20 Gebinde à44 Fäden = 880 Fäden à 2 1/2 preußischeEllen = 1467,265 m, b) sächsische Weife (fürVicunnagarn): 1 S. = 5 Gebinde à 80 Fäden = 400Fäden à 2 alte Leipziger Ellen = 452 m, c)böhmische Weife: 1 S. = 20 Gebinde à 44 Fäden =880 Fäden à 2 Wiener Ellen = 1371,28 m; 4) fürSeide: 1 S. = 4 Gebinde à 3000 Fäden à 1 m =12,000 m.

Strange (spr. strehndsch), Robert, Kupferstecher, geb.26. Juli 1721 auf der orkadischen Insel Pomona, ging nach Edinburgund schloß sich dort an den Prätendenten an, nach dessenSturz er nach Paris flüchtete und unter Le Bas studierte. 1751kam er nach London, reiste 1759 nach Italien, lebte dann mehrereJahre in Paris und zuletzt in London, wo er 5. Juli 1792 starb. Erstach Blätter nach italienischen Meistern, besonders nachTizian, auch nach van Dyck, die von schöner Wirkung sind. ZurZeit der dominierenden Schwarzkunst kultivierte S. den edlernLinienstich. Vgl. Dennistoun, Memoirs of Sir R. S. (Lond. 1855, 2Bde.).

Stranggewebe, in der Pflanzenanatomie das gesamte Gewebeder Gefäßbündel im Gegensatz zu dem Grundgewebe undHautgewebe (s. d.).

Strangulieren (lat.), jemand erwürgen, indem man ihmeinen Strang um den Hals legt und damit

371

Strangurie - Straßburg.

die Luftröhre zuzieht, jedoch ohne den Hinzurichtendendabei in die Höhe zu ziehen (s. Erdrosselung). Das S. warfrüher bei den Türken die gewöhnliche Todesstrafeund geschah bei den Vornehmen meist mittels einer ihnenüberschickten seidenen Schnur.

Strangurie (griech.), s. Harnzwang.

Stranitzky, Joseph Anton, Schauspieler undTheaterprinzipal, geb. 10. Sept. 1676 zu Schweidnitz i. Schl.,studierte zu Breslau und Leipzig, begleitete daraus einenschlesischen Grafen auf einer Reise nach Italien und ging nachseiner Rückkehr zur Bühne über. Im J. 1706 tauchteer in Wien auf, pachtete 1712 das Stadttheater am Kärntnerthorund wirkte hier bis zu seinem Tode, der am 19. Mai 1727 erfolgte.S. war der berühmteste Hanswurst seiner Zeit, ein Meister imExtemporieren und bei aller Derbheit reich an echter Komik. Erhatte aus Italien eine Menge von Szenen und Entwürfenmitgebracht, aus denen er Stücke zusammensetzte, die zum Teilauch gedruckt wurden, und veröffentlichte unter dem Titel:"Ollapatrida des durchgetriebenen Fuchsmundi" (1722) eine Sammlungdramatischer Skizzen (d. h. Gespräche Hanswursts mit allerleiLeuten über allerlei Gegenstände in Versen und Prosa).Auch gab er eine "Lustige Reyßbeschreibung, aus Salzburg inverschiedene Länder" (o. J.) und "Hannswurstsche Träume"(o. J.) heraus. Vgl. Schlager, Wiener Skizzen (neue Folge, Wien1839); "Der Wiener Hanswurst", ausgewählte Schriften von S. u.a. (das. 1885 ff.).

Stranniki, Sekte, s. Raskolniken.

Stranraer (spr. -rähr), Hafenstadt in Wigtownshire(Schottland), im Hintergrund von Loch Ryan, mit Austern- undHeringsfischerei und (1881) 6342 Einw. Eine Dampferlinie verbindetS. mit Belfast. Zum Hafen gehören (1887) 169 Fischerboote.

Strapaze (ital.), ermüdende Anstrengung;strapazieren, anstrengen, ermüden; strapaziös,ermüdend, beschwerlich.

Strasburg, 1) (Brodnica) Kreisstadt im preuß.Regierungsbezirk Marienwerder, an der Drewenz und der LinieJablonowo-Lautenburg der Preußischen Staatsbahn, 75 m ü.M., hat eine evangelische und eine kath. Kirche, ein Gymnasium, einAmtsgericht, ein Hauptzollamt, Ziegelbrennerei und (1885) mit derGarnison (ein Infanteriebataillon Nr. 14) 5462 meist kath.Einwohner. S. wurde 1285 neben der schon 1268 vorhanden gewesenenBurg angelegt. -

2) (S. in der Ukermark) Stadt im preuß. RegierungsbezirkPotsdam, Kreis Prenzlau, an der Linie Stettin-MecklenburgischeGrenze der Preußischen Staatsbahn, hat 2 evang. Kirchen, einAmtsgericht, ein Kriegerdenkmal, eine Zuckerfabrik, ansehnlicheSchuhmacherei, Töpferei und Ofenfabrikation, eineEisengießerei und Maschinenfabrik, Lederfabriken, Molkereiund (1885) 5894 meist evang. Einwohner.

Strasburger, Eduard, Botaniker, geb. 1. Febr. 1844 zuWarschau, studierte seit 1864 in Bonn und Jena Naturwissenschaft,besonders Botanik, und habilitierte sich, nachdem er 1867promoviert hatte, 1868 in Warschau als Privatdozent an derHochschule, folgte aber schon 1869 einem Ruf alsaußerordentlicher Professor und Direktor des botanischenGartens nach Jena und wurde 1871 zum ordentlichen Prosessorernannt. Er bereiste wiederholt Italien und 1873 mit Häckelden Orient, besonders Ägypten und das Rote Meer. 1881 folgteer einem Ruf an die Universität Bonn. S. arbeitet vorzugsweiseauf histologisch-entwickelungsgeschichtlichem Feld und speziellüber die pflanzlichen Befruchtungsvorgänge und dieEntwickelung der Befruchtungsorgane. Von seinen älternArbeiten sind hier zu nennen: "Die Befruchtung bei den Koniferen"(Jena 1869); "Die Bestäubung der Gymnospermen" (das. 1872) und"Die Koniferen und die Gnetaceen" (das. 1872). Durch seineUntersuchungen über die Pflanzenzelle, besonders in denSchriften: "Über Zellbildung und Zellteilung" (Jena 1875; 3.Aufl., das. 1880) und "Studien über Protoplasma" (das. 1876)u. a., wirkte S. wesentlich umgestaltend auf die Fortentwickelungder modernen Botanik ein. Von seinen fernern Arbeiten sind nochhervorzuheben: "Über Befruchtung und Zellteilung" (Jena 1878);"Die Angiospermen und die Gymnospermen" (das. 1879); "Die Wirkungdes Lichts und der Wärme auf die Bewegung derSchwärmsporen" (das. 1878); "Über den Bau und dasWachstum der Zellhäute" (das. 1882); "Das botanischePraktikum" (2. Aufl., das. 1887); "Das kleine botanischePraktikum"(das. 1884); "Histologische Beiträge" (das. 1888ff.).

Straschiripka, Johann von, Maler, s. Canon

Straschniks, die russischen Grenzwächter.

Straß, s. Edelsteine, S. 315, und Glas, S. 388.

Straßburg, ehemals reichsunmittelbares Bistum imoberrheinischen Kreise, schon in der Merowingerzeit entstanden,umfaßte anfangs Ober- und Unterelsaß nebst der Ortenauund einem Teil des Breisgaues; später wurden Teile desElsaß zu gunsten der Bischöfe von Speier und Basel davonabgetrennt. Das bischöfliche Territorium enthielt imNiederelsaß sieben Ämter: Zabern, Kochersberg,Dachstein, Schirmeck, Benfeld, Markolsheim und Wengenau; imOberelsaß: das Amt Rufach, die Vogtei Obersultz und die LehenFreundstein, Herlisheim u. a. sowie diesseit des Rheins: das AmtEttenheim und Herrschaften in derOppenau, wie Oberkirch und eineZeitlang Ulmburg; zusammen 1322 qkm (24 QM.) mit 30,000 Einw. und350,000 Gulden Einkünften. Der Bischof stand unter demErzstift Mainz, war deutscher Reichsfürst und blieb es auch,als er für das linksrheinische Land 1648 die LehnshoheitFrankreichs anerkennen mußte, für seine diesseit desRheins liegenden Besitzungen. Die französischen Besitzungendes Hochstifts wurden gleich zu Anfang der Revolution eingezogen;der in Schwaben gelegene Teil derselben (165 qkm mit 35,000 Guld.Einkünften) aber ward 1803 als Fürstentum Ettenheim demKurfürsten von Baden überlassen. 1802 wurde das ganzeElsaß dem Straßburger Sprengel überwiesen und dasBistum dem Erzbischof von Besancon untergeordnet; es steht jedochseit 1871 unmittelbar unter dem Papst. Unter den Bischöfen vonS. sind am bekanntesten: Leopold II. Wilhelm, Erzherzog vonÖsterreich (1614-62, s. Leopold 20), Franz Egon und WilhelmEgon von Fürstenberg (s. Fürstenberg 2 u. 3) und derKardinal Louis René, Prinz von Rohan (s. d.). Vgl.Grandidier, Histoire de l'église et desévêques-princes de Strasbourg (Straßb. 1775-78,2 Bde., bis zum 10. Jahrh. reichend); Fritz, Das Territorium desBistums S. (das. 1885).

Straßburg (hierzu der Stadtplan), Hauptstadt desdeutschen Reichslandes Elsaß-Lothringen, des BezirksUnterelsaß sowie des Land- und Stadtkreises S., Festungersten Ranges, liegt 5 km vom Rhein entfernt, an der schiffbarenIll, die hier die Breusch aufnimmt, am Rhein-Rhônekanal,welcher hier mit der Ill sich vereinigt, sowie am Rhein-Marnekanal,der nördlich der Stadt von der Ill ausgeht und als Illkanaldiese mit einem Rheinarm (Kleiner Rhein) verbindet, unter 48°35' nördl. Br. und 7° 45' östl. L. v. Gr., 150 mü. M., u. zerfällt in ihrem Weichbild in acht Kantone.Die eigentliche (innere) Stadt wird durch die zwei-

[Artikel Straßburg.]

Namen-Register zum ,Plan von Straßburg'.

Die Buchstaben und Zahlen zwischen den Linien (E 2) bezeichnendie Felder der Karte.

Meyers Konv.-Lexikon, 4, Aufl.

Aar (Nebenarm der 111) E2

Akademie EF3

Akademie-Straße EF3

Allerheiligen-Gasse BC3

Alter Weinmarkt B4

Alt-St.-Peter-Kirche B4

Alt-St.-Peter-Platz B4

Am hohen Steg C3

Am Roseneck C2

Am Schießrain DE1

Anatomie D5,6

An d. Gewerbslauben C4

An der Esplanade FG3,4

Andlauer Straße B6

Apfjel-Straße D2

Arnold-Platz G2

Arsenal F3

Artillerie-Kaserne E4

Artillerie-Wallstraße DE5

Auf d. verbrannten Hof D3

Auf den Eisgruben BC5

Aurelien-Platz A5

Bahnhof, Zentral- A4

Bahnhof-Platz A4

Bahnhof-Ring A4

Bahnhof-Staden B3,4

Ballhaus-Gasse E4

Bank, Els.-Lothringer CD3

Bank, Reichs- C3

Barbara-Gasse, St. C4

Bauhof G4

Bei der Heuwage F4

Bergherrn-Gasse BC3

Bezirks-Gefängnis B5

Bezirks-Präsidium E2,3

Bibliothek D4

Bischöflicher Palast D3

Blauwolken-Gasse C3

Blessig-Straße F3

Botanischer Garten E3,F2

Brand-Gasse D3

Braut-Platz EF2

Broglie-Platz CD3

Brücke, Neue D4

Bruderhoffs-Gasse D3,4

Brumather Straße A3

Bucksweiler Straße AB2

Bürger-Hospital D5

Chirurgie C5

Citadelle H3,4

Citadellen-Allee G4

Clemens-Gasse B3

Clemens-Platz B3

Contades D1

Desaix-Staden B4

Deutsche Straße D1, 2

Dietrich-Staden E2,3

Dom-Platz D4

Düntzmühl-Kanal BC5

Ehnheimer Str., Ober- A6

Eiserne-Manns-Platz C4

Eisgruben, Auf den BC5

Elisabethen-Gasse, St. C5

Elsässer Straße F2

Elsaß-Lothring. Bank CD3

Elsbeth-Wallstraße C5,6

Esplanade G3

Esplanade, An der FG3,4

Esplanaden-Gasse F3

Esplanaden-Straße FG4

Feg-Gasse F3,4

Ferkel-Markt D4

Finkmatt C3

Finkmatt-Straße BC2

Finkweiler-Gasse BC5

Finkweiler-Staden C5

Fischart-Straße F2

Fischer-Gasse E3

Fischer-Staden E3

Fischerthor-Kaserne E3

Fisch-Markt D4

Fisch-Markt, Alter D4

Gasanstalt B3

Gaul-Staden EF4

Gedeckte Brücken B5

Gefängnis, Bezirks- B5

General-Kommando D3

Gerbergraben-Platz C4

Gerbergraben-Straße C4

Gestüt C5

Gewerbslauben, An d. C4

Goethe-Straße F2

Goldgießen D5

Grandidier-Straße E3

Groß-Metzig D4

Grünenbruch-Gasse B3

Gutenberg-Denkmal CD4

Gutenberg-Platz CD4

Gutleut-Gasse B2,3

Gymnasium C3

Hafen-Platz B5

Hafen-Staden B6

Hafen-Wallstraße B6

Hagenauer Platz B2

Handels-Gericht CD4

Haupt-Zollamt B3

Helenen-Gasse, St. C4

Helenen-Platz, E2

Hennen-Gasse E4

Hermann-Straße FG3

Heuwage, Bei der F4

Hospital, Bürger- D5

Hospital, Militär- F4

Johannes-Staden, St. B4

Juden-Brückchen D3

Juden-Gasse D3

Jung-St.-Peter-Kirche C3

Jung-St.-Peter-Platz C3

Junker-Straße E1

Justiz-Palast C3

Käfer-Gasse D4

Kagenecker Gasse B3,4

Kalbs-Gasse DE3,4

Kanal B4,CD2

Kasino, Deutsches Zivil- C3

Kasino, Offizier- CD3

Kasino, Zivil- C2

Katholisches Seminar D3,4

Kaufhaus-Gasse D4,5

Kellermann-Staden C3

Kinderspiel-Gasse B4

Kläber-Platz C4

Kleber-Staden BC3

Klöber-Denkmal C4

Klotz-Straße E2

Knoblochs-Gasse CD4,5

Koch-Staden E2,3

Kollegien-Haus EF2

Kommandantur C3

Königsbrücke E3

Königshofener Straße A5,6

Königs-Straße DE2,3

Krämer-Straße D4

Kreis-Direktion D3

Kriegs-Thor II A3

Kronenburger Ring AB3

Kronenburger Straße A3,B3,4

Kronenburger Thor A3

Kronenburger Wall-Straße A3

Krutenau-Straße E3 4

Kühnen-Gasse AB4

Langen-Straße BC4

Lazarett-Wallstraße EF4

Lehrer-Seminar C5

Lezai-Marnesia-Stad. D3

Lobstein-Straße F3

Lyceum D4

Magazin-Gasse A2,3

Magdal.-Gasse St. DE4

Manteuffel-Kaserne C1

Margareten-Gasse, St. AB5

Margareten-Kaserne AB5

Margareten-Wallstr AB5

Markt, Neuer C4

Martins-Brücke C5

Meisen-Gasse C3

Metzgergießen D4,5

Metzger-Platz E4,5

Metzger-Straße DE4,5

Metzger-Thor E5

Metzgerthor-Station E6

Militär-Baracken A6,G3

Militär-Hospital F4

Möller-Straße D2

Molsheimer Straße AB6

Moscherosch-Straße G2

Mühlen-Plan BC4,5

Müllenheim-Staden E1, 2

Münster D4

Münster-Gasse CD3

Münster-Platz D4

Murner-Straße F2

Musik-Kiosk D3

Musik-Konservator C3,4

Mutziger Straße A5

Neuer Markt C4

Neukirche C3,4

Neukirch-Platz C3,4

Niklaus-Brücke D5

Niklaus-Kaserne F3

Niklaus-Platz, St. F3

Niklaus-Staden, St. D4,5

Ober-Ehnheimer Str. A6

Odilien-Straße A6

Oktroi E5,H4

Palast-Straße D2

Pariser Brücke B3

Pariser — Staden B3,4

Pflanzbad B4

Pionier-Kaserne DE3

Polizei-Direktion D3

Post D4

Präfektur D3

Protest. Predigerstift C5

Raben-Brücke D4

Raben-Platz D4

Rathaus D3

Reformierte Kirche C4

Reichsbank C3

Renn-Gasse, Große AB4,5

Renn-Gasse, Kleine A4

Ring, Bahnhof A4

Ring, Kanal Hl,2

Roseneck, Am C2

Rosheimer Straße A5

Rothauer Straße A6

Ruprechtsauer Allee Fl,2

Saarburger Straße A2,3

Schöpflin-Staden CD2,3

Schießrain, Am DE1

Schiffahrts-Kanal B4,5

Schiffleut-Gasse E4

Schiffleut-Staden DE4

Schimper-Straße F3

Schirmecker Ring AB6

Schirmecker Thor A6

Schlachthaus B5

Schlachthaus-Platz B5

Schlachthaus-Staden B4,5

Schleuse, Große B5

Schloß D4

Schlosser-Gasse C4

Schloß-Platz D4

Schwarzwald-Straße GH2

Schweighauser Straße F2

Seelos-Gasse A4

Seminar, Kathol. D3,4

Seminar, Kathol. Lehrer- C5

Spieß-Gasse D4

Spital-Platz D5

Spital-Thor D5

Spitzmühl-Kanal B5

St. Aurelien-Kirche A5

St.—Johannes-Kirche B4

St.-Ludwigs-Kirche C5

St.—Magdal.-Kirche E4

St.—Peterkirche, Alt- B4

St.—Peterkirche, Jung- C3

St.—Stephan-Kirche E3

St.-Thomas-Kirche C5

St.-Wilhelm-Kirche E3

Steg, Am hohen C3

Stein-Brücke C3

Stein-Platz B2

Stein-Ring C1,2

Stein-Straße BC2,3

Stein-Thor B2

Stephans-Brücke, St. E5

Stephans-Platz, St. D3

Stephans-Staden, St. E3

Sternwarte G2

Steuer-Direktion C5

Storch-Gasse B2,3

Sturmeck-Staden CD2

Synagoge C4

Tabaks-Magazin D4,5/C5

Tabaks-Manufaktur E3,4

Telegraphen-Amt B4

Theater D3

Theater-Brücke D2

Thomanns-Gasse C3

Thomas-Brücke, St. C5

Thomas-Platz, St. C4,5

Thomas-Staden, St. CD5

Tränk-Gasse F4

Türkheim-Staden B4,5

Umleitungs-Kanal FG5

Universität F2

Universität, (Alte, im Schloß) D4

Universitäts-Platz E2

Universitäts-Straße F2,3

Verbindungsbahn CD6

Verbrannten Hof, Auf dem D3

Vieh-Gasse EF3,4

Vogesen-Straße B-E2

Vorbrucker Straße A6

Waisen-Gasse E4

Waisenhaus E4

Waisen-Platz E4

Wärterhaus B6,D6

Waseneck, Am D2

Wasselnheimer Straße A5,6

Wasserturm F4

Wein-Markt, Alter B4

Weißenburger Straße B2

Weißenturm—Platz A5,6

Weißenturm-Ring A5

Weißenturm-Straße AB4,5

Weißenturm—Thor A5,6

Weißenturm-Wallstraße A4

Wilhelmer-Gasse E3

Wilhelms-Brücke E3

Wimpfeling-Straße F2

Zaberner Ring B2

Zaberner—Wall-Straße AB2

Zarrer Straße A6

Zentral-Bahnhof A4

Zeughaus F4

Zeughaus-Gasse F4

Zollamt, Haupt- B3

Zoll-Büreau A3

Zornmühl-Kanal BC5

Zürcher Straße E3,4

STRASSBURG Maßstab 1:19000.

372

Straßburg (Beschreibung der Stadt).

Wappen von Straßburg.

armige Ill in drei Teile geteilt, hat elf Thore u. durch dieengen, unregelmäßigen Straßen einaltertümliches Aussehen. Ein neuer Stadtteil, im NO. liegendund aus dem durch Hinausschieben der Festungswerke gewonnenenTerrain errichtet, ist bereits stark bebaut. Von öffentlichenPlätzen verdienen Erwähnung: der Kléberplatz mitdem ehernen Standbild Klébers, der Gutenbergplatz mit derStatue Gutenbergs (von David d'Angers), der Broglieplatz, derSchloßplatz etc. Außer den genannten Denkmälernsind noch zu nennen: das Denkmal des Generals Desaix hinter demTheater und das Denkmal des Präfekten Lezay-Marnesia auf einerRheininsel. Unter den zu gottesdienstlichen Zwecken bestimmtenGebäuden (7 evangelische, eine reformierte und 6 kath. Kirchenund eine Synagoge) ist das katholische Münster einMeisterstück altdeutscher Baukunst, 110 m lang, 41 m breit, imMittelschiff 30 m hoch. Den Grundstein zu dem gegenwärtigenBau legte 1015 Bischof Werner; 1277 begann unter Bischof Konrad vonLichtenstein Erwin von Steinbach den Bau der Fassade und derTürme, den nach seinem Tod (1318) sein Sohn Johannes (bis1339) fortsetzte und Hans Hültz aus Köln 1439 zumAbschluß brachte. Aber nur der nördliche Turm (142 mhoch) erreichte seine Vollendung, der südliche wurdebloß bis zur Plattform gebracht. Das Münster vereinigtfast alle Baustile des Mittelalters: spätromanisch sindKrypte, Chor u. Querschiff, selbst ein Teil des untern Schiffs;weiterhin findet ein Übergang zum gotischen Spitzbogen statt,der in der Fassade bis zur Vollendung gedieh. Von vorzüglicherSchönheit ist das Hauptportal mit zahlreichen Statuen u. einergroßen Fensterrose (50 m im Umfang). Noch sind die herrlichenGlasmalereien aus dem 14. und 15. Jahrh., die Kanzel, einMeisterwerk von Johann Hammerer (1486), die vortreffliche Orgel vonSilbermann und die berühmte astronomische Uhr vonSchwilgué (1839-42 neuhergestellt) hervorzuheben (vgl.Strobel, Das Münster in S., 13. Aufl., Straßb. 1874;Kraus, Straßburger Münsterbüchlein, das. 1877). Vonden evangelischen Kirchen verdienen die Neue Kirche (an Stelle deralten, 1870 eingeäscherten neuerbaut) und die Thomaskirche(13. u. 14. Jahrh.) mit dem Denkmal des Marschalls Moritz vonSachsen (von Pigalle) Erwähnung. Hervorragende Gebäudesind ferner: der neue Kaiserpalast, das Schloß (ehemalsbischöfliche Residenz, später Universität, jetztUniversitäts- und Landesbibliothek), das Stadthaus und dasTheater am Broglieplatz (beide nach der Einäscherung von 1870neuerbaut), der Statthalterpalast, das neueUniversitätsgebäude, das Bezirkspräsidium, dasLandgerichtsgebäude, das Offizierkasino, dasAubettegebäude am Kléberplatz, das Gebäude derLebensversicherungsgesellschaft Germania, das Bürgerhospital,die Manteuffelkaserne, der Zentralbahnhof, die Westmarkthalle etc.Die Bevölkerung beläuft sich (1885) mit der 10,523 Mannstarken Garnison (Infanterieregimenter Nr. 105, 126, 132 und 138,je 2 Infanteriebataillone Nr. 99 und 137, ein Ulanenregiment Nr.15, ein Feldartillerieregiment Nr. 15, einFußartillerieregiment Nr. 10 und ein Pionierbataillon Nr. 15)auf 111,987 Seelen, darunter 52,306 Evangelische, 55,406Katholiken, 363 andre Christen u. 3767 Juden.DerStaatsangehörigkeit nach waren 68,993Elsaß-Lothringer, 40,103 andre Reichsangehörige u. 2891Ausländer. Die Industrie ist bedeutend und in fortdauernderSteigerung begriffen. S. hat Fabriken für Maschinen,Meterwaren, Tabak, musikalische Instrumente (Pianinos, Orgeln),Wachstuch, Tapeten, Schokolade, Teigwaren, Senf, Öfen, Papier,Leder, Möbel, Bürsten, Hüte, Chemikalien, Seife,Wagen, künstliche Blumen und Federn, Strohhüte,Handschuhe, Bijouteriewaren etc. Bekannt sind dieGänseleberpasteten und die Bierbrauereien von S. Ferner gibtes Wollspinnereien, Gerbereien, Färbereien, Buchdruckereien,große Mühlwerke etc., auch hat S. eine großeArtilleriewerkstätte. Der lebhafte Handel, unterstütztdurch eine Handelskammer und eine Reichsbankhauptstelle wie durchandre Geldinstitute, durch das verzweigte Eisenbahnnetz (S. istKnotenpunkt der Eisenbahnen S.-Weißenburg,S.-Deutsch-Avricourt, S.-Kehl, S.-Schiltigheim,S.-Königshofen, S.-Basel, S.-Rothau und S.-Lauterburg), durchvortreffliche Landstraßen, durch die schiffbare Ill, denIll-, Rhein-Rhône- und Rhein-Marnekanal und durch einePferdebahn, welche die innern Stadtteile mit den Vorortenverbindet, ist besonders bedeutend in Steinkohlen, Kolonial- undLederwaren, Papier, Tabak, Eisen, Getreide, Wein, Holz,Gänseleberpasteten, Sauerkraut, Schinken, Hopfen,Gartengewächsen der verschiedensten Art etc. An Bildungs- undandern ähnlichen Anstalten hat S. die 1872 neugegründeteKaiser Wilhelms-Universität (Sommersemester 1888: 828Studierende), die neue Universitäts- und Landesbibliothek mitca. 600,000 Bänden (größtenteils durch freiwilligeGaben entstanden und zum Ersatz für die in der Nacht vom 24.zum 25. Aug. 1870 verbrannte Stadtbibliothek bestimmt), ferner einprotestantisches Gymnasium (1538 gegründet), ein Lyceum(katholisches Gymnasium, verbunden mit Realgymnasialabteilung), 2Realschulen, eine höhere katholische Schule, einPriesterseminar, ein evangelisches Schullehrer- und einevangelisches Lehrerinnenseminar, 2 Taubstummenanstalten, einKonservatorium, ein Kunstmuseum, ein Kunstgewerbemuseum, einNaturalienkabinett, ein Stadttheater, eine Bezirksfindel- undWaisenanstalt, zahlreiche Sammlungen etc. In S. erscheinenfünf Zeitungen. Die städtischen Behörden zählen36 Gemeinderatsmitglieder. Sonst ist S. Sitz des kaiserlichenStatthalters, des Ministeriums und der höchstenLandesbehörden für Elsaß-Lothringen, desBezirkspräsidenten für Unterelsaß, einerPolizeidirektion für den Stadt- und einer Kreisdirektionfür den Landkreis S., eines katholischen Bischofs, desOberkonsistoriums für die Kirche Augsburgischer Konfession unddes jüdischen Konsistoriums, eines Land- und einesHandelsgerichts, eines Bergreviers etc. AnMilitärbehörden befinden sich dort: das Generalkommandodes 15. Armeekorps, die Kommandos der 31. und 33. Division, der 61.und 66. Infanterie-, der 31. Kavallerie- und der 15.Feldartilleriebrigade, die 3. Ingenieur-, eine Artilleriedepot- unddie 10. Festungsinspektion, ein Gouverneur, ein Stadtkommandantetc. Die Festungswerke, deren Anlage 1682-84 von Vauban mit der aufder Ostseite der Stadt liegenden fünf*ckigen Citadellebegonnen wurde, haben seit 1870 eine bedeutende Erweiterung undVerstärkung erfahren. Ein Teil der Befestigung ist im NO.hinausgerückt, und 13 Forts, 4-8 km vom Mittelpunkt der Stadtentfernt, krönen die umliegenden Höhen, 3 davon auf derbadischen Seite des Rheins bei Kehl. Die Stärke der Werke wirddadurch noch bedeutend erhöht, daß durch die Ill und denRhein-Rhônekanal ein großer Teil der Umgegend von S.unter Wasser

373

Straßburg (Geschichte der Stadt).

gesetzt werden kann. Die Umgebung der Stadt (s. die Karte) istzwar flach, gleicht aber ihrer Fruchtbarkeit halber einemgroßen Garten. Die außerhalb der Umwallung liegendenOrte: Rupprechtsau, Neudorf, Neuhof, Königshofen undGrünenberg sind der Stadt einverleibt. - ZumLandgerichtsbezirk S. gehören die 14 Amtsgerichte zu Benfeld,Bischweiler, Brumath, Hagenau, Hochfelden, Illkirch, Lauterburg,Niederbronn, Schiltigheim, S., Sulz unterm Wald, Truchtersheim,Weißenburg und Wörth.

[Geschichte.] Unter der Regierung des Kaisers Augustus entstandauf der Stelle des heutigen S. eine städtische Ansiedelung,Argentoratum, welche der achten Legion als Standquartier diente.Durch den großen Sieg bei S. 357 über die Alemannenrettete Kaiser Julian die Rheingrenze, doch schon um 406 fiel dasElsaß jenem germanischen Volksstamm zu. Damals ging die Stadtin Flammen auf, ward aber bald neu erbaut und in der Karolingerzeitdurch die Neustadt im W. vergrößert. Hier schwuren 14.Febr. 842 Ludwig der Deutsche und Karl der Kahle den Eidgegenseitiger Treue, der in altromanischer und altdeutscher Spracheerhalten ist. Seit der Begründung des Bistums (s. unten) hobsich die Bedeutung der Stadt; doch blieb sie noch lange Eigentumdes Bischofs, der den Schultheißen ernannte. Wie andrebischöfliche Städte, wußte sich auch S.allmählich größere Selbständigkeit zuverschaffen: an die Stelle der bischöflichen Ministerialentrat ein aus der Bürgerschaft hervorgehender Rat, und dieRichter der Stadt, die Consules, sprachen vom Bischofunabhängig Recht. Aber die Reichsfreiheit hat erst Philipp vonSchwaben S. verliehen und Bischof Heinrich III. von Stahleck(1245-60) anerkannt. Sein Nachfolger Walther von Geroldseck ward1262, als er die Stadt wieder unterwerfen wollte, beiOberhausbergen geschlagen. Für die hohe BlüteStraßburgs in dieser Zeit zeugen nicht nur Namen wieGottfried von S., Meister Eckard, Johannes Tauler, sondern vorallem das Münster (über dessen Entstehung s. oben). DerFamilienhaß zweier Adelsgeschlechter führte 1332 zurAufnahme der Zünfte in den Rat, zu den bisherigen vierStadtmeistern trat zugleich als Vertreter der Handwerker ein aufLebenszeit gewählter Ammeister. Die Stadt schloß sich1381 dem Städtebund zu Speier an und leistete ein Jahrhundertspäter den Schweizern gegen Karl den Kühnen bei Gransonund Nancy erfolgreiche Unterstützung. In S. hat der MainzerGutenberg die erste Druckerpresse aufgestellt, hier haben einigeJahrzehnte später die Dichter Sebastian Brant und ThomasMurner sowie der Humanist Wimpfeling gewirkt. Die Bedeutung derStadt war damals weit größer, als man nach ihrergeringen Bevölkerung (um 1475 nur 20,700 Seelen) erwartensollte. Die Reformation fand früh Eingang, besonders infolgedes rastlosen Eifers Martin Butzers, der 1523 in S. eine Zufluchtfand. Doch erst nach Abschaffung der Messe 1529 kann die Stadt alsprotestantisch gelten. In der gefährlichen Zeit derreligiösen Streitigkeiten und Fehden hatte sie einenvorzüglichen Führer in dem gelehrten und welterfahrenenJakob Sturm (s. d.), welcher ihr z. B. nach dem SchmalkaldischenKrieg einen billigen Frieden vom Kaiser erwirkte. Durch ihn wurdeS. auch eine Stätte der Wissenschaft, besonders als derPhilolog Johannes Sturm sich hier niederließ. Ihmgegenüber vertrat das deutsch-volkstümliche Element inder Litteratur der Straßburger Johann Fischart. Fürihren Rücktritt von der Union belohnte Kaiser Ferdinand II.die Stadt 1621 mit der Errichtung der Universität.Während des Dreißigjährigen Kriegs ersparte die aufreichsstädtischer Tradition beruhende und durch innereParteiungen geförderte Neutralitätspolitik S. viel Elend.Im Westfälischen Frieden blieb es dem Reich erhalten. LudwigXIV. ließ 1680 durch die Reunionskammer in Breisach denSpruch fällen, daß S. für die der Krone Frankreichgehörenden, aber noch in städtischem Besitz befindlichenVogteien von Wasselen, Barr und Illkirchen dem König denHuldigungseid zu leisten habe. Die Stadt wagte keine ablehnendeAntwort zu erteilen, nur seitens des Reichs wurden Verhandlungeneröffnet; aber Ludwig XIV. sandte 1681 mitten im FriedenLouvois mit 30,000 Mann gegen das wehrlose S. Nicht der Verrateinzelner Ratsmitglieder, wie das Volk meinte, nicht die Ränkedes bestochenen Bischofs Egon von Fürstenberg, sondern dieErkenntnis der Aussichtslosigkeit jeglichen Widerstandesführte 30. Sept. die Übergabe der Stadt herbei. DerFriede von Ryswyk 1697 bestätigte diese Annexion, und auch dervon Utrecht änderte nichts daran, nachdem Deutschland einmalversäumt hatte, die Zeit der Ohnmacht Frankreichs (1710) zurWiedererwerbung Straßburgs zu benutzen. Hier begünstigtedie neue Regierung mit Erfolg die Ausbreitung des katholischenBekenntnisses, vermochte aber nicht, der Stadt ihr deutsches Wesenzu rauben. Für dessen Erhaltung sorgte besonders dieUniversität, an welcher der Theolog Spener, die SprachforscherScherz und Oberlin und der Historiker Schöpflin lehrten. Diefranzösische Revolution zertrümmerte die Vorrechte deralten deutschen Reichsstadt; an die Spitze trat ein Maire, ihmstanden zur Seite 17 Munizipalräte und 36 Notabeln, welchealle aus unmittelbaren Volkswahlen hervorgingen. Nach dem Fall desKönigtums blieb der Stadt die Schreckensherrschaft nichterspart; auch hier wurde 1793 ein Revolutionstribunal eingerichtet,dem der deutsche Emigrant Eulogius Schneider vorstand. Erst unterdem ersten Kaiserreich schwanden die partikularistischen Neigungen,welche noch das 18. Jahrh. kennzeichnen. S., das Napoleon I. dieWiederherstellung seiner in den Revolutionsstürmen verfallenenUniversität zu danken hatte, ward wirklich einefranzösische Stadt. Der Versuch Ludwig Napoleons 30. Okt.1836, sich hier von der Garnison zum Kaiser ausrufen zulassen,mißlang. Am 13. Aug. 1870 begann die Einschließung derStadt durch General v. Werder, den Befehlshaber der badischenDivision. Die hartnäckige Verteidigung durch den Kommandanten,General Uhrich, und die Beschießung des unbefestigten Kehlveranlaßten v. Werder zu einem Bombardement (24.-27. Aug.),welches die kostbare Bibliothek zerstörte und den Turm desMünsters beschädigte. Doch da die Beschießung keinResultat hatte, schritt der deutsche Befehlshaber zur regelrechtenBelagerung. Am 12. Sept. war die dritte Parallele fertig; schon warBresche in den Hauptwall geschossen und alles zu einem Sturmvorbereitet, als 27. Sept. die Festung kapitulierte. Die Besatzung(noch 17,000 Mann) wurde kriegsgefangen, 1200 Kanonen undzahlreiches Kriegsmaterial wurden eine Beute der Sieger (s. Plander Belagerung von S. bei Artikel "Festungskrieg"). Diedeutschfeindliche Haltung der Stadtbehörde in S.veranlaßte die kaiserliche Regierung, 7. April 1873 denBürgermeister Lauth seines Amtes zu entsetzen und denGemeinderat, dessen überwiegende Mehrheit sich gegen dieseMaßregel aussprach, zunächst auf zwei Monate, dann aufein Jahr zu suspendieren. Mit der Wahrnehmung der Geschäftedes Magistrats wurde der Polizeidirektor Back betraut, unterwelchem das Gemeindeschul-

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Straßenbahnen - Straßenbau.

wesen ausgebildet, Straßenbahnen gebaut, eineWasserleitung hergestellt und die großartige Stadterweiterungnach Ankauf der alten Festungswerke durchgeführt wurden. Erst1886 wurde wieder die Wahl eines Gemeinderats gestattet, welchedeutschfreundlich ausfiel, und Back zum Bürgermeister ernannt.Vgl. Silbermann, Lokalgeschichte der Stadt S. (Straßb. 1775);Frese, Vaterländische Geschichte der Stadt S. (das. 1791-95, 4Bde.); v. Apell, Argentoratum (Berl. 1884); Schmoller,Straßburgs Blüte im 13. Jahrhundert (Straßb.1875); "Straßburger Chroniken", herausgegeben von Hegel(Leipz. 1870-71, 2 Bde.); Rathgeber, Reformationsgeschichte derStadt S. (Stuttg. 1871); Holländer, S. im französischenKrieg 1552 (Straßb. 1888); Reißeissen,Straßburger Chronik 1667-1710 (hrsg. von Reuß, das.1877; Nachtrag 1879); Schricker, Zur Geschichte derUniversität S. (das. 1872); Wagner, Geschichte der Belagerungvon 1870 (Berl. 1874-77, 3 Bde.); "Urkunden und Akten der Stadt S."(Straßb. 1880-86, Bd. 1-4); Kindler und Knobloch, Das goldeneBuch von S. (das. 1885 ff.); Ludwig, S. vor hundert Jahren (Stuttg.1888); Krieger, Topographie der Stadt S. (Straßb. 1885).

Straßenbahnen, s. v. w.Straßeneisenbahnen.

Straßenbau. Die Straßen zerfallen in Land- undStadtstraßen. Erstere verbinden zwei Ortschaftenmiteinander, und wenn dies nicht durch eine gerade und ebeneStraße möglich ist, so haben die Vorarbeitendemgemäß die beste Trace auszumitteln, was an Ort undStelle oder mit Hilfe von Karten geschehen kann, in welcheHöhenkurven (Schichtenlinien, Niveaukurven) eingetragen sind.Man sucht dabei die notwendigen Unterbauarbeiten thunlichst zuvermindern. Krümmungen sind bei Straßen, sofern sie dieLänge nicht unnötigerweise sehr vergrößern,ohne Nachteil; von wesentlicher Bedeutung sind aber stärkereSteigungen. Eine allgemeine Regel für die größtegestattete Steigung läßt sich nicht geben: sie mußder ortsüblichen Wagenladung entsprechen. Man darf sie heutesteiler wählen als früher, da der schwere Frachtverkehrgrößtenteils durch die Bahnen besorgt wird; Laissleempfiehlt 3 Proz. für Hauptstraßen zu der Ebene, 5-6Proz. im Hügelland, 7 Proz. im Gebirge. Die Breiten derFahrbahnen und Bankette wechseln mit der Frequenz der Straßeund betragen für zwei sich ausweichende Wagen undFußgänger bez. 4,5-5,5 und 1-1,25 m. Ein Sommerweg, d.h. ein nicht befestigter Streifen für leichte Wagen, Viehetc., dessen Anlage sich dort empfiehlt, wo der Unterbau billig,die Befestigung der Fahrbahn teuer ist, erfordert eine Breite von2,5-3m, ein Weg für zwei sich ausweichende Reiter 1,5-2 undein Materialstreifen 1-1,25m Breite. Statt der letztern werden auchin Entfernungen von 100-200m besondere Lagerplätze fürdas Unterhaltungsmaterial angelegt; dagegen erscheint esfehlerhaft, einen Teil der Fußwege zum Lagerplatz fürStraßenmaterial zu verwenden. Die Straßengräbenerhalten, je nach der zu gewärtigenden Wassermenge, eineSohlenbreite von 0,25-0,5 bei einer Tiefe von 0,5-1m und nach dergrößern oder geringern Kohäsion des Erdreichs 1-11/3füßige Böschungen. Die gewöhnlicheBefestigung der Landstraßen bildet die Versteinung oderhaussierung. Die Dicke der Versteinung soll in der Mitte mindestens25-30, an den Rändern 20-25cm und die zur Beförderung desWasserabflusses dienende Wölbung ihrer Oberfläche (Pfeil)etwa 1/38 bis 1/32 ihrer Breite betragen. Nach Umpfenbachgenügt eine Abdachung (zwei geneigte Ebenen) von 1/40-1/30oder eine Wölbung (Kreisbogen), welche 1/30-1/30 derStraßenbreite zur Pfeilhöhe hat. Die Steinbahn kann miteiner Packlage hergestellt werden, d. h. mit einem 13-15cm hohenUnterbau aus Steinen, die man auf die breite Seite (Kopf) stellt,deren Zwischenräume man oben auskeilt, und die man mit einerin der Straßenmitte 12-17cm hohen Schicht zerschlagenerwalnußgroßer Steine (Decklage) bedeckt. Manchmalfaßt man die Packlage mit größern Randsteinen(Bordsteinen) ein, und um die Zwischenräume der Decksteineauszufüllen und hierdurch das Einfahren der Straße zuerleichtern, wird zuweilen eine bis zu 5cm starke Schicht Kies ineiner oder mehreren Lagen auf derselben ausgebreitet.Schließlich ist die Straße stets mit einer schwerenStraßenwalze mehrmals zu überfahren. VieleStraßenbanmeister ziehen die makadamisierte Straße(nach ihrem Erfinder Mac Adam) vor, bei welchergleichmäßig kinderfaustgroße Steinstücke aufdem trocknen Untergrund in dünnen Lagen aufgetragen werden,bis sie eine 25-30cm hohe Lage bilden, die man zum Schluß beifeuchter Witterung tüchtig überwalzt. Wo Steine mangeln,legt man Kiesstraßen an, verwendet das gröbere Materialzu unterst, das feinere in den darüberliegenden Schichten undmengt der obersten, damit sie besser binde, etwas Lehm bei.

Zur Befestigung der Fahrbahn (des Fahrdammes) städtischerStraßen ist Chaussierung trotz der billigen Anlage weniggeeignet: sie nutzt sich rasch ab, erfordert daher öftereErneuerung und ist teuer in der Unterhaltung, gibtaußerordentlich viel Staub und Schmutz, istwasserdurchlässig, mit Einem Wort, nur in wenig belebtenStraßen verwendbar. Den Vorzug verdient Pflaster ausnatürlichen oder künstlichen Steinen, auch ausGußeisenblöcken, Holzpflaster und Asphalt. Das ehemalssehr verbreitete rauhe Pflaster aus Gerollen wird mehr und mehr vondem regelmäßigen Reihenpflaster verdrängt, dessenSteine an der Oberfläche rechteckig bearbeitet sind. DieOberfläche muß eine Wölbung von 1/100-1/60 derBreite erhalten, und des bessern Auftretens der Pferde sowie desraschern Wasserabflusses wegen sollen die Reihen senkrecht zurStraßenrichtung laufen. Die untere Fläche der Steinesoll nicht kleiner sein als etwa 2/3 der obern, und die Höheder Steine darf nicht zu sehr wechseln, sonst drücken sie sichungleich in die Bettung ein. Am besten, aber in manchen Gegenden zuteuer, ist Würfelpflaster aus parallelepipedisch bearbeitetenSteinen, welche, wenn sie thatsächlich Würfel sind, wiein Wien (18cm Seitenlänge), ein mehrmaliges Umwendengestatten. Die Größe schwankt: so hat BrüsselPrismen von 10cm Breite, 16cm Länge, 13cm Höhe, TurinPlatten von 60cm Länge, 30cm Breite, 15-20cm Höhe. DieSteine erhalten eine etwa 25cm dicke Unterlage (Bettung) bloßvon Sand oder von Kies und Sand darüber. Wo der Boden leichtbeweglich ist, wie in Berlin, gibt man eine starke Unterlage vongeschlagenen Steinen, auf diese eine Kiesdecke, welche vor demAufsetzen der Würfel festgewalzt wird. Der Pflasterer(Steinsetzer) setzt die Steine des gewöhnlichen Pflasterszunächst etwa 5cm höher, als sie später liegensollen; dann wird das Pflaster mit Sand überdeckt undabgerammt. Gut ist es, wenn bei der nunmehr folgenden abermaligenSandüberdeckung der Sand durch Wasserspülnng in die Fugengetrieben wird. Häufig, namentlich unter Wagenständen u.dgl., werden die Fugen durch Einguß von Zementmörteloder Asphalt wasserundurchlässig gemacht, um das Eindringender Jauche, also eine Infizierung des Untergrundes, zu

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Straßenbau.

verhindern. In England wird vielfach statt der Sandunterlageeine ungefähr 25 cm starke Betonunterlage angeordnet unddadurch große Haltbarkeit erzielt, allerdings unterstörender Erschwerung aller Ausbesserungen an unter derFahrbahn liegenden Rohrleitungen und Telegraphenkabeln.Pflastersteine dürfen mit der Zeit nicht zu glatt werden undmüssen hart und fest sein, Bedingungen, welche von allenFelsarten Granit mit am besten erfüllt. Man hat beiverschiedenen, namentlich holländischen, Stadt- undLandstraßen statt natürlicher Steine bis zur Verglasunghartgebrannte Ziegel, Klinker, benutzt, welche ähnlich wieandres Reihenpflaster unterbettet und so aufgestellt werden,daß ihre breite Seite die Dicke der Steindecke bildet.Gußeisenpflaster besteht aus vielfach durchbrochenengroßen Gußeisenplatten (bis 100 kg schwer), die auf dergeebneten Unterlage verlegt werden und zur Vermeidung einseitigenSetzens untereinander in Verbindung stehen. Die Durchbrechungenwerden mit Sand und Kies ausgefüllt, um dem PflasterRauhigkeit zu geben. Es hat sich bis jetzt nicht bewährt.Holzpflaster besteht aus 15-17 cm hohen Holzblöcken vonrechteckigem, selten sechseckigem Querschnitt, welche auf einerUnterlage von Sand, Beton oder hölzernen, manchmal in Teergetränkten Dielen ruhen. Man füllt die Fugen, welchezuweilen Filzeinlagen erhalten, mit Sand, einer Mischung von Sandund Asphalt oder Mörtel. Man verwendet meist Tannenholz undimprägniert die Blöcke oder taucht sie vor dem Versetzenin heißen Teer. Eine Verbindung der Klötze durchhölzerne Dübel ist wenig üblich. Holzpflaster ist inder Anlage eher billiger als Reihenpflaster, scheint aber beistarkem Verkehr sehr zu leiden. Es bewirkt ein geräuschlosesFahren und empfiehlt sich aus diesem Grund für Thoreinfahrtenund enge, stark belebte Gassen sowie seines geringen Gewichts wegenals Brückenbelag. In England wird es viel verwendet, so z. B.in zahlreichen Straßen der Londoner City; auch in Berlin istes an mehreren stark frequentierten Stellen benutzt worden.Asphaltstraßen werden aus Stampfasphalt (kom- primiertemAsphalt) hergestellt. Dieser besteht aus natürlichemAsphaltstein, d. h. Kalkstein, der zwischen 7 und 11 Proz. Bitumenenthalten muß und sich z. B. im Val de Travers (KantonNeuenburg), bei Seyssel (Aindepartement), Limmer (Hannover) und aufSizilien findet. Der rohe Stein wird zwischen gerieften Walzenzerkleinert und hierauf auf 120-130° erhitzt, wobei er zuPulver zerfällt. Zur Herstellung der Fahrbahn, welche eineWölbung von 1/100-1/300 erhält, wird das Pulver ingroßen Eisenpfannen abermals erhitzt und dann auf dervorgerichteten Betonunterlage von 10-20 cm Stärke aufgetragenund mit heißen Rammen, auch wohl einer heißen Walzeverdichtet; schließlich wird mit einer Art Plätteisendie Oberfläche vollends geglättet und mit etwas feinemSand überstreut. Die aufgetragene Schicht ist 5/7mal so starkals die spätere gestampfte, 4-6 cm dicke Asphaltlage. Da esauf eine gleichmäßige Unterlage wesentlich ankommt,bedarf bei nachgiebigem Untergrund die Betonlage selbst einesGrundbaues aus festgewalztem Kleinschlag. Im allgemeinendürften die Kosten der Herstellung von Asphaltstraßengeringer sein als die von Granitwürfelpflaster, die derUnterhaltung größer. Die Vorteile derAsphaltstraßen sind: Ebenheit der Fahrbahn, also leichteFortbewegung der Fuhrwerke, große Reinlichkeit,Wasserundurchlässigkeit, geräuschloses Fahren; dieNachteile sind: leichtes Stürzen der Pferde, schwierigeAusbesserung bei nassem Wetter, also insbesondere im Winter.Übrigens hat es sich gezeigt, daß die Gefahr derStürzens sehr abnimmt, wenn Pferd und Kutscher sich an denAsphalt gewöhnen, und daß, während sich aufvereinzelten Asphaltbahnen viele Unfälle zutragen, auf einemgrößern mit Asphalt befestigten Straßennetz dieAnzahl der Stürze verhältnismäßig nicht mehrbedeutend ist; bezüglich der Häufigkeit vonFußkrankheiten der Pferde soll sogar Asphalt dem Pflastervorzuziehen sein. Künstliche Steine aus Asphalt haben sichbisher nicht behaupten können. Fußwege städtischerStraßen liegen meist zu beiden Seiten des Fahrdammes,besitzen ein schwaches Quergefälle gegen dieStraßenmitte zu und liegen mit ihrer gewöhnlichenBegrenzung, den Randsteinen (Bordsteinen, Bordschwellen), 5-20 cmüber dem anstoßenden tiefsten Teil der Fahrbahn, welcherals Gosse (Straßenrinne, Kandel, Rinnstein) zurWasserableitung dient. Neben versteinten Fahrbahnen findet manmanchmal einfach mit Kies überdeckte Fußwege (Gehwege),sonst stellt man Trottoirs aus Pflaster, Plattenbelag,Stampfasphalt oder Gußasphalt her. Hausteinplatten kann manunmittelbar auf den festgestampften Untergrund in Mörtellegen; Thonplättchen mit ebener oder gerippter Oberflächeerfordern schon eine Betonunterlage von 8-10 cm Stärke odermindestens eine Kiesbettung. Zum Gußasphalt (der mit dembereits beschriebenen Stampfasphalt nicht zu verwechseln ist)verwendet man den im Handel vorkommenden Asphalt-Goudron, d. h.eine Mischung von natürlichem Asphaltpulver (s. oben) mitungefähr 5 Proz. reinem Erdharz (Goudron). Der Asphalt-Goudronwird an der Baustelle in Kesseln geschmolzen unter Zusatz von nochetwas Erdharz und so viel Kies, daß etwa 35 Proz. Kies in derneuen Mischung enthalten sind, welche man, wenn sie genügendheiß ist, auf die Unterlage ausbreitet. Letztere ist gemauertoder besteht aus einer 8-10 cm starken Betonschicht. DieGußasphaltdecke wird meist in zwei Lagen hergestellt underhält eine Dicke von 15 bis 20 mm, in Thoreinfahrten etwa 30mm.

Geschichtliches. Kunststraßen legte man schon in denältesten Zeiten an. Die Spuren der Römerstraßen,welche sich über das ganze Gebiet des römischen Reichszerstreut vorfinden, haben dem neuern S. zum Vorbild gedient. Dierömischen Kunststraßen erhielten, wie Plinius und Vitruvberichten, zuerst ein Substrat von einer Art Beton, welches einer20 cm starken Steinplattenschicht (statimen) als Unterlage diente.Auf letztere kam eine neue, ebenfalls 20 cm starke Schicht inMörtel versetzter Steine (rudus), welche durch eine 8 cmstarke Betonschicht (nucleus) bedeckt wurde, auf der dann dieeigentliche Straßendecke (summum dorsum) aus Pflaster oderKies hergestellt wurde. Manchmal fehlte jedoch eine oder die andreLage, oder es wurden Lehmschichten zwischengeschaltet u. dgl. mehr.An den Seiten erhielt der Straßendamm Böschungen oder(bisweilen mit Stu-fen versehene) Strebemauern. Augustus,Vespasian, Trajan und Hadrian haben Bauten der Art anlegen lassen,die uns jetzt fast unglaublich erscheinen. Nachdem dieseStraßen nach dem Umsturz des Reichs in Verfall geraten,ließ Karl d. Gr. die alten Kunststraßen wiederausbessern und neue anlegen. In Deutschland reichen die erstenSpuren eines geregelten Straßenbaues nicht über das 13.Jahrh. zurück. Doch waren diese Ausführungen nochhöchst mangelhaft. Infolge des mit der Entwickelung einesregern Geschäfts- und Verkehrslebens wachsendenBedürfnisses

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Straßenbauordnnng - Straßeneisenbahnen.

an Kunststraßen gründete man in Frankreich 1720 einbesonderes Korps der Ingenieure, in dessen Hand man den mitverhältnismäßig bedeutendem Kostenaufwandverknüpften Straßen- und Brückenbau legte.Vervollkommt wurde diese Einrichtung noch durch die Gründungder École des ponts et chaussées 1795, durch welcheIngenieure für S. wissenschaftlich ausgebildet wurden.Später wurde durch ähnliche Organisationen und technischeBildungsanstalten der S. auch in andern Staaten gefördert. DieFortschritte der neuesten Zeit betreffen weniger die durch dieEisenbahnen ihrer frühern Bedeutung teilweise beraubtenLandstraßen als die Anlage städtischer Straßen,wie z. B. die Neuenburger Asphaltindustrie, von einigen späterin Vergessenheit geratenen Anfängen abgesehen, erst 1832 durchden Grafen Sassenay be-gründet wurde; die erste Verwendung desStampfasphalts erfolgte später durch den Ingenieur Merian ausBasel. Vgl. Umpfenbach, Theorie des Neubaues, der Herstellung undUnterhaltung der Kunststraßen (Berl. 1830); Wedeke, Handbuchdes Chaufseebaues etc. (Quedlinb. 1835); Launhardt, ÜberRentabilität u. Richtungsfeststellung der Straßen(Hannov. 1869); Ahlburg, Der S. mit Einschluß derKonstruktion der Straßenbrücken (Braunschw. 1870); v.Kaven, Der Wegebau (2. Aufl., Hannov. 1870); Zur Nieden, Der Bauder Straßen und Eisenbahnen (Berl. 1878); Heusinger v.Waldegg, Handbuch der Ingenieurwissenschaften, Bd. 1 (2. Aufl.,Leipz. 1884); Osthoff, Wege- und S. (das. 1882); Dietrich, DieAsphaltstraßen (Berl. 1882); Derselbe, Baumaterialien derSteinstraßen (das. 1885).

Straßenbauordnung, s. Bebauungsplan.

Straßenbeleuchtung durch Laternen kannte man schon imAltertum zu Rom, Antiochia etc., wenigstens in denHauptstraßen und auf öffentlichen Plätzen. In Pariswurde 1524, 1526 und 1553 den Einwohnern befohlen, von 9 Uhr abendsan die Straßen durch Lichter an den Fenstern der Sicherheitwegen zu erleuchten. Schon im November 1558 brannten die ersten, anden Häusern oder auf Pfählen angebrachten Laternen, und1667 war die Stadt in solcher Weise vollständig erleuchtet.Diesem Beispiel folgten London 1668, Amsterdam 1669, Berlin 1679,Wien 1687, Leipzig 1702, Dresden 1705, Frankfurt a. M. 1707, Basel1721 und im Lauf des 18. Jahrh. bei weitem die Mehrzahl dergrößern Städte, namentlich in Deutschland. Erst im19. Jahrh. fing man an, die Lampen mit Reverberen zu versehen undsie in der Mitte der Straßen aufzuhängen. Denbedeutendsten Fortschritt hat die S. durch die Gasbeleuchtung (s.Leuchtgas) gemacht, zu welcher in neuester Zeit das elektrischeLicht getreten ist.

Straßeneisenbahnen (engl. Tramways, Trambahnen, vonTram = Schiene mit vorspringendem Rand, Grubenschiene),Schienenwege, welche 1793 von J. Burns und Outram in Derbyshirestatt auf hölzerne Lang- und Querschwellen aufSteinblöcke gelegt wurden (daher auch Outram ways genannt), u.auf denen Wagen zur Beförderung von Passagieren oderGütern meist mittels Pferde (Pferdebahnen) oder Maschinen mitgeringerer Geschwindigkeit als auf der Eisenbahn fortbewegt werden.Die Möglichkeit der Rentabilität derartiger Bahnen beruhtauf der Thatsache, daß die Transportarbeit, welche ein Pferdauf den S. zu verrichten im stande ist, d. h. Anzahl der Menschenmal Kilometer täglich, wegen der verminderten Reibung einewesentlich größere ist als auf Chaussee oderSteinpflaster, und daß daher die Straßeneisenbahn trotzbilliger Fahrpreise die nicht geringen Anlagekosten durchBetriebsersparnisse zu verzinsen vermag. Bei diesen Bahnen, derenlebhafte Entwickelung erst dem letzten Jahrzehnt angehört,haben die eigenartigen Verhältnisse auch viele eigenartige,von den Lokomotivbahnen wesentlich abweichende Oberbausystemeveranlaßt. Am häufigsten wendet man Schienen an, welchemit dem Straßenpflaster genau in gleicher Höhe liegen,also den Verkehr des übrigen Fuhrwerkes nicht stören undmit einer schmalen Rinne versehen sind, worin die Spurkränzeder Räder laufen. Übereinstimmend mit denLokomotivbahnen, ist die Spurweite der S. in Europa fast allgemein1,435 m. Bei eingeleisigen Bahnen sind sogen. Weichen in gewissenZwischenräumen vorhanden, d. h. kurze Strecken Nebengeleise,in welches einer von zwei sich begegnenden Wagen einbiegen kann, umden andern vorüber zu lassen. Die Schienen bestehen in derRegel aus einer Hauptschiene, worauf der Radkranz läuft, undeiner durch die Spurrinne von ersterer getrennten Gegenschiene,welche den Zweck hat, die Spurrinne gegen das Straßenmaterialzu begrenzen, um sie leichter reinigen zu können. In Kurvenbleibt bei der äußern Schiene die Spurrinne weg, sodaß der Wagen nur innen geführt ist, da sich sonst dieRäder festklemmen würden. In Fig. 1 ist a dieHauptschiene, b die Gegenschiene der zuerst für dieBerlin-Charlottenburger Pferdebahn angewendeten Schiene, diespäter durch die leichtere (Fig. 2) ersetzt wurde. Beide warenauf die durch Querschwellen getragenen hölzernen Langschwellengeschraubt, was den Nachteil hatte, daß das Regenwasserleicht durch die Schraubenlöcher in das Innere des Holzesdrang und rasch Fäulnis veranlagte. Um dies zu vermeiden, hatman mancherlei andre Befestigungsmittel der Schienen vorgeschlagenund angewendet, z. B. schmiedeeiserne Bügel unter die Schienegenietet, welche die Langschwelle umgreifen und seitlich andieselbe festgenagelt (Pariser Linie Pont de Courbevoie-Suresnes)oder festgekeilt sind. In den Vereinigten Staaten sind die S. sehrentwickelt. Die Straßen haben daselbst meist sehr wenigWölbung, was für die Anlage der Geleise vorteilhaft ist.Die Schienen ruhen auf fichtenen Langschwellen, die wiederum aufmeistens eichenen Querschwellen befestigt sind und zu beiden Seitenum 0,3 m das Geleise überragen dürfen. Der Abstandderselben wechselt zwischen 1 und 1,8 m und sinkt auf 0,6 m, wenndie Langschwellen ganz wegbleiben. Sie sind auf geschlagene Steinegelagert; die ganze Bahn wird sorgfältig drainiert(trockengelegt). Die Geleisebreite beträgt 1,59 m. In denKurven ist die äußere Schiene flach, die innere aber miteiner hohen Gegenschiene versehen, um die Fortbewegung in geraderLinie, Entgleisung, zu verhüten. In Wien, wo die S. seit 1868bestehen, 1874 bereits eine Länge von 50 km doppelgeleisigerStrecke besaßen und 34 Mill. Passa-

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Straßeneisenbahnen.

giere während des Ausstellungsjahrs 1873 beförderten,liegen die Schienen bei 1,455 m Spurweite aus eichenenLangschwellen von 237 mm im Quadrat und diese auf Querschwellen,die in Schotter gebettet sind. Die Vergänglichkeit derHolzschwellen, durch welche Betriebsstörungen und bedeutendeReparaturkosten erwachsen, hat neuerdings zur Anwendung eisernerLangschwellen oder zur direkten Lagerung der Schienen auf dasStraßenmaterial geführt. Im letztern Fall(Stuttgart-Berg-Kannstätter Pferdebahn) müssen dieSchienen eine beträchtliche Breite erhalten, um den Druck aufeine genügend große Grundfläche zu verteilen.Einige Systeme besitzen den großen Vorzug, daß dieWagen die Schienen beliebig verlassen können, umentgegenkommenden Wagen auszuweichen. Man hat dies durch schwachausgehöhlte Schienen und entsprechend abgerundeteRadkränze, ferner durch eine dritte Schiene erreicht, in dieein fünftes kleineres Rad als Leitrad eingreift, währenddie vier Wagenräder mit gewöhnlichen Radkränzen aufflachen Schienen laufen (Perambulatorsystem). Das Leitrad kannmittels eines Trittes vom Kutscher gehoben werden, worauf der Wagenim stande ist, aus dem Geleise abzulenken. Erspart wird die dritteSchiene auf der Berliner Linie Alexanderplatz-Weißensee,indem hier die vier Laufräder der Wagen ohne Spurkränzeauf den Schienen laufen und anfangs nur durch ein fünftes, aufder linken Schiene laufendes kleines Spurrad, welches, am vordernEnde des Wagens an einem Hebel sitzend, ebenfalls durch einenFußtritt vom Kutscher ein- und ausgelegt werden konnte, aufdem Geleise gehalten wurden. Nach etwa halbjährigem Betriebbrachte man zur größern Sicherheit des Geleisehaltenszwei an einem gemeinschaftlichen Hebel sitzende Spurräder an.Dieses System gestattet den Pferdebahnbetrieb in den engstenStraßen, da nur ein einziges Geleise notwendig ist, indem zumAusweichen je ein Wagen durch Aushebung der Spurräder dasGeleise verläßt, bis der andre vorbei ist. Die Schienebesteht hier aus zwei gleichen, ebenen Laufflächen von ca. 40mm Breite, mit einem Zwischenraum von 30 mm für die Spur. Esist zu erwarten, daß dieses System eine bedeutende Zukunfthat, namentlich weil das hier benutzte Schienensystem denWagenverkehr nicht im geringsten stört. Neuerdings wirdvielfach auf den Straßenbahnen die Betriebskraft der Pferdedurch Dampfkraft ersetzt. Man benutzt Lokomotiven von 15-100effektiven Pferdekräften mit Rauchverbrennungs- undKondensationsvorrichtungen und möglichst ruhigem Gang, um diePassagiere und Fußgänger nicht zu belästigen undPferde nicht scheu zu machen. Solche Dampfstraßenbahnen sindbesonders in Oberitalien in beträchtlicher Ausdehnungvorhanden und vermitteln den Personen- und Güterverkehrzwischen Ortschaften abseits der Eisenbahnen. Auch feuerloseLokomotiven sind für S. benutzt worden, ebenso Dampfwagen, beiwelchen die Dampfmaschine in dem für diePersonenbeförderung bestimmten Wagen angebracht ist (s.Lokomotive, S. 890). Ein in Amerika mehrfach in Anwendungbefindliches Straßenbahnsystem mit Dampfbetrieb (Taubahnen,Kabel-, Seilbahnen) benutzt stationäre Dampfmaschinen und zurÜbertragung der Zugkraft auf die Wagen ein unter demStraßenplanum laufendes Stahldrahtseil ohne Ende. Die Bahnselbst ist eine zweigeleisige, und die beiden Seiltrümer sindso gelegt, daß das eine fortwährend nach derselbenRichtung hinlaufende Trum unter dem einen Geleise, das andre inentgegengesetzter Richtung bewegte unter dem zweiten Geleisebleibt, entsprechend dem Lauf der hin- und hergehenden Wagen. Damitdas Seil weder den sonstigen Wagenverkehr behindert, noch selbsteiner Beschädigung oder Beschmutzung ausgesetzt ist, zugleichaber die Ankuppelung der Wagen gestattet, liegt unter jedem Geleiseein Rohr unter dem Straßenplanum, in welchem zahlreiche umhorizontale Achsen drehbare Leitrollen zur Aufnahme des etwa 25 mmstarken Seils dienen. An den beiden Enden der ganzen Strecke wirddas Seil aus einem Geleise in das andre durch horizontaleWenderollen von 2,4 m Durchmesser übergeleitet. DieRöhren sind auf ihre ganze Länge an der Oberseitegeschlitzt, um eine Verbindung zwischen Wagen und Seil zuermöglichen, und zwar ist der Schlitz so viel von derRohrmitte entfernt angebracht, daß einerseits kein Schmutzauf das Seil und die Leitrollen fallen und anderseits ein vom Wagendurch den Schlitz hinabreichender Kuppelungsarm den an denGefällewechseln über dem Seil befindlichenAblenkungsrollen ausweichen kann. Eine von dem Wagen herabreichendeStahlschiene wird mittels einer an ihrem untern Ende angebrachten,vom Führerstand des Wagens aus mittels Hebels zu handhabendenSeilklemme mit dem Seil verkuppelt. Diese Klammer hat die Formeiner Zange und ist mit zwei das Seil erfassenden Klemmbacken ausweichem Gußeisen versehen. Das Anhalten und Weiterfahren anden Haltestellen erfolgt durchaus stoßfrei und wird von demKondukteur durch Lösen und Schließen der Klemme besorgt.Die Betriebsmaschine ist ungefähr in der Mitte der ganzenBahnstrecke aufgestellt und liegt seitwärts von der Bahn, sodaß an dieser Stelle eine rechtwinkelige Ablenkung des demnächstliegenden Geleise angehörigen Seiltrums erfolgenmuß, um das Seil nach der Betriebsscheibe hinzuleiten. DieserAblenkung des Seils kann die Seilklemme aber nicht folgen undmuß daher kurz vor der Ablenkungsstelle gelöst undgleich hinterher wieder angeschlossen werden, während derWagen infolge seines Beharrungsvermögens die kurzedazwischenliegende Strecke frei durchführt. Ein ähnlichesManöver muß bei Kurven gemacht werden, und damit hierdie bedeutend längere Strecke ohne Seilantrieb sicherdurchfahren werden kann, sind die Geleise vor der Kurve etwasansteigend ausgeführt, um in der Kurve eine zur sichernWeiterbeförderung des Wagens erforderliche Neigung zuerhalten. Für den Betrieb wird nicht jeder Wagen einzeln andas Seil angeschlossen, sondern man fährt mit einem kleinenZug von zwei gewöhnlichen Straßenbahnwagen und einemdavor befindlichen Kuppelungswagen, welch letzterer aberaußer dem Kondukteur noch Passagiere aufnimmt. Auf derHängebrücke zwischen New York und Brooklyn wird eineTaubahn mit einem 38 mm dicken, 3492 m langen Drahtseil betrieben.Dasselbe wird mit 15 km Geschwindigkeit in der Stunde täglich20 Stunden lang in Betrieb erhalten. 10-20 Wagen werdengleichzeitig angehängt, ihr Gewicht beträgtdurchschnittlich je 10 Tonnen. Die Wagen folgen inZeitabständen von 0,6-1,2 Minuten, so daß täglich1200 ganze Reisen (hin und zurück) ausgeführt werden.über Elektrische Eisenbahnen s. d. Vgl. Clark, Tramways. theirconstruction and working (Lond. 1878; deutsch von Uhland, Leipz.1880, 2 Bde.); "Die Straßen- und Zahnradbahnen" (Organfür die Fortschritte des Eisenbahnwesens, Supplementband 8,Wiesb. 1882); "Zeitschrift für das gesamte Lokal- undStraßenbahnwesen" (das., seit 1881); "Zeitschrift fürTransportwesen und

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Straßenkehrmaschinen - Strategie.

Straßenbau" (Berl., seit 1884); v. Lindheim, Die

Straßenbahnen, Statistisches etc. (Wien 1888); Huber, DasTramwayrecht (Zürich 1889).

Straßenkehrmaschinen sind zuerst am Ende der 20er Jahrein England eingeführt worden; sie ahmen entweder dasKehren mit Handbesen oder Krücken nach, und das arbeitendeWerkzeug macht eine fast geradlinige oder schlingendefortschreitende Bewegung, oder das Bürsten- und Besensystemarbeitet ausschließlich bei rotierender Bewegung, oder eswird endlich der Besen wie eine endlose Kette in eine geradlinigfortschreitende und gleichzeitig drehende Bewegung versetzt. DieMaschinen der ersten Klasse sind am wenigsten brauchbar, die zweiteKlasse zählt die meisten Konstruktionen, von denen dieneueste

mit schräg liegender Cylinderbürste den Schmutz in

geradlinige Häufelstreifen zusammenkehrt. Sie unterscheidetsich von der ältern Konstruktion dadurch, daß dieCylinderbürste von dem einen Laufrad ab mittels konischerRäder und durch Benutzung eines Hookschen Gelenks bewegt wird,während der Betrieb der ältern Maschine durch eineendlose Kette erfolgt. Um die gleiche von einer Maschine gereinigteStraßenfläche in einer Stunde nur mit Handbesen zukehren und zu häufeln, sind 33-36 geübte Leutenötig. Zur dritten Klasse gehören die Maschinen, beidenen das Besensystem ein schräg liegendes Paternosterwerkbildet, das den Schmutz auf einer festen schiefen Ebeneaufwärts schiebt und einem Sammelkasten übergibt,während eine Brause die Straße schwach befeuchtet.

Straßenlokomotive, s. Lokomobile, S. 883 f.

Straßenraub, s. Raub.

Straßenrecht auf See (Seestraßenrecht,Seestraßenordnung), Grundsätze und seepolizeilicheVorschriften, welche die Sicherung der Schiffe auf See, namentlichvor dem Zusammenstoß mit andern Fahrzeugen, bezwecken.Früher entschied in dieser

Hinsicht lediglich "das Herkommen auf See" , während inneuerer Zeit die Seestaaten, England voran, dazu übergegangensind, im Verordnungsweg die

nötigen Vorschriften für ihre Schiffsführer zuerlassen. Auf Anregung Frankreichs wurden dann jene Vorschrifteneiner Revision unterzogen, um dieselben

möglichst in Einklang zu bringen und ihnen so einen

internationalen Charakter zu verleihen. Die betreffendendeutschen Verordnungen stimmen mit den englischen ("RevidierteVorschriften zur Verhütung von Kollisionen auf See vom 14.Aug. 1879, in Verfolg der Zusatzakte zumKauffahrteischiffahrtsgesetz

von 1862", nebst Nachtrag vom 21. Aug. 1884) zum Teilwörtlich überein. Die nötige Strafbestimmungenthält das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich(§ 145). Es bedroht mit Geldstrafe bis zu 1500 Mk.

ein Zuwiderhandeln gegen die vom Kaiser erlassenen Verordnungen1) zur Verhütung des Zusammenstoßes der Schiffe auf See,2) über das Verhalten der Schiffer nach einemZusammenstoß von Schiffen auf See, 3) in betreff der Not- undLotsensignale für Schiffe auf See und auf denKüstengewässern. In ersterer Beziehung sind nun dieVerordnungen vom 7. Jan. 1880 und 16. Febr. 1881 erlassen,während in zweiter die Verordnung vom 15. Aug. 1876

maßgebend ist, welche die Schiffsführerverpflichtet,

nach einem Zusammenstoß dem andern Schiff und den dazugehörigen Personen Beistand zu leisten, soweit sie dazu ohneerhebliche Gefahr für das eigne Schiff und die daraufbefindlichen Personen im stande sind. Dazu kommt dann endlich dieNot- und Lotsensignalordnung vom 14. Aug. 1876; letztere,ebenso

wie die Verordnung vom 15. Aug. 1876, im wesentlichen derenglischen Merchant Shipping Act von

1873 entnommen. Was die Verhütung des Zusammenstoßesvon Schiffen auf See anbetrifft, so besteht die Vorschrift,daß jedes Segelschiff auf Backbord eine rote, auf Steuerbordeine grüne Laterne zu führen hat und keine andre; jederDampfer außerdem eine weiße Topplaterne, ein Schlepperzwei weiße Topplaternen übereinander; ein vor Ankerliegendes Schiff an einer gut sichtbaren Stelle und nichthöher als 6 m über dem Schiffsrumpf eine weißeAnkerlaterne und keine andre. Mit Bezug auf das Ausweichen

gilt im allgemeinen die Regel, daß das mit den besten

Mitteln zum Manövrieren ausgestattete Schiff dem andernausweicht; ein Dampfer muß daher einem Segelschiff stetsausweichen, ebenso das überholende Schiff dem vorangehenden.Bewegen sich zwei Schiffe auf gerader Linie gegeneinander, so habensich dieselben mit den Backbordseiten zu passieren; kreuzen sichdie Kurse zweier Segelschiffe, welche den Wind von verschiedenenSeiten haben, so muß dasjenige, welches den Wind von Backbordhat, dem andern aus dem Wege gehen; nur in dem Fall, wenn ersteresdicht am Wind segelt und das andre raumen Wind hat, mußletzteres ausweichen; haben beide Schiffe den Wind von derselbenSeite, oder segelt eins derselben vor dem Wind, so weicht dasluvwärts befindliche aus. Vgl. Gray, Bemerkungen über dasS.

(deutsch von Freeden, Oldenb. 1885).

Straßeureinigungsmaschinen, s.Straßenkehrmaschinen.

Straßmann-Damböck, Marie, hervorragende

Schauspielerin, geb. 16. Dez. 1827 zu Fürstenfeld in

Steiermark, betrat 1843 zuerst zu Innsbruck die Bühne

mit glücklichem Erfolg und folgte von Brünn aus, wosie als tragische Liebhaberin wirkte, 1845 einem Ruf

nach Hannover, der eigentlichen Wiege ihres Ruhms.

Als sie 1849 ehrenvolle Anträge von Wien, Berlin,Stuttgart, München erhielt, entschied sie sich fürletzteres, verheiratete sich daselbst mit dem HeldenspielerStraßmann und siedelte mit demselben 1868 an das

Stadttheater zu Leipzig über, das sie jedoch schon 1870

mit dem Wiener Burgtheater vertauschte. Früher im Fach derLiebhaberinnen glänzend, ging sie bereits in Hannover in dasder Heldinnen und weiblichen Charakterrollen über undleistete, unterstützt durch reiche äußere Mittel,besonders in der Darstellung dämonischer und hochtragischerGestalten Ansgezeichnetes. Zu ihren Hauptrollen auf diesem Gebietgehörten Antigone, Iphigenie, Medea, Judith, Thusnelda,Jungfrau, Deborah etc. In der letztern Zeit wandte sie sich demFach der Heldenmütter zu.

Straßnitz, Stadt in der mähr.Bezirkshauptmannschaft Göding, an der LokalbahnWessely-Sudomeritz unweit der March (Kettenbrücke), mitBezirksgericht,

Piaristenkollegium, Schloß, Weinbau, Dampfmühle,Spiritus-, Preßhefe- und Malzfabrikation und (1880)

5229 Einw.

Strategem (griech., oder nach dem Franz. Stratagem),Kriegslist.

Strategen, bei den alten Athenern die 10gewählten

Befehlshaber größerer Heeresabteilungen, welche anden Schlachttagen das Oberkommando, im Frieden in täglichemWechsel den Oberbefehl führten. Ihr Amt dauerte ein Jahr (vgl.Phalanx). Vgl. Hauvette-Besnault, Les stratègesathéniens (Par. 1885). Jetzt bedeutet Stratege allgemein s.v. w. kriegskundiger Heerführer, Kriegsleiter (vgl.Strategie).

Strategie (griech.), Kriegsleitungslehre, Feldherrnkunst,die Lehre von der Heer- oder Truppenführung auf demKriegsschauplatz bis zum Schlachtfeld, hier

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Stratford - Stratifizieren.

wird sie Taktik. Die S. entwirft den Kriegsplan und wachtüber dessen Ausführung; sie leitet die Kriegshandlungselbst und gibt ihr Richtung und Ziele. Sie bestimmt also imallgemeinen, wann, wohin und auf welchen Wegen die Truppenmarschieren, wann sie schlagen sollen etc. Diese Anordnungenhängen wesentlich von den Nachrichten ab, die man überden Feind erhält; der Feldherr muß ferner außerden materiellen eignen und feindlichen Kräften und derBeschaffenheit des Kriegsschauplatzes auch die Charaktere derFührer, den Zustand und die Stimmung der Heere wie derLandeseinwohner in Betracht ziehen. Dadurch wird die S. zu einerschwer auszuübenden Kunst. Hauptgrundsätze der S. sind:getrennt marschieren und rechtzeitige Vereinigung zur Schlacht;keine Zeit verlieren; errungene Erfolge mit allem Nachdruckbenutzen und auch mitten im Siegeslauf an die Möglichkeitdenken, geschlagen zu werden, und deshalb aus Sicherung desRückzugs stets bedacht sein. Obwohl die Grundsätze der S.einfach sind, so ist doch die Kriegführung selbst sehrschwierig; indessen haben die Schnelligkeit des heutigenNachrichtenwesens wie die zahlreichen Verkehrswege undVerkehrsmittel die Heeresleitung gegen früher sehrerleichtert, so daß Operationen getrennter Heeresteile auchaus rückwärtiger Stellung geleitet werden können.Vgl. Friedrich II., OEuvres militaires; Napoleon, Maximes deguerre; Erzherzog Karl, Grundsätze der S. (Wien 1814, 3 Bde.);Valentini, Die Lehre vom Krieg (Berl. 1821-23, 4 Bde.); Jomini,Précis de l'art de guerre (deutsch, das. 1881); die Werkedes Generals v. Clausewitz (s. d.); v. Willisen, Theorie desgroßen Kriegs (2. Aufl., Leipz. 1868, 4 Bde.); Rüstow:Der Krieg und seine Mittel (das. 1856), S. und Taktik der neuestenZeit (Stuttg. 1872-75, 3 Bde.), Die Feldherrenkunst des 19.Jahrhunderts (3. Aufl , Zürich 1878); Leer, Positive S. (a. d.Russ., 2. Aufl., Wien 1871); Blume, Strategie (2. Aufl., Berl.1886), und die Litteratur bei Art. Taktik.

Stratford (spr. strättförd), Stadt in derbritisch-amerikan. Provinz Ontario, am Avon, nördl. vonLondon, Knotenpunkt mehrerer Eisenbahnen, mit (1881) 8239Einwohnern.

Stratford de Redcliffe (spr. réddkliff),eigentlich Sir Stratford Canning, Viscount de Redcliffe, brit.Diplomat, geb. 6. Jan. 1788 als Sohn eines wohlhabenden Kaufmannszu London, Vetter des Ministers George Canning (s. d.), war bereits1809 britischer Gesandtschaftssekretär in Konstantinopel. 1814ging er als bevollmächtigter Minister nach Basel, wo er an derAbfassung der Schweizer Bundesakte teilnahm. 1815 war erwährend des Kongresses in Wien und ging dann in diplomatischenSendungen nach Washington und Petersburg. Im Februar 1826 wurde erGesandter in Konstantinopel und wirkte für Beilegung derDifferenzen zwischen der Türkei und Griechenland. Da indes diePforte seine Vorschläge verwarf, verließ er 1827Konstantinopel, ging 1828 als außerordentlicher Gesandternach Griechenland und kehrte sodann, nachdem er an den PariserKonferenzen zur Feststellung der Grenzen dieses Königreichsteilgenommen, nach England zurück. Im Oktober 1831 abermalszum Gesandten in Konstantinopel ernannt, nahm er wiederum an denVerhandlungen über die Regulierung der Grenzen Griechenlandsteil und sah seine Bestrebungen durch den Londoner Vertrag vom 7.Mai 1832 gekrönt. 1833 und 1834 war er außerordentlicherGesandter zu Madrid und Petersburg. 1841 ging er wieder alsGesandter nach Konstantinopel und war hier nun 16 Jahre langunermüdlich thätig, den russischen Einfluß in derTürkei zu bekämpfen und auch jedes Vorwiegen einesfranzösischen oder österreichischen Einflusses zuverhindern. Schon 1852 war er mit dem Titel Viscount de Redcliffezum Peer erhoben worden. Im Juli 1858 nach Englandzurückgekehrt, nahm er seinen Sitz im Oberhaus ein; 1869erhielt er den Hosenbandorden. Ohne seitdem an der aktiven Politikteilzuhaben, galt er doch immer als eine der erstenAutoritäten in Sachen der orientalischen Fragen und erhobnamentlich in den Verwickelungen seit 1876 wiederholt seine Stimme,nicht durchweg die Maßregeln des Ministeriums Beaconsfieldbilligend. Er starb 14. Aug. 1880 auf seinem Landsitz Fermt Courtin Kent. Er veröffentlichte einen Band Gedichte ("Shadows ofthe past", Lond. 1865), ein theolog. Werk: "Why am I a Christian?"(1873); "Alfred the Great in Athelnay" (1876) u. a.

Stratford le Bow (spr. li boh), Vorstadt von London, inder engl. Grafschaft Essex, östlich von Lea, mit (1881) 36,455Einw. Vor der St. Johannskirche steht ein Denkmal zur Erinnerung andie hier 1555-56 verbrannten Protestanten. S. hat zahlreicheFabriken (s. Ham).

Stratford on Avon (spr. ehw'n), Stadt in Warwickshire(England), am Avon, mit Lateinschule, Getreide- und Malzhandel und(1881) 8054 Einw. S. ist besonders denkwürdig als Geburts- undSterbeort Shakespeares, dessen noch vorhandenes Geburtshaus vomShakespeare-Verein angekauft wurde. Im Chor der schönenStadtkirche befinden sich das Grab und Denkmal des Dichters; vordem Stadthaus steht eine Statue desselben. Auch ist ein besonderes"Shakespeare-Gebäude" (mit Theater und Bibliothek) errichtetworden.

Strath (gäl.), s. v. w. breites kultiviertes Thal,im Gegensatz zu Glen (s. d.).

Strathaven (spr. strath-éhw'n oder strehw'n),Stadt in Lanarkshire (Schottland), am Avon, 12km südwestlichvon Hamilton, mit Schloßruine und (1881) 3812 Einw.

Strathclyde (spr. strath-klaid') , s. v. w. Clydesdale,d. h. Thal des Clyde, Landschaft im südwestl. Schottland,bestand bis 1124 als unabhängiges Königreich.

Strathmore (spr. strath-móhr), fruchtbareThalebene in Schottland, welche sich von Stonehaven bis zum Clydeerstreckt und im N. durch die Hochlande, im Süden durch dieSidlaw- und Ochillhügel begrenzt wird.

Strathnairn (spr. -nern), Hugh Henry Rose, Lord, engl.General, geb. 1803 zu Berlin, wo sein Vater britischer Gesandterwar, trat 1820 in die Armee und ward, nachdem er den Grad einesOberstleutnants erreicht hatte, nacheinander Generalkonsul inSyrien, Gesandtschaftssekretär in Konstantinopel undbritischer Kommissar im französischen Hauptquartierwährend des Krimkriegs. Beim Ausbruch des indischen Aufstandeserhielt er ein selbständiges Kommando und zeichnete sich soaus, daß er bei der Rückkehr Lord Clydes nach Europadiesem im Generalkommando der britischen Truppen in Indien folgte,in welcher Stellung er sich große Verdienste um dieReorganisation der indischen Armee erwarb. Von 1865 bis 1870kommandierte er die britischen Truppen in Irland, 1866 wurde er zumBaron S. und zum Peer erhoben und 1877 zum Feldmarschall ernannt.Er starb 16. Okt. 1885 in Paris ohne Nachkommen.

Stratifikation (lat.), die Schichtung der Gesteine;Stratigraphie, die Lehre von derselben.

Stratifizieren (neulat., "schichtenförmig legen"),das Einschlagen von Samen (Weißdorn, Quitte, Clematis etc.),welche erst keimen, nachdem sie ein Jahr und länger in derErde gelegen, oder auch von Samen,

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Stratiokratie - Strauß.

welche an der Luft bald ihre Keimfähigkeit verlieren, wieAesculus, Castanea, fa*gus, Juglans, Magnolia, Quercus u. a. Manbenutzt hierzu Sand, Erde, Spreu, Sägespäne u. a., womitman die Samen vermischt und bedeckt und so in einemGefäß in einen trocknen Keller stellt; bei hartschaligenSamen, z. B. Weißdornkernen, dürfen diese Stoffe einengeringen Grad von Feuchtigkeit besitzen. Größere Massengräbt man im Erdboden ein, um sie dem Temperaturwechsel zuentziehen. Sobald der Keim sich zu zeigen beginnt, gießt mandie Samen ein; ist das Würzelchen schon lang geworden,muß es abgekneipt werden.

Stratiokratie (griech.), Soldatenherrschaft.

Stratiomys, Waffenfliege; Stratiomydae (Waffenfliegen),Familie aus der Ordnung der Zweiflügler, s. Waffenfliegen.

Stratioten (griech., "Soldaten", auch Stradioten),halbwilde leichte Reiter aus Albanien und Morea, die im Solde derVenezianer standen, im 15. Jahrh. auch im französischen undspanischen Heer dienten, trugen türkische Tracht ohne Turban,ein Panzerhemd und kleinen Helm und führten als Waffen einebis 4 m lange, an beiden Enden mit Eisen beschlagene Wurflanze,breiten Säbel und Gewehr.

Stratiotes L. (Wasserscher, Krebsscher), Gattung aus derFamilie der Hydrocharideen, untergetauchte oder nur mit denBlattspitzen auftauchende, aloeartige Wasserpflanzen mit dichtrosettenartig gestellten, sitzenden, breit linealen, zugespitzten,stachlig gezahnten, starren Blättern, zusammengedrücktemBlütenschaft und diözischen Blüten. S. aloïdesL. (Meeraloe), mit schwertförmig dreikantigen Blättern,weißen Blüten und sechsfächeriger Beere, instehenden und langsam fließenden GewässernNorddeutschlands, meist gesellig, eignet sich gut fürAquarien.

Stratocumulus (lat.), die geschichtete Haufenwolke, s.Wolken.

Stratos, alte Bundeshauptstadt des wahrscheinlichillyrischen Volkes der Akarnanen (Mittelgriechenland), imBinnenland in der fruchtbaren Ebene des Acheloos gelegen,strategisch wichtig. Im Peloponnesischen Krieg mit Athenverbündet, schlug S. 429 den Angriff der Ambrakiotenzurück, wurde etwa um 300 von den Ätoliern besetzt undblieb in deren Gewalt, bis 189 v. Chr. die Römer es denAkarnanen zurückgaben. Die sehr ausgedehnten, mit Türmenund stattlichen Thoren (daher der heutige Name Portäs)versehenen Stadtmauern und Reste eines Tempels liegen beimWalachendorf Surovigli.

Strato von Lampsakos, peripatetischer Philosoph,Theophrasts Schüler und Nachfolger als Vorstand derAristotelischen Schule im Lykeion zu Athen, starb daselbst 240 v.Chr. Seiner vorwiegenden Beschäftigung mit der Physik halber,während er die Ethik fast vernachlässigte, hieß erder "Physiker". Von seinen Schriften ist nichts erhalten geblieben.Vgl. Nauwerk, De Stratone Lampsaceno (Berl. 1836).

Stratum (lat.), Schicht.

Stratus (lat.), die Schichtwolke, s. Wolken.

Strauben, feines, in steigender Butter gebackenesGebäck aus einem Teig von Mehl, Zucker und Weißwein, denman durch einen im Kreis geschwenkten Trichter in die heißeButter rinnen läßt.

Stranbfuß der Pferde, s. Igelfuß.

Straubing, unmittelbare und Bezirksamtsstadt im bayr.Regierungsbezirk Niederbayern, an der Donau, Knotenpunkt der LinienNeufahrn-S. und Passau-Würzburg der Bayrischen Staatsbahn, 318m ü. M., hat 7 Kirchen, ein Schloß, einen schönenMarktplatz mit Dreifaltigkeitssäule, eine Studienanstalt, eineRealschule, ein Schullehrer- und ein bischöflichesKnabenseminar, ein Waisenhaus, eine Taubstummen- und eineIdiotenanstalt, 4 Klöster, mehrere Hospitäler etc., einLandgericht, eine Filiale der königlichen Bank inNürnberg, eine Bankagentur der Bayrischen Notenbank,bedeutende Ziegel-, Kalk- und Zementfabrikation, Gerberei,Bierbrauerei, Getreidehandel und (1885) mit der Garnison (einInfanteriebataillon Nr. 11) 12,804 meist kath. Einwohner. ZumLandgerichtsbezirk S. gehören die 7 Amtsgerichte zu Bogen,Kötzting, Landau a. I., Mallersdorf, Mitterfels, Neukirchenbei Heiligblut und S. - Die Stadt, an deren Stelle schon in derRömerzeit eine Ansiedelung, Sorbiodurum, bestand, soll um 1208von Ludwig von Bayern gegründet worden sein. Bei der TeilungNiederbayerns (1353) wurde eine Linie Bayern-S. von Wilhelm undAlbrecht begründet, die 1425 mit Johann I. ausstarb, woraufwegen S. ein Streit (Straubinger Erbfall) entstand. DurchKönig Siegmund wurde 1429 S. dem Herzog Ernst vonBayern-München verliehen. 1435 wurde hier Agnes Bernauer (s.d.) von der Donaubrücke in den Strom gestürzt. Vgl.Wimmer, Sammelblätter zur Geschichte der Stadt S. (Straub.1882-86, 4 Hefte).

Strauch (Frutex), ein Holzgewächs, dessen Stammgleich vom Boden an in Äste geteilt ist, wodurch allein essich von den Bäumen unterscheidet. Daher können mancheSträucher künstlich baumartig gezogen werden durchAbschneiden der untern Äste, und Bäume können unterungünstigen äußern Verhältnissenstrauchförmig werden. Vgl. Halbstrauch.

Strauchkraut, f. Datisca.

Strauchweichsel, s. Kirschbaum, S. 789.

Strausberg, Stadt im preuß. RegierungsbezirkPotsdam, Kreis Oberbarnim, am Straussee und an der LinieBerlin-Schneidemühl der Preußischen Staatsbahn, hat eineevang. Kirche aus dem 16. Jahrh., ein Realprogymnasium, eineLandarmen- und Korrektionsanstalt, ein Amtsgericht, Federbesatz-,Flanell-, Schnittwaren- und Teppichfabrikation und (1885) 6525meist evang. Einwohner. S. wird zuerst 1238 urkundlicherwähnt.

Strauß (Struthio L.), Gattung aus der Ordnung derStraußvögel (Ratitae) und der Familie der Strauße(Struthionidae), mit der wohl einzigen Art S. camelus L. (s. Tafel"Straußvögel"). Der S. ist 2,5 m hoch, 2 m lang, 1,5Ztr. schwer; er besitzt einen sehr kräftigen Körper,einen langen, fast nackten Hals, einen kleinen, platten Kopf, einenmittellangen, stumpfen, vorn abgerundeten, an der Spitze platten,mit einem Hornnagel bedeckten, geraden Schnabel mit biegsamenKinnladen, bis unter das Auge reichender Mundspalte und offenstehenden, länglichen, ungefähr in der Mitte desSchnabels befindlichen Nasenlöchern, große,glänzende Augen, deren oberes Lid bewimpert ist, unbedeckteOhren, hohe, starke, nur an den Schenkeln mit einigen Borstenbesetzte, nackte Beine mit groß geschuppten Läufen undzwei Zehen, von denen die innere mit einem großen, stumpfenNagel bewehrt ist, ziemlich große, zum Fliegen aberuntaugliche, mit doppelten Sporen versehene Flügel, welcheanstatt der Schwingen schlaffe, weiche, hängende Federnenthalten, einen kurzen, aus ähnlichen Federn bestehendenSchwanz, mäßig dichtes, ebenfalls aus schlaffen,gekräuselten Federn gebildetes Gefieder und an der Mitte derBrust eine unbefiederte, hornige Schwiele. Beim Männchen sindalle kleinen Federn des Rumpfes schwarz, die langen Flügel-und Schwanzfedern blendend weiß, der Hals hochrot, dieSchenkel fleischfarben; beim Weib-

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Strauß (Vogel) Strauß (Personenname).

chen ist das Kleingefieder braungrau, nur auf den Flügelnund in der Schwanzgegend schwärzlich, Schwingen undSteuerfedern sind unrein weiß, das Auge ist braun, derSchnabel horngelb. Der S. bewohnt die Steppen und WüstenAfrikas und Westasiens vom Süden Algeriens bis tief insKapland hinein, auch in den Steppen zwischen Nil und Rotem Meer, inden Wüsten des Euphratgebiets, in Arabien und Südpersien,überall nur, soweit ein wenn auch spärlicherPflanzenwuchs den Boden bedeckt und Wasser vorhanden ist, durcheiltaber auch völlig pflanzenlose Striche. Er lebt in Familien,die aus einem Hahn und 24 Hennen bestehen, macht auch, wo das Klimadazu zwingt, Wanderungen und rottet sich dann zu Herden zusammen.Er überholt im Lauf ein Rennpferd und breitet dabei seineFlügel aus. Sein Gesicht ist außerordentlich scharf, undauch Gehör und Geruch find ziemlich fein. Dagegen ist er sehrdumm und flieht vor jeder ungewohnten Erscheinung. Oft findet manihn in Zebraherden, die von seiner Wachsamkeit u. feinerFähigkeit, weite Strecken zu übersehen, Vorteil ziehen.Er nährt sich von Gras und Kraut, Körnern, Kerbtieren undkleinen Wirbeltieren, verschlingt jedoch auch Steine, Scherbenetc., ist aber keineswegs gefräßig. Wasser trinkt er ingroßer Menge. Der S. nistet in einer runden Vertiefung imBoden, in welche die Hennen zusammen etwa 30 Eier legen,während weitere Eier um das Nest herum zerstreut werden. EineHenne legt etwa 12-15 Eier. Das Ei ist 14-15,5 cm lang, 11-12,7 cmdick, schön eiförmig, gelblichweiß, hellermarmoriert, wiegt durchschnittlich 1440 g und besitzt einenschmackhaften Dotter. Die Bebrütung geschiehthauptsächlich oder ausschließlich von seiten desMännchens, und nur im Innern Afrikas werden die Eierstundenlang verlassen, dann aber mit Sand bedeckt. Nach 45-52 Tagenschlüpfen die Jungen aus, welche mit igelartigen Stachelnbedeckt sind, die sie nach zwei Monaten verlieren; sie erhaltendann das graue Gewand der Weibchen, und im zweiten Jahr färbensich die Männchen und werden im dritten zeugungsfähig.Das Nest und die Jungen werden von dem S. sorgsam bewacht undverteidigt. Der S. erträgt die Gefangenschaft sehr gut, und inInnerafrika wird er allgemein zum Vergnügen gehalten.Gezüchtet hat man den S. zuerst 1857 in Algerien, bald daraufwurden auch in Florenz, Marseille, Grenoble u. Madrid jungeStrauße erbrütet, und seit 1865 datiert dieStraußenzucht im Kapland, wo 1875 über 32,000Strauße gehalten wurden und die Zucht gegenwärtig einender wichtigsten Erwerbszweige des Landes bildet. Man hält dieTiere wenn möglich auf einem großen eingefriedeten, mitLuzerne besäeten Feld und über läßt sie sichselbst, wendet aber auch vielfach künstliche Brut an undrühmt die größere Zähmbarkeit der auf dieseWeise erhaltenen Tiere, welche sich auch außerhalb derUmzäunung auf die Weide treiben lassen. Von acht zu achtMonaten schneidet man die wertvollen Federn ab. Straußenjagdwird in ganz Afrika leidenschaftlich betrieben. Man ermüdetdas Tier und erlegt es schließlich durch einen heftigenStreich auf den Kopf; in den Euphratsteppen erschießt man denbrütenden Vogel auf dem Nest, erwartet, im Sand vergraben, dasandre Tier und erlegt auch dieses. Am Kap ist dieStraußenjagd seit 1870 gesetzlich geregelt. Als dieschönsten Straußfedern gelten die sogen. Aleppofedernaus der Syrischen Wüste; auf sie folgen die Berber-, Senegal-,Nil-, Mogador-, Kap- und Jemenfedern. Zahmen Straußenentnommene Federn sind immer weniger wert als die von wilden. DieEier und das Fleisch werden überall gegessen. Die Eierschalendienen in Süd und Mittelafrika zu Gefäßen, in denkoptischen Kirchen zur Verzierung der Lampenschnüre.Altägyptische Wandgemälde lassen erkennen, daß derS. im Altertum den Königen als Tribut dargebracht wurde, dieFedern dienten damals schon als Schmuck und galten als Sinnbild derGerechtigkeit. Bei den Assyrern war der S. wahrscheinlich einheiliger Vogel, die ältesten Skulpturen zeigen mitStraußfedern verzierte Gewänder. Vielfach berichten dieAlten über Gestalt und Lebensweise des Straußes.Heliogabal ließ einst das Gehirn von 600 Straußenauftragen, und bei den Jagdspielen des Kaisers Gordian erschienen300 rot gefärbte Strauße. Auch von den alten Chinesenwerden Straußeneier als Geschenk für den Kaisererwähnt. Die Bibel zählt den S. zu den unreinen Tieren.Seit dem Mittelalter gelangten die Federn auch auf unsreMärkte. Vgl. Mosenthal und Harting, Ostriches andostrich-farming (2. Aufl., Lond. 1879).

Strauß, 1) Friedrich, protest. Theolog, geb. 24.Sept. 1786 zu Iserlohn, ward 1809 Pfarrer zu Ronsdorf im HerzogtumBerg, 1814 in Elberfeld und 1822 als Hof und Domprediger undProfessor nach Berlin berufen, wo er 1836 zum Oberhofprediger undOberkonsistorialrat ernannt ward. Seit 1859 in den Ruhestandversetzt, starb er 19. Juli 1863. Außer vielenPredigtsammlungen veröffentlichte er: "Glockentöne, oderErinnerungen aus dem Leben eines jungen Predigers" (Elberf. 181220,3 Bdchn.; 7. Aufl., Leipz. 1840); "Helons Wallfahrt nach Jerusalem"(Elberf.182021,4Bde.); "Das evangelische Kirchenjahr in seinemZusammenhang (Berl. 1850) ; "Abendglockentöne" (das.1868).

2) Johann, Tanzkomponist, geb. 14. März 1804 zu Wien,wirkte als Violinist im Lannerschen Tanzorchester, bis er 1824 einselbständiges Orchester er richtete, mit dem er rasch dieGunst des Publiku*ms eroberte. Später machte er mit seinemOrchester auch Kunstreisen und erntete allenthalbenenthusiastischen Beifall. Er starb 25. Sept. l 849 in Wien als k.k. Hofballmusikdirektor. Die Zahl seiner Werke beläuft sichauf 249. Eine Gesamtausgabe seiner Tänze (für Klavier, 7Bde.) gaben Breitkopf u. Härtel heraus. - Sein Sohn Johann,geb. 25. Okt. 1825, übernahm nach des Vaters Tode dessenOrchester, mit dem er neue ausgedehnte Kunstreisen machte, und hatsich ebenfalls durch zahlreiche ansprechende Tänze ("An derschönen blauen Donau", "Künstlerleben", "Wiener Blut"etc.) sowie neuerdings durch die Operetten: "Indigo" (1871), "DieFledermaus" (1874), "Cagliostro" (1875), "La Tsigane" (1877),"Prinz Methusalem" (1877), "Das Spitzentuch der Königin"(1881), "Der lustige Krieg" (1881), "Eine Nacht in Venedig" (1883),"Der Zigeunerbaron" (1885) u. a. in den weitesten Kreisen bekanntgemacht.

3) David Friedrich, der berühmte Schriftsteller, geb. 27.Jan. 1808 zu Ludwigsburg in Württemberg, bildete sich in demtheologischen Stift zu Tübingen, ward 1830 Vikar, 1831Professoratsverweser am Seminar zu Maulbronn, ging aber noch einhalbes Jahr nach Berlin, um Hegel und Schleiermacher zu hören.1832 wurde er Repetent am theologischen Seminar zu Tübingenund hielt zugleich philosophische Vorlesungen an derUniversität. Damals erregte er durch seine Schrift "Das LebenJesu, kritisch bearbeitet" (Tübing. 1835, 2 Bde.; 4. Aufl.1840) ein fast bei spielloses Aufsehen. S. wandte in demselben dasauf dem Gebiet der Altertumswissenschaften begründete

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Strauß (Personenname).

und bereits zur Erklärung alttestamentlicher und einzelnerneutestamentlicher Erzählungen benutzte Prinzip des Mythusauch auf den gesamten Inhalt der evangelischen Geschichte an, inwelcher er ein Produkt des unbewußt nach Maßgabe desalttestamentlich jüdischen Messiasbildes dichtendenurchristlichen Gemeingeistes erkannte. Die Gegenschriften gegendieses Werk bilden eine eigne Litteratur, in der kaum eintheologischer und philosophischer Name von Bedeutung fehlt. SeineAntworten auf dieselben erschienen als "Streitschristen"(Tübing. 1837). Für die persönlichenVerhältnisse des Verfassers hatte die Offenheit seinesAuftretens die von ihm stets schmerzlich empfundene Folge,daß er noch 1835 von seiner Repetentenstelle entfernt und alsProfessoratsverweser nach Ludwigsburg versetzt wurde, welche Stellevon ihm jedoch schon im folgenden Jahr mit dem Privatstandvertauscht wurde. Früchte dieser ersten (Stuttgarter)Muße waren die "Charakteristiken und Kritiken" (Leipz. 1839,2. Aufl. 184) und die Abhandlung "Über Vergängliches undBleibendes im Christentum" (Altona 1839). Von einerversöhnlichen Stimmung sind auch die in der 3. Auflage des"Lebens Jesu" (1838) der positiven Theologie gemachtenZugeständnisse eingegeben, aber schon die 4. Auflage nahm siesämtlich zurück. 1839 erhielt S. einen Ruf als Professorder Dogmatik und Kirchengeschichte nach Zürich; doch erregtediese Berufung tm Kanton so lebhaften Widerspruch, daß ernoch vor Antritt seiner Stelle mit 1000 Frank Pension in denRuhestand versetzt ward. 1841 verheiratete sich 5. mit derSängerin A. Schebest (s. d.), doch wurde die Ehe nach einigenJahren getrennt. Sein zweites Hauptwerk ist: "Die christlicheGlaubenslehre, in ihrer geschichtlichen Entwickelung und im Kampfmit der modernen Wissenschaft dargestellt" (Tübing. 1840 1841,2 Bde.), worin eine scharfe Kritik der einzelnen Dogmen in Formeiner geschichtlichen Erörterung des Entstehungs- undAuflösungsprozesses derselben gegeben wird. Auf einige kleineästhetische und biographische Artikel in den "Jahrbüchernder Gegenwart" folgte das Schriftchen "Der Romantiker auf dem Thronder Cäsaren, oder Julian der Abtrünnige" (Mannh. 1847),eine ironische Parallele zwischen der Restauration des Heidentumsdurch Julian und der Restauration der protestantischen Orthodoxiedurch den König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen. 1848von seiner Vaterstadt als Kandidat für das deutsche Parlamentausgestellt, unterlag S. dem Mißtrauen, welches diepietistische Partei unter dem Landvolk des Bezirks gegen ihnwachrief. Die Reden, welche er teils bei dieser Gelegenheit, teilsvorher in verschiedenen Wahlversammlungen gehalten hatte,erschienen unter dem Titel: "Sechs theologischpolitischeVolksreden" (Stuttg. 1848). Zum Abgeordneten der Stadt Ludwigsburgfür den württembergischen Landtag gewählt, zeigte S.wider Erwarten eine konservative politische Haltung, die ihm vonseinen Wählern sogar ein Mißtrauensvotum zuzog, indessen Folge er im Dezember 1848 sein Mandat niederlegte. Seinerspätern, teils in Heidelberg, München und Darmstadt,teils in Heilbronn und Ludwigsburg verbrachten Mußeentstammten die durch Gediegenheit der Forschung und schöneDarstellung ausgezeichneten biographischen Arbeiten: "SchubartsLeben in seinen Briefen" (Berl. 1849, 2 Bde.); "ChristianMärklin, ein Lebens und Charakterbild aus der Gegenwart"(Mannh. 1851); "Leben und Schriften des Nikodemus Frischlin"(Frankf. 1855); "Ulrich von Hutten (Leipz. 858; 4. Aufl., Bonn1878), nebst der Übersetzung von dessen "Gesprächen"(Leipz. 1860); "Herm. Samuel Reimarus" (das. 1862); "Voltaire,sechs Vorträge" (das. 1870; 4. Aufl., Bonn 1877); ferner"Kleine Schriften biographischen, litteratur- undkunstgeschichtlichen Inhalts" (Leipz. 1862; neue Folge, Berl.1866), woraus "Klopstocks Jugendgeschichte etc." (Bonn 1878) undder Vortrag "Lessings Nathan der Weise" (3. Aufl., das. 1877)besonders erschienen. Eine neue, "für das Volk bearbeitete"Ausgabe seines "Lebens Jesu" (Leipz. 1864; 5. Aufl., Bonn 1889)ward in mehrere europäische Sprachen übersetzt. EinenTeil der hierauf gegen ihn erneuten Angriffe wies er in der gegenSchenkel und Hengsten berg gerichteten Schrift zurück: "DieHalben und die Ganzen" (Berl.1865), wozu noch gehört: "DerChristus des Glaubens und der Jesus der Geschichte, eine Kritik desSchleiermacherschen Lebens Jesu" (das. 1865). Noch einmal, kurz vorseinem 8. Febr. 1874 zu Ludwigsburg erfolgten Tod, erregte S.allgemeines Aufsehen durch seine Schrift "Der alte und der neueGlaube, ein Bekenntnis" (Leipz.1872; 11.Aufl., Bonn 1881), inwelcher er mit dem Christentum definitiv brach, alle gemachtenZugeständnisse zurücknahm und einen positiven Aufbau derWeltanschauung auf Grundlage der neuesten, materialistisch undmonistisch gerichteten Naturforschung unternahm. S.' "GesammelteSchriften" hat Zeller herausgegeben (Bonn 187678, 11 Bde.; dazu alsBd. 12: "Poetisches Gedenkbuch", Gedichte). Vgl. Hausrath, D. F. S.und die Theologie seiner Zeit (Heidelb. 187678, 2 Bde.); Zeller,S., nach seiner Persönlichkeit und seinen Schriftengeschildert (Bonn 1874).

4) (S. und Torney) Viktor von, Schriftsteller, geb. 18. Sept.1809 zu Bückeburg, studierte zuerst in Bonn und Göttingendie Rechte, sodann Theologie, um in die kirchlichen Kämpfe derGegenwart, in denen er durchaus auf seiten der Orthodoxie stand,besser gerüstet eingreifen zu können, und wurde 1840 zumArchivrat in Bückeburg ernannt. Schon seine ersten Dichtungen:"Gedichte" (Bielef. 1841), "Lieder aus der Gemeine" (Hamb. 1843),die Epen: "Richard" (Bielef. 1841) und "Robert der Teufel"(Heidelb. 1854), erwiesen neben echt poetischem Talent und einerseltenen Formbegabung die Entschiedenheit seinesreligiös-konservativen Standpunktes. 1848 zum Kabinettsrat desregierenden Fürsten von Schaumburg-Lippe, später auch zumBundestagsgesandten ernannt, fand er auch auf politischem Feldvielfach Gelegenheit, diese konservativen Anschauungen zubethätigen. 1866 mit dem Rang eines Wirklichen Geheimen Ratsaus seiner amtlich en Stellung ausgeschieden, lebte er zuerst inErlangen, seit 1872 in Dresden, eine vielseitige litterarischeThätigkeit entwickelnd. Bereits 1851 in denösterreichischen Adelstand erhoben, fügte er späterseinem Namen auch den seiner Gattin, einer gebornen von Torney,bei; 1882 ernannte ihn die Universität Leipzig zum Doktor derTheologie. Es erschienen von ihm noch: "Lebensfragen in siebenErzählungen" (Heidelb. 1846, 3Bde.); die dramatischenDichtungen: "Gudrun" und "Polyxena" (beide Frankf. 1851) und "JudasIschariot" (Heidelb. 1855); "Weltliches und Geistliches inGedichten und Liedern" (das. 1856); der Roman "Altenberg" (Leipz.1866, 4 Bde.); "Novellen" (das.1872, 3 Bde.); die epische Dichtung"Reinwart Löwenkind" (Gotha 1874); "Lebensführungen",Novellen (Heidelberg 1881, 2 Bde.), und "Die Schule des Lebens",drei Novellen (das. 1885). Aus seinem Studium de Chinesischengingen ein Werk über Laotse" (Leipz. 1870) und einemeisterhafte Übertragung des älte-

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Sträußchen - Streckbarkeit.

sten chinesischen Liederbuchs, des "Schiking" (Heidelb. 1880),hervor, mit der er den Geist der ältern chinesischen Kultur,soweit er sich poetisch geoffenbart, vollständigerschloß. Von seinen sonstigen Schriften sind zuerwähnen die Biographie des Polycarpus (Heidelb. 1860);"Meditationen über das erste Gebot" (Leipz. 1866); "Essays zurallgemeinen Religionswissenschaft" (Heidelb. 1879) und "Deraltägyptische Götterglaube" (das. 1888, Bd. 1).

5) Friedrich Adolf, Sohn von S. 1), ebenfalls Theolog, geb.1.Juni 1817 zu Elberfeld, wurde Hilfsprediger an der Hof- undDomkirche und, nachdem er das Morgenland bereist hatte, 1847Divisionsprediger und 1859 Professor in Berlin, seit 1870Hofprediger zu Potsdam und starb daselbst 16. April 1888. Erschrieb unter anderm: "Sinai und Golgatha. Reise ins Morgenland"(Berl. 1846; 11. Aufl. 1882); "Die Länder und Stätten derHeiligen Schrift" (mit seinem Bruder Otto S., Stuttg. 1861 ; 2.Aufl., Leipz. 1876) ; "Liturgische Andachten" (1850; 4. Aufl.,Berl. 1886) und "Trost am Sterbelager" (2. Aufl., das. 1874).

Sträußchen (der Bienen), s.Büschelkrankheit.

Straußelster, s. Würger.

Straußgras, s. Agrostis.

Straußhyazinthe, s. Muscari.

Straußvögel (Ratitae, hierzu Tafel"Straußvögel", auch Kurzflügler [Brevipennes] oderLaufvögel [Cursores]), eine der Hauptgruppen der Vögel,in erster Linie durch den Bau ihres Brustbeins charakterisiert, dasnicht, wie bei allen andern Vögeln, einen hohen Knochenkammzum Ansatz der Flugmuskeln besitzt, sondern flach bleibt. DieFlügel sind mehr oder weniger verkümmert und könnenhöchstens zur Beschleunigung des Laufs dienen. Der ganzeKnochenbau weicht ferner in manchen Punkten wesentlich von dem derübrigen, d. h. der fliegenden, Vögel ab: so sind dieKnochen nicht hohl und mit Luft erfüllt, sondern fest undschwer (namentlich sind die Hinterbeine sehr massiv); so bleibendie Schädelknochen in der Jugend noch lange Zeit voneinandergetrennt; so verwachsen die einzelnen Teile desSchultergürtels zu einem einzigen Knochen; so sind dieSchlüsselbeine rückgebildet etc. Der Oberarm ist entwederlang, wie bei den Straußen im engern Sinn, oder sehr kurzoder ganz und gar verkümmert. Die Zahl der Zehen wechseltzwischen zwei und vier und gibt ein gutes Unterscheidungsmerkmalfür die Unterabteilnngen der S. ab. Der Schnabel ist stetsflach, meist auch kurz. Die Zunge ist sehr klein. Ein Kropf fehltmeistens; der Magen ist außerordentlich muskulös undderb ("Straußenmagen"); die Gallenblase fehlt bei einigenFormen. Der untere Kehlkopf ist nirgends vorhanden. Auch dieBürzeldrüse fehlt. Im männlichen Geschlecht sind dieBegattungsorgane zum Teil sehr gut entwickelt (s. Vögel). DasGefieder entbehrt durchaus der Schwung- und Steuerfedern; dieFedern selbst unterscheiden sich von den gewöhnlichenVogelfedern dadurch, daß die Strahlen nichtzusammenhängen, sondern lockere Büschel bilden, und sinddaher weich und wie Flaumfedern anzufühlen. An denKonturfedern sind bisweilen ein oder zwei Afterschäfte vongleicher Größe mit dem Hauptschaft vorhanden. MancheStellen am Kopf, Hals und an der Brust bleiben ganz nackt. Die S.sind meist ansehnliche Vögel und haben namentlich unter denFossilen riesige Vertreter. In der Schnelligkeit des Laufsübertreffen einige von ihnen sogar die besten Renner unter denSäugetieren. Sie be-wohnen meist die Steppen und Ebenen derTropen und nähren sich von Vegetabilien; vielfach lebt einMännchen mit mehreren Weibchen zusammen. Die zuweilen sehrgroßen Eier werden vorzugsweise vom Männchenbebrütet. In der Gegenwart fehlen die S. in Europa, warenjedoch einst vorhanden, wie die Funde in England darthun. IhreExistenz in den frühern Epochen der Erdgeschichte war so langemöglich, wie noch nicht die großen Raubtiere aufgetretenwaren; zur Zeit ist die Gruppe im Aussterben begriffen und hatsogar in historischer Zeit sich wesentlich vermindert (s. unten).Sie umfaßt nur noch 5 Gattungen mit 20 Arten, zu denen noch 5Gattungen und 14 Arten jüngst ausgestorbener hinzukommen. Alsschwimmender Strauß ist der neuerdings in der Kreide vonKansas aufgefundene Hesperornis zu betrachten, dessen Schnabel abermit Zähnen besetzt war; er leitet zu den Reptilien über(s. Vögel). Abgesehen von ihm teilt man die S. in 6Familien:

1) Äpyornithiden (Aepyornithidae) mit der Gattung Aepyornis(3 Arten). Bewohnten Madagaskar, wo man im Alluvium Teile desSkeletts und die enormen Eier (achtmal größer alsStraußeneier) gefunden hat. A. maximus ist vielleicht derVogel Rok der Sage.

2) Palapterygiden (Palapterygidae) mit 2 Gattungen und 4 Arten.Füße dreizehig, Flügel sehr verkümmert. Lebtenauf Neuseeland.

3) Moas oder Dinornithiden (Dinornithidae) mit 2 Gattungen und 7Arten. Füße zweizehig, Flügel fehltenwahrscheinlich ganz. Lebten auf Neuseeland zum Teil noch mitMenschen zusammen und leben in kleinern Arten dort vielleicht auchjetzt noch. Hierher Dinornis giganteus oder Moa (s. d.).

4) Kiwis oder Schnepfenstrauße (Apterygidae). Schnabelsehr lang, Nasenlöcher an seiner Spitze, Flügel undSchwanz nicht hervortretend, Beine sehr stark, Füßevierzehig. Hierher die Gattung Apteryx (Kiwi, s. d.) mit 4 Arten,sämtlich von Neuseeland.

5) Kasuare (Casuaridae). Schnabel ziemlich lang, hoch, Schwanznicht hervortretend, Hals kurz, Füße dreizehig. Hierherdie Gattungen Casuarius (Kasuar, s. d., 9 Arten, Australien undbenachbarte Inseln) und Dromaeus (Emu, s. d., 2 Arten,Australien).

6) Strauße (Struthionidae). Schnabel breit, flach, Halsund Läufe sehr lang, Flügel zum Teil verkümmert,Füße drei- oder zweizehig. Hierher die Gattungen Rhea(amerikanischer oder dreizehiger Strauß, oder Nandu, 3 Arten,Südamerika) und Struthio (afrikanischer oder zweizehigerStrauß, s. Strauß, 2 Arten, Afrika, Arabien,Syrien).

Strazze (v. ital. stracciafoglio) , s. v. w. Kladde (s.d.); Strazzen, s. v. w. Lumpen oder Hadern.

Streatham (spr. stréttam), Vorstadt von London, 10km im SSW. der Londonbrücke, hoch gelegen, mit chemischenFabriken, dem von Johnson besuchten Thrale House und (1881) 21,611Einw.

Streator (spr. strihtór), Stadt im nordamerikan.Staat Illinois, am Vermilion River, 130 km südwestlich vonChicago, Hauptknotenpunkt von Eisenbahnen, mit (1880) 5157Einw.

Strebe, im Bergbau Grubenholz, welches zurUnterstützung des Gesteins oder der Zimmerung in geneigterStellung eingetrieben wird.

Strebebau, s. Bergbau, S. 725.

Strebebogen, in der got. Baukunst an Kirchen ein von demobern Teil der Mauer des Mittelschiffs zur Sicherung derselbenüber das Dach des Seitenschiffs bis zum äußernStrebepfeiler hinübergeschlagener Bogen (s. Tafel "Dom zuKöln II", Fig. 4 u. 8). Die Strebepfeiler sind viereckig ausden Mauern hervortretende Stützen, welche ein Gegengewichtgegen den Gewölbeschub des Innern bilden sollen, meist durchAbsätze gegliedert und von Fialen gekrönt sind. Vgl.Baustil, S. 527.

Strebepfeiler, s. Strebebogen und Pfeiler.

Streckbarkeit, s. Dehnbarkeit.

Straußvögel.

Strauß (Struthio camelus). 1/16. (Art. Strauß.)

Nandu (Rhea amcricana). 1/10. (Art. Nandu.)

Helmkasuar (Casuarius galeatus). 1/8. (Art. Kasuar.)

Kiwi (Apteryx australis). 1/20 (Art. Kiwi.)

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl.

Bibliographisches Institut in Leipzig.

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Streckbett - Streichen der Schichten.

Streckbett, orthopädische Vorrichtung, besteht ineiner Bettstelle mit Matratze, woran sich Apparate befinden, durchwelche der verkrümmte Körper mittels Zugs (an Kopf, Hals,Becken, Füßen), auch wohl mittels Drucks (z. B. von derSeite her), eine Zeitlang in der Richtung erhalten wird, die erbehufs der Beseitigung gewisser Krümmungen oder Streckunggewisser verkürzter Muskeln oder Sehnen etc. einnehmen soll.In der neuern Chirurgie bedient man sich der Streckbetten nur infrischen und subakuten Fällen, namentlich bei Beinbrüchender untern Extremität, Entzündungen der Gelenke,Resektionen etc., hier aber mit dem segensreichsten undeklatantesten Erfolg. Für veraltete Fälle,Verkrümmungen der Wirbelsäule und des Brustkorbs ist manvon dem Gebrauch der Streckbetten fast ganzzurückgekommen.

Strecke, ein Grubenbau innerhalb der Lagerstätten,deshalb (zum Unterschied von Stollen und Schacht) fast immer ohneMundloch über Tage, in seiner Längsrichtung wesentlichhorizontal, in der Regel von andern Grubenbauen aus angelegt. Inder Jägersprache heißt S. das nach beendeter Jagd inReihen zusammengelegte Wild, das bei großen Jagden nachWildart, Geschlecht und Stärke geordnet und dann von demJagdherrn und den Gästen besichtigt wird, wobei dieverschiedene Totsignale geblasen werden. Nach altem Brauch darfniemand über das gestreckte Wild wegschreiten. Zur S. bringen,s. v. w. ein Wild erlegen.

Strecker, Adolf, Chemiker, geb. 21. Okt. 1812 zuDarmstadt, studierte in Gießen Chemie und Naturwissenschaft,wurde 1842 Lehrer an der Realschule in Darmstadt, 1846Privatassistent Liebigs in Gießen und habilitierte sich 1848an der dortigen Universität als Privatdozent. 1851 folgte ereinem Ruf an die Universität Christiania, wurde 1860 Professorder Chemie in Tübingen und 1870 in Würzburg, wo er 9.Nov. 1871 starb. Er lieferte eine vielbenutzte Bearbeitung vonRegnaults "Lehrbuch der Chemie" (Braunschw. 1851, nach seinem Todfortgeführt von Wislicenus) und schrieb: "Das chemischeLaboratorium der Universität Christiania" (Christ. 1854);"Theorien und Experimente zur Bestimmung der Atomgewichte"(Braunschw. 1859).

Streckfuß, 1) Adolf Friedrich Karl, Dichter undÜbersetzer, geb. 20. Sept. 1778 zu Gera, studierte in Leipzigdie Rechte, ward 1819 Oberregierungsrat zu Berlin, 1840 Mitglieddes Staatsrats und starb daselbst 26. Juli 1844. S. hat sichnamentlich durch seine Übersetzungen von Ariostos "RasendemRoland" (Halle 1818-20, 5 Bde.; 2. Aufl. 1840), von Tassos"Befreitem Jerusalem" (Leipz. 1822, 2 Bde.; 4. Aufl. 1847) undDantes "Göttlicher Ko-mödie" (Halle 1824-26, 3 Bde. ; 9.Aufl. 1871) einen Platz in der deutschen Litteratur erworben. Seineeignen Werke bestehen in lyrischen und epischen Dichtungen("Gedichte", neue Ausg., Leipz. 1823; "Neuere Dichtungen", Halle1834) sowie in Erzählungen (Dresd. 1814 u. Berl. 1830).

2) Adolf, Schriftsteller, Sohn des vorigen, geb. 10. Mai 1823 zuBerlin, studierte, nachdem er die Landwirtschaft praktisch erlernt,1845-48 auf der landwirtschaftlichen Akademie zu Möglin undEldena, wurde 1848 beim Ausbruch der Revolution in Berlin in diedemokratische Bewegung gerissen und war für dieselbe auchschriftstellerisch thätig. In den folgenden Reaktionsjahrenwurde er wegen des Werkes "Die große französischeRevolution und die Schreckensherrschaft" (Berl. 1851, 2 Tle.) inden Anklagestand versetzt, indessen vom Schwurgerichtfreigesprochen; doch unterblieb die Vollendung des Werkes. S.ergriff nun die gewerbliche Thätigkeit und kehrte erst beimRegierungsantritt des Prinz-Regenten zur Schriftstellereizurück, daneben sich vorzugsweise dauernd dem Kommunaldienstseiner Vaterstadt widmend. 1862 wurde er zum Stadtverordneten, 1872zum Stadtrat ernannt. Von seinen Schriften sind, abgesehen vonzahlreichen Romanen und Erzählungen ("Die von Hohenwald",1877; "Schloß Wolfsburg", 1879, etc.), zu erwähnen: "VomFischerdorf zur Weltstadt. 500 Jahre Berliner Geschichte" (4.Aufl., Berl. 1885, 4 Bde.); "Berlin im 19. Jahrhundert" (das.1867-69, 4 Bde.) und "Die Weltgeschichte, dem Volk erzählt"(das. 1865 bis 1867).

Streckmaschiue (Streckwerk, Strecke), in der Spinnereieine Vorrichtung zum Parallellegen der Fasern und zum Ausstreckender Lagen zu Bändern mit Hilfe von Streckwalzen (s. Spinnen,S. 149); in der Appretur eine Vorrichtung zum Strecken der Gewebein die Breite, um die Einschlagfäden in gerade Richtung zubringen.

Streckmuskeln (Extensoren), die Antagonisten der Flexoren(Beugemuskeln), die durch ihre Zusammenziehung bewirken, daßdas vorher gebeugte Glied gestreckt wird.

Streckverse (Polymeter), bei Jean Paul Fr. RichterBezeichnung für kurze Sätze oder Aphorismen, welche ineiner Art rhythmischer Prosa und meist in überschwenglicherForm poetischen Empfindungen Ausdruck geben. Auch W. Menzelveröffentlichte einen Band "Streckverse" (Heidelb. 1823).

Streckwalzen, Streckwerk, s. Streckmaschine.

Street (engl., spr. striht), Straße.

Strehla, Stadt in der sächs. KreishauptmannschaftLeipzig, Amtshauptmannschaft Oschatz, an der Elbe, hat eine evang.Kirche, ein altes Schloß, Fabrikation von Leim undkünstlichem Dünger, Schiffahrt, Kohlenhandel und (1885)2173 Einw.

Strehlen, 1) Kreisstadt im preuß. RegierungsbezirkBreslau, an der Ohlau, Knotenpunkt der Li-nien Breslau-Mittelwalde, S.-Nimptsch und S.-Grottkau der PreußischenStaatsbahn, hat 2 evangelische, eine altlutherische, einereformierte und eine kath. Kirche, ein Gymnasium, ein Amtsgericht,eine Zuckerfabrik, einen großen Steinbruch, Ziegelbrennerei,lebhafte Getreide-, Woll- und Viehmärkte und (1885) mit derGarnison (2 Eskadrons Husaren Nr. 4) 8854 meist evang. Einwohner.Dabei das jetzt in S. einverleibte Dorf Woiselwitz, bekannt durchden beabsichtigten Verrat des Barons Warkotsch an Friedrich d. Gr.Vgl. Görlich, Geschichte der Stadt S. (Bresl. 1853). -

2) Dorf in der sächs. Kreishauptmannschaft Dresden,Amtshauptmannschaft Dresden-Altstadt, 3 km südöstlich vonDresden, mit dem es durch Pferdebahn verbunden ist, hat einekönigliche Villa, eine Dampfmahlmühle, Ziegelbrennereiund (1885) 2106 Einw.

Strehlenau, s. Niembsch von Strehlenau.

Strehlitz, Stadt, s. Großstrehlitz.

Streichbrett, s. Pflug, S. 973.

Streichen, seemännisch das Gegenteil vonheißen (s. d.), also herunterziehen, z. B. die Segel oder dieFlagge. Wenn zu den Zeiten der Segelschiffahrt ein Schiff, dasverfolgt wurde, seine Segel strich, so gab es sich damit verloren;daher figürlich die Segel s., s. v. w. sich ergeben.

Streichen der Schichten, die Richtung, in welcher sicheine Gesteinsschicht oder ein Gang horizontal weiter erstreckt(streicht). Sie wird durch den Winkel

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Streichendes Feld - Streiter.

bestimmt, welchen eine in der Schichtungsfläche oder in derGrenzfläche des Ganges gedachte Horizontallinie (Streichlinie)mit der Magnetnadel bildet. Die Streichlinie steht senkrecht zurFalllinie (s. Fallen der Schichten), und durch gleichzeitige Angabedes Streichens und Fallens ist die Schicht oder der Gang im Raumvollständig orientiert. Der Winkel gegen die Nordsüdliniewird entweder (neuerdings häufiger) in Graden angegeben oder(früher ausschließlich) in Stunden (horae), indem mansich den Limbus des Kompasses in zweimal 12 oder auch in 24 Stunden(à 15°) und diese in Achtelstunden (à 1° 52'30'', den Einheiten mißbräuchlich als Dezimalstellenangefügt) geteilt denkt. Eine Schicht, welche hora 6 (oderhora 18 zu 6) streicht, wird sich hiernach in westöstlicherRichtung horizontal weiter erstrecken und gegen S. oder N.einfallen. Horizontale (söhlige) Schichten streichen nachallen Richtungen gleichzeitig.

Streichendes Feld, s. Gestrecktes Feld.

Streichinstrumente. Die heute allein in der europäischenKunstmusik gebräuchlichen S.: Violine, Bratsche,Violoncello und Kontrabaß sind das Schlußergebnis einervielleicht tausendjährigen langsamen Entwickelung; sie sindsämtlich nach demselben Prinzip gebaut, wie schon einflüchtiger Blick auf ihre äußern Umrisse lehrt.Diese der Bildung eines edlen, vollen Tons günstigste Bauartwurde etwa zu Ende des 15. Jahrh. zunächst für dieVioline gefunden und allmählich auf die größernArten der S. übertragen, so daß Cello, Bratsche undKontrabaß erheblich später die ältern S., welcheViolen hießen (Viola da braccio, Viola da gamba und Violone),verdrängten (vgl. Viola und Violine). Wie alt die S. sind, istnicht recht festzustellen; noch ist kein Denkmal ausvorchristlicher Zeit aufgefunden, welches die Abbildung einesStreichinstruments aufweist. Nach gewöhnlicher Annahme ist derOrient die Wiege der S.; doch ist dieselbe schlecht genugbegründet, nämlich damit, daß die arabischenMusikschriftsteller des 14. Jahrh. die S. Rebab oder Erbeb undKemantsche kennen. Obgleich nichts auf eine wesentlich frühereExistenz dieser Instrumente bei ihnen hinweist, hat man doch darausgeschlossen, daß das Abendland sie von den Arabern nach derEroberung Spaniens erhalten habe, während auf der andern Seiteeine große Zahl Beweise vorhanden sind, daß seit dem 9.Jahrh., wo nicht länger, das Abendland Instrumente dieser Artkannte. Es genüge hier, darauf hinzudeuten, daß dieälteste Abbildung eines Streichinstruments (in Gerberts "Demusica sacra" wiedergegeben), eine einsaitige "Lyra" , die dem 8.oder 9. Jahrh. angehört, eine der spätern Gigue sehrähnliche Gestalt aufweist, daß wir aus dem 10. Jahrh.eine Abbildung der keltischen Chrotta (s. d.) haben, und daßbereits im 11.-12. Jahrh. mancherlei verschiedene Formen der S.nebeneinander bestanden. Es hielten sich jahrhundertelangnebeneinander zwei prinzipiell verschiedene Formen der S., vondenen die (vermutlich minder alte) mit plattem Schallkasten aus derChrotta hervorging, die andre mit mandolinförmiggewölbtem Bauch aber (die altdeutsche Fidula) wahrscheinlichgermanischen Ursprungs ist. Auch das frühere Vorkommen derDrehleier deutet auf einen abendländischen Ursprung der S. Dieältesten S. hatten keine Bünde; diese tauchen erst zueiner Zeit auf, wo die nachweislich von den Arabern importierteLaute anfing, sich im Abendland auszubreiten, d. h. im 14. Jahrh.,und um dieselbe Zeit tauchen auch allerlei andre Wandlungen imÄußern der S. auf (große Saitenzahl, die Rose),welche den Einfluß der Laute verraten. Im 15.-16. Jahrh.finden wir zahlreiche verschiedene Arten großer und kleinerGeigen nebeneinander, die dann sämtlich von denViolineninstrumenten verdrängt wurden. Zur Erklärung derso verschiedenartigen äußern Umrisse der S. ältererZeit sei noch darauf hingewiesen, daß für diejenigen,welche eine größere Saitenzahl (über 3) unddemzufolge einen höher gewölbten Steg hatten, dieSeitenausschnitte nötig wurden, und man ging in derVergrößerung der letztern so weit, daßschließlich Instrumente zu Tage kamen, derenSchallkörper beinahe die Gestalt eines x hatte. Für dieInstrumente mit höchstens 3 Saiten bedurfte es derSaitenausschnitte nicht, u. sie behielten daher auch ihrenbirnenförmigen Schallkasten noch lange Zeit (s. Gigue).

Streichmaß (Streichmodel), s.Parallelreißer.

Streichorchester, s. Orchester.

Streichquartett, das Ensemble von 2 Violinen, Bratscheund Violoncello sowie eine Komposition für diese Instrumente(s. Quartett).

Streichquintett, das Ensemble von 2 Violinen, 2 Bratschenund Cello oder 2 Violinen, Bratsche und 2 Celli, auch wohl von 2Violinen, Bratsche, Cello und Kontrabaß, selten von 3Violinen, Bratsche und Cello oder andre Zusammenstellungen. Inähnlicher Weise sind auch Streichsextette, Septette etc. inverschiedenartiger Zusammenstellung möglich.

Streichschalen, s. Schleifsteine.

Streichwolle, s. Wolle.

Streifen, in der Jägersprache s. v. w.Abstreifen.

Streifenbarbe, s. Seebarbe.

Streifenfarn, s. Asplenium.

Streifenruderschlange, s. Wasserschlangen.

Streifkorps, s. v. w. Fliegendes Korps (s. d. undFreikorps).

Streifzug, s. Raid.

Streik (engl. strike, "Schlag, Streich", franz.Grève, daher in Belgien Grevist, der Anteilnehmer am S.), s.Arbeitseinstellung.

Streitaxt, Hieb- und Wurfwaffe, bei den Römern alssecuris gebräuchlich, im Mittelalter aus einembeilförmigen Eisen auf der einen und einer Art Hammer auf derandern Seite bestehend, zwischen denen oft noch eine gerade, zumZustoßen geeignete Spitze in der Stielrichtung hervorragte.Die S. war auf einem kurzen Stiel befestigt und bis zum 16. Jahrh.,bei den Kaukasusvölkern bis in die neueste Zeit,gebräuchlich (s. Fig. 1 u. 2). Über prähistorischeStreitäxte s. Metallzeit und Steinzeit.

Streitbefestigung, s. Litiskontestation.

Streitberg, Dorf im bayr. Regierungsbezirk Oberfranken,Bezirksamt Ebermannstadt, 483 m ü. M. an der forellenreichenWiesent, in der sogen. Fränkischen Schweiz, hat eine protest.Kirche, Burgruinen, ein Mineralbad nebst Molkenkuranstalt und(1885) 283 Einw. In der Nähe ein gelber Marmorbruch.

Streiter, Joseph, Schriftsteller, geb. 8. Juli 1804 zuBozen, studierte in Innsbruck die Rechte, ward Rechtsanwalt inCavalese, dann in Bozen, 1861

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Streitgedichte - Strelitz.

Bürgermeister daselbst, 1866 Abgeordneter der BozenerHandelskammer im Landtag, legte 1871 sein Amt nieder und starb 17.Juli 1873 auf Payersberg bei Bozen. Er schrieb: "Jesuiten in Tirol"(Heidelb. 1845); "Die Revolution in Tirol" (Innsbr. 1851); "Studieneines Tirolers" (Berl. 1862); "Blätter aus Tirol" (Wien 1868);auch mehrere Dichtungen, wie: "Heinrich IV.", Tragödie (1844),"Der Assessor", Lustspiel (1858), u. a. Nicht bloß alsAbgeordneter und Bürgermeister, sondern auch alsSchriftsteller bekämpfte er mutig den mächtigenKlerus.

Streitgedichte, eine Art altdeutscher Dichtungen, worindie Vorzüge verschiedener Gegenstände voreinander oderdie Erwägung, was an einem Gegenstand das Bessere sei, alsStreit unter Personifikationen dargestellt wurde. Die frühsteVeranlagung dazu haben wohl die uralten, schon in der frühernlateinischen Poesie des Mittelalters vorkommenden allegorischenSommer- und Winterstreite gegeben; seit dem Ende des 13. Jahrh.werden dergleichen Dichtungen sehr häufig und finden sichunter dem Namen "Kampfgespräche" noch bei Hans Sachs. Auch der"Wartburgkrieg" (s. d.) ist hierher zu rechnen.

Streitgenossen (Litiskonsorten), im bürgerlichenRechtsstreit die in einer Parteirolle vereinigten Personen, sei esals Kläger (Mitkläger), sei es als Beklagte(Mitbeklagte). Ob eine solche Streitgenossenschaft(Litiskonsortium) eintreten soll oder nicht, das hängt in derRegel von der freien Entschließung der Klagpartei ab. Ichkann z. B. die Erben meines verstorbenen Schuldners wegen meinerForderung einzeln verklagen, oder ich kann diese Forderung in einerund derselben Klage gegen die sämtlichen Erben verfolgen.Besteht in Ansehung des Streitgegenstandes eine Rechtsgemeinschaft,oder sind mehrere Personen aus demselben tatsächlichen undrechtlichen Grund berechtigt oder verpflichtet, so könnendieselben eben gemeinschaftlich klagen oder verklagt werden; ja,dies kann nach der deutschen Zivil-Prozeßordnung auch schondann geschehen, wenn gleichartige und auf einem im wesentlichengleichartigen tatsächlichen und rechtlichen Grund beruhendeAnsprüche oder Verpflichtungen den Gegenstand desRechtsstreits bilden. Die Zivilprozeßordnung kennt aber aucheine notwendige Streitgenossenschaft, welche dann eintritt, wenndas streitige Rechtsverhältnis allen S. gegenüber nureinheitlich festgestellt, oder wenn nach bestehenderRechtsvorschrift ein Rechtsanspruch nur von mehreren zusammen odergegen mehrere zusammen wirksam geltend gemacht werden kann. Diesist z. B. nach preußischem Recht bei Grundstücken derFall, welche im Miteigentum von mehreren Personen stehen. Das Rechtzur Betreibung des Prozesses steht aber auch im Fall einernotwendigen Streitgenossenschaft jedem Streitgenossen zu; ermuß aber, wenn er den Gegner zu einem Termin ladet, auch dieübrigen S. laden. Vgl. Deutsche Zivilprozeßordnung,§ 56 ff., 95, 434; v. Amelunxen, Die sogen. notwendigeStreitgenossenschaft der deutschen Zivilprozeßordnung (Mannh.1881).

Streithammer, Hammer mit Schaft, als Waffe schon imAltertum gebräuchlich, im Mittelalter aus einemstählernen Hammer mit gegenüberstehender scharfer,rückwärts gebogener Spitze und kurzer Stoßklinge amvordern Ende bestehend (s. Figur). Er wurde vom Fußvolk auflangem Schaft, von Reitern an kurzem Stiel, am Sattel hängend,geführt.

Streitkolben, aus der Keule hervorgegangene Schlagwaffe,meist eiserner Stiel mit Handgriff und schwerem Knopf am andernEnde. Letzterer erhielt geeignete Formen zum Durchbohren derPanzer. Der S. wurde meist von Reitern bis ins 16. Jahrh.geführt; vgl. Morgenstern.

Streitkolbenbaum, s. Casuarina.

Streitverkündigung (Litisdenunziation), imbürgerlichen Rechtsstreit die von seiten einer Partei an einenDritten ergehende Aufforderung, ihm in dem Prozeß zur Seitezu treten und zum Sieg zu verhelfen. Die betreffende Partei wirdStreitverkünder (Litisdenunziant) genannt, die dritte Personist der Litisdenunziat. Eine S. erfolgt dann, wenn eine Parteifür den Fall des Unterliegens im Prozeß einenRückanspruch gegen den Litisdenunziaten zu haben glaubt. Ichhabe z. B. eine Ware gekauft, und diese Ware macht mir jemand imWeg der Klage streitig. Ich kann alsdann meinem Verkäufer denStreit verkünden, weil ich im Fall meiner Verurteilung zurHerausgabe der Sache einen Ersatzanspruch an den Verkäuferhabe. Außerdem kann eine S. aber auch in dem Fall erfolgen,daß die Hauptpartei den Anspruch eines Dritten (desLitisdenunziaten) besorgt. Der Kommissionär kann z. B.für Rechnung des Kommittenten einen Prozeß führen.Verliert er denselben, so kann unter Umständen der Kommittentmit einem Schadenersatzanspruch hervortreten. Der Kommissionärwird daher gutthun, dem Kommittenten von dem RechtsstreitMitteilung zu machen, um ihn zur Teilnahme an demselben zuveranlassen. Die S. erfolgt nach der deutschenZivilprozeßordnung durch die Zustellung eines Schriftsatzes,in welchem der Grund der S. und die Lage des Rechtsstreitsanzugeben sind. Abschrift des Schriftsatzes ist dem Gegnermitzuteilen. Tritt der Dritte dem Streitverkünder bei, so wirder dessen Nebenintervenient (s. Intervention, S. 1005); lehnt erden Beitritt ab, oder erklärt er sich nicht, so wird derRechtsstreit ohne Rücksicht auf ihn fortgesetzt. Vgl. DeutscheZivilprozeßordnung, § 69 ff.; Kipp, DieLitisdenunziation im römischen Zivilprozeß (Leipz.1887).

Streitwagen dienten entweder dazu, die Streiter imGefecht schneller fortzuschaffen, worauf diese beimZusammenstoß mit dem Feind vom Wagen herab kämpften oderauch zu diesem Zweck abstiegen, oder sie sollten durch ihrenEinbruch den Feind selbst schädigen, wie die Sichelwagen (s.d.). Die S., von einem Wagenführer gelenkt, von einem, auchmehreren Kämpfenden besetzt, finden sich namentlich beidenGriechen (s. Figur) in ihrer Heldenzeit und ersetzten die Reiterei.Im Mittelalter waren die S. stark bemannt und dienten denArmbrustschützen auch wohl gleichzeitig als Verschanzung, wiebei den Hussiten und Vlämen im 14. Jahrh., die ihreWalkerkarren (ribeaudequins) sogar mit Geschützenbesetzten.

Strelitz, Herzogtum (auch Herrschaft Stargard genannt),einer der beiden Bestandteile des Groß-HerzogtumsMecklenburg-Strelitz, östlich von Meck-

[Luzerner Streithamm er (14. Jahrh.).]

[Griechischer Streitwagen.]

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Strelitzen - Stricken.

lenburg-Schwerin gelegen und außerdem von Brandenburg undPommern umschlossen, 2548 qkm (46,28 QM.) groß mit 82,288Einw. Darin die Stadt S. (Altstrelitz), südlich beiNeustrelitz (s. d.) und an der Linie Berlin-Stralsund derPreußischen Staatsbahn, hat eine evang. Kirche, ein altesSchloß (jetzt Straf- und Irrenanstalt), ein Amtsgericht,Leder- und Tabaksfabrikation, starken Pferdehandel und (1885) 3096Einw.

Strelitzen (russ. Strjelzi, "Schützen"), russischeLeibwache, ward vom Zaren Iwan Wasiljewitsch dem Schrecklichen inder Mitte des 16. Jahrh. errichtet und machte, zuweilen 40-50,000Mann stark, die ganze Infanterie Rußlands aus. Mit ihnenerkämpften jener Zar und dessen Nachfolger die großenSiege, die Rußlands Macht gründeten. Sie waren aber einewilde, zuchtlose Soldateska, achteten weder Gesetze noch Disziplinund empörten sich bei dem geringsten Anlaß. 1682rebellierten sie und übten bei dem Thronwechsel nach dem Todedes Zaren Feodor eine Zeitlang einen politischen Einfluß.Peter d. Gr. suchte daher die Macht der S. nach und nach zuschwächen, indem er ihnen ein Vorrecht nach dem andern entzog,bis er es ohne Gefahr unternehmen durfte, sie ganz aufzulösen.Zur Beobachtung Polens an die litauische Grenze postiert,empörten sie sich im Sommer 1698, wurden aber in einer offenenFeldschlacht von dem General Gordon geschlagen. Nahezu 2000 derRebellen wurden gefangen genommen und mit beispielloser Grausamkeitgefoltert und hingerichtet. Die Regimenter der S. wurdenaufgelöst. Die Reste derselben nahmen noch wiederholt an denfolgenden Rebellionen während der Regierung Peters d. Gr.teil.

Strelna, kaiserliches Lustschloß im russ.Gouvernement St. Petersburg, mit schönem Park, nach dem Musterdes Versailler Schlosses 1711 von Peter I. angelegt, liegt an derBaltischen Bahn, 9,5 km von Peterhof am hohen Ufer des FinnischenMeerbusens, hat in den zwei dazu gehörigen DörfernFarmen, Schulen, eine Papierfabrik und 1350 Einw.

Strelno (Strzelno), Kreisstadt im preuß.Regierungsbezirk Bromberg, an der Linie Mogilno-S. derPreußischen Staatsbahn, hat eine evangelische und eine kath.Kirche, eine Synagoge, ein Amtsgericht und (1885) 4332 meist kath.Einwohner.

Stremayr, Karl, Edler von, österreich. Minister,geb. 30. Okt. 1823 zu Graz, studierte daselbst die Rechte, trat beider k. k. Kammerprokuratur in den praktischen Staatsdienst, war1848-49 Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung, ward dannSupplent des römischen Rechts an der Universität undStaatsanwaltssubstitut in Graz, 1868 von Giskra als Ministerialratin das Ministerium des Innern berufen und war dreimal, vom 1. Febr.bis 12. April 1870, vom Mai 1870 bis 7. Febr. 1871 und seit 25.Nov. 1871 bis 15. Febr. 1879, Unterrichtsminister. Er führtedie Aufhebung des Konkordats durch und brachte die neuenUnterrichts- und Kirchengesetze im Reichsrat zustande, verstand esaber dennoch, mit dem katholischen Klerus ein gutes Verhältnisaufrecht zu erhalten. Nach dem Rücktritt des MinisteriumsAuersperg übernahm S. 15. Febr. 1879 zunächst den Vorsitzdes Ministerrats und ging im August 1879 als Justizminister miteinstweiliger Verwaltung des Unterrichtsministeriums in dasTaaffesche Kabinett über, nahm aber 1880 seine Entlassung undschied aus dem politischen Leben. Er ward zum zweitenPräsidenten des obersten Gerichtshofs und 1. Jan. 1889 zumMitglied des Herrenhauses ernannt.

Stremma, neugriech. Flächenmaß, = 1000 qm.

Strenae (lat.), bei den alten Römern Geschenke, dieman sich zu Anfang des neuen Jahrs mit Glückwünschen zuübersenden pflegte, bestanden in Lorbeer- und Palmenzweigen,Süßigkeiten und Früchten, die wie bei uns mitGoldschaum überzogen wurden. Eine letzte Spur derselben hatsich in den französischen Étrennes (s. d.) erhalten.Der Name S. hängt mit der alten sabinischen SegensgöttinStrenia zusammen, welcher die römische Salus entsprach.

Strenger Arrest, s. Arrest.

Strenglot, s. Lot, S. 920.

Strengnäs, alte Stadt im schwed. LänSödermanland, am Mälar, ist seit dem Brand von 1871 neuaufgebaut, hat eine in ihrem Kern aus dem 13. Jahrh. stammendeDomkirche mit den Grabmälern Karls IX. u. a., eine gutebischöfliche Bibliothek und (1885) 1614 Einw. S. steht mitStockholm in regelmäßiger Dampferverbindung. Seit demAnfang des 12. Jahrh. ist es Bischofsitz.

Strenuität(lat.), Hurtigkeit, Betriebsamkeit.

Strepitoso (ital.), lärmend, rauschend.

Strepsiceros, s. Antilopen, S. 639.

Strepsiptera, s. Fächerflügler.

Stretford, Stadt in Lancashire (England), 3 kmsüdwestlich von Manchester, hat Baumwollfabriken,Schweineschlächtereien und (1881) 19,018 Einw.

Stretto (ital., "gedrängt"), in der MusikBezeichnung für die Engführungen in der Fuge; auch einelängere, lebhafter vorzutragende Schlußpassage, wie siehäufig am Ende von Konzertsätzen auftritt, desgleichenein schnell bewegter Satz am Ende des Opernfinales etc. heißtS. (Stretta).

Streu (Stallmist), s. Dünger, S. 219 f.

Streu, rechtsseitiger Nebenfluß derFränkischen Saale im bayr. Regierungsbezirk Unterfranken,entspringt auf der Hohen Rhön und mündet beiHeustreu.

Streublau, s. Schmalte.

Streukügelchen, kleine Kügelchen von Zucker,deren sich die Homöopathie zur Verabreichung der kleinstenDosen ihrer Arzneien bedient.

Streupulver, s. Lycopodium.

Streuzucker, s. Dragée.

Strich, deutsche Bezeichnung für Millimeter.

Strichfarn, s. Asplenium.

Strichprobe, s. Goldlegierungen.

Strick, in der Jägersprache 2-3 zusammengekoppelteWind- oder Hatzhunde.

Stricken, die Herstellung von Maschen mit Hilfe einesFadens und zweier Nadeln. Als Material gebraucht man Seide, Wolleoder Baumwolle. Die Nadeln werden aus Stahl, Holz oder Knochenangefertigt, sind 20-50 cm lang, von oben bis unten gleich starkund an den Enden etwas zugespitzt. Wenn man nur mit zwei Nadelnstrickt, so sind diese an einem Ende mit einem Knopfe versehen,damit die Maschen nicht abgleiten können. Auf die eine Nadelwerden durch Knüpfen Maschen aufgelegt; diese Nadel nimmt manin die linke Hand und legt den an der letzten Masche hängendenFaden über den Zeigefinger um die andern Finger; mit der vonder rechnen Hand gehaltenen zweiten Nadel sticht man in die ersteMasche, faßt mit der Nadel den straff angezogenen Faden,zieht ihn durch die Masche hindurch und läßt diese vonder Nadel heruntergleiten. Dadurch, daß der Faden ohneUnterbrechung fortläuft, sind alle Maschen miteinanderverbunden. Man unterscheidet Rechts- oder Glatt- und Linksstricken.Beim Rechtsstricken sticht man von vorn in die Masche und zieht denFaden von hinten nach vorn durch, beim Linksstricken ist esumgekehrt. Ist die Strickarbeit lappen-

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Stricker - Strickmaschine.

oder streifenartig, so bedient man sich zweier Nadeln und wendetjedesmal am Ende der Nadel das Strickzeug um. Will man ein Rundstricken, so braucht man fünf Nadeln. Auf vier verteilt mandie Maschen, mit der fünften strickt man. Der Faden wird ohneUnterbrechung von der letzten Masche einer Nadel durch die ersteder nächsten gezogen. Durch die Abwechselung von Rechts- undLinksstricken, Ab- und Zunehmen, Verschränken u. andre Artenvon Maschenbilden kann man verschiedene Muster in die Strickereibringen. Strickarbeiten werden zu fast allen Kleidungsstückenverwendet (Strümpfe, Röcke, Jacken, Hauben etc.). Inneuerer Zeit werden Strickereien vielfach durch Maschinenhergestellt (s. Strickmaschine). Das S. soll bereits im 13. Jahrh.in Italien bekannt gewesen, nach andern aber erst im 16. Jahrh. inSpanien erfunden worden sein. Von hier gelangte es nach England u.Schottland, u. 1564 wird William Rider als erster Strumpfstrickerin England genannt. Um dieselbe Zeit gab es in DeutschlandHosenstricker, und noch lange wurde das S. von Männernausgeübt. Vgl. Heine, Schule des Strickens (Leipz. 1879);Hillardt, Das S. (3. Aufl., Wien 1887).

Stricker (der Strickäre), mittelhochd. Dichter, von dessenLebensverhältnissen nur bekannt ist, daß er inÖsterreich um 1240 lebte. Er verfaßte einen "Daniel vonBlumenthal" (noch ungedruckt), eine Bearbeitung des "Rolandslieds"(hrsg. von Bartsch, Quedlinb. 1857), kleine Erzählungen,Gleichnisse, Fabeln, die man damals unter dem Namen Beispielezusammenfaßte (mehrere hrsg. von Hahn, das. 1839), undbesonders die Schwanksammlung "Der Pfaffe Amis", die ältestederartiger Dichtungen, deren Inhalt die Schwänke undGaunerstreiche eines geistlichen Herrn, des Amis, bilden (hrsg. vonBenecke in den "Beiträgen zur Kenntnis der altdeutschenSprache etc.", Götting. 1810-32, 2 Bde.; neuerdings vonLambelin "Erzählungen und Schwänke", 2. Aufl., Leipz.1883; deutsch von Pannier, das. 1878). Vgl. Jensen, Über denS. als Bispeldichter (Marb. 1886).

Strickland, 1) Agnes, engl. Geschichtschreiberin, geborenum 1808 zu Rorydonhall in Suffolkshire, schrieb teilweise unterMitwirkung ihrer Schwester Jane S. unter anderm: "Historic scenes"(neue Aufl., Lond. 1852); "Lives of the queens of England from theNorman conquest" (das. 1840-49, 12 Bde.; neue Ausg., das. 1864, 6Bde.; in verkürzter Fassung, das. 1867); "Letters of Mary,queen of Scots" (das. 1843, 3 Bde.); "Lives of the queens ofScotland and English princesses connected with the royal successionof Great Britain" (das. 1850-59, 8 Bde.); "Lives of the bachelorkings of England" (das. 1861); "Life of the seven bishops committedto the Tower in 1688" (das. 1866). Ihre Arbeiten zeichnen sichdurch fleißiges Quellenstudium, übersichtliche Anordnungdes Materials und anziehende Darstellung aus. S. erhielt 1871 aufGladstones Antrag eine Pension aus der Staatskasse, starb aberschon 8. Juli 1874. Ihr Leben beschrieb ihre Schwester Jane S.(Lond. 1887).

2) Hugh Edwin, Geolog, geb. 2. März 1811 zu Righton inYorkshire, studierte zu Oxford, begleitete 1835 den OberstenHamilton auf dessen Reise in den Orient und veröffentlichteals Frucht dieser Reise: "Bibliographia zoologiae et geologiae"(Lond. 1847-54) und "The Dodo and its kindred" (das. 1848).Später unterstützte er als Professor der Geologie inOxford Murchison in den Vorarbeiten zu dem "Siluriansystem". Erstarb 14. Sept. 1853. Vgl.Jardine, Memoirs and letters of H. E. S.(Lond. 1858).

Strickmaschine. Das Stricken bezweckt die Bildung einesMaschengebildes in der Weise, daß stets der Faden alsSchleife durch eine bereits vorhandene Masche hindurchgezogen wird,während beim Wirken umgekehrt der Faden erst zur Schleifegebogen und die vorhandene Masche über diese Schleifege-schoben wird. Demnach ist das Werkzeug (Nadel) der S. auch sokonstruiert, daß es durch eine Masche hindurchgeht, einenFaden greift und beim Durchziehen durch die Masche in eine solcheumbildet. Den Vorgang und die Nadeleinrichtung zeigen Fig. 2-6. DieNadel g besitzt einen Haken a und unter diesem eine Klappe b,welche sich mit a zu einer Öse schließen, übrigensauch ganz zurückfallen kann. In jeder Masche befindet sicheine solche Nadel, welche in einem Nadelblatt (Fig. 1) nur eineVertikalbewegung durch Führung in einer Nute erhält,durch den Stab c am Herausfallen verhindert und durch denverstellbaren Anschlag d in der Bewegung begrenzt wird. Eine Reihevon Nadeln sind nun (Fig. 1) parallel nebeneinander so angeordnet,daß sie mit den Köpfen g vortreten, und über dasNadelbrett läßt sich an einem Schlitten ein sogen.Schloß hin und her bewegen, dessen Hauptteile aus demdreieckigen Nadelheber e und den beiden Nadelsenkern ff bestehen.Diese drei Stücke bilden eine hinauf und wieder hinab gehendeRinne, welche beim Hin- und Hergehen des Schlosses die aus denNuten hervorsehenden Nadelköpfchen g aufnimmt und, an ihnenanfassend, die Nadeln hinauf und wieder hinab schiebt. Ein sich mitdem Schloß zusammen bewegender Fadenführer legt in denHaken der Nadel, wenn diese in der höchsten Stelle steht, denzu verstrickenden Faden ein. Die schon auf der Nadel befindlicheMasche hebt beim Sinken der Nadel die Klappe b und schließtmit ihr den Haken zu einer Öse, über die sie dann bei dertiefsten Nadelstellung selbst von der Nadel abrutscht (Fig. 3 u.4). Der im Haken befindliche Faden bildet beim Wiederaufsteigen derNadel (Fig. 5) die neue Masche, durch welche die . Klappe bzurückgeschlagen wird. In der höchsten Stel-

Fig. 1-6. Strickmaschine (Nadelbewegung).

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Stricknadeln - Strikt.

lung hat die Klappe die Masche vollständig passiert, undnachdem neuer Faden gefaßt ist, wiederholt sich der Vorgang,sobald die betreffende Nadel von dem an dem Nadelbett entlanggehenden Schloß erfaßt wird. Bei der von Bickford inNew York gebauten Maschine stehen die Nadeln im Kreis herum ineinem cylindrischen Nadelbett, und das Schloß wird im Kreisum sie her bewegt (Rundstuhl). Es können auf solcher Maschineschlauchförmige Sachen gestrickt werden, deren Maschenzahl imDurchmesser gleich der Nadelzahl der Maschine ist. Mehr Maschennebeneinander, als Nadeln vorhanden sind, können auf keinerMaschine gestrickt werden; weniger Maschen geben aber auf derBickford-Maschine stets nur ein plattes, nie ein rund geschlossenesStück. Lamb in Chicopee Falls (Massachusetts) stellte zuerstzwei Nadelreihen, welche schräg stehen, in zwei ebenen Bettenversetzt, einander gegenüber. Strickt hier ein Schloßauf dem einen Bett hingehend, so strickt ein andres auf dem zweitenNadelbett beim Zurückgehen, und da nur ein Fadenführermit Fadenspanner beiden Schlössern folgt, so geht der Fadenvon einer Nadelreihe auf die andre über und strickt sogeschlossen rund, auch dann, wenn an einem oder beiden Enden beiderBetten eine Anzahl nebeneinander liegender Nadeln außerThätigkeit gestellt ist. Fig. 6 zeigt eine Nadel inRuhestellung; das Köpfchen g kann von dem darüberhinweggehenden Nadelheber nicht mehr gefaßt werden. Jedebeliebige Maschenzahl ist so bei geschlossenem Rundstrickenmöglich. Legt man die Masche der letzten arbeitenden Nadelbeider Reihen mit auf die neben ihr arbeitende Nadel und stellt sieselbst in Ruhe, so nimmt die Maschine ab. Bei geeigneterWiederholung kann man so einen Strumpf bis zur letzten Maschezustricken. Ähnlich läßt sich ein Zunehmenbewerkstelligen. Durch gewisse Vorkehrungen werden auch die Hackenin Strümpfe gestrickt, ohne daß einevervollständigende Naht nachher nötig ist. BesondereMechanismen ermöglichen, die Nadelsenker ff nach Bedarf derartverschieden zu stellen, daß sie die Nadeln weniger oder mehrin die Nuten hinabziehen, wobei festere oder losere Maschenentstehen; auch kann man jeden Nadelsenker sowie die Nadelheberganz außer Thätigkeit stellen. Bei letztern thut diesdie Maschine, wenn sie dazu eingestellt ist, selbstthätig jenach der Bewegungsrichtung des Schlosses. Läßt man ingeeigneter Weise beide Nadelreihen in einer Bewegungsrichtungzusammenwirken, so kann man rechts und links platt gestrickte Warenerhalten. Mittels Ausladens gewisser Nadeln, Verstellens derNadelbetten gegeneinander und variierten Ein- und Abstellens derNadelheber können die mannigfaltigsten Muster erzielt werden,die durch Aufeinanderfolgenlassen verschieden gefärbter Garnenoch zu vermehren sind. Die Lambsche Maschine hat eine hoheVollkommenheit erreicht, so daß geübte Arbeiter damit aneinem Arbeitstag 8 Paar lange Frauenstrümpfe und bis 20 PaarMännersocken vollenden können (s. Wirkerei).

Stricknadeln, s. Nadeln, S. 974.

Stricto jure (lat.), nach strengem Recht. Stricto sensu,im strengen Sinn.

Stride (engl., spr. streid', "weiter Schritt"), Ausgriffeines Pferdes, besonders bei Rennpferden die Weite desGaloppsprungs, die Räumigkeit der Bewegung; ein Pferd mitgutem S. deckt mit jedem Sprung viel Terrain.

Stridor (lat.), das zischende, pfeifendeAtmungsgeräusch, welches bei Kehlkopfverengerung entsteht.

Stridores (Schwirrvögel), s. Kolibris.

Stridulantia (Singzirpen), Familie aus der Ordnung derHalbflügler, s. Cikaden.

Striegau, Kreisstadt im preuß. RegierungsbezirkBreslau, am Striegauer Wasser (Nebenfluß der Weistritz),Knotenpunkt der Linien Kamenz-Raudten und S.-Bolkenhain derPreußischen Staatsbahn, hat eine evangelische und einegroße gotische kath. Kirche, ein Progymnasium, eineStrafanstalt (im ehemaligen Karmeliterkloster), ein Amtsgericht,bedeutende Granit- und Basaltbrüche, Granitschleiferei,Buchbinderwaren-, Zigarren-, Bürsten-, Peitschen-, Stuhl-,Leder- und Zuckerfabriken und (1885) 11,784 meist evang. Einwohner.Nahebei die bis 355 m hohen Striegauer Berge mit hübschenAnlagen. S. erhielt 1242 deutsches Stadtrecht. Nach S. wird auchdie Schlacht bei dem 7 km entfernten Hohenfriedeberg (s. d.)benannt.

Striefen, Dorf in der sächs. Kreis- undAmtshauptmannschaft Dresden, östlich von Dresden, hatbedeutende Kunst- und Handelsgärtnerei, Bierbrauerei und(1885) 8011 Einw.

Strigel, 1) Bernhard, Maler, der früher sogen.Meister der Sammlung Hirscher, geboren um 1460 zu Memmingen,bildete sich nach Zeitblom und Burgkmair, war zumeist in seinerVaterstadt, zeitweilig auch in Wien thätig, wo er von KaiserMaximilian geadelt wurde und das Vorrecht erhielt, den Kaiserallein porträtieren zu dürfen, und starb 1528 inMemmingen. Er hat sowohl Bildnisse, unter denen dasFamilienporträt des Kaisers Maximilian in der kaiserlichenGalerie zu Wien und das des kaiserlichen Rats Cuspinian im BerlinerMuseum hervorzuheben sind, als Kirchenbilder gemalt, welche sich inBerlin (Museum), München (Pinakothek und Nationalmuseum),Nürnberg (Moritzkapelle) und Donaueschingen befinden. Vgl.Bode im "Jahrbuch der königlich preußischenKunstsammlungen", Bd. 2 (Berl. 1881).

2) Viktorin, namhafter luther. Theolog, geb. 1514 zu Kaufbeuren,bildete sich in Wittenberg unter Melanchthons Leitung und wurde1548 als Professor der Theologie zu Jena angestellt. Hier in densynergistischen Streit verwickelt, ward er 1559 vier Monate lang inHaft gehalten, ging 1562 als Professor nach Leipzig und von da nachWittenberg, endlich 1567 nach Heidelberg, wo er zum Calvinismusübergetreten sein soll und 26. Juni 1569 starb. Sein Hauptwerksind die "Loci theologici" (Neust. a. d. H. 1581-84, 4 Bde.). Vgl.Otto, De Victorino Strigelio (Jena 1843).

Strigen (Striges), nach dem Volksglauben der Altenvogelähnliche Unholdinnen, welche in der Nacht unheimlichumherschwirren und den Kindern in der Wiege das Blut aussaugenetc.

Strigiceps, s. Weihen.

Strigidae (Eulen), Familie aus der Ordnung derRaubvögel, s. Eulen, S. 905.

Strij (spr. strei), Abraham van, holländ. Maler,geb. 1753 zu Dordrecht, malte Genrebilder aus dem häuslichenLeben in der Art von Metsu, aber auch Porträte, Landschaftenund Viehstücke im Geschmack von A. Cuijp. Er stiftete 1774 dieGesellschaft Pictura in Dordrecht und starb 1826 daselbst. - SeinBruder Jacob van S. (1756-1815) schloß sich in Landschaftenund Tierstücken so eng an A. Cuijp an, daß seine Bilderoft mit denen seines Vorbildes verwechselt werden. Es sollen aucheinige derselben zum Zweck der Täuschung mit dem Namen vonCuijp bezeichnet worden sein.

Strike (engl., spr. steik), s. Streik.

Strikt (lat.), genau, streng, pünktlich.

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Striktur - Stringocephalenkalk.

Striktur (lat.), die auf einzelne Stellenbeschränkte und unnachgiebige organische Verengerung eines miteiner Schleimhaut ausgekleideten Kanals. Solche Strikturen kommenvor an der Speiseröhre, am Magen und Darm, in denThränenkanälen, in der Luftröhre, in derHarnröhre u. a. O. Sie entstehen entweder dadurch, daßdie Schleimhaut des betreffenden Kanals an einer mehr oder wenigerumschriebenen Stelle nach vorangegangener Verschwärung in einfestes Narbengewebe umgewandelt wird, welches sich zusammenzieht,schrumpft und nun wie ein fester um den Kanal herumgelegter Ringdiesen bleibend zusammenschnürt; oder sie beruhen auf derEinlagerung von Krebsmasse in das Schleimhautgewebe, wodurch sichdieses beträchtlich verdickt, unnachgiebig wird und den Kanalauf verschieden große Strecken verengert. Die Strikturen derSpeiseröhre beruhen meist auf Krebseinlagerung, seltener aufNarbenbildung infolge von Verbrennungen oder Einführung vonätzenden und scharfen Substanzen (Vergiftung mitSchwefelsäure, Ätzkali). Die Strikturen des Magens sindbedingt entweder durch Magenkrebs oder durch die sich starkzusammenziehenden Narben, welche nach einem Magengeschwürzurückbleiben. Ähnliches gilt von den Strikturen desDarms, welche außerdem auch noch infolge derVerschwärung der Schleimhaut beim Ruhrprozeß entstehenkönnen. Die Strikturen der Harnröhre, welcheüberwiegend beim männlichen Geschlecht vorkommen, sindfast immer die Folge einer Tripperentzündung. Die Folgen derStrikturen bestehen darin, daß der betreffende Kanal mehroder weniger unwegsam wird, daß die Massen, welche durch denKanal hindurchgehen sollen, an der S. aufgehalten und unterUmständen in umgekehrter Richtung wieder entleert werden.Daher ist bei der S. der Speiseröhre das Schlingen erschwert,die Speisen werden meist sofort wieder ausgewürgt. BeiStrikturen des Magens wird der Speisebrei, welcher nicht in denZwölffingerdarm gelangen kann, durch Erbrechen wieder nachaußen entleert. Bei Strikturen des Darms tretenStuhlverhaltung, einfaches oder Kotbrechen, bei Strikturen derHarnröhre erschwertes Harnen, Ablenkung des dünnenHarnstrahls, tropfenweises Abgehen des Urins etc. ein.Natürlich werden in allen diesen Fällen auch nochsubjektive Symptome der S. vorhanden sein, wie Schmerz, Gefühlvon Druck in der betreffenden Gegend etc. Die Behandlung derStrikturen kann nur da eine direkte sein, wo wir sie mit unsernmechanischen Hilfsmitteln erreichen können, wie in derSpeiseröhre, der Harnröhre und im Mastdarm, währenddie Strikturen des Magens und Darms an sich keiner Behandlungzugänglich sind. Krebsige Strikturen geben unter allenUmständen eine schlechte Prognose, die narbigen Strikturen imallgemeinen eine bessere; doch sind auch sie sehr schwierig und oftnur unvollkommen zu beseitigen. Der hierzu eingeschlagene Wegbesteht darin, daß man durch Einführung von glattencylinderförmigen Körpern den verengerten Kanalallmählich zu erweitern sucht, indem man Cylinder von immerzunehmender Dicke anwendet. Bei Strikturen der Speiseröhreverwendet man hierzu die sogen. Schlundsonde, beim Mastdarm diesogen. Mastdarmbougies, bei Strikturen der Harnröhre starreoder elastische Sonden und Bougies aus verschiedenen Substanzen.Erreicht man hiermit den beabsichtigten Zweck nicht, und ruft dieS. eine gefährliche Harnverhaltung hervor, so muß mandem Harn auf operativem Weg Abfluß verschaffen, entwederdurch den Blasenstich oder durch den Harnröhrenschnitt (hinterder S.). Der künstliche Abweg für den Harn muß solange offen gehalten werden, bis es gelungen ist, von vorn oder vonhinten her der S. beizukommen und den normalen Weg für denHarn wieder zu eröffnen. Die neuere Chirurgie beginnt auch dieStrikturen der Thränengänge und der Luftröhre mitErfolg zu behandeln. Vgl. die Schriften von Dittel (Stuttg. 1880),Thompson (deutsch von Casper, Münch. 1888), Distin-Maddick(deutsch, Tübing. 1889).

Strindberg, August, schwed. Schriftsteller, geb. 22. Jan.1849 zu Stockholm, ist einer der talentvollsten Vertreter derjüngsten Dichterschule in Schweden, welche der Richtung G.Brandes' (s. d.) folgt. Er trat bereits 1872 mit einem Drama:"Master Olof", hervor, das, besonders in einer späternUmarbeitung (1878), von bedeutender Wirkung war, erregte aber erstmit seinem Roman "Röda rummet" (1879) die allgemeinsteAufmerksamkeit. S. bezeichnet das Buch als "Schilderungen aus demSchriftsteller- und Künstlerleben" und geißelt darin mitüberlegener Satire die konventionellen gesellschaftlichen undstaatlichen Verkehrtheiten. Noch schonungsloser thut er dies in"Det nya riket" (1882), welches seitens der reaktionärenPresse einen wahren Sturm von Angriffen gegen den Verfasserhervorrief, welche diesen veranlagten, ins Ausland zu gehen.Seitdem lebt er abwechselnd in Frankreich, Italien und der Schweiz.Im J. 1883 erschienen, in demselben Geist gehalten: "Svenskaöden och äfventyr" (3 Bde.) und "Dikter p°a vers ochprosa", 1884 eine Sammlung kleinerer Abhandlungen unter dem Titel:"Likt och olikt", ein Gedichtcyklus: "Sömngangarnätter",und eine Novellensammlung: "Giftas" (letztere auch französischu. d. T.: "Les mariés"). Wegen einiger Auslassungenüber das Sakrament des Altars wurde "Giftas" konfisziert undgegen den Verleger Anklage wegen Beschimpfung kirchlicherEinrichtungen erhoben, worauf S. von Genf, wo er eben wohnte, nachStockholm reiste und dort vor Gericht seine Verteidigung soglänzend führte, daß er gegen alle Erwartung vonden Geschwornen freigesprochen wurde. In "Giftas" behandelt S. dasVerhältnis zwischen Mann und Frau vom Standpunkt des RussenTschernyschewsky (s. d.) aus; noch mehr aber tritt seineVerwandtschaft mit diesem in dem folgenden Werk: "Utopier iverkligheten" (1885), hervor, worin er in novellistischer Form"verwirklichte Utopien" schildert und auf diesem Weg den Nachweiszu liefern sucht, daß eine Lösung der Arbeiterfrage imSinn des Sozialismus ersprießlich und möglich sei. Vonsonstigen Werken Strindbergs sind zu nennen die Schauspiele."Gillets hemlighet" (1880), "Herr Bengts hustru" (1882) und"Lycko-Pers resa" (1882), seine kulturhistorischen Arbeiten:"Svenska folket i helg och söken" (1882) und "Gamla Stockholm"(im Verein mit Claes Lundin, 1882); ferner: "Svenskaberättelser" (1883); "Tjensteqvinnans son" (1886);"Hemsöborna" (1887); "Skärkarlslif" (1888); "FrökenJulie" etc. Durch seinen Kampf gegen die übertriebeneFrauenvergötterung, welche in der schwedischen Litteraturdurch Ibsens "Dukkehjem" angebahnt wurde, hat sich S. in denletzten Jahren viele Feinde erworben, besonders unter denjüngern Vertretern der Frauenemanzipation.

Stringéndo (ital., spr. strindsch-), musikal.Vortragsbezeichnung, s. v. w. immer schneller, bis zurnächsten Tempobezeichnung.

Stringieren (lat.), eng zusammenziehen, genau nehmen;streifen; stringent, zwingend, bündig.

Stringocephalenkalk, s. Devonische Formation.

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Stringocephalus - Stroganow.

Stringocephalus, s. Brachiopoden.

Strinnholm, Andreas Magnus, schwed. Geschichtsforscher,geb. 25. Nov. 1786 in der Provinz Westerbotten, studierte zuUpsala, schrieb zuerst "Svenska folkets historia under konungarnaaf Wasaätten" (Stockh. 1819-24, 3 Bde.), die er aber mit derErbvereinigung von Westeräs 1544 abbrach, und begann, nachdemer eine Zeit hindurch am statistischen Archiv zu Stockholmbeschäftigt gewesen, 1830 eine vollständige GeschichteSchwedens nach den Quellen zu bearbeiten, von welcher unter demTitel: "Svenska folkets historia fran äldsta till nuvarandetider" (das. 1835-54; daraus einzelne Abschnitte deutsch von Frischu. d. T.: "Wikingszüge, Staatsverfassung und Sitten der altenSkandinavier", Hamb. 1839-41, 2 Bde.) 5 Bände erschienen,welche bis 1519 reichen. Der erste Teil dieses Werkes ward von derschwedischen Akademie mit dem höchsten Preis gekrönt.Auch die kürzere "Sveriges historia i sammandrag" (Stockh.1857-60, 3 Bde.) blieb unvollendet. S. ward 1845 Mitglied derAkademie der Wissenschaften und starb 18. Jan. 1862 inStockholm.

Strix, s. Eulen, S. 907.

Strizzo (ital., Mehrzahl Strizzi), s. Louis.

Strjetensk, Stadt im sibir. Gebiet Transbaikalien,Haupthafen am obern Amur, mit einem Hospital und verschiedenenFaktoreien. Die Ladenbesitzer sind fast durchgängig deutschsprechende Juden.

Ströbeck, Pfarrdorf im preuß. RegierungsbezirkMagdeburg, Kreis Halberstadt, hat eine evang. Kirche und (1885)1251 Einw., die seit alter Zeit als Schachspieler in Ruf stehen.Alljährlich bei der Osterprüfung wird in der Schule einWettspiel um sechs als Prämien ausgesetzte Schachbretterveranstaltet.

Strobel, Adam Walther, elsäss. Geschichtsforscher,geb. 23. Febr. 1792 zu Straßburg, seit 1830 Professor amGymnasium daselbst, starb 28. Juli 1850. Sein Hauptwerk ist die"Vaterländische Geschichte des Elsaß" (Straßb.1840-49, 6 Bde.), die Heinr. Engelhardt (für die Zeit1789-1815) vollendete. Außerdem veröffentlichte S.:"Sebastian Brants Narrenschiff" (Quedlinb. 1839) samt dessenkleinern Gedichten; Closeners "Straßburger Chronik" (Stuttg.1841); "Mitteilungen aus der alten Litteratur des nördlichenFrankreich" (Straßb. 1834); "Französische Volksdichter"(Baden 1846); "Das Münster in Straßburg" (Straßb.1845, 14. Aufl. 1876) u. a. Auch an dem "Code historique etdiplomatique de la ville de Strasbourg" (Straßb. 1843, 2Bde.) nahm S. hervorragenden Anteil.

Strobilus (lat.), s. v. w. Zapfen, s. Koniferen.

Stroboskopische Scheibe, s. Phänakistoskop.

Strobus Loud., Gruppe der Gattung Pinus (s. Kiefer, S.714).

Strodtmann, Adolf, Dichter und Schriftsteller, geb. 24.März 1829 zu Flensburg als Sohn des auch als Dichter bekanntenPädagogen Sigismund S. (gest. 12. Sept. 1888; "Dichtungen", 2.Aufl., Hamb. 1888), beteiligte sich 1848 als Kieler Student an derErhebung seines Heimatlandes, ward in einem der ersten Gefechteverwundet und fiel in dänische Gefangenschaft. Befreit, setzteer seine Studien in Bonn fort, wo er zu Kinkels Schülerngehörte, dichtete seine revolutionären "Lieder der Nacht"(Bonn 1850) und wurde wegen des in denselben enthaltenen Gedichts"Das Lied vom Spulen" von der Universität verwiesen. Er gingzunächst nach Paris und London, wo er die Biographie"Gottfried Kinkel" (Hamb. 1850, 2 Bde.) schrieb, begab sich 1852nach Amerika, gründete eine bald wieder eingehendeBuchhandlung, lebte dann als Journalist in New York undPhiladelphia, ließ auch ein aus den Reminiszenzen derdeutschen Revolution erwachsenes Gedicht: "Lotar", erscheinen. 1856nach Deutschland zurückgekehrt, ließ er sich in Hamburgnieder, wo er das Bürgerrecht erwarb und eine ausgebreitetelitterarische Thätigkeit entwickelte. Der poetischenErzählung "Rohana, ein Liebesleben in der Wildnis" (Hamb.1857; 2. Aufl., Berl. 1872) folgten seine "Gedichte" (Leipz. 1858,3. Aufl. 1880), "Ein Hohes Lied der Liebe" (Hamb. 1858) und dieZeitgedichte "Brutus, schläfst du?" (das. 1863). Gleichzeitigwidmete sich S. dem eingehenden Studium Heines, von dessen Werkener eine Gesamtausgabe (Hamb. 1866-68, 20 Bde.) veranstaltete. ImZusammenhang damit stand sein biographisches Buch "Heinrich HeinesLeben und Werke" (Berl. 1869, 2 Bde.; 3. Aufl. 1884). 1870begleitete S. als Korrespondent mehrerer großer Zeitungen diedritte deutsche Armee auf ihrem Siegeszug nach Frankreich undveröffentlichte aus den Eindrücken dieser Tage:"Alldeutschland in Frankreich hinein!" (Berl. 1871). Nach demFeldzug ließ er sich in Steglitz bei Berlin nieder, wo er 17.März 1879 starb. Als poetischer Übersetzer hatte erzuerst eine Anzahl Gedichte neuerer amerikanischer Lyrikermeisterhaft übertragen; es folgten dann: "Die Arbeiterdichtungin Frankreich" (Hamb. 1863); "Tennysons ausgewählteDichtungen" (Hildburgh. 1868); "Shelleys Dichtungen" (das. 1867, 2Bde.); die "Amerikanische Anthologie" (das. 1870) sowie zahlreicheÜbersetzungen prosaischer Werke aus dem Französischen,Dänischen und Englischen, darunter Montesquieus "PersischeBriefe" (Berl. 1866), Eliots "Daniel Deronda" (das. 1876-77),Brandes' "Hauptströmungen der Litteratur des 19. Jahrhunderts"(das. 1872-76, 4 Bde.), I. Simes "Lessing" (das. 1878). Auchkritisch und litterarhistorisch vielfach thätig,veröffentlichte er: "Das geistige Leben in Dänemark"(Berl. 1873); "G. A. Bürgers Briefe" (das. 1874, 4 Bde.);"Dichterprofile. Litteraturbilder aus dem 19. Jahrhundert" (Stuttg.1878).

Stroganow, angesehene russische, jetzt gräflicheFamilie, hat zum Ahnherrn Anikij S., der zu Ende des 15. Jahrh.große Salinen und Eisenwerke im Ural besaß, und dessenSöhne Jakow und Grigorij sich durch Erfindungen sowiegroßartige Einrichtengen im Berg- und Salzwesen bekanntmachten und sich zur Zeit Iwan Wasiljewitsch' des Schrecklichenzwischen der Kama und nördlichen Dwina ansiedelten. Indem sieden Kosakenhetman zum Schutz ihrer Besitzungen herbeiriefen, trugensie mittelbar zur Eroberung Sibiriens bei. Iwan Wasiljewitschverlieh den Brüdern bedeutende Vorrechte und Handelsmonopole;dieselben brachten den ganzen Handel Sibiriens an sich und wurdenBesitzer von mehr als 100 Städten, Kolonien undHüttenwerken, wozu später noch Goldwäschen kamen. ImPolenkrieg zu Anfang des 17. Jahrh. rüsteten die Stroganowsein eignes Armeekorps aus und trugen zur Rettung Rußlandsbei, wofür sie der Zar mit der Befugnis belohnte, ihre eigneSoldateska zu haben und freie Jurisdiktion über ihreUntergebenen zu üben. Peter d. Gr. nahm jedoch 6. Mai 1722 denRepräsentanten der Familie, den Brüdern Alexander,Nikolaus und Sergei S., die sämtlichen Vorrechte ihrer Ahnenund verlieh ihnen hierfür bloß den Baronstitel.Gri-gorij Alexandrowitsch S., geb. 1770, russischer Diplomat und1826 in den Grafenstand erhoben, rettete 1821 als russischerGesandter in Konstantinopel durch sein energisches Auftreten vielentausend Grie-

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Stroh - Strohseile.

chen das Leben; starb 19. Jan. 1857. Paul Alexandrowitsch S.,geb. 1774 in Frankreich, focht mit großer Auszeichnung in denNapoleonischen Kriegen und leistete dem Kaiser AlexanderDiplomatendienste. 1809 nahm er teil an der Besetzung derAlandsinseln. Hierauf war er im Türkenkrieg thätig. 1812focht er insbesondere bei Walutina Gora und bei Borodino, wenigererfolgreich bei Malojaroßlawez. 1814 nahm er teil an denSchlachten bei Craonne und Laon. Der Schmerz um den Verlust seinesSohns, welcher bei Craonne fiel, beugte ihn so sehr, daß erauf einer Seereise 1817 starb. Der älteste Sohn des GrafenGrigorij Alexandrowitsch, Graf Sergei, geb. 1795, General derKavallerie, bis 1835 Gouverneur von Riga und Minsk, dann bis 1847Kurator des Universitätsbezirks von Moskau, erwarb sich alsBesitzer eines Teils der von seinen Vorfahren angelegten Salz- undHüttenwerke Verdienste um Hebung der Gewerbe, Künste undWissenschaften und machte sich auch als russischer Altertumskennerbekannt. Seit 1857 Leiter der archäologischen Ausgrabungen,welche auf Kosten des kaiserlichen Kabinetts in verschiedenenTeilen Rußlands vorgenommen wurden, veröffentlichte erdie Resultate in den "Comptes-rendus de la commissionarcheologique" 1860. Unter seiner Leitung erscheint auch ein"Recueil d'antiquités de la Scythie" (1866 ff.). 1859 zumGeneralgouverneur von Moskau ernannt, schied er bald wieder ausdieser Stellung und wurde Kurator des damaligen ThronfolgersNikolaus. Als solcher stand er dem jungen Großfürstenbis zu dessen Tod zur Seite. Hiernächst wurde er zumVorsitzenden des Hauptkomitees der russischen Eisenbahnen ernanntund starb 10. April 1882 in Petersburg. Sein Bruder, GrafAlexander, war 1839-41 Minister des Innern, ward 1855 zumGeneralgouverneur von Neurußland und Bessarabien ernannt und1856 mit der Wiederherstellung von Sebastopol beauftragt. Sein SohnGrigorij, ehemaliger Gardeoberst und seit September 1856kaiserlicher Statthalter, war seit 1856 mit der verwitwetenHerzogin von Leuchtenberg (gest. 24. Febr. 1876) morganatischvermählt und starb 20. Febr. 1879.

Stroh, alle ihrer reifen Körner beraubten Halme undStengel von Feldfrüchten, im engern Sinne nur die desGetreides. S. dient als Futter (chemische Zusammensetzung etc. s.Futter) und als Einstreu, außerdem benutzt man Getreidestrohals Brennmaterial (in Lokomotiven von besonderer Konstruktion), zumDecken der Dächer, zu Matten, Geweben, künstlichenBlumen, Zierarbeiten, als Packmaterial, zu Seilen, zur Darstellungvon Cellulose für Papierfabrikation etc. Besonders wichtig istdie Strohflechterei (s. d.), welche langer, langgliederiger Halmevon gleichmäßiger Stärke bedarf. Man benutzt das S.von Sommerweizen und Sommerroggen und baut erstern für diesenZweck in Italien (bei Florenz), letztern im Schwarzwald, wobei mansehr dicht säet und zu gröbern Flechtarbeiten geeigneteHalme aus dem gemähten reifen Getreide ausliest oder zufeinern Arbeiten das Getreide bald nach der Blüte beitrockner, heißer Witterung schneidet. Das S. mußschnell trocknen, eventuell unter Dach, und wird nun auf dem Rasengebleicht und schließlich geschwefelt.

Strohblumen, s. v. w. Immortellen (s. d.); auchkünstliche Blumen aus gehaltenem Stroh, wie sie aufDamenhüten getragen werden.

Strohelevator (Stacker, Stackmaschine), Apparat, um dasvon der Dampfdreschmaschine ausgedroschene Stroh zum Zweck derErrichtung eines Feimens anzuheben. Der S. besitzt alsHebevorrichtung ein endloses Kettenband, mit hervorstehenden,gekrümmten Zähnen besetzt, welches, von der Dampfmaschinebetrieben, das aus den Strohschüttlern der Dreschmaschine inden Elevator gelangende Stroh anhebt. Der Apparat muß nachverschiedenen Richtungen, und um dem sich vergrößerndenFeimen folgen zu können, in der Höhe stellbar sein. InDeutschland haben die Strohelevatoren keine ausgedehnte Verbreitunggefunden; in England und Ungarn sind dieselben dagegen vielfach inAnwendung.

Strohfiedel (Holzharmonika, Gigelyra, hölzernesGelächter), das bekannte, bei den Tiroler Sängernbeliebte Schlaginstrument, welches aus abgestimmten, mitKlöppeln geschlagenen Holzstäben besteht, die auf einerStrohunterlage ruhen. Wie dasselbe zum Namen "Fiedel" und"Gigelyra" kommt, ist bisher noch nicht untersucht worden. Die S.wird bereits in Virdungs "Musica getuscht" (1511) erwähnt.

Strohflechterei, die Kunst, aus Stroh (s. d.)verschiedene Gegenstände, wie Hüte, Kappen,Arbeitstaschen, Schuhe, Zigarrentaschen, feine Tressen etc., durchFlechtarbeit herzustellen. Diese Kunst, etwa seit Anfang diesesJahrhunderts in Italien blühend, hat sich von dort auchüber andre Länder verbreitet. Das zur Flechtarbeitbestimmte Stroh stammt von einer besondern Sorte Sommerweizen(Marzolano) oder Sommerroggen (s. Stroh) und wird nach dem Bleichennach den Knoten in 20-24 cm lange Stücke geteilt, die man vonneuem bleicht und sehr sorgfältig sortiert. Das sehr feineitalienische Stroh wird in ungespaltenen Halmen verarbeitet unddann flach gepreßt; das minder feine Stroh andrer Länderwird mittels eines Werkzeugs (Strohspalter) mit sternförmiggestellten Schneiden in 7-15 Streifen (Zähne) gespalten. Aus11-13 solchen Streifen werden zunächst lange Tressengeflochten, die man nach dem Waschen und Pressen mittels einerfeinen Naht zu Hüten etc. zusammenfügt. Das fertigeStück wird abermals gewaschen, gebleicht und zuletztgeglättet. Die feinsten Strohflechtereien liefert Toscana, vonwo auch viele Tressen und sortiertes Stroh ausgeführt werden.In Vicenza werden ebenfalls sehr feine, bei Mantua und Lodi abergeringere Waren hergestellt. Die Schweiz liefert den italienischennahekommende Tressen in Freiburg, geringere in Aarau, Glarus, Genf.Ebenso hoch steht die Industrie in Belgien, während Frankreichnur gröbere Landware zu erzeugen scheint. In England sindBedford, Hertford, Bux Hauptsitze der S. In Deutschland blühtdiese Industrie in Sachsen, im Schwarzwald, auch in denschlesischen Webereidistrikten und vor allem in Lindenberg beiLindau, wo sie schon 1765 bestand. Böhmen, Tirol und Krainliefern geringere Tressen. Die Tressen bilden überhaupt diegewöhnliche Handelsware, welche in allen größernStädten in den sogen. Strohhutfabriken vernäht wird.

Strohmänner nennt man bei Aktiengesellschaftendiejenigen, welche als Bevollmächtigte mit offener oderverdeckter Vollmacht, als Borger oder Mieter von meist aus denDepots von Bankiers entliehenen Aktien neben wirklichenAktionären in den Generalversammlungen der Gesellschafterscheinen.

Strohrost, s. Rostpilze, S. 989.

Strohschüttler, s. Dreschmaschine, S. 139.

Strohseile werden mit der Hand oder aufStrohseilspinnmaschinen dargestellt, die eineeigentümliche Konstruktion besitzen oder den Watermaschinennachgebildet sind. S. dienen in der Landwirtschaft, in derMetallgießerei zur Kernbildung, zum Umhüllen vonDampfleitungsröhren, als Packmaterial etc.

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Strohstoff - Strongyliden.

Strohstoff (Strohzeug), die aus Stroh durch Kochen mitLauge isolierte und auf Holländern gemahlene Cellulose, welchein der Papierfabrikation benutzt wird.

Strohwitwer (entsprechend dem englischen Grasswidow,"Graswitwe"), der zeitweilig von der andern Hälfte verlasseneEhegatte. Stroh steht hier für Bett, wie in der Klage Marthasim "Faust": "Und läßt mich auf dem Stroh allein!"

Strom, s. v. w. Fluß, besonders eingrößerer, welcher sich unmittelbar ins Meerergießt.

Stroma, Insel im Pentland Firth (NordküsteSchottlands), mit dem gefürchteten Swelkiestrudel.

Stromatik (griech.), Teppichwebekunst.

Strombau, s. Wasserbau.

Stromberg, Bergrücken im württemberg.Neckarkreis, zwischen Zaber (zum Neckar) und Metter (zur Enz),erreicht im Scheiterhäule eine Höhe von 473 m.

Stromberg, 1) Stadt im preuß. RegierungsbezirkKoblenz, Kreis Kreuznach, am Hunsrück, am Guldenbach und ander Eisenbahn Langenlonsheim-Simmern, 195 m ü. M., hat eineevangelische und eine kath. Kirche, ein Amtsgericht, eineOberförsterei, Eisenhüttenwerke mit Blech- undGußwarenfabrikation, Kalkbrennerei und (1885) 1021 Einw.Dabei die Burg Goldenfels und die Ruine Fustenburg. - 2) Fleckenund Wallfahrtsort im preuß. Regierungsbezirk Münster,Kreis Beckum, hat eine kath. Kirche, eine Burgruine, eineBandfabrik, Steinbrüche und (1885) 1534 Einw. Dabei dieStromberger Hügel, im Monkenberg 190 m hoch, wohin manneuerdings die Varusschlacht verlegt.

Stromboli, s. Liparische Inseln.

Stromenge, die Stelle eines Stroms, wo das Bett durchFelsen so verengert wird, daß dadurch das Wasser mehr Tiefeund einen schnellen Fluß bekommt.

Stromeyerit, s. Kupfersilberglanz.

Stromkorrektion, s. Wasserbau.

Strommesser, s. Rheometer.

Strömö, Insel, s. Färöer, S. 58.

Stromprofil, rechtwinkeliger, senkrechter Querschnitteines Flusses oder Kanals.

Stromregulator, s. v. w. Rheostat.

Stromschicht (Zahnfries), s. Fries.

Stromschnelle, die Stelle eines Stroms, welche in einerfrühern Zeit ein Wasserfall gewesen ist, dessenFelsfläche sich aber jetzt infolge langjährigererodierender Thätigkeit des Wassers der horizontalen Ebenemehr genähert hat. Ist das Strombett, wie z. B. bei dem Nil,ein steileres, so nennt man seine Stromschnellen Katarakte(s.d.).

Strömstad, kleine Hafenstadt im schwed. LänGotenburg, am Skagerrak, 15 km von der norwegischen Grenze, inkahler und wilder Gegend, mit Seebad und (1885) 2417 Einw.; brannte1876 zu zwei Drittteilen nieder. S. ist Sitz eines deutschenKonsulats.

Stromtiefenmesser, s. Rheobathometer.

Stromvermessung, s. Flußvermessung.

Stromwender (Gyrotrop, Kommutator), Vorrichtung, um dengalvanischen Strom nach Belieben umzukehren, zu schließenoder zu öffnen. Von den zahlreichen Formen mögen diefolgenden als Beispiele dienen. Der S. von Pohl (Fig. 1) bestehtaus einem Brettchen A mit sechs Quecksilbernäpfchen b c d e fg, von welchen d mit g und c mit f durch die Drähte h und iverbunden sind. Die beiden dreiarmigen Metallbügel k l m und no p sind durch den Glasstab q zu einer Wippe vereinigt, derenmittlere Arme l und o in die Näpfchen b und e tauchen; indiese Näpfchen sind auch die Enden der Poldrähte derBatterie eingesenkt, während die Enden der Leitung r, inwelcher der Strom wechseln soll, in die Näpfe f und g tauchen.Liegt die Wippe wie in der Figur, so nimmt der Strom den Weg b l kg r f n o e und durchfließt die Leitung r in der Richtung desPfeils; legt man aber die Wippe um, so daß ihre Arme m und presp. in die Näpfe e und d eintauchen, so macht der Strom denWeg b l m c i f r g [h] d p o e und fließt demnach in derLeitung r in entgegengesetzter Richtung wie vorhin. Der S. vonRuhmkorff (Fig. 2) besteht aus einer Elfenbeinwalze c, welche mitzwei diametral gegenüberliegenden Messingwülsten d und eversehen ist und von der metallenen Achse a b getragen wird. DieseAchse geht nicht durch die Walze durch, sondern besteht aus zweiStücken, deren vorderes a mit dem Wulst d, das hintere b mitdem Wulst e leitend verbunden ist. Die beiden Teile der Achsestehen durch ihre messingenen Lager mit den Klemmschrauben f und g,welche die Poldrähte aufnehmen, in Verbindung, währenddie Klemmschrauben h und i, in welche die Enden der Leitung rgeklemmt werden, auf den Messingblechstreifen k und l, die gegendie Walze federn, leitend aufgesetzt sind. Wird die Walze mittelsdes Knopfes so gedreht, daß d mit k, e mit l inBerührung sind, so ist die Bahn des Stroms g b e l i r h k d af; stellt man die Walze aber so, daß d gegen l und e gegen kfedern, so kehrt sich der Strom um, indem er jetzt den Weg g b e kh r i l d a f einschlägt. Berühren die Messingwülstedie Blechstreifen nicht, so ist der Strom unterbrochen. Vgl.Magnetelektrische Maschinen.

Stromzölle, s. Zölle.

Strongyliden (Strongylidae), Familie der Nematoden oderFadenwürmer, fadenförmige Eingeweidewürmer mitrundlichem Körper, endständiger, von Papillen umgebener,bald enger, bald klaffender Mundöffnung und am Hinterleibsendeim Grund einer schirm- oder glockenförmigen Tasche liegendermännlicher Geschlechtsöffnung. Der Palisfadenwurm(Eustrongylus gigas Rud.), der größte Spulwurm, ist rot,besitzt je eine Längsreihe von Papillen auf den Seitenlinien,sechs vorspringende Mund-

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Strontian - Strophe.

papillen und eine weit nach vorn gerückte weiblicheGeschlechtsöffnung, lebt vereinzelt meist im Nierenbeckenverschiedener Raubtiere, besonders der Fischotter und Robben,selten im Rind, Pferd und Menschen. Das Weibchen wird gegen 1 mlang und etwa 12 mm dick, während das Männchen nur 1/3dieser Länge erreicht. Über die Entwicklungsgeschichteist nichts Sicheres bekannt; wahrscheinlich wird der Jugendzustanddurch Fische übertragen. Mehrere Arten der Gattung StrongylusMüll. leben in Haustieren, so S. paradoxus Mehlis in denBronchien des Schweins, S. filaria Rud. in den Bronchien desSchafs, S. micrurus Mehlis in Aneurysmen der Arterien des Rindes.Dochmius duodenalis Dub. (Ancylostomum duodenale Dub.), 10-18 mmlang, lebt im Zwölffingerdarm und Dünndarm des Menschen,besonders in den Nilländern, beißt mit seiner starkenMundbewaffnung Wunden in die Darmhaut, saugt Blut aus denDarmgefäßen und erzeugt die sogen. ägyptischeChlorose. In der Jugend lebt dieser Wurm in andrer Form (als sogen.Rhabditis, s. Nematoden) frei und wird erst später zumSchmarotzer. Andre Arten leben im Hund, Schaf, Rind und in derKatze. - Im Pferd als lästiger Parasit findet sichSclerostomum equinum Duj. vor. Dieser Wurm wird 20-40 mm lang, lebtebenfalls eine Zeitlang in Rhabditisform frei und gelangt mit demWasser in den Darm des Pferdes. Von hier aus dringt er in dieGekrösarterien, erzeugt dort Erweiterungen (Aneurysmen) undtritt dann in den Darm zurück, um in ihm geschlechtsreif zuwerden. Nach den Untersuchungen von Bollinger ist die Kolik derPferde in den meisten Fällen auf Verstopfungen der Arterienmit dem genannten Wurm zurückzuführen. - Cucullanuselegans Zed., der Kappenwurm, lebt in Flußfischen; seineJugendform haust in kleinen Wasserflöhen (Cyklopiden). DasWeibchen wird etwa 10, das Männchen nur 5 mm lang.

Strontian (Strontianerde, Strontiumoxyd) SrO entsteht beiheftigem Glühen von salpetersaurem S. als graue, poröse,unschmelzbare Masse, welche sich wie Baryumoxyd verhält undmit Wasser farbloses Strontiumhydroxyd (Strontiumoxydhydrat,Strontianhydrat) SrOH2O bildet. Dies kristallisiert auswässeriger Lösung mit 8 Mol. Kristallwasser, reagiertstark alkalisch, wirkt ätzend, zieht begierig Kohlensäurean und bildet mit Säuren die Strontiansalze. Man hat esfür die Zuckerfabrikation verwertet.

Strontian (spr. stronnschien), Dorf in der schott.Grafschaft Argyll, am obern Ende des Loch Sunart, mit Bleigrubenund (1881) 691 Einw.

Strontianit, Mineral aus der Ordnung der Carbonate,findet sich in rhombischen, säulen- oder nadelförmigen,auch spießigen Kristallen, auch in derben und in faserigenMassen, ist weiß, oft grünlich, seltener gräulichund gelblich, durchsichtig bis durchscheinend, glasglänzend,Härte 3,5, spez. Gew. 3,6-3,8, besteht aus kohlensauremStrontian SrCO3, meist mit einem Gehalt von isomorph beigemischtemCalciumcarbonat (Aragonit). Er tritt gewöhnlich aufErzgängen auf, so bei Freiberg, am Harz, bei Hamm in Westfalen(hier auf Gängen im Kreidemergel), in Salzburg, bei Strontianin Schottland (daher der Name), und dient zur Darstellung vonStrontiumpräparaten. Das westfälische Vorkommen wirdfür die Zuckerfabrikation ausgebeutet.

Strontiansalze (Strontiumsalze, Strontiumoxydsalze)finden sich zum Teil in Mineralien, Quellwasser und Pflanzen. Amverbreitetsten sind der schwefelsaure (Cölestin) und derkohlensaure Strontian (Strontianit), aus welchen alle übrigenS. mittelbar oder unmittelbar dargestellt werden. Sie sind farblos,wenn die Säure ungefärbt ist, und verhalten sich imallgemeinen wie die Barytsalze. Aus ihren Lösungen fälltSchwefelsäure sehr schwer löslichen weißen,schwefelsauren Strontian, der aber immer noch löslicher istals schwefelsaurer Baryt, so daß eine durch Schüttelndesselben mit destilliertem Wasser dargestellte Lösung inChlorbaryumlösung noch eine Ausscheidung von schwefelsauremBaryt hervorbringt. Mehrere S. färben die Flamme rot undwerden in der Feuerwerkerei benutzt. In neuerer Zeit ist Strontianauch für die Zuckerfabrikation wichtig geworden.

Strontium Sr, Metall, findet sich in der Natur alsschwefelsaures (Cölestin) und kohlensaures Strontiumoxyd(Strontianit), ganz allgemein als Begleiter des Baryts, auch,wenngleich nur spurenweise, in Kalkstein, Marmor, Kreide, inMineralwässern, im Meerwasser und in Pflanzenaschen. Manerhält es durch Zersetzung von geschmolzenem Chlorstrontiumdurch den galvanischen Strom oder von Strontiumoxyd durch Kaliumals schwach gelbliches, dehnbares Metall vom spez. Gew. 2,54,Atomgew. 87,2; es schmilzt bei mäßiger Rotglut, zersetztWasser bei gewöhnlicher Temperatur, oxydiert sich an der Luftsehr leicht und verbrennt beim Erhitzen mit glänzendem Lichtzu Oxyd. Es ist zweiwertig und bildet mit Sauerstoff Strontiumoxyd(Strontian) SrO, welches zu den alkalischen Erden gerechnet wird,und Strontiumsuperoxyd SrO2. Seine Verbindungen gleichen denen desBaryums. Strontianit wurde 1790 durch Crawfurd und Cruikshank vomWitherit unterschieden; Klaproth wies 1793 die Strontianerde nach,und das Metall stellte Davy 1808 dar.

Strontiumchlorid (Chlorstrontium) SrCl2 entsteht beimLösen von Strontianit (kohlensaurer Strontian) in heißerSalzsäure, wird aber meist aus Cölestin (schwefelsaurerStrontian) dargestellt, indem man denselben durch Glühen mitKohle in Schwefelstrontium verwandelt und dies mit Salzsäurezersetzt. Es bildet farblose Kristalle mit 6 Mol. Kristallwasser,vom spez. Gew. 1,603, schmeckt scharf, bitter, salzig, löstsich leicht in Wasser und Alkohol, verwittert an der Luft, wirdbeim Erhitzen wasserfrei und schmilzt bei 829°. Es färbtdie Alkoholflamme rot und wird in der Feuerwerkerei benutzt.

Strontiumoxyd, s. Strontian.

Strontiumsulfuret (Schwefelstrontium) SrS entsteht, wennman Cölestin (schwefelsauren Strontian) mit Kohle heftigglüht, ist farblos, verhält sich wie Baryumsulfuret (s.d.) und bildet namentlich auch mit Wasser kristallisierbaresStrontiumsulfhydrat SrSH2S. Das durch Glühen vonschwefelsaurem Strontian mit Kohle erhaltene S. phosphoresziertnach der Bestrahlung durch Sonnenlicht schwach gelblichgrün.Erhitzt man aber das Salz in Wasserstoff, so erhält mangrün, blau, violett oder rötlich leuchtende und beimGlühen von kohlensaurem Strontian mit Schwefel blau odersmaragdgrün leuchtende Präparate.

Strophäden (jetzt Strivali oder Stamphanäs),zwei kleine Inseln im Ionischen Meer, südlich von Zante;galten für den Wohnsitz der Harpyien.

Strophe (griech.), in der Poesie, insbesondere derlyrischen, die Verbindung mehrerer Verse zu einem metrischenGanzen, dessen Maß und Ordnung den einzelnen Teilen einesGedichts zu Grunde liegt und sich demnach wiederholt. Man sagtdeshalb: ein Gedicht besteht aus so und so viel Strophen. Beiden

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Strophion - Strubberg.

Griechen bildete die S. einen Teil der Chorgesänge auf demTheater, die sich in S., Antistrophe ("Gegenstrophe"), die dererstern genau nachgebildet war, und Epode ("Nachgesang"), miteigner metrischer Form, gliederten. Die lyrische Poesie behieltdiese Benennungen bei, wie in den Pindarischen Oden; andre lyrischeGedichte des Altertums kennen die Epode und Antistrophe nicht,sondern bestehen aus Strophen mit regelmäßigwiederkehrendem Metrum. Die Alten teilten die Strophen nach derAnzahl ihrer Verse in zwei-, drei- und vierzeilige (Distichen,Tristichen und Tetrastichen) und nach ihren Erfindern und andernMerkmalen in Alkäische, Sapphische, choriambische und andreStrophen. Die einzelnen Verse derselben hießen Kola undbildeten ein andres Einteilungsmerkmal. Strophen, deren Verse eingleiches Metrum hatten, galten zusammen nur als ein Kolon undhießen Monokola; solche, in denen zwei, drei oder vierVersarten wechselten, Dikola (z. B. das Sapphische Metrum), Trikola(z. B. das Alkäische Metrum) und Tetrakola. In der Poesie desMittelalters und der neuern Zeit betrachtet man neben demregelmäßig wiederkehrenden Versmaß besonders dieEinteilung in Aufgesang und Abgesang (s. d.) sowie den Reim alsPrinzip bei der Strophenbildung, während in denallitterierenden altdeutschen Dichtungen eine strophischeGliederung noch nicht vorkommt. Erst in der Zeit des deutschenMinnegesangs entstand eine künstliche Strophenbildung, dieauch auf die epische Poesie ihren Einfluß hatte. Diebekanntesten Strophen dieser Periode sind: die Nibelungenstrophe,Hildebrandstrophe, die Titurel- und die fünfzeiligeNeidhartstrophe. Im weitern Verlauf haben die Dichter der neuernZeit, von dieser Grundlage des Mittelalters ausgehend, einegroßartige Mannigfaltigkeit in der Strophenbildungentwickelt. Vgl. Seyd, Beitrag zur Charakteristik undWürdigung der deutschen Strophen (Berl. 1874).

Strophion (griech.), Stirnbinde der griechischen Frauenund Priester, auch Gürtel; bei den römischen Frauen einBusenband, welches unter den Brüsten zur Aufrechterhaltungderselben getragen wurde.

Strophulus, Flechtenausschlag bei Kindern.

Stroppen, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Breslau,Kreis Trebnitz, westlich von der Station Gellendorf, hat eineevang. Kirche und (1885) 749 Einw.

Strosse, stufenförmiger Absatz in einem Grubenbau,dann auch Abbaustoß beim Strossenbau.

Strossenbau, s. Bergbau, S. 724.

Stroßmayer, Joseph Georg, kroat. Bischof, geb. 4.Febr. 1815 zu Essek in Slawonien, studierte in Pest Theologie,empfing 1838 die Priesterweihe und ward Professor am Seminar zuDiakovár, dann kaiserlicher Hofkaplan und Direktor desAugustianiums in Wien und 1849 Bischof in Diakovár. Auf demvatikanischen Konzil trat er mit ungewöhnlichem Freimut gegendas Dogma von der päpstlichen Unfehlbarkeit auf und hielt amlängsten von allen Bischöfen seinen Widerspruch aufrecht,unterwarf sich aber doch und führte 1881 eine slawischePilgerschar nach Rom. Hauptsächlich widmete sich S. derkroatischen Volkssache, ward einer der Führer der kroatischenNationalpartei und verwandte seine reichen Einkünfte zurgeistigen Hebung der Nation: er errichtete Volksschulen,gründete ein Seminar für die bosnischen Kroaten, stelltedas alte nationale Kapitel der Illyrier, San Girolamo degliSchiavoni in Rom, her, ließ durch A. Theiner "Veteramonumenta Slavorum meridionalium historiam illustrantia" (Rom 1863)herausgeben, veranstaltete eine Sammlung der kroatischen Lieder undVolksbücher, betrieb die Errichtung der Akademie undUniversität zu Agram und baute eine prächtige Kathedralein Diakovár. Auch ist er eifrig bemüht, durch Zulassungder slawischen Liturgie die Südslawen derrömisch-katholischen Kirche zuzuführen.

Strotten, s. v. w. Molken.

Stroud (spr. straud), Stadt in Gloucestershire (England),südlich von Gloucester, hat Tuch- und Walkmühlen,Scharlachfärberei und (1881) 7848 Einw.

Strousberg, Bethel Henry (ursprünglich Strausberg),Finanzmann, geb. 20. Okt. 1823 zu Neidenburg, ging nach dem Todseiner Eltern als zwölfjähriger Knabe nach England,ließ sich dort taufen und legte dabei die früher von ihmgeführten Namen (nach seiner Angabe Bartel Heinrich) ab. Ertrat dort in das Geschäft seiner Oheime, begann fürJournale zu schreiben und wurde Eigentümer von Sharpes "LondonMagazine", welches ihm einen erheblichen Gewinn abwarf. Auch war erfür Lebensversicherunggesellschaften thätig. Spätersiedelte er nach Berlin über und fand hier 1861 Gelegenheit,als Vertreter englischer Häuser die Tilsit-Insterburger unddie Ostpreußische Südbahn auszuführen. Dannübernahm er für eigne Rechnung die Ausführungfolgender Bahnen: der Berlin-Görlitzer, derRechte-Oderuferbahn, der Märkisch-Posener, Halle-Sorauer undHannover-Altenbekener Bahn, ferner der Brest-Grajewo-, derUngarischen Nordostbahn und der rumänischen Eisenbahnen,zusammen 400 Meilen. Er wandte, da ihm zur Ausführung sogewaltiger Unternehmungen weder Kapital noch Kredit auch nurannähernd ausreichend zu Gebote standen, das System an, alsGeneralunternehmer die Lieferanten der Bahn durch Aktien zubezahlen. Er kaufte ferner die ausgedehnte Herrschaft Zbirow inBöhmen, die Egestorffsche Lokomotivenfabrik zu Linden beiHannover, viele Gruben, Hütten etc. Als 1870 die Koupons derrumänischen Bahnen nicht eingelöst werden konnten, beganndas Kartenhaus seiner Unternehmungen zusammenzufallen. Er geriet1875 in Preußen, Österreich und Rußland inKonkurs, wurde in Moskau verhaftet, nach langem Prozeß zurVerbannung verurteilt und konnte erst im Herbst 1877 nach Berlinzurückkehren. In der Haft schrieb er seine Selbstbiographie("Dr. S. und sein Wirken", Berl. 1876). Auch veröffentlichteer "Fragen der Zeit", 1. Teil: "Über Parlamentarismus" (Berl.1877), und eine Denkschrift über den Bau einesNordostseekanals (das. 1878). Er starb in großerDürftigkeit 31. Mai 1884 in Berlin. Vgl. Korfi, Bethel HenryS. (Berl. 1870).

Strozzi, Palast, s. Florenz, S. 383.

Strozzi, Bernardo, Maler, genannt il Prete Genovese undil Cappuccino, geb. 1581 zu Genua, war daselbst, später inVenedig thätig, wo er 1644 starb. S. malte im naturalistischenStil des Caravaggio viele Fresken und Ölbilder, die meistetwas roh sind, aber kräftiges Leben und feuriges Koloritzeigen; besonders vortrefflich sind seine Porträte.

Strubberg, 1) Friedrich August, unter dem PseudonymArmand bekannter Schriftsteller, geb. 18. Mai 1808 zu Kassel, trat,zum Kaufmannsstand bestimmt, in ein amerikanisches Haus in Bremenein, durchstreifte dann jahrelang Amerika nach allen Richtungen,übernahm später unter schwierigen Verhältnissen dasDirektorium des "Deutschen Fürstenvereins in Texas", machtedie Feldzüge gegen Mexiko mit und kehrte 1854 nach Deutschlandzuruck. Er starb 3. April 1889 in Gelnhausen. S. hat seineErlebnisse und Beobachtungen in einer Reihe von Werken

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Strudel - Struensee.

dargelegt, die eine Zwittergattung von Roman undethnographischer Schilderung bilden, und von denen die Skizzen "Bisin die Wildnis" (Berl. 1858, 4 Bde.; 2. Aufl. 1863) das meisteAufsehen erregten, der Roman "Sklaverei in Amerika" (Hannov.1862, 3Bde.) dagegen das meiste poetische Leben hat. Von den übrigennennen wir nur: "Amerikanische Jagd- und Reiseabenteuer" (Stuttg.1858, 2. Aufl. 1876); "An der Indianergrenze" (Hannov. 1859, 4Bde.), in ethnographischer Hinsicht das lehrreichste Werk, und diebeliebte Jugendschrift "Karl Scharnhorst" (3. Aufl., das. 1887).Zuletzt veröffentlichte er zwei Dramen: "Der Freigeist"(Kassel 1883) und "Der Quadrone" (das. 1885).

2) Otto von, preuß. General, geb. 16. Sept. 1821 zuLübbecke in Westfalen, wurde im Kadettenkorps erzogen und trat1839 als Sekondeleutnant in die Armee ein. Nachdem er dieKriegsakademie besucht hatte, wirkte er 1846-49 als Lehrer amKadettenkorps, nahm 1849 am badischen Feldzug teil, ward dann imtopographischen Büreau des Generalstabs beschäftigt und,nachdem er zwei Jahre zur Erlernung der französischen Sprachein Paris zugebracht hatte, 1854 als Hauptmann in den GroßenGeneralstab versetzt. Er wurde dem Militärgouvernement amRhein beigegeben, an dessen Spitze der Prinz von Preußen(Kaiser Wilhelm I.) stand, und erhielt 1858 den Adelstitel und denMajorsrang. Im Jahr 1861 wurde er Flügeladjutant desKönigs und Lehrer an der Kriegsakademie. Als Oberstleutnantgehörte er 1863 der internationalen Militärkommission inSerbien an, nahm am dänischen Feldzug, namentlich an derErstürmung der Düppeler Schanzen, teil, ward 1865 Oberstund Kommandeur des 4. Gardegrenadierregiments in Koblenz, an dessenSpitze er 1866 den böhmischen Feldzug mitmachte, undbefehligte 1870-71 die 30. Infanteriebrigade im 8. Korps vor Metz,bei Amiens, Bapaume und St.-Quentin. Nach Beendigung des Kriegsorganisierte er die Landwehrbehörden in Elsaß-Lothringenund erhielt 1873 als Generalleutnant das Kommando der 19. Division.Im November 1880 wurde er zum Generalinspekteur desMilitärerziehungs- und Bildungswesens und 1883 zum General derInfanterie ernannt.

Strudel, ein Wasserwirbel oder eine Stelle, an der sichdas Wasser kreis- oder spiralförmig nach unten der Tiefe zudreht, wobei sich bisweilen in der Mitte eine trichterförmigeVertiefung bildet. Solche S. haben zur Voraussetzung reißendeStrömungen, wie sie im offenen Meer nirgends vorhanden sind;sie finden sich auch in engen Meeresstraßen selten vor. DerMalstrom (s. d.) bei den Lofoten und die Charybdis in der Meerengevon Messina sind die bekanntesten Wirbel dieser Art, jedoch ist dieBewegung in denselben keineswegs so verderblich, wie sie von derSage dargestellt wird, und bereitet nur kleinen Fahrzeugenernstliche Schwierigkeiten. Unterhalb der Niagarafälle und inden Stromengen des Congo unterhalb Vivi entwickeln sich ebenfallsderartige S. Der Donaustrudel unterhalb Grein inOberösterreich auf der Nordseite der Insel Wörth hat seit1866 durch Sprengungen seine Gefährlichkeit für dieSchiffahrt verloren. Von besonderm Interesse sind die S., welchesich in den obern Läufen der Flüsse infolge derUnebenheiten des Grundes namentlich in Verbindung mitWasserfällen und Stromschnellen bilden. Die Erosionswirkungderselben kennzeichnet sich durch die Bildung vonStrudellöchern oder Riesentöpfen (s.d.).

Strudel, in Bayern und Österreich beliebteMehlspeise aus dünn aufgetriebenem Nudel- oder Hefenteig, der,mit Obst, gewiegtem Fleisch, Schokolade, Krebsen, Mandeln, Mark,Rosinen etc. bedeckt, zusammengerollt und in einer Kasserollegebacken wird.

Strudelwürmer (Turbellaria), s. Platoden.

Struensee, 1) Karl Gustav von, preuß. Minister,geb. 18. Aug. 1735 zu Halle, Sohn Adam Struensees, des Verfassersdes alten Halleschen Gesangbuchs, Predigers an der Ulrichskirchedaselbst, dann zu Altona, studierte in Halle Mathematik undPhilosophie und wurde 1757 Professor an der Ritterakademie zuLiegnitz. Hier benutzte er seine Muße, die Anwendung derMathematik auf die Kriegskunst zu studieren, und gab"Anfangsgründe der Artillerie" (3. Aufl., Leipz. 1788) und"Anfangsgründe der Kriegsbaukunst" (das. 1771-74, 3 Bde.; 2.Aufl. 1786) heraus, das erste bessere Werk in diesem Fach inDeutschland. Auf Veranlassung seines Bruders ging er 1769 nachKopenhagen, wo er eine Anstellung als dänischer Justizrat undMitglied des Finanzkollegiums erhielt. Nach dem Sturz seinesBruders 1772 wurde er von Friedrich d. Gr. als preußischerUnterthan reklamiert, so daß man ihn frei in sein Vaterlandentlassen mußte. Nachdem er längere Zeit auf seinem GutAlzenau bei Haynau in Schlesien den Wissenschaften gelebt, ward er1777 zum Direktor des Bankkontors in Elbing ernannt, 1782 alsOberfinanzrat und Direktor der Seehandlung nach Berlin berufen,1789 vom König von Dänemark unter Hinzufügung desNamens v. Karlsbach geadelt und 1791 zum preußischenStaatsminister und Chef des Accise- und Zolldepartements ernannt.Obwohl von stattlicher Persönlichkeit und bedeutenden Gaben,dabei streng rechtlich, vermochte S., durch den Neid und dieFeindseligkeit seiner hochadligen Kollegen behindert, doch nichtdie freisinnigen Reformen im Finanzwesen durchzuführen, welcheer in seinen Schriften empfohlen hatte. Er starb 17. Okt. 1804.Vgl. v. Held, Struensee (Berl. 1805).

2) Johann Friedrich, Graf von, dän. Minister, Bruder desvorigen, geb. 5. Aug. 1737 zu Halle, studierte in seiner VaterstadtMedizin, ward 1759 Stadtphysikus zu Altona und 1768 Leibarzt undBegleiter des jungen Königs Christian VII. von Dänemarkauf dessen Reise durch Deutschland, Frankreich und England. Schnellerwarb er sich die Gunst des Königs und ward 1770 auch mit derErziehung des Kronprinzen beauftragt und zum Konferenzrat undLektor des Königs und der Königin Karoline Mathilde (s.Karoline 1) ernannt. Die von ihrem Gatten mit Gleichgültigkeitbehandelte Königin fand bald Interesse an seinem Umgang undglaubte in ihm den Mann gefunden zu haben, mit dessen Hilfe sie dieihr abgeneigte dänische Adelsaristokratie stürzenkönnte. Nachdem S. ein besseres Einvernehmen zwischen demKönig und der Königin hergestellt, wußte er diebisherigen Günstlinge und Minister vom Hof zu entfernen,zuerst den Grafen von Holck, an dessen Stelle sein Freund Brandtals königlicher Gesellschafter eintrat, dann auch denverdienten Minister Grafen Bernstorff, und Ende 1770 hob er denganzen Staatsrat auf. Die Königin und S. herrschten nununumschränkt, indem sie den schwachen König von denStaatsgeschäften fern hielten. Bald entspann sich zwischenihnen ein näheres Verhältnis. Während KarolineMathilde S. zärtlich liebte und ihre Gefühle oftunvorsichtig verriet, war diesem die Neigung der Königinbesonders deswegen von Wert, weil er sich durch sie in seinerMachtstellung zu behaupten hoffte. Seine Herrschaft über deneingeschüchterten König

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Struktur - Strümpfe.

war so groß, daß er sich schließlich sogar dieVollmacht erteilen ließ, Kabinettsbefehle ohnekönigliche Unterschrift auszufertigen. Es ward ein neuesMinisterium gebildet, S. selbst aber im Juli 1771 zumKabinettsminister ernannt. Abweichend von der bisher verfolgtenPolitik, suchte S. Dänemark von dem EinflußRußlands frei zu machen und dafür mit demstammverwandten Schweden eine enge Verbindung herzustellen. ImInnern wollte er nach dem Muster Friedrichs II. von Preußendurch einen aufgeklärten Despotismus gewerblicheThätigkeit, Wohlstand und freiheitliche Bildungbegründen. Die Finanzen wurden geordnet, die Abgabenverringert, viele der Industrie und Handel hemmenden Fesselngelöst, Bildungsanstalten gegründet, die strengenStrafgesetze gemildert, die Folter abgeschafft und alle Zweige derVerwaltung nach Vernunftgrundsätzen geordnet; doch ging S.dabei mit zu rücksichtsloser Eile zu Werke, verfeindete sichmit allen hervorragenden Persönlichkeiten, reizte das Volkdurch Verdrängung der S. unbekannten dänischen Sprache zugunsten der deutschen und ward daher als Tyrann verschrien,insbesondere von der orthodoxen Geistlichkeit. Dazu ward seinVerhältnis zu der Königin verdächtigt, namentlichals diese 7. Juli 1771 eine Tochter gebar. An der Spitze der ihmfeindlichen Partei stand die herrschsüchtige StiefmutterChristians VII., Juliane Maria, Prinzessin vonBraunschweig-Wolfenbüttel, und an sie schlossen sich mehrereeinflußreiche Männer an, darunter derKabinettssekretär Guldberg und der General Rantzau-Aschberg.Am frühen Morgen des 17. Jan. 1772 drangen diese Verschwornenin das Schlafzimmer des Königs und zwangen denselben zurUnterzeichnung des Befehls zur Verhaftung der Königin,Struensees und Brandts. S. ward in Ketten auf die Citadellegebracht und eines Anschlags gegen die Person des Königs, umihn zur Abdikation zu zwingen, des strafbaren Umgangs mit derKönigin, der Anmaßung und des Mißbrauchs derhöchsten Gewalt angeklagt. Auf sein Geständnis einesverbrecherischen Umgangs mit der Königin begab sich einezweite Kommission zur Königin nach Kronborg, um aus dieser eingleiches Geständnis herauszulocken, was auch gelang. Diekönigliche Ehe ward getrennt, S. aber "eines großen,todeswürdigen Verbrechens wegen" 6. April zu grausamerHinrichtung verurteilt. Ebenso lautete das Urteil gegen Brandt alsGenossen Struensees. Nachdem der König das Urteilbestätigt hatte, erfolgte 28. April 1772 die Exekution, indemihnen erst die rechte Hand, dann der Kopf abgeschlagen und derRumpf zerstückelt wurde. Beide Verurteilte fielen demHaß der von ihnen schwer beleidigten Adelsaristokratie zumOpfer. Michael Beer und Heinrich Laube machten Struensees Schicksalzum Gegenstand gleichnamiger Trauerspiele. Bouterwek lieferte einenseiner Zeit anerkannten Roman. Vgl. Höst, GeheimerKabinettsminister Graf J. F. S. und sein Ministerium (deutsch,Kopenh. 1826); Jenssen-Tusch, Die Verschwörung gegen KarolineMathilde von Dänemark und die Grafen S. und Brandt (Jena1864); Wittich, Struensee (Leipz. 1878).

3) Gustav Otto von (pseudonym Gustav vom See),Romanschriftsteller, geb. 13. Dez. 1803 zu Greifenberg in Pommern,studierte zu Bonn und Berlin die Rechte, ward 1834 Regierungsrat inKoblenz und 1847 Oberregierungsrat in Berlin. Er starb 29. Sept.1875 in Breslau. Unter seinen ältern Romanen (gesammelt Bresl.1867-69, 18 Bde.; neue Ausg. 1876, 6 Bde.) verdienen "Die Egoisten"(1853), "Vor fünfzig Jahren" (1859) und "Herz und Welt" (1862)hervorgehoben zu werden. Seine stärkste Produktivitätentfaltete der talentvolle und gebildete Erzähler in denletzten Jahrzehnten seines Lebens, wo er unter andern die Romane:"Wogen des Lebens" (Bresl. 1863, 3 Bde.), "Gräfin undMarquise" (Leipz. 1865, 4 Bde.) mit der Fortsetzung "Ost und West"(Bresl. 1865, 4 Bde.), "Arnstein" (das. 1868, 3 Bde.), "Valerie"(das. 1869, 4 Bde.), "Falkenrode" (Hannov. 1870, 4 Bde.), "Kriegund Friede" (Berl. 1872, 4 Bde.), "Gänseliese" (Hannov. 1873,3 Bde.), "Ideal und Wirklichkeit" (das. 1875, 3 Bde.), "Erlebt underdacht", Novellen (das. 1875, 2 Bde.), "Die Philosophie desUnbewußten" (das. 1876, 3 Bde.) etc. erscheinenließ.

Struktur (lat. structura), die Art und Weise deräußern und innern Zusammenfügung eines zu einemGanzen aus einzelnen, verschiedenartigen Teilen verbundenenKörpers; insbesondere in der Geologie das innere Gefügeder Gesteine, wie es durch die Form, die gegenseitige Lage, dieVerteilung und die Art der Verbindung der Gesteinselemente und deraccessorischen Bestandteile bedingt wird; über die einzelnenStrukturformen vgl. Gesteine.

Struma, s. Kropf.

Struma (Karasu, der alte Strymon), Fluß in dereurop. Türkei, entspringt in Bulgarien am Westabhang derWitosch (Skomios), bildete im Altertum die Ostgrenze Makedoniensund mündet nach ca. 300 km langem Lauf in den Golf von Orfani(Strymonischer Meerbusen), nachdem er kurz vorher den See Tachyno(Kerkine im Altertum) durchflossen hat.

Strumiza (Strumdscha), Stadt im türk. WilajetSaloniki, am Flusse S. (Nebenfluß des Struma), Sitz einesgriechischen Erzbischofs, mit altem Schloß, 6 Moscheen undca. 15,000 Einw., von denen etwa die Hälfte Mohammedaner.

Strümpell, Ludwig, Philosoph und Pädagog, geb.23. Juni 1812 zu Schöppenstädt im Braunschweigischen,studierte zu Königsberg (unter Herbart) Philosophie undPädagogik, wurde Erzieher in Kurland, habilitierte sich 1843,wurde 1844 außerordentlicher, 1849 ordentlicher Professor derPhilosophie und Pädagogik an der russischen UniversitätDorpat, siedelte 1871 als kaiserlich russischer Staatsrat a. D.nach Leipzig über, wo er als Honorarprofessor der Philosophiethätig ist. Von seinen zahlreichen, im Geist Herbartsverfaßten Schriften sind hervorzuheben: "Erläuterungenzu Herbarts Philosophie" (Götting. 1834); "Die Hauptpunkte derHerbartschen Metaphysik" (Braunschw. 1840); "Vorschule der Ethik"(Mitau 1844); "Entwurf derLogik" (das. 1846); "DerKausalitätsbegriff und sein metaphysischer Gebrauch in derNaturwissenschaft" (Leipz. 1872); "Die Geisteskräfte derMenschen, verglichen mit denen der Tiere" (gegen Darwin, das.1878); "Psychologische Pädagogik" (das. 1880); "Grundrißder Logik" (das. 1881); "Grundriß der Psychologie" (das.1884); "Einleitung in die Philosophie vom Standpunkt der Geschichteder Philosophie" (das. 1886). Die "Geschichte der griechischenPhilosophie" (Leipz. 1854-61, 2 Bde.) blieb unvollendet. - SeinSohn Gustav Adolf, geb. 28. Juni 1853, seit 1886 ordentlicherProfessor der Medizin in Erlangen, schrieb: "Lehrbuch derspeziellen Pathologie und Therapie der innern Krankheiten" (5.Aufl., Leipz. 1889, 2 Bde.).

Strümpfe (franz. Bas [de chausses]) waren anfangsvon Leder oder Wollenzeug genäht und mit den Hosen verbunden(Strumpfhosen). Gestrickte, von den Beinkleidern getrennte S.sollen erst im 16. Jahrh. und zwar zuerst in England in Gebrauchgekommen sein. Man sagt, Königin Elisabeth sei die erstegewesen,

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Strumpfwaren - Struve.

die sich ihrer bediente. Indes besaß schon ihr VaterHeinrich VIII. ein Paar gestrickte seidene Beinkleider (tricots),die er aus Spanien zum Geschenk erhalten haben soll, und die damalsnoch für ein seltenes Prachtstück galten. Ende des 16.Jahrh. waren S. von farbiger und weißer Seide (filet deFlorence) mit gestickten Zwickeln schon weiter verbreitet. S. alsOrnatstück der Bischöfe, violettblau von Farbe, warengenäht, anfangs aus Leinen, später aus Seide oder Samt.Strumpfbänder kamen ebenfalls bereits in der zweitenHälfte des 16. Jahrh. auf und wurden bald kostbar verziert. Im18. Jahrh. wurden Strumpfbänder aus Gold- oder Silberstoff mitMetallschnallen auch von Männern zur Befestigung der Kniehosenund S. getragen.

Strumpfwaren, s. Wirkerei.

Strunk (Stipes), kurzer, dicker Stengel; insbesondere derStiel der Hutpilze (s. Pilze, S. 71).

Strunkschwamm, s. Sparassis.

Struthio, Strauß; Struthionidae (Strauße),Familie aus der Ordnung der Straußvögel.

Struve, 1) Friedrich Adolf August, Begründer derMineralwasserfabrikation, geb. 9. Mai 1781 zu Neustadt bei Stolpen,studierte seit 1799 in Leipzig und Halle Medizin, ließ sich1803 in seiner Vaterstadt als Arzt nieder, kaufte 1805 dieSalomonisapotheke in Dresden und bemühte sich fortan um diekünstliche Nachbildung der Mineralwässer, die er zugroßer Vollkommenheit brachte. Er richtete viele Anstaltenfür Mineralwässerfabrikation ein und starb 29. Sept. 1840in Berlin. Er schrieb: "Über Nachbildung der natürlichenHeilquellen" (Dresd. 1824-1826, 2 Hefte). - Sein Sohn Gustav Adolf,geb. 11. Jan. 1812 zu Dresden, studierte in Berlin, hielt dann inDresden Vorlesungen über Chemie und übernahm die Leitungder väterlichen Geschäfte, die er wesentlich ausdehnte.Er bereitete auch neue Mineralwässer, indem er Chemikalien inreinem, mit Kohlensaure imprägniertem Wasser löste, u.schuf auf diese Weise sehr wertvolle Arzneiformen. Er starb 21.Juli 1889 in Schandau, nachdem er 1880 die Leitung derGeschäfte seinem Sohn Oskar, geb. 5. Juli 1838 zu Dresden,gest. 28. Nov. 1888 in Leipzig, übergeben hatte.

2) Friedrich Georg Wilhelm von, Astronom, geb. 15. April 1793 zuAltona, studierte 1808-11 in Dorpat erst Philologie, dannAstronomie, ward 1813 Observator und 1817 Direktor der Sternwartezu Dorpat, 1839 Direktor der neu erbauten Nikolai-Zentralsternwartezu Pulkowa bei St. Petersburg. Er widmete sich vorzugsweise derBeobachtung der Doppelsterne und veröffentlichte:"Observationes Dorpatenses" (Dorp. 1817-39, 8 Bde.) sowie"Catalogus novus stellarum duplicium" (das. 1827), "Stellarumduplicium mensurae micrometricae" (Petersb. 1831) und "Stellarumfixarum, imprimis compositarum positiones mediae" (das. 1852); erbestimmte ferner die Parallaxe von a [alpha] Lyrae und gabUntersuchungen über den Bau der Milchstraße in den"Études d'astronomie stellaire" (das. 1847). Fernerorganisierte S. die sämtlichen russischen Sternwarten,führte 1816-19 eine Triangulation Livlands aus und leitete1822-52 die große russisch-skandinavische, einenMeridianbogen von 25° 20' umfassende Gradmessung, überwelche er in "Arc du méridien entre le Danube et la MerGlaciale" (Petersb. 1857-60, 2 Bde.) berichtet hat, wie auch dieAusführung eines Nivellements zwischen dem Kaspischen undSchwarzen Meer (1836-37), dessen Bearbeitung durch S. 1841erschien, und geographische Ortsbestimmungen in Sibirien, dereuropäischen und asiatischen Türkei. Nach schwererKrankheit im J. 1858 übergab er 1862 sein Amt seinem Sohn OttoWilhelm (s. unten) und starb 23. (11.) Nov. 1864 in Petersburg.Ausgezeichnet war die Beobachtungsgabe Struves und das Geschick,Beobachtungsfehler zu ermitteln und unschädlich zu machen. Erwurde zum Wirklichen Staatsrat ernannt und geadelt.

3) Otto Wilhelm von, Astronom, Sohn des vorigen, geb. 7. Mai1819 zu Dorpat, wurde 1837 Gehilfe des Vaters daselbst, dann inPulkowa, später zweiter Astronom und Vizedirektor, 1862Nachfolger seines Vaters. Er war auch 1847-62 beratender Astronomdes russischen Generalstabs, dessen astronomisch-geodätischeArbeiten er leitete, lieferte eine neue Bestimmung derPräzessionskonstanten (1841), eine Durchmusterung desnördlichen Himmels, welche 500 neue Doppelsternsysteme ergab,Arbeiten über den Saturn und dessen Ringe, Bestimmung derMasse des Neptun, entdeckte einen innern Uranustrabanten,ermittelte die Parallaxe verschiedener Fixsterne, machteBeobachtungen über die Veränderlichkeit im Nebel desOrion und kleiner, in demselben verteilter Sterne und veranstaltetezahlreiche Beobachtungen über Kometen, Doppelsterne und Nebel.1851 wies er bei Gelegenheit der Sonnenfinsternis nach, daßdie Protuberanzen dem Sonnenkörper angehören, auchbeteiligte er sich an der Gradmessung, die sich über 69Längengrade zwischen Valentia in Irland und Orsk an derasiatischen Grenze erstreckt. Er schrieb: "Übersicht derThätigkeit der Nikolai-Hauptsternwarte während der ersten25 Jahre ihres Bestehens" (Petersb. 1865) und gab heraus:"Observations de Poulkowa" (das. 1869-87, 12 Bde.).

4) Gustav von, republikan. Agitator und Schriftsteller, geb. 11.Okt. 1805 in Livland, studierte die Rechte in Deutschland und warddann oldenburgischer Gesandtschaftssekretär zu Frankfurt a.M., ging aber bald als Advokat nach Mannheim. Seine Mußewidmete er phrenologischen Studien, als deren Früchte eine"Geschichte der Phrenologie" (Heidelb. 1843) und ein "Handbuch derPhrenologie" (Leipz. 1845) erschienen. Auch redigierte er das"Mannheimer Journal" und ward infolge der oppositionellen Haltungdieses Blattes wiederholt zu Gefängnisstrafe verurteilt. 1846gründete er den "Deutschen Zuschauer". Nach der PariserFebruarrevolution machte er im April 1848 im badischen Seekreis mitHecker den bewaffneten Putsch zur Einführung der Republik undfloh nach dessen Mißlingen in die Schweiz. Ein bewaffneterEinfall, den er 21. Sept. mit andern politischen Flüchtlingenauf badisches Gebiet machte, mißglückte wieder, und erselbst ward nach dem Treffen bei Staufen 25. Sept. im AmtsbezirkSäckingen verhaftet und vom Schwurgericht zu Freiburg 30.März 1849 wegen versuchten Hochverrats zu 5 1/3 JahrenEinzelhaft verurteilt und zu deren Abbüßung nachBruchsal abgeliefert. Infolge der badischen Volkserhebung schon 24.Mai wieder frei geworden, beteiligte er sich in MieroslawskisHauptquartier an derselben und entfloh nach dem Scheitern diesesneuen Aufstandes in die Schweiz, von da im April 1851 nach NewYork, wo er seine "Allgemeine Weltgeschichte" im radikalen Sinn(New York 1853-60, 9 Bde.; 8. Abdruck, Koburg 1866) schrieb. Imnordamerikanischen Bürgerkrieg machte er als Offizier in einemNew Yorker Regiment die Feldzüge von 1861 und 1862 mit, kehrteaber im Sommer 1863 nach Europa zurück und lebte in Koburg,seit 1869 in Wien, wo er 21. Aug. 1870 starb. Von seinenübrigen Schriften sind zu erwähnen: "Politische Briefe"(Mannh. 1846);

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Struvit - Stuart.

"Grundzüge der Staatswissenschaft" (Frankf. 1847 bis 1848,4 Bde.); "Das öffentliche Recht des Deutschen Bundes" (Mannh.1846, 2 Bde.); "Geschichte der drei Volkserhebungen in Baden" (Bern1849); "Das Revolutionszeitalter" (New York 1860, 7. Aufl. 1864);"Diesseit und jenseit des Ozeans" (Koburg 1864, 4 Hefte);"Geschichte der Neuzeit" (7. Aufl., das. 1864); "Die Pflanzenkost,die Grundlage einer neuen Weltanschauung" (Stuttg. 1869); "DasSeelenleben des Menschen" (Berl. 1869). - Seine Frau Amalie S.,geborne Düsar, welche sich an den republikanischenUnternehmungen ihres Mannes eifrig beteiligte und, gleichzeitig mitdiesem arretiert, bis 16. April 1849 in Haft blieb, schrieb:"Erinnerungen aus den badischen Freiheitskämpfen" (Hamb. 1850)und "Historische Zeitbilder" (Brem. 1850, 3 Bde.). Sie starb imFebruar 1862 in New York.

Struvit (Guanit), Mineral aus der Ordnung der Phosphate,findet sich in rhombischen, ausgezeichnet hemimorph entwickeltenKristallen, ist im frischen Zustand gelblich oder bräunlich,glasglänzend, halbdurchsichtig bis undurchsichtig, Härte1,5-2, spez. Gew. 1,66-1,75, zerfällt bei der Verwitterung inein weißes Pulver und besteht aus wasserhaltiger,phosphorsaurer Ammoniakmagnesia (NH4)MgPO4+6H2O. S. ist hier und daals ein offenbar sehr junges Produkt an Orten gefunden worden, andenen menschliche oder tierische Abfallstoffe sich aufhäuften,so unter der Nikolaikirche in Hamburg, in den Abzugskanäleneiner Dresdener Kaserne, zu Braunschweig und Kopenhagen, auch imGuano (Guanit) der afrikanischen Küste und bei Ballarat inAustralien.

Strychuin C21H22N2O2, Alkaloid, findet sich neben Brucinin den Brechnüssen (Krähenaugen) von Strychnos nux vomica(0,28-0,5 Proz.) und in der Rinde dieses Baums (falscheAngosturarinde), in den Ignatiusbohnen von S. Ignatii (1,5 Proz.),im Schlangenholz von S. colubrina, in der Wurzelrinde von S.Tieuté und dem daraus bereiteten Pfeilgift. Zur Darstellungfällt man wässerigen Auszug von Krähenaugen mitAlkohol, das verdampfte und wieder gelöste Filtrat mitKalkmilch, extrahiert den Niederschlag mit Alkohol, verdampft,entfernt aus dem Rückstand das Brucin mit kaltem Weingeist undreinigt das S. durch Umkristallisieren. S. bildet farb- undgeruchlose Kristalle, schmeckt äußerst bitter, hinterhermetallisch, ist sehr schwer löslich in Wasser, Alkohol undÄther, etwas leichter in Chloroform, Benzol, zersetzt sich vordem Schmelzen bei 312°, ist nur in sehr geringen Mengensublimierbar, reagiert alkalisch und bildet meistkristallisierbare, äußerst bitter schmeckende Salze, vondenen das salpetersaure S. C21H22N2O2.HNO3 in Wasser und Alkoholschwer löslich ist. S. ist eins der stärksten Gifte undwirkt besonders auf die motorischen Teile des Nervensystems; sehrgeringe Mengen erzeugen Starrkrampf, und meist wird durch Teilnahmeder Brustmuskeln an dem Starrkrampf schnell der Tod durchErstickung herbeigeführt. Morphium, Blausäure, Akonitin,Curare und namentlich Chloralhydrat wirken dem S. entgegen. Vgl.Falck, Die Wirkungen des Strychnins (Leipz. 1874).

Strychnos L., Gattung aus der Familie der Loganiaceen,Bäume und (oft hoch schlingende) Sträucher, zum Teilbewehrt, mit gegenständigen, kurzgestielten, ganzrandigenBlättern, weißen oder grünlichen, häufigwohlriechenden Blüten in achsel- oder endständigen,dichten und fast kopfigen oder in kleinen, trugdoldigen oder inrispigen Dichasien und meist kugeligen Beeren. Etwa 60 durchwegtropische Arten. S. nux vomica L. (Krähenaugenbaum,Brechnußbaum, s. Tafel "Arzneipflanzen II"), ein Baum mitkurzem, dickem Stamm, eiförmigen, kahlen Blättern,endständigen Trugdolden und großer, kugeliger,orangefarbener, mehrsamiger Beere, in deren weißer,gallertartiger Pulpa 1-8 Samen liegen, wächst in Ostindien,besonders auf der Koromandelküste, auch auf derMalabarküste, auf Ceylon, in Siam, Kotschinchina undNordaustralien und liefert in den Samen die offizinellenKrähenaugen (Brechnüsse, sem*n Strychni, Nux vomica).Diese sind flach kreisrund, bis 3 cm breit und 0,5 cm dick,graugelb, anliegend behaart und dadurch glänzend, mitwarzenförmig erhöhtem Mittelpunkt, schwer zu pulvern undzu schneiden, schmecken sehr stark und anhaltend bitter und wirkenhöchst giftig. Sie enthalten Strychnin, Brucin (und Igasurin),gebunden an Igasursäure, und werden hauptsächlich alsStomachikum bei Dyspepsie, Diarrhöe und Obstipation benutzt.In den Arzneischatz wurden sie vielleicht durch die Arabereingeführt und in Deutschland durch Valerius Cordus, Bauhinund Geßner im 16. Jahrhundert näher bekannt. Dieschwärzlich aschgraue Rinde des Baums kam zu Anfang diesesJahrhunderts, der Angosturarinde beigemischt, in den Handel(falsche Angosturarinde), ist jetzt aber wieder völligverschwunden. S. Tieuté Lesch. (Upasstrauch, Tschettek) isteine 25-30 m lange, einfache, astlose, armdicke Schlingpflanze,welche mit ihren Ranken in den Urwäldern Javas die Bäumeerklettert, und aus deren Wurzelrinde ein furchtbares Pfeilgift,das Upas-Tieuté, dargestellt wird. S. toxicaria Schomb.,eine Schlingpflanze Guayanas, welche mit beindicken Gewinden andreStämme umschlingt, ferner S. Gobleri Planch. am Orinoko, S.Castelnoeana Wedd. am obern Amazonas, S. Schomburgkii Kl., S.cogens Beuth. und S. Crevauxii Planch. in Guayana liefern Curare.S. potatorum L. (Atschier) ist ein Baum Indiens, dessenFrüchte von der Größe einer Kirsche undgenießbar sind, und dessen Samen (Klärnüsse)schlammiges Wasser klar und trinkbar machen sollen. S. colubrina L.(Schlangenholzbaum), ein Schlingstrauch in Ostindien etc., liefertdas Schlangenholz, welches gegen Schlangenbiß benutztwird.

Stryi, Stadt in Galizien, am Flusse S. (Nebenflußdes Dnjestr), Knotenpunkt der Staatsbahnlinien Zagorz-Husiatyn undLemberg-Lawoczne, ist Sitz einer Bezirkshauptmannschaft und einesBezirksgerichts, hat eine römisch-katholische und einegriechisch-kath. Kirche, ein Schloß, ein Realgymnasium,Dampfsäge, Gerberei und (1880) 12,625 Einw. (darunter 5450Juden). S. ist 1886 größtenteils abgebrannt.

Strymon, Fluß, s. Struma.

Strzelecki (spr. -letzki), Paul Edmund, Graf von,austral. Entdeckungsreisender, geb. 1796 in Preußen, wurde inEngland erzogen und machte die ausgedehntesten Reisen in Nord- undSüdamerika, Westindien etc. Er besuchte die Südseeinseln,Java, Teile von China, Ostindien und Ägypten, entdeckte 1840die Gegend südlich von den Australischen Alpen, welche erGippsland benannte, erforschte die Blauen Berge vonNeusüdwales und 1841 und 1842 noch Vandiemensland; starb 6.Okt. 1873 in London. Er schrieb "Physical description of New SouthWales and Van Diemen's Land" (Lond. 1845).

Stuart (spr. stjuh-ert), altes Geschlecht in Schottland,das diesem Reich und England eine Reihe von Königen gegebenhat. Es stammt von einem Zweig der anglo-normännischen FamilieFitz-Alan ab, der sich in Schottland niederließ und unterDavid I. die

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Stuart - Stubbs.

erbliche Würde des Reichshofmeisters (steward, daher derName S.) erwarb. Walter S. heiratete um 1315 eine Tochter desschottischen Königs Robert I. Bruce, auf deren Nachkommen nachdem Erlöschen des königlichen Mannesstamms die Thronfolgein Schottland überging. Als Roberts I. Sohn David II. 1370ohne männliche Erben starb, bestieg Walter Stuarts Sohn alsRobert II. den schottischen Thron und ward der Gründer derDynastie, welche nach dem Ableben der Königin Elisabeth vonEngland mit Jakob VI. (I.), dem Sohn der Maria S., (1603) auch dieKrone dieses Reichs erhielt. Von einem Seitenzweig der Stuartsstammen die Grafen von Lennox her, welche infolge derVermählung des Matthew S., Grafen von Lennox, mit MargareteDouglas, einer Enkelin Heinrichs VII. von England, auch auf denenglischen Thron Ansprüche erwarben. Der Sohn dieser Ehe warHeinrich Darnley (s. d.), der Gemahl der Maria S. und VaterKönig Jakobs I. von England. Als mit dessen Enkel Jakob II.(s. d.) der Mannesstamm der Stuarts 1688 aus England vertriebenworden war, beschäftigten diese die öffentlicheAufmerksamkeit nur noch durch die fruchtlosen Versuche, dieverlornen Reiche wiederzuerlangen. Diese nahm zuerst Prinz JakobEduard, der Prätendent, der sich Jakob III. nannte und 1766starb, dann dessen ältester Sohn, Karl Eduard, auf. Derselbelebte nach der Schlacht bei Culloden (1746), die seinenUnternehmungen in Schottland ein Ziel setzte, als Graf von Albanyin Italien und starb kinderlos 31. Jan. 1788 in Rom. Weiteresüber ihn s. Karl 28). Er war mit der Tochter des PrinzenGustav Adolf von Stolberg-Gedern, Luise Maria Karoline (gest. 1824,s. Albany, Gräfin), vermählt. Sein einziger Bruder,Heinrich Benedikt, der 1747 die Kardinalswürde erhielt, lebtezuletzt von einem Jahrgeld, welches ihm vom britischen Hof gezahltwurde, in Venedig und starb 13. Juli 1807 in Frascati, nachdem erseine Ansprüche auf den britischen Thron auf Karl Emanuel II.von Sardinien vererbt hatte. König Georg IV. ließ ihm inder Peterskirche zu Rom von Canova ein Denkmal errichten. SeineFamilienpapiere kaufte die britische Regierung an und ließsie veröffentlichen ("S. papers", Lond. 1847). VonNebenzweigen des Stuartschen Stammes leben noch zahlreiche Gliederin Schottland, England und Irland. Vgl. Vaughan, Memorials of theS. dynasty (Lond. 1831, 2 Bde.); Klopp, Der Fall des Hauses S.(Wien 1875-87, 14 Bde.).

Stuart (spr. stjuh-ert), 1) John Mac Douall, austral.Entdeckungsreisender, geb. 1818 in Schottland, begleitete Sturt1844-46 auf seiner Expedition und erforschte 1858 mit nur EinemBegleiter einen großen Teil des Landes zwischen demTorrenssee und der Westgrenze von Südaustralien. 1859unternahm er zwei neue Forschungsreisen ebenfalls in der Umgegendder Torrenssees, versuchte dann 1860 von Süden aus denKontinent nach dem Norden zu durchwandern, erreichte 1861 zumzweitenmal den 17.° südl. Br. und drang endlich bis zurNordküste durch, die er 24. Juli 1862 am Vandiemengolferreichte. Er starb 5. Juni 1866 in Nottingham Hill. SeineForschungen erschienen unter dem Titel: "Explorations in Australia"(2. Aufl., Lond. 1864).

2) James E. B., amerikan. General, geb. 6. Febr. 1833 in PatrickCounty (Virginia), wurde zu West Point ausgebildet, trat 1855 alsOffizier in ein Reiterregiment, ging beim Ausbruch desBürgerkriegs (1861) zu den Konföderierten über undwurde Oberst eines Reiterregiments. Er zeichnete sich durch seinekühnen Unternehmungen in der Flanke und im Rücken desFeindes aus, erhielt bald als General den Befehl über einReiterkorps, befehligte 1863 den linken Flügel dessüdstaatlichen Heers, ward aber schon 11. Mai 1864 im Gefechtbei Yellow Tavern gegen Sheridan schwer verwundet und starb 12. Maiin Richmond. Vgl. Mac Clellan, Life and campaigns of Major-GeneralJ. E. B. S. (Bost. 1886).

Stuart de Rothesay (spr. roth-sse), Charles, Lord, brit.Diplomat, geb. 2. Jan. 1779, ward 1808 bei der Gesandtschaft inSpanien angestellt, 1810 zum englischen Bevollmächtigten beider provisorischen Regierung in Lissabon ernannt und fungiertesodann als Botschafter von 1815 bis 1820 und 1828 bis 1830 zu Parisund von 1840 bis 1844 zu St. Petersburg. 1824 brachte er in Rio deJaneiro den Vertrag zu stande, durch den die UnabhängigkeitBrasiliens von Portugal bestätigt war. Seit 1828 war erbritischer Peer; seine Verdienste um Portugal erwarben ihm dieTitel eines Grafen von Machico und Marquis von Angoa. Er starb 6.Nov. 1845 auf seinem Landsitz Highcliff in Hampshire.

Stub, Ambrosius, dän. Dichter, geb. 1705,absolvierte 1725 die Schule zu Odense, kam aber nicht weitervorwärts und mußte lange Zeit sein Brot als Bibliothekarund Schreiber von Gutsbesitzern auf Fünen verdienen, welchenicht selten in brutalem Übermut ihren Scherz mit ihm trieben.Schließlich kam er nach Ribe, wo er 1758 als armerSchulmeister starb. S. hat eine Menge Gedichte und Liedergeschrieben, von denen einige von der finstern religiösenStimmung der Zeit beeinflußt zu sein scheinen, währendandre reizend und zierlich im Schäferstil der Zeit gehaltensind oder von Scherz und Lebenslust strotzen. Solange er lebte,unbeachtet geblieben, fanden sie nach seinem Tod (zum erstenmalgedruckt 1771) allgemeinen Beifall und die weiteste Verbreitung,und jetzt wird S. mit Recht als Vater der neuern dänischenLyrik betrachtet. Eine neue Ausgabe seiner "Samlede Digte" mitBiographie besorgte Fr. Barfod (5. Aufl., Kopenh. 1879).

Stubai, linkes, vom Rutzbach durchströmtesSeitenthal der Sill in Nordtirol, Bezirkshauptmannschaft Innsbruck,mit (1880) 4246 Einw., die besonders Viehzucht und Fabrikation vonEisen-, Blech- und Stahlwaren betreiben, und den Hauptorten:Mieders (mit Bezirksgericht), Vulpmes und Neustift. S. gibt denStubaier Alpen ihren Namen, die einen Hauptteil der ÖtzthalerGruppe (s. Ötzthal) bilden und im Zuckerhütl (3508 m)kulminieren. Vgl. Pfaundler und Barth, Die Stubaier Gebirgsgruppe(Innsbr. 1865).

Stübbe, s. Kohlenklein.

Stubbenkammer, s. Rügen.

Stubbs (spr. stöbbs), William, namhafter engl.Geschichtschreiber, geb. 21. Juni 1825 zu Knaresborough in Essex,studierte zu Oxford, wurde 1848 Geistlicher, 1862 Bibliothekar zuLambeth, 1866 Professor der neuern Geschichte zu Oxford und 1869Kurator der großen Bodleyschen Bibliothek daselbst. 1875erhielt er die Pfründe des Rektorats zu Cholderton und ward1884 Bischof von Chester. Abgesehen von einer großen Anzahlvon meist mustergültigen Ausgaben mittelalterlicher Chronikenund Urkunden, hat er sich besonders durch seine "Constitutionalhistory of England" (2. Aufl., Oxf. 1875-78, 3 Bde.) bedeutendeVerdienste erworben, außerdem "Select charters and otherillustrations of English history" (1870) und "Lectures on study ofmediaeval and modern history" (das. 1886) veröffentlicht.

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Stübchen - Stuck

Stübchen, altes Flüssigkeitsmaß imnördlichen und westlichen Deutschland, in Hamburg = 3,62 Lit.,in Hannover = 3,89 L., in Bremen = 3,22 L.

Stuben (ungar. Stubnya), höchst gelegener ungar.Badeort im Komitat Turocz, Eigentum der nahen Stadt Kremnitz, mitalkalisch-salinischen, bei Rheuma, Gicht und Hautkrankheitenwirksamen Thermen von 46,5° C. S. ist Station der UngarischenStaatsbahn.

Stubenarrest, s. Arrest.

Stubenfliege, s. Fliegen, S. 373.

Stubensandstein, s. Triasformation.

Stubenvögel (Käfigvögel, hierzu Tafel"Ausländische Stubenvögel"). Die Liebhaberei für S.ist uralt. In Indien, Japan und China richtet man schon seitJahrtausenden kleine Vögel zu Kampfspielen ab. Alexander d.Gr. brachte den ersten Papagei von seinem Zug aus Asien mit, undauch später haben bei Eroberungen und Entdeckungenprächtige Schmuckvögel die Triumphzüge derHeimkehrenden verherrlichen müssen. Aus Amerika, wo diePeruaner seit alten Zeiten Papageien zähmten, brachte Kolumbusdiese Vögel nach Europa. In Deutschland fanden der Fink undder Dompfaff in manchen Landstrichen, wie in Tirol, im Harz und inThüringen, begeisterte Freunde, und dem Vogelmarkt, der sichin manchen Städten, wie namentlich in Berlin,außerordentlich entwickelte, verdankt auch die Wissenschaftmanche Bereicherung. Viel größere Verbreitung als irgendein heimischer Vogel fand aber der Kanarienvogel, dem sich seit demBeginn des vorigen Jahrhunderts andre überseeische Sing- undSchmuckvögel anschlossen. Schon 1790 gab Vieillot einbesonderes Werk über dieselben heraus. Zu Bechsteins Zeitwurden 72 Arten fremdländischer Vögel nach Deutschlandeingeführt, und 1858 gab Bolle ein Verzeichnis von 51 Arten.Zehn Jahre später nahm aber diese Liebhaberei einen ganzaußerordentlichen Aufschwung, und wenn damals die Zahl dereingeführten Arten auf 250 veranschlagt werden konnte, so hatsich dieselbe bis 1878 auf nahezu 700 gesteigert. Neben denSingvögeln, wie Spottdrossel und andre Drosseln,Grasmücken, Finken, Starvögel, Bülbüls etc.,spielen gegenwärtig besonders die Prachtfinken (Astrilds undAmadinen), Witwenvögel (Widafinken), Weber, Reisvogel,Tangaren, Sonnenvogel, Dominikanerfink, Kardinal und Papageien diegrößte Rolle und erregen ein besonderes Interessedadurch, daß sie in der Gefangenschaft leicht zur Brutschreiten. Die Tafel zeigt eine Auswahl der beliebtestenausländischen S. Man züchtet sie vielfach in sogen.Vogelstuben oder Heckkäfigen, und der Handel mit den bei unsgezüchteten fremdländischen Vögeln erreicht bereitseinen namhaften Betrag. Trotz der großen Mannigfaltigkeit derfremdländischen sind aber auch die einheimischen Vögelnoch immer ein bedeutsamer Gegenstand der Liebhaberei. Sprosser,Nachtigall, Schwarzplättchen, von Südeuropa her Stein-und Blaudrossel sind von großer Wichtigkeit für denVogelhandel, dann nicht minder verschiedene Grasmücken, Rot-und Blaukehlchen, Meisen, Drosseln, Hänfling, Stieglitz,Edelfink, Gimpel u. a. m., welche auch zugleich zahlreich nachNordamerika und andern Weltteilen ausgeführt werden.Neuerdings züchtet man auch vielfach einheimische Finken undselbst Insektenfresser in Volieren und Vogelstuben. - Was dieGesundheitszeichen aller S. betrifft, so ist darüber folgendeszu sagen: jeder Vogel muß munter und frisch aussehen,natürliche Lebhaftigkeit, glatt anliegendes, am Unterleibnicht beschmutztes Gefieder, nicht trübe oder matte Augen,nicht verklebte oder schmutzige Nasenlöcher, keinen spitzhervortretenden Brustknochen haben; er darf nicht traurig, struppigoder aufgebläht dasitzen und nicht kurzatmig sein;abgestoßenes Gefieder, fehlender Schwanz und beschmutzteFedern bergen nicht immer Gefahr, doch muß beiWurmvögeln dann wenigstens ein voller Körper vorhandensein. Die Fütterung soll der Ernährung im Freilebengleichen, und daher lassen sich keine allgemein gültigenRegeln geben. Die hauptsächlichsten Futtermittel für alleKörnerfresser sind Hanf, Kanariensame, Hirse, Hafer u. a. m.,für die Insektenfresser: frische oder getrockneteAmeisenpuppen, Mehlwürmer, Eierbrot, Eikonserve u. dgl. wieauch süße Beeren und andre Früchte. Unentbehrlichsind auch Kalk (Sepia, wohl auch Mörtel von alten Wänden)und sauberer, trockner Stubensand. Reinlichkeit, sorgfältigeBewahrung vor Zugluft, Nässe, schnellem Temperaturwechsel,plötzlichem Erschrecken und Beängstigen sind diehauptsächlichsten Hilfsmittel zur Erhaltung der Gesundheitfür alle S. Vgl. die Schriften von Ruß (s. d.);Friderich, Naturgeschichte der deutschen Zimmer-, Haus- undJagdvögel (3. Aufl., Stuttg. 1876); Reichenbach, DieSingvögel (als Fortsetzung der "VollständigstenNaturgeschichte"); Gebr. Müller, Gefangenleben der besteneinheimischen Singvögel (Leipz. 1871); Lenz, Naturgeschichteder Vögel (5. Aufl., Gotha 1875); A. E. Brehm, GefangeneVögel (Leipz. 1872-75, 2 Bde.); Chr. L. Brehms "Vogelhaus",neubearbeitet von Martin (3. Aufl. , Weim. 1872), und dieZeitschrift "Die gefiederte Welt" (hrsg. von Ruß, Berl., seit1872).

Stüber (holländ. Stuiver), frühereScheidemünze in den Niederlanden (20 S. = 1 Gulden); inOstfriesland etc. (72 S. = 1 preußischen Thaler); auch alteschwedische Silbermünze, s. v. w. Ör (s. d.).

Stubica, Badeort im kroatisch-slawon. Komitat Agram, 8 kmvon Krapina-Teplitz, mit vielen indifferenten Thermen von 58,7°C.

Stuck (ital. stucco), Mischung von Gips, Kalk und Sand,welche in der Baukunst sowohl zum Überzug der Wände alszur Verfertigung der Gesimse und Reliefverzierungen dient. Manunterscheidet je nach der Zubereitung: Weißstuck, Kalkstuck,Graustuck, Glanzstuck (ital. stucco lustro), Leinölstuck.Schon die alten Griechen wandten eine Art S. als Überzug beinicht in Marmor aufgeführten Bauten an. Die eigentlicheStuckaturarbeit zur Verzierung hieß bei den Römern Opusalbarium oder coronarium und ward von ihnen vielfach an Decken undWänden, meist bemalt oder vergoldet, angewandt. Nachdem dieKunst lange in Vergessenheit geraten war, soll sie zuerst vonMargaritone um 1300 von neuem erfunden worden sein. Vervollkommtward dieselbe namentlich durch den Maler Nanni von Udine zur ZeitRaffaels, wie die nach diesem benannten Logen im Vatikan zeigen.Recht in Aufnahme kam aber die Stuckaturarbeit in Deutschland undanderwärts erst mit dem Rokokostil zu Anfang des 18. Jahrh.Zur Stuckaturarbeit muß das feinste Material angewandtwerden. Die Masse wird in weichem Zustand aufgetragen und erst,wenn sie etwas hart und zäh geworden, mit den Fingern und demBossiereisen in beliebige Formen gebracht. Gute Stuckaturarbeittrotzt jeder Witterung. Eine Art S. ist auch der sogen. Gips- oderStuckmarmor, mit welchem man Säulen etc. bekleidet, um ihnenein marmorartiges Ansehen zu geben. Vgl. Heusinger v. Waldegg, DerGipsbrenner (Leipz. 1863); Fink, Der Tüncher, Stuckator etc.(das. 1866).

Meyers Konv.- Lexikon, 4. Aufl., xv. Bd.

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AUSLÄNDISCHE STUBENVÖGEL.

1. Helenafascäuclxen (Habropyga. Astrild).-

2. Grauer Astrild ( Habropyga cinerea). -

3. Tigerfink (Pytelia ampdava).-

4. Zebrafink ( Zonaeginthus casta.notis) (1-4 Ait.^4strU<fj).~

5. Bandvogel (Spermestes fasciai-a).-

6. Erz amadme, Meines Eisterchen (Spermestes cucullata) (5,6 ATI. ^tmacUnen,). -

7. Schwarzköpfiger Webervoge| (HyphAntornis toxtor) (Art.Webervögel]. -

8. Paradieswitwe (Vidua paradisea) (Art. wwwanmS/Ä). -

9. Beisvogel (Padda oryzivora) (Art. Retevogel}. -

10. Tangara ('Rhamphocehis Tyrasiliensis) (Art. Tan#aren). -

11. Socopvogel (I,eiofhrix Juteus) (Art. SomunvoffA) -

12. Dominikanerfink (Paroraria dominicana)..-

13. Kardinal,

virginische Nachtigall (Cardinalii viriniatius ) ( 12, 13Aj-t.Kas°£isi<tf)•

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Stück - Studieren.

Stück, s. v. w. Geschütz.

Stuckatur, s. Stuck.

Stücke in Esther, s. Esther.

Stückelalgen, s. v. w. Diatomaceen, s. Algen, S.343.

Stückelberg, Ernst, Maler, geb. 22. Febr. 1831 zuBasel, ging 1850 auf die Antwerpener Akademie, von da nach Paris,1854 nach München, 1856 nach Italien, wo er ein Jahrzehntblieb, und ließ sich dann in Basel nieder. Von seinenpoetisch empfundenen und zart gemalten Bildern sind diehervorragendsten: Prozession im Sabinergebirge (1859-60, Museum zuBasel); Kirchgang aus "Faust" (1865); der Kindergottesdienst,Marionetten, Jugendliebe (Museum in Köln); Echo und Narkissos,als Pendants; Zigeuner an der Birs; der Eremit von Maranno; dashelvetische Siegesopfer. 1877 malte er ein großes Fresko:Erwachen der Kunst, in der Kunsthalle zu Basel, und im selben Jahrerhielt er den ersten Preis für Entwürfe zu Fresken derneuen Tell-Kapelle am Vierwaldstätter See, welche er bis 1887ausführte.

Stückelung (franz. coupure), im Münzwesen undbei Wertpapieren die Festsetzung der Teilmünzen und derAppoints (s. d.).

Stückfaß, Gebinde Wein, in Frankfurt a. M. = 8¼ Ohm, in Leipzig = 4, in Nürnberg = 15 bis 15 ½Eimer Visiermaß. Das dänische Stykfad à 5 Oxhoft= 11,231 hl.

Stückgießerei, s. v. w.Geschützgießerei (s. d.).

Stückgut, Bronze zu Geschützen.

Stückgüter (auch zählende Güter),Waren, welche nach der Zahl (Groß, Dutzend, Schock, Ballenetc.) angegeben werden, beim Eisenbahn- und Wassertransportdiejenigen, welche nicht in ganzen Wagen- oder Schiffsladungen,sondern als besondere Frachtstücke oder Kolli (s. d.)aufgegeben werden. Vgl. Eisenbahntarife.

Stückjunker, im 17. und 18. Jahrh. Name desFähnrichs bei der Artillerie.

Stückkugel, s. Geschoß, S. 213.

Stücklohn, s. Arbeitslohn, S. 759.

Stuckmarmor, s. Gips, S. 357.

Stückzahlung, s. v. w. Abschlagszahlung.

Stückzinsen, bei Wertpapieren derjenige Teil vomBetrag des nächstfälligen Zinskoupons, welcher auf dieseit dem letzten Zinstermin verflossene Zeit entfällt.

Stud., Abkürzung für Studiosus, Student; z. B.Stud. arch. nav., für St. architecturae navalis, Studierenderdes Schiffbaues (an technischen Hochschulen); Stud. phil.,Studierender der Philosophie; Stud. philol., Studierender derPhilologie; Stud. rer. nat., für St. rerum naturalium,Studierender der Naturwissenschaften.

Stud., bei naturwissenschaftl. Namen Abkürzungfür B. Studer (s.d.).

Stud-book (engl., spr. stodd-buck), "Gestütbuch",das Verzeichnis der in einem Land vorhandenen Vollbluttiere nebstderen Pedigree (s. d.).

Studemund, Wilhelm, namhafter Philolog, geb. 3. Juli 1843zu Stettin, studierte 1860-63 in Berlin und Halle, hielt sich1864-66 zu wissenschaftlichen Zwecken in Italien auf und fertigtebesonders eine Abschrift des berühmten MailänderPalimpsestes des Plautus, privatisierte dann in Halle, verglich1867 bis 1868 in Verona auf Anregung der Berliner Akademie dasPalimpsest des Gajus, wurde 1868 außerordentlicher und 1869ordentlicher Professor der Philologie in Würzburg, 1870 inGreifswald und 1872 in Straßburg, wo er auch die Leitung desphilologischen Seminars übernahm. Seit 1885 als ordentlicherProfessor und Mitdirektor des philologischen Seminars an derUniversität Breslau wirkend und 1889 zum GeheimenRegierungsrat ernannt, starb er daselbst 9. Aug. 1889. S. isthochverdient um die lateinische Paläographie und die Kritikdes Plautus sowie um die griechischen Musiker und Metriker. Erveröffentlichte: "De canticis Plautinis"(Inauguraldissertation, Berl. 1864), "Studien auf dem Gebiet desarchaischen Lateins" (Bd. 1, das. 1873), "Analecta Liviana" (mitTh. Mommsen, Leipz. 1873), "Gaji institutionum codicis Veronensisapographum" (das. 1874), eine Handausgabe des Gajus (mit P.Krüger; 2. Aufl., Berl. 1884), "Anecdota varia graeca musica,metrica, grammatica" (das. 1886) und zahlreiche Abhandlungen,besonders zu Plautus, von dessen "Vidularia" er auch eine Ausgabebesorgte (Greifsw. 1870, 2. Aufl. 1883).

Student (lat.), s. Studieren.

Studer, Bernhard, Geolog, geb. 21. Aug. 1794 zuBüren im Kanton Bern, studierte anfangs in Bern Theologie,wandte sich aber mathematischen und naturwissenschaftlichen Studienzu und wurde 1815 Lehrer am Gymnasium zu Bern, studierte dann inGöttingen und Paris Geologie und Astronomie, begleiteteLeopold v. Buch auf mehreren Alpenreisen und widmete sich seitdemhauptsächlich der Erforschung der Alpen. 1825 erhielt er diefür ihn errichtete Professur der Geologie in Bern, die er bis1873 innehatte. Er starb 2. Mai 1887 in Bern. Von seinen Schriftensind zu nennen: "Monographie der Molasse" (Bern 1825); "Geologieder westlichen Schweizeralpen" (Heidelb. 1834); "Anfangsgründeder mathematischen Geographie" (2. Aufl., Bern 1842); "DieGebirgsmasse von Davos" (das. 1837); "Lehrbuch der physikalischenGeographie und Geologie" (das. 1844-47, 2 Bde.); "Hauteursbarometriques prises dans le Piémont, en Valois et enSavoie" (mit Escher von der Linth, das. 1843); "Geologie derSchweiz" (das. 1851-53, 2 Bde.); "Einleitung in das Studium derPhysik und Elemente der Mechanik" (das. 1859); "Geschichte derphysischen Geographie der Schweiz" (Zürich 1863); "Überden Ursprung der Schweizer Seen" (Genf 1864); "Zur Geologie derBerner Alpen" (Stuttg. 1866); "Index der Petrographie undStratigraphie der Schweiz" (Bern 1872); "Gneis und Granit derAlpen" (Berl. 1873). Auch bearbeitete er mit Escher von der Linthdie treffliche "Carte géologique de la Suisse" (Winterth.1853, 2. Aufl. 1870, in 4 Blättern) und eineÜbersichtskarte in 1 Blatt. In den letzten Jahren widmete ersich besonders der auf seine Anregung von der SchweizerischenNaturforschenden Gesellschaft beschlossenen Herausgabe von"Beiträgen zu einer geologischen Karte der Schweiz" und dergeologischen Kolorierung der großen Schweizerkarte vonDufour. 1885 legte er das Präsidium der schweizerischengeologischen Kommission nieder. - Sein Vetter Gottlieb S., geb.1804 zu Bern, lebt als Bibliothekar daselbst und ist bekannt alsMitbegründer des Schweizer Alpenklubs und durch die wertvollenSchriften: "Berg- und Gletscherfahrten" (mit Ulrich und Weilenmann,Zürich 1859-63, 2 Bde.); "Über Eis und Schnee. Diehöchsten Gipfel der Schweiz und die Geschichte ihrerBesteigung" (Bern 1869-83, 4 Bde.).

Studie (v. lat. studium), Übungsstück,Vorarbeit zu einem Kunstwerk, besonders in der Malerei etc.

Studienanstalten, in Bayern amtliche Bezeichnung derGymnasien; s. Gymnasium, S. 962.

Studieren (lat.), wissenschaftlich forschen, etwaswissenschaftlich betreiben; zu diesem Zweck eine Hochschulebesuchen. Student, Studiosus, ein Stu-

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Studio - Stuhlzwang.

dierender, besonders auf einer Hochschule (vgl.Universitäten).

Studio (Bruder S.), scherzhaft für Studiosus,Student.

Studium (lat., Mehrzahl: Studien), wissenschaftlicheForschung sowie der Gegenstand derselben; auch Werkstätteeines bildenden Künstlers (ital. studio). Als akademisches S.pflegt man die Bildungszeit zu bezeichnen, die jemand auf derUniversität zubringt.

Studjianka, Dorf, s. Borissow.

Studley Royal (spr. stoddli reu-el), s. Ripon.

Stuer, Lehngut in Mecklenburg-Schwerin, am Plauer See,hat eine evang. Kirche, eine Burgruine, eine besuchteWasserheilanstalt und (1885) 173 Einw.

Stuerbout (spr. stührbaut), Maler, s. Bouts.

Stufe, ein Stück Gestein oder Erz; Fundstufe, amFundort von dem gefundenen Mineral genommene Probe; auch ein vomMarkscheider oder einem Bergbeamten in das Gestein eingehauenesMerk- oder Grenzzeichen.

Stufenerz, s. v. w. Stuferz.

Stufengebete (Staffelngebete) heißen die Gebete,welche am Anfang der Messe von dem Celebranten und dem Altardienerauf der untersten Stufe des Altars gesungen werden.

Stufenjahre, s. Klimakterische Jahre.

Stufenlieder, s. Psalmen.

Stufenscheibe, s. Riemenräderwerke.

Stufenschnitt, in der Heraldik, s. Heroldsfiguren.

Stuferz (Stufferz), derbes Erz; edle Stuferze, reinegediegene Erzstücke, welche keiner Aufbereitung auf Pochwerkenetc. bedürfen.

Stuhl, früher Bezeichnung gewisser hoherGerichtsbarkeiten, z. B. Schöppenstuhl; in Siebenbürgenfrüher s. v. w. Gerichtsbezirk (daher Stuhlrichter etc.).

Stühle. Über die S. der Alten s. Sella. Imfrühern Mittelalter kommt der Stuhl noch selten vor unddann nur als Thronstuhl für hohe Würdenträger oderals Ehrensitz für das Familienhaupt. Die übrigenFamilienmitglieder setzten sich auf Schemel, Bänke, Truhen,Klappstühle, Sessel. Am Ende des 11. Jahrh. findet man Schemelmit Rückenlehnen im täglichen Gebrauch, doch immer nurnoch bei Vornehmen. Im 13. Jahrh. wird die Sitzplatte sechs- bisachteckig, und das Gerät hat die entsprechende gleiche Zahlvon Beinen oder Stützen; für den Richterstuhl besteht ausjener Zeit die Vorschrift, daß er vierbeinig sein soll.Ebenfalls im 13. Jahrh. fertigte man auch schon S. aus dünnenEisenstäben, deren Sitze aus Riemen oder Gurten bereitet undmit Kissen belegt wurden. Sehr kostbar waren und blieben das ganzeMittelalter hindurch die byzantinischen und römischenPrachtstühle, die besonders hohe und mit Schnitzereiengezierte Rücklehnen sowie geschweifte oder gedrechselteSäulen und Füße hatten. Ein solcher Prachtstuhl,der in der Regel mit einem gestickten oder gewirkten Überzugbedeckt war, stand nie frei, sondern meist vor der Mitte einerWand.

Stuhlfeier Petri, s. Petri Stuhlfeier.

Stuhlgericht, s. v. w. Femgericht.

Stuhlherr (Gerichtsherr), bei den frühernPatrimonialgerichten der Inhaber der Patrimonialgerichtsbarkeit (s.d.); bei den Femgerichten (s. d.) des Mittelalters der Inhaber dessogen. Freistuhls und der Patronatsherr des Gerichts.

Stühlingen, Stadt im bad. Kreis Waldshut, an derWutach und der Linie Oberlauchringen-Weizen der BadischenStaatsbahn, 501 m ü. M., Hauptstadt der dem Fürsten vonFürstenberg gehörigen gleichnamigen Standesherrschaft,hat ein Bergschloß (Hohenlupfen), ein Hauptzollamt, eineBezirksforstei, Baumwollzwirnerei, Gerberei, eine Kunstmühleund (1885) 1244 Einw. 1849 wurden hier römische Mauern mitMosaikboden gefunden.

Stuhlrohr, s. v. w. Spanisches Rohr.

Stuhlverstopfuug (Obstruktion), Hemmung der normalenDarmentleerung. Die S. ist keine selbständige Krankheit,sondern nur das Symptom einer solchen und begleitet einegroße Zahl von Darmleiden. Entweder hat die S. ihre Ursachedarin, daß an irgend einer Stelle des Darmrohrs eineVerengerung, Einklemmung oder Verschlingung eingetreten ist, welchemechanisch das Hineingelangen des Inhalts in den Mastdarm und seineEntleerung hindert, oder es liegt bei freier Wegsamkeit eine mehroder weniger vollständige Lähmung der Darmbewegung(Peristaltik) dem Übel zu Grunde. Eine solche Trägheit inder wurmförmigen Zusammenziehung kann künstlich durchsogen. stopfende Mittel, Tannin und besonders Opium, hervorgerufenwerden; gemeiniglich ist sie eine Folge vorausgegangener abnormlebhafter Bewegungen, wie sie bei Darmkatarrhen,Darmentzündungen, choleraähnlichen Durchfällen oderbeim Typhus vorkommen; zuweilen ist die üble Angewohnheit derseltenen Stuhlentleerung schuld an der S., in noch andernFällen mag eine organische Erkrankung des Nervenapparats,welcher in der Darmwand selbst liegt, die Ursache der sogen.habituellen S. (Hartleibigkeit) sein. Die leichtern Grade der S.,welche ungemein häufig nach kleinen Diätfehlernauftreten, weichen der Anwendung milder Abführmittel, wieRizinusöl, Senna, oder dem Gebrauch einiger GläserBitterwasser. Die hartnäckigen Fälle erfordern einesorgfältige Behandlung des ursachlichen Darmleidens; beihabitueller S. ist die Diät zu regeln, für Bewegung undErhaltung eines guten Allgemeinbefindens zu sorgen und beibestehender hypochondrischer Verstimmung künstlich durch mildeArzneien vollständige und tägliche Öffnung desLeibes zu schaffen.

Stuhlweißenburg (ungar. Szekesfehervar, lat. Albaregia), königliche Freistadt im ungar. KomitatWeißenburg und Knotenpunkt der Süd- und UngarischenWestbahn, hat einen Dom, unter dem außer altenKönigsgräbern auch die Basilika Stephans des Heiligengefunden wurde, eine bischöfliche Residenz mit Bibliothek, 3Klöster, eine schöne Seminarkirche, ein neues Theater,eine große Honvedkaserne, ein Denkmal des DichtersVörösmarty (von Vay) und (1881) 25,612 Einw., dielebhaften Handel (bedeutend sind die Pferdemärkte) und Gewerbetreiben. S. hat ein katholisches Obergymnasium, einPriesterseminar, eine Real- und eine Handelsschule, einMilitärhengstedepot und ist Sitz des Komitats, einesrömisch-katholischen Bischofs, Domkapitels und Gerichtshofs. -Von Stephan dem Heiligen zur Krönungsstadt erhoben, war S.seitdem meist Residenz und Begräbnisstätte derungarischen Könige, bis erstere zur Zeit des Königs BelaIV. nach Ofen verlegt wurde. 1543 fiel die Stadt den Türkendurch Kapitulation in die Hände. Infolge der hier 3. Nov. 1593und 6. Sept. 1601 von den Kaiserlichen über die Türkenerfochtenen Siege kam die Stadt wieder in den Besitz der erstern,aber schon 1602 durch Meuterei der Besatzung von neuem in dieGewalt der Türken, welche sie erst 1688 verließen.

Stuhlwinde, s. Aufzüge, S. 70.

Stuhlzeug, Roßhaargewebe zum Beziehen vonMöbeln.

Stuhlzwang (Tenesmus), das schmerzhafte Drängen zumStuhl, wobei aber nur geringe Kotmassen

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Stuhm - Stumpfsinn.

entleert werden, oder welches auch gänzlich erfolglosbleibt. Der S. beruht auf krampfhafter Zusammenziehung derMuskulatur des Dickdarms und des Afterschließmuskels und istkonstantes Symptom der Dickdarmentzündungen bei Katarrhen,namentlich des Mastdarms, bei Reizungen durch Würmer undvornehmlich bei Ruhr, Typhus etc. Der S. hört mit erfolgtemStuhl auf, oder dauert noch eine Weile fort; er kann einäußerst quälendes Symptom darstellen.

Stuhm, Kreisstadt im preuß. RegierungsbezirkMarienwerder, an zwei Seen und an der Linie Thorn-Marienburg derPreußischen Staatsbahn, hat eine evangelische und eine kath.Kirche, ein altes Schloß, Amtsgericht, Pferdemärkte und(1885) 2238 Einw.

Stuhmsdorf, Dorf im preuß. RegierungsbezirkMarienwerder, Kreis Stuhm, hat eine kath. Kirche und 602 Einw. Hierwurde 12. Sept. 1635 unter französischer Vermittelung einWaffenstillstand auf 26 Jahre zwischen Schweden und Polengeschlossen.

Stuhr, Peter Feddersen, Geschichtsforscher, geb. 28. Mai1787 zu Flensburg, ließ sich nach beendetem akademischenStudium 1810 in Heidelberg nieder und machte sich durch seinePolemik gegen Niebuhr in der Schrift "Über den Untergang derNaturstaaten" (Berl. 1817) bekannt. Nachdem er den Feldzug von 1813in der hanseatischen Legion und den von 1815 in derpreußischen Landwehr, dann im 6. Ulanenregiment mitgemacht,erhielt er eine Anstellung als Sekretär bei derMilitärstudienkommission in Berlin und 1826 eineaußerordentliche Professur daselbst. Er starb 13. März1851 in Berlin. Von seinen Arbeiten sind noch hervorzuheben: "DieStaaten des Altertums und die christliche Zeit in ihrem Gegensatz"(Heidelb. 1811); "Die Religionssysteme der heidnischen Völkerdes Orients" (Berl. 1836) und der Hellenen" (das. 1838); "Die dreiletzten Feldzüge gegen Napoleon" (Lemgo 1832, Bd. 1); "DerSiebenjährige Krieg" (das. 1834); "Geschichte der See- undKolonialmacht des Großen Kurfürsten" (Berl. 1839);"Forschungen und Erläuterungen über Hauptpunkte derGeschichte des Siebenjährigen Kriegs" (Hamb. 1842, 2Bde.).

Stuiben, Berg in den Algäuer Alpen, südwestlichvon Immenstadt, 1764 m hoch, mit Wirtshaus.

Stuifen, Bergkegel an der Nordwestseite des Albuch(Schwäbischer Jura) im württembergischen Jagstkreis,erreicht 756 m Höhe.

Stuiver, Münze, s. Stüber.

Stüler, Friedrich August, Architekt, geb. 28. Jan.1800 zu Mühlhausen in Thüringen, bildete sich zu Berlinnach Schinkel, bereiste 1829 und 1830 Frankreich und Italien, wardHofbauinspektor und 1832 Hofbaurat und Direktor derSchloßbaukommission. Unter Friedrich Wilhelm IV.eröffnete sich ihm ein bedeutender Wirkungskreis. Außerden "Vorlegeblättern für Möbeltischler" , welche ermit Strack in 4 Heften (1835 ff.) herausgab, sind unter seinenarchitektonischen Entwürfen die im "Album desPreußischen Architektenvereins" (Potsd. 1837 ff.)erschienenen hervorzuheben, ferner die zu dem neuen Rathaus inPerleberg, zum Wiederaufbau des Winterpalais in Petersburg, zu denSchloßbauten in Boitzenburg, Basedow, Arendsee, Dalwitz undzu der katholischen Kirche in Rheda. Seine bedeutendsteSchöpfung ist das Neue Museum in Berlin. Auch der Kuppelbauauf dem Triumphbogen des Hauptportals des königlichenSchlosses ist sein Werk. Andre Bauten von ihm sind: die AlteBörse zu Frankfurt a. M. (1844), die Matthäus-, Jacobus-,Markus- und Bartholomäuskirche in Berlin, mehrerePrachtanlagen im Park von Sanssouci, die Nikolaikirche zu Potsdam,die Vollendung des großherzoglichen Schlosses zu Schwerin,die Universität zu Königsberg, das Nationalmuseum zuStockholm, die Akademie zu Pest. Endlich lieferte er eine Mengedekorativer Zeichnungen für Gußwerke,Porzellangefäße, Silberarbeiten etc. S. starb 18.März 1865 in Berlin.

Stultitia (lat.), Thorheit; Stultus, Thor.

Stumm, Karl Ferdinand, Freiherr von, Industrieller, geb.30. März 1836 zu Saarbrücken, besuchte dieUniversitäten Bonn und Berlin und übernahm sodann dieLeitung der von seinem Vater gegründeten großenEisenhüttenwerke in Neunkirchen. 1870/71 führte er alsRittmeister der Landwehr eine Ulanenschwadron; auch erhielt er vonder Regierung den Titel eines Geheimen Kommerzienrats. Er wurde1867 gleichzeitig in das preußische Abgeordnetenhaus und denReichstag gewählt und gehörte dem erstern bis 1870, demandern bis 1881 und wieder seit 1889 an. 1882 wurde er zum Mitglieddes Herrenhauses ernannt und 1888 in den Freiherrenstand erhoben.Mitglied der deutschen Reichspartei, unterstützte ernamentlich die wirtschaftlichen Reformen Bismarcks, sowohl dieschutzzöllnerische Tarifreform von 1879 als dieMaßregeln für den Schutz des Handwerks und der Arbeiter.Sein Bruder Ferdinand, Freiherr von S., geb. 1843 zu Neunkirchen,machte als Offizier die Feldzüge gegen Dänemark (1864) u.Österreich (1866) mit, nahm 1868 am Feldzug der Engländergegen Abessinien teil, trat 1869 zur diplomatischen Laufbahnüber, kämpfte aber 1870/71 im Kriege gegen Frankreich undward 1883 zum Gesandten in Darmstadt, 1885 in Kopenhagen, 1887 inMadrid ernannt. 1888 ward er Botschafter des Deutschen Reichs inMadrid und in den Freiherrenstand erhoben.

Stummelaffe (Colobus Illig.), Gattung aus der Familie derSchmalnasen (Catarrhini) und der Unterfamilie der Hundsaffen,stehen den Schlankaffen (s. d.) sehr nahe, haben aber an denVorderhänden nur Daumenrudimente; ihr Leib ist schlank, dieSchnauze kurz, der Schwanz sehr lang; sie besitzenGesäßschwielen, aber keine Backentaschen. Die Guereza(C. Guereza Rüpp.), 65 cm lang, mit 70 cm langem Schwanz, istschwarz mit silbergrauer Kehle und Stirnbinde und grauerSeitenmähne u. Schwanzquaste; er bewohnt Abessinien, lebt fastnur auf Bäumen, ist höchst behende, durchaus harmlos undnährt sich von Blättern, Früchten und Insekten. Zuderselben Gattung gehören der Bärenstummelaffe (C.ursinus Wagn.), in Westafrika, und der Teufelsaffe(C. SatanasWagn.), auf Fernando Po.

Stumme Rollen, im Theaterwesen Rollen, in welchen derSchauspieler nicht spricht oder singt, sondern sich einzig undallein durch die Gebärdensprache zu verstehen gibt (z. B. inder "Stummen von Portici").

Stummheit, das Unvermögen, artikulierte Lautehervorzubringen, zeigt sich bei Krankheiten des Gehirns(Schlagfluß, Epilepsie etc.) und der Sprachwerkzeuge, auchbei Taubheit (Taubstummheit).

Stumpf, s. Juxtabuch.

Stumpfsinn (Stupor), ein Seelenzustand, bei welchem alleThätigkeit des Gehirns daniederliegt. Teils alsselbständige Geisteskrankheit, teils als Teilerscheinungmannigfacher Symptomenkomplexe (Melancholie, paralytischeGeistesstörung) aufgefaßt, stellt der S. denhöchsten Grad des Schwachsinns dar, welcher durch diegänzliche Aufhebung aller willkürlichen psychischen wiemotorischen Äußerungen charakterisiert ist. Man siehtdiese Kranken im Zustand völliger Geistesabwesenheit undRegungslosigkeit durch Tage und Wo-

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Stunde - Sturdza.

chen verharren; keine Frage wird beantwortet, keinäußerer Eindruck kommt zum Bewußtsein, dasGefühl gegen Frost und Hitze, gegen Schmerzen und andereSinneseindrücke ist verloren. Der Harn u. Speichelfließen unwillkürlich ab, die Kranken verunreinigensich, sie müssen künstlich ernährt werden, da siesonst verhungern oder verdursten würden. Zuweilen ist mit demS. eine eigentümliche Starrsucht (Flexibilitas cerea)verbunden, bei welcher die Muskeln gespannt, ja bretthart sind undin der einmal eingenommenen Stellung ohne Regung, ohneErmüdung verharren. Die Ursache dieses Zustandes istunbekannt. Der S. geht zuweilen in Genesung über, sofern erakut und als einzige Geistesstörung auftritt; bildet er denAusgang chronischer, in Schwachsinn übergehenderGeisteskrankheiten, so führt er ziemlich jäh den letztenAbschnitt dieser Leiden zu Ende.

Stunde, der 24. Teil eines Tags, der wieder in 60 Minutenà 60 Sekunden geteilt wird. Die Zeichen dafür sind h,d. h. hora oder S., m und s; es ist also 5 h 12 m 51,5 s soviel wie5 Stunden 12 Min. 51,5 Sek. Die meisten zivilisierten Völkerfangen jetzt die erste S. des Tags im bürgerlichen Leben nachdem Eintritt der Mitternacht an zu zählen, zählen abernur bis 12 und beginnen zu Mittag wieder von vorn, so daß derTag in zweimal 12 Stunden (Vormittag [a. m. = ante meridiem] undNachmittag [p. m. = post m.]) zerfällt. In einem großenTeil Italiens aber zählte man bis zur neuesten Zeit dieStunden vom Sonnenuntergang an fortlaufend von 1-24. Ebenso pflegendie Astronomen zu zählen, aber von Mittag an. S. alsWegmaß (Wegstunde) = 5km.

Stundenglas, s. v. w. Sanduhr.

Stundenkreis, jeder größte Kreis derHimmelskugel, welcher durch beide Pole geht, also den Äquatorsenkrecht schneidet, gleichbedeutend mit Deklinationskreis; vgl.Himmel, S. 545.

Stundenwinkel, der Winkel zwischen dem Deklinationskreiseines Sterns und dem Meridian; vgl. Himmel, S. 546.

Stundisten (russ. Stundisty, vom deutschen "Stunde" imSinn von Betstunde), Name einer um 1870 im Gouvernement Kiewgebildeten religiösen Sekte, die in Südrußlandweite Verbreitung gefunden hat. Die S. verwerfen jedePriesterherrschaft, die Sakramente und äußerngottesdienstlichen Gebrauche und begegnen sich, indem sie dasHauptgewicht auf die religiöse Erweckung legen, mannigfach mitdem protestantischen Pietismus.

Stundung, Fristerteilung von seiten des Gläubigersdem Schuldner gegenüber in Ansehung einer an und für sichfälligen Forderung. Die nach gemeinem deutschen Recht auchgegen den Willen des Gläubigers zulässige S. durch dieStaatsgewalt ist nach der deutschen Zivilprozeßordnung nichtmehr statthaft.

Stupa, s. Tope.

Stupefaktion (lat.), Bestürzung; Stupefacientia,betäubende Mittel; stupend, erstaunlich.

Stüpfelmaschine, s. Schablonenstechmaschine.

Stupid (lat.), stumpfsinnig, dumm.

Stupor (lat.), Erstarrung, dumpfe Starrheit; alsGeisteskrankheit s. v. w. Stumpfsinn (s. o.).

Stupp, Quecksilberruß, s. Quecksilber.

Stuprum (lat.), außerehelicher Beischlaf; Stuprata,die Geschändete, Geschwächte; Stuprator, derSchwängerer.

Stur, 1)(Stúr, spr. schtur) Ludewit, slowak.Schriftsteller u. Patriot, geb. 23. Okt. 1815 zu Uhrowez imungarischen Komitat Trentschin, protestantischer Abkunft, studiertein Preßburg und Halle und bekleidete 1840-43 eine Professuram Lyceum zu Preßburg, der Hauptpflanzstätte derlitterarischen und patriotischen Bewegung der Slowaken, der er sichmit Begeisterung anschloß. Fortan ganz der Litteraturzugewendet, verteidigte er in mehreren Schriften in deutscherSprache die Rechte der Slowaken gegen die Angriffe der Magyaren undgründete 1845 die Zeitung "Slovenske narodnie Novini"("Slowakische Nationalzeitung") mit der litterarischen Beilage"Orol Tatranski" ("Der Adler von der Tatra"), worin er sich stattdes bisher üblichen Tschechischen der slowakischenVolkssprache (und zwar im Dialekt seiner Heimat) bediente, diehierdurch zur Schriftsprache bei den protestantischen Slowakenerhoben wurde. Im J. 1847 wurde S. von Altsohl in den Reichstag zuPreßburg gewählt, wo er mit glänzender Beredsamkeitfür die Rechte seines Volkes auftrat; nach Ausbruch desAufstandes 1848 floh er nach Wien, nahm dann amSlowakenkongreß zu Prag teil, blieb aber nach wie vor derHauptleiter der Bewegung gegen die Ungarn, die sogar einen Preisauf seinen Kopf setzten. Später in Zurückgezogenheitseinen litterarischen Arbeiten lebend, starb er 12. Jan. 1856infolge einer Wunde, die er sich auf der Jagd zugezogen hatte. Vonseinen Schriften sind noch "Zpevy i pisne" ("Gesänge undLieder", Preßb. 1853) und das in tschechischer Spracheabgefaßte Werk "Über die Volkslieder und Märchender slawischen Stämme" (Prag 1853) zu erwähnen. Auchhinterließ er im Manuskript ein deutsch geschriebenes Werkaus den Jahren 1852 bis 1853, das eine Darstellung seiner Theoriedes Panslawismus enthält und in russischer Übersetzungvon Lamanskij unter dem Titel: "Das Slawentum und die Welt derZukunft" (Mosk. 1867) erschien.

2) Dionys, Geolog und Paläontolog, geb. 1827 zu Beczko(Ungarn), besuchte die hohen Schulen von Modern und Preßburg,studierte in Wien und Schemnitz, wurde 1850 Mitglied der k. k.geologischen Reichsanstalt in Wien und 1877 Vizedirektor derselben.Er lieferte zahlreiche Arbeiten, namentlich überPflanzenpaläontologie, und schrieb: "Geologie der Steiermark"(Graz 1871, mit Karte); "Die Kulmflora desmährisch-schlesischen Dachschiefers"(Wien 1875); "DieKulmflora der Ostrauer und Waldenburger Schichten" (das. 1877);"Die Karbonflora der Schatzlarer Schichten" (das. 1885-87) u.a.

Stura, Fluß in der ital. Landschaft Piemont,entspringt auf der Höhe des Monte Argentera in den Seealpen,tritt vor Cuneo in die oberitalienische Tiefebene und mündetbei Cherasco in den Tanaro; 110 km lang. Noch drei andreWasserläufe im Piemontesischen heißen S.

Sturdza (Stourdza), moldauische Bojarenfamilie, dieurkundlich bis in den Anfang des 15. Jahrh. hinaufreicht. Gregor S.war unter dem Fürsten Kallimachi Kanzler der Moldau undleitete die Abfassung des 1817 erschienenen moldauischenGesetzbuchs. Als nach der langen Fremdenherrschaft der Fanariotender Hospodarensitz der Moldau wieder von Rumänen eingenommenwurde, waren es zwei Sturdzas, die nacheinander denselbenbesetzten: Johann S. (1822-28) und Michael S. (1834 bis 1. Mai1849). Die Regierung beider war sehr erschwert durch das auf denDonaufürstentümern lastende russische Protektorat. JohannS. mußte einer russischen Besitznahme der Moldau weichen, die1828-34 währte. Michael Sturdzas (geb. 14. April 1795, gest.8. Mai 1884 in Paris) 14jährige Regierung wurde verhaßtdurch den russischen Zuschnitt, den er dem Fürstentum zu gebensich bemühte (s. Walachei, Ge-

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Sture - Sturm

schichte). Vgl. "Michel Stourdza et son administration"(Brüssel 1848); "Michel Stourdza, ancien prince regnant deMoldavie" (Par. 1874). Sein Sohn Gregor, geb. 1821, ist einHauptvertreter der russischen Partei in Rumänien.Außerdem haben sich einen Namen gemacht:

1) Alexander S., geb. 29. Nov. 1791, Sohn eines moldauischenBojaren, der als politisch Kompromittierter 1792 nach Rußlandauswanderte, erhielt seine Bildung in Deutschland und suchte sichnach seiner Rückkehr nach Rußland der dortigen Regierungals loyaler Publizist bemerklich zu machen. Seine Schrift"Betrachtungen über die Lehre und den Geist der orthodoxenKirche" (deutsch, Leipz. 1817) erwarb ihm die Würde einesrussischen Staatsrats. Auf dem Kongreß zu Aachen schrieb erim Auftrag seines Kaisers ein "Memoire sur l'etat actuel del'Allemagne" (deutsch in den "Politischen Annalen" 1819), worin erunter andern ungerechten Urteilen über Deutschland namentlichdie deutschen Universitäten als Pflanzschulenrevolutionären Geistes und des Atheismus hinstellte. Diebedeutendsten Gegenschriften sind: "Coup d'oeil sur les universitesde l'Allemagne" (Aach. 1818) und von Krug (Leipz. 1819). S. zogsich 1819 nach Dresden zurück, wo er sich mit einer TochterHufelands verheiratete, und 1820 auf seine Güter in derUkraine und lebte später zu Odessa, sich der Einrichtung undLeitung wohlthätiger Anstalten, unter andern einesDiakonissenvereins, widmend. Er starb 25. Juni 1854 zu Mansyr inBessarabien. Von seinen übrigen Schriften ist hervorzuheben"La Grece en 1821" (Leipz. 1822). Nach seinem Tod wurdenherausgegeben: "OEuvres posthumes religieuses, historiques,philosophiques et litteraires" (Par. 1858-61, 5 Bde.).

2) Demeter S. von Miclauscheni, rumän. Staatsmann undSchriftsteller, geb. 10. März 1833, studierte in München,Göttingen, Bonn und Berlin, war 1857 Kanzleichef des Diwans adhoc der Moldau, 1866 einer der eifrigsten Mitarbeiter an dem Sturzdes Fürsten Alexander Cusa, 1866 bei der Wahl des FürstenKarl von Hohenzollern als Mitglied (Minister der öffentlichenArbeiten) der provisorischen Regierung thätig und bekleideteim Kabinett Bratianus 1876-88 wiederholt den Ministerposten deröffentlichen Arbeiten, der Finanzen, des Äußern unddes Unterrichts. Als Generalsekretär der rumänischenAkademie leitet er die Herausgabe von zwei großenQuellenwerken über rumänische Geschichte (Hurmuzakis"Documente privitoare la Istoria Romanilor", Bukar. 1876-89, 11Bde., u. Sturdzas "Acte si Documente privitoare la IstoriaRenascerei Romaniei", das. 1888-89, 3 Bde.). Er schrieb mehrerehistorische und numismatische Abhandlungen, z. B. "La marcheprogressive de la Russie sur le Danube" (Wien 1878); "Rumänienund der Vertrag von San Stefano" (das. 1878); "Übersicht derMünzen und Medaillen des Fürstentums Rumänien,Moldau u. Walachei" (das. 1874); "Memoriu asupra numismaticeiromanesci" (Bukar. 1878).

Sture, altadliges Geschlecht in Schweden, das 1716erlosch. Sten S. der ältere, Reichsvorsteher von Schweden,Sohn Gustav Amundssons S. und Schwestersohn Karl Knutsons, wardnach dessen Tod 1470 Reichsvorsteher und besiegte denDänenkönig Christian I. 10. Okt. am Brunkeberg. Ererrichtete 1476 die Universität zu Upsala, führte dieBuchdruckerei in Schweden ein und versöhnte sich 1497 mitKönig Johann von Dänemark, der bloß den Titel einesKönigs von Schweden führte, während S. Regent war.Er starb 13. Dez. 1503 in Jönkoping, wahrscheinlich an Gift.Vgl. Palmen, Sten Stures strid med konung Hans (Helsingf. 1884);Blink, Sten S. den äldre och hans samtider (Stockh. 1889). EinSeitenverwandter von ihm, Svante Nilsson S., folgte ihm alsReichsvorsteher. Derselbe setzte den Krieg gegen die Dänenfort, eroberte Kalmar, welches dieselben besetzt hielten, undschlug Johann zu wiederholten Malen, starb aber schon 2. Jan. 1512in Westeras, worauf sein Sohn Sten S. der jüngere 23. Juli1512 zum Reichsverweser erwählt wurde. Er unterlag in derSchlacht bei Bogesund, in welcher er verwundet wurde, denDänen und starb auf dem Weg nach Stockholm 3. Febr. 1520.Seine Leiche wurde nach dem Stockholmer Blutbad auf einemScheiterhaufen verbrannt.

Sturluson, s. Snorri Sturluson.

Sturm, heftiger Wind (s. d.). Im Feldkrieg heißt S.der entscheidende Angriff auf eine vom Feind besetzte Stellung,Ortschaft, Schanze etc., wobei es zum Handgemenge (s. d.) kommt,wenn der Feind standhält. Der S. auf Festungswerke ist in derRegel nur nach vorhergegangenem förmlichen Angriffmöglich (s. Festungskrieg, S. 190).

Sturm, 1) Jakob S. von Sturmeck, elsäss. Staatsmann,geb. 10. Aug. 1489 zu Straßburg, stammte aus einer edlenFamilie des Niederrheins, widmete sich zuerst dem Studium derTheologie auf der Universität zu Freiburg, dann derRechtswissenschaft in Lüttich und Paris. 1525 wurde er zumerstenmal Stadtmeister in seiner Vaterstadt. Schon frühschloß er sich der Reformation an und nahm 1529 an demReligionsgespräch zu Marburg teil, sonderte sich dann aber vonden Lutheranern , weil er ihnen die Schuld an der Spaltung derEvangelischen zuschrieb, und überreichte 1530 im NamenStraßburgs und andrer Städte auf dem Reichstag zuAugsburg die Confessio tetrapolitana. Um die Aufnahme seinerVaterstadt in den Schmalkaldischen Bund zu erreichen, machte er1532 Luther einige Zugeständnisse. Fortan leitete erStraßburgs Angelegenheiten mit großer Umsicht undvertrat ihre Interessen auf mehreren Gesandtschaften mit Geschick.Auch gelang es ihm, 1547 nach der Schlacht bei Mühlberg dievon Karl V. auferlegte Kontribution zu ermäßigen. S. hatdie Bibliothek und ein Gymnasium in Straßburg begründet,das bald erfreulich gedieh (s. S. 2). Er starb 30. Okt. 1553 inStraßburg. Vgl. Baum, Jakob S. (3. Aufl., Straßb.1872); Baumgarten, Jakob S. (das. 1876).

2) Johannes von, verdienter Schulmann, geb. 1. Okt. 1507 zuSchleiden in der Eifel, besuchte das Gymnasium der Hieronymianer zuLüttich, vollendete seine Studien auf der UniversitätLöwen, ward 1530 akademischer Lehrer der klassischen Sprachenin Paris und 1537 Rektor des neugegründeten Gymnasiums zuStraßburg, welches unter seiner Leitung europäischen Ruferlangte. Als eifriger Calvinist mit den Lutheranern in Streitüber die Annahme der Konkordienformel verwickelt, verlor S.1582 seine Stelle und starb 3. März 1589 in Straßburg.Kaiser Karl V. verlieh ihm den Reichsadel. Sturms Studienordnung,im wesentlichen auf Melanchthons Grundsätzen erbaut, war dasVorbild für zahlreiche Schulpläne des 16. und 17. Jahrh.und hatte namentlich auch wesentlichen Einfluß auf die Ratiostudiorum der Jesuiten. Vgl. Schmidt, La vie et les travaux de JeanS. (Straßb. 1855); Laas, Die Pädagogik des J. S. (Berl.1872); Kückelhahn, J. S., Straßburgs erster Schulrektor(Leipz. 1872); Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts (das.1885).

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Sturmbock - Sturmvogel.

3) Jakob, Kupferstecher und Naturforscher, geb. 21. März1771 zu Nürnberg, gest. 28. Nov. 1848 daselbst, verdient durchseine ikonographischen Werke über die deutsche Flora undFauna, nach Sturms Tod fortgesetzt von seinem Sohn Johann WilhelmS. (geb. 19. Juli 1808, gest. 7. Jan. 1865 in Nürnberg),nämlich: "Deutschlands Flora in Abbildungen nach der Natur"(Nürnb. 1798-1855, 163 Hefte mit 2472 Tafeln; 1. Abt.:Phanerogamen, 96 Hefte, bearbeitet von Hoppe, Schreber, Sternberg,Reichenbach und Koch; 2. Abt.: Kryptogamen mit Ausschluß derPilze, 31 Hefte, von Launer und Conde; 3. Abt.: Die Pilze, 36Hefte, von Ditmar, Rostkovius, Conde, Preuß, Schnizlein undF. v. Strauß); "Deutschlands Fauna in Abbildungen nach derNatur" (das. 1805-57; Vögel, Amphibien, Mollusken,Käfer).

4) Julius, Lyriker, geb. 21. Juli 1816 zu Köstritz imReußischen, studierte zu Jena Theologie und wirkte seit 1857als Pfarrer in Köstritz, bis er 1885 mit dem Titel einesGeheimen Kirchenrats in den Ruhestand trat. Von seinen Dichtungensind hervorzuheben: "Gedichte" (Leipz. 1850, 5. Aufl. 1882);"Fromme Lieder" (das. 1852, 11. Aufl. 1889); "Zwei Rosen oder dasHohelied der Liebe" (das. 1854); "Neue Gedichte" (das. 1856, 2.Aufl. 1880); "Neue fromme Lieder und Gedichte" (das. 1858, 3. Aufl.1880); "Für das Haus", Liedergabe (das. 1862); "IsraelitischeLieder" (3. Aufl., Halle 1881) und "Von der Pilgerfahrt" (das.1868); ferner die neue Sammlung "Lieder und Bilder" (Leipz. 1870, 2Tle.); "1870. Kampf- und Siegesgedichte" (Halle 1870); "Spiegel derZeit in Fabeln" (Leipz. 1872); "Gott grüße dich" (das.1876, 3. Aufl. 1887); "Das Buch für meine Kinder" (das. 1877,2. Aufl. 1880); "Immergrün", neue Lieder (das. 1879, 2. Aufl.1888); "Märchen" (das. 1881, 2. Aufl. 1887); "Aufwärts!",neue religiöse Gedichte (das. 1881); "Neues Fabelbuch" (5.Aufl., das. 1881); "Dem Herrn mein Lied", religiöse Gedichte(Brem. 1884); "Natur, Liebe, Vaterland", neue Gedichte (Leipz.1884); "Bunte Blätter" (Wittenb. 1885); "Palme und Krone",Lieder zur Erbauung (Brem. 1887). Tief religiöser Sinn,Innigkeit der Empfindung und echt deutsche Gesinnung zeichnen dieDichtungen Sturms durchweg aus. Er gab auch die Anthologie"Hausandacht in frommen Liedern unsrer Tage" (Leipz. 1870, 5. Aufl.1883) und unter dem Pseudonym Julius Stern die Märchensammlung"Das rote Buch" (das. 1855) heraus.

5) Eduard, österreich. Abgeordneter, geb. 8. Febr. 1830 zuBrünn, studierte in Olmütz und Brünn die Rechte,ward 1852 Advokat zu Brünn und 1856 in Pest. 1861 nachBrünn zurückversetzt, beteiligte er sich daselbst an derGründung und Förderung vieler öffentlicher Vereineund Anstalten. 1865 ward er zu Iglau in den mährischen Landtagund von diesem 1867 in das österreichische Abgeordnetenhausgewählt, dem er seitdem ununterbrochen angehörte. Er istMitglied der verfassungstreuen Partei und ein vortrefflicherRedner. 1870 siedelte er als Advokat nach Wien über, schadeteaber hier in der Zeit des Gründungsschwindels seinem Ansehensehr durch seine Beteiligung an unsoliden finanziellenUnternehmungen.

Sturmbock (Mauerbrecher), s. Aries.

Sturmbretter, s. Fußangeln.

Sturmfeuer, mit Pulver oder heftig brennenden Stoffengefüllte Fässer, Töpfe, Säcke etc., welcheehemals brennend auf den die Bresche stürmenden Feindgeschleudert wurden.

Sturmflut, der durch andauernden auf die Küste zuwehenden Sturm hervorgerufene ungewöhnlich hohe Wasserstand.Sturmfluten haben mit dem Wechsel der Gezeiten keinen notwendigenZusammenhang und treten zu allen Mondphasen auf, das Wasser steigtund fällt in denselben nur weniger gleichförmig alssonst. Ebb- und Flutstand werden um gleiche Beträge überdas gewöhnliche Maß emporgetrieben. Wenn sich beistarkem Wind hohe Wellen bilden, auf deren Hinterseite der Winddrückt, so daß die Wellenkronen sichüberstürzen, dann findet offenbar nicht mehr ein Hin- undHerschwingen, sondern ein teilweises Vorwärtsbewegen desWassers statt. Hält der Sturm einige Zeit an, so ist dieWassermasse, welche er vor sich hertreibt, sehr bedeutend, und wenndie Küste, welche dem Sturm ausgesetzt ist, diesem eine offeneBucht zuwendet, so kann dort ein mächtiger Wasserstaustattfinden. Für die deutsche Bucht der Nordsee sind daherandauernde schwere Stürme aus nordwestlicher Richtung diegefürchtetsten. Bei den höchsten Sturmfluten der letztenhundert Jahre stieg das Wasser bei Kuxhaven jedesmal nachtagelangem Sturm aus W. bis NW. über den mittlernHochwasserstand: 22. März 1791 um 3 m, 3. Febr. 1825 um 3,18m, 2. Jan. 1855 um 3,03 m. Bei der großen S. vom November1872 wehte zwei Tage lang der Sturm aus der Richtung NO. bis ONO.und trieb in der Ostsee die Wassermassen von der livländischenKüste geradeswegs bis in die Buchten von Travemünde undKiel hinein, am erstern Ort einen Wasserstand von 3,38 m, amletztern einen solchen von 3,17m über Mittelwasserverursachend. Die Orkane der Tropen geben Anlaß zu ungeheuernSturmfluten, von denen die in der Bucht von Bengalen dieberüchtigtsten sind. Am 1. Dez. 1876 kamen durch eine solcheS. im Delta des Brahmaputra nahe an 200,000 Menschen um. Dieaußerordentliche Verminderung des Luftdrucks in diesenOrkanen ist für das Steigen des Wassers hier noch besondersgünstig. Vgl. Mayer, Über Sturmfluten (Berl. 1873);Lentz, Flut und Ebbe und die Wirkungen des Windes auf denMeeresspiegel (Hamb. 1879).

Sturmhaube (Sturmhut), s. Helm, S. 364.

Sturmhaube (Große und Kleine), Berggipfel, s.Riesengebirge.

Sturmhut, Pflanzengattung, s. v. w. Aconitum.

Sturmpfähle, s. Palissaden.

Sturmrose, s. Kompaß.

Sturmschritt (früher auch Chargierschritt), beimMilitär die beim Vorgehen zum Angriff beschleunigte Gangart,die zuletzt in vollen Lauf übergeht.

Sturmschwalbe, s. Sturmvogel.

Sturmsignale, die bei Sturmwarnungen gegebenen Signale,s. Wetter.

Sturmsold, die den Soldaten für eine gewonneneSchlacht oder die Erstürmung einer befestigten Stadt ehedemgezahlte Belohnung, von der sich die heute noch gebräuchlichenDouceurgelder herleiten.

Sturm- und Drangperiode, s. Deutsche Litteratur, S.748.

Sturmvogel (Procellaria L.), Gattung aus der Ordnung derSchwimmvögel und der Familie der Sturmvögel(Procellariidae), kleine Vögel mit schlankem Leib,großem Kopf, kurzem Hals, sehr langen, schwalbenartigenFlügeln, mittellangem Schwanz, kleinem, schwächlichem,geradem, an der Spitze herabgebogenem Schnabel, kleinen,schwächlichen, langläufigen Füßen mit dreilangen, schwachen, durch Schwimmhäute verbundenen Vorderzehenund rudimentärer Hinterzehe. Die Sturmschwalbe (Gewittervogel,Petersläufer, Procellaria [Thalassidroma] pelagica L., s.Tafel "Schwimmvögel II"), 14 cm lang, 33 cm breit, mitabgestutztem

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Sturmwarnungen - Stuttgart.

Schwanz, rußbraun, auf dem Oberkopf schwarz, auf demBürzel, Steiß und an den Wurzeln der Steuerfedernweiß und an den Spitzen der Flügeldeckfederntrübweiß, und der Sturmsegler (P. Leachi Rchb.), 20 cmlang, 50 cm breit, mit verhältnismäßig langem, tiefgegabeltem Schwanz, der vorigen ähnlich gefärbt, bewohnenden Atlantischen und Stillen Ozean mit Ausnahme des höchstenNordens, leben meist auf hoher See, erscheinen nur zur Brutzeit amLand, fliegen bald höher in der Luft, bald unmittelbarüber den Wogen, welche sie bald mit den trippelndenFüßchen, bald mit den Spitzen der Schwingenberühren, und lassen sich selten auf das Wasser nieder, umauszuruhen. Sie sind hauptsächlich in der Nacht thätig,nähren sich von allerlei Seetieren, brüten inselbstgegrabenen Höhlen nahe der See und legen ein einzigesweißes Ei, welches wahrscheinlich von beiden Geschlechternausgebrütet wird. Sie sind vollkommen harmlos, verlieren,ihrem Element entrückt, gleichsam die Besinnung und sind aufdem Land ganz hilflos. Angegriffen, suchen sie sich nur durchAusspeien von Thran zu verteidigen. Den Schiffern gilt dieSturmschwalbe als Unglücksbote. Der Eissturmvogel (Fulmar, P.[Fulmarus] glacialis Steph., s. Tafel "Schwimmvögel II"), 50cm lang, 110 cm breit, ist weiß, auf dem Mantelmöwenblau, mit schwärzlichen Schwingen, braunen Augen,gelbem Schnabel und Füßen, bewohnt das NördlicheEismeer, fliegt und schwimmt vortrefflich und kommt fast nur zurBrut ans Land, auf welchem er sich sehr hilflos zeigt. Ernährt sich von Fischen und Weichtieren, ist sehrgefräßig und zudringlich, lebt und brütet geselligauf allen hochnordischen Inseln und legt nur ein weißes Ei;gleichwohl werden auf Westmanöer bei Island jährlichüber 20,000 Junge ausgenommen, und trotzdem nimmt die Zahl derVögel von Jahr zu Jahr zu.

Sturmwarnungen, s. Wetter.

Sturnus, Star; Sturnidae (Stare), Familie aus der Ordnungder Sperlingsvögel (s. d.).

Sturt (spr. stört), Charles, Australienreisender, inEngland geboren, wollte 1827 einen in Zentralaustralien vermutetenSee entdecken und fand, dem Macquariefluß folgend, zu Anfang1828 den Darlingfluß und, 1829 mit einer neuenForschungsreise betraut, den Murrayfluß. Begleitet von Stuart(s.d. 1), führte er 1844-45 eine dritte große Reise aus,auf der er den Cooper Creek entdeckte und nordwestlich bis fast indas Zentrum des Kontinents vordrang. Er starb 16. Juni 1869 zuCheltenham in England. Seine ersten beiden Reisen beschrieb er in"Two explorations into the interior of Southern Australia etc."(Lond. 1833, 2 Bde.), die dritte in "Narrative of an expeditioninto Central Australia etc." (das. 1848, 2 Bde.).

Sturz, der eine Thür oder ein Fenster obenabschließende, horizontal aufliegende Teil, in der primitivenBaukunst meist ein schwerer Steinblock oder Balken aus Holz.

Sturz, Helferich Peter, Schriftsteller, geb. 16. Febr.1736 zu Darmstadt, studierte in Göttingen die Rechte undÄsthetik, erhielt 1763 eine Anstellung zu Kopenhagen imDepartement der auswärtigen Angelegenheiten, 1770 bei demGeneralpostdirektorium, ward 1773 Regierungsrat und zwei Jahrespäter Etatsrat zu Oldenburg und starb 12. Nov. 1779 inBremen. S. war einer der geschmackvollsten deutschen Prosaiker, wieseine "Erinnerungen aus dem Leben des Grafen von Bernstorff" (1777)und seine "Briefe eines Reisenden" (1768) mit ihren trefflichenCharakterschilderungen bekunden. Seine Schriften erschienengesammelt in 2 Bänden (Leipz. 1779-1782). Vgl. Koch, Helf.Peter S. (Münch. 1879).

Sturzblech, dünnste Sorte Eisenblech.

Stürze, die starke Erweiterung derBlechblasinstrumente an der dem Mundstück entgegengesetztenSeite.

Sturzenbecker, Oskar Patrik, unter dem Namen Orvar Oddbekannter schwed. Dichter und Schriftsteller, geb. 1811 zuStockholm, studierte und promovierte in Upsala, trat kurz darauf indie Redaktion des "Aftonblad" in Stockholm ein und erwarb sich baldeinen Namen als gewandter und geistreicher Feuilletonist.Später lebte er teils in Helsingborg, wo er mehrere Jahre langden "Öresundsposten" herausgab, teils in Kopenhagen; er starbim Februar 1869 auf seinem Landsitz in der Nähe vonHelsingborg. Unter seinen Prosaschriften verdienen die meisterhaftausgeführten feuilletonartigen Skizzen: "Grupper ochpersonagen fran igar" ("Gruppen und Persönlichkeiten vongestern") und "La Veranda" besondere Auszeichnung; auch vieleseiner Gedichte sind durch ihre frische, lebhafte Stimmunganziehend. Seine gesammelten Werke erschienen in 5 Bänden (2.Aufl., Stockh. 1880-82).

Stürzfurche, s. Brache.

Sturzgüter, beim Beladen von Schiffen durch dieLuken in den Schiffsraum gestürzte Güter, z. B. Kohlen,Getreide, Erze u. dgl.

Stutereien (Gestüte), s. Pferde, S. 949.

Stuttgart (hierzu der Stadtplan), Haupt- undResidenzstadt des Königreichs Württemberg, deswürttembergischen Neckarkreises und des StadtdirektionsbezirksS., liegt in einer kesselförmigen, reizenden Erweiterung desNesenbachthals, das 1 km von der Stadt in das Neckarthalausläuft, von Weinbergen, Gärten und Villen ringsumgeben, unter 48° 46' nördl. Br. und 9° 10'östl. L. v. Gr., 249 m ü. M., und wird durch die 1100 mlange Königs- und die sich an diese anschließendeMarienstraße in die "obere" (im NW.) und die "untere Stadt"(im SO.) geteilt, von denen letztere auch die Altstadt in sichschließt. Außer den genannten Straßen sind dieNeckar-, Olga-, Reinsburg-, Silberburg- und RoteBühlstraße sowie unter den Plätzen derSchloßplatz, der Alte Schloßplatz, die Planie, derDorotheen-, der St. Leonhards- und der Charlottenplatz, derFeuerseeplatz und der Marktplatz hervorzuheben. DenSchloßplatz zieren schöne Anlagen, inmitten deren sichdie 18 m hohe, mit einer Konkordia gezierteJubiläumssäule (1841 zur Feier des 25jährigenRegierungsjubiläums König Wilhelms errichtet) erhebt, aufdem Alten Schloßplatz steht das von Thorwaldsen modellierteStandbild Schillers. Von den öffentlichen Anlagen undPromenaden sind noch zu nennen: der Schloßgarten (mit derDanneckerschen Nymphengruppe, der Eberhardsgruppe von PaulMüller, der Hylasgruppe und den zwei Pferdebändigern vonHofer), welcher sich bis in die Nähe von Kannstatt zieht, derSilberburggarten (Eigentum der Museumsgesellschaft), die Planie mitden neuerrichteten Denkmälern Bismarcks u. Moltkes(Büsten, von Donndorf modelliert), der Stadtgarten, dieAnlagen bei der Seidenstraße, die neue Weinsteige etc. Vonden zu gottesdienstlichen Zwecken bestimmten Gebäuden (9evangelische, eine reformierte und eine kath. Kirche und eineSynagoge) Wappen von Stuttgart.

STUTTGART.

Akademie E3

Alexander-Straße C-F3-5

Alleen-Straße C-E1

Archiv E3

Archiv-Straße E3,4

Augusten-Straße AB3

Bach-Straße, Obere CD4

Bach-Straße, Untere D3

Bahnhof D2

Bahnhof-Straße E1

Band-Straße D3

Baugewerk-Schule CD2

Berg-Straße C2

Bibliothek C3

Blumen-Straße E4

Böblinger Straße B4,5

Böheim-Straße A5

Bopser Brunnen D5

Bopser Straße C4,5

Bopser Weg D5

Bothanger Straße A2

Breite-Straße C3

Brunnen-Straße D4

Büchsen-Straße C2,3

Bürger-Hospital C2

Bürger-Museum C3

Bürger-Schule B2

Calwer Straße CD3

Charlotten-Platz DE3,4

Charlotten-Straße E4

Christophs-Straße C4

Classon Villa F3

Cotta-Straße B5

Dannecker-Denkm. D3

Diakonissen-Anstalt B1

Diemershalden F4,5

Dobel-Straße E5

Dorotheen-Straße u. Platz D3

Eberhards-Standbild D3

Eberhards-Straße CD4

Eich-Straße D3

Enge-Straße D3

Englische Kirche D4

Eßlinger Berg, Oberer F4

Eßlinger Straße D4

Etzel-Straße CD5

Eugens-Denkmal F3

Eugen-Straße EF3

Falbenhennen-Straße C5

Falkert-Straße B1

Fangelsbach-Friedhof B5

Fangelsbach-Straße B4,5

Färber-Straße D4

Feuer-See B3

Filder-Straße AB5

Finanzministerium E2

Forst-Straße AC1

Friedrichs-Straße D1,2

Furthbach-Straße B1

Gaisburg-Straße E4

Garnison-Kirche C1

Garten-Straße C23

Gebel-Straße A4

Gerber-Straße C4

Gewerbe-Halle CD1

Gewerbe-Museum C3

Goethe-Straße D1

Graben-Straße D3

Güter-Bahnhhof E1

Gutenberg-Straße AB3

Hasenberg-Straße A1-4

Hauptstätter Straße BD4

Hauptzollamt EF1

Hebammen-Schule D1

Hegel-Straße C1

Heiler E4

Herdweg C1

Hermanns-Straße B3

Herzog-Straße B3

Heslacher-Straße A5

Heu-Straße C2

Heusteig-Straße BD5

Hirsch-Straße CD3

Hohe-Straße C2

Hohenheimer Straße DE5

Holzgärten, Königl. C1

Holz-Straße D3,4

Hoppenlau-Friedhof C1

Hoppenlau-Straße C1,2

Hospital-Kirche C2

Hospital-Platz C2

Hospital-Straße C2

Hühnerdieb F3

Ilgen-Platz D4

Ilgen-Straße D3

Immenhofen-Straße BC5

Infanterie-Kaserne B3

Jäger-Straße DE1

Jakob-Straße D4

Johannes-Straße B1-3

Johannes-Kirche B3

Jubiläums-Säule D3

Justiz-Palast E3,4

Kanal-Straße E4

Kanonen-Weg F3

Kanzlei-Straße D1,2

Karls-Linde A4

Karls-Straße D3

Kasernen-Straße BC2

Katharinen-Hospital D1

Katharinen-Platz D4

Katharinen-Stift D2

Katharinen-Straße D4

Katholische Kirche, Alte DE2

Katholische Kirche, Neue B4

Keppler-Straße D1,2

Kerner-Straße F2,3

Kolb-Straße AB5

Königsbau D2

Königs-Straße CE2,3

Königs-Thor E2

Korps-Kommando DE1

Kreuser-Straße D1

Kreuz-Straße D4

Kriegsberg, Mittlerer E1

Kriegsberg, Unterer D1

Kriegsberg-Straße CE1

Kriegs-Ministerium DE4

Kronprinz-Straße CD3

Kronprinzen-Palais C2,3

Kühlesteig E5

Kunstausstellung, Permanente C3

Kunst-Verein D2

Landhaus-Straße F2

Lange-Straße C2,3

Lazarett-Straße D4

Legions-Kaserne C3

Lehen-Straße B5

Lerchen-Straße AC1

Liederhalle C2

Lindenspür-Straße AB1

Linden-Straße CD2,3

Loge Wilhelm B3

Loge zu den 3 Zedern D4

Lorenz-Straße D45

Ludwigsburger Straße EF1

Ludwigs-Spital B1

Ludwigs-Straße AB2

Maler-Straße F3

Marien-Platz A5

Marien-Straße B4

Markt-Halle D3

Markt-Platz D3

Markt-Straße D34

Marstall E2

Militär-Spital B2

Militär-Straße AB2

Minsterium des Äußern CD3

Möricke-Denkmal B4

Moser-Straße EF3

Mozart-Straße C5

Münze EF2

Münz-Straße D3

Museum für bildende Künste F3

Museum, Oberes D2

Museum, württemb. Altertümer E3

Neckar-Straße EF2,3

Nadler-Straße CD3

Naturalien-Kabinett E3

Neue Brücke C3

Olga-Spital A2

Olga-Straße CE4,5

Orangerie E1

Paulinen-Straße BC3,4

Paulinen-Straße, Verlängerte B2,3

Pfarr-Straße D4

Polizei C3

Polytechnische Schule D1

Postamt D2

Posthof C3

Post-Platz, Alter C3

Post-Straße C3

Prinzen-Palais D3

Prinzessinnen-Palais E3,4

Rathaus D3

Realgymnasium C1

Reinsburg A4

Reinsburg-Straße AB4

Reiter-Kaserne E1

Reuchlin-Straße A3

Röer-Straße B5

Rosen-Straße DE4

Rosenberg-Straße AC1

Rote-Straße C2,3

Rote Bühl-Straße AC3

Sankt Johannes-Kirche B3

Sankt Leonhards'Krche D4

Sankt Leonhards-Platz D4

Sankt Leonhards-Str D4

Sänger-Straße F2,3

Schellen-König F5

Schelling-Straße CD2

Schiler-Denkmal D3

Schiller-Straße E1

Schlachthaus C1

Schloß, Altes D3

Schlosser-Straße C4,5

Schloß-Garten EF1,2

Schloß-Kirche E3

Schloß, Königliches DE3

Schloß-Platz D2,3

Schloß-Platz, Alter D3

Schloß-Straße AD2

Schmale-Straße C3

Schul-Straße D3

Schützenhaus F3

Schützen-Straße F2,3

Schwab-Denkmal C2

Schwab-Straße D1,2

See-Straße D1,2

Seiden-Straße C1,2

Sennefelder-Straße A1-3

Silberburg B4

Silberburg-Straße B1-4

Silcher-Straße B2

Sonnenberg-Straße E5

Sophien-Straße C3,4

Stadt-Direktion D3

Stadt-Garten D1,2

Stafflenberg E5

Ständehaus D2,3

Stein-Straße C-D3

Stifts-Kirche D3

Stiftskirchen-Platz D3

Strohberg-Straße B5

Stützenburg DE5

Synagoge C2

Tannen-Straße A5

Telegraphen-Amt D2

Theater E2

Thor-Straße C4

Tübinger Straße C4

Tübinger Thor BC4

Turm-Straße D5

Turnhalle, Erste C2

Uhland-Denkmal E2

Uhlands-Höhe F3

Uhlands-Straße E4

Ulrich-Straße E3

Urban-Straße EF2-4

Vera-Straße F3

Vogelsang-Straße A2,3

Wagner-Straße D4

Waisenhaus D3

Wannen-Straße AB3,4

Wasser-Reservoir F5

Weber-Straße DE4

Wein-Straße C3

Weißenburg-Straße C5

Wilhelms-Platz CD4

Wilhelms-Straße D4,5

Wilhelms-Thor D5

Zorn, Villa B4

Zuchthaus A2

Zucker-Fabrik E1

Zwinger, Im D3,4

409

Stuttgart (Beschreibung der Stadt).

sind hervorzuheben: die Stiftskirche (1436-1531 erbaut), mitzwei Türmen; die Leonhardskirche (1470 bis 1491 im gotischenStil erbaut), mit einem steinernen Kalvarienberg von großemKunstwert; die Hospitalkirche (1471-93 erbaut), mit vielenGrabmälern (darunter das Reuchlins) und dem Modell derChristusstatue von Dannecker; die prachtvolle, 1865-76 im gotischenStil von Leins aufgeführte Johanniskirche; die englischeKirche; die neue Garnisonkirche von Dollinger (1879) im romanischenStil; die alte und die von Egle 1873-79 erbaute neue katholischeKirche und die 1860 im maurischen Stil aufgeführte Synagoge.Von weltlichen Gebäuden sind zu nennen: das NeueResidenzschloß im französischenRenaissancestil(1746-1807 erbaut); das Alte Schloß, in dessenHof sich das bronzene Reiterstandbild des Grafen Eberhard im Bart(von Hofer) befindet; das 1845-46 umgebaute Hoftheater mit vierehernen Statuen von Braun; die sogen. Akademie, ein Nebenbau desSchlosses (früher Sitz der Karlsschule, jetzt diekönigliche Handbibliothek, den königlichen Leibstall, dieSchloßwache etc. enthaltend); der im italienischen Stilerbaute Wilhelmspalast; das Kronprinzenpalais, im römischenPalaststil aufgeführt (gegenüber das Denkmal Danneckers);das Palais des Prinzen Hermann von Sachsen-Weimar; dasStändehaus; das Museum der bildenden Künste (1838 bis1843 im italienischen Palaststil erbaut), mit der Reiterstatue desKönigs Wilhelm, von Hofer; der Königsbau (1856 bis 1860von Leins aufgeführt), mit Läden und der Börse inden untern und mehreren großen Sälen in den obernRäumen; das Rathaus (1456 erbaut); die Gebäude desStaatsarchivs und der Naturaliensammlungen; dasKanzleigebäude; das neue Justizgebäude; der Hauptbahnhof;das neue Postgebäude; das Museum; das 1860-65 von Egle erbautePolytechnikum; die Blumen- und Gemüsehalle; das Schlachthausetc.

Die Zahl der Einwohner belief sich 1885 mit der Garnison (einRegiment und 2 Bataillone Infanterie Nr. 119 und 125 und einUlanenregiment Nr. 19) auf 125,901 Seelen (gegen 107,289 im J.1875), darunter 106,282 Evangelische, 16,067 Katholiken und 2568Juden. Die industrielle Thätigkeit ist nicht unbedeutend. Ganzbesonders treten hervor die Bierbrauereien, die Farben-,Pianoforte-, Harmonium-, Kassen-, Möbel-, Parkettboden-,Zigarren-, Chemikalien- und Wagenfabrikation, die Eisen- undGlockengießerei und die Fabrikation von Reiseartikeln.Außerdem gibt es Fabriken für Trikot- und Wollwaren,Baumwollen- u. Wollenzeuge, Teppiche, Leder, Papier, Posamentier-und Kautschukwaren, Parfümerien, Bijouterie-, Glas-,Porzellan-, Gold- und Silberwaren, mechanische und optischeInstrumente, Maschinen, Schokolade etc. Der Handelsverkehr,unterstützt durch eine Handels- und Gewerbekammer, eineBörse, durch zahlreiche Banken (darunter eineReichsbankhauptstelle), viele Wechsel und Geldgeschäfte etc.,ist recht bedeutend; im Buchhandel ist S. nach Leipzig sogar derwichtigste Platz in Deutschland. Die Stadt zählt über 100Buch- und Kunsthandlungen, zahlreiche Buchdruckereien, Schrift- undStereotypengießereien, litho-, xylo- und photographischeAnstalten etc. Alljährlich findet hier eineBuchhändlermesse für Süddeutschland statt. Bekanntsind auch die Tuchmesse sowie die dortigen Karte der Umgebung vonStuttgart Hopfen- und Pferdemärkte. Den Verkehr nachaußen hin fördern die Linien Bretten-Friedrichshafen undS.-Freudenstadt der Württembergischen Staatsbahn, fürwelche S. den Knotenpunkt bildet; eine Zahnradbahn führt nachdem auf der Filderebene liegenden, durch seinen guten Rotwein undseinen Obstbau bekannten Dorf Degerloch und weiter nach Hohenheim;den Verkehr in der Stadt und mit der nächsten Umgebungvermitteln zwei Pferdebahnlinien. An Wohlthätigkeitsanstaltenbesitzt S. das Bürgerhospital, das Armenhaus, dieOlgaheilanstalt, die Paulinenhilfe (orthopädischeHeilanstalt), die Nikolauspflege für blinde Kinder, diePaulinenpflege etc. sowie mehrere Wohlthätigkeits- undzahlreiche andre gemeinnützige Vereine. Unter denBildungsanstalten steht das Polytechnikum (Wintersemester 1888-89:248 Studierende) obenan. Außerdem befinden sich in S. eineBaugewerk-, eine Kunst- und eine Kunstgewerbeschule, einKonservatorium, eine höhere Handels-, eine Tierarznei- undeine Landes-

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Stütze - Stüve.

hebammenschule und eine Turnlehrerbildungsanstalt; ferner 2Gymnasien, ein Realgymnasium, eine Reallehranstalt, ein Privatlehr-und Erziehungsinstitut, ein Lehrerinnenseminar und zahlreicheniedere Schulanstalten. Unter den Sammlungen für Kunst undWissenschaft ist die königliche Sammlung, bestehend aus einerBibliothek von über 400,000 Bänden, Gemälde-,Skulpturen-, Antiken-, Münzen- und Naturaliensammlung, diewichtigste. Außerdem gehören hierher: die Sammlungvaterländischer Altertümer, die Gemäldesammlung desMuseums der bildenden Künste und die des Kunstvereins, diepermanente Kunstausstellung, die mit der Zentralstelle fürHandel und Gewerbe verbundenen Sammlungen, diePräparatensammlung der Tierarzneischule, der zoologischeGarten etc. Groß ist die Zahl der in S. erscheinendenZeitschriften und politischen Zeitungen. S. ist Geburtsort desPhilosophen Hegel, des Architekten Heideloff, der Dichter Hauff,Schwab u. a. S. ist Sitz des Staatsministeriums und sämtlicherZentralstellen des Landes, eines Oberlandes- und einesLandgerichts, eines Oberbergamtes und eines Bergamtes, desevangelischen Konsistoriums, des katholischen Kirchenrats und derisraelitischen Oberkirchenbehörde, einerMilitärintendantur, eines Gouverneurs, derOberrechnungskammer, einer Stadtdirektion, einer Münze(Münzzeichen F) etc.; ferner des Generalkommandos des 13.Armeekorps, des Kommandos der 26. Division, der 51. Infanterie- und26. Kavalleriebrigade. Die städtischen Behörden setzensich zusammen aus 25 Gemeinderats- und 25Bürgerausschußmitgliedern. - In der Umgebung der Stadtsind bemerkenswert: das am Ende des Schloßgartens liegendeund zum Stadtdirektionsbezirk gehörige Berg (s. d.) mitkönigl. Villa, die königl. Lustschlösser Rosensteinund Wilhelma; gegenüber die Stadt Kannstatt (s. d.); imSüden die Silberburg, ein Vergnügungsort der Bewohner vonS.; über derselben die 340 m hohe Reinsburg mit schönenVillen am Abhang; weiterhin die Uhlandshöhe über demSchießhaus, 350 m ü. M., mit Anlagen, einem Pavillon undder Uhlandslinde; ferner der Bosper, 481 m ü. M., und dieSchillerhöhe, in deren Nähe das Dorf Degerloch (s. oben);im SW. der Stadt das Jägerhaus mit Aussichtsturm,sämtlich mit schöner Aussicht; das LustschloßSolitüde mit Wildpark; endlich die Feuerbacher Heide.Urkundlich kommt S., das seinen Namen von einem Gestütgartenoder Fohlenhof führt, zuerst 1229 vor. 1312 wurde es demGrafen Eberhard entrissen und ergab sich an Eßlingen, wurdejedoch 1316 wieder ausgeliefert. Seitdem haben die Grafen vonWürttemberg hier ihren Sitz gehabt und es 1482 zur Hauptstadtder württembergischen Lande gemacht. Doch verlegte HerzogEberhard Ludwig 1727 und nochmals Karl Eugen 1764 die Residenzfür mehrere Jahre nach Ludwigsburg. Bis 1822 stand S. untereiner eignen Regierung, seitdem sind Stadt und Bezirk mit demNeckarkreis vereinigt und bilden ein eignes Oberamt unter dem Nameneiner Stadtdirektion. Vom 6.-18. Juni 1849 hielt der Rest derdeutschen Nationalversammlung, das sogen. Rumpfparlament, in S.seine Sitzungen. Im September 1857 fand hier eine Zusammenkunftzwischen Alexander I. von Rußland und Napoleon III. statt.Vgl. Pfaff, Geschichte der Stadt S. (Stuttg. 1845-47, 2 Bde.);Wochner, S. seit 25 Jahren (das. 1871); Nick, Chronik und Sagenbuchvon S. (das. 1875); "S. Führer durch die Stadt und ihreBauten" (Festschrift, das. 1884); "Beschreibung desStadtdirektionsbezirks S." (hrsg. vom statistisch-topographischenBüreau, das. 1886); Hartmann, Chronik der Stadt S. (das.1886).

Stütze, örtlich auch Stützel genannt, imBauwesen meist lotrechter hölzerner oder eiserner Pfosten zurUnterstützung einer Decke oder eines Daches, seltenergeneigte, einem Seitendruck widerstehende Strebe. Die S. ist eininsbesondere im Gegensatz zur Säule interimistischerschmuckloser Träger und besteht entweder aus einem runden odervierkantigen beschlagenen Holzstamm auf Holz- oder Steinunterlage,oder aus gußeisernen, im Querschnitt meistkreuzförmigen, zusammengeschraubten Barren auf gemauertemFundament, oder aus winkel- oder I-förmigen Façoneisen,welche zu kreuz- oder H-förmigen Querschnitten zusammengesetztund an eine gußeiserne, mit einem gemauerten Fundamentverankerte Unterlagsplatte geschraubt werden.

Stutzen, kurzes Gewehr, das zum Abschießen gegendie Brust gestützt wurde; dann verkürztes, leichteres,gezogenes Gewehr der Jäger und Scharfschützen.

Stützerbach, Dorf im preuß. RegierungsbezirkErfurt, Kreis Schleusingen, im Thüringer Wald, 587 m ü.M., mit evang. Kirche, Hohlglas- und Glasinstrumentenfabrikationund (1885) 1081 Einw. Dabei der gleichnamige weimarische Ort mit675 Einw.

Stützpunkte, Punkte, an die sich irgend etwas, z. B.ein Hebel, stützt oder lehnt. Im Kriegswesen sind taktische S.solche Örtlichkeiten, z. B. Anhöhen, Ortschaften etc.,die meist befestigt, für die Verteidigung besondersgünstig sind, ihr als Stütze dienen; strategische S. sindmeist große Festungen, auf welche sich operierende Armeenzurückziehen können.

Stützzapfen, Zapfen, bei welchem der Druck zumgrößten Teil in der Längenrichtung desselben wirkt.Man unterscheidet hierbei Spurzapfen und Kammzapfen, je nachdem derDruck nur von der Stirnfläche des Zapfens oder von seitlichen,mit dem Zapfen fest verbundenen Ringen aufgenommen wird.

Stüve, Johann Karl Bertram, hannöv. Staatsmann,geb. 4. März 1798 zu Osnabrück, ließ sich 1820daselbst als Advokat nieder und war, 1830 zum Schatzratgewählt, seit 1831 in freisinniger Richtung auf dem Landtagthätig. 1832 veröffentlichte er die Schrift "Überdie gegenwärtige Lage des Königreichs Hannover" (Jena).1833 wurde er Bürgermeister seiner Vaterstadt. Nach derThronbesteigung des Königs Ernst August 1837 und nach derdurch denselben verfügten Vertagung des Landtagsveröffentlichte S. eine "Verteidigung desStaatsgrundgesetzes". Am 20. März 1848 übernahm er unterGraf Bennigsen das Ministerium des Innern, dessen Programm aufBeseitigung der privilegierten Landesvertretung, Reform derAdministration und Justiz, Selbständigmachung der Gemeinden,Freigebung der Presse, Einrichtung von Schwurgerichten etc.lautete. Dagegen war er in der deutschen Sache der Bildung eineskleindeutschen Bundesstaats unter preußischer Leitung abholdund suchte die Sonderrechte der Kleinstaaten sowie die Verbindungmit Österreich aufrecht zu erhalten. Im Oktober 1850 legte ersein Portefeuille nieder, blieb aber als Bürgermeister seinerVaterstadt (seit 1852) ein hervorragendes Mitglied derStändeversammlung, bis er wegen Differenzen mit demBürgervorsteherkollegium 1864 sich veranlaßt sah, seinAmt als Bürgermeister von Osnabrück niederzulegen. 1869übernahm er auf kurze Zeit das Amt einesBürgervorstehers; er starb 16. Febr. 1872. Im J. 1882 wurdesein Denkmal auf dem Marktplatz in Osnabrück enthüllt.Obwohl liberal und echt deutsch gesinnt, ver-

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Stygisch - Styrax

mochte er sich doch nicht mit der neuen Wendung der Dinge inDeutschland zu befreunden. Die Annexion Hannovers und die EinigungDeutschlands unter Preußen widerstrebten ihm ebensosehr wiedie Freizügigkeit und Gewerbefreiheit. Litterarischbeschäftigte er sich mit der Geschichte Osnabrücks. Ergab den 3. Band von Mösers "Osnabrückischer Geschichte"(Berl. 1824) und den 3. Band von Fridericis "GeschichteOsnabrücks aus Urkunden" (Osnabr. 1826) heraus; von seinenselbständigen Arbeiten erwähnen wir: eine Darstellung desVerhältnisses der Stadt Osnabrück zum Stift (Hannov.1824); "Geschichte des Hochstifts Osnabrück" (Bd. 1 u. 2, das.1853-1872; Bd.3, 1882); "Wesen und Verfassung der Landgemeinden inNiedersachsen und Westfalen" (Jena 1851); "Untersuchungen überdie Gogerichte in Westfalen und Niederfachsen" (das. 1870) u.a.

Stygisch (griech.), der Styx, d. h. der Unterwelt,angehörig; daher s. v. w. fürchterlich, schauerlich.

Styl (griech.), s. Stil.

Stylidiaceen, dikotyle, etwa 100 Arten umfassende,vorzugsweise in Australien einheimische Pflanzenfamilie aus derOrdnung der Kampanulinen; von ihren nächsten Verwandten durchihre beiden mit dem Griffel in eine auf dem Eierstock stehendeSäule verwachsenen Staubgefäße verschieden.

Styliten (griech., Säulenheilige), eine im 5. Jahrh.im Morgenland aufgekommene Klasse christlicher Asketen, welche ihrLeben auf der Spitze hoher Säulen stehend zubrachten (s.Simeon 3). Die S. hielten sich in Syrien und Palästina bis ins12. Jahrh.; im Abendland fand ihr Beispiel keine Nachahmung.

Stylobat (griech.), aus der Vereinigung einzelnerPostamente (Stereobate) entstandenes fortlaufendes, abgestuftesFußgestell der Säulen; Säulenstuhl.

Stylodisch (styloidisch, griech.),griffelförmig.

Stylograph (griech.), Fabrikname für einen mit Tintegefüllten Schreibgriffel; Füllfederhalter.

Stylographie (griech.), ein von dem KupferstecherSchöler in Kopenhagen erfundenes Verfahren zur leichternHerstellung von Kupferdruckplatten durch Gravierung in eine nichtleitende Masse, von welcher dann zuerst eine erhabene, dann vondieser eine vertiefte Platte auf galvanischem Weg abgeformtwerden.

Stylolithen (griech., "Säulensteine"),stengelartige, gestreifte oder geriefte Gebilde in Kalken undMergeln, besonders im Muschelkalk, 1-30 cm lang und von 1 mm bis zumehr als 1 cm im Durchmesser. Die Längsachse der S. stehtgewöhnlich senkrecht zur Schichtungsfläche, doch gibt esauch liegende S. Die Entstehung wird bald auf Erosionzurückgeführt, bald mit der Entwickelung von Gasen inZusammenhang gebracht, am richtigsten aber wohl als Folge von Druckund Pressung von noch plastischem Material aufgefaßt,wofür Experimente, durch welche es Gümbel gelang, S.künstlich darzustellen, sprechen. Eine verwandte Erscheinungist der Nagelkalk (Tutenmergel), konische, mit einer rohen innernStruktur versehene Körper, ineinander gesteckten Tütenvergleichbar, die hier und da im Lias vorkommen.

Stylosporen, die bei Kernpilzen in besondernFruchtbehältern, den Pykniden, durch Abschnürung anHyphenenden entstehenden Sporen (s. Pilze, S. 72 f.).

Stylus (lat.), Griffel, s. Blüte, S. 69.

Stymphalische Vögel (Stymphaliden), im griech.Mythus Raubvögel mit ehernen Flügeln und Federn, die siewie Pfeile abschießen konnten, hausten am Stymphalischen Seein Arkadien und wurden von Herakles verscheucht.

Styphninfäure, s. Resorcin.

Styptische Mittel (Styptica), s. v. w. blutstillendeMittel, s. Blutung, S. 90.

Styr, rechter Nebenfluß des Pripet im westlichenRußland, entspringt in Ostgalizien unweit der russischenGrenze und mündet nach einem Laufe von über 500 km.

Styraceen, dikotyle Pflanzenfamilie aus der Ordnung derDiospyrinen, durch die der Blumenkrone angewachsenenStaubblätter und das ganz oder halb unterständige Ovarvon den nächstverwandten Ebenaceen und Sapotaceen verschieden.Die nur Holzpflanzen enthaltende Familie zählt über 220Arten, welche meist im tropischen Asien und Amerika einheimisch undwegen der eigentümlichen aromatischen Harze (Storax, Benzoe),welche ihre Stämme enthalten, zum Teil wichtige Arzneipflanzensind.

Styracinen, s. Diospyrinen.

Styrax Tourn. (Storaxbaum), Gattung aus der Familie derStyraceen, an allen Teilen, mit Ausnahme der Blattoberseite, mitSchuppen besetzte oder sternhaarig filzige, selten kahleSträucher oder Bäume mit ganzrandigen oder schwachgesägten Blättern, meist weißen Blüten inachsel- oder endständigen, einfachen oder zusammengesetztenTrauben und kugeliger oder eiförmiger, ein- bis dreisamigerFrucht. Etwa 60 Arten meist in den Tropengebieten Asiens undAmerikas, spärlich im gemäßigten Asien undSüdeuropa. S. Benzoin Dryand. (Benzoebaum), mittelgroßerBaum mit gestielten, eiförmig länglichen, langzugespitzten, oberseits kahlen, unterseits weißfilzigenBlättern, innen braunroten, außen und am Randsilberweißen Blüten und holziger,weißlich-brauner, nicht aufspringender Frucht, wächstauf Java und Sumatra, in Siam und Kotschinchina, wird auchkultiviert und liefert die Benzoe. S. officinalis L. (echterStoraxbaum), ein Strauch oder kleiner Baum mit kurz gestielten,breit länglichen, unterseits weißfilzigen Blättern,endständigen, nickenden, zwei- bis vierblütigen Traubenmit wohlriechenden Blüten und filziger grünerSteinfrucht, wächst in den östlichenMittelmeerländern nördlich bis Dalmatien und liefertefrüher Styrax, der gegenwärtig allein von Liquidambarorientalis gewonnen wird.

Styrax (Storax, Judenweihrauch), ein Balsam, welcher ausder Rinde des Amberbaums, Liquidambar orientalis Mill., imsüdlichen Kleinasien und Nordsyrien durch Behandeln mit warmemWasser und Abpressen gewonnen wird. Er ist zäh,dickflüssig, schwerer als Wasser, grau, etwasgrünbräunlich, undurchsichtig, wird beim Erwärmenbraun und durchsichtig, trocknet nicht an der Luft, löst sichin Alkohol und Äther, riecht angenehm, schmeckt scharfaromatisch, kratzend, besteht aus Zimtsäurestoresinäther,Zimtsäurephenylpropyläther, Zimtsäurezimtäther,freier Zimtsäure, Äthylvanillin, Styrol etc. Man benutztihn in der Parfümerie und als Mittel gegen Krätze. DieProduktion beträgt jährlich etwa 800 Ztr. S. wird schonvon Herodot erwähnt und kam durch die Phöniker nachGriechenland. Neben oder vor dem Liquidambarstyrax war aber auchdas feste Harz von Styrax officinalis L. im Gebrauch, welches etwaseit Beginn unsers Jahrhunderts nirgends mehr in einiger Mengegewonnen wird. Die bei der Bereitung des S. ausgepreßte Rindewird getrocknet und dient mit nicht gepreßter Borke in dergriechischen Kirche als Christholz neben Weihrauch zumRäuchern; früher kam sie als Cortex Thymiamatis in denHandel. Gegenwärtig wird sie vielfach zerkleinert und mit S.zu einem schmierigen oder ziemlich trocknen Gemenge verarbeitet,welches als Styrax calamita von Triest aus

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Styrum - Suber.

in den Handel kommt, statt jener Rinde aber oft auch nurSägespäne enthält. Aus dem amerikanischenLiquidambar styraciflua L. gewinnt man durch Einschnitte in denStamm einen braungelben, ziemlich festen S. (Sweet gum), derbesonders von Kindern gern gekaut wird.

Styrum (Stirum), Fabrikort im preuß.Regierungsbezirk Düsseldorf, Kreis Mülheim a. d. Ruhr,unweit der Ruhr und an der Linie Ruhrort-Holzwickede derPreußischen Staatsbahn, hat eine evangelische und eine kath.Kirche, ein Schloß (Stammort der Grafen von S.), eingroßes Eisenwerk (zu Oberhausen), Fabrikation von feuerfestenSteinen und Leim und (1885) 8896 meist kath. Einwohner.

Styx, in der griech. Mythologie älteste Tochter desOkeanos und der Tethys, eilte zuerst von allen Göttern mitihren Kindern Zelos (Eifer), Nike (Sieg), Kratos (Kraft) und Bia(Gewalt), die sie von Pallas, dem Sohn des Titanen Krios, geboren,dem Zeus gegen die Titanen zu Hilfe. Dafür behielt er ihreKinder bei sich im Olymp, sie selbst erhob er zur Eidesgöttinder Unsterblichen. Sie wohnt als Nymphe des mächtigen FlussesS., der als ein Arm des Okeanos unter die Erde fließt und(nach späterer Vorstellung) die Unterwelt neunmaldurchströmt, im äußersten Westen in einem von hohenFelsen überschatteten und von silbernen Säulen getragenenHaus. Ist ein Streit unter den Göttern nur durch Eidschwur zulösen, so holt Iris von ihrem heiligen Wasser in goldenerKanne, und wehe demjenigen, der bei diesem Wasser falschschwört. Den Fluß S. hat man später in dem jetztMavronéri genannten arkadischen Gewässerwiedergefunden.

Su (türk.), s. v. w. Wasser, Fluß.

Suada (Suadela, lat.), s. v. w. Peitho (s. d.); dannüberhaupt Rede- und Überzeugungsgabe.

Suaheli (Sawahili, "Küstenbewohner"), die Bewohnerder Sansibarküste Ostafrikas und der vorliegenden Inseln, eindurch die beinahe tausendjährige Vermischung dereingewanderten Araber mit den eingebornen Negern der großensüdafrikanischen Völkerfamilie sowie durch dasjahrhundertelang fortgesetzte Einführen von Sklaven aus allenTeilen des Innern entstandenes Mischvolk, welches alleSchattierungen der Haut von den schwarzen Eingebornen bis zu denhellen Arabern und alle Zwischenstufen derKörperbeschaffenheit beider Rassen zeigt. Die Sprache der S.,das Kisuaheli, bildet mit den übrigen Sprachen von Sansibarzusammen die nördlichste Gruppe der östlichen Abteilungdes großen Bantusprachstammes (s. Bantu). Grammatikenderselben lieferten Krapf (Tübing. 1850) und Steere (3. Aufl.,Lond. 1884), der auch die nahe verwandte Kihian- oder Yaosprachebearbeitete (das. 1871), ein Wörterbuch Krapf (das. 1882). DieS. bilden das Hauptkontingent unter der Bevölkerung desSultanats Sansibar, und ihre Sprache ist das allgemeineVerständigungsmittel von Ostafrika. Auch die frühereBevölkerung der Komoren ist zu den S. zu rechnen.

Suakin (Sauâkin), Hafenstadt in Nubien, am RotenMeer, auf einer Küsteninsel in einem Becken, zu welchemzwischen Korallenbänken ein schmaler, gewundener Kanalführt. In diesem liegt eine zweite Insel, welche alsQuarantäne dient. Die Stadt hat eine Anzahl Moscheen mitMinarets, steinerne, mit Schnitzwerk schön verzierteHäuser und wird von Arabern, Türken, Leuten ausHadramaut, Griechen und Maltesern bewohnt. Sie ist durch eine festeBrücke mit dem aus Mattenhütten bestehenden El Kef aufdem gegenüberliegenden Ufer verbunden, dessen Bewohner dieInselstadt mit Lebensmitteln und Trinkwasser versorgen. Um El Kefgegen die Überfälle der Mahdisten zu schützen, hatman den Ort mit Befestigungen umgeben. Die Einwohnerzahl derDoppelstadt ist (1882) 11,000. Vor dem Krieg verkehrten hierjährlich 760 europäische Schiffe und arabische Barken von172,000 Ton., welche Reis, Datteln, Salz, Kauris undeuropäische Waren gegen Gummi, Elfenbein, Straußfedern,Felle, Wachs, Moschus, Getreide, Kaffee sowie Sklaven, Maulesel undwilde Tiere eintauschten. Die Ausfuhr wertete früher 5,2 Mill.Mk. S. ist auch Einschiffungshafen für Mekkapilger(jährlich 6-7000). Auf der großen Karawanenstraßezwischen hier und Berber am Nil verkehrten früherjährlich 20,000 beladene Kamele. Englische Dampfer vermittelnden Verkehr mit Suez; von dort läuft eine ägyptischeLinie über Dschiddah nach S. und nach Massauah. Ein Kabel gehtnach Suez und Dschiddah. Gegenwärtig ist S. von einerenglischen Garnison besetzt.

Suardi, Bartolommeo, s. Bramantino.

Suarez, Franz, berühmter kathol. Theolog, geb. 5.Jan. 1548 zu Granada, wirkte als Professor in Segovia undValladolid, nach einem Aufenthalt in Rom wieder in Alcalá,Salamanca und Coimbra; starb 25. Sept. 1617 in Lissabon. Unterseinen Werken (Lyon u. Mainz 1632 ff., 23 Bde. ; Vened. 1740, 23Bde.; Par. 1859, 26 Bde.; Auszug von Migne, das. 1858, 2 Bde.)befindet sich eine "Defensio fidei catholicae" (1613), gegen diekirchlichen Maßnahmen Jakobs I. von England gerichtet. Vgl.Werner, Franz S. (Regensb. 1861, 2 Bde.).

Suasorisch (lat.), überredend; Suasorien,Überredungsmittel, Überredungsgründe.

Sub (lat.), unter.

Subaltern (lat.), untergeordnet, unter einem andernstehend; Subalternbeamte, Beamte, welche nicht die höhernStaatsprüfungen abgelegt haben und im Büreaudienst odersonst in untergeordneter Thätigkeit angestellt sind;Subalternoffiziere, die niedrigste Rangstufe der Offiziere (s. d.),zu welcher die Premier- und Sekondeleutnants gehören.

Subalternation (neulat.), in der Logik dasjenigeVerhältnis, wo eins unter dem andern enthalten ist, daher dasbesondere (bejahende und verneinende) Urteil im Verhältnis zumallgemeinen subalterniert, aber auch der UnterordnungsschlußSubalternationsschluß heißt.

Subapenninenformation, s. Tertiärformation.

Subäraten (lat.), versilberte röm.Kupfermünzen.

Subclavia (arteria, vena s.),Schlüsselbeinschlagader, -Blutader.

Sub conditione (lat.), unter der Bedingung.

Subconductio (lat.), s. v. w. Aftermiete (s. d.).

Subdatarius (lat.), s. Dataria.

Subdelegat (lat.), Unterbevollmächtigter.

Subdiakonus, in der abendländischen Kirche seit dem3. Jahrh. Gehilfe des Diakonen, erst seit Innocenz III. zu denOrdines majores gerechnet; in der protestantischen Kirche derzweite Hilfsprediger an einer Kirche.

Sub dio (sub Jove, lat.), unter freiem Himmel.

Subditius (lat.), untergeschoben.

Subdivision (lat.), Unterabteilung.

Subdominante (lat.), s. v. v. Unterdominante (s.Dominante).

Subdominus (lat.), Unter- oder Afterlehnsherr; s.Afterlehen und Lehnswesen, S. 633.

Suber (lat.), Kork, Korkbaum; Suberin, die reineKorksubstanz (s. Kork); suberös, korkartig.

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Subert - Sublimation.

Subert (spr. schubert), Franz Adolf, tschech. Dichter,geb. 1845 zu Techonice, studierte in Prag, war Mitredakteur des"Pokrok" und Sekretär des Böhmischen Klubs und ist seit1883 Direktor des böhmischen Nationaltheaters. Er schrieb zweigehaltvolle historische Erzählungen: "Die Gefangennehmung desKönigs Wenzel" und "Georg Podiebrad" ; ferner das Lustspiel"Petr Volk z Rozmberka" , ein fesselndes Intrigenstück aus derZeit des Bruderzwistes im Haus Habsburg, das Trauerspiel"Probuzenci" ("Die Erwachten", 1882), aus der Zeit desösterreichischen Erbfolgekriegs und derbayrisch-französischen Invasion in Böhmen. Wie dieses,fußt auch das folgende: "Jan Vyrawa" (1886), in dem Kampfzwischen den leibeignen Bauern und den Großgrundbesitzern.Seine jüngsten Stücke sind: "Laska Raffaelova" ("DieLiebe Raffaels", 1887), eine Frucht seiner italienischen Reisen undStudien, die sich durch schwungvolle Diktion auszeichnet, indessenin der Komposition viel zu wünschen übrigläßt,und "Praktikus" (1888), worin S. seine genauen Kenntnisse derjournalistischen Welt in gar zu drastischen Effekten verwertet. Imganzen ist ihm mehr Fleiß und Routine als angebornesdramatisches Talent nachzurühmen.

Subfeudum (lat.), s. Afterlehen.

Subhastation(lat.), öffentliche Versteigerung einesGegenstandes (vgl. Hasta), erfolgt entweder auf Antrag desEigentümers (freiwillige) oder auf Anordnung der Behörde(notwendige), insbesondere um mit dem Erlös Gläubiger zubefriedigen. Im engern Sinn versteht man unter S. die gerichtlicheVersteigerung von Immobilien und unter Subhastationsordnung einausführliches Gesetz über die gerichtlicheZwangsvollstreckung (s. d.) in Grundstücke. Subhastieren,öffentlich versteigern.

Sub hodiérno dië (lat.), unter heutigemTag.

Subiáco (das röm. Sublaqueum), Stadt in derital. Provinz Rom, am Teverone, eng von Bergen umschlossen, hateinen dem Papst Pius VI. 1789 errichteten Triumphbogen, einKastell, Reste Neronischer Bauten, Fabrikation von Hüten,Leder, Töpferwaren, Papier, Glocken, Ackerbauwerkzeugen etc.und (1881) 6503 Einw. Die Umgebung von S. ist die Wiege desBenediktinerordens; noch finden sich von zwölf dort erbautenKlöstern zwei schon im 6. Jahrh. gestiftete vor: SantaScolastica und Sacro Speco mit der Felsengrotte, in die sich St.Benedikt zurückzog. Im erstgenannten Kloster stellten diedeutschen Buchdrucker Sweynheym und Pannartz 1464 die ersten inItalien gedruckten Bücher her. Vgl. Gregorovius, LateinischeSommer (5. Aufl., Leipz. 1883).

Subito (ital.), schnell, plötzlich, sofort.

Subjekt (lat. subjectum), jeder Begriff, der in derVoraussetzung gedacht wird, daß ihm ein andrer, dasPrädikat (s. d.), in einem Urteil als Merkmal beigelegt oderabgesprochen werde; dann der Vorstellende im Gegensatz zu demVorgestellten oder dem Objekt (s. d.); auch s. v. w. Person (oft imverächtlichen Sinn). In der Musik bezeichnet S. das Themaeiner Fuge (s. d.); man spricht von Fugen mit 2 Subjekten(Doppelfuge), 3 Subjekten (Tripelfuge), wo mehrere Themataselbständig durchgeführt werden.

Subjektion (lat.), Unterwerfung; als Redefigur s. v. w.Aufwerfung und Selbstbeantwortung einer Frage (z. B. bei Herder:"Wes ist der Erdenraum? Des Fleißigen"). Subji*zieren,unterwerfen, unterordnen; eingeben, an die Hand geben.

Subjektiv (lat.), dem Subjekt eigen, persönlich, inder individuellen Natur des Denkenden oder Empfindendenbegründet (vgl. Objekt).

Subjektivismus (neulat.), eine Weltauffassung, welche, imGegensatz zur objektiven, d. h. im Objekt (s. d.), in der Natur der(vorgestellten oder empfundenen) Sache, begründeten,Betrachtung der Dinge, viel mehr im Subjekt (s. d.), d. h. in der(individuellen) Natur des Vorstellenden oder Empfindenden, ihrenbestimmenden Ursprung hat. Derselbe ist theoretisch, wenn erdasjenige, was dem (individuellen) Subjekt wahr scheint,ebendeshalb für wahr, praktisch, wenn er dasjenige, was dem(individuellen, eignen) Subjekt nützt, ebendeshalb fürgut (und erlaubt) erklärt, und fällt in ersterer Hinsichtmit der Lehre der Sophisten ("Der Mensch ist das Maß allerDinge": Protagoras), in letzterer mit der (Un-)Moral desEigennutzes und des Egoismus zusammen. Dadurch, daß der S.die Existenz von Objekten weder leugnet, noch sich für denSchöpfer derselben erklärt, unterscheidet er sich vom(subjektiven) Idealismus (z. B. Fichtes) dadurch, daß er sichgegen das Dasein anderer Subjekte (außer ihm) zwargleichgültig verhält, dasselbe aber nichtausschließt, vom (theoretischen und praktischen) Solipsismus(z. B. M. Stirners).

Subjektivität (neulat.), subjektives Wesen,subjektive Auffassung und Darstellung, im Gegensatz zuObjektivität (s. d.). Vgl. Subjektivismus.

Subji*zieren (lat.), s. Subjektion.

Sub Jove (lat.), unter freiem Himmel.

Sub judice (lat., "unter dem Richter"), nochunentschieden (von Prozessen).

Subjungieren (lat.), unterordnend anknüpfen.

Subjunktiv (lat.), s. v. w. Konjunktiv, s. Verbum.

Subkonträr heißt in der Logik das besondersbejahende im Verhältnis zum besonders verneinenden Urteil,weil es unter dem allgemein bejahenden und dieses unter demallgemein verneinenden steht, welche beide einander konträrentgegengesetzt sind.

Subkutan (lat.), unter der Haut befindlich.

Sublevieren (lat.), erleichtern, unterstützen,aushelfen; besonders einen Teil der Amtslast übernehmen;Sublevant, Helfer, Amtsgehilfe.

Sublim (lat.), erhaben.

Sublimat (lat.), jedes Produkt einer Sublimation,speziell s. v. w. Quecksilberchlorid (ätzendes S.).

Sublimation (lat.), Operation, welche zum Zweck hat,starre, flüchtige Körper von nicht flüchtigen zutrennen. Von der Destillation (s. d.) unterscheidet sich die S. nurdadurch, daß ihr Produkt, das Sublimat, starr und nichtflüssig ist. Die zur S. dienenden Apparate bestehen aus einemTeil, in welchem der zu sublimierende Körper erhitzt wird, undeinem andern, geräumigern, in welchem sich die Dämpfeverdichten. Bisweilen (Kalomelbereitung) genügt ein einzigesGefäß, z. B. ein Glaskolben, dessen Boden in einemSandbad erhitzt wird. Der flüchtige Körper verwandeltsich in Dampf, der sich an den obern Wandungen des Kolbens wiederverdichtet. Das Sublimat bildet dann einen nahezuhalbkugelförmigen Kuchen. Bei der S. mancher Substanzen(Benzoesäure, Pyrogallussäure) ist es praktisch, sie aufeiner Metallplatte oder in einer flachen Schale zu erhitzen und dieDämpfe in einem Hut von Papier, den man auf die Platte oderSchale setzt, aufzufangen. In der Technik benutzt man Töpfeaus Steinzeug, welche über einer Feuerung in Sand eingebettetstehen und mit ihrem Hals bis an eine eiserne Platte reichen,welche für jeden Topf eine Öffnung besitzt. Das Sublimatwird in kleinen irdenen Töpfen aufgefangen, welche manüber die Mündungen der größern stülpt.Häufig sublimiert man auch in eisernen Kesseln, die übereiner Feuerung eingemauert und innen bisweilen mit feuerfestenStei-

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Sublokation - Substantiv.

nen ausgekleidet werden. Man verschließt sie fest miteinem eisernen Deckel, der nur ein kleines Loch zum Entweichennicht kondensierbarer Gase enthält. Derartige einfacheApparate sind nur anwendbar, wo die Dämpfe des zusublimierenden Körpers sich sehr leicht kondensieren lassen.In andern Fällen ist es notwendig, die Dämpfe aus demGefäß, in welchem sie sich gebildet haben, abzuleitenund in besondern Räumen zu verdichten. Dies geschieht z. B.bei der S. des Schwefels, dessen Dämpfe in großengemauerten Kammern verdichtet werden. Sind die Dämpfe des zusublimierenden Körpers nicht entzündlich, so ist esvorteilhaft, sie durch einen Luftstrom, den ein Ventilator liefert,in die Kondensationsräume zu treiben. Dies geschieht auchdann, wenn man das Sublimat in Form eines feinen Pulvers und nichtals kompakte Masse erhalten will, und zwar kann man statt der Luftauch irgend ein indifferentes Gas oder Wasserdampf anwenden. MancheSublimate entstehen bei der Einwirkung von Gasen auf starreKörper, z. B. wenn man ein Bündel von Eisendraht in demHals einer tubulierten Retorte erhitzt und trocknes Chlorhindurchleitet. Es entsteht dann Eisenchlorid, welches sich in derRetorte verdichtet. Bisweilen kann man mit der S. eine Reinigungder Substanz von flüchtigen Verunreinigungen, z. B. vonempyreumatischen Stoffen, in der Art verbinden, daß man dieBeschickung mit Holz- oder Teerkohle mischt, welche jeneVerunreinigungen zurückhält. Manche Sublimate bildenfeste Kuchen (Zinnober, Quecksilberchlorür und -Chlorid,kohlensaures Ammoniak, Salmiak); andre bilden Kügelchen(Schwefelblumen) oder isolierte kleinere oder größereKristalle (Benzoesäure, Pyrogallussäure, Jod); alle aberzeichnen sich meist durch große Reinheit aus. Daher benutztman auch die S. in der Analyse, um an wohl ausgebildeten Kristallenden sublimierenden Körper zu erkennen.

Sublokation (lat.), Aftermiete (s. d.).

Sublunarisch (lat.), unter dem Mond befindlich.

Subluxation (lat.), eine Verrenkung, wobei dieGelenkflächen nicht gänzlich voneinander gewichen sind,sondern sich noch teilweise berühren.

Submarin (lat.), unterseeisch.

Submergieren (lat.), untertauchen, unter Wasser setzen;Submersion, Untertauchung.

Subministrieren (lat.), behilflich sein, an die Handgehen; Subministration, Vorschubleistung, namentlich beiUnterschleifen.

Submiß (lat.), unterwürfig.

Submission (Summission, lat.), die Vergebungöffentlich ausgebotener Arbeiten, bez. Materiallieferungen anden Mindestfordernden auf Grund schriftlich eingereichter geheimerAngebote. Dieselbe ist eine allgemeine, wenn jedermann zurKonkurrenz zugelassen wird, eine beschränkte oder engere, wennvon vornherein eine Auswahl getroffen, die Zulassung vom Nachweisbestimmter Fähigkeiten, Berufs-, Staats- oderGemeindeangehörigkeit, Kapitalbesitz zur Kautionsstellung u.dgl. abhängig gemacht wird. über Bedeutung, Vorteile undMißstände der S., dann über die in der neuern Zeitvorgeschlagenen und durchgeführten Maßregeln zurBesserung vgl. F. C. Huber, Das Submissionswesen (Tübing.I885). S. auch Staatsschulden, S. 204.

Suboles (Soboles. lat.), in der Botanik s. v. w.Ausläufer.

Subordination (lat.), "Unterordnung", Dienstgehorsam;beim Militär die Pflicht des Untergebenen, jedem Befehl seinesVorgesetzten sich ohne Widerrede zu fügen, die Grundlage allerDisziplin und Mannszucht (vgl. Insubordination). In der Logik istS. der Begriffe dasjenige Verhältnis derselben, vermögedessen ein Begriff zum Umfang eines andern, ihm übergeordnetengehört (vgl. Koordinieren).

Suboxyd und Suboxydul, s. Oxyde.

Sub poena (lat.), unter Androhung einer Strafe.

Subreption (lat.), Erschleichung (s. d.), insbesonderedurch Angabe falscher Thatsachen (vgl. Obreption).

Subrogieren (lat.), jemand in eines andern Stelle setzen;einem sein Recht abtreten.

Sub rosa (lat.), im Vertrauen, unter der Bedingung derVerschwiegenheit. Der Ausdruck bezieht sich auf den Brauch imAltertum, daß man bei Gastmählern eine Rose als Symbolder Verschwiegenheit über den Gästen auszuhängenpflegte.

Subsekutiv (lat.), nachfolgend.

Subsellien (lat.), Schulbänke; s.Schulgesundheitspflege, S. 649.

Subsemitonium modi, der Halbton unter der Tonika, alsodie große Septime in der aufsteigenden Tonleiter, der Leittonder Tonart.

Subsequenz (lat.), das Nachfolgende.

Subsidien (lat.), ursprünglich bei den Römerndas dritte Treffen der Schlachtordnung, welches den beiden erstenTreffen im Notfall zu Hilfe zu kommen hatte, späterüberhaupt die Reserve in der Schlachtordnung; dann Bezeichnungfür Hilfsmittel überhaupt, daher "in subsidium",subsidiär (subsidiarisch), s. v. w. unterstützend,hilfeleistend. Namentlich versteht man unter S. Gelder, die im Falleines Kriegs vermöge eines besondern Vertrags(Subsidientraktats) ein Staat dem andern zahlt (s. Allianz). InEngland werden mit dem Ausdruck Subsidiengelder (grants,"Bewilligungen") auch diejenigen Gelder bezeichnet, welche vomParlament jährlich für die Land- und Seemacht bewilligtwerden. Charitativsubsidien, die ehedem von der reichsfreienRitterschaft dem Kaiser entrichteten zeitweiligen Abgaben.

Sub sigillo (lat.), unter dem Siegel (derVerschwiegenheit); vgl. Beichtsiegel.

Subsistieren (lat.), Bestand haben; seinen Unterhalthaben; Subsistenz, Lebensunterhalt.

Subskribieren (lat.), unterschreiben, auf etwasunterzeichnen, eine Subskription (s. d.) eingehen.

Subskription (lat.), die Verpflichtung durchNamensunterschrift zur Teilnahme an einem Unternehmen oder zurAnnahme einer Ware, besonders einer litterarischen Arbeit odereines Kunstwerks, aber auch zur Übernahme von Aktien oder zurBeteiligung an einer Anleihe (s. Staatsschulden, S. 204). Die S.bewirkt für den Subskribenten rechtliche Verbindlichkeit, wennauch vom andern Teil alle Versprechungen sowohl hinsichtlich derZeit der Lieferung als auch der Beschaffenheit des zu lieferndenGegenstandes eingehalten werden. Der Subskriptionspreis ist oftniedriger gestellt als der spätere Kaufpreis. Das Sammeln vonSubskribenten durch Buchhandlungsreisende wird nicht alsHausiergewerbe behandelt.

Sub sole (lat.), unter der Sonne.

Substantiell (lat.), wesenhaft, wesentlich (s. Substanz);derb, kräftig (von Speisen); materiell; Substantialität,Wesenheit, Selbständigkeit.

Substantiv (Nomen substantivum, Haupt-, Dingwort), in derGrammatik Bezeichnung einer Person oder Sache oder eines Begriffs.Der Ausdruck S. findet sich im Altertum noch nicht, sondern isterst bei den Grammatikern des Mittelalters aufgekommen, die ihn ausdem lateinischen substantia ("Stoff") bildeten. Er drücktbesonders den Gegensatz dieser Wort-

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Substanz - Subtraktion

klasse zu den Eigenschaftswörtern (Adjektiven) aus, diebloß ein einzelnes Merkmal bezeichnen. Schon die Altenteilten das S. in verschiedene Klassen ein; die noch jetztallgemein gebräuchlichen Einteilungen sind folgende. Jenachdem ein S. ein bestimmtes, persönliches Wesen oder eineganze Gattung von Personen, Sachen oder Begriffen bezeichnet,heißt es Nomen proprium (Eigenname) oder Nomen appellativum(Gattungsname). Das Appellativum kann wieder Abstractum oderConcretum sein, je nachdem es entweder etwas bloß Gedachtesoder Vorgestelltes, oder etwas wirklich im Raum Vorhandenesbedeutet. Andre Unterarten des Nomen appelativum sind dieCollectiva (Sammelwörter), die eine Gesamtheit von Individuenbezeichnen, wie z. B. Volk, Menge, Schar, und die Materialia(Stoffwörter), wie Gold, Wasser, Wein, Getreide. Für diehistorische und vergleichende Sprachforschung sind alle dieseUnterschiede nicht vorhanden, da die Substantiva aller Arten undselbst die Adjektiva und Partizipia fortwährend ineinanderübergehen, auch die Eigennamen stets aus einem Appellativumentstanden sind und auch wieder zu einem solchen werdenkönnen, wie z. B. Cäsar ursprünglich "Töter,Mörder" bedeutete, dann ein Beiname des Gajus JuliusCäsar, hierauf der gewöhnliche Titel der römischenund später der deutschen "Kaiser", zuletzt in manchenFällen im Deutschen wieder ein Eigenname geworden ist. Das S.ist neben dem Verbum der wichtigste der Redeteile, und es gibtkeine Sprache, der das S. fehlt. Die Flexion der Substantiva durchangehängte Kasusendungen (s. Kasus) heißtDeklination.

Substanz (lat.), im gewöhnlichen Sinn das Grundwesen, das Wesentliche oder der Hauptinhalt einer Sache, der Stoff,im Gegensatz zum Accidens (s. d.), der zufälligen, nichtwesentlichen Eigenschaft eines Dinges. So bezeichnet man z. B.Kapitalien als S. eines Vermögens im Gegensatz zum Ertrag oderden Zinsen als seinen Accidenzien. In der Philosophie ist S. dasunbekannte Seiende, welches als beharrlich und bleibendgegenüber allem Wechsel der Erscheinung gedacht wird und demVielen und Mannigfaltigen die Einheit gibt. Hinsichtlich derBestimmung des Wesens dieser S. gehen die philosophischen Systemeauseinander. Ob es eine Vielheit von Substanzen gebe (Monaden desLeibniz, reale Wesen Herbarts), oder ob nur eine anzunehmen sei (S.des Spinoza), ob dieselbe oder dieselben geistiger oder materiellerNatur seien, darüber ist der alte Streit bis auf den heutigenTag nicht entschieden.

Substituieren (lat), an eines andern Stelle setzen.

Substitut (lat.), ein Amts- oder Stellvertreter;Beigesetzter, Nachgeordneter im Amt, auch s. v. w. Nacherbe (s.Substitution).

Substitution (lat.), Stellvertretung, Einsetzung einesStellvertreters, namentlich seitens einesProzeßbevollmächtigten, der seine Vollmacht auf einenandern überträgt; Substitutorium, die zur Beurkundungdessen ausgestellte Urkunde. Im Erbrecht versteht man unter S. eineeventuelle Erbeinsetzung oder, wie der Entwurf eines deutschenbürgerlichen Gesetzbuchs (§ 1804 ff.) es nennt, dieNacherbfolge, welche dann vorliegt, wenn der Erblasser einen Erbenin der Weise einsetzt, daß derselbe erst, nachdem ein andrerErbe geworden ist, von einem bestimmten Zeitpunkt oder Ereignis anErbe sein soll. Mit diesem Moment hört der bisherige Erbe(Vorerbe) auf, Erbe zu sein, und die Erbschaft fällt demNacherben zu. Dahin gehört zunächst dieVulgarsubstitution, d. h. die Einsetzung eines zweiten Erben(Substituten, Nacherben) für den Fall, daß der ersternannte nicht Erbe wird; ferner die Pupillarsubstitution, darinbestehend, daß der Vater seinem unmündigen Kind einenErben ernennen darf für den Fall, daß dieses nach ihmnoch unmündig versterben sollte; endlich dieQuasipupillarsubstitution (substitutio quasi pupillaris s.exemplaris), vermöge deren es allen Aszendenten freisteht,einem blödsinnigen Abkömmling einen Substituten zuernennen für den Fall, daß das Kind im Blödsinnverstirbt, jedoch nur in betreff des Vermögens, welches derBlödsinnige von dem Aszendenten hat, nicht seines anderweiten.Der Entwurf eines deutschen bürgerlichen Gesetzbuchs kennt nureine Art der Nacherbfolge, bestimmt aber (§ 1851)bezüglich der eventuellen Erbeinsetzung für einenAbkömmling folgendes: "Hat der Erblasser einemAbkömmling, welcher zur Zeit der Errichtung der letztwilligenVerfügung keinen Abkömmling hat, für die Zeit nachdessen Tod einen Nacherben bestimmt, so ist anzunehmen, daßdie Einsetzung des Nacherben auf den Fall beschränkt sei, wennder Vorerbe keinen Abkömmling hinterlasse". In der Chemieheißt S. oder Metalepsie die Vertretung eines Atoms odereiner Atomgruppe in einer chemischen Verbindung durch einÄquivalent eines andern Elements oder einer andern Atomgruppe.Bei der Einwirkung von Chlor auf manche organische Verbindungenkönnen ein oder mehrere Atome Wasserstoff in Form vonChlorwasserstoff austreten, während gleich viel Atome Chlordie Stelle des ausgetretenen Wasserstoffs einnehmen. Auf dieseWeise entstehen chlorhaltige Verbindungen (Substitutionsprodukte),die, obgleich chlorhaltig, noch den Charakter ihrer Muttersubstanz,aus der sie entstanden sind, besitzen. Behandelt manEssigsäure C2H4O2 mit Chlor, so entstehen der Reihe nachMonochloressigsäure C2H3ClO2, DichloressigsäureC2H2Cl2O2, Trichloressigsäure C2HCl3O2, und alle dieseSäuren zeigen noch den Charakter und die Basizität derEssigsäure. Wie Chlor verhalten sich auch Brom und Jod undgewisse Atomgruppen, wie NO2, NH2, SO2. Ebenso können an dieStelle von Sauerstoff Schwefel, Selen oder Tellur, an die Stellevon Stickstoff Phosphor, Arsen oder Antimon treten, ohne daßder Charakter der betreffenden chemischen Verbindungengeändert wird. Daraus muß man schließen, daßder Charakter der organischen Substanzen bis zu einem gewissen Gradweniger von der Natur ihrer Bestandteile als vielmehr von der Artder Verbindung, von der Stellung, welche letztere einnehmen,abhängig ist. Diese Thatsachen führten in der Chemie zurAufstellung der Typentheorie durch Dumas und Laurent und derKerntheorie durch Laurent, und wenn beide auch nicht allgemeineGeltung erlangt haben, so bildeten sie doch die Brücke zu denneuen, jetzt herrschenden Anschauungen.

Substitutionsverfahren, s. Zucker.

Substrat (lat.), Unterlage, Grundlage; der vorliegendeFall; in der Logik s. v. w. Substanz.

Substruktion (lat.), Unter-, Grundbau.

Subsultus tendinum (lat.), Sehnenhüpfen (s. d.).

Subsumieren (lat.), unter etwas zusammenfassen, mitbegreifen, etwas folgern; Subsumtion, Zurückführung desBesondern auf ein Allgemeines; Voraussetzung, Annahme; subsumtiv,voraussetzend.

Subtil (lat.), zart, fein; spitzfindig.

Subtrahendus (lat.), s. Subtraktion.

Subtraktion (lat.), in der Arithmetik die zweite der vierSpezies, welche zu zwei gegebenen Zahlen, dem Minuendus und demSubtrahendus, eine

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Subtropen - Suchitoto.

dritte, die Differenz (den Unterschied), findet, die, zu demSubtrahendus addiert, den Minuendus gibt. Das Zeichen der S. ist -oder -, gelesen minus oder weniger, z. B. 12-4=8. Das Verfahren beiS. mehrzifferiger Zahlen besteht gewöhnlich darin, daßman die einzelnen Ziffern des Subtrahendus von den (nach Befindenum 10 vermehrten) des Minuendus subtrahiert, z. B. 25831-16543 wirdgerechnet 3 von 11 gibt 8, 4 von 12 gibt 8, 5 von 7 gibt 2, 6 von15 gibt 9, 1 von 1 gibt 0; in Österreich und auf einzelnenSchulen anderwärts rechnet man dagegen: 3+8 ist 11, 5(nämlich 4+1)+8 ist 13, 6(5+1)+2 ist 8, 6+9 ist 15, 2+0 ist 2.Das Resultat ist also 9288. Das letztere Verfahren ist vorzuziehen,weil man bei Gewöhnung an dasselbe bei der Division dieabzuziehenden Tellprodukte nicht hinzuschreiben braucht, sonderngleich den Rest angeben kann.

Subtropen, der zu beiden Seiten der Tropen gelegeneGürtel, ausgezeichnet durch die Gleichmäßigkeit derTemperatur, umfaßt die Gegenden mit ausgesprochenemWinterregen. Subtropisch, dem Tropischen sich annähernd, z. B.subtropische Vegetation.

Subulirostres, s. v. w. Pfriemenschnäbler.

Sub una specie (lat.), unter einerlei Gestalt,nämlich nur des Brotes, wie die Katholiken das Abendmahlgenießen; sub utraque specie, unter beiderlei Gestalt (vgl.Abendmahl und Hussiten).

Subura, im alten Rom eine zwischen dem Kapitol undEsquilinus befindliche Niederung, durch welche eine sehr belebte,mit zahlreichen Tavernen und Bordellen besetzte Straßeführte.

Subvention (lat.), Beihilfe, Unterstützung,insbesondere aus öffentlichen Mitteln.

Subverfion (lat.), Umsturz; subversiv, Umsturzbezweckend; subvertieren, umstürzen, zerstören.

Sub voce (lat.), unter dem und dem Wort.

Subzow, Kreisstadt im russ. Gouvernement Twer, amEinfluß der Wasusa in die Wolga, mit 5 griechisch-russ.Kirchen und (1885) 4191 Einw.

Succedaneum (lat.), Ersatz, Notbehelf.

Suceedieren (lat.), nachfolgen, in einRechtsverhältnis als Berechtigter eintreten (s.Rechtsnachfolge).

Succeß (lat.), glücklicher Erfolg.

Succession (lat.), s. Rechtsnachfolge.

Successive (lat.), nach und nach, allmählich.

Successor (lat.), Rechtsnachfolger.

Succinate, s. Bernsteinsäure.

Succinit, s. v. w. Bernstein; auch eine bernsteinfarbigeVarietät des Granats.

Succiusäure, s. Bernsteinsäure.

Succinum (lat.), Bernstein.

Succus (lat.), Saft, S. entericus, Darmsaft; dannbesonders Pflanzensaft; z. B. S. Citri, Zitronensaft; S. Juniperiinspissatus, Wacholdermus, eingedampfter Saft frischerWacholderbeeren; S. Liquiritiae (Glycyrrhizae), Lakritzen, Extraktder Süßholzwurzel; S. Sambuci inspissatus, Fliedermus,der eingedampfte Saft der Holunderbeeren.

Suche, Jagdmethode, bei welcher man das Wild mit dem Hundaufsucht, um es beim Verlassen seiner Lagerstätte zuschießen; auch die Nachsuche auf angeschossenes Wild mit demSchweißhund.

Suchenwirt, Peter, der berühmteste Wappendichter des14. Jahrh., im Österreichischen geboren, begleitete 1377 denHerzog Albrecht III. von Österreich auf seinem Kriegszug nachPreußen, lebte später in Wien und starb nach 1395. Unterseinen zahlreichen Dichtungen (hrsg. von Primisser, Wien 1827)behauptet die poetische Erzählung "Von Herzog AlbrechtsRitterschaft" (Ritterzug) den ersten Platz.

Sucher, kleines Fernrohr mit großem Gesichtsfeld,welches mit einem größern astronomischen Fernrohrderartig verbunden ist, daß die Achsen beider Instrumentegenau parallel sind. Hierdurch wird die Auffindung eines Objekts amHimmel, welche mit dem großen Instrument allein wegen derKleinheit seines Gesichtfeldes schwierig wäre, wesentlicherleichtert. Denn richtet man das Instrument so, daß der zubetrachtende Gegenstand in der Mitte des Gesichtsfeldes des Sucherserscheint, so wird er auch für das größere Fernrohrim Gesichtsfeld sich befinden.

Sucher, Joseph, Komponist und Dirigent, geb. 1843 zu St.Gotthardt in Ungarn, erhielt seinen ersten Musikunterricht in Wienals Sängerknabe der kaiserlichen Hofkapelle, studiertespäter die Rechte, widmete sich aber schließlich ganzder Musik und übernahm nach absolviertem gründlichenStudium der Komposition unter Leitung Sechters die Direktion desWiener akademischen Gesangvereins. Nachdem er dann zeitweilig auchals Kapellmeister der Komischen Oper fungiert hatte, folgte er 1876einem Ruf als Theaterkapellmeister nach Leipzig, wo er sichnamentlich um die Vorführung der Wagnerschen Musikdramengroßes Verdienst erwarb. Im folgenden Jahr verheiratete ersich mit der Sängerin Rosa Hasselbeck, einer Zierde derLeipziger Oper. 1879 wurden beide an das Stadttheater nach Hamburg,1888 an das Berliner Opernhaus berufen.

Suchet (spr. ssüschä), Louis Gabriel, Herzogvon Albufera, franz. Marschall, geb. 2. März 1770 zu Lyon,trat 1792 als Freiwilliger in die Lyoner Nationalgarde, focht 1794und 1795 in Italien unter Laharpe, ward 1797 Brigadegeneral undbefehligte 1798-1800 als Divisionsgeneral erst in der Schweiz, dannin Italien. Nach dem Frieden von Lüneville 1801 wurde S. zumGeneralinspektor der Infanterie ernannt und erhielt 1804 eineDivision im Lager von Boulogne. In den Feldzügen von 1805,1806 und 1807 zeichnete sich seine Division, die erste des 5. Korpsunter Lannes, vielfach aus. Nach dem Frieden von Tilsit befehligteS. das 5. Korps in Schlesien und führte gegen Ende 1808dasselbe nach Spanien. Nach Saragossas Fall übernahm er imApril 1809 das Kommando der Armee von Aragonien, siegte bei Mavia,Belchite und Lerida und eroberte Tortosa und Tarragona, womit ersich den Marschallsstab erwarb. 1812 schlug er Blake abermals beiSagunto und eroberte 9. Jan. Valencia, wofür er denHerzogstitel erhielt. Nachdem er Anfang 1814 über diePyrenäen zurückgegangen, erklärte er aus seinemHauptquartier Narbonne 14. April die Anerkennung Ludwigs XVIII. undschloß einen Waffenstillstand mit Wellington. Bei derRückkehr Napoleons I. von Elba ließ er sich jedoch vondemselben das Kommando der Alpenarmee übertragen, drang 14.Juni in Savoyen ein, ward aber von den Österreichernzurückgeworfen. Bei Ludwigs XVIII. Rückkehr verlor er diePairswürde, erhielt dieselbe aber 1819 zurück. Er starb3. Jan. 1826 in Marseille. In Lyon ist ihm ein Denkmal errichtet.Seine "Mémoires sur les campagnes en Espagne depuis 1808jusqu'en 1814" (2. Aufl., Par. 1834, 2 Bde.) veröffentlichtesein Stabschef Saint-Cyr-Nuguas. - Suchets Sohn Napoléon S.,Herzog von Albufera, geb. 23. Mai 1813, war 1852-70 Mitglied desGesetzgebenden Körpers, starb 23. Juli 1877 in Paris.

Suchitoto (spr. ssutschi-), Hauptstadt des DepartementsCuscutlan im mittelamerikan. Staat Salvador, auf einer Anhöhebeim Rio Lempa, hat Anbau von Mais, Zuckerrohr etc. und (1878) 5826Einw.

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Suchona - Südafrikanische Republik.

Suchoua (Ssuchona), einer der beiden Quellströme der Dwinaim russ. Gouvernement Wologda, kommt aus dem Kubenskischen See,wendet sich bald nach NO. und behält diese Richtung bis zurVereinigung mit dem Jug bei. Die Länge dieses im ganzen Laufschiffbaren Flusses beträgt 580 km. Durch den Kanal desHerzogs Alexander von Württemberg steht der Fluß mit derOstsee wie mit dem Kaspischen Meer in Verbindung.

Sucht, in der Medizin ein veraltetes Wort, das nur nochin Zusammensetzung vorkommt, wahrscheinlich gleichen Stammes mit"Seuche" und "siechen", früher ganz allgemein Krankheit, hatsich dann erhalten in Schwind-, Wasser-, Fett-, Gelbsucht etc.

Süchteln, Stadt im preuß. RegierungsbezirkDüsseldorf, Kreis Kempen, unweit der Niers und an der LinieViersen-S. der Krefelder Eisenbahn, hat eine evangelische und kath.Kirche, starke Samt- und Samtbandweberei, Seidenfärberei,Zeugdruckerei, Flachsbereitung, Appreturanstalten, Gerberei,Ziegeleien, Ölmühlen und (1885) 9465 meist kath.Einwohner. Nahe der Stadt auf einem Höhenzug dasKriegerdenkmal und ein Aussichtsturm mit prachtvoller Fernsichtsowie auf dem Heiligenberg die alte Irmgardiskapelle, einvielbesuchter Wallfahrtsort.

Suchum Kale (Soghum Kala), befestigte Gebietshauptstadtin der russ. Statthalterschaft Kaukasien, am Schwarzen Meer, mitvortrefflichem, gegen alle Winde geschütztem Hafen, aber nur(1879) 1947 Einw. Der Ort steht auf den Ruinen des altengriechischen Dioskurias, einer Gründung der Milesier, wurde1809 von den Russen erobert, aber erst 1829 im Frieden vonAdrianopel von der Türkei abgetreten und erhielt nunansehnliche Magazine und einen schönen Bazar. 1854 wurde esvon den Russen bei Annäherung einerenglisch-französischen Flottille eiligst geräumt,teilweise zerstört und von den Abchasen, welche dietürkische Flagge aufpflanzten, geplündert. Im September1855 landete Omer Pascha mit einem türkischen Korps und begannvon hier aus die Operationen gegen Tiflis. Im Mai 1877 wurde derOrt abermals von den Türken besetzt, aber, da diebeabsichtigte Insurgierung der Bergvölker nicht gelang, imSeptember wieder geräumt und darauf von den Abchafenverbrannt.

Suckow, Albert, Freiherr von, württemberg.Kriegsminister, geb. 13. Dez. 1828 zu Ludwigsburg, Sohn des 1863verstorbenen Obersten Karl von S. (Verfassers dermilitärischen Erinnerungen aus der Napoleonischen Zeit: "Ausmeinem Soldatenleben", Stuttg. 1863), der, ein Mecklenburger, inder Rheinbundszeit in württembergische Dienste getreten war,und der als Schriftstellerin unter dem Pseudonym Emma von Niendorfbekannten Freifrau Emma v. Callatin (gest. 1876 in Rom). 1848 wurdeS. Leutnant der Artillerie, seit 1861 als Hauptmann mit der Leitungder Kriegsschule betraut. 1866 als MajorMilitärbevollmächtigter im Hauptquartier der Bayern, nahmer an den Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen mitPreußen teil, ward Adjutant des Kriegsministers v. Wagner,den er bei der Einführung des preußischen Heersystemsunterstützte, sodann Oberst und Generalquartiermeister, 24.März 1870 als Generalmajor Chef des Kriegsdepartements undmachte sich um die Organisation der württembergischen Divisionund ihre Ergänzung und Verpflegung während des Kriegshochverdient. Er wurde dafür 19. Juli d. J. zumGeneralleutnant und Kriegsminister befördert, als welcher er,mehrmals in das preußische Hauptquartier in Frankreichgesandt, die Militärkonvention mit Preußen und dieReichsverträge abschloß; er erhielt eine Dotation von300,000 Mk. S. nahm 1874 seinen Abschied und lebt zu Baden-Baden.Gegen Arkolay (Streubel) schrieb er die Broschüre "WoSüddeutschland Schutz für sein Dasein findet?" (Stuttg.1869).

Sucre (spr. ssuhkre), 1) Stadt in Bolivia, s. Chuquisaca.- 2) (Puerto de S.) Einfuhrhafen der Stadt Cariaco (s. d.) inVenezuela.

Sucre (spr. ssuhkre), Antonio José de,Präsident von Bolivia, geb. 1793 zu Cumana in Venezuela, trat1810 in die südamerikanische patriotische Armee, diente1814-17 im Generalstab und dann unter Bolivar gegen Neugranada,brachte den Spaniern mehrere Niederlagen bei und entschied alsOberbefehlshaber der republikanischen Truppen durch den Sieg beiAyacucho 9. Dez. 1824 die Befreiung Südamerikas vom spanischenJoch. Er erhielt hierfür durch den Kongreß von Boliviaden Titel Großmarschall von Ayacucho und ward 1825 von derRepublik Bolivia zum lebenslänglichen Präsidentenerwählt, legte aber infolge der innern Unruhen 1. Aug. 1828diese Würde nieder und ward im Juni 1830 bei Pasto unweitCartagena, wo er für Bolivar zu wirken suchte, meuchlingserschossen.

Suczawa (spr. ssutschawa), Stadt in der Bukowina, unweitdes Flusses S. (Nebenfluß des Sereth), über den hiereine Brucke zur Station S.-Itzkany (mit Grenzzollamt) derLemberg-Jassyer Eisenbahn führt, dicht an der rumänischenGrenze, ist Sitz einer Bezirkshauptmannschaft und einesKreisgerichts, hat ein Obergymnasium, eine altegriechisch-oriental. Kathedrale mit dem Grab des heil. Johann vonNovi, Landespatrons der Bukowina, Burgruinen, eine nichtunierteArmeniergemeinde, Bierbrauerei, ansehnlichen Speditionshandel und(1880) 10,104 Einw. S. war ehedem die Hauptstadt der Moldau und alssolche ein großer und blühender Ort.

Südafrikanische Republik, seit 1884 offizieller Namedes früher Transvaal genannten Freistaats in Südafrika(s. Karte bei Artikel "Kapland"), erstreckt sich von demVaalfluß im Süden über den Wendekreis hinaus biszum Limpopo im N. und wird im W. und N. begrenzt vonBritisch-Betschuanaland, im O. von Portugiesisch-Ostafrika undSwasiland, im Süden von der Neuen Republik, Natal und derOranjefluß-Republik und umfaßt 308,200 qkm (5597 QM.)mit Einschluß der Neuen Republik (s. d.), als DistriktVrijheid einverleibt, 315,590 qkm (5681 QM.). Die Bodengestaltungder Republik wird wesentlich bedingt durch den Verlauf zweierGebirge. Durch das eine derselben, die Drakenberge mit der 2188 mhohen Mauchspitze, ein nordsüdlich sich hinziehendes Plateau,das steil gegen O. abfällt, gegen W. aber sich allmählichabdacht, wird das Land geteilt in eine größere undhöher gelegene westliche Hälfte und eine kleinereöstliche, welch letztere in eine sandige Ebene übergeht,aus welcher als Grenzscheide gegen portugiesisches Gebiet der langenordsüdlich verlaufende Höhenzug des Lebombo hervorragt.Das zweite Gebirge besteht aus einer Reihe westöstlichverlaufender Ketten (Magalisberge, Witwatersrand), welche wiederumdie S. R. in einen südlichen höhern Teil, das Hooge Veld,und einen nördlichen tiefern, das Bosch Veld, trennen. DieseBergzüge bilden auch in klimatischer Beziehung eine Scheide.Im Hochfeld sind die Tage im Winter zwar warm, nachts aber sinktdas Thermometer gewöhnlich unter den Gefrierpunkt, und dieDrakenberge sind häufig mit Schnee bedeckt, im Buschfeld abersind die Winter milder,

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Südafrikanische Republik.

und es gedeihen dort Kaffee, Baumwolle, Zuckerrohr u. a. Auchöstlich von den Drakenbergen ist es wärmer; infolge dervom Indischen Ozean her wehenden Südostpassate ist dieOstseite regenreich, während die westlichen Hochebenen arm anRegen sind. Die Regenzeit fällt in den Sommer. In dieser Zeitherrschen im Buschfeld Fieber, während das Hochfeld eine dergesündesten Gegenden der Erde ist. Hier leben die Buren imSommer, im Winter ziehen sie mit ihren Herden ins Buschfeld. DiePflanzenwelt in den einzelnen Gebieten ist sehr verschieden. DasLand trägt fast durchgehends den Charakter der Steppe, aberwährend das Hochfeld fast ganz aus weiten, einförmigenGrassteppen besteht, ist das Buschfeld mit dichtem, vielfachundurchdringlichem Strauchwerk bedeckt, in dem man nur einzelneoffene Stellen antrifft. Hier finden sich auch Adansonien und andretropische Gewächse. In Klüften am Ostabhang desTafellandes trifft man noch majestätische Urwälder ausGelbholzbäumen (Taxus elongata), Eisen- und Stinkholz undMimosen; Akazien, Proteen, Euphorbia candelabrum etc.charakterisieren die Hochebenen der Mittelstufen. Mais, Kafferkorn,Hirse, Bohnen, Erbsen, Melonen werden kultiviert. In der Tierweltherrschen Antilopen vor, Springböcke finden sich auf dengrasreichen Hochebenen noch in Herden. Gnus, Zebras und Quaggas,Giraffen, Büffel, Elefanten und Nashörner sind seltengeworden, ebenso Löwen, Leoparden und Hyänen sowie derStrauß. Krokodile hausen in den Flüssen; giftigeSchlangen sind zahlreich, in den nordwestlichen, nördlichenund östlichen Grenzgebieten erschwert die Tsetsefliege dieViehzucht. Von einheimischen Haustieren fanden die EuropäerRinder, Schafe mit Fettschwänzen, Ziegen und Hunde vor, Pferdeund Merinoschafe wurden eingeführt. Viehzucht bildet dieHauptbeschäftigung der Ansiedler. Sehr fruchtbar sind diekahlen Hochebenen des Südens. Mais, Korn, Hirse,Hülsenfrüchte, Zuckerrohr, Wein gedeihen hier sehr gut.Das Land ist reich an Gold, Silber, Kupfer, Graphit, Nickel,Kobalt, Blei, Steinkohle, Zinn, Salz, Alaun u. a. Gold wurde seit1871 gefunden, in größern Mengen aber erst seit 1883 aufden Goldfeldern von De Kaap (Barberton) und Witwatersrand(Johannesburg); ausgeführt wurde über die Kapkolonie undNatal 1871 bis Mitte 1888 für 1,266,530 Pfd. Sterl.;Silbererze gewinnt man in der Nähe von Pretoria. Dieweiße Bevölkerung wird auf 60-75,000 Seelengeschätzt, zum größten Teil Buren, nur 12-15,000Europäer, unter den letztern auch zahlreiche Deutsche, die aufmehreren von hannöverschen Missionären gegründetenAnsiedelungen wohnen. Dazu kommt seit den letzten Jahren eine20,000 Köpfe starke Bevölkerung, meist englischerAbstammung, auf den genannten Goldfeldern. Die Zahl der Kaffern(Betschuanen, Basuto u. a.) ermittelte der Zensus von 1886 zu299,848 Seelen, die Gesamtbevölkerung kann daher zu 490,000angenommen werden. Das Christentum hat trotz zahlreicherMissionäre nur teilweise unter den Eingebornen Platzgegriffen. Die Beschäftigung der Bevölkerung istausschließlich Naturalwirtschaft. Die Ausbeutung dergroßen natürlichen Reichtümer des Landes wirderschwert durch den Mangel an genügendenTransportverhältnissen. Die Ausfuhr besteht in Wolle,Rindvieh, Cerealien, Leder, Fellen, Früchten, Tabak, Butter,Branntwein, Straußfedern und Elfenbein, außerdem Gold.Die Einfuhr (1887: 1,695,978 Pfd. Sterl.) besteht inIndustrieprodukten. Der Handel nimmt seinen Weg, da die S. R. vomMeer abgeschloffen ist, über D'Urban, Port Elisabeth undKapstadt, wird sich aber, nachdem die im Bau begriffene Eisenbahnvon der Delagoabai bereits bis zur Grenze (81 km) vollendet ist undjetzt nach Pretoria weitergeführt wird, zum großen Teilüber die portugiesische Kolonie richten. Telegraphenlinienbestehen zwischen Pretoria und Standerton, Heidelberg und Heilbronim Oranjefreistaat und von Pretoria nach den Kaap-Goldfeldern, imganzen 1116 km, im Bau sind 895 km. Das Land wird eingeteilt in 16von Landdrosten verwaltete Distrikte, an der Spitze steht ein auffünf Jahre gewählter Präsident, eine aus 46 vom Volkerwählten Mitgliedern bestehende Legislative hat dieGesetzgebung. Staatskirche ist die niederdeutsch-reformierte, dochsind alle Konfessionen geduldet. Die Staatseinnahmen fließenmeist aus direkten Steuern und Zöllen; dieselben betrugen1887: 668,433 Pfd. Sterl., die Ausgaben 721,073 Pfd. Sterl. Dieöffentliche Schuld beträgt 430,000 Pfd. Sterl., davon250,000 Pfd. Sterl. an die englische Krone; das Staatsvermögenbesteht in Ländereien im geschätzten Wert von mehrerenMillionen Pfund Sterling. Ein stehendes Heer gibt es nicht; imKriegsfall werden sämtliche Bürger aufgeboten. Hauptstadtist Pretoria.

Geschichte. Die Transvaalrepublik wurde gegründet durchholländische Buren, welche englische Mißwirtschaft ausder Kapkolonie zunächst nach Natal und dann von dort überdie Drakenberge trieb, wo sie 1848 die Oranjefluß-Republikund die anfänglich getrennten, aber 1852 durch Pretorius zurRepublik Transvaal vereinigten Freistaaten Potschefstroom,Zoutpansberg und Lydenburg bildeten. Diese Republik wurde indemselben Jahr von England anerkannt. Als aber das Transvaal mitPortugal in Unterhandlungen trat zum Zweck der Erbauung einerEisenbahn nach der Delagoabai, wodurch die Ausfuhr des Freistaatsvon Natal, über welchen sie den Weg nehmen mußte,abgelenkt worden wäre, benutzte England einen für dieBuren verderblichen Raubzug des Kaffernhäuptlings Sikukuni, um1877 das Transvaal zu annektieren unter dem Vorgeben, dadurch diechristliche Bevölkerung schützen zu wollen, in Wahrheitaber, um sich das bedrohte Handelsmonopol zu sichern. Die Protesteder Buren blieben unbeachtet. In dem nun folgenden Aufstanderlitten die Engländer bei ihrem Versuch, in das Gebiet derRepublik einzudringen bei Laings-Nek (24. Jan. 1881), am Ingogo (8.Febr.) und am Majubaberg (27. Febr.) empfindliche Niederlagen, sodaß England es vorzog, dem Land durch Vertrag vom 3. Aug.1881 seine Unabhängigkeit wiederzugeben. In der 1884abgeschlossenen Konvention nahm das Land den alten Namen"Südafrikanische Republik" wieder an. DieSouveränität der britischen Krone wurde wesentlichbeschränkt, indem nur Verträge und Verbindlichkeiten,welche die Republik mit einem Staat oder Volk (außer demOranjefreistaat) oder mit einem eingebornen Volksstamm einzugehenbeabsichtigt, der englischen Krone zur Genehmigung zu unterbreitensind. Als 1881 die im Westen der Republik neuentstandenenBurenfreistaaten Stellaland und Goschen sich bildeten, tratletzteres unter den Schutz der Südafrikanischen Republik, dochmußte derselbe auf einen von seiten Englands erhobenenProtest zurückgezogen werden. Zugleich proklamierte Englandsein Protektorat über das zwischen Transvaal und den deutschenBesitzungen an der Westküste Afrikas liegende Gebiet undüber einen Landstreifen nördlich von Transvaal, somit dieBuren nach diesen Seiten völlig einschließend. Und als1884 der Bu-

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Sudak - Südaustralien.

renfreistaat Nieuwe Republik entstand, wodurch die Buren einenWeg zum Indischen Ozean gewinnen wollten, annektierte England auchhier das sämtliche noch freie Land und nötigte die Buren,ihre Ansprüche auf die Meeresküste zurückzuziehen.Somit war die S. R. rings von englischem Gebiet umschlossen. Nurnach der Delagoabai blieb noch ein Weg durch portugiesischesGebiet, und hier ist denn auch bereits der Anfang zu einerEisenbahn gemacht worden, welcher das Innere der Republik mitdiesem Hafen verbinden soll (s. oben). Ein 1888 gemachter Versuch,die Burenrepublik in einem alle von Europäern gegründetenStaaten Südafrikas umfassenden Zollverband zu vereinigen,verlief ohne Ergebnis, vielmehr schlossen sich dieOranjefluß-Republik und die S. R. enger aneinander durcheinen Zollverband. Vgl. Jeppe, Die Transvaalsche Republik (Gotha1868); E. v. Weber, Vier Jahre in Südafrika 1871-75 (Leipz.1878,2 Bde.); Aylward, Transvaal of to-day (neue Ausg.,Lond. 1881);Roorda-Smit, Die Transvaalrepublik und ihre Entstehung (2. Aufl.,deutsch, Köln 1884); Nixon, Complete story of the Transvaal(Lond. 1885); Bellairs, The Transvaal war 1880-81 (das. 1885);Klössel, Die südafrikanischen Republiken (Leipz. 1888);Heitmann, Transvaal (das. 1888); Jeppe, Transvaal Book. Almanac for1887 (Maritzburg 1887); Merensky, Erinnerungen aus demMissionsleben in Südostafrika (Bielef. 1888).

Sudak (Ssudak), Flecken im russ. Gouvernement Taurien, amSchwarzen Meer und am Südabhang der Krimschen Berge, 40 km vonFeodosia, hat bedeutenden Exporthandel in Wein und getrocknetenFrüchten. Es war schon im 8. Jahrh. ein wichtiger Handelsplatzder Byzantiner und kam im 13. Jahrh. in den Besitz der Venezianer.1365 entrissen die Genuesen die Stadt den Venezianern und erbauteneine Festung, deren Überreste noch heute erkennbar sind. ZuEnde des 14. Jahrh. setzten sich die Türken hier fest, bisnach dem Untergang des krimschen Chanats die russische Herrschaftbegann. Eine gleichnamige deutsche Kolonie liegt 3 km entfernt.

Südamerika, s. Amerika.

Sudamina (lat.), Schweiß- oderHitzblätterchen, Schweißfriesel (s. Friesel).

Sudan (Nigritien, Nigerland), vom arabischenáswad, "schwarz", plur.: sud, der Teil des Binnenlandes vonNordafrika, welcher im N. von der Sahara begrenzt wird, imSüden bis an den Äquator, im W. bis an den Fuß derinnern Bergländer von Senegambien und Guinea, im O. bis an diezwischen Dar Fur und Kordofan liegende Wüste sowie bis an denFuß der abessinischen Gebirge reicht und etwa 16 Breiten- und36-40 Längengrade umfaßt (s. Karte "Ägypten etc.").S. begreift hiernach außer dem langen und breiten Thal desmittlern Nigerlaufs auch die östlich von letzterm untergleichen Breitengraden gelegenen sowie die im Süden bis an denÄquator sich erstreckenden Länder (Bambarra, Dschinni,Haussa, Bornu, Mandara, Baghirmi, Wadai, Dar Fur etc.). Dieägyptische Geschäftssprache bezeichnet mit Sudanland(Beled es= S.) insbesondere die Länder Dar Fur, Kordofan undSenaar. Vgl. Afrika und die einzelnen Länderartikel. S. ward1874 von den Ägyptern erobert und ägyptische Provinz.1881 aber erhob sich der Mahdi (s. d.) im S. und rißwährend des Aufstandes Arabi Paschas in Ägypten dieHerrschaft an sich. Ein Versuch der Ägypter unter HicksPascha, S. wiederzu erobern, endete mit der Vernichtung desägyptischen Heers bei Kaschgil (3. Nov. 1883). DieEngländer schickten darauf im Januar 1884 Gordon, derägyptischer Gouverneur Sudans gewesen war, nach S., um dieBevölkerung auf friedliche Weise wiederzugewinnen, sandtenaber gleichzeitig ägyptische Truppen unter Baker Pascha nachSuakin am Roten Meer, um von hier aus in S. einzudringen. Der ersteVersuch der Ägypter hatte ihre Niederlage am Teb (4. Febr.1884) gegen Osman Digma zur Folge. Nachgesandte englische Truppenunter General Graham siegten zwar über die Aufständischenbei Teb (29. Febr.) und bei Tamanieb (13. März) überOsman Digma, doch wurde der weitere Vormarsch ins Innereaufgegeben. Gordon richtete in Chartum durch gütlicheVerhandlungen nichts aus und wurde sogar von denAufständischen eingeschlossen. Die Engländer rücktenunter General Wolseley nilaufwärts vor, um ihn zu entsetzen,doch kamen sie zu spät: 26.Jan. 1885 wurde Chartum von denAnhängern des Mahdi erstürmt und Gordon getötet. Dieägyptische Regierung verzichtete nun auf die WiedereroberungSudans. Vgl. Nachtigal,Sahara und S. (Berl. u.Leipz. 1879-89, 3Bde.); James, The wild tribes of the Soudan (2. Aufl., Lond. 1884);Wilson u. Felkin, Uganda und der ägyptische S. (deutsch,Stuttg. 1883); Paulitschke, Die Sudanländer (Freiburg 1884);Buchta, Der S. unter ägyptischer Herrschaft (Leipz. 1888).

Sudation (lat.), das Schwitzen; Sudatorium, Schwitzbad,Schwitzkasten.

Südaustralien, britisch-austral. Kolonie, begreiftden ganzen mittlern Teil des Australkontinents (s. Karte"Australien") zwischen dem Indischen Ozean im Süden und demTimormeer im N., dem 129.° östl. L. v. Gr. im W. (gegenWestaustralien) und Queensland, Neusüdwales und Victoria im O.und besteht aus dem 983,655 qkm (17,864 QM.) großeneigentlichen S., das vom Südlichen Ozean bis zum 26.°südl. Br. reicht, und dem 1,356,120 qkm (24,628 QM.)großen Nordterritorium nördlich davon. Über dasletztere s. den betreffenden Artikel. Das eigentliche S. hat zweitief ins Land eindringende Meereseinschnitte: den Spencergolf undden Golf St. Vincent, gebildet durch die Halbinseln Eyria, York undKap Jervis; östlich von letzterm dringt auch die Encounterbai,in welche der Murray mündet, tiefer ein. Vor dem Vincentgolfliegt die große Känguruhinsel, die einzige bedeutendereder Küste. Vom Kap Jervis im Süden erstreckt sichnordwärts die MountLoftykette und daran anschließend dieFlinderskette (aus Sandstein, Schiefer und Kalkstein bestehend) mitden höchsten Erhebungen (nicht über 1000 m) des Landes.Nur auf diesen Bergen und in deren nächster Nachbarschaftsowie in dem schönen Mount Gambierdistrikt mit ausgestorbenenVulkanen, Basalt- und Tropfsteinhöhlen im SO. fällthinreichender Regen, um das Land genügend für denAckerbau zu befeuchten. Von Süden nach N. schwindet derselbemehr und mehr, auch gegen W. und O. zu herrscht großeDürre, die Gawlerberge auf der Eyriahalbinsel sind völligdürr und kahl. Beständig fließende Flüsse gibtes daher außer dem Murray, der die Kolonie im SO.durchfließt und vor seiner Mündung dieSüßwasserseen Alexandrina und Albert bildet, gar nicht,die zahlreichen Seen (Torrens, Eyre, Frome, Gairdner u. a.) sindnur schreckliche Salzsümpfe und ihre Nachbarschaft meisttraurige Wüste. Doch gibt es um den Eyresee zahlreiche zu Tagetretende Quellen in freilich unfruchtbarer Gegend, auch hat man inneuester Zeit durch Bohrungen große Waffervorräteerschlossen. Das Klima ist durchaus gesund, in Adelaide steigt dieTemperatur im Januar bis

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Südbrabant - Südcarolina.

45° C. und sinkt im August bis 2° C.; Gewitter,Hagelschlag und heftige Regengüsse sind namentlich im Sommerhäufig, dann machen sich auch die aus dem Innern wehendenglühenden Winde sehr zum Schaden der Vegetation bemerkbar. Dieeinheimische Pflanzen- und Tierwelt unterscheidet sich in nichtsvon denen des übrigen Australien. Die europäischenAnsiedler haben die Orange, Olive, den Pfirsich- und Feigenbaum,den Weinstock sowie Weizen, Gerste, Hafer, Kartoffeln u. a.eingeführt; namentlich zeichnet sich die Kolonie durch ihrenvorzüglichen Weizen aus, der nebst Mehl Absatz in Englandfindet, auch der Wein gewinnt jetzt dort Freunde. Von den 1,9 Mill.Hektar kultivierten Landes waren 1885 mit Wetzen bestellt 776,981Hektar, mit Wein bepflanzt 1836 Hektar. Infolge ihrer Trockenheiteignet sich die Kolonie vornehmlich für Schafzucht; manzählte 1884: 6,696,406 Schafe, 389,726 Rinder, 168,420 Pferdeund 163,807 Schweine. An Mineralien ist das Land reich. Diefrühern außerordentlichen Erträge von Kupfer(Kapunda, Wallaroo, Moonta, Blinman) haben zwar sehr nachgelassen,und die Bearbeitung der Silber-, Blei- und Eisengruben hat man ganzaufgegeben; dafür findet man Wismut und Gold, letzteres inneuester Zeit in der ganzen mittlern Gebirgskette vom Südenbis zum hohen Norden. Kohle aber hat man trotz eifriger Forschungenbis jetzt nirgends entdeckt, dieselbe muß aus Newcastle undNeusüdwales eingeführt werden. Die Bevölkerung(1887: 317,446, wovon 65,199 männlich, 52,247 weiblich) istfast ganz britisch; die Zahl der Deutschen, welche in derHauptstadt stark vertreten sind und eine Reihe ganz deutscherOrtschaften gegründet haben, wie Hahndorf, Lobethal, Tanundau. a., mag 30,000 betragen. Die der sehr zusammengeschmolzenenEingeborgen (s. Tafel "Ozeanische Völker", Fig. 1 u. 2),welche man 1836 noch auf 12,000 schätzte, wurde 1881 auf 5628ermittelt. Hinsichtlich der Religion folgen ihrer numerischenStärke nach aufeinander: Anglikaner, Katholiken, Wesleyaner,Lutheraner, Presbyterianer etc. Die Industrie entwickelt sichkräftig; nennenswert sind die Mahlmühlen (meist mitDampfbetrieb), Anstalten für den Bau landwirtschaftlicherMaschinen und Geräte, Gerbereien, Brauereien. Derauswärtige Handel geht zum allergrößten Teilüber den Hafen der Hauptstadt, Port Adelaide, dann überPort Augusta. Ausgeführt werden namentlich Wolle (1884für 2,6, 1887 nur für 2 Mill. Pfd. Sterl.), fernerWeizen, Mehl, Kupfer, Häute und Felle, Talg, Gerberrinde, imganzen 1884 für 6,6, 1887 nur für 5,3 Mill. Pfd. Sterl.Die Einfuhr (1887 nur 5,1 Mill. Pfd. Sterl.) besteht in Geweben,Eisenwaren, Thee, Zucker etc. Der Tonnengehalt der in allenHäfen der Kolonie ein- und ausgelaufenen Schiffe betrug1,677,833 Ton., die Kolonie besaß selber eine Handelsflottevon 230 Segelschiffen von 27,640 T. und 94 Dampfern von 10,890 T.Die Eisenbahnen hatten Ende 1887 eine Länge von 2272 km, dieTelegraphenlinien von 8756 km. Eine große Telegraphenlinieläuft von Adelaide quer durch den Kontinent nach Port Darwinim N. zum Anschluß an ein untermeerisches Kabel, wodurchAustralien in direkte Verbindung mit Europa gebracht wird; eineandre große Linie geht nach Westaustralien. Die Verfassungist der englischen nachgebildet; dem Gouverneur steht einverantwortliches Ministerium, Oberhaus und Unterhaus zur Seite. DieEinnahmen betrugen 1887: 2,014,102, die Ausgaben 2,145,135, dieSchuld der Kolonie 19,168,500 Pfd. Sterl. Für das Schulwesenwurde in jüngster Zeit viel gethan, und der Schulbesuch istziemlich allgemein; die höhern Schulen sind meistGründungen religiöser Gemeinden oder Privatanstalten. InAdelaide besteht eine Universität nach englischem Muster,öffentliche Bibliotheken sind an vielen Orten vorhanden; diePresse ist stark vertreten. Für die Verteidigung der Koloniebesteht ein Freiwilligenkorps, auch besitzt die Kolonie ein kleinesKriegsschiff. Vgl. Trollope, South Australia and West Australia(Lond. 1874); Harcus, South Australia (das. 1876); Stow, SouthAustralia (Adelaide 1883); Jung, Der Weltteil Australien, Bd. 2(Leipz. 1882).

Südbrabant, belg. Provinz, s. Brabant.

Sudbury (spr. ssöddberi), Stadt in der engl.Grafschaft Suffolk, am Stour, hat Seiden- und Samtweberei,Ziegelbrennerei, Malzdarren, eine Kornbörse und (1881) 6584Einw.

Südcarolina (South Carolina, abgekürzt S. C.),einer der südlichen Staaten der nordamerikan. Union, amAtlantischen Meer zwischen Nordcarolina und Georgia gelegen,zerfällt der Bodengestaltnng nach in drei scharf geschiedeneTeile: Unter-, Mittel- und Oberland. Das erstere, das sich von derSee aus etwa 130 km weit landeinwärts erstreckt, ist niedrigeEbene und besteht größtenteils aus Pine Barrens,unterbrochen von Sümpfen und Savannen; es gehören zu ihmdie sogen. Sea Islands, vom Festland durch Flußarmeabgetrennte Inseln. Das Mittelland, in der Breite von 50-70 km,besteht hauptsächlich aus Sandhügeln; das Oberlanddagegen, im W., ist ein ziemlich steil aufsteigendes romantischesHochland, aus dem sich die Berge der Blue Ridge bis zur Höhevon 1220 m erheben. Noch 60 Proz. des Staats sind bewaldet,vorwiegend mit Föhren. Die Hauptflüsse sind: der GreatPedee (Yadkin), Santee, Ashley, Edisto und Savannah, derGrenzfluß gegen Georgia. Die mittlere Jahrestemperatur bewegtsich zwischen 15 und 20° C., und es fallen 1200-1500 mm Regen.S. hat ein Areal von 78,616 qkm (1609,4 QM.) mit (1880) 995,577Einw., worunter 604,332 Farbige. Die Schulen wurden 1886 von183,966 Kindern besucht; 21 Proz. der über 10 Jahre altenWeißen und 78 Proz. der Farbigen sind des Schreibensunkundig. An höhern Bildungsanstalten bestehen 9 Colleges mit1075 Studenten. Die Landwirtschaft beschäftigt 76 Proz. derBevölkerung, und 1,677,330 Hektar sind der Kultur gewonnen.Gebaut werden namentlich Mais, Reis (an der Küste) und Hafer,Bataten, Baumwolle (1880: 522,548 Ballen) und Zucker. An Viehzählte man 1880: 61,000 Pferde, 67,000 Maultiere, 365,000Rinder, 119,000 Schafe und 628,000 Schweine. Die Fischereienbeschäftigten 1880: 1005 Personen mit 523 Booten. Gold wird imW. gewonnen, und auch Eisen, Kupfer und Blei kommen vor. Dagegenwerden Porzellanerde, Bausteine und namentlich Phosphorite inbedeutenden Mengen gewonnen, und die Herstellung eineskünstlichen Düngers aus denselben beschäftigte 1880:9059 Arbeiter. Wichtig ist noch die Gewinnung von Teer undTerpentin (4619 Arbeiter). Sonst ist die Industrie unbedeutend,doch gab es 1880 bereits 14 Baumwollfabriken mit 2018 Arbeitern.Der Staat besitzt (1886) 227 Seeschiffe von 12,806 Ton. Gehalt undein Eisenbahnnetz von 2772 km. Die alte Verfassung von 1775, eineder am wenigsten demokratischen, wurde 1868 durch eine neueersetzt, durch welche den Farbigen die Rechte von Bürgernverliehen wurden. Die gesetzgebende Gewalt wird ausgeübt voneiner General Assembly, welche aus einem Senat von 35 Mitgliedernund einem Repräsentantenhaus von 124 Mit-

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Süden - Südliches Kreuz.

gliedern besteht. Der Governor und die höhern Beamtenwerden auf 2 Jahre vom Volk gewählt. Die Richter ernennen derGovernor und die Assembly auf 6 Jahre. Die Einnahmen beliefen sich1885 auf 1,065,001 Dollar; die Staatsschuld betrug 1887: 6,399,742Doll. Hauptstadt ist Columbia, die bedeutendste Stadt aberCharleston. - S. bildete seit der Trennung von Nordcarolina 1729(s. Carolina) eine besondere Kolonie und schloß sich 1775 derErhebung gegen England an, nach deren Sieg es einen Staat der Unionbildete. Im Bürgerkrieg 1861-65 war S. einer der eifrigstenStaaten der Konföderation des Südens und war in derletzten Periode desselben 1865 Kriegsschauplatz. Die früherwohlgeordneten Finanzen wurden durch den Krieg und dienachfolgenden Wirren gänzlich zerrüttet, und dieStaatsschuld war 1875 zur angeblichen Höhe von 68 Mill. Mk.angewachsen, betrug jedoch thatsächlich noch weit mehr.

Süden, s. v. w. Mittag.

Suderode, Dorf im preuß. RegierungsbezirkMagdeburg, Kreis Aschersleben, bei Gernrode, am Nordfuß desHarzes und an der Linie Frose-Quedlinburg der PreußischenStaatsbahn gelegen, hat eine evang. Kirche, ein besuchtes Bad(Beringer Brunnen, s. d., 1887: 3364 Kurgäste) und (1885) 1189Einw. Vgl. Reinhardt, Bad S. (Suderode 1881).

Süderoog, eine der nordfriesischen Inseln imschleswigschen Wattenmeer, südwestlich von Pellworm.

Sudeten (sudetisches Gebirgssystem), im weitern Sinngeographische Bezeichnung einer Anzahl nach Form und geognostischerBeschaffenheit sehr verschiedener Gebirgszüge undGebirgsgruppen, die sich vom Elbdurchbruch an insüdöstlicher Richtung bis zu der Einsenkung erstrecken,welche das deutsche Bergland von den Karpathen trennt (s. Karte"Schlesien"). Die Längenachse dieser Gebirgsmasse beträgt340, die Breite 60-90 km. Die Kuppen und Hochkämme ragen zumTeil über die obere Grenze der Nadelholzregion (1230 m) hinausund zeigen hinsichtlich der Form der Gipfel und der Thalränderwie des Pflanzenwuchses alpinen Charakter, während dashügelige Vorland gut kultiviert ist. Dassüdöstlichste und ausgedehnteste Glied diesesGebirgssystem ist das Mährisch-Schlesische Gebirge, bestehendaus dem Mährisch-Schlesischen Gesenke (Gessénike),biszu 777 m Höhe, das zwischen Oder und Betschwa auch Odergebirgeheißt, als dem südöstlichsten, und demAltvatergebirge oder den S. im engern Sinn, im Altvater 1490 mhoch, als dem nordwestlichsten Teil. Vom Altvater breiten sich dieallmählich abfallenden Züge nach Süden und SO., N.und NW. gegen die Thäler der Oder und Oppa strahlenartig aus,indem die nördlichen Verzweigungen in der Bischofskuppe noch886 m hoch ansteigen, sich dann aber in das Tiefland der obern Oderverflachen. Nordwestlich streicht ein Querzug nach NO., derHunsrück, der nur eine kurze Strecke über 1000 m hoch istund steil gegen das Neißethal bei Neiße abfällt.In der Längenachse der Gebirgsmasse nach NW. streicht dasReichensteiner Gebirge, mit dem Jauersberg (882 m), bis zu demWarthaberg (619 m), wo das Durchbruchstal der Glatzer Neiße(280-290 m) diesen Gebirgszug begrenzt. Von dem Knotenpunkt desHunsrücks nach SW. zieht sich längs derböhmisch-schlesischen Grenze das Glatzer Schneegebirge, mitdem Großen oder Spieglitzer Schneeberg (1424), dann von demsüdlichen Ende der Grafschaft Glatz das HabelschwerdterGebirge, mit dem Kohlberg (963 m), nach NW., und von diesem durchdas Thal der Erlitz geschieden, laufen die BöhmischenKämme oder das Adlergebirge, mit der Hohen Mense (1085 m),beinahe parallel. Nördlich von letztgenannter Kuppe trennt eintief einschneidender Paß die an ihrem Nordende durch diesumpfige Hochfläche der Seefelder (784 m) verbundenenHabelschwerdter Gebirge und Böhmischen Kämme, zusammenauch Erlitzgebirge genannt, von dem scharf begrenztenSandsteinplateau der Heuscheuer, auf dessen bewaldeter, 750 m hoherFläche sich die Kuppe der Großen Heuscheuer (920 m)erhebt. Weiter nach NW. liegt ein andres zerklüftetesSandsteinplateau, das Adersbacher Gebirge (780 m). Von demDurchbruch der Neiße bei Wartha aber gegen NW. erstreckt sichin der Längenachse des südlichen Sudetenzugs dasEulengebirge, mit der Hohen Eule (1000 m), bis an die Weistritz,und aus dem nördlichen Vorland desselben steigt der Zobten(718 m) empor. Westlich von der Weistritz breitet sich eineBerglandschaft aus, die mit dem Gesamtnamen NiederschlesischesSteinkohlengebirge, in einzelnen Teilen auch Waldenburger undSchweidnitzer Gebirge benannt wird, im Hochwald 840, im Sattelwald778, im Heidelberg 954 m erreicht und im. W. in das bis zum Boberreichende Katzbachgebirge (Hohe Kullge 740 m) übergeht. Derbedeutend niedergedrückte und verbreiterte Hauptkamm ziehtsich nach NW. im Überschargebirge (640 m) bis an dieBoberquelle fort. Dann folgen von Süden nach N. sichaneinander reihend das Rabengebirge, der Schmiedeberger Kamm, mitdem Forstberg (982 m), und der Landeshuter Kamm, mit demFriesenstein (800 m), sämtlich mit breiten, dicht bewaldeten,abgerundeten Kuppen. Da, wo das Rabengebirge und der SchmiedebergerKamm bei den Grenzbauden zusammentreffen, beginnt dasRiesengebirge, das eigentliche Hochgebirge des Systems, mit der1603 m hohen Schneekoppe, dem südlich parallel derBöhmische Kamm (Brunnberg 1502 m) zieht, und an das sich imNW. das Isergebirge, mit der 1123 m hohen Tafelfichte,anschließt. Das Ende des ganzen Gebirgssystems bildet dasLausitzer Gebirge, im Jeschken 1013, in der Lausche 796 m hoch,welches sich links der Neiße und an dersächsisch-böhmischen Grenze hinzieht. Von diesem, als demletzten Gliede des ganzen Gebirgssystems, treten einzelneVorhöhen, darunter die vulkanische Landskrone (432 m) beiGörlitz, auf preußisches Gebiet über. Näheress. die einzelnen Artikel.

Südfall, eine der nordsriesischen Inseln imschleswigschen Wattenmeer, südöstlich von Pellworm.

Südfrüchte, aus Südeuropa, bez. Nordafrikafrisch, trocken oder eingemacht eingeführte, den dortigenLändern eigenartige Fruchtsorten, wie z. B. Apfelsinen,Zitronen, Datteln, Feigen, Traubenrosinen etc.

Sudhaus, der Teil einer Bierbrauerei, in welchem dieWürze gekocht wird.

Südhollaud, Provinz, s. Holland, S. 655.

Sudler, bei den Landsknechten (s. d.) der Koch; Sudlerin,die Marketenderin.

Südliche Krone, Sternbild, s. Krone, S. 248.

Südlicher Kontinent, s.Südpolarländer.

Südliches Dreieck, Sternbild der südlichenHemisphäre, zwischen Paradiesvogel, Altar, Lineal undWinkelmaß, Zirkel und Kentaur, nahe der Milchstraße,mit einem Stern zweiter, zwei dritter Größe.

Südliches Eismeer, s. Eismeer, S. 487.

Südliches Kreuz, kleines Sternbild dersüdlichen Halbkugel, im engsten Teil der Milchstraße,rechts neben der dunkeln Region des sogen. Kohlensacks, unweit desPols der Ekliptik gelegen. Es wird gebildet durch vier helleSterne, welche in den Ecken

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Südliches Kreuz (Orden) - Südpolarländer.

eines Vierecks stehen,dessen Diagonalen das Kreuz darstellen;der eine Arm des letztern, an dessen Ende der Hauptstern ersterGröße steht, ist länger als der andre (s. Figur).Schon Vespucci gedenkt desselben auf seiner dritten Reise (1501),und von Corsali (1517) wird es bereits als "Wunderkreuz"bezeichnet. Dante (im Eingang seines "Fegfeuers") kannte eswahrscheinlich aus arabischen Quellen. Das Sternbild istFlaggenzeichen der Deutschen Ostafrikanischen Gesellschaft (s.Tafel "Flaggen II"). Danach ist auch benannt der Orden vomsüdlichen Kreuz, höchster brasilischer Orden, gestiftet1. Dez. 1822 vom Kaiser Dom Pedro I. zur Erinnerung an seineBerufung auf den Thron und so benannt mit Anspielung auf diegeographische Lage des Reichs, in welchem sich das Sternbild dessüdlichen Kreuzes zeigt. Der Orden hat vier Klassen:Großkreuze, Dignitäre, Offiziere und Ritter. DieDekoration besteht in einem fünfarmigen, weißemaillierten Goldkreuz, durchwunden von einem Kranz aus Kaffee- undTabaksblättern, an einer goldenen Kaiserkrone hängend.Der goldene Mittelavers zeigt Dom Pedros Bild mit der Umschrift :"Petrus I., Brasiliae Imperator", der blaue Revers ein Kreuz aus 19Sternen mit der Umschrift: "Bene merentium Praemium". DieGroßkreuze, Dignitäre und Offiziere tragen das Kreuz undeine Plaque, bestehend aus dem Kreuz mit goldenen Strahlen zwischenden Armen, dem Mittelrevers und der Krone, die Dignitäre dasKreuz am Hals, die beiden letzten Klassen auf der Brust. Das Bandist himmelblau. Die Großkreuze sind Exzellenzen, denDignitären gebührt die Senhoria. Auch sind Pensionen mitdem Orden verknüpft.

Südlicht, s. Polarlicht.

Süd-Nordkanal, Kanal in der Provinz Hannover, derbedeutendste unter den neuen Anlagen in den Mooren auf der linkenEmsseite (Bourtanger Moor), zum Zweck der Kultivierung derselben.Er hat eine Länge von 71 km, eine Breite von 15,7 m und wirdzu beiden Seiten (wie der Ems-Vechtekanal) von Wegen begleitet. DerKanal verläßt bei Nordhorn den Ems-Vechtekanal und ziehtsich nach N. durch die großen Moore in geringer Entfernungvon der niederländischen Grenze bis Rhede, wo er sich mit demRhede-Bellingwolder Kanal verbindet und mit diesem zur Ems geht.Zahlreiche Seitenkanäle sind aus ihm in die Mooregeführt, auch mehrfach Verbindungen mit demniederländischen Kanalsystem hergestellt.

Sudogda (Ssudogda), Kreisstadt im russ. GouvernementWladimir, am Flusse S., mit (1885) 1987 Einw. Im Kreise sind 15Fabriken, welche Kristall- und Glaswaren liefern.

Sudorifera (lat.), s. Schweißtreibende Mittel.

Südpol, s. Pol und Magnetismus.

Südpolarexpeditionen, s.Südpolarländer.

Südpolarländer (antarktische Länder), allediejenigen Länder und Inseln, welche innerhalb oder in derNähe des südlichen Polarkreises liegen. Manche nehmen dasVorhandensein eines großen Festlandes oder antarktischenKontinents im S. an, andre bezweifeln die Existenz eines solchenund denken an größere oder kleinere Inselgruppen. Wasman bis jetzt entdeckt hat, ist folgendes:Südsüdöstlich von der Südspitze Amerikas liegenzwischen 63 1/2 und 65° südl. Br. Trinity- und Palmerland,1821 von Powell und Palmer entdeckt; weiter südlich in derBreite des Polarkreises das 1832 von Biscoe entdeckte Adelaiden-und Grahamsland und aus der Ostseite des Trinitylandes das 1838 vonDumont d'Urville entdeckte Louis-Philippeland nebst der InselJoinville. Von der schon 1599 von Dirk Gerrits gesehenen, aber erst1819 von W. Smith wirklich entdeckten Inselkette Südshetlandist jener Teil des antarktischen Landes durch dieBransfieldstraße geschieden. Südwestlich davon liegt dieAlexanderinsel und unter derselben Breite die hohe Peterinsel,beide 1821 von Bellingshausen entdeckt. Weiter westlich ist nurWasser und Eis, kein Land gesehen worden. Erst unter 170-160°östl. L. v. Gr. entdeckte James Clark Roß (1841-42) diehohe Küste eines schneebedeckten Landes, welches erVictorialand nannte, und welches zahlreiche Berge von 3000 bis 4000m Höhe trägt, darunter die Vulkane Erebus (3770 m),Terror (3318 m) und den 4570 m hohen Melbourne als höchstender gesehenen Gipfel. Zwischen 165-95° östl. L. v. Gr.,unter dem Polarkreis, verzeichneten Dumont d'Urville, Balleny undWilkes (1839-40) eine Reihe Inseln und unzusammenhängenderKüstenstrecken, die unter dem Namen Wilkeslandzusammengefaßt werden; einzelne Strecken sind:Adélieland, Clarieland, Sabrinaland, Knoxland,Terminationinsel. Weiter westlich von Wilkesland liegt Kemplandsowie das 1831 von Biscoe entdeckte Enderbyland, beideswahrscheinlich nur Inseln. Auch die schon weiter nördlichliegende, von Cook 1775 entdeckte, 1819 von Bellingshausenuntersuchte Sandwichgruppe, das ebenfalls von Cook untersuchte,schon 1675 von Laroche entdeckte Südgeorgien und die 1821 vonPalmer und Powell aufgefundenen, 1822 von Weddell besuchtenSüdorkneyinseln werden hierher gerechnet. Man schätzt dasAreal der S. auf 660,000 qkm (12,000 QM.). Falls ein antarktischerKontinent wirklich vorhanden ist, kann derselbe höchstens aneiner Stelle (Australien gegenüber) den 70. Breitengradwesentlich überschreiten und muß aus der atlantischenSeite weit von demselben entfernt bleiben. Hier erreichte Weddellim Februar 1823 unter 33° 20' westl. Länge in fasteisfreiem Meer die Breite von 74° 15'. - Die eisige Ödeder antarktischen Felseninseln beschränkt das Pflanzen- undTierleben fast ganz auf den Ozean; doch sind Klippen undBerghänge mit zahllosen Vögeln bedeckt. ThätigerVulkanismus tritt besonders im Bereich des Victorialandes ingroßartigster Weise auf. Die Temperaturbeobachtungen weisennaturgemäß auf die niedrige Sommerwärme und geringeWinterkälte eines durchaus ozeanischen Klimas hin. Seitdem dieChallenger-Expedition 1874 über den Polarkreis vordrang undDallmann 1873-74 Grahamsland untersuchte, und seit der Fahrt derGazelle (1874-75) ist die Erforschung der S. wiederholentlich vonDeutschland aus angeregt worden. Namentlich aber war man inAustralien dafür thätig, und die dortigen geographischenGesellschaften erlangten die Bewilligung einer namhaften Summedurch die dortigen Regierungen; da die englische Regierung aberihre Beihilfe versagte, so kam ein Unternehmen nicht zu stande.

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Südpreußen - Suetonius.

Südpreußen, ehemalige Provinz desKönigreichs Preußen, aus dem 1793 zu Preußengeschlagenen Teil Großpolens bestehend, umfaßte diefrühern Woiwodschaften Posen, Gnesen, Kalisch, Sieradz,Lentschiza, Rawa und Plozk, zusammen 60,570 qkm (1100 QM.) mit1,335,000 Einw. (s. "Geschichtskarte von Preußen"). 1795 kamnoch ein Teil der Erwerbungen der dritten polnischen Teilung mitWarschau hinzu. Im Frieden von Tilsit (1807) wurde S. zu demGroßherzogtum Warschau geschlagen, nach dessen AuflösungPreußen 1815 das jetzige Großherzogtum Posenzurückerhielt, der übrige größere Teil aber zuRußland kam. Vgl. Holsche, Geographie und Statistik vonWest-, Süd- und Neuostpreußen (Berl. 1804, 3 Bde.).

Südpunkt (Mittagspunkt), derjenige der beidenSchnittpunkte des Meridians mit dem Horizont, welcher demSüdpol näher liegt.

Sudra, die vierte und unterste Klasse in der altindischenKastenordnung, welche die verschiedenen Handwerker, Pachtbauern,Tagelöhner, Diener etc. umfaßte. In der Gegenwart gehendie S. in den Mischkasten auf, stehen jedoch noch innerhalb derKastenordnung. Sie bilden die große Mehrzahl des indischenVolkes, gelten auch den orthodoxen Hindu als rein, wohnen deswegeninnerhalb der Ortschaften, gehen aber nicht unter dem Namen S.,sondern unter den besondern Kastenbezeichnungen, die sich jede dervielen Gruppen der S. beilegte.

Sudsalz, das in den Salinen gewonnene Kochsalz imGegensatz zum Steinsalz.

Südsee, s. Stiller Ozean.

Südseegesellschaft, s. Handelskompanien, S.86.

Südseeinsulaner, die Bewohner der Inseln derSüdsee, die Polynesier, Mikronesier, Melanesier (s. Ozeanien,S. 584 ff.), welche eine Abteilung der großen malaiischenRasse bilden und (wahrscheinlich im 1. Jahrh. unsrer Zeitrechnung)von W. nach O. sich über alle Inselgruppen verbreiteten. Nachallem, was vorliegt, dürfen wir annehmen, daß in denSamoa- und Tongainseln der Ursitz dieser östlichen Abteilungder malaiischen Rasse nach ihrer Absonderung von der westlichen zusuchen ist. Von diesem Zentrum aus scheinen sie dann sämtlichepolynesische Inseln der Südsee bevölkert zu haben.

Südseeschwindel, s. Handelskrisis, S. 88.

Südseethee, s. Ilex.

Sudsha (Ssudsha), Kreisstadt im russ. Gouvernement Kursk,am Flusse S., mit (1885) 4979 Einw. In der NäheSandsteinbrüche.

Südslawen, Gruppe der slawischen Völker inSüdosteuropa. Dazu gehören die Slowenen in den OstalpenÖsterreichs, die Serben und Bosniaken, Kroaten, Slawonier unddie Bulgaren (s. Slawen und Slawische Sprachen).

Sudur (arab., Mehrzahl von Sadr, s. d.), Rangbezeichnungder hohen geistlichen Würdenträger im türkischenStaat.

Südwestinseln (Serwatty), eine zur niederländ.Residentschaft Amboina gehörige Inselgruppe des IndischenArchipels, erstreckt sich von den Kleinen Sundainseln und Timor anöstlich bis Timorlaut und umfaßt die größereInsel Wetter und die kleinern Kisser, Damma, Roma, Moa, Sermattan,Lakor, Baber u. a. mit einem Gesamtumfang von 5236 qkm (95 QM.) undetwa 47,000 Einw. (meist Malaien). Für den Handel liefern sieWachs, Schildpatt, Trepang, Sago, Holz.

Süd-Wilhelmskanal (Zuid-Willemsvaart), Kanal in denniederländ. Provinzen Nordbrabant und Limburg, 122 km lang,1822-26 gegraben, führt von Herzogenbusch über Helmondund Weert, dann durch belgisches Gebiet nach Maastricht. Zweigedieses Kanals sind: der Kanal nach Eindhoven und der Helenavaartnach den Fehnen des Peel.

Sue (spr. ssüh), Joseph Marie, genanntEugène, franz. Romandichter, geb. 10. Dez. 1804 zu Paris,machte als Militärarzt 1823 den Feldzug nach Spanien, dannmehrere Fahrten nach Amerika und Westindien mit, besuchte 1827Griechenland und nahm an der Schlacht bei Navarino teil. Hierauftrat er aus dem Militärdienst, um zur Malereiüberzugehen, veröffentlichte aber auf Zureden vonFreunden eine Romandichtung: "Kernock le pirate" (1830), ward durchden günstigen Erfolg des Buches veranlaßt, sich ganz derSchriftstellerei zu widmen, und wurde der Begründer desSeeromans in Frankreich. Nachdem er noch eine Reihe Werke in diesemGenre, besonders die unhistorischen "Histoire de la marinefrançaise" (1835-37, 5 Bde.) und "Histoire de la marinemilitaire chez tous les peuples" (1841), veröffentlicht,wandte er sich dem Sittenroman zu, wobei er sich besonders ingreller Ausmalung sittlichen Verderbnisses gefiel; so in den durchzahllose Übersetzungen verbreiteten "Mystères de Paris"(1842, 10 Bde.). Der beispiellose Erfolg dieses Produktsführte den Verfasser dem sozialen Roman zu. Hierhergehören: "Le Juif errant" (1845, 10 Bde.; von gleichem Erfolgwie die "Mystères"); "Martin, l'enfant trouvé" (1846,12 Bde.); "Les sept péchés capitaux" (1847 bis 1849,16 Bde.); "Les mystères du peuple" (1849, 16 Bde.), vor denAssisen in Paris als unmoralisch und aufrührerisch verurteilt;"La famille Jouffroy" (1854, 7 Bde.); "Les secrets de l'oreiller"(1858, 7 Bde.) u. a. 1850 zum Deputierten erwählt, hielt ersich zur äußersten Linken, wurde nach dem Staatsstreich1851 aus Frankreich verbannt und lebte seitdem zu Annecy inSavoyen, wo er 3. Aug. 1859 starb. Auch als dramatischer Dichterfür die Boulevardstheater hatte er sich versucht, doch ohnebesonderes Glück. Auf dem Gebiet des Romans hat S. in Bezugauf Phantasie, sprudelnde Erfindungskraft und Erzählertalentwenige Rivalen unter seinen Landsleuten. Seine Mittel sind zwarteilweise zu tadeln und sein Realismus oft mehr als derb; aberseiner unwiderstehlichen Macht, den Leser gefangen zu halten, kannman die Bewunderung doch nicht versagen.

Suecia, neulat. Name für Schweden.

Suedoise (franz., spr. sswedoahs'. "Schwedin"), eine inFrankreich sehr beliebte süße Speise ausApfelmarmelade.

Sues, Stadt, s. Suez.

Suessouer (Suessones), tapferes und mächtiges Volkin Gallia belgica, das über 50,000 Bewaffnete stellte, unddessen König Divitiacus vor Cäsars Zeiten dermächtigste unter den Fürsten Galliens war, bewohnte einenausgedehnten und fruchtbaren Landstrich zwischen Seine und Aisneund besaß zwölf Städte, unter welchen Noviodunum,später Augusta Suessonum (Soissons), die Hauptstadt war.

Suetonius, Gajus S. Tranquillus, röm.Geschichtschreiber, lebte um 70-140 n. Chr., widmete sich zu Romrhetorischen und grammatischen Studien, trat dann daselbst alsgerichtlicher Redner auf, ward unter Hadrian zum Magisterepistolarum ernannt, verlor aber diese Stelle wieder und scheintsich von nun an ausschließlich der schriftstellerischenThätigkeit gewidmet zu haben. Er verfaßte 120 die fastvollständig erhaltenen Biographien der zwölf Kaiser vonJulius Cäsar bis Domitian ("De vita Caesarum"), welche ineinfacher und klarer Sprache eine

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Sueven - Suezkanal.

Menge wertvoller Notizen über die betreffenden Kaiserenthalten. Außerdem besitzen wir noch Teile einer Schrift:"De grammaticis et rhetoribus" (hrsg. von Osann, Gieß. 1854),und Biographien des Terenz, Horaz, Lucanus (letztereunvollständig) sowie Reste einer Biographie des älternPlinius, alles wahrscheinlich Überreste einesgrößern von ihm verfaßten Werkes: "De virisillustribus". Von andern Schriften sind nur die Namen undunbedeutende Fragmente erhalten; die ebenfalls seinen Namenführenden Biographien des Vergilius und Persius sindwahrscheinlich unecht. Ausgaben lieferten Burmann (Amsterd. 1735, 2Bde.), Oudendorp (Leid. 1751), Ernesti (Leipz. 1748, 2. Aufl.1772), Wolf (das. 1802, 4 Bde.) und Roth (das. 1858); neuereÜbersetzungen Reichardt (Stuttg. 1855 ff.), Stahr (2. Aufl.,das. 1874, 2 Bde.) und Sarrazin (das. 1883, 2 Bde.). Des S.übrige Schriften außer den "Vitae" sind besondersherausgegeben von Reifferscheid (Leipz. 1860).

Sueven (Suevi), Name eines german. Völkerbundes,welcher wohl die im Osten der Elbe vorhandenen, weniger vonAckerbau als von Jagd und Viehzucht lebenden kriegerischen,wanderlustigen ("schweifenden") Stämme umfaßte,später Name eines einzelnen Volkes. Cäsar, welcher dienach Gallien eingedrungenen S. unter Ariovist 58 v. Chr. besiegthatte, begreift unter diesem Namen die hinter den Ubiern undSigambern wohnenden Germanen und berichtet, daß sie 100 Gauemit je 10,000 streitbaren Männern gezählt, aber sich beiseinem Rheinübergang weit, nach dem Wald Bacenis,zurückgezogen hätten. Sie sollen keine festen Wohnsitzegehabt haben, sondern alljährlich zum Teil auf kriegerischeUnternehmungen ausgezogen sein. Tacitus nennt das ganzeöstliche Germanien von der Donau bis zur Ostsee Suevia. DieHermunduren gelten ihm als das vorderste, die Semnonen als dasangesehenste, die Langobarden als das kühnste unter densuevischen Völkern. Der Dienst der Nerthus (Hertha) war allenS. gemeinschaftlich. Der Markomanne Marbod vereinigte suevischeVölker unter seinem Zepter, und noch später, zu MarcusAurelius' Zeiten, werden Markomannen und Quaden als S. bezeichnet.In der Zeit der Völkerwanderung beschränkte sich der NameS. auf die Semnonen. Ein Teil derselben nahm 406 an demVerwüstungszug des Radagaisus teil. 409 drangen sie dann mitden Vandalen und Alanen über die Pyrenäen nach Spanienvor und breiteten sich unter Rechila nach Süden überLusitanien und Bätica aus. Rechilas Sohn Rechiar verlor 456gegen den westgotischen König Theoderich II. Sieg und Leben,und sein Nachfolger Remismund wurde von Eurich zur Anerkennung derOberhoheit der Westgoten gezwungen. König Theodemir trat vomArianismus zum Katholizismus über. 585 ward das suevischeReich dem westgotischen einverleibt. In Deutschland hat sich derName S. in dem der Schwaben erhalten.

Suez (Sues), Stadt in Ägypten, an der Nordspitze desRoten Meers, welches hier in den Golf von S. ausläuft, an derMündung des Suezkanals (s. d.) in denselben und der EisenbahnKairo-Ismailia-S., mit (1882) 10,919 Einw., worunter 1183Ausländer. Die Stadt besteht aus dem arabischen Viertel unddem regelmäßig angelegten europäischen Viertel mitgroßen Warenlagern, Magazinen der Peninsular andOriental-Dampfergesellschast und einer vizeköniglichen Villa.Nordöstlich die Mündung des hier 2 m ü. M. liegendenSüßwasserkanals mit großem Schleusenwerk,nordwestlich ein großes englisches Hospital. Zu denHafenanlagen, welche in S. weit ins Meer hinausgebaut sind,führt ein 3 km langer Damm; auf diesem läuft dieEisenbahn zum Bassin der Kanalgesellschaft mit Leuchtturm und derStatue des Leutnants Waghorn. Das große Hafenbassin, PortIbrahim genannt, wird durch eine mächtige Mauer in den Kriegs-und den Handelshafen geschieden und kann 500 Schiffe fassen. DerHandel hat sich aber nicht hier konzentriert, sondern mehr nachPort Said und Alexandria gezogen, und S. ist mehr einDurchgangspunkt geblieben. 1886 betrug die Einfuhr 594,385, dieAusfuhr 42,697 ägyptische Pfund. Die Stadt ist Sitz einesdeutschen Konsuls. Wahrscheinlich steht S. auf der Stätte desalten Klysma, von den Arabern Quolzum genannt. Es war vor derEntdeckung des Seewegs nach Indien um das Kap als Hauptniederlageeuropäischer und indischer Waren ein blühender Platz,verfiel aber danach und zählte bei Beginn der Kanalbauten nur1500 Einw.

Suezkanal, Seekanal zur Verbindung desMittelländischen und des Roten Meers mittels Durchschneidungender nur 113 km breiten Landenge von S. (s. das Nebenkärtchenauf der Karte "Mittelmeerländer"). Dieser Kanal ist gleichsamvon der Natur vorgezeichnet, indem der Isthmus selbst nur als eineden Golf von S. fortsetzende Bodensenkung zu betrachten ist, die anihrer höchsten Stelle, bei El Gisr, nur 16 m ü. M. liegt,und deren Durchstechung durch drei Seen (Ballah-, Timsah- undBittersee) nochwesentlich erleichtert werden mußte. Bereitsim 14. Jahrh. v. Chr. wurde der Bau eines vom Nil zum Timsahsee undvon da zum Roten Meer führenden Kanals durch die beidengroßen Herrscher Sethos I. und Ramses II. ausgeführt, umihre Flotte aus dem einen ins andre Meer bringen zu können.Dieser Kanal (altägypt. ta tenat, "der Durchstich") gingwahrscheinlich durch Vernachlässigung zu Grunde, und erstgegen Ende des 7. Jahrh. v. Chr. unternahm es Necho (616-600), einSohn Psammetichs I., einen neuen Kanal vom Nil ins Rote Meer zubauen, der aber durch Orakelspruch (weil er nur den "Fremden"nützen würde) gehemmt wurde, nachdem sein Bau schon120,000 Menschen das Leben gekostet hatte. Erst Dareios Hystaspis(521-486) vollendete das Werk des Necho, welches unter denPtolemäern dann noch bedeutend verbessert wurde. Doch schon zuKleopatras Zeit war der Kanal teilweise wieder versandet, und wasunter den Römern, namentlich unter Kaiser Trajan (98-117 n.Chr.), für den Kanal geschah, scheint nicht von großerBedeutung gewesen zu sein. Nachdem die Araber Ägypten eroberthatten, war es Amr, der Feldherr des Kalifen Omar, welcher im 7.Jahrh. den Kanal von Kairo nach dem Roten Meer wiederherstellte undzu Getreidetransporten benutzte; im 8. Jahrh. aber war er schonwieder gänzlich unbrauchbar, und heute bezeichnen nur nochschwache Spuren das alte Werk, an dem einst Pharaonen, Perser,Ptolemäer, römische Kaiser und arabische Kalifen bauten.Das Verdienst, zuerst wieder auf die Vorteile eines maritimenKanals zwischen dem Mittel- und dem Roten Meer hingewiesen zuhaben, gebührt Leibniz, der in diesem Sinn 1671 an Ludwig XIV.schrieb. Bonaparte ließ gelegentlich seiner Expedition nachÄgypten 1798 durch den Ingenieur Lepère Vermessungenzum Bau eines direkten Kanals machen. Leider gelangte Lepèrezu dem schon damals als falsch bezeichneten Ergebnis, daß derSpiegel des Roten Meers 9,908 m höher liege als der desMittelmeers. Dies schreckte von weitern Versuchen ab. Als endlich1841 durch barometrische Messungen englischer Offiziere der Irrtumnachgewiesen werden war, versuchte Metternich 1843 vergeblich,Mehemed Ali dafür zu

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Suffeten - Suffolk.

interessieren, bis endlich 1854 Ferdinand v. Lesseps (s. d.) beidem Vizekönig Said Unterstützung fand. NachÜberwindung von mancherlei Schwierigkeiten erhielt dieserendlich 5. Jan. 1856 von der Pforte einen Ferman zur Konzession desKanalbaues und zur Bildung einer Aktiengesellschaft. DieseGesellschaft trat unter dem Namen Compagnie universelle du canalmaritime de Suez zusammen und erhielt ein Privilegium auf 99 Jahre,nach welcher Zeit der Kanal an Ägypten fällt. Am 25.April 1859 erfolgte zu Port Said, am Nordende des Kanals, der ersteSpatenstich. Das Maß der zu bewältigendenSchwierigkeiten war ein ungeheures. Alles Material, alle Werkzeuge,Maschinen, Kohlen, Eisen, jedes Stück Holz mußte ausEuropa geholt werden. 1862 waren von den 1800 Lastkamelen derKompanie allein 1600 zum täglichen Transport des Trinkwassersfür 25,000 Arbeiter in Anspruch genommen, so daß dietägliche Ausgabe für Trinkwasser 8000 Frank betrug. Eswar also vor allen Dingen erst nötig, denSüßwasserkanal zu vollenden, welcher vom Nil Trinkwassernach dem Isthmus führen sollte. Bei Sagasig zweigt derselbesich vom Nil ab, führt zunächst in östlicherRichtung nach Ismailia und von da südlich bis Suez;Schleusenwerke geben die Möglichkeit, ihm einegrößere oder geringere Wassermenge zuzuführen. Aufdem Spiegel erreicht er eine Breite von 17, am Grund von 8 m; dochist er nur 2 1/2 m im Durchschnitt tief. Seine Vollendung erfolgte29. Dez. 1863, wodurch eine Jahresausgabe von 3 Mill. Fr. erspartwurde. Mit Maschinenkräften, die bis 22,000 Pferdekräfterepräsentierten, wurde trotz mancher Unglücksfälle(Ausbruch der Cholera und darauf folgende Desertion sämtlicherArbeiter), trotz diplomatischer und finanzieller Schwierigkeitenrüstig weitergearbeitet, so daß schon 18. Nov. 1862 dieWasser des Mittelmeers in den Timsahsee einströmen konnten, zudessen Ausfüllung 80 Mill. cbm notwendig waren. Amnordwestlichen Gestade dieses Sees entstand die Residenz derKanalverwaltung, die Stadt Ismailia, zu welcher die neue Eisenbahnvon Kairo und Alexandria hingeführt wurde, während diealte Wüstenbahn Kairo-Suez aufgegeben ward. Am 18. März1869 erfolgte der Einlaß der Mittelmeerwasser in denBittersee, und 16. Nov. 1869 fand im Beisein vielerFürstlichkeiten und einer ungeheuern Schar geladenerEuropäer die Eröffnung des Kanals unter Festlichkeitenstatt, die dem Chedive 20 Mill. Fr. gekostet haben sollen. DieLänge des Kanals beträgt 160 km, die Breite amWasserspiegel 58-100 m, an der Sohle 22 m, die Tiefe 8 m. Erbeginnt am Mittelmeer bei Port Said mit zwei ungeheuern in das Meerhinausgebauten Molen von 2250 und 1600 m Länge, welche denVorhafen von Port Said bilden und den durch westlicheStrömungen herbeigeführten Nilschlamm abhalten. Der Kanaltritt dann in südlicher Richtung in den Menzalehsee ein, wo eran beiden Seiten von Dämmen eingerahmt ist, verläßtdenselben bei Kilometer 45 und erreicht die El Kantara genannteBodenerhebung, welche er durchschneidet, um 4 km weiter in denBallahsee einzutreten. Nachdem er aus diesem wieder ausgetreten,folgen die Stationen El Ferdane und El Gisr; dann tritt der Kanalin die weite, blaue Fläche des Timsahsees ein, an dessenNordwestende Ismailia liegt, und den er bei Tusûnverläßt, um die 16 km lange Felsenschwelle des Serapeumszu durchbrechen. Die nun bei Kilometer 95 folgenden Bitterseenbilden eine schöne, etwa 220 qkm großeWasserfläche, die rings von Wüsten umgeben und am Ein-und Austritt des Kanals mit Leuchttürmen versehen ist. Bei ElSchaluf, am Südende der Bitterseen , machen sich bereits Ebbeund Flut des Roten Meers bemerkbar, das bei Kilometer 156 erreichtwird. Südöstlich von der Stadt Suez ist die Kanalrinnenoch 4 km weit in das Meer geführt, um endlich bei 9 m Tiefedie Reede von Suez zu erreichen. Die Baukosten des Kanals beliefensich auf etwa 19 Mill. Pfd. Sterl., von denen 12,800,000 durchAktienzeichnungen aufgebracht wurden, während den Rest derChedive deckte. Letzterm kaufte England 1875 die übernommenen,noch unplacierten Aktien (177,602 Stück im Wert von 3,5 Mill.Pfd. Sterl.) ab. Bis Ende 1884 wurden mit Einschluß derVerbesserungen für den Kanal verausgabt 488 Mill. Fr., wogegendie Aktiva 76,7 Mill. Fr. betrugen. Die Einnahmen der Gesellschaftergaben 1872 zum erstenmal einen Überschuß von 2 Mill.Fr., der 1887 auf 29,7 Mill. Fr. stieg. Auch der Schiffsverkehrbeweist den vollständigen Erfolg des Unternehmens. Esbenutzten den Kanal 1887: 3137 Schiffe von 5,903,024Nettotonnengehalt, davon 2330 englische, 185 französische, 159holländische, 159 deutsche, 82 österreichisch-ungarische,138 italienische etc. Die Zahl der Reisenden betrug 182,998 mitEinschluß von Soldaten. Die Einnahmen bezifferten sich auf60,5, die Ausgaben auf 30,8 Mill. Fr. Was die Abkürzung derEntfernungen zwischen Europa und den östlichen Ländernbetrifft, so beträgt dieselbe für die Dampferfahrt nachBombay von Brindisi 37, von Triest 37, von Genua 32, von Marseiile31, von Bordeaux 24, von Liverpool 24, von London 24, von Amsterdam24, von Hamburg 24 Tage. Danach lassen sich die Zeitersparnisse inder Fahrt nach andern Häfen berechnen. Freilich ist auch inRücksicht zu ziehen, ob die zu transportierenden Waren denkostspieligen Kanalzoll (10 Fr. pro Tonne Nettogewicht) zu tragenvermögen. Manufakturen, Stahl, feine Metallwaren, Seide, Thee,Kaffee, Baumwolle etc. dürfen als unbedingt kanalfähigeGüter gelten, während eine lange Fracht vertragendeGüter vorteilhafter den Weg um das Kap nehmen. Vgl. Lesseps,Lettres, journal et documents à l'histoire du canal de Suez(Par. 1881, 5 Bde.); Volkmann, Der S. und seine Erweiterung (in"Kanäle", Berl.1886); Krukenberg, Die Durchflutung des Isthmusvon S. (Heidelb. 1888).

Suffeten ("Richter"), die obersten Magistratspersonen inKarthago (s. d., S. 566).

Sufficit (lat.), es genügt, reicht hin.

Suffisance (franz., spr. ssüffisängs),Selbstgefälligkeit, dünkelhafte Selbstgenügsamkeit;süffisant, gegenügend; selbstgefällig,eingebildet.

Suffix (lat.), Nachsilbe, am Ende eines Wortesangehängte Silbe; s. Flexion.

Suffizient (lat.), genügend, ausreichend.

Sufflenheim, Flecken im deutschen BewirkUnterelsaß, Kreis Hagenau, am Eberbach, hat Fabriken fürTöpferwaren und feuerfeste Steine, Bauholzhandel und (1885)3158 meist kath. Einwohner.

Suffocatio (lat.), Erstickung (s. d.).

Suffolk (spr. ssöffok), engl. Grafschaft, an derNordsee, 3820 qkm (69,4 QM.) groß mit (1881) 356,893 Einw.,ist im allgemeinen wellenförmig und meist sandig und verflachtsich nach der Küste, wo Strecken von Marschland vorkommen. Diebedeutendsten Flüsse sind: der Stour (Grenzfluß gegenEssex), Orwell, Wavenay (Grenzfluß gegen Norsolk) und Ousemit dem Lark. Ackerbau und Viehzucht stehen auf hoher Stufe. Manhält hier eine Rasse von ungehörnten Kühen, welcheungemein viel Milch geben; das Suf-

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Suffolk - Suggestion.

folkschaf gibt kurze, aber sehr feine Wolle. 63 Proz. derOberfläche sind unter dem Pflug, 18 Proz. bestehen aus Wiesen.1888 zählte man 41,534 Ackerpferde, 63,258 Rinder, 422,150Schafe und 130,887 Schweine. Im Bau landwirtschaftlicher Maschinenleistet S. Bedeutendes, andre Zweige der Industrie sind ohneBelang. Hauptstadt ist Ipswich.

Suffolk (spr. ssöffok), engl. Adelstitel, zuerst derFamilie Clifford als Grafen, seit dem 14. Jahrh. der Familie Poleals Herzöge von S. Der letzte aus diesem Haus ward 1513hingerichtet. Heinrich VIII. verlieh den Titel seinemGünstling Charles Brandon, dem Gemahl seiner Schwester Maria,dessen Schwiegersohn Henry Gray von Eduard VI. 1551 zum Herzog vonS. erhoben wurde. Derselbe ward nebst seiner Tochter Johanna Gray(s. Gray 1) 1554 enthauptet. Demnächst erhielt Lord ThomasHoward, Sohn des vierten Herzogs von Norfolk, der 1597 zum BaronHoward ernannt war, 1603 den Titel eines Grafen von S. Schon in demKampf gegen die unüberwindliche Flotte Philipps II. hatte ersich ausgezeichnet, unter Jakob I. wurde er 1603 Geheimrat und 1605Lord-Oberkämmerer, in welcher Eigenschaft er sich bei derEntdeckung der Pulververschwörung hervorthat. 1614-18 war erLord-Großschatzmeister, wurde aber 1618 entlassen, wegenBestechlichkeit angeklagt und in den Tower gesetzt, aus dem erjedoch nach einigen Tagen wieder befreit wurde. Er starb 1626. Seinzweiter Sohn wurde 1626 zum Grafen von Berkshire erhoben und istStammvater der jetzigen Grafen von S. und Berkshire;gegenwärtiger Chef des Hauses ist Charles John Howard, Grafvon S. und Berkshire, geb. 7. Nov. 1804.

Suffragan (lat.), jedes zu Sitz und Stimme (suffragium)berechtigte Mitglied eines Kollegiums von Geistlichen; insbesondereder (einem Erzbischof untergeordnete) Diözesanbischof.

Suffrage universel (franz., spr. ssüffrahschüniwersséll), s. Allgemeines Stimmrecht.

Suffragium (lat.), die Stimme, die der röm.Bürger in den Komitien (s. d.) oder als Richter inKriminalprozessen (judicia publica) abgab; auch die Abstimmung imganzen und das Stimmrecht selbst.

Suffrutex (lat.), s. Halbstrauch.

Suffusion (lat., Hyphämie), diffuse Blutunterlaufungvon größerer Ausdehnung in die Gewebsmaschen, wie sienamentlich unter der Haut bei Quetschungen, Schlägen mitstumpfen Instrumenten in seltenen Fällen spontan vorkommen, z.B. bei Blutfleckenkrankheit, Skorbut u. dgl.

Sûfismus (Sofismus), der Mystizismus derMohammedaner, nach welchem der Mensch ein Ausfluß (Emanation)Gottes ist und zur Wiedervereinigung mit demselbenzurückstrebt. Seine Anhänger heißen Sufi("Wollbekleidete"), da sie nach der Sitte der ersten Gründerim 3. Jahrh. nach Mohammed nur wollene Kleidung trugen, was aberheute nicht mehr der Fall ist. Die Sûfi unterscheiden dreiStationen in ihrem Orden: die der Methode, auf welcher der Moslemdie vorgeschriebenen Reinigungen und Gebete äußerlichvollbringt; die der Erkenntnis, auf der er erkennt, daß alleäußerliche Religionsübung keinen wahren Wert hat,und sich vielmehr dem Studium der heiligen sûfistischenSchriften und beschaulichem Versenken in die Gottheit widmet;endlich die der Gewißheit, auf welcher er sich als eins mitder Gottheit weiß und daher über alle Askese erhabenist. Als Stifter des S., der namentlich in Kleinasien und Persien,auch in Indien Ausbreitung fand, wird ein arabischer Perser ausIrak genannt; für seine bedeutendsten Vertreter gelten derpersische Dichter Dschelal eddin Rumi und Frerid eddin Attar ausNischabur wie auch die berühmten Dichter Hafis und Saadi. Vgl.Tholuck, S., sive Theosophia Persarum pantheistica (Berl. 1821);Kremer, Geschichte der herrschenden Ideen des Islams (Leipz. 1868);Palmer, Oriental mysticism (Lond. 1867); Gobineau, Les religions etles philosophes dans l'Asie Centrale (2. Aufl., Par. 1866).

Suganathal (Val Sugana),Flußthal der Brenta, soweitsie tirolisches Gebiet durchströmt, zieht sich von den Quellender Brenta ab über 50 km bis zur italienischen Grenze, wo esbei Tezze in eine wilde Schlucht übergeht, enthält dieSeen von Caldonazzo und Levico, hat südliche Vegetation, Wein-und Seidenkultur und ca. 70,000 Bewohner. Wichtige Orte sindPergine, Levico, Borgo und der Badeort Roncegno. Der Name wird vondem Volksstamm der Euganeer abgeleitet, welche hier angesiedeltwaren.

Sugatag (spr. schú-), Dorf im ungar. KomitatMarmaros, bei Marmaros-Sziget, mit großem Salinenwerk(jährliche Produktion 165,000 metr. Ztr. Salz). Vom Bergwerkführt eine 20 km lange schmalspurige Bahn nachMarmaros-Sziget.

Suger (spr. ssühsche), franz. Kirchenfürst undStaatsmann, geb. 1081 zu St.-Omer, seit 1122 Abt zu St.-Denis,hatte unter Ludwig VI. und Ludwig VII. bedeutenden Einflußauf das Staatswesen, verbesserte die Justiz, beförderteAckerbau, Handel und Gewerbe, begünstigte die Städte, warwährend Ludwigs VII. Kreuzzug 1147-49 Reichsregent, hob dieMacht des Königtums und starb 12. Jan. 1151. Er schrieb unteranderm: "Vita Ludovici VI." (hrsg. von Molinier, Par. 1887) und "Derebus in sua administratione gestis" (bei duch*esne, "Scriptores",Bd. 5). Sein Leben beschrieben Combes (Par. 1853) und Nettement (3.Aufl., das. 1868).

Suggerieren (lat.), einem etwas eingeben, ihnbeeinflussend zu etwas veranlassen.

Suggestion (franz., "Eingebung"), dieEinflößung bestimmter Vorstellungen in der Hypnose (s.Hypnotismus). Die Erfahrungen der letzten Jahre haben bewiesen,daß die geistige Beeinflussung der durch die Hypnotisierungihres selbständigen und logischen Denkens beraubten Personenviel weitere Ausdehnung zuläßt, als man bis dahingeneigt war, zu glauben, und daß dadurch erstaunlicheWirkungen erzielt werden können. Richet in Paris will einerDame von mittlern Jahren nacheinander suggeriert haben, sie seieine Bäuerin, eine Schauspielerin, ein alter General, einPrediger, eine Nonne, eine alte Frau, ein kleines Kind, ein jungerMann etc., und sie habe sich jedesmal der eingebildeten Rollegemäß betragen. In einem kürzlich zu Pforzheimverhandelten Prozeß handelte es sich um Personen, die in derkünstlich erregten Wahnvorstellung, Hunde zu sein, auf andregehetzt worden waren. Der bekannte Psycholog J. Delboeuf inLüttich hat einer Person sogar mit Erfolg vorgeredet, sie seiein geheizter eiserner Ofen oder eine brennende Petroleumlampe. DemTräumenden mangelt eben jede Logik und Fähigkeit, sichdurch eignes Denken einer gebieterischen Wahnvorstellung zuentreißen. Man begreift die Gefährlichkeit der Machteines gewissenlosen Hypnotiseurs über seine Opfer, und es sindbereits mehrere Fälle vor die Gerichte gekommen, in denenFrauen unter dem Vorgeben, mit ihrem Gatten zu verkehren,gemißbraucht oder zu schriftlichen Schenkungenveranlaßt worden sind. Es ist somit höchst bedenklich,sich ohne Beisein einer Vertrauensperson hypnotisierenzu lassen.Einige

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Suggestion mentale - Suifon.

forscher, namentlich Charkot in Paris, dem aber auchKrafft-Ebing in Graz, Obersteiner in Wien und andre deutscheAutoritäten in neuerer Zeit beigestimmt haben, gehen nochweiter und behaupten, es ließen sich durch S. Eindrückeaus Körper- und Gemütsleben hervorbringen, die überdie Hypnose hinauswirken und so Heilwirkungen,Charakteränderungen, erziehliche Einflüsse etc.befördern könnten. Krafft-Ebing will einer Person dieKörpertemperatur, die sie am nächsten Morgen zeigensollte, und ein französischer Arzt einer andern durch dieEingebung, sie werde mit glühendem Eisen gebrannt, sogarBrandblasen erzeugt haben. Auch zu persönlichen Angriffen,Verbrechen etc. nach der Hypnose soll durch S. ein Anstoßgegeben werden können. Diese Angaben bedürfen aber nochsorgfältiger Prüfung. Vgl. Obersteiner, Der Hypnotismusmit besonderer Berücksichtigung seiner klinischen undforensischen Bedeutung (Wien 1887); v. Krafft-Ebing, Eineexperimentelle Studie auf dem Gebiet des Hypnotismus (Stuttg.1888); Bernheim, Die S. und ihre Heilwirkung (Wien 1888).

Suggestion mentale (franz., spr.ssüggschestióng mang-tall), die angeblicheGedankenübertragung ohne Berührung; s. Gedankenlesen, S.990.

Suggestivfragen (eingebende Fragen), verfänglicheFragen des Richters an den Angeklagten oder an Zeugen, welche sogestellt werden, daß die von letztern erst anzugebendenThatsachen schon von dem Richter in die Frage hineingelegt werden;nach moderner Rechtsanschauung unstatthaft.

Sughlio, stark gewürzte Fleischbrühe, welchemit Weißwein statt Wasser bereitet wird, dient zum Kochen vonMaccaroni, Geflügel und Wild.

Sugillation (lat.), der Austritt von Blut in die Gewebenach Zerreißung kleinerer Gefäße. Der Ausdruck istaus den Worten sub ciliis ("unter den Augenlidern") entstanden undbedeutet ursprünglich als Succiliatio die so häufigen beiSchlägerei vorkommenden roten Flecke der Augenlider, welchespäter alle Regenbogenfarben durchmachen und in derVolkssprache schlechtweg als blaues Auge bekannt sind.

Suheir, arab. Dichter, s. Sohair.

Suhl (Suhla), Stadt im preuß. RegierungsbezirkErfurt, Kreis Schleusingen, an der Südseite des ThüringerWaldes im Thal der Hasel und an der Linie Plaue-Ritschenhausen derPreußischen Staatsbahn, 438 m ü. M., hat 2 evang.Kirchen, ein Amtsgericht, eine Oberförsterei, eineReichsbanknebenstelle und (1885) 10,602 meist evang. Einwohner.Hauptnahrungszweig derselben ist Eisenwaren- und Gewehrfabrikation,welch letztere seit Jahrhunderten in großem Ruf steht undnicht nur Kriegswaffen aller Art, sondern auch Jagdgewehre und dieverschiedensten Luxuswaffen liefert. Andre Gewerbe sind:Barchentweberei, Holzwaren-, Porzellan-, Lederfabrikation,Maschinenbau etc. Über der Stadt erhebt sich der Domberg mitdem Ottilienstein (520 m), einem aussichtsreichen Porphyrfelsen. S.wird urkundlich zuerst 1330 als Dorf erwähnt, das durch Kaufan die Grafen von Henneberg kam und 1527 Stadtrecht erhielt; seit1815 gehört es zu Preußen. Vgl. Werther, Chronik derStadt S. (Suhl 1846-47, 2 Bde.).

Suhle, morastige Vertiefung, in welche sich Rot- undSchwarzwild, besonders bei trocknem, heißem Wetter,niederlegt, um sich darin zu kühlen und vom Ungeziefer,namentlich den Hirschlausfliegen, zu reinigen. Der Hirschschlägt gewöhnlich zuerst mit dem Vorderlauf den Morastzu einer breiartigen Masse, legt sich dann hinein und wälztsich behaglich darin umher. Beim Austreten aus der S.schüttelt er sich den Schmutz ab und reibt (marlt) sich dabei,wie namentlich auch die Sauen, an Bäumen. In Revieren, inwelchen es an natürlichen Suhlen fehlt, schlägt manmuldenförmige Vertiefungen mit strengem Letten aus, damit dasdarin zusammenlaufende Wasser nicht in den Boden einsickernkann.

Suhler Weißkupfer, s. Nickellegierungen.

Suhm, Ulrich Friedrich von, Freund Friedrichs d.Gr., geb.29. April 1691 zu Dresden, studierte in Genf, kam 1720 alskursächsischer Gesandter an den Berliner Hof, trat hier mitdem damaligen Kronprinzen (Friedrich II.) in enge Verbindung undstand mit demselben auch nach seinem Abgang von Berlin (1730) nochin philosophischem Briefwechsel, der nach dem Tode des Königsunter dem Titel: "Correspondance familiaire deFrédéric II avec U. F. de S." (2 Bde.) erschien. 1737ward S. Gesandter am russischen Hof; er starb im November 1740.

Sühneverfahren, gerichtliches Verfahren zum Zweckder gütlichen Beilegung eines Rechtsstreits. Nach derdeutschen Zivilprozeßordnung (§ 268) kann das Gericht injeder Lage eines bürgerlichen Rechtsstreits die gütlicheBeilegung desselben oder einzelner Streitpunkte versuchen oder dieParteien zum Zweck des Sühneversuchs vor einen beauftragtenoder ersuchten Richter verweisen. Auch kann zum Zweck desSühneversuchs das persönliche Erscheinen der Parteien vorGericht angeordnet werden. In Ehesachen muß dem Verfahren vordem Landgericht in der Regel ein Sühnetermin vor demAmtsgericht vorhergehen, bei welchem der Ehemann seinen allgemeinenGerichtsstand hat. Die Parteien müssen zu diesemSühneversuch persönlich erscheinen (§ 570 ff.).Handelt es sich ferner um eine geringfügigere Rechtssache,welche im einzelrichterlichen Verfahren vor dem Amtsgericht zuverfolgen ist, so kann der Kläger zunächst seinen Gegnerzum Zweck eines Sühneversuchs vor das Amtsgericht ladenlassen. Kommt hier ein Vergleich nicht zu stande, so wird aufAntrag beider Parteien sofort zur Verhandlung des Rechtsstreitsgeschritten, indem alsdann die Klagerhebung durch denmündlichen Vortrag der Klage erfolgt (§ 471). Beieinfachen Beleidigungen ist nach der deutschenStrafprozeßordnung (§ 420) die Erhebung der Klage erstdann zulässig, wenn vor der zuständigenVergleichsbehörde die Sühne fruchtlos versucht wordenist. Hierüber hat der Kläger mit der Klage eineBescheinigung einzureichen. Die Vergleichsbehörde ist in denmeisten deutschen Staaten der Schiedsmann (s. d.), der auch diegütliche Beilegung von privatrechtlichen Streitigkeitenversuchen kann.

Suicidium (lat.), Selbstmord.

Suidas, griech. Lexikograph, um 970 n. Chr., Verfassereines Worterklärungen und Notizen (namentlich biographische)über die alten Schriftsteller enthaltenden lexikalischenWerkes. Eilig und ohne Kenntnis und Kritik aus älternWörterbüchern, Scholien und grammatischen Schriftenzusammengeschrieben, leidet es an zahlreichen schweren Mangeln undIrrtümern, ist aber dennoch durch die Fülle nur hiererhaltener Nachrichten besonders für die Litteraturgeschichtevon unschätzbarem Wert. Neuere Ausgaben besorgten Gaisford(Oxford 1834, 3 Bde.), Bernhardy (Halle 1834-53, 2 Bde.) und Beker(Berl. 1854). Vgl. Daub, De Suidae biographicorum origine et fide(Leipz. 1880).

Suifon (Suifun), Fluß im Südussuriland(ostsibirisches Küstengebiet), welcher in der Mandschureientspringt und sich im Sichota Alin durch eine Felsspalte in diePeters d. Gr.-Bai Bahn bricht. Die

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Sui juris - Suleiman Pascha.

Mündung des S. ist nur für Schiffe von 1,5 m Tiefgangzugänglich.

Sui juris (lat.), sein eigner Herr, mündig.

Suina (Schweine), Familie der paarzehigen Huftiere.

Suinter, s. v. w. Wollschweiß.

Suir (spr. schuhr), Fluß in Irland, entspringt inder Grafschaft Tipperary, fließt an Thurles, Caher, Carrickund Clonmel vorbei und vereinigt sich unterhalb Waterford mit demBarrow (s. d.).

Suite (franz., spr. sswiht), Folge, Gefolge, besondersvon Militärpersonen, welche den Landesherrn oder höhereVorgesetzte bei Besichtigungen begleiten; Offiziere, welche zuDienststellungen außerhalb der Truppe berufen sind, wie z. B.Lehrer an den Militärbildungsanstalten, werden "à las." ihres Truppenteils geführt, d. h. sie bleiben in dessenListen, bis ihre Wiedereinrangierung in denselben oder einen andernTruppenteil erfolgt. - In der Musik ist S. (Partie, Partita) eineder ältesten mehrsätzigen (cyklischen) Formen, die ihrenUrsprung in den Musikvorträgen der Kunstpfeifer hat, welcheschon im 16.-17. Jahrh. Tänze verschiedener Nationalität,kontrastierend in Tempo und Takt, aber in der Tonartzusammenstimmend, nacheinander vortrugen und eine solche FolgePartie benannten. Der Name und die Form wurden im 17. Jahrh. vonden deutschen Klavierkomponisten aufgegriffen, welche auch die inähnlicher Weise aus mehreren Stücken zusammengesetztenVariationen (Doubles) als Partie bezeichneten. Durch diese sowiedurch die Violinkomponisten (Corelli) wurden allmählich dieFormen der Tanzstücke erweitert, es begannen aber bald dieverschiedenen Teile durch überhandnehmende Figuration, wie sieder Violine gemaß war, ihre charakteristischen Merkmale zuverlieren, und es ist das Verdienst der französischenKlavierkomponisten (Couperin), die Rhythmik wieder schärferpräzisiert zu haben. Ihre letzte Ausbildung erfuhr dieKammersuite durch J. S. Bach. Neben den Tanzstücken fandenspäter auch die Introduktion, das Präludium, die Fuge,die Tokkata, der Marsch und das Thema mit Variationen Aufnahme indie S. In neuerer Zeit ist die S. auf volles Orchesterübertragen und zu großem Umfang ausgestaltet worden,besonders durch Franz Lachner, der in seinen Suiten großekontrapunktische Meisterleistungen hingestellt hat. Die viercharakteristischen Teile der ältern S. sind: Allemande,Courante, Sarabande und Gigue; wurden mehr Sätze eingeschoben(Intermezzi: Gavotte, Passepied, Branle, Bourrée, Menuett,auch Doubles über ein Tanzstück), so geschah das in derRegel zwischen Sarabande und Gigue. Selten erscheint eineingeschobener Satz vor der Sarabande. über den Charakter dereinzelnen Sätze s. die Spezialartikel.

Suiten (vulgär Schwieten gesprochen), mutwillige,lose Streiche; Suitier (Schwietjeh), Streichemacher, lustigerBruder.

Sujet (franz., spr. ssüscheh), s. v. w. Subjekt;Gegenstand, besonders Stoff einer Rede etc.

Sukkade (ital.), kandierte Schale verschiedenerCitrus-Arten, besonders Zitronat.

Sukkador, Holzart, s. Jacaranda.

Sukkuba (lat.), nach dem mittelalterlichen Volksglaubenein dem Inkubus (s. d.) ähnlicher weiblicher Nachtgeist (vgl.Alp).

Sukkulent (lat.), saftig, kraftvoll, nahrhaft; Sukkulenz,Saftfülle, Nahrhaftigkeit.

Sukkulenten (Succulentae), 1) Fettpflanzen, imallgemeinen alle Gewächse mit fetten, saftreichenBlättern oder mit sehr dicken, fleischigen, grünenStengeln mit rudimentären Blättern oder ganz ohne solche,daher die meisten aus den Familien der Krassulaceen, Kakteen,Mesembryanthemeen und den Gattungen Aloe, Agave etc. Dieoberirdischen Stengel dieser Pflanzen sterben meist nicht, wie dieder echten Kräuter, alljährlich ab, sondern dauern mitihren Blättern mehrere, oft viele Jahre. Sie könnenTrockenheit der Umgebung länger als andre Gewächseschadlos ertragen, weil ihre Transpiration äußerstgering ist, so daß ihr ungewöhnlicher Wasserreichtum inden voluminösen Organen zurückgehalten wird. -

2) (Opuntinae) Ordnung im natürlichen Pflanzensystem unterden Dikotyledonen, Choripetalen mit dicken, fleischigenBlättern oder, wenn diese nicht ausgebildet sind, mitfleischigem, kugeligem bis säulenförmigem oderzusammengedrücktem, grünem Stamm, die Blüten mitKelch- und Blumenblättern, welche, meist in großerAnzahl, bald in Quirlen, bald in Spiralen geordnet sind, ebensogestellten Staubgefäßen und unter-, selteneroberständigem Fruchtknoten mit meist wandständigerPlacenta, umfaßt die Familie der Kakteen und in einigenSystemen auch die der Mesembryanthemeen. S. Tafel "Kakteen".

Sukkumbeuzgeld, Buße, welche im bürgerlichenRechtsstreit der mit einem Rechtsmittel (Berufung, Revision etc.)Abgewiesene an die Staatskasse zu entrichten hat. Wopartikularrechtlich in Deutschland ein S. vorkam, ist es durch diedeutsche Zivilprozeßordnung beseitigt. Das französischeRecht kennt dagegen das S. in der Form eines Einsatzes, welchen derBeschwerdeführer an die Staatskasse verliert, wenn seineBeschwerde abgewiesen wird. Das S. bezweckt die Verhütung desleichtfertigen Gebrauchs von Rechtsmitteln.

Sukkumbieren (lat.), unterliegen, verlieren; Sukkumbenz,das Unterliegen.

Sukkurrieren (lat.), beispringen, zu Hilfe eilen.

Sukkurs (lat.), Hilfe, Beistand, Unterstützung;Sukkursale, Filiale eines Handlungshauses etc.

Sulamith (hebr., d. h. Mädchen aus Sulem oderSunem), die Braut im Hohenlied Salomos (7, 1).

Suleika, pers. Frauenname, unter welchem Goethe im"Westöstlichen Diwan" seine Freundin Marianne v. Willemer (s.d.) verherrlicht.

Suleiman, s. Soliman.

Suleimankette (Suleimankoh), Meridiangebirge imöstlichen Afghanistan, an der Grenze gegen Indien, erreicht imTakht i Suleiman 3441 m Höhe, geht im W. in ein Hochlandüber, fällt steil gegen Indien ab und ist von hier nur intief eingeriffenen, schwer zugänglichen Flußthälernzu übersteigen.

Suleiman Pascha, türk. General, geb. 1838 inThrakien, wurde in der Militärschule erzogen, trat 1854 in dieArmee, ward schon 1862 Kapitän und kämpfte mitAuszeichnung in Montenegro, wurde darauf als Bataillonskommandeurin die Kaisergarde versetzt und 1867 nach Kreta gesandt, wo ernamentlich bei Erstürmung des Bergs Rova ein hervorragendesstrategisches Talent entwickelte, und, nach Konstantinopelzurückgekehrt, Professor der Litteratur an der Kriegsschule.Er schrieb in dieser Zeit mehrere wissenschaftliche Werke,namentlich eine allgemeine Geschichte in drei Bänden und eineGrammatik der türkischen Sprache, kämpfte unter RedifPascha in Jemen, avancierte dann zum Generalmajor und Unterdirektorder Militärschule, endlich zum Direktor derselben, die er nacheuropäischem Muster erweiterte und verbesserte, und nahm ander Verschwörung zur Entthronung Abd ul Asis' teil. 1875zum

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Sulfat - Sulla.

Divisionsgeneral (Ferik) befördert, befehligte er imserbischen Krieg 1876 zuerst eine Division, dann ein Korps, nahmKnjaschewatz und die Höhen von Djunis und drang als einer derersten in Alexinatz ein. 1877 ward er zum Muschir undOberkommandanten von Bosnien und der Herzegowina ernannt,verproviantierte Nikschitz und rückte in Montenegro ein, wurdeaber im Juli, als die Russen in Rumelien eindrangen,zurückgerufen. Er warf dieselben bei Eski Zagra zurück,griff sie 21.-26. Aug. vergeblich im Schipkapaß an, wobei erseine vortreffliche Armee zu Grunde richtete, setzte auch imSeptember seine Angriffe hartnäckig fort, ward 2. Okt.Oberbefehlshaber der Donauarmee, richtete aber nichts aus und gingim Januar 1878 mit einem Teil derselben über den Balkanzurück. Bei Philippopel ward 16. und 17. Jan. sein Heervöllig zersprengt, S. im März zu Konstantinopel verhaftetund vor ein Kriegsgericht gestellt und 2. Dez. besonders wegenseines Verfahrens in Rumelien zur Degradation und zu 15 JahrenFestung verurteilt, aber vom Sultan begnadigt. Er starb 15. April1883. Vgl. Macrides, Procès de S. (Konstant. 1879).

Sulfat, s. v. w. schwefelsaures Natron; in derFärberei s. v. w. schwefelsaure Thonerde; Sulfate, s. v. w.Schwefelsäuresalze; z. B. Kaliumsulfat, schwefelsauresKali.

Sulfatofen, s. Soda, S. 1047.

Sulfide, s. Schwefelmetalle.

Sulfindigosäure, s. Indigo, S. 919.

Sulfite, s. v. w. Schwefligsäuresalze; z. B.Natriumsulfit, schwefligsaures Natron.

Sulfobasen, s. Schwefelmetalle.

Sulfocarbonate, s. Schwefelkohlenstoff.

Sulfocyan, s. v. w. Rhodan.

Sulfonal (Diäthylsulfondimethylmethan), einOxydationsprodukt einer Verbindung von Äthylmerkaptan mitAceton, bildet farb-, geruch- und geschmacklose, gut löslicheKristalle und kann als schlafbringendes Mittel dem Morphium undChloral an die Seite gestellt werden, ja es übertrifftdieselben in mancher Hinsicht, da es deren nachteilige Wirkung aufPuls, Atmung und Körpertemperatur nicht teilt. BeiSchlaflosigkeit durch Herzfehler, fieberhafte Krankheiten, welchedie Anwendung von Morphium oder Chloral ausschließen, leistetS. ausgezeichnete Dienste, ebenso besonders bei Schlaflosigkeit ausnervösen Ursachen, bei Geisteskrankheiten und bei Kindern. DerSchlaf tritt erst nach einer halben bis ganzen Stunde ein, aber erist tief, dauert 6-8 Stunden, und Nebenwirkungen, wie Kopfschmerzetc., treten selten ein.

Sulfopurpursäure, s. Indigo, S. 919.

Sulfosalze, s. Salze, S. 245, u. Schwefelmetalle.

Sulfosäuren, s. Säuren und Schwefelmetalle.

Sulfostannat, s. Zinnsulfide.

Sulfozon, mit schwefliger Säure imprägnierteSchwefelblumen, dient als Desinfektionsmittel und gegen Parasitenauf Pflanzen.

Sulfur (Sulphur, lat.), Schwefel; S. auratum Antimonii,S. stibiatum aurantiacum, Goldschwefel, s. Antimonsulfide; S.depuratum, gewaschene Schwefelblüte, s. Schwefel, S. 724; S.jodatum, Jodschwefel, aus 1 Teil Schwefel und 4 Teilen Jodzusammengeschmolzen; S. praecipitatum, Schwefelmilch, s. Schwefel,S. 725; S. stibiatum rubeum, Stibium sulfuratum rubeum,Mineralkermes, s. Antimonsulfide; S. sublimatum,Schwefelblumen.

Sulfüre, Sulfurete, s. Schwefelmetalle.

Sulfuröl, s. Olivenöl.

Sulina, der zweite Hauptmündungsarm der Donau (s.d., S. 54 u. 55). An der Südseite desselben liegt imrumänischen Kreis Tultscha (Dobrudscha) die Stadt S., mitLeuchtturm und 5000 Einw., Sitz eines Pilotenkorps, Freihafen (seit1879) und Hauptstationsort für die Dampsschiffahrt nachOdessa. S. wurde 8. Okt. 1877 von den Russen beschossen und argverwüstet.

Sulingen (Suhlingen), Flecken und Kreishauptort impreuß. Regierungsbezirk Hannover, hat eine evang. Kirche, einAmtsgericht, bedeutende Sensenfabrikation und (1885) 1645 Einw.Hier 3. Juni 1803 Konvention zwischen Franzosen undHannoveranern.

Sulioten, albanes. Volksstamm im Südendes PaschaliksJanina, dem alten Epirus, leitet seinen Ursprung von einer AnzahlFamilien ab, welche im 17. Jahrh. vor dem türkischen Druck inden Gebirgen von Suli in der Nähe der Stadt Parga eineZuflucht suchten. Sie bekennen sich zur griechisch-katholischenKirche und sprechen als Muttersprache das Griechische, zugleichaber auch das Albanesische. Neben Viehzucht und etwas Ackerbau warihr Hauptgewerbe das der Klephthen und Armatolen, worin sie sichvorzüglich durch List und Ausdauer hervorthaten; besondersgalten ihre Angriffe den benachbarten Türken, gegen derenÜbermacht sie bei einem einfachen, aber ausharrendenVerteidigungssystem geraume Zeit standhielten. Sie erlagen erst1803 und verließen nun ihre bisherigen Wohnsitze, indem sieerst nach Parga, dann, durch die Drohungen und Intrigen Ali Paschasauch von da vertrieben, nach den Ionischen Inseln sich wandten.Hier traten sie in den Militärdienst der verschiedenenMächte (Rußlands, Frankreichs, Englands), welche damalsnacheinander diese Inseln besaßen. Ali Pascha, 1820 in Janinavon den Türken unter Churschid Pascha eingeschlossen und vonden Albanesen verlassen, suchte bei den S. Hilfe und räumteihnen die Festung Kiagha ein. Die S. folgten seiner Einladung,gerieten aber durch den Übertritt der albanesischenHäuptlinge zu Churschid Pascha und den unglücklichenAusfall des im Sommer 1822 von Griechenland aus zu ihrerUnterstützung unternommenen Feldzugs in großeBedrängnis und mußten im September ihre Feste Suli denTürken einräumen. Gegen 3000 S. wurden damals aufenglischen Schiffen nach Kephalonia gebracht, während sich dieübrigen in die Gebirge zerstreuten. Viele von ihnenbeteiligten sich tapfer an dem griechischen Freiheitskampf undgelangten in Griechenland später zu Ansehen und Würden,so die Botzaris und Tzavellas. Vgl. Perräbos, Geschichte vonSuli und Parga (neugriech., Vened. 1815, 2 Bde.; engl., Lond.1823); Lüdemann, Der Suliotenkrieg (Leipz. 1825).

Sulkowski, eine aus Polen stammende, den AdelsfamilienLodzia und Sulima von Haus aus angehörige, seit 1752reichsfürstliche Familie in Posen undÖsterreichisch-Schlesien, blüht in den beiden Linien vonReisen und von Bielitz, welche beide vom Grafen, seit 1752Fürsten Alex. Jos. v. S. (gest. 1762) abstammen. Ersterergehörte an Anton Paul, Fürst S., geb. 31. Dez. 1785, dernach Poniatowskis Tod einige Zeit die Reste der polnischen Armeekommandierte und dann Generaladjutant des Kaisers Alexander I.ward; starb 13. April 1836. Ihm folgte sein Sohn August Anton,Fürst S., geb. 13. Dez. 1820, im Ordinat Reisen und in derGrafschaft Lissa, und nach dessen Tod (20. Nov. 1882) FürstAnton, geb. 6. Febr. 1844. Herzog von Bielitz ist gegenwärtigFürst Joseph S., geb. 2. Febr. 1848.

Sulla, 1) Lucius Cornelius, röm. Diktator, geb. 138v. Chr. als der Sprößling einer der Gens

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Süllberg - Sullivan.

Cornelia angehörigen patrizischen Familie, war nach einerteils in leichtsinnigen Vergnügungen, teils in litterarischenBeschäftigungen verbrachten Jugend 107 im JugurthinischenKrieg Quästor des Konsuls Marius und trug dadurch wesentlichzur glücklichen Beendigung des Kriegs bei, daß er denKönig Bocchus von Mauritanien durch geschickte Unterhandlungenzur Auslieferung des Jugurtha bewog. Er wurde darauf 93Prätor, und nachdem er sich im Marsischen Krieg alsFührer einer Abteilung des römischen Heers besondersausgezeichnet hatte, ward er für 88 zum Konsul erwähltund mit der Führung des (ersten) Mithridatischen Kriegsbeauftragt. Als er sich bereits nach Nola in Kampanien zu seinemHeer begeben hatte, wurde in Rom durch die Volkspartei unterFührung des Volkstribunen P. Sulpicius Rufus der Oberbefehl imMithridatischen Krieg Marius übertragen. S. kehrte daher ander Spitze seines Heers nach Rom zurück, schlug seine Gegnerund ächtete die hervorragendsten unter denselben, traf aucheinige Anordnungen, die dazu dienen sollten, die Ruhe in der Stadtzu sichern, widmete sich dann aber zunächst völlig derFührung des ihm aufgetragenen Kriegs, ohne sich um dieVorgänge in Rom zu bekümmern, wo sich seine Gegner baldunter den größten Grausamkeiten der Gewaltbemächtigten, Marius 86 zum siebentenmal Konsul wurde undgroße Heere gesammelt wurden, um den gefürchteten Kampfmit S. bestehen zu können. Als dieser den Krieg mitMithridates glücklich beendigt hatte (s. Mithridates), kehrteer an der Spitze von 40,000 Mann nach Italien zurück,überwand in einer Reihe von Schlachten seine Gegner, zuletztden jüngern Gajus Marius bei Sacriportus und einhauptsächlich aus Samnitern bestehendes Heer unter den Mauernvon Rom, und wurde dann 82 zum Diktator auf unbestimmte Zeiternannt. Als solcher suchte er zunächst seine Stellung zusichern, indem er eine große Menge seiner Gegnerproskribierte, d. h. ihre Namen durch Proskriptionslisten bekanntmachte und auf ihren Kopf einen Preis setzte, und indem er dieLändereien der in dem blutigen Bürgerkrieg Umgekommenenunter seine Veteranen verteilte und 10,000 Sklaven die Freiheitschenkte, die ihm als ihrem Patron gewissermaßen alsLeibwache dienten. Dann aber erließ er, hauptsächlich zudem Zweck, der Republik eine aristokratische Verfassungsform zugeben, eine Reihe von Gesetzen (Leges Corneliae), unter denen dieZurückgabe der Gerichte an den Senat und die Herabsetzung derMacht der Volkstribunen auf ihr ursprüngliches geringesMaß besonders hervorzuheben sind. Als er aber sein Zielerreicht zu haben glaubte (er liebte es, sein Gelingen nicht seinemVerdienst, sondern seinem Glück beizumessen, und ließsich daher gern den Glücklichen, Felix, nennen), legte er 79die Diktatur nieder und zog sich nach Puteoli zurück, wo er,ohne sich jedoch den öffentlichen Angelegenheiten völligzu entziehen, hauptsächlich seinem Vergnügen lebte, starbjedoch schon 78. Er schrieb in lateinischer SpracheDenkwürdigkeiten seines Lebens, deren letztes Buch seinFreigelassener Epicadus vollendet und die Plutarch in seinerBiographie des S. benutzt hat. Neuere Biographien liefertenZachariä (Heidelb. 1834) und Lau (Hamb. 1855).

2) Faustus Cornelius, Sohn des vorigen, geboren um 88 v. Chr.,diente im dritten Mithridatischen Krieg unter Pompejus und war dererste, der 63 die Mauern des Tempels von Jerusalem erstieg; 54bekleidete er die Quästur. Im Bürgerkrieg stand er aufseiten des Pompejus, mit dessen Tochter er verheiratet war. Nachder Schlacht bei Pharsalos floh er nach Afrika; nach der Schlachtbei Thapsos (46) fiel er in Cäsars Hände und ward vondessen Soldaten ermordet.

3) Publius Cornelius, Bruderssohn des Diktators S., ward 66 v.Chr. zum Konsul für das folgende Jahr gewählt, aber,bevor er sein Amt antrat, wegen Amtserschleichung (ambitus)angeklagt und verurteilt. Dann wurde er 62 wieder wegen Teilnahmean der Catilinarischen Verschwörung angeklagt, aber vonHortensius und Cicero verteidigt und freigesprochen. ImBürgerkrieg war er Legat Cäsars und befehligte beiPharsalos den rechten Flügel. Er starb 45.

Süllberg, s. Blankenese.

Sülldorf, Dorf im preuß. RegierungsbezirkMagdeburg, Kreis Wanzleben, hat eine evang. Kirche, eine Zucker-und eine Thonwarenfabrik, Kalk- und Ziegelbrennerei, ein Solbad und(1885) 1133 Einw.

Sulliv., bei naturwissenschaftl. Namen Abkürzungfür William S. Sullivant, geb. 1803 zu Franklinton, gest. 1873in Columbus (Bryolog).

Sullivan (spr. ssölliwän), 1) Timothy Daniel,irischer Politiker, geb. 1827 zu Bantry in der Grafschaft Cork,nahm als Herausgeber und Eigentümer der Zeitung "Nation" sowieandrer der irischen Nationalpartei als Organe dienenderZeitschriften an den politischen Kämpfen seiner Landsleute inden letzten Jahrzehnten hervorragenden Anteil. 1850-85 war erfür Westmeath Mitglied des Parlaments, welchen Sitz er 1885,für Dublin gewählt, seinem jüngern Bruder, Donal S.,überließ. 1886 wurde er Lord-Mayor von Dublin und 1887einstimmig wieder- und 1880-82 als Parlamentsmitglied fürMeath gewählt. Auch ein dritter Bruder, Alexander Martin S.,geb. 1830, seit 1855 Mitarbeiter an der "Nation", seit 1876Parlamentsmitglied für Louth und in demselben Jahr Lord-Mayorvon Dublin, seit 1876 irischer und seit 1877 englischerRechtsanwalt, gest. 17. Okt. 1884, hat in der irischen Partei einebedeutende Rolle gespielt.

2) Arthur, engl. Komponist, geb. 13. Mai 1842 zu London, warChorknabe in der königlichen Vokalkapelle, als er zumStipendiaten der Mendelssohn-Stiftung erwählt wurde (1856).Seine fernere musikalische Ausbildung erhielt er zunächst inder Royal Acaderny of music in London, wo besonders Bennett seinLehrer war, und 1858-61 am Konservatorium in Leipzig. Er wurdedarauf 1861 Nachfolger Bennetts als Kompositionsprofessor an derAkademie, 1876 Direktor der National training school for music inLondon und 1880 Vorstandsmitglied des Royal college of musicdaselbst. S. ist der hervorragendste unter den jüngernenglischen Komponisten, hat jedoch weniger originelleErfindungstraft als wohlgeschulte Gestaltungskunst. Seinebekanntesten Werke sind die Musik zu Shakespeares "Sturm","Kaufmann von Venedig" und "Heinrich VIII.", das Ballett"L'île enchantée" (1864), die Ouvertüren: "Thesapphire necklace" und "In memoriam", eine Symphonie in E dur, dieOratorien: "The light of the world", "The prodigal son" und "Themartyr of Antioch", mehrere Kantaten, Kammermusikstücke undKlavierkompositionen sowie zahlreiche Lieder und Operetten, wie:"Cox and Box" (1866), "The contrabandista", "Her Majesty's shipPinafore", "Jolanthe", "The pirates of Penzance". "The Mikado","The golden legend" (1887) u. a., die namentlich in England undAmerika großen Erfolg hatten. 1883 wurde S. von derKönigin in den Ritterstand erhoben.

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Süllö - Sulpicius.

Süllö, s. Sander.

Sully (spr. ssülli), Maximilian von Béthune,Baron von Rosny, Herzog von, franz. Staatsmann, geb. 13. Dez. 1560zu Rosny bei Nantes, ward in der reformierten Kirche erzogen undzugleich mit Heinrich von Navarra unterrichtet. Er nahm mitAuszeichnung an den Feldzügen des jungen Königs vonNavarra teil und kämpfte bei Coutras (1587) und bei Ivry(1590) mit. Ein strenger Calvinist, stolz und schroff, trat er auchseinem königlichen Freund, besonders seiner Verschwendung undAusschweifung, wiederholt mit Energie entgegen; doch vereinte beidebald wieder die gemeinsame Liebe zum Vaterland. Deswegen riet erauch 1593 Heinrich zur Annahme des Katholizismus, um denBürgerkrieg zu beendigen. 1597 an die Spitze der Finanzengestellt, tilgte er eine Staatsschuld von 200 Mill. Livres, erwarbden größten Teil der verschleuderten Domänenzurück, hob eine Menge überflüssiger Ämter auf,ordnete und vereinfachte das Steuerwesen, baute Straßen,führte die Seidenkultur und andre Erwerbszweige ein undbegünstigte den Ackerbau; diesen und die Viehzuchterklärte er für die Brüste, von denen Frankreichsich nähre. Seit 1601 auch Großmeister der Artillerieund Oberaufseher über alle Befestigungen des Landes, stellteer in kurzem die öffentliche Ruhe wieder her, namentlich durchVernichtung vieler Räuberbanden. Auf Heinrichs Zug nachSavoyen (1600) eroberte S. die für unüberwindlichgehaltenen Festungen Montmelian und Bourg. Nach dem Friedenübernahm er unter dem Titel eines erblichen Kapitäns derHäfen, Flüsse und Kanäle das Departement deröffentlichen Bauten, hob Zölle auf, erklärte denGetreidehandel für frei, legte Kanäle an und leistete indieser Stellung viel für Verbesserung der Kommunikationsmitteldes Landes. Zugleich leitete er auch die auswärtigenVerhandlungen. 1604 wurde er zum Gouverneur von Poitou und 1606für sein Gut Sully an der Loire zum erblichen Herzog ernannt.Dabei erwarb er für sich selbst ein bedeutendes Vermögen.Nach der Ermordung Heinrichs IV. (14. Mai 1610) ward er seinerStellung am Hof entbunden und von diesem auf sein Schloß S.verwiesen; doch bediente sich auch Ludwig XIII. öfters seinesRats und ernannte ihn 1634 zum Marschall; er starb 21. Dez. 1641.Wichtig für die Geschichte seiner Zeit, obwohl nicht durchauszuverlässig, sind seine in Stil und Form ungenießbaren"Memoires" (Amsterd. 1634, 2 Bde.; 2 Supplementbände 1662),die vom Abbé L'Ecluse (das. 1745, 8 Bde.) modernisiert, aberauch sehr verändert und gefälscht wurden. Vgl. diebiographischen Schriften von Legouvé (Par. 1873), Gourdault(3. Aufl., Tours 1877), Bouvet de Cresse (das. 1878), Dussieux(Par. 1887) und Chailley (das. 1888); Ritter, Die Memoiren Sullys(Münch. 1871).

Sully - Prudhomme (spr. ssülli-prüdómm),Rene Francois Armand, franz. Dichter, geb. 16. März 1839 zuParis, wurde nach dem frühen Tod seines Vaters von einemOheim, dem Notar Sully, an Kindes Statt angenommen, widmete sichdem Studium der Rechtswissenschaft, lebte dann aber ganz seinenlitterarischen Neigungen und veröffentlichte 1865 seine erstenGedichte: "Stances et poèmes", die das Glück hatten,von Sainte-Beuve bemerkt zu werden, der namentlich auf das formellvollendete und eine tiefe Innigkeit des Gefühls bekundendeGedicht "Le vase brise" aufmerksam machte. Als weitere Sammlungenfolgten: "Les épreuves", "Les écuries d'Augias","Croquis italiens", "Les solitudes", "Impressions de la guerre","Les destins", "Les vaines tendresses", "La France" (Sonette), "Larevolte des fleurs" u. a. S. ist in diesen Dichtungen den Idealenseiner Jugend treu geblieben; die Reinheit, die ihn kennzeichnete,die Tiefe der Empfindung, der Adel des Gedankens wurden nie durchMißklänge getrübt, und die philosophierendeRichtung, die in seinen letzten Werken den Vorrang behauptet, hatin ihrem Streben nach Aussöhnung zwischen einer schmerzvollenWirklichkeit und einer höhern Gerechtigkeit ebenfalls etwasWohltuendes. S. schrieb außerdem ein Lehrgedicht: "LaJustice" (1878), übersetzte den Lukrez (neue Ausg. 1886) undveröffentlichte ein kunsthistorisches Werk: "L'expression dansles beaux arts". Seine "OEuvres complètes" erschienen1882-88 in 5 Bänden. Seit 1881 ist S. Mitglied derfranzösischen Akademie.

Sully sur Loire (spr. ssülli ssürr loahr),Stadt im franz. Departement Loiret, Arrondissem*nt Gien, an derLoire und der Eisenbahn von Argent nach Beaune la Rolande, hat einschönes Schloß (mit Statue Sullys, der hier 1604-41wohnte) und (1881) 2037 Einw.

Sulmirschütz (Sulmirzyce), Stadt im preuß.Regierungsbezirk Posen, Kreis Adelnau, hat (1885) 3130 meist kath.Einwohner.

Sulmo, Stadt, s. Solmona.

Sulphur (lat.), s. Sulfur.

Sulpicia, röm. Dichterinnen: 1) S., s. Tibullus;

2) S., unter Domitian lebende Verfasserin von erotischenGedichten, die bis auf wenige Reste verloren sind; eine ihren Namentragende "Satira" von 70 Versen, eine ziemlich frostige Betrachtungder traurigen Lage der Gelehrten unter Domitian, ist ein ihruntergeschobenes Machwerk aus spätrömischer Zeit (hrsg.von Bährens in "De Sulpiciae quae vocatur satira. Jena 1873,und in den "Poetae latini minores", Bd. 5, Leipz. 1883; auchhäufig in Verbindung mit Persius und Juvenal).

Sulpicius, angesehenes röm. Geschlecht, aus mehrerenFamilien mit verschiedenen Beinamen (Camerinus, Galba, Gallus,Longus, Paterculus Peticus, Prätextatus, Rufus und Saverrio)bestehend. Publius S. Galba befehligte 210 v. Chr. und in denfolgenden Jahren die gegen König Philipp III. von Makedonien,den Verbündeten Hannibals, ausgesandte Flotte und führteals Konsul 200 und dann auch noch einen Teil des Jahrs 199 gegendenselben Philipp den Oberbefehl. Servius S. Galba erlitt 151 alsPrätor eine Niederlage in Lusitanien, ließ im folgendenJahr viele tausend Lusitanier niederhauen, nachdem er sie unter derVorspiegelung, ihnen fruchtbare Ländereien anzuweisen, zurErgebung verlockt hatte, wurde deshalb 149 angeklagt, wandte aberdurch seine Beredsamkeit die Verurteilung von sich ab. 144bekleidete er das Konsulat. Sein gleichnamiger Enkel war einer derVerschwornen gegen Cäsar und wurde nebst den übrigenMördern Cäsars 43 von Oktavian geächtet; er ist derUrgroßvater des Kaisers Galba. Publius S. Rufus, geb. 124,wird von Cicero als Redner gerühmt, zeichnete sich 89 imBundesgenossenkrieg durch die Unterwerfung der Marruciner auch alsFeldherr aus und wurde für das Jahr 88 zum Volkstribunerwählt. Sein Gesetzvorschlag, die mit dem Bürgerrechtausgestatteten Bundesgenossen in alle Tribus zu verteilen, fand aufseiten der von den Konsuln Sulla und Quintus Pompejus Rufusgeführten Optimatenpartei den heftigsten Widerstand. Hierdurchwurde er bewogen, sich an Gajus Marius anzuschließen, undbrachte daher ein Gesetz durch, daß der Oberbefehl gegenMithridates

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Sultan - Sulze.

von Sulla (s. d. 1) auf Marius übertragen werden sollte.Sulla aber schlug seine Gegner innerhalb der Mauern Roms undächtete die vornehmsten derselben, darunter auch S., der aufseiner Villa entdeckt und getötet wurde. Der Sklave, der ihnverraten, ward von Sulla zwar freigelassen, aber darauf vomTarpejischen Felsen gestürzt.

Sultan (arab., "Herr, Mächtiger"), gewöhnlicherTitel mohammedan. Herrscher im Orient, besonders des osmanischenReichs. Auch den Frauen der Sultane wird der Titel Sultaninbeigelegt, in der Türkei aber nur der wirklichen Gemahlin desSultans sowie seinen Töchtern, welche Chanimsultaninnen("Frauen von Geblüt") genannt werden. Die Mutter desGroßherrn heißt Walide S.

Sultanabad, Hauptstadt der pers. Provinz Irak Adschmi,1844 m ü. M., wurde erst zu Anfang dieses Jahrhunderisgegründet, hat die Form eines Rechtecks, durch zahlreicheTürme verstärkte Mauern und treibt lebhaften Handel mitTeppichen, von denen die meisten nach Europa gehen; der Wert dieserAusfuhr belief sich 1877 auf 1,600,000 Mk.

Sultanshuhn, s. Purpurhuhn.

Sultepec, Bergwerksort im mexikan. Staat Mexiko, 2340 mü. M., in engem Thal, mit (1880) 7613 Einw. Dabei kamen Gold,Silber, Kupfer, Eisen, Blei, Zinn, Antimon, Zinnober und andreMetalle vor.

Sulu (Joloinseln), eine Gruppe kleiner gebirgiger, aberfruchtbarer Inseln im Ostindischen Archipel zwischen derNordostspitze von Borneo und der Südwestspitze von Mindanao,2456 qkm (45 QM.) groß mit 75,000 malaiischen Bewohnern, diesich zum Islam bekennen und früher als kühneSeeräuber weithin berüchtigt waren. Trotzdem sie mehrmalsdurch französische, spanische und niederländischeSchiffe, auch vom Radscha Brooke von Borneo, schwer gezüchtigtwurden, hörten ihre Seeräubereien nicht auf, bis Spanienvon den Philippinen aus 1876 die Hauptinsel S. besetzte und denganzen Archipel dem Generalkapitanat der Philippinen einverleibte.Das Recht Spaniens auf den Archipel wurde auch 1885vertragsmäßig von Deutschland und England anerkannt.Seitdem bilden das Einsammeln eßbarer Vogelnester und diePerlenfischerei die ergiebigste Einnahmequelle der Insulaner, derengeringer Handel fast ganz in den Händen von Chinesen ausManila ruht. Die Stadt S. wurde bei ihrer Einnahme 1876 durch dieSpanier niedergebrannt, aber von spanischen Genieoffizieren neuaufgebaut und durch Sträflingsarbeit befestigt. Nach demArchipel führt der südlich bis Celebes sich erstreckendeMeeresteil den Namen Sulusee. S. Karte "Hinterindien".

Sulz, 1) Oberamtsstadt im württemberg.Schwarzwaldkreis, am Neckar und an der Linie Plochingen-Villingender Württembergischen Staatsbahn, 427 m ü. M., hat eineevang. Kirche, ein Amtsgericht, ein Hauptsteuer- und einKameralamt, eine Saline, ein Solbad und (1885) 1895 meist evang.Einwohner. -

2) (Obersulz, franz. Soultz) Stadt und Kantonshauptort imdeutschen Bezirk Oberelsaß, Kreis Gebweiler, an der EisenbahnGebweiler-Lautenbach, hat eine alte kath. Kirche, ein Amtsgericht,eine Oberförsterei, Seidenspinnerei, Seiden- undBaumwollweberei, Eisengießerei und (1885) 4511 meist kath.Einwohner. Westlich der 1432 m hohe Sulzer Belchen, derhöchste Gipfel der Vogesen. -

3) (S. unterm Wald) Stadt und Kantonshauptort im deutschenBezirk Unterelsaß, Kreis Weißenburg, an der EisenbahnStraßburg-Weißenburg, hat eine evangelische und einekath. Kirche, ein Amtsgericht, Bergbau auf Petroleum, Asphalt undEisen, eine Petroleumraffinerie, Hopfenbau und (1885) 1566 Einw.-

4) Bad, s. Schongau.

Sülz, Dorf im preuß. Regierungsbezirk undLandkreis Köln, 2 km südwestlich von Köln, hatSpinnerei, Fabrikation von Maschinen, Goldleisten,Buchdruckerschwärze, Bürsten und Lack, Ziegelbrennereiund (1885) 2496 Einw.

Sulza (Stadtsulza), Stadt im sachsen-weimar.Verwaltungsbezirk Weimar II (Apolda), an der Ilm, Knotenpunkt derLinie Neudietendorf-Weißenfels der PreußischenStaatsbahn und der Eisenbahn Straußfurt-Großheringen,134 m ü. M., hat eine evang. Kirche, eine Baugewerkschule, einbesuchtes Solbad (1887: 2225 Kurgäste), Wollwarenfabrikationund (1885) 2105 Einw. Dabei die zu Meiningen gehörige SalineNeusulza mit drei Gradierwerken. Vgl. Rost, Führer undRatgeber durch Bad S. (Sulza 188l).

Sulzbach, 1) Bezirksamtsstadt im bayr. RegierungsbezirkOberpfalz, an der Linie Nürnberg-Furth i. W., 400 m ü.M., hat 3 Kirchen, ein Schloß (jetzt Gefängnis fürweibliche Sträflinge), ein Amtsgericht, starken Hopfenbau und(1885) mit der Garnison (ein Infanteriebataillon Nr. 6) 4670 meistkath. Einwohner. In der Nähe die Wallfahrtskirche Annaberg,zahlreiche Eisensteingruben und ein großesEisenhüttenwerk. Das ehemalige gleichnamige deutscheFürstentum, dessen Hauptstadt S. war, und das 1028 qkm (19QM.) mit 32,000 Einw. umfaßte, erscheint am Ende des 11.Jahrh. als Grafschaft, kam 1305 an Bayern und fiel dann mit derOberpfalz an die Pfalz. Die Pfalzgrafen von S. waren eineNebenlinie derer von Pfalz-Neuburg (seit 1614) und folgten unterKarl Theodor 1742 in der Kurpfalz, 1777 in Bayern (vgl. Pfalz, S.933). -

2) Flecken im württemberg. Neckarkreis, Oberamt Backnang,an der Murr und der Linie Waiblingen-Hessenthal derWürttembergischen Staatsbahn, 260 m ü. M., zur GrafschaftLöwenstein gehörig, hat eine evang. Kirche, einSchloß (Lautereck), Gerberei, Schuhmacherei, Holzhandel,Viehzucht und (1885) 2660 Einw. -

3) Dorf im deutschen Bezirk Oberelsaß, Kreis Kolmar, ineinem Thal der Vogesen, hat eine kath. Kirche, eine Mineralquellemit Bad und (1885) 756 Einw. -

4) Dorf im preuß. Regierungsbezirk Trier, KreisSaarbrücken, an der Linie Wellesweiler-Saarbrücken derPreußischen Staatsbahn und einer Industriebahn, hat eineevangelische und eine kath. Kirche, ein Amtsgericht, eineSteinkohlengrube, Eisenerzbergbau, Koks- und Glasfabrikation, einechemische Fabrik und (1885) 11,177 meist kath. Einwohner.

Sulzbacher Alpen, s. Steiner Alpen.

Sulzbad, Dorf im deutschen Bezirk Unterelsaß, KreisMolsheim, an der Eisenbahn Zabern-Schlettstadt, hat eine kath.Kirche und (1885) 772 Einw. In der Nähe das Bad S. mit zweiMineralquellen, welche Chlor, Soda, Brom, Jod und Eisenoxydenthalten und namentlich gegen Hautkrankheiten und Rheumatismusangewendet werden, sowie der besuchte Wallfahrtsort Avolsheim. Vgl.Eissen, Soultzbad près Molsheim (Par. 1857).

Sulzberg (Val di Sole), s. Noce.

Sulzburg, Stadt im bad. Kreis Lörrach, am Sulzbachund am Fuß des Schwarzwaldes, 339 m ü. M., hat eineevang. Kirche, ein altes Schloß, eine Bezirksforstei,vortrefflichen Weinbau, Weinhandel, eine Dampfsägemühleund (1885) 1152 meist evang. Einwohner. Nahebei in einemhübschen Waldthal das Bad S. mit alkalischer Kochsalzquellevon 15° C.

Sulze, s. Salzlecke.

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Sülze - Sumatra.

Sülze, kalte Fleischspeise, bereitet aus insäuerlicher, stark gewürzter Brühe gekochtem undfein geschnittenem Fleisch, welches mit der durchgeseihten, zuGelee eingedickten Brühe vermischt wird. Das Ganzeläßt man in einer Schüssel erstarren.

Sülze, Stadt im GroßherzogtumMecklenburg-Schwerin, Herzogtum Güstrow, an der Recknitz, hateine evang. Kirche, ein Amtsgericht, eine Dampfmolkerei, eineSaline, ein Solbad und (1885) 2342 fast nur evang. Einwohner.

Sulzer, 1) Johann Georg, Ästhetiker, geb. 5.Okt.1720 zu Winterthur, erhielt seine Bildung in Zürich und ging1742 nach Berlin, wo er mit Euler und Maupertuis in nähereVerbindung trat und 1747 die Professur der Mathematik amJoachimsthaler Gymnasium, 1763 an der neugestifteten Ritterakademieerhielt und auch in die Akademie der Wissenschaften aufgenommenward. Durch Kränklichkeit 1773 genötigt, seine Professurniederzulegen, starb er 27. Febr. 1779. Sein Hauptwerk ist dieeinst vielbenutzte "Allgemeine Theorie der schönenKünste" (neue Ausg., Leipz. 1792-94, 4 Bde.), zu welcherBlankenburg "litterarische Zusätze" (das. 1796-98, 3 Bde.)sowie Dyk und Schulze "Nachträge" (das. 1792-1808, 3 Bde.)lieferten. S. suchte darin die Wolfsche Philosophie mit denAnsichten der Franzosen und Engländer eklektisch inÜbereinstimmung zu bringen. Vgl. seine "Selbstbiographie"(Berl. 1809).

2) Salomon, Begründer des modernen Synagogengesangs, geb.30. März 1804 zu Hohenems in Vorarlberg, lebt als emeritierterOberkantor der israelitischen Gemeinde und Professor amMusikkonservatorium in Wien. S. veröffentlichte eine Sammlunggottesdienstlicher Gesänge: "Schir Zion" (Wien 1845-66, 2Bde.), die sich in allen Synagogen einbürgerten. Vgl."Gedenkblätter an Oberkantor S. S." (Wien 1882).

Sulzer Belchen, s. Belchen 2) und Sulz 2).

Sulzmatt, Flecken im deutschen Bezirk Oberelsaß,Kreis Gebweiler, in einem engen Thal der Vogesen, hat eine kath.Kirche, Baumwollspinnerei und -Webe-rei, Spinnerei von Flockseide,guten Weinbau und (1885) 2807 Einw. In der Nähe das Bad S. mitmehreren Mineralquellen, darunter einem Sauerbrunnen und einerSchwefelquelle, die bei Gliederschmerzen und Hautkrankheiten zuBädern gebraucht wird. Vgl. Bach, Des eaux alcalines deSoultzmatt (Straßb. 1853).

Sumach, Pflanzengattung , s. Rhus.

Sumarokow, Alexander Petrowitsch, russ. Dichter, geb. 14.Nov. (a. St.) 1718 zu Moskau, versuchte sich in fast allenGattungen der Poesie, besonders in der Satire, und gilt alsSchöpfer des russischen Dramas, insofern er zuerst nationaleLust- und Trauerspiele (nach dem pseudoklassischen Muster derFranzosen) lieferte. Er wurde von der Kaiserin Katharina II. zumStaatsrat erhoben und starb 1. Okt. (a. St.) 1777 in Moskau. S. warauch der erste Direktor des russischen Hoftheaters. Von seinenDramen, die mehr nach ihrem sittlichen Gehalt und historischen Wertals nach Form und Konzeption zu beurteilen sind, stehen dieTragödien: "Horew", "Sinaw und Trubor" und "Mstislaw" oben an.Unbedeutend sind seine Komödien wie seine Epen etc.; dagegenzeichnen sich viele seiner Satiren durch Kühnheit und Energieder Gedanken aus und lassen in S. einen feurigen Verfechter desRechts und der Wahrheit erkennen. Seine gesammelten Werkeerschienen zuletzt in St. Petersburg 1787. Vgl. Bulitsch, Sumarokow(Petersb. 1854).

Sumatra, die westlichste und nächst Borneo diegrößte der Sundainseln (s. Karte "Hinterindien"), wirddurch die Sundastraße von Java, durch die Straße vonMalakka von der Halbinsel Malakka getrennt und vom Äquatormitten durchschnitten. Die von NW. nach SO. langgestreckte Inselhat ein Areal, das offiziell auf 406,705 qkm (7386,2 QM.) angegebenwird, nach Behm und Wagner aber 428,813 qkm (7787,7 QM.)beträgt, ohne die Inseln an der Westküste (Babi, Nias,die Batu-, Mantawi-, Poggiinseln, Engano) mit einem Areal von14,421 qkm (261,9 QM.), welche, in derselben Richtung wie dieHauptinsel streichend, wie die Trümmer einer zweiten Inselerscheinen. Die Westküste ist hoch, und unter ihrenzahlreichen Buchten und Ankerplätzen ist die Bai von Tapanulidie geräumigste und sicherfte; dagegen ist die Ostküsteniedrig und mit Strandmorästen bedeckt; nach innen zu steigtdas Land ganz allmählich auf, um sich endlich inHügelreihen an die Gebirgskette Boukit-Barissananzuschließen, welche S. in ihrer ganzen Längedurchzieht. Durch dieselbe wird S. in einen schmalen, gebirgigenwestöstlichen und einen größern, von Tieflanderfüllten östlichen Teil geschieden. Aus dem Gebirgeerheben sich 19 Vulkane, darunter 6 noch thätige: derIndrapura (3833m), Dempo (3200m), Ophir oder Pasaman (2927 m),Merapi (2660 m), Salasi und Ipo, zugleich die beträchtlichstenBodenerhebungen auf der Insel. Verheerende Ausbrüche (wie derdes Tambora, der über 12,000 Menschen das Leben kostete) habenwiederholt stattgefunden. Am Südostende bilden dieAusläufer der Parallelketten des Gebirges drei Landspitzen,zwischen denen die Lampong- und die Kaiserbucht ins Landhineintreten. Infolge der orographischen Verhältnisse sind dieFlüsse der Westküste unbedeutend, doch kann der Singkel20 km von seiner Mündung aufwärts durch einheimischeBoote befahren werden. Dagegen wird die Ostseite von einer Anzahlwasserreicher Flüsse (Rokan, Siak, Indragiri, Jambi, Palembangoder Musi, Tulan-Bawan) durchzogen, die teilweise 150 km und weiteraufwärts selbst von größern Kriegsschiffen befahrenwerden können. Unter den Seen ist der Sinkara derbedeutendste. Das Klima ist heiß und in den sumpfigenNiederungen bei 27-32° C. Maximaltemperatur ungesund, in 1200 mhohen Lagen aber bei einem Maximum von 24° C. zuträglich.Der Wechsel des Monsuns ist auf den beiden Seiten des Äquatorsein entgegengesetzter. Die Tierwelt zeigt mehr Verwandtschaft mitder von Borneo als der von Java. Affenarten sind zahlreich, sehrhäufig ist der Königstiger; sonst sind noch zuerwähnen der Elefant, zwei Rhinozerosarten, der Tapir,Nebelpanther; die Flüsse wimmeln von Kaimans (Crocodilusbiporcatus). Die Pflanzenwelt ist außerordentlich reichhaltigund üppig. Als Repräsentant derselben kann die dortheimische Rafflesia Arnolda gelten, ein Schmarotzergewächs mitder größten Blüte der Welt (bis 1 m im Durchmesserund über 5 kg schwer). S. hat in seinen ungeheuernWäldern eine Fülle von nutzbaren Holzarten und erzeugtzugleich durch Kultur eine Reihe von Massenprodukten zur Ausfuhr,wie Reis, Zucker, Tabak, Indigo, Baumwolle, Katechu, Kautschuk,Guttapercha, Benzoe, Rotang, Kampfer, Betel- und Kokosnüsse,eingeführt ist die Kultur von Kaffee, Muskatnüssen u. a.An Metallen finden sich, und zwar reichlich, Gold, Kupfer, Zinn,Eisen, auch Steinkohlen. Die Bevölkerung, deren Zahl man auf3,8 Mill. berechnet, gehört zur malaiischen Rasse; im SO.wohnen die Lampong, in der Mitte die Passumah und Redschang, nachN. hin

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Sumatrakampfer - Sumerier.

die Batta und Atschinesen. Als besonderer Stamm hausen,abgeschieden von der übrigen Bevölkerung, noch dieOrang-Kubu ohne feste Wohnsitze. Die Unterschiede zwischen denverschiedenen Völkerschaften sind hauptsächlich bedingtdurch das Maß, in welchem arabisch-islamitische,indo-javanische und europäische Einflüsse nacheinanderauf dieselben eingewirkt haben. Die Mehrzahl der Bewohner bekenntsich zum Islam, und zwar sind sie meist fanatische Mohammedaner;die Batta dagegen sind Heiden, die Passumah und Redschang zwarnicht dem Namen, aber der That nach. Ackerbau und Schiffahrt sindHauptbeschäftigungen; Seeräuberei und Menschenraub warenfrüher eingebürgert. Die industrielle Thätigkeitbeschränkt sich auf das Weben baumwollener Kleiderstoffe undArbeiten in Gold, mit Benutzung sehr einfacher Geräte. IhrGemeinwesen ist sehr zersplittert. Die wichtigstenAusfuhrhäfen sind Padang und Palembang. Die Insel wurde seitder Eroberung von Atschin und Siak fast ganz den Niederländernunterworfen. Sie teilen dieselbe administrativ ein wie folgt:

QKilom. QMeilen Bevölkerung 1885

Gouvernement Westküste 121171 2200,6 1192661

Benkulen 25087 455,6 149923

Lampongsche Distrikte 26155 475,0 118889

Palembang 140873 2558,4 627914

Ostküste 42321 768,6 171399

Atschin 51098 928,0 544634

Unter dieser gezählten Bevölkerung von 2,805,420Seelen, welche gegen die oben angeführte Berechnung um 1 Mill.zurücksteht, wurden 3944 Europäer, 62,053 Chinesen und2549 Araber ermittelt. überall, wohin die Macht derHolländer reicht, sind seit 1876 Sklaverei und Leibeigenschaftaufgehoben worden. S. ward den Europäern durch den PortugiesenLopez de Figueira 1508 zuerst bekannt. Die Portugiesen errichtetendaselbst Handelsfaktoreien, wurden aber zu Ende des 16. Jahrh. vonden Holländern verdrängt, die 1620 auf der Insel festenFuß faßten. Neben dem Sultan von Bantam auf Java hattedamals der Herrscher von Atschin (Atjeh) die meiste Macht auf S.Zwischen 1659 und 1662 gelang es den Niederländern, dieSüdwestküste ihrer Schutzherrschaft zu unterwerfen, und1664 bemächtigten sie sich Indrapuras, Salidas und mehrererandrer Plätze, 1666 auch Padangs. Weiter im Süden hattensich seit 1685 die Engländer zu Benkulen festgesetzt, undzwischen beiden regte sich bald lebhafte Eifersucht. 1803 fiel derganze südliche Teil der Ostküste mit Palembang ebenfallsunter niederländische Herrschaft. Die Niederländer undEngländer schlossen 1824 einen Vertrag, wonach diese gegenEinräumung der niederländischen Besitzungen auf derHalbinsel Malakka auf ihre Niederlassung auf S. zu gunsten derNiederländer verzichteten. 1835 unterwarfen sich letztere auchdie Fürsten von Dschambi, und in einem Kriege gegen dieAtschinesen erweiterten sie ihren Besitz an der Westküste, wiesie auch das malaiische Oberland des Reichs Menangkabu und zugleicheinen Teil der Battaländer unter ihre Botmäßigkeitbrachten. Es bestehen seitdem neben ihrem Reich nur noch die beidenReiche Atschin und Siak; auch ist ein Teil der Korintjier und Battaim Innern noch unabhängig. Nachdem sich die Niederländerdurch die Abtretung Guineas an England dessen Zustimmung zurUnterwerfung Atschins gesichert, begannen sie 1873 einen Krieggegen dies Reich (s. Atschin), der aber nur langsam und untergroßen Verlusten fortschritt. Vgl. Miquel, S., seinePflanzenwelt und deren Erzeugnisse (Leipz. 1862); Mohnike, Bangkaund Palembang, nebst Mitteilungen über S. (Münst. 1874);Rosenberg, Der Malaiische Archipel (Leipz. 1878) ; Bock, Unter denKannibalen auf Borneo etc. (Jena 1882); Marsden, History of S.(3.Ausg., Lond. 1811); Marre, S. Histoire des rois de Pasey (Par.1875); Bastian, Indonesien, Teil 3 (Berl. 1886); Verbeek,Topographische en georgische beschrijving van een gedeelte VanSumatra's westkust (1886).

Sumatrakampfer, s. v. w. Borneokampfer, s. Kampfer.

Sumatrawachs (Geta-Lahoe), der eingedickte Milchsaft vonFicus ceriflua Jungh., ist aschgrau, härter als Bienenwachs,spez. Gew. 0,963 bei 16°, fast vollständig löslich inÄther, wenig in kaltem Alkohol, schmilzt bei 61°.

Sumba (auch Sandelbosch, "Sandelholzinsel"), eine derKleinen Sundainseln, durch die Sandelboschstraße von Florisund Sumbawa geschieden, im Besitz der Holländer, aber untereinheimischen Häuptlingen und zur Residentschaft Timorgehörig, hat mit dem südwestlich gelegenen kleinen Savuein Areal von 11,360 qkm (206 QM.) und etwa 200,000 Einw. DasInnere ist ein Tafelland von 1000 m Höhe mit gesundem Klima.Produkte sind: Baumwolle, Sandelholz, Pferde, Geflügel. An derWestküste der Ort Manukaka

Sumbawa (Sumbaua), eine der Kleinen Sundainseln, zwischenLombok und Floris, 13,980 qkm (254 QM.) groß, mit gebirgigemund vulkanischem Boden, gut bewässert und sehr fruchtbar(Sandelholz, Baumwolle, Tabak, Reis), hat etwa 150,000 Einw.malaiischer Rasse und Bekenner des Islam. Die Insel bildet einenTeil des niederländischen Gouvernements Celebes undzerfällt in drei unter Radschas stehende Reiche: S., Bima undDompo; Sitz des niederländischen Residenten ist Bima. Vom 5.bis 11. April 1815 fand hier ein Ausbruch des 4300 m hohen VulkansTambora (Temboro) statt, welcher dabei zusammenstürzte, sodaß er jetzt nur noch 2339 m Höhe hat. Ein großerTeil des umliegenden Landes wurde mit Asche bedeckt, und über12,000 Menschen kamen ums Leben.

Sumbulwurzel, s. Ferula.

Sümeg (spr. schü-), Markt im ungar. KomitatZala, mit Sommerschloß des Veszprimer Bischofs,Franziskanerkloster, (1881) 5029 ungar. Einwohnern, Weinbau undBezirksgericht.

Sumerier (Akkadier), altes Volk, welches in frühsterZeit das Euphrat- und Tigrisland ("Land Sumir und Akkad") bewohnteund eine nicht flektierende, agglutinierende Sprache redete, alsonicht semitischen Ursprungs war. Sie besaßen bereits einebedeutende Kultur, welche die Semiten, Babylonier und Assyrer, diespätern Einwohner jenes Gebiets, neben denen sich aber die S.noch lange behaupteten, von ihnen annahmen, und von der uns in denbilinguen (assyrisch-sumerischen) Thontäfelchen der BibliothekAssurbanipals ansehnliche Reste, Lieder, Hymnen, Gesetzsammlungen,astronomische und astrologische Schriften etc., erhalten sind. Ihreältesten Herrschaftssitze und Priesterstädte befandensich im untern Euphratgebiet, das nach einem ihrer Stämme auchChaldäa genannt wurde (vgl. Babylonien). Die S. besaßendie Keilschrift (s. d.), welche nicht bloß Babylonier undAssyrer, sondern auch Meder und Perser von ihnen überkamen,beobachteten die Himmelskörper, Sonne, Mond und fünfPlaneten, welche sie als Götter verehrten, und nach denen siedie sieben Tage der Woche,

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Sumiswald - Sumpfbiber.

deren Einteilung von ihnen herrührt, benannten; die Namender Göttin Istar (Astarte), des Mondgottes Sin, desLöwengottes Nergal u. a. sind in die semitische Religionübergegangen. Ihre religiösen Hymnen, mitunter von tiefemGefühl, sind den Psalmen der Bibel ähnlich. IhrenRechnungen legten sie das Sexagesimalsystem zu Grunde, welches sichbei der Einteilung unsrer Tagesstunden in Minuten und Sekunden, derGrade etc. bis auf den heutigen Tag erhalten hat. Vgl. Lenormant,Études accadiennes (Par. 1872-80); Derselbe, Étudescunéiformes (das. 1878-80); Derselbe, La langue primitive dela Chaldée et les idiomes touraniens (das. 1875) ; Haupt,Die sumerischen Familiengesetze (Leipz. 1879); Derselbe, Dieakkadische Sprache (Berl. 1883).

Sumiswald, Gemeinde im schweizer. Kanton Bern, BezirkTrachselwald, im untern Emmenthal, am Grünenbach, hat eineschöne Kirche aus dem 16. Jahrh. und (1888) 5738 Einw., welcheLandwirtschaft, Viehzucht, Fabrikation von Leinwand und Uhren undHandel mit Käse betreiben. Unweit das SchloßTrachselwald, ehemals Sitz einer Deutschordens-Kommende, jetztArmenhaus.

Summarischer Prozeß, diejenige Prozeßart, beiwelcher zum Zweck der Beschleunigung des Verfahrens Abweichungenvon dem regelmäßigen Prozeßgang undAbkürzungen des letztern statuiert sind. Den Gegensatz bildetder ordentliche bürgerliche Prozeß, und zum Unterschiedwird der summarische auch der "außerordentliche Prozeß"genannt. Die moderne Gesetzgebung, welche für alleRechtsstreitigkeiten ein schleunigeres Verfahren an Stelle desschwerfälligen gemeinrechtlichen Prozeßgangeseinführte, hat die Fälle des summarischen Prozesseswesentlich eingeschränkt. So kennt die deutscheZivilprozeßordnung als eigentlichen summarischen Prozeßnur noch den Exekutiv- oder Urkundenprozeß (s. d.) und denWechselprozeß (s. d.); außerdem gehören noch dassogen. Mahnverfahren (s. d.) hierher sowie der Arrest (s. d.) unddie "einstweiligen Verfügungen" (s. d.). Auch imStrafprozeß ist in geringfügigen Fällen einsummarisches Verfahren gestattet (s. Mandatsprozeß). Vgl.Deutsche Zivilprozeßordnung, (§ 555-567, 628-643;Deutsche Strafprozeßordnung, § 447-452.

Summarium (lat.), kurz gefaßter Hauptinhalt einerSchrift etc.; daher summarisch, dem Hauptinhalt nachzusammengefaßt.

Summation (lat.), s. Addition.

Summe (lat. Summa), in der Arithmetik das Resultat einerAddition (s. d.). Summenformel oder summarisches Glied einer Reihenennt man den algebraischen Ausdruck, der die S. einer bestimmtenAnzahl von Gliedern der Reihe in allgemeinen Zeichen (Buchstaben)ausdrückt.

Summis desiderantes affectibus (lat.), Bulle des PapstesInnocenz VIII. von 1484 zu gunsten der Hexenprozesse (s. Hexe, S.103).

Summisten, im Gegensatz zu den Sententiariern Bezeichnungder spätern Scholastiker, welche sogen. Summen (summaetheologiae), d. h. selbständige Lehrgebäude derTheologie, lieferten, wie Alexander von Hales, Albertus Magnus,Thomas von Aquino u. a.

Summitates (lat.), pharmazeut. Bezeichnung derblühenden Stengelspitzen oder auch der ganzen obern Teile derPflanzen; S. Sabinae, Sadebaumspitzen.

Summum bonum (lat.), s. Höchstes Gut.

Summumjus summa injuria (lat.), röm.Rechtssprichwort: "das höchste Recht (d. h. das Recht, wenn esauf die Spitze getrieben wird) ist die höchsteUngerechtigkeit".

Sumner (spr.ssömmner), Charles, am erikan.Staatsmann, geb. 6. Jan. 1811 zu Boston, studierte an derHarvard-Universität, dann an der juristischen Akademie inCambridge, ward 1834 Advokat in Boston, dann Referent desBezirksgerichtshofs der Vereinigten Staaten, lehrte auch an derUniversität Cambridge Staats- und Völkerrecht, bereiste1837-40 Europa und gab Veseys "Reports" mit Anmerkungen heraus(1844-46, 20 Bde.). In der Politik schloß er sich zuerst derWhigpartei, 1848 aber, da er mit der Kriegserklärung gegenMexiko nicht einverstanden war und schon damals die Aufhebung derSklaverei verlangte, der Freibodenpartei an. 1850 wurde er in denBundessenat gewählt, wo er sich als hervorragender Redner undheftiger Gegner der Sklaverei auszeichnete. Infolge einerglänzenden, aber scharfen Rede gegen die Sklaverei ausAnlaß des Kansas-Nebraskakonflikts (19. und 20. Mai 1856)ward er 22. Mai von einem Repräsentanten aus Südcarolina,Preston Brooks, körperlich gemißhandelt, so daß ererkrankte und in Europa Erholung suchen mußte. 1859 nahm erseinen Sitz im Senat wieder ein, ward einer der Führer derneuen republikanischen Partei, unterstützte mit Eifer undErfolg die Wahl Lincolns und nahm unter dessen Präsidentschaftals Vorsitzender des Senatskomitees für auswärtigeAngelegenheiten eine hervorragende Stellung in denöffentlichen Angelegenheiten der Union ein. Auch die Rechtedes Kongresses Johnson gegenüber hatten an ihm einenenergischen Verteidiger. Ebenso trat er mutig und offen gegen Grantauf, dessen Wahl er unterstützt hatte, als derselbe in derDomingofrage eine Annexionspolitik verfolgte und dieschändlichste Korruption in der Verwaltung einreißenließ. S. verlor daher 1871 den Vorsitz im auswärtigenKomitee, obwohl er das Recht der Union in der Alabamafrage nochzuletzt ausführlich verteidigt hatte ("The case of the UnitedStates", 1872). 1872 unterstützte er Greeleys Kandidatur undstarb 11. März 1874 in Washington. Er schrieb: "White slaveryin the Barbary States" (Bost. 1853). Gesammelt erschienen seineWerke in 12 Bänden (Bost. 1871-75), seine Reden Boston 1851, 2Bde., und 1855. Vgl. Lester, Life and public services of Charles S.(New York 1874); Pierce, Life and letters of Ch. S. (Lond. 1877, 2Bde.).

Sumpf, ein Gebiet mit stagnierendem Wasser, welches durchGegenwart von Schlamm und Vegetation nicht schiffbar ist, aber auchnicht betreten werden kann und niemals austrocknet. Amhäufigsten finden sich Sümpfe an Ufern solcherFlüsse, welche mit geringem Gefälle große Ebenendurchlaufen (Oder, Warthe, Netze, Theiß, Deltasümpfe),ferner auf großen, wenig geneigten, waldbedeckten Ebenen, woQuell- und Regenwasser keinen genügenden Abfluß haben,und an Küsten (Maremmen und Valli in Italien, Swamps inNordamerika). Die Vegetation der Sümpfe (vgl. Sumpfpflanzen)ist verschieden, je nachdem Wasser oder Erde vorherrschen; oftfinden sich große Strecken mit Wald bedeckt, und dieabsterbenden Pflanzen bilden mächtige Torflager. Meist sinddie Sümpfe berüchtigt durch ihregesundheitsschädlichen Ausdünstungen; kulturfähigwerden sie erst, wenn eine hinreichende Ableitung des stagnierendenWassers gelingt; andernfalls verwertet man sie nur durchRohrnutzung und Erlenwuchs. - Im Bergbau heißt S. der tiefsteTeil des Schachts, in welchem die Wasser behufs Hebung undEntfernung aus dem Bergwerk gesammelt werden.

Sumpfbiber (Schweifbiber, Myopotamus

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Sumpfbussard - Sundainseln.

Geoffr.), Säugetiergattung aus der Ordnung der Nagetiereund der Familie der Trugratten (Echimyina). Der Koipu (M. CoypuGeoffr., s. Taf. "Nagetiere II"), 40-45 cm lang, mit fast ebensolangem, drehrundem, geschupptem und borstig behaartem Schwanz,untersetztem Leib, kurzem, dickem Hals, dickem, langem, breitem,stumpfschnäuzigem Kopf, kleinen, runden Ohren, kurzen,kräftigen Gliedmaßen, fünfzehigen Füßen,an den hintern Füßen mit breiten Schwimmhäuten undstark gekrümmten, spitzigen Krallen, ist oberseitsdunkelbraun, an den Seiten rot-, unterseits schwarzbraun, an derNasenspitze und den Lippen weiß oder hellgrau. Er bewohnt dasgemäßigte Südamerika vom 24.-43.° südl.Br., vom Atlantischen bis zum Stillen Ozean und lebt paarweise anSeen und Flüssen in selbstgegrabenen Höhlungen, fastausschließlich im Wasser. Auf dem Land bewegt er sichlangsam, dagegen schwimmt er vortrefflich, taucht aber schlecht. Ernährt sich hauptsächlich von Gras, frißt aber auchWurzeln, Blätter, Körner. Das Weibchen wirft 4-6 Junge.Man jagt den S. des kostbaren Pelzes halber, welcher als RakundaNutria (amerikanisches Otterfell) in den Handel kommt, und inmanchen Gegenden ist das Tier fast schon ausgerottet. Dasweiße Fleisch wird an vielen Orten von den Eingebornengegessen. Alt eingefangene S. gehen bald zu Grunde, jungeingefangene sind sehr lebhaft.

Sumpfbussard, s. Weihen.

Sumpfkresse, s. Taxodium.

Sumpfdlstel, s. Cirsium.

Sumpfeiche, s. Casuarina.

Sumpferz, s. v. w. Raseneisenerz.

Sumpffieber, diejenigen schweren Formen desWechselfiebers, welche in Sumpfgegenden endemisch vorkommen unddurch das sogen. Malariagift bedingt werden. S. Malaria undWechselfieber.

Sumpfgarbe, s. Ptarmica.

Sumpfgas, s. Methan.

Sumpfgras, s. Cladium.

Sumpfmiasma, s. v. w. Malaria.

Sumpfotter, s. Nörz.

Sumpfpflanzen, diejenigen Pflanzen, welche im sumpfigenoder mit Wasser bedeckten Boden wurzeln, mit dem übrigen Teilin der Luft wachsen. Dies sind besonders: Phragmites communis,Glyceria spectabilis und fluitans, Phalaris arundinacea, Scirpuslacustris, viele Arten Riedgräser (Carex), Eriophorum, Typha,Sparganium, Alisma plantago, Sagittaria sagittaefolia, AcorusCalamus, Iris Pseudacorus, Hippuris vulgaris, Rumex hydrolapathum,Nasturtium palustre, N. amphibium, Cicuta virosa, Sium, Oenanthe,Epilobium palustre, E. pubescens, Lythrum salicaria, Calthapalustris, Myosotis palustris, Pedicularis palustris, VeronicaBeccabunga. Menyanthes trifoliata, Equisetum limosum.

Sumpfporst, s. Ledum.

Sumpfrodel, s. Pedicularis.

Sumpfsassafras, s. Magnolia.

Sumpfseidelbast, s. Dirca.

Sumpfvögel, s. v. w. Watvögel (s. d.).

Sumpfzeder, s. Taxodium.

Sumter (spr. ssömmtter), Fort auf einerkünstlichen Insel am Eingang des Hafens von Charleston imnordamerikan. Staat Südcarolina, 1845-55 erbaut, wurde 14.April 1861 vom Konföderiertengeneral Beauregard genommen,womit der Bürgerkrieg begann, und, obwohl im August 1863 durchein Bombardement zerstört, bis 14. April 1865 gegen dieUnionstruppen verteidigt. Vgl. Crawfurd, Story of S. (New York1888).

Sumtion (Sumption, lat.), Annahme, hypothetischer Satz;in der katholischen Kirche das Nehmen und Genießen derHostie.

Sumtum (lat.), genommene Abschrift.

Sumtus (lat.), Aufwand, Kosten; sumtibus publicis. aufStaatskosten; sumtuös, kostspielig.

Sumy (Ssumy), Kreisstadt im russ. Gounernement Charkow,am Pfiol und der Sumyer Bahn (Linie Merefa-Woroschba), hat 9Kirchen, ein Gymnasium, eine Realschule, ein Mädchengymnasium,Fabriken für Zucker, Talg, Lichte und Leder und (1885) 15,831Einw. An der Grenze von Groß- und Kleinrußland gelegen,bildet S. einen wichtigen Verkehrspunkt für die Ukraine undtreibt namentlich Handel mit Pferden, Getreide und Sandzucker. S.wurde im 17. Jahrh. an Stelle der alten Ansiedelung Lipenski vonKleinrussen gegründet.

Sun, s. v. w. Sunnhanf.

Sunbury (spr. ssönnberi). 1) Dorf in der engl.Grafschaft Middlesex, an der Themse, oberhalb Hampton Court, mit(1881) 4297 Einw.; dabei Pumpwerke und großartigeFiltrierbecken von zwei Londoner Wassergesellschaften sowieBrutteiche des Vereins zum Schutz der Themsefischerei. -

2) Stadt im nordamerikan. Staat Pennsylvanien, bei derVereinigung der zwei Arme des Susquehanna, mit lebhaftemKohlenhandel und (1880) 4077 Einw.

Sund (Öresund), Meerenge zwischen der dän.Insel Seeland und der schwedischen Landschaft Schonen, diegewöhnliche Durchfahrt aus der Nordsee in die Ostsee (s. Karte"Dänemark"), ist 67 km lang, an der schmälsten Stellezwischen Helsingborg und Helsingör ungefähr 4 km breitund wird von der dänischen Festung Kronborg auf Seelandbeherrscht. Seit dem Anfang des 15. Jahrh. erhob Dänemark beiHelsingör von allen vorüberfahrenden Schiffen einen Zoll,den Sundzoll, dessen Berechtigung durch Verträge von denandern Seemächten anerkannt war. Völlig befreit vondemselben waren nur die sechs Hansestädte Lübeck,Hamburg, Rostock, Stralsund, Wismar und Lüneburg sowieStettin, Kolberg und Kammin, während einzelnen Staaten, wieSchweden, Holland, England und Frankreich, eineErmäßigung bewilligt war. Der Sundzoll zerfiel in dieSchiffsabgabe von durchschnittlich mindestens 12 Speziesthlr. undden Warenzoll, der 1-1 1/2 Proz. betrug, und brachte Dänemark1853 (bei 21,000 passierenden Schiffen) eine Einnahme von 2,530,000Thlr. Nachdem die Vereinigten Staaten 1855 ihren mit Dänemarkbestehenden Vertrag gekündigt und erklärt hatten, denSundzoll nicht mehr zu zahlen, trat im Januar 1856 zu Kopenhageneine von fast allen europäischen Staaten beschickte Konferenzzusammen, durch welche laut Vertrags vom 1. April 1857 derbisherige Sundzoll gegen eine Entschädigungszahlung von30,476,325 dän. Reichsthlr. abgeschafft wurde. Vgl. Scherer,Der Sundzoll, seine Geschichte etc. (Berl. 1845).

Sund., bei naturwissenschaftl. Namen Abkürzungfür C. I. Sundevall, geb. 22. Okt. 1801 zu Högestad beiYstad, gest. 5. Febr. 1875 als Professor und Direktor des Museumsin Lund (Zoolog).

Sundainseln, ostind. Archipel zwischen dem ChinesischenMeer und dem Indischen Ozean, erstreckt sich vom Südwesten derHalbinsel Malakka bis zu den Molukken und dem NordwestenAustraliens, umfaßt ein Areal von 1,626,669 qkm (29,542 QM.)mit 28 Mill. Einw. und zerfällt in die sogen. Großen S.:Sumatra, Java, Borneo und Celebes, und die Kleinen S., als derenwichtigste Bali, Lombok, Sumbawa, Floris, Sumba und Timor zu nennensind. Diese

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Sundalselv - Sundwig.

Zusammenfassung von Inselgruppen und Inseln ist aber wedergeographisch noch ethnographisch voll berechtigt, man hat daher dieBezeichnung S. auf die von der Makassar- und der Sapistraße(zwischen Sumbawa und Komodo) westlich gelegenen Inselnbeschränken wollen. Der weitaus größte Teil der S.steht unter mittelbarer oder unmittelbarer Herrschaft derNiederländer; nur das nordöstliche Timor sowie Solorbeanspruchen die Portugiesen. S. Karte "Hinterindien".

Sundalselv, norweg. Fluß, entspringt am Fußder Snehätta im Dovrefjeld und mündet im Amt Romsdal indie Südostspitze des Tingvolds- oder Sundalsfjords. Sein Thal,Sundalen genannt, gehört unter die wildesten FelsenthälerNorwegens.

Sundanesen, malaiischer Volksstamm, im westlichen Teilvon Java, der als Mittelglied zwischen den Malaien der HalbinselMalakka, den Javanen und Batta gelten kann.

Sundasee (Meer von Java), der Teil der südasiat.Gewässer, welcher sich zwischen Sumatra, Java, Borneo undCelebes erstreckt.

Sundastraße, Meerenge zwischen den Inseln Sumatraund Java in Ostindien, verbindet den Indischen Ozean mit derSundasee. In dieser Straße liegen mehrere vulkanische Inseln:Prinzeninseln, Thwart de Way, die durch die in neuester Zeiterfolgten Ausbrüche bekannt gewordene Insel Krakatau u. a.

Sünde, die sittliche Abnormität unterreligiösem Gesichtspunkt, jede mit Freiheit gescheheneAbweichung von dem erkannten göttlichen Gesetz. Obwohl Paulus,welcher die Lehre von der S. begründet hat, als Anfang derallgemeinen Sündhaftigkeit nach jüdischer Weise denSündenfall Adams voraussetzt, so leitet er doch zugleich dieS. spekulativ aus dem Fleisch (s.d., S. 363 f.) ab. Damit war dasProblem gegeben, an dessen Auflösung die Kirchenlehre sichzerarbeitete, indem sie den historischen Anfang mit dem moralischenUrsprung in Einklang zu bringen suchte. Übrigens unterscheidetsie: Erbsünde (s.d.) und die aus dieser erst hervorgehendeThatsünde (peccatum actuale); rücksichtlich der Form,unter welcher das Gesetz auftritt, Begehungssünde (p.commissionis), die Übertretung des Verbots, undUnterlassungssünde (p. omissionis); rücksichtlich derHandlung selbst innere Sünden (peccata interna), unerlaubteGedanken und Entschließungen, und äußereSünden (p. externa), unerlaubte Reden und Thaten; nach demGrade der in ihr liegenden Verkehrtheit vorsätzliche oderBosheitssünden (p.voluntaria), die unmittelbar aus einembösen Entschluß hervorgehenden Handlungen, undunvorsätzliche oder Schwachheits-, übereilungssünden(p. involuntaria. ex infirmitate, temeritate oriunda). Unter derMatth. 12, 31 f. erwähnten unvergeblichen S. wider denHeiligen Geist versteht man den definitiven Unglauben der imBösen verhärteten, eigne bessere Überzeugungerstickenden Persönlichkeit. Darauf und auf 1. Joh. 5, 16. 17beruht die besonders in der katholischen Praxis bedeutungsvolleEinteilung der Sünden in vergebliche oder büßliche(peccata remissibilia sive venialia) und unvergebliche oderTodsünden (p. irremissibilia sive mortalia), die den Verlustdes Gnadenstandes nach sich ziehen, ohne daß sie jedoch vonder katholischen Lehre in einem bestimmten Katalog zusammengestelltworden wären. Vgl. Jul. Müller, Die christliche Lehre vonder S. (6. Aufl., Bresl. 1878, 2 Bde.).

Sündenbock, s. Asasel und Transplantation.

Sündenfall, die erste Sünde, die nach dem mosaischenBericht Adam (s. d.) und Eva begingen. Über ihre Folgen s.Erbsünde.

Sündenvergebung (Remissio s. Condonatio peccatorum),die von Gott ausgehende Wiederherstellung des durch die Sündegestörten Verhältnisses des Menschen zu ihm. Vgl.Sünde und Beichte.

Sunderbands (Sunderbans), Name für das sumpfige, vonunzähligen Kanälen durchzogene Inselgewirr des unterstenGangesdelta, zwischen Hugli, Meghna und Bengalischem Meerbusen, andem es sich 264 km lang hinzieht, 15,477 qkm (281 QM.) groß.Bewohnt sind nur die höhern westlichen und östlichenTeile, wo die Einwohner in kleinen Weilern leben und namentlichReis, aber auch Zuckerrohr und Jute bauen. Das durchaus ebene Landist namentlich nach der Meeresseite zu von undurchdringlichemDschangelwald bedeckt, ein vorzüglicher Schutz gegen diehäufigen Sturmfluten, die dennoch zuweilen großeVerheerungen anrichten. Der Wald, meist Staatseigentum, liefertgroße Mengen von Nutz- und Brennholz (jährlich für590,000 Pfd. Sterl.).

Sünderhanf, die männliche Hanfpflanze.

Sunderland (spr. ssonderländ), Seestadt in der engl.Grafschaft Durham, an der Mündung des Wear in die Nordsee, hatmit den Vorstädten Bishop's Wearmouth, Monk Wearmouth undSouthwick (1881) 116,542 Einw. Eine eiserne Brücke von 30 mHöhe verbindet die beiden von großartigen Dockseingefaßten Flußufer. Der Eingang zum Hafen wird durchzwei Dämme (594 und 539 m lang) gebildet und durch Batteriengeschützt. Die neuern Stadtteile sind meist geschmackvollgebaut; die Altstadt aber, besonders nach dem Hafen zu, ist eng undwinkelig. S. hat eine Börse, ein theologischesMethodistenseminar, Athenäum mit Museum, Theater, einen Parkmit Statue des hier gebornen Generals Havelock, großartigeSchiffswerften (2600 Arbeiter), Maschinenbauwerkstätten,Glashütten, Töpfereien, Eisengießereien etc. ZumHafen gehörten 1887: 329 Schiffe von 227,301 Ton. Gehalt und52 Fischerboote. 1887 wurden Waren im Wert von 633,691 Pfd. Sterl.nach dem Ausland ausgeführt und für 441,281 Psd. Sterl.von dort eingeführt. S. ist Sitz eines deutschen Konsuls.Dicht dabei liegt Southwick (8178 Einw.) mit Kohlengruben undEisenwerken.

Sundewitt, Halbinsel in der preuß. ProvinzSchleswig-Holstein, durch den Alsener Sund von der Insel Alsengeschieden, hat fruchtbaren Boden und eine hügeligeOberfläche; sie war in den deutsch-dänischen Kriegen von1848 bis 1849 und 1864 wiederholt Kriegsschauplatz (s.Düppel). Vgl. Döring, Führer durch Alsen und S.(Sonderb. 1877).

Sündflut, s. Sintflut.

Sundgau (Südgau), ehemals s.v.w. Oberelsaß, imGegensatz zum Nordgau (Unterelsaß); insbesondere die Umgegendvon Mülhausen.

Sundsvall, Hafenstadt im schwed. Län Westernorrland,nahe der Mündung des Indalself, Ausgangspunkt der EisenbahnS.-Drontheim, in welche bei Ange die von Stockholm kommendeNordbahn mündet, hat Eisenindustrie, Sägemühlen,bedeutende Ausfuhr von Holz und Eisen und (1887) 10,726 Einw. 1887sind im Zollbezirk von S. vom Ausland angekommen 1139 Schiffe von413,695 Ton., abgegangen 1453 Schiffe von 544,827 T. Im Juni 1888wurde S. durch eine Feuersbrunst fast ganz eingeäschert. S.ist Sitz eines deutschen Konsuls.

Sundwig, Dorf im preuß. Regierungsbezirk Arnsberg,Kreis Iserlohn, hat Eisengießerei, ein Messingwalzwerk,Drahtzieherei, Fabrikation von Drahtstif-

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Sundzoll - Superga.

ten, Nägeln etc. und (1885) 877 meist evang. Einwohner.Dabei das Felsenmeer, ein Kesselthal mit großen Felsen ausdevonischem Kalk, und die Sundwiger Höhle.

Sundzoll, s. Sund.

Suñer (spr. ssunjer), Luigi, ital.Lustspieldichter, von spanischer Abkunft, geboren um 1832 zuHavana, kam noch im kindlichen Alter nach Florenz, wo er einezweite Heimat fand. Sein erstes Lustspiel: "I gentiluominispeculatori" (1859 zu Florenz aufgeführt), fußte auf derIdee, die damals auf dem Schlachtfeld besiegelte AllianzFrankreichs und Italiens in zwei Hauptpersonen des Stückessymbolisch zu verkörpern. Durchgreifend wirkten aber erst diefolgenden Komödien: "I legitimisti" (1861) und "Spinte osponte". Einen Fortschritt bekundete er dann in den Lustspielen:"L'ozio" (1863), "Una piaga sociale", "Caleche" (später mitdem Titel: "Ogni lasciata è persa") und besonders "Leamiche" (1873). Mit "Una legge di Licurgo" (1869) begann er sichernstern sozialen Problemen zuzuwenden. Es folgten das Proverb "Chiama teme", das Lustspiel "La gratitudine" und ein in Beziehung aufPlan und Komposition vorzügliches Werk, welches einen Vers desDante zum Titel hat: "Amor ch'a nullo amato amar perdona".

Sungari, rechter mächtiger Nebenfluß des Amurin der chinesischen Mandschurei.

Sunion (Sunium), die 60 m hohe Südspitze des altenAttika, mit berühmtem Tempel der Athene, wovon noch 9 (Endedes 17. Jahrh. noch 19) Säulen stehen, daher das Vorgebirgejetzt KapKolonnäs heißt; war seit 413 v. Chr. zum Schutzder nach Athen bestimmten Getreideschiffe mit Mauern umgeben,welche diese Landspitze zu einer Art Festung machten.

Sunn, s. v. w. Sunnhanf.

Sunna (arab., "Weg, Richtung"), die Tradition, welche aufein Wort oder eine That des Propheten Bezug hat und in solchenFällen als Gesetz gilt, wo der Koran sich entweder gar nichtoder in zweideutiger Weise ausspricht. Später mehrfachgesichtet und in besondern Büchern niedergelegt, bildet die S.jetzt neben dem Koran die hauptsächlichste Religionsquellefür den rechtgläubigen Moslem. Die berühmteste unterden sechs anerkanntesten Sammlungen ist die von El Bochari um 840n. Chr. unter dem Titel: "Eddschâmi essahîh"("Zuverlässige Sammlung") veranstaltete, 7275Überlieferungen enthaltend, welche Bochari aus einer Anzahlvon 600,000 als die am meisten beglaubigten ausgewählt hatte(hrsg. von Krehl, Leiden 1862-72, 3 Bde.).

Sunnar (arab.), Ordensgürtel christlicherMönche, bei den Mohammedanern als Zeichen des Unglaubensverpönt.

Sunnhanf (Madras-, Bombayhanf, ostindischer Hanf), dieFaser der über ganz Indien und die Sundainseln verbreitetenund vielfach kultivierten Crotalaria juncea, wird in sehr roherWeise zubereitet und hat deshalb, obwohl die Faser an und fürsich sehr fein ist, einen verhältnismäßig nurgeringen Wert. Das Handelsprodukt ist blaßgelblich, mitlebhaftem Seidenglanz, und dem Hanf sehr ähnlich. Man benutztden S. zu Seilerwaren, Packtuch etc., in England auch zurPapierfabrikation.

Sunniten, diejenigen Mohammedaner, welche neben dem Korandie Sunna (s. d.) als Religionsquelle annehmen und die erstenKalifen, Abu Bekr, Omar und Othman, als rechtmäßigeNachfolger Mohammeds anerkennen, während die Schiiten (s. d.)diese Würde nur Ali und dessen Nachkommen beilegen. Dasgeistliche Oberhaupt der S. unter dem Titel Kalif ist dertürkische Sultan. Zu ihnen gehören fast sämtlicheMoslems in Afrika, Ägypten, Syrien, der Türkei, inArabien und der Tatarei. Vgl. Mohammedanische Religion.

Süntel, Teil des Wesergebirges, nördlich vonHameln, erreicht in der Hohen Egge 441 m Höhe.

Suomi, s. Finnische Sprache.

Suovetaurilia (lat.), das große Sühnopfer amSchluß des Lustrum in Rom, wobei auf dem Marsfeld ein Schwein(sus), ein Schaf (ovis) und ein Stier (taurus) geschlachtetwurden.

Supan, Alexander, Geograph, geb. 3. März 1847 zuInnichen in Tirol, studierte zu Graz, Wien, Halle und Leipzig,wurde 1871 Realschullehrer in Laibach, habilitierte sich 1877 alsPrivatdozent der Geographie an der Universität Czernowitz,wurde 1880 Professor und siedelte 1884 nach Gotha über, wo erseitdem die Redaktion von "Petermanns Mitteilungen" führt, umwelche er sich besonders durch die Begründung desgeographischen Litteraturberichts verdient machte. Er schrieb:"Lehrbuch der Geographie für österreichischeMittelschulen" (6. Ausl., Laib. 1888); "Studien über dieThalbildung in den Tiroler Zentralalpen und in Graubünden" (inden "Mitteilungen der Wiener Geographischen Gesellschaft" 1877) ;"Statistik der untern Luftströmungen" (Leipz. 1881);"Grundzüge der physischen Erdkunde" (das. 1884); "Archivfür Wirtschaftsgeographie", 1. Teil: Nordamerika 1880-85 (alsErgänzungsheft zu "Petermanns Mitteilungen" 1886).

Superarbitrium (lat.), ein Schiedsspruch oder Gutachtenhöherer, bez. höchster Instanz.

Superb (lat.), stolz, prächtig, herrlich;Superbiloquenz, Großsprecherei, übermütig stolzeSprache.

Supercherie (franz., spr. ssupärsch'rih),Überlistung, hinterlistiger Streich.

Superchloride, Superchlorüre, s. Chlormetalle.

Supercilia (lat.), Augenbrauen.

Superdividende (lat.), derüber den erwarteten oderdurch Zinsgarantie festgesetzten Betrag hinausgehende Teil derDividende (s. d.). Vgl. Aktie, S. 263.

Supererogationes, s. Opera supererogationis.

Superfizies (lat.), Oberfläche, in der Rechtssprachedasjenige, was auf fremdem Grund und Boden erbaut oder auf solchemgepflanzt ist. Der Regel nach erstreckt sich das Eigentum an demGrund und Boden auch auf die S. (superficies solo cedit). Fernerwird mit S. (superfiziarisches Recht, Gebäuderecht, Baurecht,Platzrecht) das erbliche und veräußerliche dinglicheRecht an einem auf fremdem Grund und Boden stehenden Gebäudeverstanden, vermöge dessen dem Berechtigten (Superfiziar)während der Dauer des Rechts die Ausübung der Befugniffedes Eigentümers zusteht. Der Entwurf eines deutschenbürgerlichen Gesetzbuchs (§ 961 ff.) gebraucht stattdessen die Ausdrücke Erbbaurecht und Erbbauberechtigter undversteht unter Erbbaurecht das veräußerliche undvererbliche Recht, auf oder unter der Oberfläche einesGrundstücks ein Bauwerk zu haben. Hiernach gehört auchdas vererbliche und veräußerliche Kellerrecht mit zu demsuperfiziarischen Recht.

Superflua non nocent (lat., "das Überflüssigeschadet nicht"), besser zu viel als zu wenig.

Superfoecundatio (Superfoetatio) . s.Überfruchtung.

Superga, La, die 10 km von Turin gelegene Grabeskircheder Könige des Hauses Savoyen, welche König Amadeo I.1717-37 durch Juvara in Form eines elliptischen Rundbaues mitachtsäuliger Vor-

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Superintendent - Suppé.

halle und hoher Kuppel auf einem 678 m hohen Berg erbauenließ.

Superintendent (lat.), Oberaufseher, Inspektor; besondersin evangelischen Landeskirchen der erste Geistliche einer Ephorie,welcher Wirksamkeit und Wandel der Geistlichen sowie die Verwaltungder Kirchenärare etc. zu überwachen hat. Übersämtlichen Superintendenten einer Provinz oder einerLandeskirche steht der Generalsuperintendent. InSüddeutschland wird der S. Dekan genannt.

Superior (lat.), der Obere, Vorsteher.

Superior City (spr. ssjupíhriör ssitti), Dorfim nordamerikan. Staat Wisconsin, im Hintergrund des Obern Sees, 11km von Duluth und eine der Kopfstationen der Nord-Pacificbahn,schon 1854 gegründet, aber trotz seines guten Hafens mit nur(1880) 655 Einwohnern.

Superiorsee (Lake Superior), s. Oberer See.

Superkargo, s. Kargo.

Superlativ (lat.), s. Komparation.

Supernaturalismus (Supranaturalismus, lat.), in derTheologie im allgemeinen der Glaube an eine unmittelbare, dernatürlichen Vernunft, welche von der Sünde verfinstertist, durchaus unerreichbare Offenbarung Gottes. In dieser Form ister hauptsächlich durch Augustin begründet worden undbildet den allgemeinen Schematismus für die gesamtechristliche, insonderheit für die altprotestantische Dogmatik,der zufolge durch die Erbsünde alle moralische Kraft imMenschen vernichtet, die Vernunft unfähig ist, in Sachen desHeils (in rebus spiritualibus) zu entscheiden, und nur zurErfüllung der bürgerlichen Gerechtigkeit (justitiacivilis) hinreicht. Insbesondere wird mit dem Namen S. in derTheologie diejenige Richtung bezeichnet, welche sich zu Ende desvorigen und zu Anfang dieses Jahrhunderts gegenüber demRationalismus (s. d.) konstituierte, mit welchem sie übrigensdie fehlerhafte Auffassung der Religion als einer gleichartigenFortsetzung des Welterkennens über die Schranken desSichtbaren hinaus teilte.

Supernumerarius (lat.), ein Überzähliger,über die gewöhnliche (Beamten-) Zahl Angestellter.

Superoxyd, s. Oxyde.

Superphosphat, saurer phosphorsaurer Kalk, einDüngerpräparat, welches aus verschiedenen Rohmaterialienmit hohem Gehalt an unlöslichem basisch phosphorsauren Kalkdargestellt wird, indem man das letztere Salz durch Behandeln mitSchwefelsäure in löslichen sauren phosphorsauren Kalküberführt, wobei sich außerdem schwefelfaurer Kalk(Gips) bildet. Bleibt hierbei wegen unzureichenderSchwefelsäure ein Teil des basischen Phosphats unzersetzt, sobildet dies mit dem sauren Phosphat unlösliches neutralesPhosphat; ähnlich wird auch bei Gegenwart von Thonerde undEisenoxyd ein Teil der Phosphorsäure wieder unlöslich(Zurückgehen des Superphosphats), und da nun das Präparathauptsächlich durch seinen Gehalt an löslicherPhosphorsäure Wert erhält, so sind von dessen Bereitungeisenoxyd- und thonerdereiche Materialien auszuschließen, undman muß hinreichend Schwefelsäure anwenden, um dasbasische Phosphat vollständig in sauresüberzuführen. Man verarbeitet auf S. namentlichKnochenmehl, Knochenkohle, Knochenasche, Koprolithen, Phosphorit,Baker- und Sombreroguano etc. und benutzt zum Aufschließenderselben Kammersäure, Pfannensäure oder auch dieSchwefelsäure, welche bei der Bereitung des Nitrobenzolszurückbleibt, oder solche, die zum Reinigen des Solarölsgedient hat. 1 Teil Phosphorsäure erfordert zumAufschließen 1,72 Teile Schwefelsäure von 60° B.,und reiner basisch phosphorsaurer Kalk gibt, mit solcher Säurezersetzt, ein S. mit 25,6 Proz. löslicher Phosphorsäure.Zur Vermischung der nötigen Falls staubfein zerkleinertenMaterialien mit der Säure benutzt man mit Blei ausgeschlagenehölzerne Kasten oder gemauerte Behälter, oft unterAnwendung eines mechanischen Rührwerkes, läßt danndas Präparat liegen, bis es durch Bindung des Wassersabgetrocknet ist, worauf es zerkleinert und gesiebt wird.Namentlich bei Verarbeitung von Phosphoriten müssen dieBehälter mit einem hölzernen Mantel bedeckt werden, umDämpfe von Chlor- und Fluorwasserstoffsäure in die Esseleiten zu können. Mineralische Phosphate werden viel leichteraufgeschlossen, wenn man 7-10 Proz. der Schwefelsäure durchSalzsäure ersetzt oder Kochsalz hinzufügt. Häusigmischt man auch das S. mit stickstoffhaltigen Substanzen, wieschwefelsaurem Ammoniak oder Chilisalpeter, ferner Horn, Leder,Lumpen, welche gedämpft und dann gemahlen werden, auch mitLeimbrühe vom Dämpfen der Knochen etc. Vgl. Marek,Über den relativen Düngewert der Phosphate (Dresd.1889).

Superporte (neulat., ital. soprapporto), ein übereiner Zimmerthür angebrachtes, mit dieser gleich breites, aberniedriges Bild in Malerei, Stuck, Weberei etc.; besonders bei denDekorateuren des Barock- und Rokokostils beliebt.

Superrevision (lat.), nochmalige Prüfung.

Supersedeas (lat., "laß ab"), in England Befehl,das Verfahren einzustellen.

Superstition (lat.), Aberglaube; superstitiös,abergläubisch.

Supertara, s. Tara.

Suphan, Bernhard Ludwig , Literarhistoriker, geb. 18.Jan. 1845 zu Nordhausen, studierte in Halle und BerlinAltertumswissenschaft und veröffentlichte diepreisgekrönte Schrift "De Capitolio romano commentarius"(1867), wandte sich dann aber dem Studium der deutschen Litteratur,besonders des 18. Jahrh., zu und war in dieser Richtung eineifriger Mitarbeiter der "Preußischen Jahrbücher" unddes "Goethe-Jahrbuchs". Seit 1868 lebte er, im höhern Lehrfachbeschäftigt, in Berlin, bis er 1887 einem Ruf als Direktor desGoethe-Archivs nach Weimar folgte. Große Verdienste hat sichS. um die Wiedererweckung Herders erworben, von dessen"Sämtlichen Werken" er eine kritische und mustergültigeAusgabe in 33 Bänden (Berl. 1877 ff.) veranstaltete.

Supination (lat.), s. Pronation.

Supinum (lat.), in der lat. Sprache eine besondere Formdes Zeitwortes, eigentlich ein Verbalsubstantiv der viertenDeklination, wovon jedoch nur zwei Kasus gebräuchlich sind.Das S. auf um drückt den Zweck aus ("um zu"), das S. auf u denInhalt oder Betreff eines Adjektivums u. dgl. (schwer "zu" sagen).Vgl. Jolly, Geschichte des Infinitivs im Indogermanischen(Münch. 1874).

Suppé, Franz von, Komponist, geb. 18. April 1820zu Spalato (Dalmatien), studierte auf der Wiener Universität,um sich dem Staatsdienst zu widmen, folgte aber seinerüberwiegenden Neigung zur Musik und bildete sich unter LeitungSeyfrieds in der Komposition aus. Später bekleidete ernacheinander die Kapellmeisterstellen am JosephstädterTheater, am Theater an der Wien und zuletzt am Carl-Theater u.komponierte gleichzeitig Quartette, Ouvertüren, Symphonien,Lieder und Operetten, von denen namentlich letztere wegen ihrespopulären, gefälligen Wesens allgemeine Verbreitunggefunden haben. Man könnte S. den "deutschen Offenbach"nennen.

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Suppeditieren - Surate.

jedoch ist er in seiner Musik gemütvoller als letzterer.Die bekanntesten Operetten von S. sind: "Flotte Bursche", "Dieschöne Galathea", "Zehn Mädchen und kein Mann", "FranzSchubert", "Fatinitza", "Boccaccio" und "Donna Juanita".

Suppeditieren (lat.), Unterstützunggewähren.

Suppenkräuter, Kräuter, welche zum Würzender Suppen verwendet werden: Petersilie, Kerbel, Portulak,Schnittlauch, junge Sellerieblätter, Sauerampfer, Spinat.

Suppentafeln, s. v. w. Bouillontafeln; auch Konserven,welche neben löslichen FleischbestandteilenHülsenfrüchte etc. enthalten.

Suppléant (franz., spr. ssüppleang),Aushelfer, stellvertretender Ersatzmann, Substitut.

Supplement (lat.), Nachtrag, Ergänzung, besondersNachtrag zu einem Buch. In der Mathematik heißt S. einesWinkels seine Ergänzung zu 180°, S. eines Bogens seineErgänzung zu einem Halbkreis. Zwei sphärische Dreieckeheißen Supplementar- oder Polardreiecke, wenn die Seiteneines jeden die Supplemente der Winkel des andern sind.Supplementar, auch suppletorisch, s. v. w. ergänzend.

Supplicium (lat.), Todesstrafe.

Supplieren (lat.), ergänzen, ausfüllen; daherSupplent, in Österreich s. v. w. Hilfslehrer.

Supplik (lat.), Bittschrift; Supplikant, derjenige, vonwelchem eine solche ausgeht.

Supplikationen (lat.), bei den Römernöffentliche Buß-, Dank- oder Betfeste, wobei infeierlicher Prozession die Tempel der Götter besucht und andiese Gebete gerichtet zu werden pflegten. Die Anordnung derselbenbesorgten die Pontifices.

Süpplingenburg (Suplinburg), Pfarrdorf imbraunschweig. Kreis Helmstädt, an der Schunter, hat (1885) 574Einw. Das alte Schloß S. ist das Stammhaus der Grafen von S.,die schon zur Zeit Karls d. Gr. als eins der angesehenstensächsischen Dynastengeschlechter erwähnt werden, unddenen Kaiser Lothar (1125-1137) angehörte.

Supplizieren (lat.), um etwas nachsuchen, bitten.

Supponieren (lat.), unterschieben, unterstellen.

Support (franz., spr. ssüppor. "Stütze,Träger"), bei Drehbänken oder Hobelmaschinen dieVorrichtung, durch welche das Werkzeug eine feste Stellung undsichere Führung erhält.

Supposition (lat.), Annahme, Voraussetzung;Unterschiebung, z. B. eines Testaments, eines Kindes etc.

Suppofitum (lat.), Unterlage, das Vorausgesetzte.

Supprimieren (lat.), unterdrücken; Suppression,Unterdrückung; Verheimlichung.

Suppuratio (lat.), Eiterung.

Supputation (lat.), Überrechnung,Überschlag.

Supralapsarii (lat.) , s. Infralapsarii.

Supranaturalismus, s. Supernaturalismus.

Suprasl, Flecken im russ. Gouvernement Grodno, am FlusseS. (zum Bug), mit 2000 Einw. In der Nähe lag einst dasgriechisch-kathol. Mönchskloster S., mit bedeutenderBibliothek, wovon jetzt noch die Klosterkirche vorhanden ist.

Supremat (lat., "Obergewalt"), die päpstlicheMachtvollkommenheit, namentlich gegenüber den Bischöfen(s. Primat). Supremateid (oath of supremacy) hieß in Englandder ehedem von allen Parlamentsmitgliedern abzuleistende Eid, worinder Krone die oberste Kirchengewalt zugesprochen, der katholischeGlaube und der Primat des Papstes negiert und die alleinigeBerechtigung der protestantischen Thronfolge ausgesprochen ward;eingeführt von Heinrich VIII., 1791 wieder aufgehoben.

Süptitz, Dorf, 5 km westlich von Torgau, mit 769Einw., war der Mittelpunkt der Schlacht bei Torgau (s. d.) 3. Nov.1760.

Sur, Hafenstadt im asiatisch-türk. Wilajet Scharm,am Mittelländischen Meer, nördlich von Akka, mitÜberresten des alten Tyros (darunter eine alteKreuzfahrerkirche, angeblich Barbarossas Grabstätte) und 5000Einw.

Sura (Ssura), rechtsseitiger Nebenfluß der Wolga,entsteht im Gouvernement Simbirsk, strömt nördlich durchdie Gouvernements Saratow, Pensa, Simbirsk und Kasan, hat teilssteile, teils flache Ufer und mündet bei Wassil imGouvernement Nishnij Nowgorod. Er ist 1038 km lang, von Pensa anschiffbar und wird viel mit Flößen befahren.

Surabaja (Soerabaya), niederländ. Residentschaft ander Nordküste der Insel Java, Madura gegenüber, 6029 qkm(109,5 QM.) groß mit (1885) 1,856,635 Einw., darunter 7607Europäer, 15,077 Chinesen und 2304 Araber, bestehtgrößtenteils aus fruchtbarem, von den FlüssenBrantes und Solo bewässertem und gut kultiviertem Boden, derReis, Zucker, Kaffee und Baumwolle produziert. An derSüdostgrenze erhebt sich der Pananggungan zu 1685 m. Diegleichnamige Hauptstadt an der Meerenge von Madura, durch Industrieund Handel gleich bedeutend, hat einen schönen, durch zweiForts verteidigten Hafen, ein Seearsenal, Maschinenfabriken,Werften, Metallgießereien, eine Kanonenbohrerei, 36Zuckerfabriken, mehrere Möbelfabriken, eine Münze, istSitz des obersten Gerichtshofs für die östlichenResidenzien und der Kommandos für die östlicheMilitärdivision sowie eines deutschen Konsuls und hat 127,403Einw., worunter 6317 Europäer, 7436 Chinesen und 1443 Araber.Eine Eisenbahn führt von S. nach Pasuruan und Malang, eineandre über Surakarta und Samarang nach Dschokdschokarta.Bedeutende Ausfuhr von Zucker, Kaffee, Häuten, Tabak,Kapokwolle.

Surakarta (Solo), niederländ. Residentschaft auf derInsel Java, 5677 qkm (113,1 QM.) groß mit (1885) 1,053,985Einw., darunter 2694 Europäer und 7543 Chinesen. Das Land istzum Teil sehr gebirgig (höchste Spitzen auf der Ostgrenze der3.269 m hohe Lawu, im W. der 3115 m hohe Merbabu und der 2806 mhohe Merapi), zum Teil sehr fruchtbar und reich bewässert;Hauptfluß ist der Solo. Die Residentschaft ist im Besitz desSusuhanan, d. h. Kaisers, von S. und des Fürsten Paku Allam.Diese haben gegen bedeutende Jahresgehalte ihre Rechte an dieniederländische Regierung abgetreten, welche einen Residentenin der Hauptstadt S. (1880: 124,041 Einw.) unterhält, wo auchdie beiden genannten Fürsten wohnen. Die Stadt hat mitSamarang, Dschokdschokarta und Surabaja Eisenbahnverbindung.

Surash (Ssurash), 1) Kreisstadt im russ. GouvernementTschernigow, am Iput, mit (1886) 4825 Einw. Im Kreis lebhafteTuchfabrikation und Strumpfwirkerei. -

2) Stadt im russ. Gouvernement Witebsk, an der Düna, mit(1885) 5085 Einw., wurde 1564 auf Befehl des polnischen KönigsSiegmund August aus strategischen Rücksichten erbaut unddiente namentlich als Festung an der Düna zum SchutzWeißrußlands gegen das Moskowiterreich.

Surate, Distriktshauptstadt in der britisch-ind.Präsidentschaft Bombay, 22 km von der Mündung des Tapti,hat (1881) 109,844 Einw., lebhaften Handel sowie eine evangelischeMission und war der erste Ort an der Westküste, wo 1612 dieEnglisch-Ostindische Kompanie eine Faktorei und Citadelleanlegte.

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Surbiton - Surrogat.

Surbiton (spr. ssörbit'n), Stadt in der engl.Grafschaft Surrey, an der Themse, dicht bei Kingston, hatzahlreiche Landsitze und (1881) 9406 Einw.

Surburg, Flecken im deutschen Bezirk Unterelsaß,Kreis Weißenburg, im N. des Hagenauer Waldes und an derEisenbahn Straßburg-Weißenburg, hat eine kath. Kirche,Wollspinnerei, 2 Mühlen und (1885) 1298 Einw. Nahebei einOratorium an der Stelle, wo der heil. Arbogast im 7. Jahrh. alsEinsiedler wohnte, bevor er Bischof von Straßburg wurde.

Surcot (franz., spr. ssürkoh, auch Surcotte), s. v.w. Cotte-hardie.

Surdität (lat.), s. v. w. Taubheit.

Sure (arab.), Bezeichnung der einzelnen Kapitel desKorans, welche angeblich durch den Engel Gabriel an Mohammedgesondert abgeliefert worden sind. Jede S. zerfällt in mehrereAjes (Koransätze).

Sure (spr. ssühr), Fluß, s. Sauer.

Surenen, Hochgebirgspaß im östlichenFlügel der Berner Alpen (2305 m), zwischen Uri-Rothstock undTitlis, beginnt im Unterwaldner Thal Engelberg (1010 m) und senktsich mit steilem Abstieg zum Urner Reußthal (Attinghausen,451 m ü. M.).

Surenrinde, s. Cedrela.

Suresnes (spr. ssürähn), Flecken im franz.Departement Seine, Arrondissem*nt St.-Denis, an der Seine,über welche vom Boulogner Wäldchen eine Brückeherüberführt, am Fuß des Mont Valérien undan der Bahnlinie Paris-St.-Cloud-Versailles , mit Villen,Bleicherei, Färberei und Druckerei und (1886) 7683 Einw.

Surettahorn, Berggipfel, s. Err, Piz d'.

Surgères (spr. ssürschähr), Stadt imfranz. Departement Niedercharente, Arrondissem*nt Rochefort, an derEisenbahn Niort-La Rochelle, hat ein altes Schloß, eineinteressante Kirche, Geldschrankfabrikation, Branntweinbrennereiund (1881) 3203 Einw.

Surinam, Küstenfluß im holländ. Guayana,mündet unterhalb Paramaribo und ist in der Küstenebenefür große Boote schiffbar.

Surinam, Land, s. v. w. Niederländisch-Guayana, s.Guayana, S. 895.

Surja, in der wed. Mythologie die Personifikation derSonne, der Sonnengott. Er fährt auf einem goldenen Wagen mitdrei Sitzen und drei Rädern, den die kunstfertigen Ribhu, diesich mit den Zwergen der nordischen und deutschen Sage vergleichenlassen, geschaffen haben. Er schaut auf Recht und Unrecht bei denMenschen, behütet den Gang der Frommen und beachtet dasTreiben eines jeden. In den wedischen Liedern wird seineThätigkeit unter verschiedenen Namen gepriesen, die vielleichtursprünglich die Sonnengötter verschiedener Stämmebezeichneten.

Surlet de Chokier (spr. ssürlä d' schockjeh),Erasmus Louis, Baron, belg. Staatsmann, geb. 27. Nov. 1769 zuLüttich, war unter der französischen Regierung Maire inGinglom bei St.-Trond, 1800-1812 Mitglied des Großen Rats,dann des Gesetzgebenden Körpers und nach der Bildung des neuenKönigreichs der Niederlande durch königliche WahlMitglied der Zweiten Kammer. 1818 durch die Regierung entlassen,ward er in der Provinz Limburg wieder gewählt und gehörtevon 1828 bis 1830 zu den hervorragendsten Mitgliedern derOpposition. Nach dem Ausbruch der belgischen Revolution begab ersich mit den übrigen Abgeordneten der südlichen Provinzennach dem Haag, bestand jedoch auf Trennung beider Länderhinsichtlich der Verwaltung, ward zum Abgeordneten desNationalkongresses erwählt, im November 1830 Präsidentdesselben und, als der Herzog von Nemours die Krone ausschlug, 26.Febr. 1831 provisorischer Regent von Belgien. Nachdem der PrinzLeopold 21. Juli 1831 seinen Einzug in Brüssel gehalten, legteS. seine Gewalt in die Hände des Präsidenten desKongresses nieder. Er lebte seitdem zurückgezogen in Ginglomund starb 7. Aug. 1839. Vgl. Juste, Surlet de Chokier (Brüssel1865).

Surmulet, s. Seebarbe.

Surnia, s. Eulen, S. 905.

Surone, Gewicht in Santo Domingo, à 100 Libra = 46kg; in Mittelamerika à 150 Libra = 69 kg; s. auchSeronen.

Surplus (franz., spr. ssürplüh),Überschuß, Rest; im Handel auch s. v. w. Deckung (s.d.).

Surrah, Stadt, s. Mogador.

Surre (arab.), die auf Kosten der türkischenRegierung ausgerüstete, unter Leitung des S.-Emini stehendeKarawane, welche die vom Sultan und den Landesgroßen fürdie Kaaba und die heilige Stadt Mekka bestimmten Geschenkealljährlich befördert.

Surrey (spr. ssörri), engl. Grafschaft zwischen denGrafschaften Middlesex, Kent, Sussex, Southampton und Berks, hat1963 qkm (35,6 QM.) Areal mit (1881) 1,436,899 Einw., wovon 980,522auf London kommen. Die Grafschaft ist zum größten Teilfruchtbares Hügelland; die Mitte wird von Kreidehügeln(Downs) durchzogen, der hügelige Süden kulminiert imLeith Hill (303 m). Nördlich bildet die Themse die Grenze undnimmt hier den Wey und Mole auf. Ackerbau und Viehzucht bilden dieHaupterwerbszweige der außerhalb Londons lebenden Einwohner.Außer Getreide werden namentlich Hopfen und Gemüsegezogen. 32,2 Proz. der Oberfläche sind unter dem Pflug, 29,2Proz. bestehen aus Wiesen. 1888 zählte man 13,057 Ackerpferde,45,864 Rinder, 81,982 Schafe und 25,238 Schweine. Hauptstadt istGuildford.

Surrey (spr. ssörri), Henry Howard, Earl of, engl.Dichter, geb. 1517 zu Kenning Hall in Suffolk, ältester Sohndes Herzogs von Norfolk, trat 1540 in den Kriegsdienst undbefehligte bereits 1544 das englische Heer als Feldmarschall aufdem Zug nach Boulogne, ward aber dann von dem argwöhnischenKönig Heinrich VIII. ohne allen Grund des Hochverratsangeklagt und trotz seiner männlichen und begeistertenSelbstverteidigung 21. Jan. 1547 im Tower zu London enthauptet. S.war seit Chaucer der erste bedeutendere Dichter der Engländer.Seine Gedichte sind selbständige Nachahmungen Petrarcas,weniger durch hohen Flug der Phantasie als durch Anmut und Zartheitsowie durch Reinheit und Eleganz der Sprache ausgezeichnet; unterihnen stehen die Liebesgedichte an Geraldine (nach H. Walpolewahrscheinlich die noch sehr jugendliche Lady Elizabeth Fitzgerald)obenan. S. führte das Sonett und die ungereimtenfünffüßigen Jamben in die englische Sprache ein.Auch vermied er die vielen Latinismen seiner Vorgänger aus derSchule Chaucers und Dunbars. Seine "Songs and sonnets" erschienen,mit denen seines Freundes Thomas Wyatt u. a., zuerst 1557 u.öfter; eine neue Ausgabe besorgte Bell (1871).

Surrogat (lat.), Ersatzmittel, besonders für einenRohstoff oder ein Fabrikat, welches meist der Wohlfeilheit halberAnwendung findet und möglichst annähernd dieEigenschaften der Substanz besitzen soll, welche es zu ersetzenbestimmt ist. Häufig ist die Anwendung von Surrogaten durchdie Verhältnisse geboten, weil der ursprünglichangewandte Rohstoff zu teuer geworden oder überhaupt nicht ingenügender Quantität zu beschaffen ist (Anwendung vonEsparto, Holzstoff etc. statt Hadern in der Papierfabrikation),

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Sursee - Susdal.

in der Regel aber bedeutet die Anwendung von Surrogaten eineVerminderung der Qualität des Fabrikats (wie in demangeführten Beispiel Surrogierung der Hadern durch Thon,Schwerspat etc., der Wolle durch Kunstwolle, des Malzes durchStärkezucker, Glycerin) und oft geradezu eine Fälschung.Insofern aber Surrogate immer Ersatzmittel sind, dürfen siedoch nicht mit den Fälschungsmitteln verwechselt werden.Gefärbte Steinchen in Kleesaat sind kein S. der Kleesaat, dennsie sind völlig wertlos, während z. B. Kaffeesurrogate,wie Zichorie, Runkelrübe, Getreide, Hülsenfrüchte,zwar nicht den Kaffee ersetzen können, wohl aber wie dieserein Getränk liefern, welches in mancher Hinsicht dem Kaffeeähnlich ist. Aber auch diese Surrogate werdenFälschungsmittel, wenn der Händler sie gemahlenem Kaffeebeimischt und die Mischung als Kaffee verkauft.

Surfee, Bezirkshauptstadt im schweizer. Kanton Luzern, amSempacher See, unweit der Bahnlinie Olten-Luzern, mit (1888) 2135Einw.

Sursum (lat.), aufwärts, empor; S. corda! Empor dieHerzen! im katholischen Kult Aufforderung an das Volk, welchesdarauf antwortet: Habemus ad dominum, d. h. wir haben sie zu demHerrn (gerichtet).

Surtaxe (frz., spr. ssürtax), Nachsteuer,Steuerzuschlag, insbesondere Zollzuschlag (im Gegensatz zu Detaxe,Zollherabsetzung). Über S. d'entrepôt und S. de pavillons. Zuschlagszölle.

Surtout (franz., spr. ssürtuh), Überrock,Überzieher, kam gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts inGebrauch und wurde später, ähnlich dem englischenReitrock, mit mehreren übereinander hängendenSchulterkragen versehen; dann ein größerer, mitBlumenvasen und Fruchtschalen geschmückter Tafelaufsatz ausSilber oder Kristall.

Surtur, in der nord. Mythologie ein Riese, welcher, mitglühendem Schwert bewaffnet, in Muspelheim alsunversöhnlicher Feind der Asen herrscht und beim Weltuntergangeine große Rolle spielt; s. Götterdämmerung.

Surukuku, Schlange, s. Lachesis.

Surville (spr. ssürwill), Clotilde de, geb. 1405 zuVallon in Languedoc, wurde lange für die Verfasserin einer1803 von Vanderburg herausgegebenen Sammlung sehr graziöserGedichte, meist lyrischen Inhalts, gehalten; aber Anachronismen inForm und Inhalt machen es wahrscheinlich, daß dieselben vonJos. Etienne de S. herrühren, der 1798 wegen royalistischerUmtriebe erschossen wurde, und welcher sich durch dieseMystifikation für die Verschmähung seiner Poesien amPublikum rächen wollte. Auch Nodier mißbrauchte denNamen der S. ("Poésies inédites de C. de S.", 1826).Vgl. Vaschalde, C. de S. et ses poésies (Valence 1873);König, Étude sur l'au- thenticité despoésies de Clotilde de S. (Halle 1875).

Survilliers (spr. ssürwiljeh), Graf von, der vonJoseph Bonaparte (s. d. 1, S. 183) 1815 angenommene Name.

Sus (lat.), Schwein.

Süs, Gustav, Maler, geb. 10. Juni 1823 zu Rumbeck inKurhessen, widmete sich auf der Kasseler Akademie, später imStädelschen Institut in Frankfurt a. M. bei ProfessorPassavant und Jakob Becker der Malerei. Um seine Existenz zufristen, schrieb er Kindermärchen, die er selbst illustrierte.Sie fanden großen Beifall und wurden zum Teil ins Englischeund Französische übersetzt. Hervorzuheben sind: "DerKinderhimmel" , "Hähnchen und Hühnchen", "Der Wundertag","Das Kind und seine liebsten Tiere", "Was der Nußbaumerzählt", "Das Wettlaufen zwischen dem Hasen und Igel","Froschküster Quack" u. a. Von 1848 bis 1850 malte er in derHeimat Studien und Porträte. Seitdem lebte er inDüsseldorf, wo er noch ein Jahr die Akademie besuchte. Hiermachte er die Darstellung von Tieren, namentlich Geflügel, zuseiner Hauptaufgabe. Manche seiner trefflichen Bilder, die meistvon einem humoristischen Grundgedanken ausgehen, sind durchFarbendruck und Photographie weit verbreitet, wie: der ersteGedanke und die Kükenpredigt. Er starb 23. Dez. 1881.

Sufa (Schuschan, "Lilienstadt", heute Ruinen Sûs),Hauptstadt der altpers. Provinz Susiana, seit Kyros Winterresidenzder persischen Könige, lag mitten im Land zwischen denFlüssen Choaspes (Kercha) und Kopratas (Dizful Rud) und hatteeine stark befestigte Burg, welche den königlichen Palast undeine Hauptschatzkammer der persischen Könige enthielt. In ihrfeierten Alexander und seine Feldherren ihre Vermählung mitPerserinnen. Dareios, Xerxes und ihre Nachfolger bis auf ArtaxerxesII. haben nach den dort gefundenen Inschriften die Prachtsäleerbauen lassen, in deren Trümmern seit 1850 von Williams,Loftus und Churchill, neuerdings (seit 1885) von Dieulafoy gegrabenworden ist. Vgl. Oppert, Les inscriptions susiennes (Par. 1873);Dieulafoy, L'acropole de Suse (das. 1888).

Susa, Kreishauptstadt in der ital. Provinz Turin, an derDora Riparia, der Mont Cenisstraße und durch die ZweiglinieBussoleno-S. mit der Mont Cenisbahn verbunden, ist Sitz einesBischofs und eines Hauptzollamts, hat eine Kathedrale (aus dem 11.Jahrh.), ein Gymnasium, eine technische und eine Notariatsschule,starken Obst- und Weinbau, Industrie in Eisen, Leder und Seide und(1881) 3305 Einw. S. ist das römische Segusio. Dabei dieRuinen des Stammschlosses der Markgrafen von S., das Fort LaBrunette und ein dem Augustus 8 v. Chr. vom König Cottiuserrichteter Triumphbogen.

Susandschird (arab.), Nadelmalerei, die älteste, inPersien geübte Art der Teppichfabrikation, bei welcher dieFäden nicht mit den Händen geknüpft, sondern mit derNadel zu einem Gewebe verarbeitet wurden. Vgl. Karabacek, Diepersische Nadelmalerei S. (Leipz. 1881).

Susanna, Hebräerin zu Babylon, die nach demapokryphischen Buch "Historie von S. und Daniel" von zweiÄltesten aus Israel, die sie vergebens zu verführengesucht, des Ehebruchs mit einem Unbekannten angeklagt und zum Todverurteilt, im letzten Augenblick aber durch die Eingebung und denScharfsinn des jungen Daniel, den spätern Propheten, errettetwurde. Ihre Geschichte wurde namentlich im 16. Jahrh. vielfachdramatisch behandelt, so in dem an zahlreichen Orten gegebenenMagdeburger "Schönen Spiel von der S." (1534), von P. Rebhuhn(1534), v. Bartfelt (1559), Nik. Frischlin (1589), Herzog HeinrichJulius von Braunschweig (1593), Hans Sachs (1557) u. a., inneuester Zeit von K. L. Werther (1855). Vgl. Brüll, Dasapokryphische Susannabuch (Frankf. 1877); Pilger, DieDramatisierungen der S. im 16. Jahrhundert (Halle 1879).

Suscipere et finire (lat.), "beginnen und zu Endeführen", Wahlspruch des Hauses Hannover.

Suscitieren (lat.), erregen, aufmuntern; Suscitation,Erweckung, Ermunterung.

Susdal (Ssusdal), Kreisstadt im russ. GouvernementWladimir, hat 25 griechisch-russ. Kirchen, 4 Klöster,bedeutende Baumwollweberei, Gemüsebau und (1885) 6668 Einw.S., schon 1024 erwähnt, war bis 1170 Hauptstadt einesFürstentums (s. Wladi-

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Susemihl - Sussex.

mir, Gouvernement) und kann als die Wiege des nachmaligen StaatsMoskau betrachtet werden. Die Stadt wurde mehrmals von den Tatarenzerstört.

Susemihl, Franz, namhafter Philolog, geb. 10. Dez. 1826zu Laage in Mecklenburg-Schwerin, studierte 1845-48 zu Leipzig undBerlin, wirkte als Lehrer in Güstrow und Schwerin,habilitierte sich 1852 in Greifswald und wurde daselbst 1856außerordentlicher, 1863 ordentlicher Professor derklassischen Philologie. Seine Hauptwerke sind: "Die genetischeEntwickelung der Platonischen Philosophie" (Leipz. 1855-60, 2Bde.); "Aristoteles über die Dichtkunst" (griech. und deutsch,das. 1865, 2. Aufl. 1874); "Aristotelis Politicorum libri VIII cumvetusta translatione G. de Moerbeka" (das. 1872); "Aristoteles'Politik" (griech. und deutsch, das. 1879, 2 Bde.); ferner zuAristoteles Textausgaben der "Ethica Nicomachea" (das. 1880), der"Magna Moralia" (das. 1883), der "Ethica Eudemia" (das. 1884), der"Oeconomica" (das. 1887). Außerdem hat er mehrere PlatonischeDialoge übersetzt und zahlreiche Abhandlungen, besondersüber die alten Philosophen, geschrieben.

Susiana, altpers. Landschaft, am Persischen Meerbusenzwischen Medien, Persis und Babylonien gelegen, das jetzigeChusistan, wurde vom Choaspes (Kercha), Euläos (Kuren) undKopratas (Dizful Rud) bewässert und von den Kossäern,Elymäern, Susianern und Uxiern bewohnt. Hauptstadt war Susa.S. Karte "Reich Alexanders d. Gr.".

Suso (Seuse), Heinrich, Mystiker, geb. 1295 zuÜberlingen, nannte sich nach der Mutter (der Vater war einHerr v. Berg), studierte in Köln Theologie und widmete sichseit 1308 in einem Kloster zu Konstanz einem streng asketischenLeben mit schweren Kasteiungen, durchzog, 40 Jahre alt, Schwaben,gewann in den Frauenklöstern vielen Anhang und lebte etwa seit1348 in Ulm, wo er 1366 starb. Sein Hauptwerk ist das "Buch von derewigen Weisheit". Seine Mystik zeigt weder reformatorischeTendenzen noch selbständige Spekulation, doch ist er wegen desVorwiegens des sinnig-poetischen Elements als "Minnesinger in Prosaund auf geistlichem Gebiet" bezeichnet worden. Seine Werke (zuerstAugsb. 1482 u. 1512) wurden von Diepenbrock (4. Aufl., Regensb.1884) und von Denifle (deutsche Schriften, Augsb. 1878-80) neuherausgegeben. Vgl. Preger, Die Briefe Heinrich Susos (Leipz.1867); Denifle in der "Zeitschrift für deutsches Altertum"(1875); Preger (das. 1876); Derselbe, Geschichte der deutschenMystik, Bd. 2 (Leipz. 1882).

Suspekt (lat.), verdächtig.

Suspendieren (lat.), zeitweilig aufheben, einstellen;zeitweilig außer Wirksamkeit, Amtstätigkeit setzen.

Suspension (lat.), Dienstenthebung (s. Disziplinargewalt,S. 5).

Suspensiv (lat.), aufschiebend; daher suspensiveRechtsmittel, solche, welche den Eintritt der Rechtskraft einesUrteils und die zwangsweise Vollstreckung desselben verhindern;Suspensivbedingung, eine aufschiebende Bedingung, von welcher derBeginn eines Rechtsverhältnisses abhängt.

Suspensorium (lat., Tragbeutel), Verbandstück,vorzüglich eine gewisse Art von Tragbinden, bestimmt, einenhängenden Teil des Körpers in einer gewissen Höhe zuhalten und zu tragen, wird besonders angewendet beiEntzündungen des Hodensacks und der Hoden sowie der weiblichenBrust.

Suspicion (lat.), Verdacht, Argwohn; suspiciös,argwöhnisch, mißtrauisch.

Susquehanna, der Hauptstrom des nordamerikan. StaatsPennsylvanien, entsteht aus zwei Quellflüssen, von denen deröstliche aus dem Otsegosee im Staat New York kommt,während der westliche auf dem Alleghanygebirge inPennsylvanien entspringt. Nach der Vereinigung beider (bei Sunbury)strömt der Fluß südlich, dann südöstlichund fällt bei Havre de Grace im Staat Maryland in dieChesapeakebai des Atlantischen Ozeans. Seine bedeutendstenNebenflüsse sind: der Chenango, Tioga und Juniata. Der S. hatmehrere Wasserfälle und Stromschnellen, richtet oftgroße Überschwemmungen an, wird aber im Sommeröfters ziemlich seicht und hat daher ungeachtet seines 650 kmlangen Stromlaufs und 62,000 qkm großen Stromgebiets alsWasserstraße nur eine geringe Bedeutung; doch begleitendenselben fast seiner ganzen Länge nach schiffbareKanäle.

Sueß, Eduard, Geolog, geb. 20. Aug. 1831 zu London,studierte in Prag und Wien, wurde 1852 Assistent amHofmineralienkabinett zu Wien, erhielt 1857 die Professur derGeologie daselbst, war 1863 bis 1873 Mitglied des WienerGemeinderats und Referent der Wasserversorgungskommission, wurde1869 Mitglied des niederösterreichischen Landtags, 1870-74Mitglied des Landesausschusses und als solcher mit dertatsächlichen Durchführung der neuenVolksschulgesetzgebung in Niederösterreich beschäftigt.1873 in den Reichsrat gewählt, bewährte er sich alsglänzender Redner der Linken, namentlich in dem Kampf gegenden Ultramontanismus. Er schrieb : "Böhmische Graptolithen"(Wien 1852); "Brachiopoden der Kössener Schichten" (das.1854); "Brachiopoden der Hallstätter Schichten" (das. 1855);"Der Boden der Stadt Wien" (das. 1862); "Über denLöß" (das. 1866); "Charakter der österreichischenTertiärablagerungen" (das. 1866, 2 Hefte); "Äquivalentedes Rotliegenden in den Südalpen" (das. 1868); "Lagerung desSteinsalzes von Wieliczka" (das. 1868); "Die tertiärenLandfaunen Mittelitaliens" (das. 1871); "Bau der italienischenHalbinsel" (das. 1872); "Erdbeben des südlichen Italien" (das.1874); "Der Vulkan Venda bei Padua" (das. 1875); "Die Entstehungder Alpen" (das. 1875); "Die Zukunft des Goldes" (das. 1877) undals Hauptwerk "Das Antlitz der Erde" (1883-88, Bd. 1-2), in welchemer namentlich für die Lehre von der Gebirgsbildung neue Bahneneröffnete.

Sussanin, Iwan, ein Bauer aus Kostroma, soll 1613 demZaren Michail Romanow das Leben gerettet haben, als die Polendemselben nachstellten, verlor aber dabei das Leben; seineNachkommen erhielten allerlei Vorrechte (s. Belopaschzen). Er istder Held von Glinkas Oper "Das Leben für den Zaren".Kostomarow wies die Unzuverlässigkeit der historischenTradition in betreff Sussanins nach.

Süßbohne, s. v. w. Apios tuberosa.

Süßerde, s. v. w. Berylliumoxyd, s.Beryllium.

Süßer See, s. Salziger See.

Sussex (spr. ssöss-) engl. Grafschaft zwischen denGrafschaften Kent, Surrey und Hampshire, mit 3777 qkm (68,6 QM.)Areal und (1881) 490,505 Einw. Die Kreidehügel der Southdownsmit dem 269 m hohen Butser Hill durchziehen die Grafschaft von W.nach O. und endigen, allmählich der Küstenähertretend, im steilen Beachy Head. Nördlich von diesemWeideland liegt der Bezirk der Wealds und Forest Hills, frühermit ausgedehnten Waldungen bedeckt. Der Strich längs derKüste ist meist eben und ungemein fruchtbar. Die wichtigstenFlüsse sind: Arun, Adur-Ouse und Rother. Viehzucht undAckerbau sind Haupt-

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Sussex - Süßwasserformationen.

erwerbszweige. Von der Oberfläche bestehen 35,5 Proz. ausAckerland, 37,3 aus Wiesen u. 16 Proz. aus Wald; 1888 zählteman 24,789 Ackerpferde, 105,470 Rinder, 476,986 Schafe und 42,501Schweine. Die Industrie ist ohne Bedeutung. Die Eisengewinnung hatseit 1809 aufgehört. Hauptstadt ist Lewes. - S. war derLandungsplatz der meisten Völker, welche England heimsuchten.Julius Cäsar landete bei Pevensey, der Angelsachse Ella unfernChichester; letzterer gründete 477 das Reich Suth - sex("Südsachsen"), welches 688 an Wessex fiel; Wilhelm derEroberer erkämpfte hier den Sieg von Hastings (1066).

Sussex (spr. ssöss-) Augustus Frederick, Herzog von,sechster Sohn Georgs III. von England, geb. 27. Jan. 1773,studierte zu Göttingen, hielt sich dann vier Jahre in Rom aufund heiratete daselbst im April 1793 Augusta Murray, die Tochterdes katholischen Grafen von Dunmore in Schottland. Wiewohl er dabeiseinen Familienrechten entsagt hatte, erklärte doch Georg III.auf Grund eines Hausgesetzes der englischen Dynastie diese ohneseine Erlaubnis geschlossene Ehe für ungültig. Nachdemsich der Prinz 1801 von seiner Gemahlin, welche ihm zwei Kinder,die den Namen Este (s. d.) erhielten, geboren, getrennt hatte,wurde er 1801 zum Peer von England mit dem Titel eines Herzogs vonS., Grafen von Inverneß und Baron von Arklow ernannt. ImParlament hielt er sich meist zur Oppositionspartei und wirkte imliberalen Sinn für die Emanzipation der Katholiken, dieAbschaffung des Sklavenhandels, die Parlamentsreform etc. Obgleichauf den Genuß seiner Apanage beschränkt, sammelte erdoch eine besonders an Ausgaben und Übersetzungen der Bibelsowie an Handschriften sehr reichhaltige Bibliothek, welche Th.Jos. Pettigrew (Lond. 1827, 2 Bde.) beschrieben hat. Auch war ereine Zeitlang Präsident der königlichen Gesellschaft derWissenschaften. Nach dem Tod seiner ersten Gemahlin heiratete er1831 gleichfalls ohne königliche Genehmigung Lady CecilyUnderwood, Tochter des irischen Grafen von Arran, Witwe von SirGeorge Buggin, die 1840 zur Herzogin von Inverneß erhobenwurde. Er starb 21. April 1843 im Kensingtonpalast.

Süßgras, s. Glyceria.

Süßgräser, s. v. w. Gramineen, s.Gräser.

Süßholz, Pflanzengattung, s. v. w.Glycyrrhiza; indisches oder amerikanisches S., s. Abrus; wildes S.,s. v. w. Astragalus glycyphyllus oder Polypodium vulgare.

Süßholzpasta, s. Lederzucker.

Süßholzsaft, s. Lakritzen.

Süßklee, s. v. w. Esparsette, s.Onobrychis.

Sußmann-Hellborn, Louis, Bildhauer, geb. 20.März 1828 zu Berlin, war daselbst fünf Jahre langSchüler von Wredow, studierte von 1852 bis 1856 in Rom, machtedann längere Reisen und ließ sich 1857 in Berlin nieder,wo er unter anderm von 1882 bis 1887 als artistischer Leiter derköniglichen Porzellanmanufaktur fungierte. Auf einen schon inRom entstandenen trunkenen Faun (1856, Nationalgalerie in Berlin)folgten andre Genre- und mythologische Gestalten, z. B. einehaarflechtende Italienerin, ein Amor in Waffen, eine verlassenePsyche und ein Knabe als Kandelaberträger. Später wandteer sich auch der monumentalen Porträtstatue zu und schuf dasMarmorstandbild eines jugendlichen Friedrich d. Gr. (1862) fürdas Rathaus in Breslau und einen schon bejahrten Friedrich d. Gr.(1869) sowie Friedrich Wilhelm III. für das Rathaus in Berlin,eine 1878 enthüllte Bronzestatue Friedrichs d. Gr. fürdie Stadt Brieg und die sitzenden Statuen von Hans Holbein undPeter Vischer für das Kunstgewerbemuseum in Berlin, zu dessenBegründern er gehört. Unter seinen Genrefiguren derspätern Zeit sind noch ein Fischer mit der Laute, derVolksgesang und Dornröschen (in der Berliner Nationalgalerie)hervorzuheben.

Süßmayer, Franz Xaver, Komponist, geb. 1766 zuSteyr, erhielt seine Ausbildung als Zögling derBenediktinerabtei zu Kremsmünster sowie später in Wiendurch Mozart und Salieri, wurde 1792 zweiter Kapellmeister amdortigen Hoftheater und starb als solcher 7. Sept. 1803 mitHinterlassung zahlreicher, zu seiner Zeit geschätzter Vokal-und Instrumentalwerke. Mit Mozart intim befreundet, erhielt er kurzvor dessen Tod von ihm den Auftrag, einige Arien zur Oper "Titus"zu vollenden; auch gab er nach Mozarts Tode dem berühmten"Requiem" desselben den vollständigen Abschluß, indem ereinzelnes in der Instrumentation, was Mozart nur angedeutet hatte,ausführte und die erste Fuge: "Kyrie", auf die Worte: "c*msanctis tuis in aeternum" wiederholte und zum Schlußchor desWerkes machte.

Süßmilch, Name für eine Abart desPharospiels, welches sich vom eigentlichen Pharo dadurchunterscheidet, daß keiner der Spieler ein eignes "Buch"bekommt, dagegen ein Buch offen auf den Tisch gebreitet wird, vondessen 13 Blättern jeder Spieler eins beliebig besetzt.

Süß Oppenheimer, Joseph, berüchtigterwürttemberg. Finanzminister, ein Jude, geb. 1692 zuHeidelberg, widmete sich dem Handelsstand und trat durchverschiedene Geldgeschäfte mit dem Herzog Karl Alexander vonWürttemberg in Verbindung, der ihm erst die Direktion desMünzwesens übertrug und ihn endlich bis zum GeheimenFinanzrat und Kabinettsminister erhob. Als solcher besetzte S. alleStellen mit seinen Kreaturen, ließ 11 Mill. Gulden falschesGeld prägen, errichtete ein Salz-, Wein- und Tabaksmonopol,verkaufte um große Summen Privilegien, zog eine großeMenge Juden ins Land und drückte das Volk mit Abgaben allerArt. Durch dies alles zog er den allgemeinen Haß auf sich,und nach dem Tode des Herzogs (12. März 1737) wurde erverhaftet, vor ein Gericht gestellt und als Staatsverbrecher inseinem Staatsgewand 4. Febr. 1738 in einem besondern Käfigaufgehängt. Hauff machte sein Leben zum Gegenstand einerNovelle ("Jud Süß"). Vgl. Zimmer, Joseph S. (Stuttg.1873).

Süßwasser, das reine Quellwasser und die ausdiesem sich bildenden Bäche, Flüsse, Teiche, Seen etc.,im Gegensatz zu dem salzigen Wasser der Meere, einzelner Salzseenund der Solquellen. Charakteristisch ist nicht sowohl dasgänzliche Fehlen als der sehr geringe Gehalt (z. B. imRheinwasser 0,14 Teile Chlornatrium in 10,000 Teilen Wasser) anSalzen, besonders Chlornatrium.

Süßwasserformationen, in der GeologieAblagerungen, die aus ihren organischen Resten schließenlassen, daß sie aus Süßwasser sich niederschlugen.Die Reste der Bewohner von süßem Wasser müssen insolchen Ablagerungen entschieden vorherrschen und sichere Anzeichenan sich tragen, daß sie keinem weitern Transport unterlegensind, da Süßwasserformen jedenfalls häufiger in dieSee als umgekehrt Seebewohner in süßes Wassereingeschwemmt werden. Reine S. sind für jüngereFormationen charakteristisch und reichen vermutlich nicht überdie Wealdenzeit zurück, werden aber von einigen Geologenselbst noch in der Steinkohlenformation angenommen, in-

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Süßwasserkalk - Sutsos.

dem die Anthrakosien als Süßwasserformen gedeutetwerden, während die Gegner echteSüßwasserkonchylien erst aus dem braunen Jura geltenlassen.

Süßwasserkalk, s. Kalktuff.

Süßwassermolasse, s.Tertiärformation.

Süßwasserpolyp, s. Hydra.

Süßwasserquarz, s. Quarzit.

Süßwurzel, indianische, s. Cyperus.

Susten, Hochgebirgspaß im östlichenFlügel der Berner Alpen (2262 m), zwischen Titlis undSustenhorn (s. Dammastock), verbindet das bernerische Gadmenthal(Gadmen 1202 m) mit dem Urner Mayenthal (Wasen 847 m).

Sustentation (lat.), Unterhalt, Versorgung; daherSustentationskosten, der Aufwand, welchen die Verpflegung einer auföffentliche Kosten zu versorgenden Person verursacht. S.heißt auch die Apanage (s. d.) einer Prinzessin.

Susu, Negerstamm in Westafrika, zwischen dem RioNuñez und Scarcias, und im Innern. Die S. sind Verwandte derMandingo, ihre Sprache ist die allgemeine Handelssprache in denFaktoreien der Europäer.

Suszipieren (lat.), unter-, auf sich nehmen; Suszeption,An-, Übernahme, besonders der geistlichen Weihen; suszeptibel,empfänglich; reizbar.

Sutherland (spr. ssötherländ, "Südland",mit Bezug auf Norwegen), eine der nördlichen GrafschaftenSchottlands, vom Atlantischen Ozean und der Nordsee bespült,5451 qkm (99 QM.) groß mit (1881) 23,370 Einw., ist mitAusnahme eines kleinen Gebiets an der Ostküste durchaus rauhund gebirgig und erreicht unweit der Westküste im Ben Hope926, im Ben More Assynt 1000 m, während das Innere ein vontief eingeschnittenen Thälern durchzogenes Tafelland mitvereinzelten Bergen (Ben Klibreck 964 m) bildet. Die bedeutendstenFlüsse sind: Oykill (mit dem Shin), Brora und Ullie an derOstküste, Halladale, Strathie und Naver an der Nordküste;keiner derselben ist schiffbar, alle aber sind lachsreich. Von denzahlreichen Landseen sind Loch Shin, Loch Naver und Loch Laoghall(Loyal) die größten. Das Klima ist rauh und nebelig, derBoden nur auf kleinen Küstenstrecken zum Ackerbau geeignet;nur 1,69 Proz. der Oberfläche sind unterdem Pflug, 0,58 Proz.sind Weide, 1,17 Proz. Wald. Indes läßt der Herzog vonS. seit einer Reihe von Jahren große Strecken Moorlandesurbar machen. Von größerer Bedeutung sind die Viehzucht(Rinder, Schafe) und die Fischerei. Das Mineralreich bietetHalbedelsteine und Steinkohlen (bei Brora an der Ostküste).Die Industrie beschränkt sich auf Verfertigung vonWollenzeugen. Hauptstadt ist Dornoch.

Sutherland (spr. ssötherländ), einer derältesten schott. Adelstitel, zuerst verliehen 1228 an William,Grafen von S., der Sage nach Sohn des durch Macbeth ermordetenAllan, Than von S. Durch Vermählung kam der Titel 1515 an dieFamilie Gordon, deren letzte Erbin sich mit George GranvilleLeveson-Gower, Marquis von Stafford, vermählte. Dieser, einerder größten Grundeigentümer inGroßbritannien, wurde 1833 zum Herzog von S. erhoben undstarb 19. Juli 1833. Gegenwärtiger Chef des Hauses ist seinEnkel George Granville, dritter Herzog von S., geb. 19. Dez.1828.

Sutinsko, Bad im kroatisch-slawon. Komitat Warasdin (inZagorien), mit einer besonders bei Frauenleiden wirksamenindifferenten Therme von 37,4° C.

Sutorina, zur Herzegowina gehöriges Gebiet, das inForm einer schmalen Zunge zwischen dalmatischem Territorium an dieBocche di Cattaro reicht.

Sûtra, s. Weda.

Sutri, Stadt in der ital. Provinz Rom, Kreis Viterbo, dasaltetruskische Sutrium, ist Bischofsitz, hat noch aus derältesten Zeit erhaltene Thore, ein antikes Amphitheater,etruskische Gräber und (1881) 2318 Einw. In S. fand 1046 eineKirchenversammlung in Heinrichs III. Gegenwart statt.

Sutschawa (rumän. Suceava), Kreis in dernördlichen Moldau, mit der Hauptstadt Foltit*cheni.

Sutschou, eine große Stadt in der chines. ProvinzKiangsu, am Kaiserkanal, auf Inseln erbaut und von Kanälendurchschnitten, berühmt wegen der Schönheit undIntelligenz seiner Bewohner. Es ist der Sitz des chinesischenBuchhandels, namentlich in Bezug auf die massenhafte Verbreitungmittelguter Ausgaben klassischer und sonst vielgelesener Schriften.Auch standen von alters her gewisse Industrien dort in großerBlüte, wie die Anfertigung roter Lacksachen. DieTaipingrebellion hat jedoch den Wohlstand der Stadt bedeutendverringert, und das neue S. läßt sich mit dem altennicht vergleichen. Auch eine katholische und eine evangelischeMission befinden sich daselbst.

Sutsos, Alexandros und Panagiotis, zwei hervorragendeneugriech. Dichter, Neffen von Alexandros S., Fürsten derWalachei, geb. 1803 und 1806 zu Konstantinopel, wurden auf demGymnasium in Chios gebildet, setzten ihre Studien in Frankreich undItalien fort und lebten seit 1820 in Paris im Umgang mit Korais undandern hervorragenden Männern. Erfüllt von lebhafterLiebe zu ihrem Vaterland, aber unklar in ihren politischenAnschauungen, traten beide, besonders Alexandros, als erbitterteGegner des Präsidenten Kapo d'Istrias und später desKönigs Otto auf. Alexandros gab die Stellung eines Professorsan der Universität Athen und eines Historiographen desKönigreichs, die ihm nacheinander übertragen worden, auf,um sich als Misanthrop ganz von der Öffentlichkeitzurückzuziehen und als Verbannter im eignen Vaterland 1863 imKrankenhaus zu Smyrna zu sterben. Panagiotis folgte ihm 1868 zuAthen im Tod nach. Des letztern ältestes und bestes Gedichtist "Der Wanderer" ("Hodoiporos"), ein lyrisches Drama in fünfAkten, voll von Sentimentalität und unnatürlichenSituationen, aber von großen Schönheiten der Sprache unddes Versbaues. Ein mythisch-historischer Roman, "Leandros" (Nauplia1834), schildert das Unterliegen höherer, besonderspolitischer, Interessen in dem Kampf mit individuellerLeidenschaft. Reich an lyrischen Schönheiten ist dieTragödie "Messias" (Athen 1839); weniger bedeutend sind dreiandre Dramen: "Vlachavas", "Karaiskakis" und "Der Unbekannte" (das.1842). Auf der Höhe seines Talents steht er in seinen Oden(Hydra 1826; wiederholt als "Odes d'un jeune Grec", Par. 1828).Außerdem erschienen: erotische Lieder und politische Gedichteals Anhang zum "Wanderer" ; ein weiterer Band Gedichte unter demTitel: "Kithara" (Athen 1835, 1851); eine Fabelsammlung (das. 1865)sowie eine (unvollständige) Gesamtausgabe der Dichtungen (das.1851, neue Ausg. 1883). Seine puristischen Grundsätze in Bezugauf sprachliche Darstellung hat er in der Schrift "Nea schole"(Athen 1853) und in der Zeitschrift "Helios" entwickelt. Wenigerideal angelegt, aber bedeutend geistvoller als Panagiotis, begannAlexandros seine poetische Laufbahn 1824 mit satirischen Gedichtengegen die damalige Zerfahrenheit der griechischen Zustände,schrieb 1829 in Paris seine "Histoire de la révolutiongrecque" (deutsch, Berl. 1830) und war nach seiner Rückkehrnach Griechenland un-

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Sutti - Suworow.

erschöpflich in den bittersten Angriffen gegen Kapod'Istrias, die in dem "Panorama tes Hellados" (Nauplia 1833, 2Bde.) gesammelt sind. Seine weitern politischen Gedichte (1845)geben namentlich seinem Haß gegen die Bayern Ausdruck. Auchseine andern Werke verleugnen den satirischen Grundzug nicht, sobesonders die Komödie "Der Verschwender" ("Asotos", 1830), mitstarkem Anschluß an Molière; der politische Roman "DerVerbannte" ("Exoristos", Athen 1835; deutsch, Berl. 1837) und vorallen die nach Byrons "Childe Harold" gearbeitete Dichtung "DerUmherschweifende" ("Periplanomenos", 4 Gesänge, Athen1839-52). Vgl. über Alexandros S. Queux de Saint-Hilaire im"Annuaire pour l'encouragement des études grecques" (Par.1874).

Sutti (Satti), in Indien Bezeichnung einer Witwe, diesich mit der Leiche ihres Gatten verbrennen läßt. DerGebrauch ist den ältesten heiligen Schriften der Inder fremd,obwohl die Brahmanen, als die englische Regierung 1830 diesenGebrauch verbot, denselben durch Fälschung einer Stelle desRigweda zu verteidigen suchten. Die Witwenverbrennung kommt nurnoch selten in Vasallenstaaten vor. Vgl. H. Wilson in"Miscellaneous essays etc." (Lond. 1862); I. Bushby, Über dieWitwenverbrennung (das. 1855); M. Müller, Essays (Bd. 2, S. 30ff.).

Sutton in Ashfield (spr. ssött'n in äschfild),Stadt in Nottinghamshire (England), 4 km südwestlich vonMansfield (s. d. 1), mit Strumpfwirkerei, Kohlengruben und (1881)8523 Einw.

Sutura (lat.), Naht, Knochennaht.

Suum cuique (lat.), "jedem das Seine", Devise despreuß. Schwarzen Adlerordens.

Süvern, Johann Wilhelm, Philolog undeinflußreicher preuß. Schulmann, geb. 1775 zu Lemgo,Schüler F. A. Wolfs und Fichtes, dann Mitglied des GedikeschenSeminars für Gelehrtenschulen und Lehrer am KöllnischenGymnasium zu Berlin, 1800-1803 Rektor des Gymnasiums zu Thorn,1804-1807 in gleicher Eigenschaft zu Elbing, dann Professor derPhilologie in Königsberg, wo er namentlich mit Herbart inVerkehr stand. 1809 trat S. als Referent in die Unterrichtssektiondes preußischen Ministeriums ein und gehörte seit 1817dem neugebildeten Kultusministerium als Geheimer Staatsrat undMitdirektor an. Er starb 2. Okt. 1829 in Berlin. An dereinheitlichen Organisation des preußischen Schulwesens,namentlich des höhern, nach dem Frieden von Tilsit und nachden Freiheitskriegen hat S. wesentlichen Anteil. Er ist derVerfasser des Reglements für die wissenschaftlicheLehramtsprüfung von 1810, der Reifeprüfungsordnung von1812 sowie des Normallehrplans für die preußischenGymnasien von 1816, den er bereits 1811 ausgearbeitet hatte. Unterseinem Vorsitz entstand durch Kommissionsberatungen dasUnterrichtsgesetz von 1817, das jedoch wie der NormallehrplanEntwurf blieb. Auch lieferte er Ausgaben und Übersetzungen vonÄschylos, Sophokles, Aristophanes und geschätzteAbhandlungen über die dramatische Kunst der Griechen, z. B.über Aristophanes.

Süvernsche Masse, s. Abwässer, S. 71.

Suwalki (Ssuwalki), russisch-poln. Gouvernement, grenztim W. an Preußen, im N. an das Gouvernement Kowno, im O. andie Gouvernements Wilna und Grodno, im Süden an Lomsha undumfaßt 12,551 qkm (228 QM.). Das Land ist eben und wird im O.und N. von dem Niemen als Grenzfluß umflossen, neben welchemdie zum Flußsystem der Weichsel gehörenden Bobr, Netta,Stawiska, Jastrzebianka zu nennen sind. Die Zahl der Seen ist 480.Das Klima ist gemäßigt, aber infolge der nördlichenLage rauher als in den andern polnischen Gouvernements. Diemittlere Temperatur ist +6,8° C. Die Bevölkerung betrug1885: 624,579 Seelen (49 pro QKilometer) und bekennt sichvorherrschend zur römisch-katholischen Konfession (71 Proz.).Der Rest entfällt auf Juden, Lutheraner und Reformierte,Griechisch-Orthodoxe, Altgläubige und Mohammedaner. DieAltgläubigen (Starowierzen), an Zahl 5000, haben sich vormehreren hundert Jahren im südlichen Teil des Gouvernementsniedergelassen, bewohnen fünf Dörfer und genießenvollständige Freiheit in Bezug auf die Ausübung ihresKultus. Die Zahl der Eheschließungen war 1885: 3569, derGebornen 20,094, der Gestorbenen 15,558. Der Ackerbau, welcher vierFünfteln der Bewohner den Unterhalt gewährt, steht aufeiner niedrigen Entwicklungsstufe. Obst- und Gemüsegärtensind gänzlich vernachlässigt. Der Betrieb vonBranntweinbrennereien bildet eine bedeutende Aushilfe derLandwirtschaft, namentlich der größern Güter.Erheblich ist die Pferdezucht (fünf Privatgestüte). DieZucht der wilden Waldbienen liefert schönen, weißenHonig. Die Forsten bedecken den vierten Teil des Areals undgehören zum größern Teil der Regierung, welche sierationell verwalten läßt, während diePrivatwälder völlig verwahrlost sind. Die Industrie istunbedeutend, der Wert ihrer Produktion beziffert sich auf 1 1/3Mill. Rubel. Ebenso unbedeutend ist der Handel, der in denHänden der jüdischen Bevölkerung ist.Haupthandelspunkte sind: Suwalki, Augustowo, Aleksota. Für dieVolksbildung sind (1885) 203 Lehranstalten thätig (darunter 3Mittelschulen und 2 Fachschulen [ein geistliches und einLehrerseminar]) mit 13,316 Schülern. Die Zahl der Kreise istsieben: Augustowo, Kalwary, Mariampol, Seyny, Suwalki, Wladislawow,Wolkowyschky. S. Karte "Polen und Westrußland". - Diegleichnamige Hauptstadt, unweit des Wigrischen Sees, zur Zeit derersten Teilung Polens angelegt, ist schön undregelmäßig erbaut, hat ein Knaben- und einMädchengymnasium, lebhaften Grenzverkehr mit Preußen und(1886) 19,367 Einw.

Suwanee (spr. ssuwáni), Fluß in Nordamerika,entspringt im Staat Georgia in dem Okeesinokeesumpf und mündetnach einem Laufe von 320 km im Staat Florida in den Golf vonMexiko. An seinen Ufern mehrere geschätzteSchwefelquellen.

Suworow, Alexander Wasiljewitsch, Graf von S.-Rimnikskij,Fürst Italijskij, berühmter russ. Feldherr, geb. 24. Nov.1729 zu Moskau, begann im Siebenjährigen Krieg seinekriegerische Laufbahn, ward 1762 zum Obersten des AstrachanschenGrenadierregiments ernannt, befehligte beim Ausbruch der polnischenInsurrektion 1768 den Sturm auf Krakau, drang siegreich bis Lublinvor und kehrte nach der ersten Teilung Polens als Generalmajor nachPetersburg zurück. Im Türkenkrieg siegte S. 1774 beiTurtukai und bei Hirsowa und focht mit Auszeichnung unter Komenskijbei Kosludschi. Hierauf war er im Kampf gegen Pugatschewthätig. Sodann kämpfte er in der Krim. Mit derBeförderung zum Generalleutnant erhielt er 1780 zugleich denBefehl, gegen die aufständischen Völker am Kaukasus zumarschieren, und unterwarf dort die Lesghier nach blutigenKämpfen, wofür er zum General der Infanterie undGouverneur jener Provinzen ernannt wurde. Am 1. Okt. 1787 siegte erbei Kinburn und 1788 mit den Österreichern unter dem Prinzenvon Sachsen-Koburg bei Fokschani sowie 1789 am Rimnik über dieTürken, wofür er den Beinamen Rim-

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Suworowinseln - Svendsen.

nikskij erhielt und zum deutschen und russischen Reichsgrafenerhoben wurde. Am 22. Dez. 1790 erstürmte er die FestungIsmail, deren Einwohner er niedermetzeln ließ. Den polnischenAufstand von 1794 beendigte er rasch durch die Erstürmung vonPraga und die Besetzung von Warschau, wofür er zumGeneralfeldmarschall befördert ward. Hierauf zog er sich aufsein Landgut Kantschanski im Gouvernement Nowgorod zurück, bisihm 1799 Kaiser Paul den Oberbefehl über die Truppenübertrug, welche mit den Österreichern vereint in Italiengegen die Franzosen fechten sollten. Er schlug die letztern 27.April bei Cassano, 17., 18. und 19. Juli an der Trebbia und 15.Aug. bei Novi, eroberte Alessandria und warf binnen 5 Monaten denFeind aus ganz Oberitalien. Hierauf zog er nach der Schweiz, umsich mit Korssakow zu vereinigen. Sein Zug über den St.Gotthard war mit unbeschreiblichen Anstrengungen verknüpft undkostete ihm den dritten Teil seines Heers, den größtenTeil der Pferde, alle Lasttiere nebst Geschütz undGepäck. Als er endlich das vordere Rheinthal betrat, fand erdie Verbündeten inzwischen von Massena bei Zürich, vonSoult an der Linth, von Molitor bei Mollis geschlagen. Er tratdaher den Rückmarsch durch Graubünden nach Italien undvon da, inzwischen zum Generalissimus aller russischen Armeenernannt, im Januar 1800 nach Rußland an. Noch vor seinerRückkehr aber fiel er infolge angeblicher Nichtbeachtungkleinlicher kaiserlicher Dienstbefehle in Ungnade. Krank kam er 2.Mai 1800 in Petersburg an und starb daselbst 18. Mai. Alexander I.ließ ihm 1801 auf dem Marsfeld zu Petersburg eine kolossaleStatue setzen. Vgl. Anthing, Kriegsgeschichte des Grafen S. (Gotha1796-99, 3 Bde.); v. Smitt, Suworows Leben und Heerzüge (Wilna1833-34); Derselbe, S. und Polens Untergang (Leipz. 1858, 2 Bde.).Neuere Biographien Suworows lieferten Polewoi (deutsch, Mit. 1853)und Rybkin (russ., Mosk. 1874). Suworows "Korrespondenz überdie russisch-österreichische Kampagne im Jahr 1799" wurde vonv. Fuchs herausgegeben (deutsch, Glog. 1835, 2 Bde.). - SuworowsSohn Arkadij Alexiewitsch, geb. 1783, that sich im Feldzug von 1807hervor, ward Generalleutnant, befehligte eine Division derDonauarmee unter Kutusow und ertrank 1811 im Rimnik, wo sein Vaterden Sieg über die Türken erfochten hatte. Dessen SohnAlexander Arkadjewitsch S.-Rimnikskij, Fürst Italijskij, geb.1. Juli 1804, russ. Diplomat und General, diente im Kaukasus und inPolen, wurde mehrmals zu diplomatischen Missionen an deutscheHöfe verwandt, ward 1848 Generalgouverneur derOstseeprovinzen, die er vortrefflich verwaltete, 1861Generalmilitärgouverneur von Petersburg, dann, als im Mai 1866dies Amt in Wegfall kam, Generalinspektor der Infanterie. Er starb12. Febr. 1882 in Petersburg.

Suworowinseln, kleine, nur 5 km große Gruppe aufeinem eine Lagune einschließenden, mit Wasser bedeckten Riff,zur polynesischen Gruppe der Manihikiinseln gehörig, unter13° 20' südl. Br. und 163° 30' östl. L. v. Gr.Die nahe aneinander liegenden Eilande sind mit Gebüschbedeckt, haben einige Kokospalmen, aber kein Trinkwasser. Eintiefer Kanal führt in das Innere der seichten Lagune. DieGruppe wurde Anfang 1889 von England in Besitz genommen.

Suzeränität (franz.), Oberhoheit (s. d.).

Svarez (Suarez, eigentlich Schwartz), Karl Gottlieb(nicht von spanischer Abkunft), der Schöpfer despreußischen Landrechts, geb. 27. Febr. 1746 zu Schweidnitz,studierte 1762-65 in Frankfurt a. O. trat hierauf als Auskultatorbei der Oberamtsregierung zu Breslau in den praktischenJustizdienst, ward 1771 Rat daselbst und wirkte bei Neugestaltungder Verhältnisse Schlesiens unter dem Provinzialminister v.Carmer wesentlich mit zur Begründung des landschaftlichenKreditsystems, zur Reorganisation der höhern Schulen wie zurAnbahnung einer Prozeßreform, welch letztere indessen, durchden Großkanzler v. Fürst bekämpft, ins Stockengeriet. Als Carmer an Fürsts Stelle berufen wurde, folgte ihmS. 1780 als vortragender Rat nach Berlin, um dessen legislatorischePläne auszuführen. Auf Grund des Prozeßentwurfs von1775 bearbeitete er das 1781 publizierte erste Buch des "Corpusjuris Fridericianum" (von der Prozeßordnung), worausspäter die "Allgemeine Gerichtsordnung für diepreußischen Staaten" (Berl. 1794-95, 3 Tle.), ebenfalls seinWerk, hervorging. Auch in der Gesetzkommission für dasallgemeine Gesetzbuch fiel ihm die Hauptarbeit zu. Er schuf den"Entwurf eines Allgemeinen Gesetzbuchs" (Berl. 1784-88, 6 Abtlgn.),ebenso die Schlußredaktion des am 20. März 1791 zurPublikation gelangten Gesetzbuchs selbst. Nachdem dasselbe infolgevon Gegenströmungen 18. April 1792 auf unbestimmte Zeit wiedersuspendiert war, besorgte S. die durch Kabinettsorder vom 17. Nov.1793 angeordnete Revision, welche in dem "Allgemeinen Landrechtfür die königlich preußischen Staaten", publiziert5. Febr. 1794, mit Gesetzeskraft vom 1. Juni, ihren endlichenAbschluß fand. 1787 zum Geheimen Oberjustizrat befördertund noch in demselben Jahr zum Obertribunalsrat ernannt, starb S.14. Mai 1798 in Berlin. Vgl. Stölzel, K. G. S.(Berl.1885).

Svealand (Svearike), historische Bezeichnung für dasmittlere Schweden mit der Hauptstadt Stockholm.

Svegliato (ital., spr. sweljato), aufgeweckt, munter.

Svendborg, dän. Amt, den südöstlichen Teilder Insel Fünen nebst den Inseln Taasinge, Langeland, Aeroeund vielen andern umfassend, 1643 qkm (29,8 QM.) mit (1880) 117,577Einw. - Die gleichnamige Hauptstadt, in schöner Lage amSvendborgsund, Endpunkt der Eisenbahnlinie Odense-S., hat 2 Kirchenund (1880) 7184 Einw. Der Hafen ist etwa 4,5 m tief. Schiffahrt undSchiffbau sind von großer Bedeutung. Die Handelsflottezählte 1886: 286 Schiffe von 26,907 Registertonnen. 1886liefen 4744 Schiffe mit einer Warenmenge von 51,399 Registertonnenein und aus. S. ist Sitz eines deutschen Konsulats.

Svendsen, Johann Severin, norweg. Komponist, geb. 30.Sept. 1840 zu Christiania, erhielt von seinem Vater den erstenUnterricht im Violinspiel und ging 1862 als Mitglied einerambulanten Musikgesellschaft nach Hamburg, setzte nachAuflösung derselben, mit einem königlichen Stipendiumversehen, seine Studien in Leipzig fort und widmete sich hier, daer infolge einer Fingerkrankheit das Violinspiel aufgebenmußte, ausschließlich der Komposition. 1867 machte ereine Reise nach Island, lebte dann 1868-1869 in Paris, hieraufwieder in Leipzig und begab sich 1872 in seine Heimat, von wo auser im Herbst 1877, abermals mit einem königlichen Stipendiumausgerüstet, zu weitern Kunststudien nach Italien ging.Über London und Paris, wo er wieder anderthalb Jahreverweilte, nach Christiania zurückgekehrt, dirigierte er hierwieder die schon früher von ihm geleitetenMusikvereinskonzerte, bis er 1883 einem Ruf als Hofkapellmeisternach Kopenhagen folgte. Von seinen Kompositionen sindhervorzuheben: ein Konzert für Violine, eins fürVioloncello, ferner zwei Quar-

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Sverdrup - Swan's-down.

tette, ein Quintett und ein Oktett für Streichinstrumente,eine Einleitung zu Björnsons Tragödie "Sigurd Slembe",zwei Symphonien, von denen besonders die zweite (in B dur)günstige Aufnahme fand, "Hochzeitsfest" für Orchester,Ouvertüre zu "Romeo und Julie" u. a.

Sverdrup, Johan, norweg. Politiker, geb. 1816 auf demSchloß Jarlsberg, wo sein Vater die Güter des GrafenWedel-Jarlsberg verwaltete, studierte die Rechte, machte 1841 seinExamen und ließ sich in Laurvik als Anwalt nieder. 1851 wurdeer in das Storthing gewählt, dem er seitdem ununterbrochenangehörte. Radikalen Anschauungen huldigend, gewann erfür dieselben mehr und mehr Anhänger und bildete sichdurch unermüdliche Thätigkeit eine Partei, welchebesonders in der Landbevölkerung vorherrschte (Bauernpartei)und allmählich die Majorität im Storthing erlangte. Anihrer Spitze begann er, zum Präsidenten des Storthingsgewählt, den Kamps gegen das Königtum, das er zu einerbloßen Ehrenstellung herabdrücken wollte, mit dem Streitüber die Zulassung der Minister zum Storthing, aus dem sichdann der weitere über das königliche Veto entwickelte, inwelchem S. 1883 den Sieg davontrug, indem das Ministeriumverurteilt wurde. S. wurde 1884 an die Spitze des Ministeriumsgestellt, befriedigte aber durch seine Thätigkeit denradikalen Teil seiner Anhänger nicht, welche sich von ihmlossagten, und sah sich aus Rücksicht aus die Konservativen,von deren Stimmen er abhängig war, zu einergemäßigten Politik veranlaßt.

Sverige (schwed.), Schweden.

Sverker, König von Schweden, Enkel Svens desOpferers, stritt nach dem Erlöschen des Hauses KönigStenkils (1129) mit Magnus um den Besitz der Krone und kam endlichin den alleinigen Besitz derselben. Nach seiner Ermordung (1155)versuchten seine Nachkommen vergeblich, sich dauernd auf dem Thronzu behaupten. Mit Johann Sverkerson erlosch 1222 seinGeschlecht.

Svetla, Karoline, böhm. Schriftstellerin (eigentlichFrau Professor Muzak), geb. 24. Febr. 1830 zu Prag, gilt als diehervorragendste Romanschriftstellerin. Unter ihren zahlreichenErzählungen sind die besten: "Vesnicky roman" ("Dorfroman")und "Kriz a potoka" ("Das Kreuz am Bach"). Eine Gesamtausgabe ihrerzahlreichen Romane erscheint in der "Narodni bibliotheka". S.schrieb außerdem viele Aufsätze über Erziehung undLitteratur; ihre "Memoiren" erfreuen sich der allgemeinenAufmerksamkeit. Einige ihrer Werke wurden ins Deutsche,Französische, Polnische und Russische übersetzt.

Sw., bei botan. Namen Abkürzung für O. Swartz,geb. 1760, gest. 1818 als Professor in Stockholm; Kryptogamen,westindische, schwedische Flora.

Swaga, s. Borax.

Swains., bei naturwissenschaftl. Namen Abkürzungfür William Swainson, geb. 1789 zu Liverpool, gest. 1855 aufNeuseeland (Zoolog).

Swammerdam, Jan, Naturforscher, geb. 12. Febr. 1637 zuAmsterdam, studierte seit 1661 in Leiden Medizin, ging auf einigeJahre nach Saumur und Paris, kehrte 1665 nach Amsterdam, 1666 nachLeiden zurück, erwarb dort 1667 die medizinischeDoktorwürde und lebte dann in Amsterdam ausschließlichseinen schon bisher mit großem Eifer betriebenenplanmäßigen anatomischen Studien. Körperlichleidend und von einer pietistisch-schwärmerischenGemütsstimmung ergriffen, vertiefte er sich später in dieSchriften der chiliastischen Schwärmerin Bourignon, ging 1675zu ihr nach Schleswig und geleitete sie nach Kopenhagen, kehrtedann krank nach Amsterdam zurück und starb daselbst 17. Febr.1680. S. war als Erforscher der kleinern Tierformen vonepochemachender Bedeutung; er erfand auch die Methode, dieBlutgefäße durch Ausspritzung mit Wachs haltbar und derUntersuchung zugänglich zu machen. In seiner "Allgemeeneverhandeling van bloedeloose diertjens" (Utr. 1669; lat., Leid.1685) legte er die Grundlage für die erstenaturgemäße Klassifikation der Insekten, und seineanatomischen Arbeiten über die Insekten, veröffentlichtin der "Biblia naturae" (hrsg. von Boerhaave, das. 1737-38, 2 Bde.;deutsch, Leipz. 1752), sind die bedeutendste Erscheinung auf diesemFelde der Zootomie bis in die neuere Zeit geblieben. Auchbeschäftigte er sich mit der Metamorphose der Insekten undsuchte die Gleichartigkeit der Zeugungsweise bei Tieren allerKlassen nachzuweisen, indem er die Rolle des Samens feststellte. Erschrieb noch "Miraculum naturae, seu uteri muliebris fabrica"(Leid. 1672).

Swampies, Indianer, s. Kri.

Swamps (engl.), Moräste, Sümpfe in Nordamerika,speziell die am Albemarlesund.

Swamy, Sir Mutu Coomara, gelehrter Ceylonese, geb. 1836zu Kolombo auf Ceylon, studierte englisches Recht und erlangte alsder erste Nichtchrist in England die Würde eines Barristers(Anwalts), wurde dann in seiner Heimat Mitglied des LegislativeCouncil und heiratete eine englische Dame. Seine verdienstlichenArbeiten zur Quellenkunde des südlichen Buddhismus: "Historyof the tooth relic of Buddha" und "Sutta Nipata, the dialogues anddiscourses of Gotama Buddha" (Pâlitexte, mit engl.Übersetzung, Lond. 1874), trugen ihm die Erhebung in denenglischen Adelstand ein. Er starb 4. Mai 1879 in Kolombo.

Swaneten, zum kartwelischen Stamm gehöriges Volk inTranskaukasien, das, 12,000 Köpfe stark, die obern Thälerdes Ingur und der Tskenis im Gouvernement Kutais bewohnt. Aus denEbenen Mingreliens vertrieben, haben sie sich in eine fastunzugängliche Gebirgswelt zurückgezogen, wo sie inVerwilderung und nach dem Gesetz der Blutrache sich beständigbefehdend ein elendes Dasein führen. Not trieb bei ihnen zurSitte des Mädchenmordes; Christen sind sie nur dem Namen nach,ebenso ist ihre Abhängigkeit von Rußland (seit 1853) nurnominell.

Swanevelt, Herman, holländ. Maler, geboren um 1600zu Woerden bei Utrecht, begab sich 1623 nach Paris, von da nachRom, wo er bis um 1637 lebte, und ließ sich dann, nach kurzemAufenthalt in der Heimat, 1652 in Paris nieder, wo er 1653 Mitgliedder Akademie wurde und 1655 starb. Er hat italienische Landschaftenin der Art des Claude Lorrain gemalt, die man zumeist in denGalerien von Rom und Florenz, aber auch in denen von Paris,Frankfurt a. M., München und des Haag findet. Hervorragendersind seine landschaftlichen Radierungen, deren er 116 hinterlassenhat.

Swanhild, nach nord. Sage Sigurds Tochter von Gudrun,wurde am Hof ihres Stiefvaters, des Königs Jonakur (den Gudrungeheiratet, nachdem sie vergeblich den Tod in den Wellen gesucht),erzogen und sollte König Jormunrekr (d. h. Ermanarich, denOstgotenkönig) heiraten. Weiteres s. Jormunrekr.

Swan River, s. Schwanenfluß.

Swan's-down (engl., spr. swónns-daun,"Schwanendaunen"), eine Art feinen Wollenzeugs, das mit Seide undBaumwolle gemischt ist.

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Swansea - Swedenborg.

Swansea (spr. sswónssih), Stadt in Glamorganshire(Wales), an der Mündung des Tawe in die Swanseabai desBristolkanals, mit (1881) 65,597 Einw. S. ist eine wenig anziehendeStadt, und die den Schlöten seiner zahlreichenKupferschmelzhütten entsteigenden Dämpfe verhindern denPflanzenwuchs in der ganzen Gegend. Es verdankt seine Blüteden reichen Kohlenlagern, die es in den Stand setzen, die ihm ausCornwall und allen Teilen der Welt zugeschickten Kupfer- undZinkerze zu verschmelzen. Außerdem hat es Töpfereien undPorzellanwerke, Blechfabriken und Schiffbau. Sein Handel istbedeutend und wird gefördert durch die im Ästuar des Taweangelegten großartigen Docks. Es gehörten zum Hafen1888: 166 Seeschiffe von 58,727 Ton. Gehalt und 45 Fischerboote.Die Einfuhr vom Ausland belief sich auf 1,593,752 Pfd. Sterl., dieAusfuhr dorthin (meist Steinkohlen) auf 2,868,612 Pfd. Sterl. Anöffentlichen Anstalten verdienen Erwähnung die RoyalInstitution (mit Museum und Bibliothek), ein Lehrerseminar, eineLateinschule, eine Kunstschule und ein Taubstummeninstitut. S. istSitz eines deutschen Konsuls. Dicht dabei liegt Landore mit denehemals Siemensschen Stahlwerken.

Swanskin (engl., spr. sswonn-, "Schwanfell"), eine ArtFanell.

Swantewit (Swentowit), eine slaw. Gottheit,ursprünglich wohl lichter Sonnen- (und Tages-) Gottgegenüber Tschernebog (s. d.). Besonders berühmt war seinTempel zu Arkona auf Rügen, den König Waldemar I. 1168zerstörte. S. wurde vierköpfig (nach den vierWeltgegenden blickend) dargestellt, mit Bogen und Füllhorn(was beides auf den Regenbogen nach verschiedener Auffassungdesselben als Bogen oder Horn geht). Beim Erntefest wurde das Hornmit Met gefüllt; aus dem Rest, welcher vom vorigen Jahr indemselben übriggeblieben, schloß man auf gute oderschlechte Ernte. Man hielt ihm auch heiige Pferde (zum Zweck derWeissagung).

Swat (serb.), Hochzeitsgast.

Swat, kleiner Gebirgsstaat nordwestlich von Peschawar, ander Grenze von Britisch-Indien, mit 100,000 Einw., Afghanen vomJusufzaistamm, die sich im 16. Jahrh. hier niederließen unddie ältern arischen Bewohner verdrängten, in einem deräußern Thäler, die vom Hindukusch nach demKabulfluß sich herabziehen, hat warmes Klima, dichteWaldungen und trägt Reis, Olivenbäume etc. Europäernist das Bereisen des Thals nur in Verkleidung mit Lebensgefahrmöglich. Hauptort ist Allahdand. Alexander d. Gr. durchzog denuntern Teil des Thals. Zu einem gewissen Ruf gelangte S. durchseinen Akhund (d. h. Lehrer) Namens Abd ul Ghafar, der in Indien,Zentralasien, Arabien, ja bis Konstantinopel im Ruf eines Weisenvon übernatürlicher Begabung stand, von Privaten alsSchiedsrichter, von mohammedanischen Fürsten um Beirat inpolitischen Fragen angegangen wurde und noch 1877 einen Gesandtendes Sultans der Türkei erhielt. Der Akhund verkehrte nicht mitEuropäern, drang auch in Afghanistan auf Abschließungund bezeigte insbesondere England wie Rußlandgleichmäßig Mißtrauen. 1846 hatte er unter denAfghanen, die damals vorübergehend Peschawars sichbemächtigt hatten, den Glaubenskrieg gepredigt; seitdem abererkannte der Akhund rückhaltlos die Überlegenheit derEuropäer an und riet im russisch-türkischen Krieg 1877sowohl seinen Landsleuten als dem Sultan der Türkei davon ab,die Fahne des Propheten zu entfalten. Dieser einflußreichereligiöse Führer der Moslems Zentralasiens starb Ende1877.

Swatau (Schateu), dem europäischen Handel seit 1869geöffnete Handelsstadt in der chines. Provinz Kuangtung, ander Mündung des Han in die f*ckienstraße, Sitz einesdeutschen Konsuls, einer katholischen und evangelischen Mission,mit etwa 30,000 Einw.

Swatopluk (Zwentibold), Herzog von Mähren, kam zurHerrschaft über dieses Land, nachdem er seinen Oheim Rastislawgefangen genommen und dem ostfränkischen König Ludwig demDeutschen ausgeausiefert hatte, und sicherte sich 871 durch einenverräterischen Überfall des bayrischen Heers, welchesvernichtet wurde, seine Unabhängigkeit. Er breitete nun seinReich nach allen Seiten hin aus. Den Plan seines Oheims Rastislaw,mit Hilfe des Methodius ein von Deutschland unabhängigesslowenisches Kirchenwesen in Mähren zu begründen, gab erspäter preis, indem er nach Methodius' Tod sich wieder derbayrischen Kirche zuwandte. Er starb 894, und nach seinem Tod gingsein Reich zu Grunde.

Sweaborg, Festung im finn. Gouvernement Nyland, amFinnischen Meerbusen, 5 km südlich von Helsingförs,dessen Hafen sie deckt, seit 1749 von dem schwedischenFeldmarschall Grafen A. Ehrenswärd erbaut, liegt auf siebenFelseninseln, hat ein Zeughaus, bombenfeste Magazine, 2Schiffsdocks, Werften, ein Monument des Grafen Ehrenswärd etc.und ohne die Garnison ca. 1000 Einw. - Am 7. April 1808 ging dieFestung durch verräterische Kapitulation des schwedischenKommandanten, Admirals Cronstedt, an die Russen über.Während des Krimkriegs wurde S. von derenglisch-französischen Flotte 8.-11. Aug. 1855 bombardiert undniedergebrannt.

Sweater (engl., spr. sswetter, "Schwitzer"), in EnglandBezeichnung der Vermittler, welche Arbeiten von größernUnternehmern übernehmen und dieselben unmittelbar an Arbeitergegen Lohn vergeben, um aus deren Schweiß (daherSweating-System) einen Gewinn herauszuschlagen. Der Ausdruck wirdbesonders von Schneidern gebraucht, welche selbständigfür große Magazine arbeiten.

Swedenborg (eigentlich Swedberg), Emanuel von, schwed.Gelehrter und Theosoph, geb. 29. Jan. 1688 zu Stockholm, SohnJesper Swedbergs, Bischofs von Westgotland, studierte zu UpsalaPhilologie und Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaften,daneben auch Theologie, bereiste 1710-14 England, Holland,Frankreich und Deutschland und ward 1716 Assessor desBergwerkskollegiums zu Stockholm, in welcher Stellung er sich durchmechanische Erfindungen hervorthat. Zur Belagerung vonFrederikshall schaffte er 1718 sieben Schiffe mittels Rollenfünf Stunden weit über Berg und Thal. Dies sowie seineSchriften über Algebra, Wert der Münzen, Planetenlauf,Ebbe und Flut etc. hatten zur Folge, daß die KöniginUlrike ihn 1719 unter dem Namen S. adelte. In den folgenden Jahrenbereiste er die schwedischen, sächsischen sowie späterauch die böhmischen und österreichischen Bergwerke. Seine"Opera philosophica et mineralogica" (1734, 3 Bde. mit 155Kupferstichen) gaben auf der Grundlage ausgedehnter Studienüber Gegenstände der Naturwissenschaft und derangewandten Mathematik ein System der Natur, dessen Mittelpunkt dieIdee eines notendigen mechanischen und organischen Zusammenhangsaller Dinge ist. Nach neuen Reisen (1736-1740) durch Deutschland,Holland, Frankreich, Italien und England wendete er seinNatursystem in den Schriften: "Oeconomia regni animalis" (Lond.1740-41), "Regnum animale" (Bd. 1 u. 2, Haag 1744; Bd. 3, Lond.1745) und "De cultu et amore

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd.

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Sweepstake - Swieten

Dei" (das. 1740, 2 Bde.) auch auf die belebteSchöpfung, namentlich den Menschen, an. Aber schon dasletztgenannte Werk war nicht mehr streng wissenschaftlich gehalten,wie sich denn S. von jetzt an ausschließlich theosophischenStudien hingab, um sich für seinen, wie er behauptete, vonGott selbst ihm eingegebenen Beruf vorzubereiten, der in nichtsGeringerm bestand als in der Gründung der Neuen Kirche, wiesie in der Offenbarung St. Johannis verheißen ist. S. glaubtediese Mission zu erfüllen, indem er das Wort Gottes in der(nach seinem Sinn) wahren Bedeutung auslegte, einvollständiges System einer neuen Religionslehre aufstellte unddie Natur des Geisterreichs und dessen Zusammenhang mit derMenschenwelt in seltsamen Visionen enthüllte, von denenmehrere die Aufmerksamkeit Kants erregten und denselbenveranlaßten, S. in seinen "Träumen eines Geistersehers"(1766) für einen "Schwärmer" zu erklären (vgl. Rob.Zimmermann, Kant und der Spiritismus, Wien 1879). Diehauptsächlichsten Werke, welche diese Lehre behandelten,waren: "Arcana coelestia" (Lond. 1749-56, 8 Bde.; hrsg. von Tafel,Tübing. 1833-42, 13 Bde.; deutsch, das. 1842-70, 16 Bde.); "Decoelo et inferno" (Lond. 1758; deutsch von Tafel, 3. Aufl.,Tübing. 1873); "De nova Hierosolyma et ejus doctrina" (Lond.1758; deutsch von Tafel, Tübing. 1860); "Apocalypsisexplicata" (Lond. 1761; deutsch von Tafel, Tübing. 1824-31, 4Bde.) und "Vera christiana religio" (Lond. 1771; hrsg. von Tafel,Stuttg. 1857; deutsch von demselben, Tübing. 1855-58, 3 Bde.).Um seinen religiösen Bestrebungen ungestört leben zukönnen, hatte er schon 1747 seine amtliche Stellungaufgegeben, bezog jedoch eine königliche Pension. Währendeiner Reise, welche er 1771 im Interesse seiner Lehre unternommenhatte, erkrankte er in London und starb daselbst 29. März1772. Die Zahl seiner Anhänger (Swedenborgianer) nahm langsamzu; sie verbreiteten sich, wenn auch nur sporadisch, überSchweden, Polen, England und Deutschland; am meisten faßtedie "neue Kirche" oder das "neue Jerusalem" (New Jerusalem church)in England festen Fuß, wo es jetzt 50 Gemeinden geben mag,sowie in der neuern Zeit auch in Nordamerika. Vgl. Richer, Lanouvelle Jerusalem (Par. 1832-35, 8 Bde.); Tafel, Sammlung vonUrkunden über Swedenborgs Leben und Charakter (Tübing.1839-42, 3 Bdchn.) ; Derselbe, Abriß von Swedenborgs Leben(das. 1845); die Biographien von Schaarschmidt (Elberf. 1862),Matter (Par. 1863) und White (2. Aufl., Lond. 1874), die anonymeSchrift "E. Swedenborgs Leben und Lehre" (Frankf. 1880); Potts, S.Concordance (Lond. 1889, Bd. 1).

Sweepstake (engl., spr. sswihp-stehk), Einsatzrennen,dessen Preis nur aus den Einlagen und Reugeldern der Teilnehmer(mindestens drei) besteht.

Sweersinsel, s. Wellesleyinseln.

Sweet, bei botan. Namen für R. Sweet,Handelsgärtner in London, gest. 1839. Geraniaceen, Cistineen.Flora australasica.

Swell (engl.), s. Dandy.

Swenigorod, Kreisstadt im russ. Gouvernement Moskau, ander Moßkwa, mit (1885) 2288 Einw.

Swenigorodka, Kreisstadt im russ. Gouvernement Kiew, amFluß Tikitsch, hat 3 griechisch-russische und eine kath.Kirche und (1885) 11,562 Einw.

Swenziany, Kreisstadt im russ. Gouvernement Wilna, eineder ältesten Ortschaften Litauens, hat einegriechisch-russische, eine kath. Kirche und (1885) 8517 Einw.(meist Juden).

Swert, Jules de, Violoncellist und Komponist, geb. 16.Aug. 1843 zu Löwen in Belgien, erhielt von früherKindheit an gründlichen Unterricht von seinem Vater, derKapellmeister an der Kathedrale zu Löwen war, und machte schonim 10. Jahr Kunstreisen durch Belgien und Holland, wo er Servais'Aufmerksamkeit erregte und, nachdem er ins BrüsselerKonservatorium eingetreten war, von diesem ausgebildet wurde. 1858mit dem ersten Preis gekrönt, begab er sich zunächst nachParis, von da nach Schweden, Dänemark und Deutschland, wo erüberall mit glänzendem Erfolg konzertierte, und wurde1865 in Düsseldorf, später in Weimar, bald darauf aberals Konzertmeister am Hoftheater und zugleich als Lehrer an derHochschule zu Berlin angestellt. Diese Stellung verließ erAnfang der 70er Jahre, um sich ausschließlich der Kompositionzu widmen, und verlegte seinen Wohnsitz nach Wiesbaden. Ende 1888wurde er zum Professor am königl. Konservatorium zu Gent,zugleich zum Direktor der Musikakademie und Kapellmeister derKursaal-Symphonie-Konzerte zu Ostende ernannt. Seine bisher in dieÖffentlichkeit gedrungenen Werke bestehen in zahlreichenbeachtenswerten Arbeiten für sein Instrument (darunter dreiKonzerte, eine Violoncelloschule. "Gradus ad parnassum"), einerSymphonie ("Nordseefahrt") und den Opern: "Die Albigenser" (1880,Wiesbaden) und "Graf Hammerstein" (Mainz, 1884).

Swerts, Jan, belg. Maler, geb. 1825 zu Antwerpen,Schüler N. de Keysers daselbst, machte sich um die monumentaleKunst Belgiens dadurch verdient, daß er die Regierung zueiner Ausstellung von Kartons deutscher Meister in Brüssel undAntwerpen (1859) veranlaßte. Mit Godefried Guffens hat ereine Reihe von Wandbildern religiösen und historischen Inhaltsgeschaffen, welche sich an die Richtung der neudeutschen Klassikeranschließen (näheres s. bei Guffens). Seit 1874 Direktorder Kunstakademie zu Prag, starb er 11. Aug. 1879 in Marienbad.

Sweynheym, Konrad, mit Arnold Pannartz (s. d.) ersterBuchdrucker zu Subiaco bei Rom 1464.

Swiaschsk, Kreisstadt im russ. Gouvernement Kasan, an derMündung der Swiaga in die Wolga, hat einige alte Kirchen undKlöster und (1885) 2883 Einw.

Swiedack, Karl, unter dem Pseudonym Karl Elmar bekannterösterreich. Volksdramatiker, geb. 23. Mai 1815 zu Wien, warerst Kaufmann, dann eine Zeitlang Artillerist und versuchte sichendlich als Schauspieler wie auch als Theaterdichter. Sein erstesStück: "Die Wette um ein Herz" (1841), hatte einenungewöhnlichen Erfolg. Es folgten dann: "Der Goldteufel", inwelchem namentlich der Schauspieler Kunst glänzte, "Dichterund Bauer" und "Unter der Erde", welch letzteres Stück sichauf dem Repertoire erhalten hat. In allen bewährte S. einglückliches Nachstreben auf der Bahn Raimunds, ebenso nach1848 in den Dramen: "Des Teufels Brautfahrt" und "Paperl" sowie inden realistisch angelegten Volksstücken: "Unterthänig undunabhängig" und "Liebe zum Volk". Dem Meister FerdinandRaimund brachte S. seine besondere Huldigung dar in demgleichnamigen Charakterbild, das sehr gefiel; auch "DasMädchen von der Spule" und andre Volksstückebewährten noch seine dichterische Kraft. Als dann dasfranzösische Gesangs- und Ausstattungsstück zurHerrschaft kam, zog sich S. von der Bühne zurück undwandte sich der humoristisch-satirischen Journalistik zu. Er starb2. Aug. 1888 in Wien.

Swieten, Gerard van, Arzt, geb. 7. Mai 1700 zu Leiden,studierte daselbst und in Löwen, ward Professor der Medizin inLeiden, 1745 Leibarzt der Kaiserin Maria Theresia, Vorsteher der k.k. Bibliothek,

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Swietenia - Swift.

Präsident der medizinischen Fakultät zu Wien, Direktordes Medizinalwesens in der Monarchie und Bücherzensor. Erstarb 18. Juni 1772 in Schönbrunn. Er schrieb: "Commentarii inBoerhaavii aphorismos de cognoscendis et curandis morbis" (Leid.1741-42, 5 Bde.; neue Ausg., Tübing. 1790, 8 Bde.). Vgl. Beer,Friedrich II. und van S. (Leipz. 1873); Fournier, Gerh. van S. alsZensor (Wien 1877); W. Müller, Gerh. van S. (das. 1883). -Sein Sohn Gottfried van S., geb. 1734 zu Leiden, gestorben alsDirektor der kaiserlichen Hofbibliothek zu Wien 29. März 1803,war ein vertrauter Freund Haydns und Mozarts und bearbeitetefür erstern die Texte zur "Schöpfung" und den"Jahreszeiten".

Swietenia L. (Mahagonibaum), Gattung aus der Familie derMeliaceen, mit der einzigen Art S. Mahagoni L. (gemeinerMahagonibaum), einem 25-30 m hohen Baum mit weit ausgebreitetem,dicht belaubtem Wipfel, drei- bis fünfpaarig gefiedertenBlättern, eirund-lanzettlichen, zugespitzten, lederigenBlättchen, kleinen, weißlichgelben Blüten inreichen axillären Rispen und braunen, faustgroßenSamenkapseln. Dieser in Westindien und auf der Landenge von Panamaauf felsigem Boden wachsende Baum liefert das wegen seinerPolierfähigkeit, Härte und Dauer als Furnierholz sehrgeschätzte Mahagoniholz. Im Handel unterscheidet man dasselbeteils nach dem Vaterland, teils nach dem Ansehen. Amgeschätztesten ist das aus Jamaica, welche Insel aber infolgedes schonungslosen Fällens der Bäume jetzt nur nochgeringe Quantitäten liefert; das meiste, aber auchgeringwertigste, weil schrammige, grobfaserige Holz kommt von denKüsten der Hondurasbai. Härter und schönergefärbt ist das Mahagoniholz von Haiti, Cuba und denBahamainseln (das Inselholz geht im Handel als spanischesMahagoni). Es ist schön braun, dunkelt stark an der Luft,spaltet sehr schwer, spez. Gew. 0,56-0,88, schwindet sehr wenig,nimmt schöne Politur an und verträgt auch gutTemperaturwechsel. Da das Mahagoniholz nicht von Würmernangegriffen wird und im Wasser von ungewöhnlicher Dauer ist,so ist es auch zum Schiffbau sehr geeignet; außerdem dient eszu Lagern für Maschinenbestandteile. Es ist seit dem Ende des16. Jahrh. in Europa bekannt, wohin es von Trinidad gebracht wurde;aber erst ein Jahrhundert später wurde es für unsernWeltteil Handelsgegenstand. Während die Spanier es schon im16. Jahrh. zum Schiffbau verwendeten, datiert seine Benutzung alsMöbelholz erst von 1724. Die bitter adstringierende Rinde(Amarantrinde) wird in Jamaica gegen Wechselfieber undDurchfälle angewendet und dient auch zur Verfälschung derChinarinde. Nach Einschnitten liefert der Baum ein Gummi, das alsAcajougummi in den Handel kommt. Afrikanisches Mahagoniholz(Madeiramahagoni), s. v. w. Kailcedraholz; weißesMahagoniholz, das Holz von Anacardium; neuholläindischesMahagoni, das rote, veilchenartig riechende Holz von einigenEucalyptus-Arten.

Swift, Jonathan, polit. Satiriker der Engländer,geb. 30. Nov. 1667 zu Dublin, zeigte bereits als Knabe jeneMisanthropie und stolze Selbstgenügsamkeit, welche S. als Manncharakterisieren und ihn zu einer der originellsten, aber auchabstoßendsten litterarischen Erscheinungen gemacht haben.Drei Jahre seiner Kindheit brachte er in England zu, kam dann aufdie Schule zu Kilkenny, studierte seit 1682 im Trinity College zuDublin und ward 1688 Sekretär Sir William Temples zu Norr Parkin Surrey. Als Temple 1699 starb, gab S. dessen politischeSchriften heraus und ging dann als Kaplan des Earl Berkeley,Vizekönigs von Irland, dorthin zurück. Seine Pfarrstellezu Laracor brachte ihm 400 Pfd. Sterl. jährlich ein. Bis 1710lebte er daselbst, machte aber alljährlich Besuche in Englandund zugleich die Bekanntschaft der leitenden Staatsmänner derWhigpartei, welche damals das Ministerium in Händen hatten. Zugunsten der Whigminister veröffentlichte er 1701 das Pamphlet"A discourse of the contests and dissensions between the nobles andcommons of Athens and Rome". 1710 unterhandelte S. im Auftrag desErzbischofs King, Primas von Irland, über die Abschaffung derseitens der Iren an die englische Regierung zu zahlenden Zehnten,und seine Bemühungen waren so erfolgreich, daß er beiseiner Rückkehr nach Irland mit Glockengeläute empfangenwurde. Indes sehnte er sich nach England zurück, um dem Herdeder hohen Politik näher zu sein, und da er bei den Whigs nichtreüssiert hatte, machte er sich kein Gewissen daraus, nunmehrzu den Tories überzugehen und seine frühernParteigenossen mit noch heftigerer Satire zu befehden als zuvor dieTories. Das Ziel seines Ehrgeizes war ein englischer Bischofsitz;die Minister waren auch nicht abgeneigt, ihm einen solchen zuverschaffen, allein ihre Bemühungen blieben fruchtlos, und S.wurde zu seiner höchsten Enttäuschung nur mit dem Dekanatvon St. Patrick in Dublin bedacht. Während seines nunfolgenden Aufenthalts in Irland (1714-26) wußte er von neuemden höchsten Grad der Popularität zu erlangen, indem erin heftigen Pamphleten, besonders in den "Drapier's letters"("Tuchhändlerbriefe", 1723), gegen die englischen Minister dieLage des unglücklichen Landes darlegte, was ihm mannigfacheVerfolgungen seitens der Regierung zuzog. Zu seinem Groll überdie Vernichtung seiner ehrgeizigen Hoffnungen kam um jene Zeit dertragische Ausgang einer Doppelliebe. S. hatte längst eininniges Verhältnis mit Esther Johnson (Stella genannt), die erin Sir Temples Haus hatte kennen lernen, faßte dann einezweite Neigung zu einer andern jungen Dame in London, Esther vanHomrigh (Vanessa), der er aber sein Verhältnis zu Stella nichtzu gestehen wagte. Nach der Entdeckung starb Vanessa aus Gram(1723) und einige Jahre später (1728) auch Stella, mit der ersich kurz vorher noch heimlich hatte trauen lassen (vgl. sein"Journal to Stella". deutsch, Berl. 1866). Allmählichschwanden seine Geisteskräfte; er starb 19. Okt. 1745 inDublin und wurde in der Kathedrale von St. Patrick begraben. AlsSchriftsteller wurde S. berühmt durch die zuerst anonymherausgegebenen Schritten: "Battle of the books" (1697) und "Thetale of a tub" (1704; deutsch von Boxberger, Stuttg. 1884).Letzteres ist ein beißendes Pasquill gegen Papismus,Luthertum und Calvinismus; in den Abenteuern der drei Helden Peter,Jack und Martin werden die Streitigkeiten jener drei Kirchenveranschaulicht. Die "Bücherschlacht" ist der Form nach eineArt Parodie der Homerischen Schlachten und behandelt eine Frage,die damals das ganze litterarische Europa beschäftigte,nämlich die Überlegenheit der Alten (Griechen undRömer) über die Modernen. S. entschied sich für dieerstern und entfaltete dabei, wie im "Märchen von der Tonne",einen Sarkasmus, der ihn zum gefürchtetsten Pamphletistenseiner Zeit machte. Seit 1724 war S. mit der Abfassung seinesberühmtesten Werkes: "Travels of Lemuel Gulliver",beschäftigt, das 1726 erschien und allgemein die höchsteBewunderung er-

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Swilajinatz - Swir.

regte, auch in fast alle zivilisierten Sprachen übersetztwurde. Es enthält in einfacher und natürlicher Spracheund unter der Miene der größten Ernsthaftigkeit eineergötzliche Satire auf menschliche Thorheit und Schwächeim allgemeinen, mit zahlreichen Schlaglichtern auf die politischen,religiösen und sozialen Zustände des damaligen England,ist aber auch nicht frei von manchem Verletzenden, wozu namentlichdie von Swifts Menschenhaß eingegebene Schilderung der Yahoogehört. Von Schriften sind noch anzuführen: die im Vereinmit Pope herausgegebenen "Miscellanies" (1727, 3 Bde.) und dieposthume "History of the four last years of Queen Anne". SeineWerke wurden herausgegeben von Hawkesworth (Lond. 1755, 14Quartbände, Oktavausgabe in 24 Bänden), Sheridan (das.1784, 17 Bde.), Walter Scott (mit Biographie, das. 1814, 19 Bde.;neue Ausg. 1883, 10 Bde.), Roscoe (das. 1853, 2 Bde.), Purves (das.1868). Sein Briefwechsel erschien in 3 Bänden (Lond. 1766) undin Auswahl von Lane Pool (das. 1885). Eine Übersetzung derhumoristischen Werke lieferte Kottenkamp (Stuttg. 1844, 3 Bde.).Aussprüche von S. sammelte Regis ("Swiftbüchlein",biographisch-chronologisch geordnet, Berl. 1847). Vgl. auch R. M.Meyer, I. S. und G. Lichtenberg (Berl. 1886). Sein Lebenbeschrieben S. Johnson, Sheridan (Dubl. 1787), Forster(unvollendet; Bd. 1, bis 1711 reichend, Lond. 1875), H. Craik (das.1882); kürzer L. Stephen (das. 1882).

Swilajinatz, Flecken im serb. Kreis Tschupria, an derResawa, Sitz des Bezirkshauptmanns, mit Kirche, Untergymnasium und(1884) 4563 Einw. Hier stand die römische Station Idimus.

Swinburne (spr. sswinnbörn), Algernon Charles, engl.Dichter, geb. 5. April 1837 zu Henley an der Themse (Oxfordshire)aus einer ursprünglich dänischen Familie, erhielt seineBildung in Eton und Oxford und schloß sich schon auf derHochschule einer Gruppe junger Männer an, die den Zweckverfolgte, die englische Kunst umzugestalten. Ohne seineUniversitätsstudien zu beenden, begab er sich dann auf Reisenund brachte einige Zeit in Florenz bei dem greisen Dichter W.Savage Landor zu, welchem er seitdem die größteBewunderung erwies. Ähnliche Bewunderung hat er immer fürVictor Hngo und für Mazzini ausgesprochen. Er trat zuerst 1860mit den Dramen: "The queen mother" und "Rosamond" auf, die aberkaum Beachtung fanden. Dagegen erregte er bald darauf durch seinevon glühender Sinnlichkeit und politischem und religiösemRadikalismus erfüllten, aber vom höchsten Wohllautgetragenen Dichtungen ("Poems and ballads", 1866) einen Sturmebensowohl ästhetischer Bewunderung wie sittlicherEntrüstung, welch letztere sich so entschieden aussprach,daß S. sich in einer besondern Schrift: "Notes on poems andreviews" (1866), verteidigte, sein Buch aber dem fernern Vertriebdurch den Buchhandel entzog. Gegenwärtig zählt ihn dieKritik, die ihn zuerst niederzuschlagen versuchte, zu denhervorragendsten Erscheinungen der Litteratur Englands. SeineDramen, deren Stoff bald dem Altertum, bald der neuern Geschichteentlehnt und deren Form teils den Griechen, teils Shakespearenachgeahmt ist, sind ihres hohen Schwunges, ihrer kraftvollenSchilderung und ihrer reichen poetischen Einbildungskraftungeachtet teils durch antike Fremdartigkeit, teils durchübermäßige Länge zur Aufführungungeeignet. Es sind: die Tragödie "Atalanta in Calydon" (1864;deutsch von A. Graf Wickenburg, Wien 1878), die Trilogie"Chastelard" (1865; deutsch von Horn, Brem. 1873), "Bothwell"(1874, 3. Aufl. 1882), "Erechtheus" (1876) und "Mary Stuart"(1881), "Marino Faliero" (1885) und "Locrine", Tragödie(1887). Außerdem hat S. auf dichterischem Gebietveröffentlicht: "A song of Italy", ein Mazzini gewidmeterdithyrambischer Hymnus in republikanischem Sinn" (1867); "Siena, apoem" (1868); "Ode on the proclamation of the French republic"(Victor Hugo gewidmet, 1870); die vortrefflichen "Songs beforesunrise" (1871), die zu seinen reifsten Schöpfungengehören, und "Songs of two nations" (1875); die "Songs of thespringtides" (1875), welche seine "Birthday ode" an Victor Hugoenthalten; zwei neue Folgen von "Poems and ballads" (1878 u. 1889),das epische Gedicht "Tristram of Lyoness" (1882), eine Sammlunglyrisch-didaktischer Gedichte: "A century of roundels (1883), und"A midsummer holiday" (1884). In den "Notes of an Englishrepublican on the Muscovite crusade" (1876) trat er Gladstone undseinem russenfreundlichen Anhang mit Wucht entgegen. Ebensobewährte er sich als scharfer Kritiker in einer Reihe vonSchriften, wie: "William Blake" (1868), "Under the microscope",eine Verteidigung gegen die Anklage der Begründung einer"fleischlichen Schule der Poesie" (1872), "George Chapman" (1875),"A note on Charlotte Bronte" (1877), "A study of Shakespeare"(1879), "Studies in song" (1881), "Study of Victor Hugo" (1886),"Miscellanies" (1886) u. a. Eine Sammlung seiner kleinernProsaschriften erschien unter dem Titel: "Essays and studies"(1875, 3. Aufl. 1888). S. schreibt auch französische Verse undhat den altfranzösischen Dichter Villon durchÜbersetzungen in England eingeführt. Vgl. "Bibliographyof A. C. S." (Lond. 1887).

Swindon (spr. sswinnd'n), Stadt in Wiltshire (England),hat eine Kornbörse, einen Park, großartigeWerkstätten der Westbahn und (1881) 22,374 Einw.

Swinemünde, Stadt im preuß. RegierungsbezirkStettin, auf der Insel Usedom, an der Mündung der Swine und ander Linie duch*erow-S. der Preußischen Staatsbahn, hat eineevangelische und eine altluther. Kirche, eine altkatholischeKapelle, ein israelitisches Bethaus, einen Hafen (Vorhafen vonStettin), welcher an der Seeseite durch einige Forts befestigt ist,einen Leuchtturm, elektrische Straßenbeleuchtung, einAmtsgericht, ein Hauptzollamt, ein Lotsenkommando, ein Seebad(1887: 3941 Badegäste), lebhafte Schiffahrt, Fischerei und(1885) mit der Garnison (ein Füsilierbat. Nr. 34 und ein Bat.Fußartillerie Nr. 2) 8626 meist evang. Einwohner. Im Hafenvon S. liefen 1886 beladen ein: 557 Schiffe von 270,114 Ton., aus:240 Schiffe von 71,462 T. S. besaß 1887: 26 Schiffe von 4245T. Der Ort wurde 1748 von Friedrich d. Gr. an Stelle des DorfsWestswine angelegt und erhielt 1765 Stadtrechte. In der Näheder Ziroberg mit Aussichtsturm.

Swinton (spr. sswinnt'n), Stadt im westlichen Yorkshire(England), 8 km nordöstlich von Rotherham, hat Glashüttenund Töpfereien und (1881) 7612 Einw.

Swinton mit Pendlebury (spr. péndelböri),Fabrikstadt in Lancashire (England), unfern Manchester, mitBaumwollmanufaktur, Ziegeleien und (1881) 18,107 Einw.

Swir, schiffbarer Fluß im russ. GouvernementOlonez, der Abfluß des Onegasees in den Ladogasee, ist 214 kmlang und gehört zu dem großen Wassersystem, welches dieNewa mit der Wolga und dem Weißen Meer verbindet, indem erzunächst das Verbindungsglied zwischen dem TichwinschenKanal-

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Swischtow - Sydenham.

system und dem Marienkanalsystem bildet. Der Swirkanalführt aus dem S. in den Sjas.

Swischtow (Sistov), Kreishauptstadt in Bulgarien, rechtsan der Donau, zwischen Nikopoli und Rustschuk, hat Baumwollweberei,Gerberei, Schifffahrt, Handel, Weinbau und (1887) 12,482 Einw. Hier30. Dez. 1790 Friedenskongreß und 4. Aug. 1791Definitivfriede zwischen Österreich und der Türkei. 1810durch die Russen zerstört und durch Auswanderung vielerBulgaren herabgekommen, gelangte S. erst durch dieDonaudampfschiffahrt zu neuer Blüte. Am 22. Juni 1877 gingendie Russen von Zimnitza nach S. über die Donau und schlugendarauf eine Schiffbrücke bei S., über welche ihre Armeein Bulgarien einrückte.

Swjatoi-Noß, niedriges Vorgebirge im ruff.Gouvernement Archangel, auf der Halbinsel Kola, westlich am Eingangin das Weiße Meer.

Swod Sakonow (russ., "Sammlung von Gesetzen"), russischesGesetzbuch, enthaltend das in den Ukasen gegebene Recht; publiziert1833 und seitdem wiederholt herausgegeben.

Syagrius, letzter röm. Statthalter in Gallien, Sohndes Ägidius, der seit 461 Beherrscher eines Landstrichs imnordwestlichen Gallien mit der Hauptstadt Soissons gewesen war,erbte nach des Vaters Tod 476 jenes Gebiet, erweiterte dasselbe undbe-herrschte es, bis er 486 von dem Frankenkönig Chlodwig beiSoissons besiegt und hingerichtet wurde.

Sybaris, berühmte, von Achäern undTrözenern um 720 v. Chr. gegründete griech. Pflanzstadtin der Landschaft Chonia (Lukanien), am Tarentinischen Meerbusen,gelangte durch die Fruchtbarkeit ihres Gebiets und ihrenblühenden Handel bald zu bedeutender Macht undGröße. Zu ihrem Gebiet gehörte zur Zeit ihrerBlüte die ganze Westhälfte des spätern Lukanien,doch ist ihre Geschichte ziemlich unbekannt. Infolge ihresgroßen Reichtums ergaben sich die Bewohner (Sybariten) einemso üppigen und weichlichen Leben, daß das"Sybaritenleben" sprichwörtlich wurde. Nachdem die Stadt 510von den Krotoniaten zerstört worden, legten 443 die Reste dervertriebenen Sybariten, durch neue Kolonisten aus Griechenland(darunter Herodot und der Redner Lysias) verstärkt, weiterlandeinwärts von der zerstörten Stadt eine neue an, diesie nach einer nahen Quelle Thurii nannten. Hannibal ließdieselbe 204 plündern; 194 wurde sie römische Kolonie.Die Zeit ihres Untergangs ist nicht bekannt. Im Winter 1887/88 hatdie italienische Regierung mit der Ausgrabung der Ruinen von S.begonnen.

Sybel, Heinrich von, deutscher Geschichtschreiber, geb.2. Dez. 1817 zu Düsseldorf, studierte in Berlin, namentlichvon Ranke angeregt, Geschichte, habilitierte sich 1841 alsPrivatdozent der Geschichte zu Bonn, ward 1841 Professor daselbstund 1846 in Marburg. Er war 1848-49 Mitglied der hessischenStändeversammlung und 1850 des Erfurter Staatenhauses, ward1856 Professor in München, 1857 Mitglied der dortigen Akademieund 1858 Sekretär der Historischen Kommission. Seit 1861Professor in Bonn, war er 1862-64 Mitglied des preußischenLandtags, in welchem er namentlich die polnische Politik Bismarckstadelte, ward 1867 nationalliberales Mitglied des konstituierendenReichstags des Norddeutschen Bundes, 1874 wieder Mitglied desAbgeordnetenhauses, in welchem er auf Grund seiner Erfahrungen amRhein besonders die Ultramontanen bekämpfte, 1875 Direktor derStaatsarchive in Berlin, 1876 Mitglied der dortigen Akademie und1878 Geheimer Oberregierungsrat. Sein Abgeordnetenmandat legte er1880 nieder. Er veranlaßte die "Publikationen aus denpreußischen Staatsarchiven", die Herausgabe der "PolitischenKorrespondenz Friedrichs d. Gr.", die Gründung derpreußischen historischen Station und ward Mitglied derDirektion der "Monumenta". Er schrieb: die durch kritischeSchärfe und geistvolle Darstellung ausgezeichnete "Geschichtedes ersten Kreuzzugs" (Düsseld. 1841, 2. Aufl. 1881); "DieEntstehung des deutschen Königtums" (Frankf. 1844, 2. Aufl.1881), über welche er mit Waitz in eine lange litterarischeFehde geriet; "Geschichte der Revolutionszeit von 1789 bis 1795"(Marb. 1853-58, 3 Bde.; 4. Aufl., Düsseld. 1877), welche aufGrund eingehender Studien die französische Revolutionnamentlich im Zusammenhang mit der damaligen europäischenPolitik beleuchtet, S. aber wieder in einen heftigen Streit mitHüffer, Herrmann und Vivenot verwickelte, da S. diepreußische Politik, besonders den Baseler Frieden,verteidigte, dagegen die österreichische Politik seit 1792scharf verurteilte. Es folgten: die "Geschichte der Revolutionszeitvon 1795 bis 1800" (Düsseldorf 1872-74, 2 Bde.; 2. Aufl.1878-79); "Die deutsche Nation und das Kaiserreich" (das. 1862).Seine "Kleinen historischen Schriften" (Münch. 1863-81, 3Bde.) enthalten auch seine vorzüglichen Vorträge. 1856gründete er die noch unter seiner Leitung stehende"Historische Zeitschrift". S. ist ein ebenso gründlicher,methodischer Forscher wie glänzender, wirkungsvollerDarsteller.

Syceesilber (Sissisilber), hochfeines (0,960) Silber inschuhähnlichen Barren (daher shoes), dient in China alsTausch- und Zahlungsmittel für den größern Verkehr.Das große Sissi wiegt 50, das kleine 7,10 oder 19 Taels.

Sydenham (spr. ssíddenhäm), eine dersüdlichen Vorstädte Londons, an der Grenze derGrafschaften Kent und Surrey, berühmt durch den 1853-54 vonSir Joseph Paxton errichteten Glaspalast (Crystal Palace), beidessen Bau die Materialien (ausschließlich Glas und Eisen)des 1851 im Hyde Park erbauten Ausstellungsgebäudes Verwendungfanden. Nachdem das nördliche Querschiff 30. Dez. 1866 durcheine Feuersbrunst zerstört worden, hat der Bau eineGesamtlänge von 324 m. Das Mittelschiff ist 22 m breit und 32m hoch, das mittlere Querschiff 118 m lang, 36,5 m breit und 51,2 mhoch. Vier Galerien laufen um dasselbe herum. Am westlichen Endesteht das Händel-Orchester mit Raum für 4000Künstler und einer Orgel mit 4598 Pfeifen. Ein Konzertsaal undTheater schließen sich an dasselbe an. Im nördlichenTeil des Palastes findet man Nachbildungen verschiedener Baustile,meist in verjüngtem Maßstab, als: einen ägyptischenTempel, griechische und römische Wohnhäuser, einigeRäumlichkeiten der Alhambra und Höfe im byzantinischen,gotischen und italienischen Stil. Das ehemalige "tropischeDepartement" ist leider ein Raub der Flammen geworden. Südlichvom Händel-Orchester liegen vier sogen. Industrial courts,für den Verkauf von Glas, Kurzwaren, Kunstgegenständenetc., und die Nachbildung eines pompejanischen Hauses. Imsüdlichen Querschiff befinden sich ein von reizendenBlumenbeeten umgebener Springbrunnen, eine Sammlung ethnologischerModelle, Abgüsse einiger der berühmtesten Bildhauerwerkeder Welt etc. Die geräumigen Galerien bieten Raum füreine Gemäldeausstellung, Lesezimmer, Verkaufsbuden etc. ImUnterstock endlich liegt ein Aquarium. Großartig sind auchdie Gartenanlagen und die Wasserkünste, welche alleähnlichen Werke weit

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Sydenham - Sydow.

übertreffen; der bedeutendste Wasserstrahl erreicht eineHöhe von 75 m. Der Kristallpalast, dessen Baukosten sich auf 11/2 Mill. Pfd. Sterl. beliefen, ist Eigentum einerPrivatgesellschaft und wird jährlich von über 2 Mill.Menschen besucht.

Sydenham (spr. ssídenhäm), Thomas, Arzt, geb.1624 zu Windford-Eagle in Dorsetshire, studierte seit 1642 zuOxford und London, erwarb dann in Oxford das Bakkalaureat,promovierte in Cambridge und ließ sich als Arzt in Londonnieder. Er gilt Paracelsus gegenüber, welcher immer nurumzustürzen bestrebt war, als der "positive" Reformator derpraktischen Medizin. Die Bedeutung der Thatsachen und direktenBeobachtungen stellte er obenan; die Krankheiten faßte er aufals Prozesse, die Symptome derselben als etwas reinÄußerliches, das nach der Konstitution wechseln kann; ersuchte namentlich die verschiedenen Krankheitsformen bestimmtabzugrenzen, zunächst um für die Anwendung spezifischerHeilmittel sichere Anhaltspunkte zu gewinnen. Hierbei geriet erjedoch in eine rein ontologische Auffassung hinein, die ihn sogardahin bringt, die Krankheiten nach einem botanischen Schema zuklassifizieren. S. huldigte im allgemeinen einer energischenTherapie, in welcher China und Opium und namentlich derAderlaß eine hervorragende Rolle spielten. Er starb 29. Dez.1689. Gesammelt erschienen seine durchweg in lateinischer Spracheabgefaßten Schriften als "Opera omnia" London 1685 (zuletzt,das. 1844; in engl. Übersetzung, das. 1848-50, 2 Bde.;deutsch, Wien 1786-87, 2 Bde.). Vgl. Jahn, Sydenham (Eisenach1840); Brown, Locke and S. (Edinb. 1866).

Sydney (spr. ssíddni), 1) Hauptstadt derbritisch-austral. Kolonie Neusüdwales, am südlichen Uferdes Port Jackson und 6 km vom Stillen Ozean, unter 33° 51'südl. Br. und 151° 11' östl. L. v. Gr. Die Stadt istmit Ausnahme des ältesten Teils regelmäßigangelegt, hat Gas- und Wasserleitung, Dampftrambahnen und besitztviele schöne Bauten, wie die Universität, dieanglikanische und die katholische Kathedrale, den Palast desGouverneurs, die 13 Bankgebäude, Börse, Generalpostamt,Rathaus, Museum, Regierungsgebäude, 5 Theater. Von denöffentlichen Anlagen sind der schöne botanische Garten,die "Domäne", Hydepark, Prince Alfred-Park u. a. zu nennen,mit Statuen Sir Richard Bourkes, Cooks und Prinz Alberts. Die Stadthatte 1800 erst 200, Ende 1887 aber mit den Vorstädten bereits348,695 Einw., welche schon lebhafte Industrie treiben. Es bestehengroßartige Leder-, Schuhzeug- und Wollzeugfabriken, 50Kleiderfabriken, große Dampftischlereien, Wagen- undMaschinenbauaustalten, Eisengießereien, Brauereien etc. Aufmehreren mit allen modernen Hilfsmitteln ausgerüsteten Werftenmit Docks werden große Dampfer gebaut. Eine nach dem Innernführende Eisenbahn verzweigt sich wenige Kilometer von derStadt. Der Hafen ist vorzüglich, die größtenSchiffe können an den Kais anlegen; 1887 liefen ein: 1665Schiffe von 2,109,830 Ton. Zum Hafen von S. gehören 576Segelschiffe von 63,121 T. und 403 Dampfer von 47,675 T. S. istEndstation für die Postdampfer des Norddeutschen Lloyd, derMessageries maritimes, der großen englischenPostdampferlinien durch den Suezkanal und über San Francisconach Europa und vieler andrer Dampfergesellschaften. VonBildungsanstalten besitzt S. außer einer Universität mit3 theologischen Seminaren mehrere höhere Schulen, eineKunstschule mit Bibliothek von 25,000 Bänden und Museum,öffentliche Bibliothek mit 70,000 Bänden,Handwerkerinstitut mit 20,000 Bänden. Es erscheinen 6Zeitungen täglich, 15 wöchentlich, 10 monatlich. DieStadt hat zahlreiche Wohlthätigkeitsanstalten und ist Sitz desGouverneurs, des Parlaments und der Regierung, eines katholischenErzbischofs und eines englischen Bischofs, des oberstenGerichtshofs, eines deutschen Berufskonsuls (für Australienund die Südsee) und eines Konsuls, einer Handelskammer u.Münzstätte. Stadt und Hafen sind durch eine Reihe vonForts geschützt; außer einem Freiwilligenkorps besitztdie Stadt kein Militär, ist aber Hauptquartier für dieneun britischen Kriegsschiffe der australischen Station. -

Situationsplan von Sydney

2) Hauptort von Cape Breton Island (s. d.).

Sydow, 1) Karl Leopold Adolf, protestant. Theolog, geb.23. Nov. 1800 zu Charlottenburg, einer der treuesten SchülerSchleiermachers, wurde 1836 zum Hofprediger in Potsdam, 1846 zumPrediger an der Neuen Kirche in Berlin berufen. Von FriedrichWilhelm IV. nach England zur Beobachtung der dortigen kirchlichenZustände geschickt, gab er ein von der Königin Viktoriaveranlaßtes Gutachten über die schottischeKirchentrennung heraus: "Die schottische Kirchenfrage" (Potsd.1845). Bekannt ist er namentlich durch die infolge eines 12. Jan.1872 im Unionsverein von ihm gehaltenen Vortrags: "Über diewunderbare Geburt Jesu" (gedruckt in der Sammlung "ProtestantischerVorträge", Berl. 1873), gegen ihn eingeleiteteDisziplinaruntersuchung geworden, die 5. Juli 1873 mit einem"geschärften Verweis" endete (vgl. darüber die von S.veröffentlichten "Aktenstücke", 2. Aufl., Berl. 1873).Bald darauf trat er in den Ruhestand und starb 22. Okt. 1882. SeinLeben beschrieb seine Tochter Marie S. (Berl. 1883).

2) Emil von, hervorragender Geograph, geb. 15. Juli 1812 zuFreiberg in Sachsen, trat 1830 als Leutnant in die preußischeArmee, ward 1843 als Mitglied derMilitärexaminationskommission nach Berlin berufen, wo erspäter auch Vorlesungen an der Kriegsakademie hielt, lebte1855-60 in Gotha und starb 13. Okt. 1873 in Berlin als Oberst undAbteilungschef im Nebenetat des Großen Generalstabs. SeineAufsätze und kritischen Arbeiten über Kartographie in"Petermanns Mitteilungen", seine zahlreichen Kartenwerke:"Wandkarten", "Methodischer Hand-

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Syene - Sylt.

atlas" (4. Aufl., Gotha 1867; neu bearbeitet von H. Wagner, 2.Aufl. 1889), "Schulatlas in 42 Blättern" (28. Aufl., das.1876), "Hydrographischer Atlas" u.a., ebenso seine Aussätze inden "Mitteilungen", "Unsere Zeit" und namentlich inmilitärischen Zeitschriften sind zu ihrer Zeit vongroßem Wert gewesen. Auch veröffentlichte S.:"Grundriß der allgemeinen Geographie" (Gotha 1862, 1. Abt.)und "Übersicht der wichtigsten Karten Europas" (Berl. 1864).Vgl. "Emil v. S., ein Nachruf" (Berl. 1874).

Syene, Stadt, s. Assuân.

Syenit, gemengtes kristallinisches Gestein, in seinentypischen Varietäten aus Orthoklas und Hornblende bestehend.Mit dem Granit (s. d.) ist der S. vermittelst Übergänge,welche durch Zurücktreten der Hornblende und Ausnahme vonQuarz und Glimmer hervorgerufen werden, eng verknüpft(Syenitgranit). Neben Orthoklas tritt mitunter gleichzeitig auchOligoklas in das Gemenge, der sich dann von dem Orthoklashäufig durch leichtere Verwitterbarkeit und dadurch bedingteTrübung unterscheidet. Von accessorischen Bestandteilen istaußer Magneteisen, Eisenkies, gediegenem Kupfer undKupferverbindungen als besonders charakteristisch Titanitaufzuführen. S. besitzt gewöhnlich mittelkörnigeStruktur; eine porphyrartige entsteht, wenn einzelne Orthoklase ingroßern Individuen entwickelt sind, schieferige durchlagenweise Verteilung der Hornblende oder auch des Glimmers in dengranitischen Varietäten. Absonderungsformen sind selten, dochkennt man von einzelnen Lokalitäten kugelige undsäulenförmige, erstere namentlich bei beginnenderVerwitterung hervortretend. Die mittlere chemische Zusammensetzungschwankt zwischen 50-62 Proz. Kieselsäureanhydrid, 15-20Thonerde, 6-14 Eisenoxydul, 1-6 Magnesia, 4-9 Kalk, 2-5 Natron und3-7 Proz. Kali. Das spezifische Gewicht ist 2,7 bis 2,9.Hinsichtlich der Altersverhältnisse und der Hypothesenüber Bildung des Syenits ist auf das, was über Granitgesagt worden ist, zu verweisen. Die Verwitterung des Syenitsführt häufig zur Blockbildung, deren Residua, lokalaufgehäuft, sogen. Felsenmeere darstellen. Eins derberühmtesten ist dasjenige bei Auerbach an derBergstraße (s. Felsberg). Als letztes Produkt derVerwitterung bildet sich ein ockergelber eisenschüssiger Lehm,oft mit Splittern von Hornblende oder mit aus derselbenentstandenen Chloritschüppchen gemengt. Dem Vorkommen nach istder S. gewöhnlich wiederum mit granitischen Gesteinen engverknüpft. Besonders entwickelt ist er in Sachsen (Umgegendvon Dresden und Meißen), Thüringen, im Odenwald, inMähren, Norwegen, Irland und Nordamerika. Er dient, wie schonim alten Ägypten, zu architektonischen Zwecken, Säulen,Obelisken, Vasen etc. Sein Magneteisengehalt, infolge vonnatürlichen durch Anlage von Fanggruben unterstütztenSchlämmungsprozessen lokal aufgehäuft, versieht amVitosgebirge in der Türkei eine kleine Eisenindustrie mit Erz.Verwandte Gesteine, teilweise nur als lokale Varietäten desSyenits zu betrachten, sind: der Monzonit (nach dem Berg Monzoni inSüdtirol so genannt), aus Orthoklas, Oligoklas u. Augit,accessorisch auch Hornblende, bestehend ; der ZirkonsyenitNorwegens und Grönlands, welcher neben Orthoklas undHornblende Eläolith (s. Nephelin) und Zirkon führt undsich im Gegensatz zu dem normalen S. durch seinen Reichtum anaccessorischen Bestandteilen (mehr als 50 zum Teil sehr selteneMineralspezies) auszeichnet; der Foyait (vom Berg Foya inPortugal), aus Orthoklas, Hornblende und Eläolithzusammengesetzt; der Miascit (von Miask im Ilmengebirge), vonOrthoklas, Glimmer und Eläolith, mitunter auch Sodalith,gebildet.

Syenitgranit (Hornblendegranit), s. Granit undSyenit.

Syke, Kreisstadt im preuß. RegierungsbezirkHannover, an der Linie Wanne-Bremen der PreußischenStaatsbahn, hat eine evang. Kirche, ein Amtsgericht, Schweinehandelund (1885) 1118 Einw.

Sykomore, s. v. w. Maulbeerfeigenbaum, s. Ficus, auch s.v. w. Platane und gemeiner Bergahorn.

Sykophanten (griech.), in Athen diejenigen, welche jemandwegen verbotener Ausfuhr von Feigen denunzierten; sodann dieDenunzianten, welche ein Gewerbe daraus machten, durch Androhungvon falschen Anklagen, Verleumdungen und Schikanen aller Art dieBegüterten zu brandschatzen. Die strengsten Strafen vermochtenin der Zeit der politischen Entartung das Unwesen nichtauszurotten.

Sykosis, s. Bartfinne.

Sylburg, Friedrich, Philolog, geb. 1536 zu Wetter beiMarburg, lehrte an den Schulen zu Neuhaus bei Worms und zu Lich inder Wetterau, ward 1582 Korrektor bei dem Buchdrucker Wechel inFrankfurt a. M., 1591 bei Commelin in Heidelberg und Bibliothekarder Universität daselbst; starb dort 17. Febr. 1596. Er warein eifriger Förderer des Griechischen. Seine Ausgaben desPausanias, Aristoteles, Dionysios von Halikarnaß, Clemens vonAlexandria, des "Etymologicum magnum" u. a. sind ausgezeichnetdurch Genauigkeit der kritischen Methode. Auch bearbeitete er desClenardus "Institutiones linguae graecae" (Frankf. 1580) und warMitarbeiter des H. Stephanus am "Thesaurus linguae graecae". Vgl.F. G. Jung, Lebensbeschreibung Fr. Sylburgs (Berleburg 1745);Creuzer, Opuscula selecta, S. 196 ff.

Syllabarium (lat.), ABC-Buch.

Syllabieren, Buchstaben, richtiger: Laute, zusammen inSilben aussprechen; syllabisch, silbenweise. Syllabiermethode,wobei nach Aussprechen der einzelnen Buchstaben die einzelnenSilben und zuletzt die ganzen Wörter ausgesprochen werden, wiees z. B. in den Anstalten Pestalozzis geschah.

Syllabus (griech.), Verzeichnis; bekannt besonders derder päpstlichen Encyklika vom 8. Dez. 1864 beigegebene S.,eine Aufzählung und Verdammung aller mit der strengrömischen Auffassung nicht verträglichen Prinzipien undFormen des modernen Lebens (s. Pius 9).

Syllepsis (griech., "Zusammenfassung"), Zusammenziehungzweier Silben in eine; auch grammatische Figur, durch welche einPrädikat auf zwei oder mehrere Subjekte bezogen wird, die inBezug auf Person, Numerus und Genus verschieden sind (s.Zeugma).

Syllogismus (griech.), in der Logik der einfacheSchluß, in welchem die Gültigkeit eines Urteils(Schlußsatz) durch zwei andre (Vordersätze oderPrämissen) begründet wird. S. Schluß.

Sylochelidon, Raubseeschwalbe, s. Seeschwalbe.

Sylphen (griech.), im System des ParacelsusElementargeister, deren Wohnort die Luft war, und die zum Diensteder Menschen bereit waren. Ein solcher war z. B. Oberon (s. d.).Sylphiden heißen die weiblichen Luftgeister.

Sylt (Silt, v. altfries. Silendi, "Seeland"), Insel inder Nordsee, zum Kreis Tondern der preuß. ProvinzSchleswig-Holstein gehörig, 12-22 km von der schlesischenKüste entfernt, ist von N. nach Sü-

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Sylva - Symbiose.

den 36 km lang, 1-14 km breit und zählt 3410 Einw. Dernördliche Teil der Insel heißt List, die südlicheHalbinsel Hörnum. In der Mitte ragt gegen SO. in dasWattenmeer ("Haff") eine breite Halbinsel hinein, derenäußerste Spitze Nösse heißt. Sandklitternoder Dünen erfüllen die südliche Halbinsel, ebensodie nördliche Hälfte der nördlichen Halbinsel,während der mittlere Hauptteil, auf der Tertiärformationaufgebaut (Morsumkliff am Wattenmeer, Rotes Kliff an der Seeseite),Geest- und Marschland enthält, von denen das letztere sichdurch Absetzung von Schlamm in das Wattenmeer hinein beständigvergrößert, während auf der Seeseite Stürmeund die Wellen der Nordsee der Insel ebenso stetig Abbruch thun, sodaß die teilweise bis 30 m hohen Sandberge, inbeständiger Wanderung begriffen, immer mehr landeinwärtsrücken. Im Januar 1300 wurde der Flecken Wenningstadt an derWestküste, 1362 das Dorf Steidum von den Fluten verschlungen.Die wichtigsten Orte auf S. sind: Keitum (s. d.) mit 853 Einw.,Tinnum mit Amtsgericht und 162 und Morsum mit 671 Einw. auf deröstlichen, Rantum auf der südlichen Halbinsel mit 260,Westerland (s. d.) an der See mit Seebad, Krankenisolierhaus und899 und Norddörfer mit 295 Einw. Ein Leuchtturm befindet sichauf einem Hügel südlich von Kampen, Leuchtfeuer anverschiedenen Stellen der Küste. Die Bewohner sind Friesen,nur in List Dänen; Kirchen-, Unterrichts- und Gerichtssprachewar von jeher deutsch. In der Nähe des Lenchtturms wurdenneuerlich altheidnische Grabstätten von bedeutendem Umfangaufgefunden. S. ward im Krieg von 1864 durch den dänischenKapitän Hammer schwer heimgesucht, von den Preußen aber13. Juli in Besitz genommen. Seitdem hat die preußischeRegierung größere Summen zum Schutz der Westseite derInsel gegen die gefahrdrohenden Abspülungen durch das Meerverwendet. Der Besuch des Seebades ist in steter Zunahme begriffen.Regelmäßige Dampferverbindungen finden von Hoyer nachKeitum statt, von wo jetzt aus Munkmarsch eineDampfstraßenbahn nach Westerland führt. Ferner hat S.Dampferverbindung mit Hamburg über Helgoland. Vgl. Hansen, Dienordfriesische Insel S. (Leipz. 1859); Meyn, GeologischeBeschreibung der Insel S (Berl. 1876); Kunkel, Der Kurort S. undseine Heilwirkung (Kiel 1878); Hepp, Wegweiser auf S. (3. Aufl.,Tondern 1885).

Sylva (lat.), s. Silva.

Sylva, Carmen, Pseudonym der Königin Elisabeth vonRumänien (s. Elisabeth 10).

Sylvanerz, Sylvanit, s. v. w. Schrifterz (s. d.).

Sylvester, s. Silvester.

Sylvester, James Joseph, Mathematiker, geb. 3. Sept. 1814zu London, studierte in Cambridge, wurde 1837 Professor der Physikam University College in London, 1840 Professor der Mathematik ander Universität von Virginia, 1855 an der Militärakademiein Woolwich, 1870 an der John Hopkin's University in Baltimore und1883 Professor der Geometrie in Oxford. Er erfand mehreregeometrische Instrumente, wie den Plagiographen, den geometrischenFächer etc., 1885 veröffentlichte er die "Theorie derReciprozienten", durch welche die frühern Hilfsquellen dermodernen Algebra mehr als verdoppelt wurden. S. stellte auch eineTheorie der Verifikation auf.

Sylvesterorden, s. Goldener Sp*rn.

Sylvia, Grasmücke.

Sylviidae (Sänger), Familie der Sperlingsvögel(s. d.); Sylviinae, echte Sänger.

Sylvin (Hövellit, Schätzellit), Mineral aus derOrdnung der einfachen Haloidsalze, kristallisiert tesseral, findetsich meist in körnigen oder stängeligen Aggregaten, auchderb und eingesprengt, ist farblos oder gefärbt,glasglänzend, durchsichtig, Härte 2, spez. Gew. 1,9-2,0,besteht aus Chlorkalium und findet sich in größter Mengein linsenförmigen Einlage-rungen von 3-5 cm Dicke und 2-4 mLänge im salzführenden Thon bei Kaluschin und wird hierbergmännisch gewonnen. In Staßfurt findet sich S. imKieserit, auch kommt er als vulkanisches Sublimat am Vesuv vor. Erdient zur Darstellung von Kalisalzen.

Sylvius, 1) Jacob (Dubois), Anatom, geb. 1478 zu Amiens,studierte in Paris, hielt dort bis zu seinem Tod 1555 untergroßem Beifall anatomische Vorlesungen und bereicherte dieAnatomie durch wichtige Entdeckungen und Erfindungen. Nach ihm sinddie Sylviussche Grube und die Sylviussche Wasserleitung im Gehirn(s. d., S. 2) benannt. Seine "Opera medica" erschienen in Genf1630.

2) Franz, Mediziner, s. Boe.

3) Pseudonym, s. Texier 2).

Symbiose (griech.), nach einem von dem Botaniker A. deBary eingeführten Kunstausdruck das engere Zusammenlebenmehrerer, gewöhnlich zweier Lebewesen verschiedener Art, dieeinander wechselseitig nützen und zusammen besser gedeihen alsjeder der Genossenschafter für sich. Der letztere Umstandunterscheidet die S. vom Parasitismus, bei welchem der Schmarotzer(s. d.) einseitig Vorteil zieht und der Wirt einzig Nachteil hat.Einen Übergang zwischen beiden Verhältnissen macht dasdurch I. van Beneden als Mutualismus bezeichnete Verhältnis,bei welchem z. B. Hautschmarotzer ihrem Wirte durch Verzehren vonHautabfällen und Absonderungsprodukten Säuberungsdiensteleisten, ein näheres Ineinanderleben und gegenseitigesAnpassen aber nicht stattgefunden hat. Man kann dreiHauptfälle der S. unterscheiden: 1) zwischen Pflanzen untersich, 2) zwischen Tieren unter sich und 3) zwischen Tier undPflanze. Von dem Zusammenleben zweier niederer Pflanzen geben dieaus Pilzen und einzelligen Algen bestehenden Flechten (s. d.) daslehrreichste und am längsten bekannte Beispiel; die Algenbereiten dabei im Licht Nahrungsstoffe aus der Luft, währenddie davon mitzehrenden Pilzfäden Nahrung aus der Unterlageziehen und eine geeignete, Feuchtigkeit zurückhaltendeHülle bilden. Ein andres derartiges Beispiel bietet dieMycorhiza (s. d.). Zu der S. zwischen Tieren gehört als das amlängsten bekannte Beispiel das Wohnen des Muschelwächters(Pinnoteres veterum), einer kleinen Krabbenart, in den Schalen derSteckmuscheln (Pinna). Die Alten glaubten, der an derSchalenöffnung liegende Krebs benachrichtige das Muscheltierdurch Kneipen mit den Scheren von nahender Gefahr oder Beute underhalte dafür seinen Anteil an der letztern. Sichererfestgestellt ist der gegenseitige Vorteil bei dem oft geschilderten"Freundschaftsverhältnis" der Einsiedlerkrebse mit denAktinien oder Seerosen, die sich auf den von jenen bewohntenSchneckenhäusern ansiedeln. Denn die Seerosen sind wegen dervon ihnen ausgeschleuderten Nesselorgane gefürchteteMeerestiere, die dem namentlich von Sepien verfolgtenEinsiedlerkrebs Schutz gewähren und dafür von ihm angünstige Beuteplätze geführt werden sowie auchdreist zulangen, wenn der Krebs ein gutes Beutestück erwischthat. Man hat in Aquarien festgestellt, daß Krebse, die manaus ihren mit Seerosen besetzten Schalen vertrieben, auch diebefreundete

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Symbiotes - Symbolik.

Seerose zur Übersiedelung veranlassen. Dagegen gehörtdas Besetzen der Schalen andrer Krebsarten mit Schwammtieren,Polypen und Algen mehr unter den Gesichtspunkt des Maskierens (s.d.). Von den Landbewohnern hat besonders das Wohnen vieler Tiere inAmeisennestern zahlreiche Studien veranlaßt. MancheKäfer, wie der blinde Keulenkäfer (Claviger), bringenihre ganze Lebenszeit im Ameisennest zu und werden von denEinwohnern sorgsam gepflegt und behütet, andre, wie derbekannte Rosengoldkäfer, verleben nur ihre Larvenzeit bei denAmeisen; die Brut gewisser Blattläuse wird im Winter dortaufgenommen. Wahrscheinlich sind die meisten dieser sehrmannigfachen Gäste der Ameisen denselben durch ihreAbsonderungen angenehm, wie dies von den Blattläusen, den"Milchkühen" der Ameisen, bekannt ist, andre mögen dieAbfälle fressen, und noch andre, zu denen sowohl zahlreicheInsekten als selbst Amphibien und Vögel gehören, sindwohl nur geduldete Genossen. Von besonderm Interesse ist die S.zwischen Pflanzen und Tieren, weil dadurch dauernde organischeVeränderungen sowohl in der äußern Gestalt undFärbung als in der Lebensweise hervorgebracht und neue Artengezüchtet wurden. Dabei kann nun entweder die Pflanze oder dasTier als Quartiergeber auftreten. Schon längst hatte man imKörper sowohl der Protisten, wie z. B. der Radiolarien , alsin demjenigen wirbelloser Tiere gewisse gelbe, bräunliche odergrüne Zellen entdeckt, die denselben, da sie meist nahe an derOberhaut liegen, ihre gelbliche, bräunliche odergrünliche Hautfarbe geben, ohne daß man über ihreeigentliche Bedeutung für das Leben klar wurde. Ihre Rollewurde um so unverständlicher, als Häckel Stärkemehlin ihnen nachwies, und endlich wurde durch die Untersuchungen vonGeza Enz, O. Hertel, Brandt u. a. nachgewiesen, daß es sichum einzellige Algen handelt, die in die Körper von Protisten,Süßwasserpolypen, Seeanemonen und Korallen,Seewürmern, Quallen und andern Tieren eindringen, in demdurchsichtigen Gewebe derselben Nahrungsstoffe bilden, sichvermehren und auch isoliert weiterleben. Daher haben diese durcheinzellige Algen gefärbten Wassertiere die Gewohnheit, ihrenKörper zeitweise dem Sonnenschein oder hellem Tageslichtauszusetzen, und scheiden dann einen Überschuß vonSauerstoff, wie Pflanzen, aus, obwohl die Tiere sonst Sauerstoffals Atmungsstoff verbrauchen. Im beständigen Dunkel gehalten,siechen diese Tiere dahin, weil sie von den in ihrem Körperlebenden und nunmehr absterbenden Algen sowohl Sauerstoff als auchzubereitete Nahrung empfingen. Da die Tiere ihrerseitsKohlensäure und andre Stoffe ausscheiden, von denen die Algenleben, so ist hier im engsten Bezirk ein Austausch und Kreislaufder Lebensstoffe hergestellt, wie er sonst erst im weitern Umkreiszwischen der Gesamtheit der Tiere und Pflanzen stattfindet. Unterden umgekehrten Fällen, in denen die Pflanzen ihnennützlichen Tieren Obdach und Nahrung darbieten, ist dieGegenseitigkeit und das Ineinanderleben bei Pflanzen und Ameisen amauffallendsten. In den Tropen bedürfen zahlreiche Pflanzeneiner beständigen Schutzwache von Ameisen gegen die Angriffeder sogen. Blattschneider- oder Sonnenschirmameisen, welche dieBlätter niedriger Pflanzen und Bäume rauben und inwenigen Stunden ganze Baumwipfel entlauben. Pflanzen und Bäumekönnen sich ihrer nur erwehren, indem sie gewissen kleinen,mit einem Stachel bewaffneten Ameisen, welche die grimmigstenFeinde der erstern sind, Wohnung und Kost gewähren. Die sogen.Ochsenhornakazie und andre Akazienarten beherbergen sie in ihrenvergrößerten hohlen Dornen, die Armleuchterbäume(Cecropia-Arten) in den hohlen Internodien des Stammes, an denensich eine besondere Durchbruchsstelle für die Weibchenausgebildet hat, noch andre Pflanzen in beulen- oderblasenförmigen Austreibungen des Stammes, der Äste oderBlattstiele. In neuerer Zeit sind sehr zahlreiche, gewissen Ameisenständige Wohnung bietende Pflanzen bekannt geworden, und manhat auch angefangen, gewisse Wucherungen und Haarbüschel inden Nervenwinkeln der Blätter (z. B. unsrer Linden) fürähnliche, den Milben als Wohnung dienende Gebilde("Acaro-Domatien") anzusehen. Im weitern Sinn würden hierherauch alle die zahllosen gegenseitigen Anpassungen der Blütenan Insektenbesuch und der Insekten an Honig- und Pollenraubgehören (s. Blütenbestäubung). Vgl. de Bary, DieErscheinung der S. (Straßb. 1879); O. Hertwig, Die S. (Jena1883); Huth, Ameisen als Pflanzenschutz (Berl. 1886); Derselbe,Myrmekophile und myrmekophobe Pflanzen (das. 1887); Schimper, DieWechselbeziehungen zwischen Pflanzen und Ameisen im tropischenAmerika (Jena 1888).

Symbiotes, s. Milben, S. 606.

Symblepharon (griech.), Verwachsung des Augenlides mitdem Augapfel, entsteht meist durch ausgedehnte Verbrennungen oderÄtzungen der Bindehaut und muß operativ beseitigtwerden.

Symbol (griech., lat. symbolum), Erkennungs- oderMerkzeichen; daher auch s. v. w. Parole, meist aber gleich Sinnbild(s. d.) gebraucht. Im heidnischen Kultus war S. ein für denGeheimdienst gewähltes Sinnbild, besonders eine Formel oderein Merkwort, woran sich die in die Mysterien Eingeweihtenerkannten; daher in der christlichen Kirche s. v. w. Sakrament undinsbesondere die sinnlichen Zeichen, welche bei den Sakramentengebraucht werden (Wasser, Brot, Wein); endlich auch s. v. w.Glaubensbekenntnis, als Erkennungszeichen der zu einerReligionspartei Gehörigen (s. Symbolische Bücher).

Symbolik (griech.), Wissenschaft und Lehre von denSymbolen (Sinnbildern), insbesondere den religiösen. Die S.lehrt uns, den hinter einem Zeichen oder Sinnbild verborgenentiefern Sinn erkennen, welchem etwas Geistiges, Unsichtbares oderUndarstellbares zu Grunde liegt. Der Ursprung der S. ist auf dieHieroglyphen- oder Bilderschrift der alten Ägypterzurückzuführen, von denen sie durch Vermittelung derJuden auf die ältesten Christen übergegangen ist. DieÄgypter symbolisierten ihre Götter durch Tiere,Verbindungen von menschlichen und tierischen Gestalten oderGliedern, Hieroglyphen oder durch mystische Zeichen, welche sichauf ihren Kult bezogen. So ist z. B. die geflügelteSonnenscheibe das Symbol des Siegs des Guten über dasBöse, der Sperber das Sinnbild des Horus, dieUräusschlange das Zeichen der königlichen Würde. Dieältesten Christen bedienten sich der Sinnbilder, um sich durchnicht jedermann verständliche Zeichen vor Verfolgungen zuschützen. Sie entnahmen dieselben sowohl dem Tier- undPflanzenreich als dem Alten und Neuen Testament. Das Lamm war z. B.das Symbol für den Opfertod Christi, das Kreuz und der GuteHirt für Christus selbst, der Weinstock das Sinnbild derchristlichen Verheißung und die Palme das Siegeszeichen derMärtyrer. Die Zahlensymbolik gehörte im Altertum mehr zurAstrologie; doch gab es auch bei Juden, Heiden und Christen gewisseheilige Zahlen. Die Sieben war z. B. die heilige Zahl der

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Symbolik - Symbolische Bücher.

Juden (siebenarmiger Leuchter), und die Christen deuteten siespäter auf die sieben letzten Worte am Kreuz, auf die siebenSakramente, die sieben Werke der Barmherzigkeit etc. Die Drei wardas Zeichen der heiligen Dreieinigkeit und der drei christlichenTugenden (Glaube, Liebe, Hoffnung), die Vier das Symbol der vierweltlichen Tugenden, der vier Elemente etc., die Fünf dasSinnbild der Wundenmale Christi. Die Tiersymbolik wurde imMittelalter sehr umständlich ausgebildet, indem namentlich dienaturwissenschaftlichen Lehrbücher, die sogen. Bestiarien (s.Bestiaire), gewisse Tiere zu Vertretern besonderer Eigenschaften,Tugenden und Lastern machten, für welche sie von der bildendenKunst als Symbole benutzt wurden. Die vier Evangelisten hattenschon frühzeitig ihre Symbole (Matthäus einen Engel,Markus einen Löwen, Lukas einen Ochsen, Johannes einen Adler).Der Löwe war das Sinnbild der Stärke und des Edelmuts,der Adler das der königlichen Würde, der Pfau das desHochmuts, das Einhorn das der Unschuld, der Hund das der Treue, dasSchwein das der Völlerei etc. Auf mittelalterlichenGrabsteinen ist der Löwe sehr häufig das Attribut derMänner, der Hund das der Frauen. Die geläufigsten Tier-und Pflanzensymbole wurden auch von der Kunst der Renaissanceübernommen und haben sich bis auf die Gegenwart in der Kunstund im Gebrauch des gewöhnlichen Lebens erhalten. So sind z.B. Kreuz, Herz und Anker die Symbole von Glaube, Liebe undHoffnung. Neben der Tier-, Pflanzen- und Zahlensymbolik gibt esnoch eine Farbensymbolik, die ebenfalls alten Ursprungs ist.Weiß gilt als Symbol der Unschuld, Grün als das derHoffnung, Blau als das der Treue, Rot als das der Liebe etc. Vgl.Creuzer, S. und Mythologie der alten Völker (3. Aufl., Leipz.1836-43, 4 Bde.); Bahr, S. des mosaischen Kultus (Heidelb. 1837-39,2 Bde.; Bd. 1, 2. Aufl. 1874); Münter, Sinnbilder der altenChristen (Altona 1825); Piper, Mythologie und S. der christlichenKunst (Weim. 1847-51, 2 Bde.); W. Menzel, Christliche S. (Regensb.1854, 2 Bde.). Im engern Sinn versteht man unter S. odersymbolischer Theologie diejenige Disziplin, welche sich mit denkirchlichen Bekenntnisschriften und deren Lehrinhalt unterbeständiger Vergleichung der Lehrbegriffe der verschiedenenKirchen und Konfessionen beschäftigt. Je nachdem bei derAufstellung und Beleuchtung dieser Gegensätze das reinhistorische oder das dogmatisch-polemische Interesse vorwaltet, istdie S. ein integrierender Teil der Dogmengeschichte, oder siefällt mit der Polemik (s. d.) zusammen. Eine S. allerchristlichen Kirchenparteien lieferten: Marheineke (Heidelb.1810-14, 3 Bde.; 1848), Winer (4. Aufl. von P. Ewald, Leipz. 1882),Köllner (Hamb. 1837-44, 2 Bde.), Guericke (3. Aufl., Leipz.1861), Matthes (das. 1854), Hofmann (das. 1857), Plitt (Erlang.1875), Reiff (Basel 1875), Öhler (Tübing. 1876), Scheele(Upsala 1877 ff.; deutsch, 2. Aufl., Leipz. 1886, 3 Bde.), Wendt("S. der römisch-katholischen Kirche", Gotha 1880 ff.),Philippi (Gütersl. 1883), Graul ("Die Unterscheidungslehrender verschiedenen christlichen Bekenntnisse", 11. Aufl., Leipz.1884) und namentlich der katholische Theolog Möhler (s. d.),dessen Werk eine große Reihe protestantischer Entgegnungen,besonders von Nitzsch und Baur, hervorgerufen und das Interesse ander katholisch-protestantischen Streitsache neu belebt hat,während die hierher gehörigen Untersuchungen von Matth.Schneckenburger (s. d.) neue Bahnen für das Verständnisder innerprotestantischen Lehrgegensätze eröffnethaben.

Symbolische Bücher, Schriften, durch welche eineKirche den Glauben, an dessen Bekenntnis ihre Mitglieder sich teilsuntereinander erkennen, teils von andern religiösenGenossenschaften unterscheiden, urkundlich bezeugt. Schon die altekatholische Kirche legte ihren Taufbekenntnissen den aus derMysteriensprache entlehnten Namen Symbol bei, da ja auch die Taufeals ein Mysterium galt. Die theologischen Streitigkeiten des 4. undder folgenden Jahrhunderte mußten die Zahl der Symbole nocherhöhen, und dreien von ihnen, dem sogen. Apostolischen (s.d.), dem Nicäisch-Konstantinopolitanischen (s. d.) und demsogen. Athanasianischen (s. d.), verschafften als sogen.allgemeinen oder ökumenischen Symbolen die weltliche Macht derKaiser und das Ansehen der Konzile absolute Geltung in der Kirche.Die Reformatoren des 16. Jahrh. haben diese allgemeinstenGrundlagen der christlich-katholischen Weltanschauung nichtangetastet; zugleich machte sich jedoch das Bedürfnis geltend,ein gemeinsames Bekenntnis des evangelischen Glaubens abzulegen unddie Unterscheidungslehren, welche zur Trennung von derrömischen Kirche geführt hatten, klar und bestimmthinzustellen. In den auf Luthers Tod folgenden theologischenStreitigkeiten wurde das Unterschreiben derselben insbesonderefür die Geistlichen obligatorisch, namentlich seit 1580 beimErscheinen des Konkordienbuchs von den sich dazu bekennendenFürsten und Ständen bestimmt ausgesprochen worden war,daß bei der darin enthaltenen Lehre allenthalben beharrtwerden sollte. Gleichwohl tauchte schon im 17. Jahrh. der Gedankeauf, daß die Verpflichtung auf s. B. eine unevangelischeBeschränkung der Glaubens- und Gewissensfreiheit sei; dasfolgende Jahrhundert regte die Frage an, ob man die Geistlichen aufsie verpflichten solle, nicht "weil" (quia), sondern "inwiefern"(quatenus) sie mit der Heiligen Schrift übereinstimmten, undmit der letztern Formel behalf sich namentlich der Rationalismus.In unserm Jahrhundert gewann der Grundsatz, daß sich dieGeistlichen streng an die Lehrformen der symbolischen Bücherzu halten hätten (Symbolzwang), besonders in Norddeutschlandneue Geltung. Selbst wo, wie in Preußen, die Union herrscht,will man doch bald in der Augsburgischen Konfession, bald in demsogen. Apostolikum eine unantastbare Autorität erkennen, ohnewelche eine die Gemüter der Gemeinden verwirrendeLehrwillkür einreißen müsse. Die Gegner desSymbolzwanges machen geltend, daß derselbe denProtestantismus im Prinzip bedrohe und durch Aufhebung derLehrfreiheit (s. d.) den Fortschritt in der Wissenschaftbeeinträchtige; sie wollen daher den protestantischenGeistlichen nur eine pietätvolle, von pädagogischem Taktgeleitete Berücksichtigung der symbolischen Bücher undihres Lehrgehalts zur Pflicht gemacht wissen. Fast bei allenkirchlichen Streitigkeiten der neuern Zeit stand die Frage desSymbolzwangs im Vordergrund. Über die symbolischen Bücherder verschiedenen christlichen Religionsparteien s. die besondernArtikel: Glaubensbekenntnis, Griechische Kirche,Römisch-katholische Kirche, Lutherische Kirche, ReformierteKirche etc. Vgl. Schleiermacher, Über den eigentlichen Wertund das bindende Ansehen symbolischer Bücher (Frankf. 1819);Johannsen, Die Anfänge des Symbolzwanges unter den deutschenProtestanten (Leipz. 1847); Scheurl, Sammlung kirchenrechtlicherAbhandlungen, Abteil. 1 (Erlang. 1872); Winer, KomparativeDarstellung des Lehrbegriffs der verschiedenen christlichenKirchenparteien (4. Aufl. von Ewald, Leipz. 1882).

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Symi - Sympathie.

Symi (im Altertum Syme, türk. Sumbeki), kleinetürk. Insel an der Südwestküste Kleinasiens, 79 qkm(1,43 QM.) groß mit der Stadt S., die angeblich 16,000ausschließlich christliche Einwohner zählt, welcheberühmte Schwammfischer sind.

Symmachie (griech.), Schutz- und Trutzbündnis, vonden griechischen Staaten untereinander geschlossen und zwar meistso, daß ein mächtigerer (z. B. Athen) die Hegemoniehatte. Berühmt ist namentlich die S. (Seebund) Athens mit denStädten und Inseln des Ägeischen Meers 476-404 v.Chr.

Symmachus, 1) von Geburt ein Samaritaner, späterJude, vielleicht auch Christ, verfaßte eine griechischeÜbersetzung des Alten Testaments.

2) Quintus Aurelius, röm. Redner und Epistolograph, um340-402 n. Chr., bekleidete unter Theodosius d. Gr. wichtigeStaatsämter, wie die Präfektur 384 und das Konsulat 391,und war ein unerschrockener Vorkämpfer des sinkendenHeidentums, dem jedoch selbst seine christlichen Gegner wegen derReinheit seines Lebens und seiner Gelehrsamkeit die Achtung nichtversagen konnten. Außer drei unvollständigen Lobredenauf Valentinian I. und dessen Sohn Gratian aus dem Jahr 369 undBruchstücken von fünf Senatsreden besitzen wir von ihmeine für die Kenntnis der Zeit und Persönlichkeit desVerfassers nicht unwichtige Briefsammlung in zehn Büchern,deren letztes wie bei Plinius die amtliche Korrespondenz(relationes) des S. und seines Sohns mit den Kaisern enthält.Eine treffliche Gesamtausgabe seiner Schriften besorgte Seeck (inden "Monumenta Germaniae historica", Bd. 6, Berl. 1883).

3) Cölius, Papst seit 498, aus Sardinien gebürtig,ließ 502 auf einer Synode zu Rom jede Einmischung von Laienin die Angelegenheiten der römischen Kirche verpönen undstarb 19. Juli 514.

Symmelie (griech.), Verwachsung von Gliedern; angeborneMißbildung, die an einfachen und Doppelmißbildungenangetroffen wird, meist an nicht lebensfähigen. Dasgewöhnlichste Beispiel der S. ist die Sirenenbildung (s.d.).

Symmetrie (griech.), das Ebenmaß oder dieÜbereinstimmung bei der Anordnung der Teile eines Ganzen inHinsicht auf Maß und Zahl. Die S. zeigt sich besonders darin,daß sich das Ganze in zwei hinsichtlich der Anordnung desEinzelnen übereinstimmende Hälften teilenläßt. S. in diesem Sinn zeigt in der anorganischen Naturdie Kristallform, im Pflanzenreich namentlich die Bildung derBlüten und Früchte, vorzugsweise aber der Körper derhöhern Tierklassen, bei welchem im normalen Zustand diegleichen oder ähnlichen Teile an jeder Hälfte dieselbeStelle einnehmen. Die Wahrnehmung dieser S. oderebenmäßigen Anordnung der gleichartigen Teile wird durchHervorhebung eines Mittel- oder Augenpunkts unterstützt underleichtert. Doch ist diese strenge S. keineswegs bei allenKunstwerken zu beobachten, da sie oft den Eindruck des Steifen,Unnatürlichen und Gezwungenen hervorbringen würde, wie inder Stellung und Gruppierung der Figuren in der Malerei undPlastik, bei Anordnung theatralischer Szenen etc. Am meisten eignetsie sich für die Architektur, indem das mangelnde symmetrischeVerhältnis der einzelnen Teile eines Bauwerks einen mehr oderweniger störenden Eindruck hervorbringt. In der Gartenkunst,wo früher ebenfalls symmetrische Anordnung üblich war,ist dieser Zwang durch Auskommen der sogen. englischen Anlagen,welche die Natur nachzuahmen suchen, meist beseitigt worden. Vommeßbaren Räumlichen ist der Ausdruck S. auch aufzeitliche Verhältnisse übertragen worden, doch ist hierder Ausdruck Eurhythmie zutreffender (vgl. Rhythmus). In derMathematik ist S. die Übereinstimmung der Teile eines Ganzenuntereinander. Symmetrisch ist z. B. jeder Kreis, jede Ellipse,jede Parabel und Hyperbel gebildet, auch jedes gleichseitigeDreieck, Viereck etc. Symmetrische Funktionen mehrerer unbestimmterGrößen, z. B. a, b, c, sind algebraische Ausdrücke,worin jene Größen alle auf ganz gleiche Art vorkommen,so daß man sie beliebig miteinander vertauschen kann, ohnedaß dadurch der Wert des Ausdrucks geändert wird: a+b,ab+ac+bc.

Symmikta (griech., "Vermischtes"), Titel fürSammlungen von allerhand Aufsätzen etc.

Sympathetisch (sympathisch, griech.), mitleidend,mitfühlend, auf Sympathie (s. d.) beruhend, seelenverwandt,gleichgestimmt.

Sympathetische Kuren, Heilungen von Krankheiten, dienicht durch die Einwirkung von Arznei- oder andern allgemeinbekannten Heilmitteln, sondern durch eine geheimnisvolle Kraftsolcher Körper geschehen, die mit dem Kranken oft gar nicht inunmittelbare Berührung zu kommen brauchen. Als die hierwirksame Kraft nahm man eine Sympathie des Menschen- oderTierkörpers mit Geistern, Sternen, andern Menschen, Tieren,Pflanzen, Steinen an, wofür man jedoch die Beweise schuldigblieb. Man hängt dem Kranken Amulette um, nimmt mit gewissenGegenständen Handlungen vor, die auf den entfernten Krankeneinwirken sollen, oder "bespricht" die kranke Stelle durchBeschwörungen und Gebete. Die Wirksamkeit allersympathetischen Mittel ist nicht nur nicht erwiesen, sondern auchim höchsten Grad unwahrscheinlich; doch ist der Glaube an dieHeilkraft derselben im Volk noch überaus verbreitet. DieWirksamkeit sympathetischer Kuren, wenn eine solche überhauptvorhanden ist, scheint vornehmlich darauf zu beruhen, daß indem Kranken der feste Glaube erweckt werde, daß das Mittelhelfen werde; denn durch diesen wird die Hoffnung auf Genesung unddadurch die Lebensthätigkeit des Organismus, die"Naturheilkraft", angeregt, durch welche dann die Krankheitüberwunden wird, wenn dies überhaupt möglich ist. Amleichtesten wird dies bei Krankheiten geschehen, die imNervensystem oder im Seelenleben ihren Sitz haben. S. K. feiernnamentlich auch in solchen Fällen Triumphe, bei welchen ofteine plötzliche Heilung ohne äußeres Zuthunerfolgt. So sieht man häufig Warzen in ganz kurzer Zeitvollständig verschwinden, und wenn gegen dieselben vorherzufällig eine sympathetische Kur angewandt worden war, soerscheint dem urteilslosen Beobachter deren Wirksamkeiterwiesen

Sympathetisches Gefühl, s. Mitgefühl.

Sympathetische Tinte, s. Tinte.

Sympathie (griech., "Mitempfindung"), unwillkürlicheund daher grundlos scheinende Zuneigung zu andern, auch wohl zulebendigen oder leblosen Gegenständen, die entwederphysiologische (angeborne S.) oder psychologische (entstandene S.)Gründe haben und im letztern Fall auf ganz zufälligen unddeshalb den Schein der Grundlosigkeit der S. erzeugendenAssoziationen beruhen kann (vgl. Antipathie). In der Physiologieversteht man unter S. (consensus) die Eigenschaft eines Organismus,vermöge deren durch die gesteigerte oder herabgestimmteThätigkeit eines Organs auch die eines andern gesteigert oderherabgestimmt wird. Diese Erscheinung wird durch das Nervensystem,das Gefäßsystem oder das Zellgewebe vermittelt, und zwarwirkt das erstere

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Sympathikus - Symphoricarpus.

besonders durch psychische Vermittelung oder Reflex. Zu denErscheinungen der S. rechnet man die Ausbildung der Stimme miteintretender Mannbarkeit, die gleichzeitige Steigerung derThätigkeit der Leber, Speicheldrüsen, des Pankreas etc.zur Zeit der Verdauung, das Niesen bei Einwirkung von Licht auf dasAuge etc. Häufiger aber werden die Erscheinungen der S. inKrankheiten beobachtet. So ruft die Erkrankung des einen Auges eine"sympathische" Affektion des andern hervor. Vorzugsweise schreibtman derartige Verbindungen dem Sympathikus zu. Andre Arten derÜbertragung von Krankheiten, welche früher auch wohlunter den Gesichtspunkt der S. fielen, werden zur Metastasegerechnet. Vgl. Idiopathie und Sympathetische Kuren.

Sympathikus (sympathischer Nerv, Eingeweide- odersympathisches Nervensystem), derjenige Teil des Nervensystems,welcher die unwillkürlichen Thätigkeiten des sogen.vegetativen Lebens regelt und so im Gegensatz zu dem animalenNervensystem (Gehirn und Rückenmark) steht. Die zu ihmgehörigen Nerven verzweigen sich hauptsächlich an denEingeweiden. Auch bei niedern Tieren findet sich vielfach ein S.vor, steht aber immer mit dem animalen Nervensystem an irgend einerStelle in Zusammenhang. Letzteres ist auch bei den Wirbeltieren derFall, doch wird die Verbindung nicht direkt mit dem Gehirn oderRückenmark, sondern mit den Rückenmarksnerven getroffen.Zu beiden Seiten der Wirbelsäule (s. Tafel "Nerven desMenschen II", Fig. 5) verläuft nämlich je ein Strang, dersogen. Grenzstrang oder Stamm des S., welcher aus einer Kette vonGanglien besteht, von Wirbel zu Wirbel durch einen feinen Nerv mitdem benachbarten Rückenmarksnerv verbunden ist und mit demSteißbeinknoten endet. Vom Grenzstrang gehen dann dieperipherischen Nerven des S. aus und vereinigen sich in derNähe der größern Eingeweide zu Geflechten, inwelche, wie überhaupt in den Verlauf dieser Nerven, zahlreichekleinere Ganglien eingelagert sind. Ein besonders großesGeflecht dieser Art ist der Plexus solaris, das Sonnengeflecht, dasunmittelbar unter dem Zwerchfell liegt. Die Herznerven des S.entspringen bei den höhern Wirbeltieren vom Hals. Auch im Kopfliegen sympathische Ganglien und Geflechte, so z. B. in denSpeichel- und Thränendrüsen. Die Endungen dersympathischen Nervenfasern in den von ihnen versorgten Organen(Herz-, Darm-, Harn-, Geschlechtswerkzeuge etc.) sind noch wenigbekannt. Gewöhnlich treten sie an die glatten Muskelfasernheran und veranlassen deren vom Willen unabhängigeZusammenziehungen. Da sie auch die Muskulatur in den Wandungen derBlutgefäße als sogen. Gefäßnerven (s. d.)innervieren, so verengern sie durch ihre Thätigkeit derenWeite und sind daher von großem Einfluß auf denBlutzufluß , somit auf die Ernährung der Organe.

Sympathisch (griech.), s. Sympathetisch.

Sympathische Färbung, s. Schutzeinrichtungen.

Sympathisieren (franz.), mit jemand gleich empfinden,gleiche Neigung haben.

Sympetalae (griech.-lat.), s. Monopetalen.

Symphonie (griech., ital. Sinfonia), ein in Sonatenformgeschriebenes Werk für großes Orchester. Das griechischeSymphonia ("Zusammenklang") ist im Altertum Bezeichnung fürdas, was wir jetzt Konsonanz der Intervalle nennen. Als zu Anfangdes 17. Jahrh. in Florenz sich die Oper entwickelte, erhielt die(sehr kurze) Instrumentaleinleitung den Namen S., welcherjedenfalls auch schon den Instrumentalstücken der imMadrigalenstil komponierten Pastorales eigen war. Die S.entwickelte sich zunächst besonders in der neapolitanischenOper. Ihre Vorgeschichte ist durchaus die der Ouvertüre (s.d.), welche bekanntlich außer in Frankreich auch den Namen S.weiterführte. Je ausgeführter ihre Form wurde, desto mehreignete sie sich zum Vortrag als selbständiges Stück (siewurde dann zur Kammermusik gerechnet, da Orchestermusik als derenGegensatz noch nicht existierte); um die Mitte des vorigenJahrhunderts begannen die Komponisten (Grétry, Gossec,Sammartini, Stamitz, Cannabich) besondere Symphonien fürallmählich vergrößertes Orchester zu schreiben undtrennten die drei bis dahin noch lose zusammenhängenden Teileder Ouvertüre. Haydn vollendete die Form durchÜbertragung der indes durch D. Scarlatti und Ph. E. Bachentwickelten Form des Sonatensatzes, welcher seinerseits erst kurzvorher von der Ouvertüre den Gegensatz mehrerer Themenangenommen hatte; Haydn war es auch, der zwischen den langsamen undden Schlußsatz das Menuett einschob (ebenfalls imAnfchluß an die Sonate). Viel höher aber steht noch dasVerdienst Haydns, die Orchesterinstrumente nach ihrer Klangfarbeindividualisiert zu haben; damit hat er erst die S. zu dem gemacht,was sie heute ist. Was Mozart und besonders Beethoven hinzugebrachthaben, ist hauptsächlich die Verschiedenheit ihrer eignenNatur: der jovialere Haydn scherzt und neckt in seinen Symphonien,der sinnige Mozart schwärmt, und der finstere,leidenschaftliche Beethoven grollt oder reißt mit sich fort.Zudem hat Beethoven das Orchester erheblich vergrößert(vgl. Orchester). Eine Neuerung von ihm ist auch die Ersetzung desMenuetts durch das Scherzo sowie in der neunten S. dieEinführung des Chors und die Umstellung der Sätze Adagiound Scherzo, die seitdem mehrfach nachgeahmt wurde. Beethoven hatden Inhalt der S. im ganzen bedeutungsvoller, die tiefsten Tiefendes Seelenlebens ergreifend gestaltet, die einzelnen Sätze zulängerer Dauer ausgeführt und dem Finale statt derrondoartigen mehr eine an Form und Charakter dem ersten Satznahekommende Gestalt gegeben. Die Symphoniker seit Beethoven habendie Form nicht mehr weiter zu entwickeln vermocht;nichtsdestoweniger würde es ein arger Fehlschluß sein,wollte man sie als ausgelebt ansehen; die Symphonien von Schumann,von Brahms und Raff beweisen, daß sie noch zur Füllungmit immer neuem Inhalt tauglich sein wird. Die symphonischenDichtungen der neuesten Zeit (Berlioz, Liszt, Saint-Saëns)sind nicht eigentliche Fortbildungen der Form der S.; der Gedankeist schon dadurch ausgeschlossen, daß sie eine eigentlichedefinierbare Form überhaupt nicht haben. Sie gehören zurKategorie der sogen. Programmmusik (s. d.), deren wesentlichsteRepräsentanten sie sind. Die Programmmusik ist aber einegemischte Kunstform, deren Gestaltungsprinzipien nichtmusikalischer, sondern poetischer Natur sind; in erhöhtemMaß gilt das natürlich von der S. mit Chören(Symphoniekantate, franz. Ode-symphonie), zu welcher GattungBeethovens neunte S. nur bezüglich ihres letzten Satzesgehört.

Symphonische Richtung, s. Symphonie undProgrammmusik.

Symphoricarpus Juss. (Schneebeere), Gattung aus derFamilie der Kaprifoliazeen, Sträucher mit kurzgestielten,rundlichen oder eiförmigen, ganzrandigen Blättern,kleinen, weißen oder rötlichen Blüten in kurzen,achselständigen Trauben oder Ähren und eiförmigeroder kugeliger, zweisamiger Beere. Sechs

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Symphosius - Synandrisch.

nordamerikanische und mexikanische Arten, von denen S. racemosaMich. in Nordamerika, mit weißen, sehr schwammigen Beeren,als Zierstrauch kultiviert wird.

Symphosius (Symposius), röm. Dichter aus dem 4. bis5. Jahrh. n. Chr., Verfasser einer Sammlung von 100Rätselgedichten von je drei ziemlich reinen Hexametern (beiRiese, "Anthologia latina", Bd. 1, Leipz. 1869, und Bährens,"Poetae latini minores", Bd. 4, das. 1882). Vgl. Paul, De Symposiiaenigmatibus (Berl. 1854).

Symphysis (griech.), feste, knorpelige Verbindungzwischen zwei Knochen, z. B. S. ossium pubis, Schambeinfuge.

Symphytum L. (Schwarzwurzel, Beinwurzel, Beinwell),Gattung aus der Familie der Asperifoliaceen, ausdauernde, meistborstig behaarte Kräuter mit starken Wurzeln, abwechselnden,ganzen, manchmal am Stengel weit herablaufenden Blättern,daher geflügelten Stengeln, in Wickelähren gestellten,röhrenförmigen Blüten und glattenNüßchen. Etwa 16 Arten in Europa, Nordafrika, Westasien.S. asperrimum Bieb., auf dem Kaukasus, mit stachlig behaartenBlättern und schönen, erst purpurnen, dann himmelblauenBlüten, findet sich als Zierpflanze in Gärten und ist alstreffliches Viehfutter empfohlen worden. S. officinale L.(Schwarzwurz, Wallwurz), mit spindeliger, ästiger, außenschwarzer Wurzel, aufrechtem, 30-90 cm hohem, ästigem,steifhaarigem Stengel, runzeligen, rauhhaarigen, langherablaufenden Blättern und gelblichweißen undviolettroten Blüten, auf feuchten Wiesen, an Ufern derFlüsse im größten Teil von Europa, war früheroffizinell. S. asperrimum (kaukasische Comfrey) wird alsperennierende Futterpflanze gebaut; sie liebt einen warmen,zeitweise feuchten und fruchtbaren Lehmboden, eignet sich aber auchvorzüglich, vegetationsarme Landstrecken mit minder gutemBoden allmählich unter beschattende Pflanzendecke zu bringen.Sie liefert bereits im zweiten Jahr ihrer Anpflanzung vier starkeSchnitte mit einem Gesamtertrag von 7500 kg pro Hektar. DerNährwert des Krauts kommt dem des Klees sehr nahe. Dasselbeeignet sich nicht zur Heubereitung, liefert aber gutesSauerfutter.

Symplegaden (Insulae Cyaneae), zwei kleine Felsen an derMündung des Thrakischen Bosporus in den Pontus Euxinus, dieder Sage zufolge früher fortwährend aneinanderstießen und alle dazwischen hinsegelnden Schiffezertrümmerten, bis sie seit der Argonautenfahrt auf desOrpheus Saitenspiel unbeweglich stehen blieben.

Symploke (griech., "Verknüpfung"), Wortfigur, dieVerbindung von Anaphora und Epiphora (s. d.), z. B. bei Fragen,welche mit demselben Wort beginnen, und auf welche dieselbe Antworterfolgt: Was ist der Thoren höchstes Gut? Geld! Was verlocktselbst den Weisen? Geld! Was schreit die ganze Welt? Geld!

Sympodium (Scheinachse), s. Stengel, S. 288.

Symposion (griech.), s. v. w. Trinkgelage (s. d.); auchTitel zweier Dialoge des Platon und Xenophon.

Symptom (griech.), Anzeichen, eine Erscheinung, aus derenAuftreten man schließt, wie etwas steht; insbesondereKrankheitszeichen, d. h. die Erscheinungsform, unter welcher sicheine Krankheit äußert. Gelbsucht ist z. B. das S., unterdem sich mannigfache Krankheiten des Darms oder der Leberäußern, Fieber ist S. sehr zahlreicher ansteckenderKrankheiten. Aus der Deutung der Symptome ergibt sich die Diagnose.Symptomatologie, Lehre von den Krankheitssymptomen (s.Semiotik).

Symptomatische Mittel, s. Palliativ.

Synagoge (griech.), das Gotteshaus der Israeliten, wie essich in und nach dem babylonischen Exil aus Versammlungen zurFeststellung aller Lebensverhältnisse nach und nach zumBethaus ohne Opferkultus entwickelt hat, und dessen zur Zeit Esrasteilweise schon eingeführte Gebetordnung noch heute dieGrundlage des jüdischen Gottesdienstes bildet. In allenansehnlichen Städten Judäas waren schon im 1. Jahrh. nachEsra Räumlichkeiten, wo allsabbatlich und an den Festtagen,später am zweiten und fünften Tag der Woche, den Markt-und Gerichtstagen, anfänglich in freier Auswahl, dann nachfestgesetzter Reihenfolge ein Abschnitt aus dem Pentateuch und baldauch ein Prophetenabschnitt (Haftara) vorgelesen und inGemeinschaft gebetet wurde. Auch außerhalb Palästinas,wo Jerusalem allein 480 Synagogen besessen haben soll, gab es vieleund schöne Synagogen; als größte wird die inAlexandria erwähnt. Neben dem Bethaus befand sich oft dasLehrhaus; nicht selten wurde das höhere Studium in jenemselbst betrieben, was den Namen Judenschule für S.veranlaßte. Seit dem 5. Jahrh. fanden hinsichtlich derAnlegung und der Anzahl derselben vielfache beschränkendeGesetze statt. Die wesentlichsten Bestandteile jeder S. sind: demEingang gegenüber die die Gesetzrollen enthaltende heiligeLade (Aron Hakodesch), Repräsentant der ehemaligen Bundeslade;daneben ein Leuchter, dem siebenarmigen Leuchter des Tempelsentsprechend; in der Mitte die Almemor oder Bimah genannte Estrade,für die Vorlesungen bestimmt, und das ewige Licht. Männerund Frauen sitzen gesondert. Zur Abhaltung der öffentlichenAndacht sind mindestens zehn über 13 Jahre alte männlicheIsraeliten erforderlich (Minjan). Die Gebete und biblischenLektionen verrichtet der Vorbeter; Vorträge an Sabbaten undFesttagen hält der Rabbiner oder der Prediger. In neuerer Zeithat die Orgel in vielen Synagogen Eingang gefunden und ist nebender hebräischen die Landessprache mehr in Aufnahme gekommen. -S. in anderm Sinn heißt zuweilen auch die Judenheit, alsGegensatz zur Christenheit (ecclesia). Die große S.(kenesseth hagdolah) nennen talmudische und rabbinische Quelleneine aus 120 Gelehrten bestehende Versammlung, welche unter demPräsidium Esras die religiösen Angelegenheiten ordnete;geschichtlich ist aber darunter nur eine von Esra bis auf Simon denGerechten (gestorben um 292 v. Chr.) reichende Thätigkeit derSchriftgelehrten, die sich auf Redaktion der biblischenBücher, Feststellung und Weiterbildung des mündlichüberlieferten Gesetzstoffes der Tradition, auf kulturelleEinrichtungen und Ähnliches bezog, zu verstehen.

Synalöphe (griech., "Verschmelzung"), dieVereinigung zweier Silben, namentlich in zwei aufeinander folgendenWörtern, entweder durch die Krasis (s. d.) oder durch dieElision (s. d.).

Synandrae, Ordnung im natürlichen PflanzensystemBrauns unter den Dikotyledonen, Sympetalen, mitregelmäßigen oder zygomorphen Blüten mitfünfgliederigen Blattkreisen, meist fünfStaubgefäßen, welche bald unter sich, bald mit demGriffel, bald auch allein mit ihren Antheren verwachsen sind, undmit unterständigem Fruchtknoten, umfaßt die Familien derKukurbitaceen, Kampanulaceen, Lobeliaceen, Goodeniaceen, Stylideen,Kalycereen und Kompositen. Im System Eichlers bilden diese Familienmit Ausnahme der Kompositen und Kalycereen die Reihe derKampanulinen.

Synandrisch (griech.), Bezeichnung für Blütenmit verwachsenen Staubblättern.

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Synanthereen - Synesios.

Synanthereen, s. Kompositen.

Synantherin , s. Inulin.

Synaptas, s. Emulsin.

Synapte (Synapta), s. Holothurioideen.

Synäresis (Synizesis, griech.), in der Grammatik s.v. w. Kontraktion (s. d.).

Synarthrosis (griech.), unbewegliche Knochenverbindungdurch die Naht, die Knorpelfuge (Synchondrosis oder Symphysis) unddie Syndesmosis (feste Vereinigung durch Bänder).

Syncelli (griech. Synkelloi), in der griech. Kirche etwaseit dem 4. Jahrh. Hilfs- oder Hausgeistliche, Vertraute derBischöfe.

Synchondrose (griech.), s. Knochen, S. 877.

Synchronismus (griech., "Gleichzeitigkeit"), in derGeschichte das Zusammentreffen verschiedener Begebenheiten in einemund demselben Zeitpunkt. Synchronistische Geschichtserzählungnennt man daher diejenige, in welcher die in dieselbe Zeitfallenden Begebenheiten unter verschiedenen Völkern und inverschiedenen Ländern nebeneinander fortschreitend dargestelltwerden. Zum Studium der Geschichte dienen synchronistischeTabellen, d. h. Verzeichnisse, in denen in nebeneinander stehendenKolumnen die Hauptbegebenheiten der Geschichte verschiedenerVölker angeführt sind.

Syndaktylie (Daktylosymphysis, griech.), Verwachsung derFinger untereinander. Kommt angeboren vor und ist entweder sovollkommen, daß man nur am Skelett die einzelnen Fingergetrennt erkennen kann, oder mehr oberflächlich, so z. B.daß eine Art Schwimmhaut die ersten Fingerglieder verbindet.Erworben wird S. nach Verbrennungen. Die Behandlung besteht in deroperativen Trennung der Finger, oder sie sucht durch Dehnungen undBewegungen narbige Verwachsungen beweglicher zu machen.

Syndesmologie (griech.), Bänderlehre, Teil derAnatomie (s. d.).

Syndesmose (griech.), s. Knochen, S. 877.

Syndikalkammern (franz. Chambres syndicales), inFrankreich früher die Vorstände verschiedenerprivilegierter Genossenschaften sowie von gewerblichen Vereinen undVerbänden, dann solche zur Förderung eigner und allgemeingewerblicher Interessen gebildete genossenschaftliche Verbändeselbst. 1791 verboten, bildete sich doch unter stillschweigendergesetzlicher Anerkennung eine große Anzahl solcherVerbände, welche 1883 auch formell gesetzlich anerkannt undgeregelt wurden. Insbesondere bildeten sich nach Aufhebung desKoalitionsverbots (1864) auch viele S. von Arbeitern mitähnlichen Einrichtungen und Zwecken wie die englischen unddeutschen Gewerkvereine. Vgl. Lexis, Gewerkvereine undUnternehmerverbände in Frankreich (Leipz. 1879).

Syndikat, s. Syndikus.

Syndikatsverbrechen, s. Beugung des Rechts ausParteilichkeit.

Syndikus (griech.), der von einer Korporation(Stadtgemeinde, Stiftung, Verein, Aktiengesellschaft) zu Besorgungihrer Rechtsgeschäfte aufgestellte Bevollmächtigte. Diedem S. zu erteilende Vollmacht heißt Syndikat. Letzteres Wortwird auch gebraucht für ein Konsortium (s. d.), welches sichbildet, um eine Börsenoperation etc. durchzusühren.Syndi-katsklage, Klage auf Entschädigung gegen den Richter,welcher absichtlich oder infolge groben Versehens ein ungerechtesUrteil fällte. Vgl. Kronsyndikus.

Synechie (griech.), krankhafte Verwachsung.

Synedrion (griech., neuhebr. sinhedrin und sanhedrin)oder großes S. hieß die höchste, in der zweitenHälfte des jüdischen Staatslebens, nach dem Muster dergroßen Synode und des biblischen 70-Ältestenkollegiumsmit Bezug auf das 5. Mos., 17, 9 bezeignete Obergericht, zuJerusalem konstituierte, aus 71 Richtern bestehendeRechtsbehörde in Staats-, Rechte- und Religionssachen, welcherdas aus 23 Richtern zusammengesetzte kleine S. und dasDreimännergericht untergeordnet waren. Den Vorsitz im S.führte der vom Richterkollegium zu wählendeOberpräsident (Nassi) und Gerichtspräsident (Ab-bet-din),als dessen Stellvertreter die zwei Schreiber galten. Währendunter den Makkabäern das S. weltliche und geistlicheMachtbefugnis hatte, ward ihm unter Herodes die politische, unterden Römern die richterliche Gewalt entzogen, so daß eszu einer Art kirchlicher Synode wurde.

Synekdoche (griech., "Mitverstehen"), rhetor. Figur,durch welche etwas Allgemeines durch ein Besonderes, namentlich einAbstraktes durch ein Konkretes, die Gattung durch eine Art, dasGanze durch einen seiner Teile, die Vielheit durch ein Einzelnesetc. oder auch umgekehrt veranschaulicht wird. Sie sagt z. B. "derRömer" für die Römer, "Kiel" für Schiff,"Jugend" für junge Leute, "Eisen" für Schwert etc.

Synepheben (griech.), Jugendgenossen.

Synergiden, s. Embryosack, S. 598.

Synergismus (griech.), die dogmatische Ansicht, wonachder Mensch zu seiner Bekehrung "mitwirken" müsse. Einst hatteAugustinus im Gegensatz zum Pelagianismus (s. d.) undSemipelagianismus (s. d.) alle derartige Mitwirkung verworfen, unddieser Ansicht folgte Luther, während Melanchthon den Anteilder menschlichen Willenskraft je länger, desto bestimmter indie erhaltene Fähigkeit setzte, der göttlichenGnadenwirkung zuzustimmen. Dieselbe Vorstellung war in dasLeipziger Interim übergegangen, und mehrere Theologen,darunter V. Strigel (s. d.), begünstigten sie. Aber erstseitdem Joh. Pfeffinger (s. d.) in Leipzig ("De libero arbitrio",1555) sich für dieselbe erklärt hatte, begannen Amsdorfund Flacius zu Jena 1558 den sogen. synergistischen Streit. DieWittenberger nahmen für Pfeffinger Partei, während derherzogliche Hof im sogen. Konfutationsbuch (1559) eine offizielleWiderlegung des S. veröffentlichte und die Verteidiger desletztern, Strigel und Hügel, 1559 gefangen setzen ließ.Bald aber schlug die Hofgunst um, zumal als 1560 in der Disputationzu Weimar Flacius die Erbsünde geradezu für die Substanzdes Menschen erklärte. Jetzt wurde Strigel 1562 wiedereingesetzt, dagegen 40 dem Flacius anhängende Predigerabgesetzt. Aber unter dem 1567 zur Regierung gelangten HerzogJohann Wilhelm von Weimar änderte sich die Lage der Dingeabermals: durch eine allgemeine Kirchenvisitation wurden dieÜberreste ebensowohl des Strigelschen S. als des FlacianischenManichäismus unterdrückt, und die Konkordienformel (s.d.) verdammte beides.

Synergus, s. Gallwespen.

Synesios, neuplaton. Philosoph, geb. 375 n. Chr. zuKyrene, studierte in Alexandria als Schüler und Freund derHypatia (s. d.) die neuplatonische Philosophie, trat um 408 zurchristlichen Kirche über, ward 410 Bischof zu Ptolemais, starbaber schon 415. Seine philosophischen Ansichten, die er auch alsChrist beibehielt, legte er in Reden, Briefen, Hymnen und andernSchriften nieder. Er verrät darin mannigfaltige Kenntnisse,große Belesenheit und Scharfsinn und gute, gewählteDiktion. Die beste Gesamtausgabe seiner Werke ist von Petavius

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Synesis - Synopsis.

(Par. 1631, zuletzt 1640); eine kritische Ausgabe der Reden undHomilien besorgte Krabinger (Landsh. 1850), der Hymnen Flach(Tübing. 1875). Vgl. Volkmann, S. von Kyrene (Berl. 1869).

Synesis (griech.), Sinn, Verstand; vgl. Sensus.

Synezeugmenon (griech.), s. v. w. Zeugma.

Syngenesia (griech.), 19. Klasse des Linneschen Systems,Pflanzen enthaltend, deren Antheren miteinander zu einer Röhreverwachsen sind, der Familie der Kompositen entsprechend. DaherSyngenesisten, s. v. w. Kompositen.

Syngramma Suevicum. Name der von Brenz (s. d.)verfaßten, von Schnepf (s. d.) und zwölf andernschwäbischen Geistlichen unterschriebenen Gegenschrift gegendas Buch des Ökolampadius: "De genuina verborum domini (hocest corpus meum) expositione", welches das Wort "Leib" als das"Zeichen des Leibes" fassen wollte.

Synizesis (griech.), s. Synäresis.

Synkarp (griech.), in der Botanik ein Gynäceum,dessen einzelne Karpelle durch Einschlagen ihrer Rändervöllig geschlossen sind und miteinander verwachsen; derFruchtknoten besitzt in diesem Fall so viel Fächer, wieKarpelle vorhanden sind.

Synklinale (griech.), s. Antiklinale.

Synkope (griech.), in der Grammatik die Verkürzungeines Wortes um eine mittlere Silbe (z. B. ewiger statt ewigeretc.); in der Musik die Zusammenziehung des unbetonten Taktteilsmit dem nachfolgenden betonten zu einer einzigen Note; in derMedizin s. v. w. plötzliche Entkräftung, Ohnmacht.

Synkrasis (griech.), Vermischung.

Synkratie (griech., "Mitherrschaft"), im Gegensatz zurAutokratie diejenige Art der Staatsverfassung, nach welcher dasVolk durch seine Vertreter an der Regierung einen gewissen Anteilnimmt.

Synkretismus (griech.), die ausgleichende Vereinigungstreitender Parteien, Sekten, Systeme etc. durch Abschwächungder trennenden Gedanken sowie durch Aufstellung vonLehrsätzen, die jeder nach seiner Meinung deuten kann;insbesondere seit 1645 die unionistische Theologie des GeorgCalixtus (s. d.), daher die Kontroverse mit ihm alssynkretistischer Streit bekannt ist.

Synodalverfassung, s. Presbyterial- undSynodalverfassung.

Synode (griech.), Versammlung in kirchlichenAngelegenheiten, also s. v. w. Konzilium (s. d.).Diözesansynode (synodus dioecesalis) heißt eine S.,welche ein Bischof mit den ihm untergebenen Pfarrern,Provinzialsynode (synodus provincialis) eine solche, welche einErzbischof mit seinen Bischöfen abhält, Nationalsynodeoder allgemeine S. (synodus universalis oder nationalis) einesolche, zu der die gesamte Geistlichkeit eines Landes unter Vorsitzeines päpstlichen Legaten zusammentritt, um wichtige, diekirchlichen Angelegenheiten betreffende Fragen zu erledigen. In derprotestantischen Kirche sind die Synoden die Organe der kirchlichenSelbstverwaltung und Vertretungskörper der Kirchengenossengegenüber dem landesherrlichen Kirchenregiment. Diesen Synodenist ein Mitwirkungsrecht bei der kirchlichen Gesetzgebung undVerwaltung eingeräumt. Nach der Kirchengemeinde- undSynodalordnung für die östlichen Provinzen Preußensvom 10. Sept. 1873 umfaßt der Kreissynodalverband(Kirchenkreis) regelmäßig eine Diözese,ausnahmsweise auch mehrere kleinere Diözesen. Die Kreissynodebesteht aus sämtlichen innerhalb des Kirchenkreises einPfarramt definitiv oder vikarisch verwaltenden Geistlichen und derdoppelten Zahl der durch die vereinigten Gemeindeorgane auf dreiJahre gewählten Mitglieder (Synodalen). Die eine Hälftedieser gewählten Synodalen wird aus den dermaligen oderfrühern Kirchenältesten, die andre Hälfte von den anSeelenzahl stärkern Gemeinden aus den angesehenen, kirchlicherfahrenen und verdienten Männern des Synodalkreisesgewählt. Die Kreissynoden einer Provinz bilden den Verband derProvinzialsynoden, deren Mitglieder teils erwählt, teilslandesherrlich ernannt werden. Die Generalsynode aber setzt sichaus 150 von den Provinzialsynoden, 6 von denevangelisch-theologischen Fakultäten aus ihrer Mittegewählten, 30 vom König ernannten Mitgliedern und denGeneralsuperintendenten zusammen (Generalsynodalordnung vom 20.Jan. 1876). In der Provinz Hannover bestehen Bezirkssynoden undeine Landessynode; in Schleswig-Holstein Propsteisynoden und eineGesamtsynode; in Baden, Bayern und WürttembergDiözesansynoden und eine Landessynode, und zwar in Bayernfür das rechtsrheinische und für das linksrheinischeStaatsgebiet je eine Landessynode. In Oldenburg sind Kreissynodenund eine Landessynode, in Hessen Dekanatssynoden und eineLandessynode eingerichtet; im Königreich Sachsen, in Anhalt,Braunschweig, Sachsen-Weimar und Sachsen-Meiningen bestehen nurLandessynoden. Für die Wahrnehmung der laufendenGeschäfte sind, während die S. nicht versammelt ist, inder Regel die Synodalvorstände oder Synodalausschüsse(Synodalräte) berufen (s. Presbyterial- undSynodalverfassung). Vgl. Kähler, Visitation und S. (Gotha1886).

Synodische Umlaufszeit, die Zeit zwischen zweiaufeinander folgenden gleichnamigen Konjunktionen eines Planetenmit der Sonne; synodischer Monat, die Zeit von einer Konjunktionvon Sonne und Mond bis zur nächsten (von einem Neumond bis zumfolgenden).

Synonymen (griech.), gleichbedeutende oder sinnverwandteWörter. Meist stehen die durch solche Wörterausgedrückten Begriffe als Unterarten unter einem höhern,und man gebraucht sie als gleichbedeutend, indem man hier einzelneMerkmale nicht beachtet, dort dieselben sich hinzudenkt. ImInteresse der Deutlichkeit und Bestimmtheit des Ausdrucks hat manaber das Bedürfnis gefühlt, die Bedeutung der S.festzustellen, wodurch die Wissenschaft der Synonymik entstandenist, die vorzüglich auf einer richtigen Kenntnis und feinenBeobachtung des Sprachgebrauchs beruht. Im Sammeln undErläutern der S. ist man erst in neuerer Zeit zu einembefriedigenden Resultat gelangt. Namentlich sind die S. derlateinischen Sprache von Dumesnil, Haase, Ernesti, Ramshorn,Döderlein, Habicht, Lübker, Schmalfeld und Schultz, dieder deutschen Sprache von Aug. Eberhard, Meyer, K. Weigand und Dan.Sanders behandelt worden.

Synonymie (griech.), Sinnverwandtschaft der Wörter;rhetorische Figur, nach welcher eine Häufung von Synonymen zurnachdrücklichen Hervorhebung des Gedankens angewendet wird,wie Cicero von Catilina spricht: "Abiit, excessit, evasit,erupit".

Synopsis (griech.), zusammenfassender Überblick,übersichtliche Zusammenstellung verschiedener denselbenGegenstand betreffender Schriften; insbesondere S. der Evangelien,die Zusammenstellung derjenigen Stellen der drei ersten Evangelien,worin dasselbe in mehr oder minder gleicher Weise berichtet

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Synoptisch - Synthetische Sprachen.

wird (s. Evangelium, S. 948). Synopsen der letztern Artlieferten Griesbach, De Wette, Lücke, Planck, Matthäi,Friedlieb, Anger, Tischendorf, Schulze, Sevin. Vgl. Holsten, Diesynoptischen Evangelien (Heidelb. 1886).

Synoptisch (griech.), übersichtlich,kurzgefaßt.

Synoptische Karten, Wetterkarten, welche die gleichzeitigüber einem großen (Gebiet herrschende Witterungdarstellen. Dieselben werden nach den an einen Zentralorttelegraphisch eingesandten Witterungsnachrichten zusammengestellt.Für Deutschland geschieht das von der deutschen Seewarte (s.d.) in Hamburg, und zwar werden bei der Zeichnung dieser Kartendiejenigen Depeschen zu Grunde gelegt, welche von einergrößern Anzahl von Orten täglich eintreffen und dieWitterung des Morgens 8 Uhr, von einzelnen Hauptstationenaußerdem auch noch die Nachmittags 2 Uhr angeben. Das Gebiet,aus welchem die deutsche Seewarte ihre Morgentelegrammeerhält, erstreckt sich nach Westen bis nach der Westküstevon Irland, nach Süden bis Corsica und Süditalien, nachOsten bis Moskau und nach Norden bis Bodö, nördlich vomPolarkreis. Ganz besonders wertvoll werden die synoptischen Kartenfür das Studium der Witterungsveränderungen und sinddaher für das Aufstellen von Wetterprognosen (s. d.) ganzunentbehrlich (s. Meteorologie).

Synostosis (griech.), Knochenverbindung durchKnochensubstanz, Knochenverwachsung.

Synovia (griech.), Gelenkschmiere, s. Gelenk.

Synovialhaut, s. Gelenk.

Synovitis, s. Gelenkentzündung.

Syntagma (griech.), Sammlung mehrerer Schriften oderAufsätze verwandten Inhalts, dann überhaupt eineZusammenstellung verschiedener Bemerkungen; im altgriechischen Heereine Abteilung von etwa 250 Mann (s. Phalanx); im Neugriechischens. v. w. Verfassung.

Syntax (griech.), die Lehre von der Verbindung derWörter zu Sätzen, also die Satzlehre, bildet neben derFormenlehre als dem ersten den zweiten Hauptteil der Grammatik.Obwohl sich über die naturgemäße Ordnung der Worte,wie sie das innere oder logische Verhältnis der in die Redeaufgenommenen Vorstellungen verlangt, allgemeine Grundsätzeaufstellen lassen, deren Inbegriff die allgemeine S. bildenwürde, so macht doch der eigentümliche Bau der einzelnenvorhandenen Sprachen für eine jede derselben eine besondere S.nötig, die wiederum in zwei Hauptteile, die Rektionslehre unddie Topik oder Lehre von der Wortfolge, zerfällt. DieBegründung der vergleichenden Sprachwissenschaft hat dann auchzu einer historischen und vergleichenden Betrachtungsweise der S.Veranlassung gegeben. Die historische S. geht darauf aus, dieEntwickelung und Umbildung der S. in einer und derselben Sprache zuverfolgen; die vergleichende S. hat die Geschichte der S. inmehreren Verwandten Sprachen zum Gegenstand. Vgl. Dräger,Historische S. der lateinischen Sprache (2. Aufl., Leipz. 1878-81,2 Bde.); Delbrück und Windisch, Syntaktische Forschungen(Halle 1871-88, Bd. 1-5); Jolly, Ein Kapitel vergleichender S.(Münch. 1872).

Synthema (griech.), alles, was auf Verabredung beruht;eine in verabredeten Zeichen bestehendeSchrift; daherSynthematographie, die Kunst, mit solchen Zeichen in die Ferne zukorrespondieren.

Synthesis (griech., Synthese), Zusammenstellung,Verknüpfung (im Gegensatz zur Analysis, d. h. Zerlegung,Trennung), insbesondere die Verbindung von Vorstellungen undBegriffen untereinander, wie sie in der Auffassung der sinnlichenErscheinungen stattfindet, insofern hierbei die Mannigfaltigkeitder wahrgenommenen Merkmale in eins zusammenfließt. Hiernachversteht man unter einer synthetischen Erklärung eine solche,bei welcher sich der Begriff aus dem zusammenfassenden Denkenergibt, indem seine Merkmale vorher bekannt sind und auch die Artihrer Verknüpfung nicht zweifelhaft ist. Ein synthetischesUrteil ist ein solches, dessen Prädikat nicht mit demSubjektsbegriff schon gegeben ist, wie z. B. in dem Urteil: alleKörper nehmen einen Raum ein, sondern als eine neue Bestimmungzu jenem hinzutritt, wie in dem Urteil: jeder Veränderungliegt eine Ursache zu Grunde. Ist dabei das Urteil von derErfahrung abhängig, so wird es (mit Kant) S. a posteriori, imentgegengesetzten Fall S. a priori genannt. Analog ist dieUnterscheidung der synthetisch (progressiv) und analytisch(regressiv) gebildeten Schlußreihen, insofern man entwedervon gewissen Prämissen aus fortschreitend Folgerungen zieht,oder rückwärts zu den letzten Gründen zu gelangensucht. Ebenso versteht man unter synthetischer Methode diejenige,bei welcher, von den Prinzipien ausgehend, die Folgerungenentwickelt, unter analytischer Methode dagegen diejenige. beiwelcher die Prinzipien aus den Thatsachen abgeleitet werden. - S.heißt auch die Darstellung chemischer Verbindungen aus denElementen oder aus einfachern Verbindungen durch Einführungvon Atomen oder Atomgruppen. Die S. besitzt alsUntersuchungsmethode neben der Analyse (s. d.) eine großeBedeutung für die Chemie und feierte den ersten Triumph 1828,als Wöhler den Harnstoff aus den Elementen darstellte. Diesegroße Entdeckung blieb aber ganz vereinzelt, bis Berthelotauf die Wichtigkeit der S. für die organische Chemie hinwies.Seitdem wurden durch S. unter anderm erhalten: Essigsäure,Ameisensäure, Alkohol, Benzol, Kreatin, Guanidin,Krotonsäure, Senföl, Cholin, Vanillin, Pikolin, Indigo,Muskarin, Coniin etc., auch wurden Methoden ausgearbeitet zur S.ganzer Körpergruppen, wie der Alkohole, Phenole, Aldehyde,Säuren, Basen etc. Von besonderm Interesse ist die S. solcherVerbindungen, welche im Organismus durch den Lebensprozeßgebildet werden, weil die künstliche Darstellung dieserSubstanzen lehrt, daß in den lebenden Organismen dieselbenGesetze walten wie in der sogen. toten Natur. Auch für diePraxis haben die Erfolge der S. hohe Bedeutung und dürftensolche in Zukunft noch mehr gewinnen. Alizarin, Vanillin, Indigound Senföl werden künstlich dargestellt und spielenbereits neben dem Krapp, der Vanille, den aus der Indigopflanze undden Senfsamen gewonnenen Produkten eine Rolle in der Industrie. Manhat auch schon synthetisch gewonnenen Alkohol auf denIndustrieausstellungen gezeigt, und da man von derAmeisensäure und Essigsäure leicht zur Stearin- undPalmitinsäure gelangen kann, da anderseits auch Glycerin durchS. darzustellen ist und die genannten Säuren mit dem Glycerinsich leicht zu Fetten vereinigen lassen, so ist dieMöglichkeit der Gewinnung von Fett ohne Pflanzen und Tieregegeben. Die moderne Chemie wendet die S. hauptsächlich an, umüber die Konstitution der Verbindungen Aufschluß zuerhalten.

Synthetische Sprachen, seit A. W. Schlegel Bezeichnungfür solche Sprachen, in denen die grammatischenVerhältnisse, wie z. B. im Latein und Griechischen,vorherrschend auf dem Weg der Flexion gebildet werden, im Gegensatzzu den analytischen

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Syntonine - Syphilis.

Sprachen (s. d.), wie Französisch, Italienisch, Deutsch, inwelchen zum gleichen Zweck meistens mit Artikeln,Hilfszeitwörtern etc. zusammengesetzte Ausdrückeangewendet werden.

Syntonine, s. Proteinkörper.

Syphax, König der Massäsylier im westlichenNumidien, ward im zweiten Punischen Krieg von Scipio 207 v. Chr.für die Sache Roms gewonnen, aber bald darauf dadurch,daß Hasdrubal ihm seine dem Masinissa verlobte TochterSophonisbe (s. d.) zur Gattin gab, wieder auf die Seite derKarthager gezogen. Er führte den Krieg gegen Scipio anfangsnicht ohne Glück, ward aber 203 erst von Scipio, dann imeignen Land von Lälius und Masinissa geschlagen und gefangengenommen. Er starb als Gefangener in Tibur, nachdem er vorher (wievon Polybius und Tacitus berichtet, aber von Livius bestrittenwird) im Triumph des Scipio aufgeführt worden war.

Syphilid, jeder infolge allgemeiner Syphilis auftretendeHautausschlag.

Syphilis (griech., Lustseuche, Venerie,Franzosenkrankheit, lat. Luës, Morbus gallicus), diewichtigste der ansteckenden Geschlechtskrankheiten, da sie nichtallein örtliche, auf die Stelle der Ansteckungbeschränkte Veränderungen herbeiführt, sondern sichauf dem Weg der Lymph- und Blutbahn dem ganzen Körper mitteiltund so zu einer Konstitutionskrankheit wird. Der krankmachendeStoff (virus syphiliticum) ist seinem Wesen nach noch nichterforscht; man vermutet, daß es eine Bakterienart sei, hatauch schon eine Reihe von Syphilisbacillen aufgefunden, welche mitmehr oder weniger Wahrscheinlichkeit als Ursache der S. bezeichnetwurden, allein sichere Ergebnisse sind bisher noch nicht gewonnen.Am meisten ist es wohl die Ähnlichkeit der syphilitischenGewebsveränderungen mit denen, welche durch dieTuberkelbacillen hervorgebracht werden, welche den Gedanken an eineähnliche bacilläre Ursache immer wach erhält, undvor allem die Analogie mit andern ansteckenden Krankheiten, beidenen in den letzten Jahren die Bacillen tatsächlichaufgefunden sind. Die S. würde alsdann in die Gruppe derWundinfektionskrankheiten einzureihen sein. Die Übertragungfindet nur von Mensch zu Mensch statt, Tiere leiden nicht an S.,die Luft überträgt den Ansteckungsstoff nicht. DerHergang der Ansteckung wird in der Regel der Fälle sovermittelt, daß a) ein mit syphilitischem Geschwur (Schanker)an der Haut oder Schleimhaut behaftetes Individuum etwas von demWundsekret dieses Geschwürs in eine kleine Schrunde der Hauteines bis dahin nicht syphilitischen Individuumsüberträgt, worauf sich an dieser Stelle ein primäresSchankergeschwür entwickelt. Diese Art der Übertragungvollzieht sich gewöhnlich beim Beischlaf an den Genitalien,kann aber auch von syphilitischen Geschwüren der Lippen, derFinger etc. aus erfolgen; b) durch Überimpfung von Blut undLymphe eines an konstitutioneller S. leidenden Menschen in eineWunde eines andern; c) durch Übertritt des Gifts vom Bluteiner syphilitischen Mutter auf das in ihrem Uterus sichentwickelnde Kind. Die Krankheitserscheinungen sind 1) primäreoder örtliche, an der Stelle der stattgehabten Ansteckung sichentwickelnde Entzündungen und Geschwürsbildung; 2)sekundäre, durch Aufnahme des Gifts in den Körperbedingte Allgemeinerscheinungen. Manche Ärzte unterscheidenauch wohl als 3) tertiäre S. solche Erkrankungen, welche nochjahrelang nach der Ansteckung in verschiedenen innern Organenbeobachtet werden; da diese späten Nachschübe meist anLeber, Nieren, Gehirn vorkommen, so hat man sie auch alsEingeweide-S. (viscerale S.) bezeichnet. Die primäre S. isteine entzündliche Zellenwucherung, welche, an der Impfstellelangsam wachsend, einen etwa bohnengroßen Knotenhervorbringt, welcher sich derb anfühlt und alsGummigeschwulst im Sinn Virchows aufzufassen ist. Die Zellen diesesKnotens zerfallen fettig, die dünne bedeckende Hautschichtwird abgestoßen, nach 4-6 Wochen ist aus ihm einGeschwür, der harte Schanker, entstanden. Als hartes,induriertes Geschwür wird es bezeichnet im Gegensatz zueinfachen, nicht auf S. beruhenden Hautgeschwüren, welchenicht immer ihrem Namen "weicher Schanker" entsprechen und daherleicht zu Verwechselungen Anlaß geben; die Frage, welche vonbeiden Geschwürsformen vorliegt, wird oft erst durch diespätern Folgezustände sicher entschieden. Währendbei einfachen Geschwüren der Verlauf meist ein schneller ist,das Geschwür bei guter Reinhaltung rasch heilt, höchstenszur Bildung schmerzhafter Schwellungen der Leistendrüsenführt, so stellt sich beim syphilitischen Geschwürlangsame schmerzlose Schwellung der Nachbardrüsen ein, welcheden Übertritt des Gifts ins Blut anzeigt und nun diesekundären Erscheinungen einleitet; man nennt diesegeschwollenen Lymphdrüsen indolente Bubonen. In ihrem nunfolgenden sekundären Stadium, in welchem der Körper mitdem Gift als durchseucht gedacht wird (daher konstitutionelle S.),treten gewöhnlich etwa zwei Monate nach der Ansteckung sehrmannigfache Hautausschläge auf, welche in Form von Flecken,Knötchen, Schuppenwucherung, nässenden Entzündungenauftreten und als Syphilid en zusammengefaßt werden. Sieverursachen höchst selten das Gefühl von Brennen undJucken und treten in der Kälte deutlicher hervor als in derWärme. Die häufigste Form ist ein rotfleckiger Ausschlag(Roseola syphilitica), welcher in Gestalt vonhalblinsengroßen, runden, geröteten Flecken auf der Hautdes Gesichts, am Rumpf und an den Extremitäten auftritt. Nachlängerm Bestehen bekommen die Flecke ein schmutzig braun-rotesAnsehen und verschwinden endlich mit schwach kleienförmigerAbschelferung der Oberhaut. Eine andre Ausschlagsform ist derLichen syphiliticus, bestehend aus kupferroten, nicht juckendenKnötchen, die vereinzelt oder in Gruppen auftreten und an denverschiedensten Körperstellen vorkommen. Die Psoriasissyphilitica (Schuppenausschlag) besteht in einer reichlichenkleienartigen Abschelferung der Epidermis, die auf mehr oderweniger dicht stehenden, geröteten Hautflecken stattfindet.Die Psoriasis syphilitica hat die Eigentümlichkeit, daßsie die Kniee und Ellbogen (wo die nicht syphilitische Psoriasis amhäufigsten vorkommt) immer verschont und dagegen sehr gern anden Handtellern und an der Fußsohle sich zeigt, dieihrerseits von nicht syphilitischen Schuppenausschlägen fastausnahmslos verschont bleiben. Das pustulöse, ausEiterbläschen bestehende Syphilid (Ecthyma syphiliticum)befällt namentlich den behaarten Kopf und das Gesicht. Aus denbeim Kämmen der Haare etc. zerkratzten Pusteln entstehenzuweilen tiefe Geschwüre mit gerötetem Hof, welcheäußerst hartnäckig sind. Seltener als die genanntenHautausschläge kommen die blasen- undbläschenförmigen Syphiliden vor. Die Blasen hinterlassennach ihrem Zerplatzen oder Eintrocknen einen Schorf, unter welchemsich ein Geschwür entwickelt (Schmutzflechte, Rupiasyphilitica). Große Blasen kommen bei neugebornen Kindern alsZeichen angeborner S. häufig, bei Erwachsenen um so seltenervor (Pemphi-

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Syphilom - Syracuse.

gus syphiliticus. s. Tafel "Hautkrankheiten", Fig. 3).Außer diesen Ausschlägen kommen auch in der Hautwirkliche Gummiknoten vor, namentlich im Gesicht und an der Stirn,wo sie als Corona Veneris bezeichnet werden. Alle diesesyphilitischen oder gummösen Entzündungsknoten,gleichviel ob sie in der Haut als derbe rote Knoten oder in denSchleimhäuten als dicke Wucherungen auftreten, oder ob sie inder Iris, in Leber, Nieren oder Gehirn, Knochenhaut oderKnochenmark mehr als flache Geschwülste oder großeKnoten hervorwuchern, sie alle haben eine gleiche Struktur wie derprimäre Schankerknoten, sie bestehen aus weichem Bindegewebeund können 1) bei geeigneter Behandlung verfetten und sovöllig zurückgebildet werden, oder 2) sie können,wenn sie oberflächlich liegen, geschwürig zerfallen, und3) sie bilden sich teilweise zurück, teilweise schrumpfen sieund hinterlassen derbe, strahlige, weiße oder gefärbteNarben. Durch diese große Mannigfaltigkeit in deräußern Erscheinung der S. ist es bedingt, daßnahezu in jedem Organ Erkrankungen vorkommen, welche durch gewisseEigentümlichkeiten als spezifisch syphilitische erkanntwerden. Es gibt an der Regenbogenhaut des Auges eine zuVerwachsungen führende Entzündung (Iritis syphilitica, s.Tafel "Augenkrankheiten" , Fig. 5), es gibt im Kehlkopfgummöse Neubildungen, welche große, strahlige Narbenhinterlassen (s. Tafel "Halskrankheiten", Fig. 3); an den Knochenkommen sowohl knöcherne Auswüchse (Exostosen) alsDefektbildungen, eine Art von Knochenfraß (Caries sicca) vor,welche durch bohrende Schmerzen (dolores osteocopi) ausgezeichnetsind. In der Leber bringt die S. Narben hervor, durch welche dasOrgan in unregelmäßige Lappen eingeteilt wird (heparlobatum), in der Nase führen syphilitische Geschwüre zurBildung stinkender Borken (Ozaena syphilitica) und Einfallen derNase; im Gehirn und Rückenmark können Lähmungenaller Art durch gummöse Knoten entstehen; an der Haut wuchernwarzige Gebilde (Feigwarzen, Kondylome) mit breiter Basis undhöckeriger Oberfläche hervor; in den Lungen kann die S.eine besondere Art der Schwindsucht bedingen, und endlich kommen imHerzen Geschwülste, im Darm Geschwüre vor, welche der S.zuzuschreiben sind. Personen, welche an konstitutioneller S.leiden, erleben oft viele Jahre hindurch immer neueOrganerkrankungen, so daß sie schließlich anErschöpfung, nicht selten unter allgemeiner Amyloidentartungzu Grunde gehen. Die Behandlung richtet sich zunächst auf dieBehandlung des primären Geschwürs. Dieses heilt beigründlicher Reinhaltung, event. unter gleichzeitiger Anwendungvon Quecksilber ohne Schwierigkeit. Die konstitutionelle S. wirdmit richtiger und frühzeitiger Anwendung von Quecksilber inForm von Einreibung von grauer Quecksilbersalbe oder subkutanerEinspritzung von Sublimat (Lewin) oder innerlicher Darreichung vonKalomel (Ricord) oft vollständig geheilt. Bei veralteter S.sind Jodkalium, der Gebrauch von Schwefelbädern, wie Aachen,Nenndorf und andern warmen Bädern, von guter Wirkung. Die S.ist von den Eltern auf die Kinder übertragbar. Frauen, welchezur Zeit der Konzeption bereits an sekundärer S. leiden oderauch erst während der Schwangerschaft syphilitisch werden,bringen fast immer unreife, tote Früchte durch Abortus oderFrühgeburt zur Welt. In andern Fällen wird das Kind zwarausgetragen, stirbt aber bei oder kurz nach der Geburt ab. Nurselten wird das Kind einer syphilitischen Mutter längere Zeitam Leben erhalten. In diesem Fall sind entweder schon gleich beider Geburt Symptome der S. an dem Kind vorhanden, oder die S. istnoch latent, und die Symptome derselben treten erst nach Wochenoder Monaten hervor. Die meisten der Kinder mit angeborner S.,welche am Leben bleiben, haben die Krankheit von dem zur Zeit derZeugung syphilitischen Vater geerbt. Es ist sicher konstatiert,daß die S. vom Vater auf das Kind übergehen kann, ohnedaß die Mutter syphilitisch infiziert ist oder von demkranken Kind, welches sie in ihrem Schoß birgt, infiziertwird. Auch die von einem syphilitischen Vater herstammende vererbteS. verrät sich in manchen Fällen gleich bei der Geburtdurch deutliche Zeichen, während in andern erst spätercharakteristische Störungen auftreten. Die erstere Gruppe vonFällen bietet für die Behandlung wenig Aussicht, meistensgehen die Kinder, namentlich wenn schwere Knochenleiden oderPemphigus vorhanden sind, zu Grunde. Dagegen hat die Behandlung derangebornen, aber anfangs latent gebliebenen S. günstigeErfolge aufzuweisen. Gewöhnlich gibt man den Kindern kleineDosen Kalomel oder läßt Sublimatbäder anwenden.Dabei muß man die Kräfte des Kindes durch Zufuhr einermöglichst zweckmäßigen Nahrung (Muttermilch)aufrecht erhalten. Dem syphilitischen Kind eine Amme zu geben, istnicht rätlich, weil letztere der Gefahr der Ansteckungausgesetzt ist. Die S. erregte zuerst am Ende des 15. Jahrh. alsFranzosenkrankheit (Morbus gallicus) die Aufmerksamkeit derÄrzte und richtete bei den damaligen Sitten und der Unkenntnisüber ihre zweckmäßige Behandlung furchtbaresUnglück an. Der Name S. ist zuerst von dem ItalienerFracastoro (1521; vgl. dessen "S. oder gallische Krankheit",deutsch, Leipz. 1880) gebraucht worden. Vgl. Ricords Vorlesungenüber S. (übersetzt von Gerhard, Berl. 1848); v.Bärensprung, Die hereditäre S. (das. 1864); Geigel,Geschichte, Pathologie und Therapie der S. (Würzb. 1867);Lewin, Die Behandlung der S. mit subkutaner Sublimatinjektion (das.1869); Zeißl, Pathologie und Therapie der S. (5. Aufl.,Stuttg. 1888); Weil, Über den gegenwärtigen Stand derLehre von der Vererbung der S. (Leipz. 1878); Rosenbaum, Geschichteder Lustseuche im Altertum (Halle 1888).

Syphilom, Gummigeschwulst, s. Syphilis.

Syphon, s. Siphon.

Syphonoid (griech.), ein mit dem Pulsometer (s. d.)verwandter Wasserhebeapparat, welcher sich von diesem durch seineHeberform, durch das Vorhandensein eines besondern Raums fürDampfkondensation und dadurch, daß er den Dampf nicht direktauf die Wasseroberfläche läßt, sondern einendazwischengeschalteten, schlecht wärmeleitenden Schwimmerwirken läßt, durch welchen ein starker Dampfverlustverhütet und die Steuerung des Dampfes mittels eines Hahnsbewirkt wird, unterscheidet. Vgl. Uhland, Der praktischeMaschinenkonstrukteur, S. 95 (Leipz. 1878).

Syra (bei den Alten und neuerdings wieder offiziellSyros), 1) eine der Kykladen, fast mitten im Archipel gelegen, 80qkm (1,45 QM.) groß und bis 431 m hoch, erzeugt Getreide undWein und hat (1879) 26,946 Einw., welche vornehmlich vom Handelleben. Derselbe ist vorwiegend Kommissions- und Speditionshandelund versorgt fast ausschließlich die sämtlichen Inselndes Archipels mit ihren Bedürfnissen. Auf S. befindet sich eindeutsches Konsulat. - 2) (Neu Syra), Stadt, s. Hermupolis.

Syracuse (spr. ssirrakjuhs), Stadt im nordamerikan. StaatNew York, am Südende des Onondagasees, hat ein Irrenhaus, einAsyl für Blödsinnige, ein Zuchthaus und (1880) 51,792Einw. In der Nähe un-

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Syrakus (Provinz und Stadt).

gemein ergiebige Solen. S. hat außer seinem Salzhandelnoch Hochöfen, Maschinenbau und Brauerei.

Syrakus (Siracusa), Provinz des Königreichs Italien,umfaßt den südöstlichen Teil der Insel Sizilien,wird im N. und W. von den Provinzen Catania und Caltanissetta, imSüden und O. vom Afrikanischen und Ionischen Meer begrenzt undhat ein Areal von 3697 qkm (nach Strelbitsky 3729 qkm = 67,73 QM.)mit (1881) 341,526 Einw. Der Boden ist sehr fruchtbar und liefertGetreide (besonders Weizen, 1887: 586,620 hl), Öl (48,281 hl),Wein (1,770,942 hl), Südfrüchte in Überfluß,auch zur Ausfuhr. Von geringerer Bedeutung ist die Viehzucht mitAusnahme der Schafzucht (1881: 100,631 Schafe), wichtig dagegen dieSeefischerei. Die Provinz zerfällt in die drei Kreise Modica,Noto und S. (s. Karte "Sizilien"). Die gleichnamige Hauptstadtliegt auf der mit dem Festland durch einen Damm verbundenen InselOrtygia, am Endpunkt der von Messina kommenden Eisenbahn, ist durchWassergräben mit Mauern an der Landseite und durch ein Kastellan der Südseite der Insel befestigt, hat aber nur einen Umfangvon 4 km (gegen 33 km Umfang des antiken S.). Die Bedeutung derStadt liegt in dem großen Hafen, welcher die ganze Buchtzwischen der Insel Ortygia im N. und dem Vorgebirge Plemmyrion(Massolivieri) im SO. umfaßt und für die Aufnahme dergrößten Flotte geeignet ist. Unter den öffentlichenBauten sind hervorzuheben: der Dom Santa Maria del Piliero (in diegewaltigen Säulen eines dorischen Tempels eingebaut); dieKirchen San Giovanni (aus dem 12. Jahrh.) und Santa Lucia; derelegante Palazzo Communale u. a.; ferner von Privatgebäuden:der gotische Palast Montalto und der Palazzo Lanza. S. hat einLyceum, ein Gymnasium, eine technische Schule, ein Seminar, einMuseum (mit zahlreichen Antiquitäten, darunter eine Statue derVenus, ein kolossaler Kopf des Neptun u. a.), eine Bibliothek mitüber 10,000 Bänden, ferner eine Filiale der Nationalbank,mehrere selbständige Banken, eine Handelskammer,Wohlthätigkeitsanstalten, Fabrikation von Chemikalien undTöpferwaren, lebhaften Handel (besonders mit Agrumen, Wein,Öl, Seesalz etc.) und (1881) 19,389 Einw. Im Hafen liefen1887: 1215 Schiffe mit 158,084 Ton. ein. S. ist Sitz derPräfektur, eines Erzbischofs, eines Zivil- undKorrektionstribunals, eines Assisenhofs etc. sowie mehrererKonsulate. Von der Größe der antiken Stadt zeugen nichtunbedeutende Trümmerreste, so: Überbleibsel von drei nochsehr altertümlichen dorischen Tempeln, Aquädukte, Resteder Stadtmauer, ein Altar, die Trümmer der Bergfeste Euryalos,große Steinbrüche, darunter die Latomia del Paradiso mitdem "Ohr des Dionysios", einer durch eigentümliche Akustikausgezeichneten Grotte, sowie die Latomia dei Cappuccini; dasgriechische Theater aus dem 5. Jahrh.; ein römischesAmphitheater aus der Zeit des Augustus; die Arethusaquelle etc. Ausaltchristlicher Zeit haben sich geräumige Katakomben erhalten.Schöne Gartenanlagen enthält die Villa Landolina imantiken Stadtgebiet, wo sich die Grabstätte des DichtersPlaten befindet. Am Kyaneflüßchen, zum Anapo gehend,gedeiht die Papyrusstaude in besonderer Üppigkeit.

[Geschichte.] S. (Syracusä), im Altertum diegrößte und reichste Stadt Siziliens, lag anfangs auf derhart vor der Küste gelegenen, zuerst von Phönikernbesetzten Insel Ortygia, von wo sich die Stadt späterüber das Festland ausbreitete. Zur Zeit ihrergrößten Ausdehnung, wo sie über eine MillionEinwohner zählte, bestand sie aus fünf Hauptteilen: derInsel Ortygia (Nasos) mit der Quelle Arethusa, den Tempeln derArtemis und Athene, den großen Getreidemagazinen, dem vonHieron erbauten Palast und der im nördlichen Teil vonDionysios I. erbauten Akropolis; der 66 m hoch ansteigendenHalbinsel Achradina, dem Hauptteil und Mittelpunkt der Stadt, mitder von Säulengängen umgebenen Agora, dem Prytaneionetc.; Tycha, dem an den nördlichen Teil von Achradina westlichanstoßenden, volkreichsten Teil der Stadt; Neapolis, auf derSüdwestseite von Achradina, mit dem Haupttheater und Tempelnder Demeter, Kora etc.; Epipolä, einer die ganze Stadtbeherrschenden Höhe nordwestlich von Neapolis, welcheDionysios I. mit einer starken Mauer umgeben ließ, durch dasFort Euryalos krönte und mit in den Bereich der die Stadtumgebenden Befestigungen zog. Neapolis und Achradina enthieltengroße Steinbrüche (Latomien), welche tief in die Erdegingen und als Gefängnisse benutzt wurden. S. besaß zweitreffliche, durch tiese Buchten gebildete Häfen, einenkleinern (Lakkios) im N. von Ortygia und einen größern,der mit Ketten gesperrt werden konnte, im W. der genannten Insel.Südlich von S., in der Nähe der Quelle Kyane, lagen dasOlympieion und der Hafenort Daskon. S. war eine dorischeNiederlassung, 734 v. Chr. von den Korinthern auf Ortygiagegründet und nach der sumpfigen Ebene Syrako, westlich vomgroßen Hafen, benannt. Wiewohl der Zeit nach die zweitegriechische auf Sizilien gegründete Kolonie, wurde sie dochbald durch Betriebsamkeit und Handel dem Rang nach die erste undgründete selbst neue Niederlassungen auf Sizilien (Akrä,Kasmenä, Kamarina u. a.). Sie hatte eine aristokratischeVerfassung. Die Gamoren hatten die Regierung in den Händen,zuerst mit einem König an der Spitze, später ohne einensolchen. Aus den Gamoren, den Nachkommen der ersten Kolonisten,wurden die Magistrate und Mitglieder des Hohen Rats gewählt,welche das Volk in ihren Versammlungen leiteten. 491 wurde dieAristokratie der Gamoren von der demokratischen Parteigestürzt, welche aber keine geordnete Verfassung herzustellenvermochte. So ward es Gelon (s. d.) leicht, die Gamoren nach S.zurückzuführen und sich dann selbst 485 der Herrschaft zubemächtigen. Unter ihm erreichte S. seine höchsteBlüte, seine Flotten beherrschten die umliegenden Meere, unddie meisten Städte Siziliens standen unter seinemEinfluß. Namentlich sein Sieg über die Karthager amHimera 480 machte S. zur mächtigsten Stadt Siziliens. Erverband die Neustadt auf dem Felsplateau Achradina mit Ortygiadurch einen Damm und umgab das Ganze mit einer kolossalen Mauer,außerhalb welcher noch die Vorstädte Tycha, Neapolis undEpipolä entstanden. Auf Gelon folgte sein Bruder Hieron I.(477-467) und auf diesen der dritte Bruder, Thrasybulos, der aberschon 466 vertrieben ward. An die Stelle der Tyrannis trat jetzteine demokratische Verfassung. Zur Sicherstellung der Demokratieward eine dem athenischen Ostrakismos ähnliche Maßregelin dem Petalismos ("Blättergericht", weil mit beschriebenenOlivenblättern abgestimmt wurde) eingeführt, doch wardderselbe als die Ochlokratie nur befördernd bald wiederaufgehoben. Die innern Unruhen benutzend, strebten sich mehrere vonS. abhängige sizilische Städte frei zu machen und suchtenzu diesem Zweck Unterstützung bei den Athenern nach. Diese,schon längst eifersüchtig auf die mächtigeHandelsstadt, sandten auch 415 eine große Flotte unter Nikiasund Lamachos nach Sizilien (sizilische

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Syrdarja - Syrien.

Expedition der Athener 415-413). Die Athener eroberten 414 dieVorstädte Epipolä und Tycha und

hatten S. schon auf der Landseite eingeschlossen, als nach demTode des Lamachos der Spartaner Gylippos ihre Verschanzungendurchbrach und sie zwang, sich auf den Angriff zur See zubeschränken. Unter Führung des Gylippos und desHermokrates erbauten die Syrakusier 413 eine Flotte, entrissen denAthenern ihre befestigte Stellung auf dem Vorgebirge Plemmyrion,Ortygia gegenüber, und brachten ihnen in einer Seeschlachteine Niederlage bei. Durch Demosthenes verstärkt, versuchtendie Athener einen

nächtlichen Angriff auf Epipolä, der mißlang,lieferten den Syrakusiern, um die Ausfahrt aus dem Hafen zuerzwingen, eine unglückliche Seeschlacht und wurden, 40,000Mann stark, auf dem Abzug zu Lande am Assinaros vernichtet. 7000Gefangene wurden in die Latomien auf Achradina geworfen, wo siemeist verschmachteten, Nikias und Demosthenes hingerichtet. Unterdem Einfluß des Volksvorstehers

Diokles wurde darauf in S. eine neue, völlig demokratischeVerfassung eingeführt, deren erste Bestimmung die Wahl derMagistrate durch das Los war. Zugleich wurden geschriebene, sehrstrenge Gesetze gegeben. Der gleichwohl überhandnehmendenZügellosigkeit zu steuern und sich gegen die Eroberungs-

pläne Karthagos zu schützen, übertrug das Volkdem

tapfern Dionysios I. (s. d.) das Oberkommando über dieArmee, bahnte ihm aber dadurch den Weg

zur Tyrannis (406). Dionysios drängte nach mehreren Kriegendie Karthager in den westlichen Teil Siziliens zurück undbefestigte die Herrschaft von S. über die Osthälfte derInsel und einen Teil Unteritaliens. In S. erbaute er auf derNordspitze der

Insel Ortygia die Feste Hexapylon und umgab die

Stadt mit einer hohen Quadermauer, welche auch dieVorstädte Tycha und Epipolä umfaßte und 20 km langwar; die Einwohnerzahl stieg auf eine Million. Im kleinenAußenhafen legte Dionysios 50, im großen innern 100Docks für Kriegsschiffe an. Die wohlbefestigte Regierungübernahm nach ihm 367 sein

Sohn Dionysios II., ein Wollüstling, der 357 von

Dion vertrieben wurde, aber 346 zurückkehrte. Endlichnötigte ihn 343 Timoleon, seine Herrschaft niederzulegen.Letzterer zerstörte die Burg , stellte die demokratischeVerfassung wieder her und zog durch Häuser- undÄckerverteilung an 60,000 neue Ansiedler in dieentvölkerte Stadt. Die nach seinem Tod entstandenen Unruhenbenutzte Agathokles (s. d.), um sich unter der Verheißungeiner reinen Demokratie zum Tyrannen aufzuwerfen (317). Seinestrenge und gewalttätige Regierung erhielt wenigstens Ruhe imInnern, wodurch es noch möglich wurde, daß sich S. gegendie in Sizilien immer weiter fortschreitenden und S. schonbelagernden Karthager halten konnte. Nach Agathokles' Tod (289)warf sich Mänon, der Mörder jenes, zum Herrscher auf,ward aber von Hiketas vertrieben, der sich drei Jahre langbehauptete. Als er gegen die Agrigentiner zu Felde

zog, stritten in der Stadt Thynion und Sostratos

um die Herrschaft. Zur Stillung dieser Unruhen riefen dieSyrakusier den damals in Italien kriegführenden Pyrrhos (277)herbei, der S. von den Karthagern befreite und seinen Sohn zumKönig von

Sizilien einsetzte. Nach seinem Weggang wählten

aber (275) die Syrakusier Hieron II. zu ihrem Feldherrn und 269zum König. Dieser stand den Römern im ersten und zweitenPunischen Krieg mit Erfolg bei und sicherte sich dadurch seineHerrschaft im östlichen Teil der Insel. Sein Enkel undNachfolger

(seit 215) Hieronymus trat dagegen im zweiten

Punischen Krieg auf die Seite der Karthager und beschleunigtedadurch seinen Sturz (214) und den Untergang derSelbständigkeit von S., das 212 nach

tapferer Verteidigung durch Archimedes von Marcellus erobertwurde. Seitdem ward S. mit dem östlichen Teil Siziliensrömische Provinz. Der alte Glanz der Stadt verschwand fürimmer, und die Bevölkerung nahm immer mehr ab. Vergebenssuchte sie Augustus durch eine Kolonie zu heben. Gegen Ende des 5.Jahrh. n. Chr. ward S. von germanischen Völkerschaften, diezur See ankamen, besonders von den Vandalen, 884 aber von denSarazenen geplündert. Kaiser Heinrich VI. schenkte 1194 dieStadt

den Genuesen, die ihm gegen Tankred beigestanden hatten; dochbefreiten sich die Syrakusier mit Hilfe der Pisaner bald wieder. S.kam hierauf unter spanische Herrschaft und ward Residenz desStatthalters. Infolge einer Seeschlacht, die bei S. 1718 zwischenden Engländern und Spaniern geschlagen wurde, mußten dieletztern die Stadt den Österreichern einräumen, bekamenaber 1755 die Insel Sizilien wieder. 1100,1542, 1693und 1735 littS.bedeutend durch Erdbeben. Vgl. Arnold, Geschichte von S. (Gotha1816); Privitera, Storia di Siracusa

antica e moderna (Neap. 1879, 2 Bde.); Cavallari u. Holm,Topografia archeologica di Siracusa (Pal. 1884; deutsch bearb. vonLupus: "Die Stadt S. im

Altertum", Straßb. 1887).

Syrdarja, Fluß, s. Sir Darja.

Syria Dea, Göttin, f. Derketo.

Syrien (türk. Suria), ein Land der asiat.Türkei, an der Ostküste des Mittelländischen Meers,bezeichnete ursprünglich den gesamten Umfang des assyrischenReichs, bis der Name in abgekürzter Form durch die Griechenauf die Gebiete westlich des Euphrat beschränkt wurde, undheute versteht man darunter alles Land zwischen dem Euphrat und derArabischen Wüste im O. und dem Mittelmeer im W., dem Taurus imN. und der Grenze Ägyptens im Süden, d. h. das heutigeWilajet Surija und die südwestliche Hälfte von Haleb(Aleppo) sowie die selbständigen

Bezirke Libanon und Jerusalem (s. Karte "TürkischesReich"). Infolge des Parallelismus seiner von N. nach Südenstreichenden Gebirge, welche, wenn auch von tiefen Querspaltendurchschnitten, den Taurus im N. mit den von NW. nach SO. ziehendenKüstengebirgen des Arabischen Meerbusens verbinden, istdas

Land von ziemlich gleichförmigerOberflächenbildung.

Ihrer Ausdehnung und mittlern Höhe nach stehen diesyrischen Gebirge zwar hinter den großen ostwestlichgerichteten Systemen Asiens zurück, bewirken aber dennochinfolge ihrer nordsüdlichen Aufrichtung eine sehr ungleicheVerteilung des Regens. Da im Mittelmeerbecken die Westwindevorherrschen, so ist nur der Westabfall des Landes reich an Regen;dagegen sind die östlichen Abdachungen und innern Hochebenensehr arm an Niederschlägen, Quellen und Flüssen undbilden zum größten Teil vegetationsarme Steppen oderkahle Wüsten. Während von der Küste weitlandeinwärts die Gebirge durchaus der Kalkformationangehören und nur stellenweise, wie in der Spalte

des Jordanthals, vulkanische Gebilde zu Tage kommen, tretendieselben weiter ostwärts und bis tief in die Wüstehinein, namentlich in der Südhälfte von S., in Hundertenvon Trachyt- und Basaltkegeln einzeln oder in größernGruppen und von der verschiedensten Höhe auf (z. B. DschebelHauran 1782 m).

Die größten, als nackte Felsen über dieWaldregion ansteigenden Erhebungen der Kalkgebirge finden sich

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Syrien (Geschichte).

im N.: der Amanos der Alten (Gjaur Dagh), 1850 m hoch, derKasios (Dschebel Akraa), 1770 m, der Libanon, 3063 m;landeinwärts der Hermon (Dschebel el Scheich), 2860 m, und derAntilibanon, 2670 m. Die südliche Fortsetzung des Libanon undAntilibanon (vgl. Palästina) steigt nirgends zu mehr als1000-1200 m Höhe an; ihre meist abgerundeten Gipfel undScheitelflächen sind daher bis oben hinauf angebaut, unddasselbe gilt von den östlich sich anschließendenHochflächen (die alten Landschaften Hauran und Baschan,700-900 m hoch) und um Damaskus (700 m), die zum Teil aus sehrergiebigem Thonboden bestehen. Bei dieser Beschaffenheit derOberfläche sind die Flußthäler (von dem nur alsGrenzfluß Bedeutung habenden Euphrat abgesehen) zumgrößten Teil kurze Querthäler, in denen nur aus denhöhern Küstengebirgen (Amanos, Kasios, Libanon) einegrößere Wassermenge mit starkem Gefälle unmittelbardem Meer zufließt. Die wenigen längern Flüsseverlaufen in nordsüdlichen Längsthälern zwischen denParallelketten des Kalkgebirges und zwar in entgegengesetzterRichtung nach N. und Süden, weil die bedeutendsteBodenanschwellung gerade in der Mitte Syriens unter 34°nördl. Br. liegt. Dort steigt das breite Thal zwischen demLibanon und Antilibanon (jetzt Bekaa genannt, im Altertum Bukka) zufast 1200 m an und entsendet nach N. den größtensyrischen Strom, den Orontes (El Asi), nach Süden den Lita(Litani), welcher zuletzt scharf nach W. umbiegt und in einemkurzen Querthal das Meer erreicht, und in einer östlichenParallelfalte den Jordan (s. d.). Was das Klima anlangt, so hat S.eigentlich nur zwei Jahreszeiten, eine mit, die andre ohne Regen.Von Anfang Mai bis Ende Oktober ist die regenlose Zeit, mitvorherrschenden Nordwestwinden; gegen Ende Oktober bezeichnenGewitter den Beginn der Zeit, wo Südwest- und SüdwindeRegen bringen. Die Temperaturunterschiede sind bedeutend: im Innerndes Landes, in der Wüste und auf den Hochebenen sinkt dasThermometer häufig unter 0°, und in Damaskus, Jerusalem(mittlere Jahrestemperatur +17° C.) und Aleppo fälltöfters Schnee. Die Sommerhitze in Damaskus und sonst im Innernist natürlich bedeutender als an der Küste, wird abernoch sehr von dem Ghor (Thal des Jordan) übertroffen. S. istkein unfruchtbares Land und war einst angebauter als heute. SeinKüstenland gehört der Mittelmeerflora an, die sich durchimmergrüne, schmal- und lederblätterige Sträucherund rasch verblühende Frühlingskräuter auszeichnet;das Plateau hat orientalische Steppenvegetation mit vielenDornsträuchern und wenig zahlreichen Bäumen (Labiaten,Disteln, Eichen, Pistazien, Koniferen etc.); das Ghor (s. d.)gehört der subtropischen Flora an. Die hauptsächlichstenAusfuhrartikel sind: Weizen, Süßholz, Rosenblätter,Aprikosen, Rosinen, Oliven und Öl, Tabak, Galläpfel,Seide, Kokons (1877 wurden 1,925,000 kg Kokons und 140,000 kg roheSeide produziert) und Südfrüchte. Unter den Haustierenspielen die Schafe (meist Fettschwänze) eine großeRolle, nächst ihnen die Ziegen. Das Rindvieh ist klein undwird nur im Libanon geschlachtet. Der indische Büffel kommt imJordanthal vor, das Kamel hauptsächlich in der Wüste;auch Pferde, Esel, Hühner sind häufig. Die vielvorkommenden Heuschrecken werden von den Beduinen gegessen. DieBevölkerung von S. zerfällt der Abstammung nach inNachkommen der alten Syrer (Aramäer), Araber, Juden, Griechen,Türken und Franken, der Religion nach in Mohammedaner,Christen verschiedener Bekenntnisse und Juden. Die Syrer nahmen zumTeil den Islam und die arabische Sprache an, zum Teil blieben sieChristen. Die Araber zerfallen in seßhafte und Nomaden,letztere äußerlich Mohammedaner, eigentlich aberSternanbeter. Türken sind nur in geringer Zahl vorhanden. Vonder gesamten, auf etwa 2 Mill. Seelen (14 auf 1 qkm)geschätzten Einwohnerschaft des Landes bekennen sich vierFünftel zum Islam. Unter den Christen überwiegen diefanatischen griechisch-orthodoxen (Patriarchate von Jerusalem undAntiochia); sie sprechen meist arabisch. Armenier und Kopten findensich fast nur in Jerusalem; wichtiger sind die Jakobiten,namentlich im N. verbreitet, ihrem Glauben nach Monophysiten. Dierömisch-katholische Kirche, vertreten durch Lazaristen,Franziskaner und Jesuiten, besitzt in S. zwei Filialkirchen, diegriechisch-katholische und die syrisch-katholische, mit gewissenVorrechten. Zu ihr gehören auch die Maroniten (s. d.) imLibanon, deren Patriarch von Rom bestätigt wird. Protestanten,Bekehrte der amerikanischen Mission, gibt es nur ein paar tausend.Die Juden zerfallen in spanisch-portugiesische Sephardim undAschkenazim aus Rußland, Österreich und Deutschland;außerdem gibt es ca. 50 Familien der Samaritaner in Nabulus.Von mohammedanischen Sekten sind aufzuführen: die Drusen (s.d.) im Libanon und Hauran, zum größern Teil von denalten Syrern, zum Teil von eingewanderten Araberstämmenabstammend; die Nossairier (s. d.), welche auf dem nach ihnengenannten Dschebel Nasairijeh ihre Sitze haben; die Ismaeliten (s.d.), die mit den berüchtigten Assassinen identisch sind, unddie Metâwile, eine Abart der Schiiten, südlich von denDrusen im Libanon und in Galiläa zwischen Saida und Tyros.

[Geschichte.] Die Urbewohner Syriens, sämtlich Semiten,zerfielen in mehrere Stämme, von denen derjenige derAramäer (s. Aramäa) oder der eigentlichen Syrer derbedeutendste war. Das Land zerfiel damals in einzelne Städtemit Gebieten unter besondern Oberhäuptern. Schon imfrühsten Altertum werden Damaskus, Hamath, Hems oder Emesa,Zoba u. a. erwähnt. Ein altes wichtiges Emporium war diePalmenstadt Tadmor oder Palmyra; nicht minder berühmt alsMittelpunkt des Sonnenkultus war Baalbek oder Heliopolis. Einegrößere Rolle in der Weltgeschichte als die eigentlichenSyrer spielten die an der Westküste wohnenden Völker, dieKanaaniter, Phöniker und Israeliten oder Juden. Dieeigentlichen Syrer vermochten sich oft fremder Unterdrückernicht zu erwehren; insbesondere machte David einen großenTeil ihres Landes zu einer Provinz des jüdischen Reichs. Beider Teilung desselben rissen sie sich wieder los, und in Damaskusentstand ein selbständiges Reich, welchem nach und nach dieHäuptlinge der übrigen Städte tributpflichtigwurden. Nach mannigfachen Schicksalen ward S. 730 v. Chr. vonTiglat Pilesar II. zu einer Provinz des assyrischen Reichs gemacht;die Griechen, welche das Land zuerst als assyrische Provinz kennenlernten, gaben ihm davon den Namen Syria. Nach dem Fall desassyrischen Reichs ward S. eine Provinz von Babylonien (um 600),dann von Persien (538) und von Makedonien (333), bis es endlichdurch die Seleukiden 301 wieder zu einem selbständigen Reicherhoben ward. Der Gründer dieser Dynastie, Seleukos Nikator(301-280), dehnte die Grenzen seines Reichs nach O. bis zum Oxusund Indus aus und machte S. zum Mittelpunkt desselben. DurchErneuerung und Gründung vieler griechischer Städte(Seleukeia am Tigris, Seleukeia am Orontes, Antiocheia u. a.)

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Syringa - Syrische Sprache und Litteratur.

suchte er in seinem Reich, welches 72 Satrapien umfaßte,den Wohlstand zu heben. Aber seinen Nachfolgern fehlte zumZusammenhalten dieses Reichs die nötige Kraft und Energie.Schon 256 rissen die Parther Iran von S. los und beschränkten150 das Reich auf das eigentliche S., und auch dieses ward 85großenteils dem armenischen König Tigranesunterwürfig, bis es 64 von Pompejus zur römischen Provinzgemacht wurde. Im 4. Jahrh. n. Chr. trennte Konstantin d. Gr.Kommagene und Kyrrhestika vom übrigen S. und machte darauseine eigne Provinz, Namens Euphratensis; das übrige Land aberward später von Theodosius dem jüngern in Syria prima undSyria secunda eingeteilt. Unter Justinian wurden die wichtigstenStädte Syriens von den Persern genommen, darunter Antiochia.Dann brachen 635 die Araber verwüstend ins Land ein, erobertenes und bekehrten die Einwohner zum größten Teil zumIslam. Erst unter der Herrschaft der arabischen Kalifen hob sich S.wieder. Doch ward das Land den Kalifen bald von rebellischenStatthaltern und diesen wieder durch die turkmenische Milizentrissen. Auch durch die Kreuzzüge litt das Land sehr.Saladin, Sultan von Ägypten, entriß S. 1187 denKreuzfahrern wieder, und unter seinen Nachfolgern kam es an dieMamelucken. Schwer litt es dann durch die Einfälle derMongolen unter Dschengis-Chan. 1517 eroberte der OsmanensultanSelim I. S., und fortan bildete es eine türkische Provinz.Doch empörten sich die dortigen Paschas häufig gegen diePforte. 1833 kam S. unter die Herrschaft Mehemed Alis,Vizekönigs von Ägypten; durch die Intervention dereuropäischen Mächte 1840 aber kehrte es unter dieunmittelbare Herrschaft der Pforte zurück. Derunaufhörliche Wechsel der Herrscher, verheerende Kriege unddie Barbarei der mohammedanischen Gewalthaber haben Land und Volkvöllig ruiniert, so daß es jetzt wenig mehr als eineschwach bevölkerte, sterile Einöde voll Ruinen ist. Inneuerer Zeit hat S. namentlich durch die Kämpfe der Drusen (s.d.) und Maroniten (s. d.) die Aufmerksamkeit Europas wieder aufsich gezogen; infolge der blutigen Verfolgungen, denen besonders imJuni 1858 die Maroniten ausgesetzt waren, namentlich derChristenmetzelei in Damaskus vom Juli 1860 bis Juni 1861, besetztenfranzösische Truppen das Land. Vgl. Vogüé,Architecture civile et religieuse du I. au VI. siècle dansla Syrie centrale (Par. I866-77, 2 Bde.); Derselbe, Inscriptionssémitiques de la Syrie (das. 1869-77); Burton und Drake,Unexplored Syria (Lond. 1872); Zwiedineck, S. und seine Bedeutungfür den Welthandel (Wien 1873); Sachau, Reise in S. undMesopotamien (Leipz. 1883); Lortet, La Syrie d'aujourd'hui (Reise1875 bis 1880, Par. 1884); Bädeker, Palästina und S. (2.Aufl., Leipz. 1880); über die neuere Geschichte: de Salverte,La Syrie avant 1860 (Par. 1861); Edwards, La Syrie 1840-62,histoire etc. (das. 1862); Abbé Jobin, La Syrie en 1860 et1861 (Lille 1862); Jochmus, The Syrian war (Berl. 1883, 2Bde.).

Syringa L. (Flieder, Syringe, Lilak), Gattung aus derFamilie der Oleaceen, Sträucher mit gestielten,entgegengesetzten, glatten, ganzrandigen, selten fiederigeingeschnittenen Blättern, wohlriechenden Blüten inreichen, endständigen Rispen und länglichen, meistzusammengedrückten, lederigen Kapseln. Sechs Arten inOsteuropa und dem gemäßigten Asien. S. vulgaris L.(gemeiner Flieder, türkischer, spanischer Flieder,fälschlich Holunder, Jelängerjelieber), ein 2-6 m hoherStrauch mit herzförmig länglichen Blättern, lila undweißen Blüten und konkaven Blumenkronabschnitten, soll1566 durch Busbecq von Konstantinopel nach Flandern gekommen seinund im Orient wild wachsen; wahrscheinlicher aber stammt er aus denöstlichen Karpathen, aus Ungarn und Siebenbürgen;gegenwärtig wird er in zahlreichen Formen als Zierstrauchkultiviert. Das ziemlich feste, schön geflammte Holz wird vonDrechslern und Tischlern benutzt. S. persica L. (persischerFlieder), ein kleinerer Strauch mit kleinern,elliptisch-lanzettförmigen Blättern, längergestielten, fleisch- oder rosenroten, auch weißen Blütenund ziemlich flachen Blumenkronabschnitten, wächst inDaghestan, aber ebensowenig wie der vorige in Persien, wird, wieauch einige andre Arten und Blendlinge (S. chinensis Willd., S.Rothomagensis Ren., wahrscheinlich aus S. vulgaris und S. persicaentstanden), als Zierstrauch kultiviert. Ebenso S. Josikaea Jacq.aus Ungarn, mit elliptischen Blättern undknäuelförmig zusammengedrängten, eine Rispebildenden, tief violettblauen Blüten ohne Duft.

Syrinx, nach griech. Sage Tochter des arkadischenFlußgottes Ladon, ward, von Pan verfolgt, in ein Schilfrohrverwandelt, dem der Wind süß klagende Töneentlockte. Pan schnitt von dem Schilf Röhrchen, eins immerkleiner als das andre, und bildete hieraus eine Pfeife, der er denNamen S. gab. Syringen hießen auch die unterirdischenBegräbnishöhlen der ägyptischen Könige beiTheben.

Syrische Christen, s. v. w. Nestorianer.

Syrische Sprache und Litteratur. Die syrische Sprache istdie wichtigste Sprache der aramäischen Gruppe dersemitischen Sprachen (s. Semiten) und tritt zuerst inpalmyrenischen Inschriften des 1. Jahrh. n. Chr. auf. Nachdem sieim 1. Jahrtausend n. Chr. ihre Blütezeit gehabt, ward sieseitdem durch die stammverwandte arabische Sprache mehr und mehrverdrängt und ist jetzt, abgesehen von einigen verderbtenVolksmundarten in Kurdistan und Mesopotamien (bearbeitet vonNöldeke in "Grammatik der neusyrischen Sprache am Urmiasee",Leipz. 1868; von Prym und Socin: "Der neuaramäische Dialektdes Tûr-Abdîn", Götting. 1881, 2 Bde.; von Socin:"Die neuaramäischen Dialekte von Urmia und Mosul",Tübing. 1882), welche auf sie zurückzuführen sind,nur noch Schrift- und Gelehrtensprache. Die besten Grammatikenderselben lieferten P. Ewald (Erlang. 1826), Hoffmann (Halle 1827;in neuer Bearbeitung von Merk, 1867-70), Uhlemann (2. Aufl., Berl.1857) und Nöldeke (Leipz. 1880), kürzer Nestle (mitLitteratur, Chrestomathie und Glossar, 2. Aufl., Berl. 1888);Wörterbücher Castellus (hrsg. von Michaelis,Götting. 1788), Bernstein (Berl. 1857 ff., unvollendet); mitGlossarien versehene Chrestomathien Hahn und Sieffert (Leipz.1826), Bernstein und Kirsch (Lond. 1867, 2 Bde.), Oberleibner (Wien1826), Rödiger (2. Aufl., Halle 1868), Wenig (Innsbr. 1866),Zingerle (Rom 1871-73), Cardahi (das. 1875) und Martin (Par. 1875).Eine neue vollständige Sammlung des syrischen Wortschatzes mitBeiträgen der hervorragendsten Kenner des Syrischen gibt R. P.Smith heraus ("Thesaurus syriacus", bis jetzt 5 Hefte, Oxf.1868-80). Die Schrift der Syrer, eine jüngere Nebenform derphönikischen, die etwas Eckiges und Steifes hat (s. die"Schrifttafel"), hieß in ihrer ältesten GestaltEstrangelo; aus ihr ist die kufische Schrist der Araber, die Mutterdes spätern arabischen, persischen und türkischenAlphabets, entstanden. Aus der jüngern syrischen Schrift sind(durch Vermittelung der Nestorianer) die Schriftarten der Uiguren,Mongolen, Kalmücken u. Mandschu

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Syrjänen - Syrphus

hervorgegangen. Von der ältesten syrischen Litteratur istnichts bekannt. Die zahlreichen erhaltenen Schriftdenkmälerrühren meist aus den ersten Jahrhunderten n. Chr. her und sindvorwiegend christlich-theologischen Inhalts. Doch fanden damalsauch die Geschichte und Philosophie sowie die Naturwissenschaftenunter den Syrern Pflege, in welchen Fächern diese im 8. und 9.Jahrh. Lehrer der Araber wurden, wie sie überhaupt alsVermittler älterer Kulturen einen großen Einflußin Vorderasien ausgeübt haben. Der letzte klassischeSchriftsteller der Syrer ist Bar-Hebräus (gest. 1286),jakobitischer Weihbischof zu Maraga. Das älteste nochvorhandene Denkmal der christlich-syrischen Litteratur ist eineÜbersetzung des Alten und Neuen Testaments, die sogen.Peschito (s. d.). Für die Kirchengeschichte sind die meistschon mehrfach herausgegebenen Werke der syrischenKirchenväter von großem Interesse; eine Auswahlderselben hat Bickell zu übersetzen begonnen (Kempten 1874ff.). Unter den historischen Werken ist namentlich die Chronik desBar-Hebräus zu erwähnen. Die um das Jahr 515 geschriebeneChronik des Josua Stylites hat der französische OrientalistMartin herausgegeben in den "Abhandlungen für die Kunde desMorgenlandes" (Leipz. 1876). Die berühmte indischeMärchensammlung "Pantschatantra" ist schon im 6. Jahrh. auchins Syrische übertragen worden, und diese alte Version (hrsg.mit Übersetzung u. d. T.: " Kalilag und Damnag" von Bickell,nebst einer Einleitung von Benfey, Leipz. 1876) istursprünglicher als das auf die Gegenwart gekommene indischeOriginal. Ebenso sind manche gar nicht mehr oder nicht in ihrerursprünglichen Gestalt erhaltene Werke des klassischenAltertums in syrischen Versionen oder arabischen Übertragungenderselben bewahrt. Den Text eines syrischen historischen Romans:"Julianos der Abtrünnige", gab Hoffmann heraus (2. Ausg., Kiel1887). Die Poesie der Syrer ist lediglich kirchlicher undliturgischer Art und entbehrt alles wahrhaft dichterischen Geistes.Der älteste Hymnendichter ist der Gnostiker Bardesanes; nebenihm ist noch Ephräm der Syrer zu nennen. Die reichstenSammlungen syrischer Handschriften besitzen Rom, Paris und dasBritische Museum zu London. Vgl. Nestle, Litteratura syriaca(Bibliographie, Berl. 1888).

Syrjänen, ein Volk nordfinn. Stammes, wohnt in denrussischen Gouvernements Wologda und Archangel und ist naheverwandt mit den Permiern und Wotjaken. Im Gouvernement Archangelwohnen die S. nur im Kreis Mesen an der Petschora und dem obernLauf des Flusses Mesen; in Wologda bilden sie fast die ganze Masseder ländlichen Bevölkerung in den Kreisen Ustsyssolsk undJarensk; ihre Zahl wird auf 85,500 angegeben. Einst wohnten sie ander Kama und Wjatka und nennen sich deshalb noch beute Kama-Männer (Komi-mort, Komi-jas und Komi-woitur). Als Stephan,Bischof von Perm, zu Ende des 14. Jahrh. mit ungewöhnlicherEnergie unter den finnischen Völkern der permischen Gruppe dasChristentum verbreitete und ihre Götzen verbrannte, wandertendie S. in die Flußgebiete der Petschora, Wytschegda und desMesen aus. Die S. sind bekannt durch Fleiß und Ehrlichkeit,gehören der griechischen Kirche an, unterscheiden sich inKleidung und Sitte wenig von den Russen, wohnen in gut gebautenDörfern, beschäftigen sich mit Landwirtschaft, Viehzucht,Jagd und Fischerei und sind wohlhabender als ihre russischenNachbarn. Vom Januar bis in den April begeben sie sich inGesellschaften von 10-20 Mann tief hinein in die Urwälder, oftüber 500 km von den Wohnstätten, mit Hilfe eines kleinenKompasses (madka) und machen Jagd auf Bären, Wölfe,Luchse, Füchse, Marder und hauptsächlich aufEichhörnchen, von welch letztern sie in guten Jahren bis900,000 Stück verkaufen. Roggen, Gerste, Talg und Häuteschicken sie nach Archangel, Wild nach Petersburg und Moskau,Eichhörnchen-, Marder- und Fuchsfelle auf die Jahrmärktevon Nishnij Nowgorod und Irbit. Die Sprache der S. gehört zuder finnisch-ugrischen Gruppe des uralaltaischen Sprachstammes undist am nächsten mit der permischen verwandt. Vgl.Castrén, Elementa grammaticae syrjaenae (Helsingf. 1844);Wiedemann, Grammatik der syrjanischen Sprache (Petersb. 1884);Derselbe, Syrjänäsch-deutsches Wörterbuch (das.1880).

Syrlin, Jörg, Bildschnitzer, war seit ca. 1450 inUlm thätig, wo er eine Anzahl von Chorstühlen,Singepulten und selbständigen Bildwerken in Holzausgeführt hat, unter denen das Chorgestühl imMünster (1469-74) durch Feinheit der Charakteristik in denFiguren und durch die naturalistische, von edlemSchönheitssinn verklärte Detailbehandlung eine ersteStelle in der deutschen Bildnerei des 15. Jahrh. einnimmt. Er hatauch den Steinernen Brunnen auf dem Marktplatz zu Ulm geschaffen.Sein gleichnamiger Sohn ist in Ulm und Blaubeuren ebenfalls alsBildschnitzer thätig gewesen.

Syrmien, ehemals Herzogtum in Slawonien, benannt nach derrömischen Stadt Sirmium (s. d.), umfaßte denöstlichen Teil der von der Drau, Save und Donau umflossenensogen. Syrmischen Halbinsel, stand erst unter den ungarischenKönigen, dann unter den Türken, nach deren Vertreibung1688 Kaiser Leopold I. das italienische Haus Odescalchi damitbelehnte. Später kam S. an das Haus Albani. Das jetzigekroatisch-slawonische Komitat S. grenzt an die KomitateTorontál, Bács-Bodrog und Veroviticz sowie an Bosnienund Serbien, hat ein Areal von 6848,5 qkm (124,4 QM.), ist gebirgig(Fruska-Gora), fruchtbar (vorzüglicher Weizen und Wein, Mais,Obst, Kastanien), hat (1881) 296,678 Einw. (meist Serben) u.lebhafte Pferde-, Vieh-, Bienen- und Seidenraupenzucht.Komitatssitz ist Vukovar (s. d.).

Syrnium, s. Eulen, S. 906.

Syrokomla, Wladyslaw (eigentlich Ludwig Kondratowicz),poln.Dichter, geb. 17. Sept. 1823 zu Jaskowice in Litauen, lebtebis 1853 als Landwirt in Zalucz am Niemen, später inBorejkowszczyzna bei Wilna und starb in letzterer Stadt 15. Okt.1862. S. war kein Dichter von hohem Gedankenflug. aber vom Feuerechter Begeisterung und tiefem, auf, richtigem Gefühlerfüllt, zugleich von einer ungewöhnlichen Einfachheit imAusdruck. Unter seinen zahlreichen im Volkston gehaltenenpoetischen Erzählungen (Gawedy) sind hervorzuheben: "UrodzonyJan Deborog", "Janko Cmentarnik", "Noc hetmanska" und "Zgon Acerna"auf den Tod Klonowicz' (f. d.), dessen trübe Lebensschicksaleein Spiegelbild der seinigen bildeten. Weniger erfolgreichversuchte er sich) auf dramatischem Gebiet ("Kaspar Karlinski"u.a.). S. lieferte auch eine Geschichte der polnischen Litteratur("Dzieje literatury w Polsce", 2. Ausg., Warsch. 1874, 3 Bde.)sowie eine treffliche metrische Übersetzung derpolnisch-lateinischen Dichter Janicki, Sarbiewski, Szymonowicz,Klonowicz u. a. (Wilna 1852, 6 Bde.). Eine Gesamtausgabe seinerDichtungen erschien in 10 Bänden (Warsch. 1872). SeineBiographie schrieb I. I. Kraszewski(Warsch. 1863).

Syrphus, Schwebfliege; Syrphidae, Familie aus der Ordnungder Zweiflügler, s. Schwebfliegen

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Syrrhaptes - Szajnocha.

Syrrhaptes, Steppenhuhn.

Syrte, Name zweier Busen des Mittelländischen Meersan der Küste Nordafrikas. Die Große S. (DschûnelKebrit, auch Golf von Sidra), zwischen der Landschaft Tripolis unddem Plateau von Barka, bildet den am weitesten nach Südeneinbiegenden Teil des Mittelmeers; die Kleine S. (auch Golf vonGabes) liegt südlich von der Bai von Tunis zwischen denLandschaften Tunis und Tripolis.

Syrup (Sirob, arab., lat. syrupus), s. Sirup.

Syrus, röm. Dichter, s. Publilius Syrus.

Sysran (Ssysran), Kreisstadt im russ. GouvernementSimbirsk, unweit der Wolga, an der Eisenbahn Morschansk-Orenburg,hat 7 Kirchen, eine Stadtbank, eine Realschule und (1885) 28,624Einw., welche Acker- und Gartenbau, Industrie in Leder, Eisen undTalg und Handel mit Getreide und Salz treiben. S. wurde I683angelegt.

Syssitien (griech.), gemeinschaftliche Männermahlein den altdorischen Staaten Griechenlands, besonders Sparta, wo sieauch Pheiditien hießen. Zur Teilnahme an den täglichenS. waren alle männlichen Bürger Spartas vom 20.Lebensjahr an verpflichtet und mußten hierzu einen Beitrag inNaturalien und Geld entrichten. Das Hauptgericht war dieberühmte schwarze Blutsuppe, Schweinefleisch in Blut gekochtund mit Essig und Salz gewürzt. An jedem Tisch speisten in derRegel 15 Personen, welche auch im Krieg Zeltgenossen waren.

System (griech., das "Zusammengestellte"), jedes nacheiner gewissen regelrechten Ordnung aus Teilen zusammengesetzteGanze. In diesem Sinn redet man von einem Nervensystem, insoferndie Verbindung der Nerven deren Zusammenwirken zu den Zwecken destierischen Lebens bedingt; von einem Tonsystem oder der Reihenfolgeder Töne nach bestimmten Intervallen; von einemPlanetensystem, das durch die Abhängigkeit der Bewegung dereinzelnen Planeten von einem Zentralkörper, der Sonne, zustande kommt; ferner von Eisenbahn-, Verwaltungs-, Ackerbausystemenetc. Insbesondere aber versteht man unter S. ein geordnetes Ganzevon wissenschaftlichen Erkenntnissen, die vollendete Form allerwissenschaftlichen Darstellung, welche dadurch gewonnen wird,daß alle Begriffe aus einem oder einigen höchstenPrinzipien hergeleitet und entwickelt werden, wobei sich dasVerfahren nach der Art, wie ein Ganzes wissenschaftlicherErkenntnisse überhaupt zu stande kommt, verschiedenartigmodifiziert. Die unterste Form systematischer Darstellung oder derSystematik ist die Klassifikation, insofern dieselbe lediglich dieVerhältnisse logischer Über- und Unterordnung zuberücksichtigen hat, wobei der Zusammenhang des Mannigfaltigenmehr ein äußerlicher ist. Diese Systematik gestaltetsich nicht allein nach der verschiedenen Natur und Erkenntnisquelleder einzelnen Wissenschaften verschieden, sondern es machen sichauch innerhalb des Gebiets einer einzelnen Wissenschaft im Lauf derZeit Veränderungen nötig, je nachdem man bei Ableitungund Begründung des Details bald von diesem, bald von jenemStandpunkt ausgeht, wodurch nicht nur die Form, sondern auch derInhalt der Wissenschaft verschiedene Modifikationen erleidenmuß. Die Darlegung der allgemeinen Formen des systematischenVerfahrens ist Aufgabe der Logik, während deren nähereAnwendung auf besondere Gebiete wissenschaftlicher Erkenntnis dereinzelnen Wissenschaft überlassen bleibt. In derNaturwissenschaft versteht man unter S. die wissenschaftlicheAneinanderreihung der Naturkörper nach gewissen gemeinsamenMerkmalen zu Arten, dieser zu Gattungen, dieser weiter zu Familien,Ordnungen und Klassen. Je nachdem man hierbei von einem einzelnenMerkmal oder einigen wenigen ausgeht oder die Gesamtheit derselbenberücksichtigt, unterscheidet man künstliche undnatürliche Systeme. Künstliche Systeme hat man namentlichin der Botanik gehabt, z. B. solche, welche nach der Beschaffenheitdes Stammes alle Pflanzen in Kräuter und Bäume trennten,oder nach der Beschaffenheit der Fortpflanzungswerkzeuge (wieLinné) oder nach der Frucht (wie Gärtner) einteilten.Sie wurden schon am Ende des vorigen Jahrhunderts durch das alleMerkmale gleichmäßig berücksichtigende und der inder allgemeinen Tracht (Habitus) sich aussprechendennatürlichen Verwandtschaft Rechnung tragende natürlicheSystem (von Jussieu) ersetzt (weiteres s. Pflanzensystem). In derZoologie hat man niemals eigentlich künstliche Systeme gehabt,da sich hier die natürliche Verwandtschaft deutlicherausprägt; doch hat auch das zoologische S. im einzelnenselbstverständlich die größten Veränderungenerfahren. Der Zug der modernen Forschung geht dahin, dienatürlichen Systeme der Lebewesen zu genealogischen Systemenumzugestalten (vgl. Darwinismus, S. 567 f.). Über GeologischeSysteme s. Geologische Formation.

Systematik (griech.), die Kunst der systematischenDarlegung (s. System), Anleitung dazu. Systematisch, ein Systembildend, planmäßig.

Système de la nature, Titel des berühmtenphilosophisch-materialistischen Buches im Geiste derfranzösischen Encyklopädisten, das pseudonym 1770erschien, und als dessen Verfasser jetzt der Baron v. Holbach (s.d.) gilt.

Systole (griech.), in der Prosodie im Gegensatz zurDiastole (s. d.) die Verkürzung einer von Natur langen Silbedurch die Aussprache, welche regelmäßig in der Senkungdes Versfußes unmittelbar vor der folgenden Hebung eintritt,z. B. "Obstupui steteruntque comae" (Vergil); in der Physiologiedie Zusammenziehung der Herzmuskulatur (weiteres s. Blutbewegung,S. 60).

Sytschewka (Ssytschewka), Kreisstadt im russ.Gouvernement Smolensk, an der Wasusa und der BahnlinieWjasma-Rshew, mit (1885) 4984 Einw.

Syzygien (griech.), in der Astronomie gemeinsameBezeichnung für Konjunktion und Opposition, also fürdiejenigen Stellungen eines Planeten zur Sonne, wo beide, von derErde aus betrachtet, entweder gleiche oder um 180° verschiedeneLänge haben.

Szabadka (spr. ssá-), s. Maria-Theresiopel.

Szabolcs (spr. ssáboltsch), ungar. Komitat amlinken Theißufer, grenzt an die Komitate Szatmár undBereg im O., Ung und Zemplin im N., Borsod und Szolnok im W. undBihar im Süden und umfaßt 4917 qkm (89,3 QM.). Der Bodenbildet eine im O. bewaldete, im W. und NW. aber längs desLaufs der Theiß mit Sodaseen und Morästenangefüllte, doch überaus fruchtbare Ebene mit fettenWeiden. Nur der sogen. Nyir, eine sandige Fläche mitdünenartigen Erhebungen, ist weniger fruchtbar.Hauptfluß ist die Theiß mit der Szamos. Die Einwohner(1881: 214,008), meist Ungarn, betreiben die Rindvieh-, Schaf- undSchweinezucht im großen. Hauptort des Komitats, welches dieUngarische Staatsbahn durchschneidet, ist die StadtNyiregyháza.

Szajnocha (spr. schai-), Karl, poln. Dichter undGeschichtschreiber, geb. 1818 zu Komaro bei Sambor in Galizien,wurde 1835 als Gymnasiast zu Lemberg wegen eines politischenGedichts, das man bei ihm

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Szalay - Szasz

fand, mit schwerer Gefängnishaft bestraft, die seineGesundheit zerrüttete und ihm den Weg zu höherer Bildungverschloß, und schlug nun die schriftstellerische Laufbahnein, indem er Gedichte, Erzählungen und Dramen aus der VorzeitPolens in Lemberger Zeitungen veröffentlichte. Bald wandte ersich jedoch von diesen poetischen Versuchen ab, einem ernsten undvertieften Studium der polnischen Geschichte zu und ließ alsnächste Frucht desselben zwei mit verdientem Beifallaufgenommene Schriften erscheinen: "Boleslaw Chrobry" (Lemb. 1848)und "Pierwsze odrodzenie Polski" ("Die Wiedergeburt Polens", das.1849), worin die Zeiten Wladislaw Lokieteks und Kasimirs d. Gr.treu und anschaulich geschildert werden. Bedeutenderes nochleistete er in "Jadwiga i Jagiello" (Lemb. 1855, 3 Bde.; 2. Aufl.1861, 4 Bde.), seinem Hauptwerk, das sein Talent fürhistorische Malerei im vollsten Glanz erscheinen läßt.S. war inzwischen (1853) Kustos der Ossolinskischen Bibliothek inLemberg geworden, doch mußte er die Stelle schon nach wenigenJahren wegen Erblindung wieder aufgeben. Er starb, bis zuletztlitterarisch thätig, 10. Jan. 1868 in Lemberg. Von seinenSchriften sind noch hervorzuheben: "Lechicki poczatek Polski" ("Derlechische Ursprung Polens", Lemb. 1858); die vortrefflichen "Szkicehistoryczne" (das. 1854-69, 4 Bde.) und "Dwa lata dziejównaszych" ("Zwei Jahre polnischer Geschichte"), eine Schilderung derKriege Polens mit den Kosaken (das. 1865-69, 2 Bde.). Eine Sammlungseiner historischen Werke (mit Biographie von Kantecki) erschienunter dem Titel: "Dziela Karola Szajnochy" (Lemb. 1876-78, 10Bde.).

Szalay (spr. ssállai), Ladislaus von, ungar.Historiker und Staatsmann, geb. 18. April 1813 zu Ofen, widmetesich von 1824 bis 1826 in Stuhlweißenburg und Pestphilosophischen und juridischen Studien, begann 1833 dieAdvokatenpraxis und ward infolge seiner Schrift "Das Strafverfahrenmit besonderer Rücksicht auf die Strafgerichte" (Pest 1840)zum Schriftführer der vom Reichstag zur Ausarbeitung einesStrafkodex niedergesetzten Kommission gewählt. 1843 wurde ervon der Stadt Karpfen als Deputierter zum Reichstag entsendet, woer sich der liberalen Opposition anschloß. Er beteiligte sichseit 1844 teils als Redakteur, teils als Mitarbeiter am "PestiHirlap". Seine Abhandlungen, worin er namentlich füradministrative Zentralisation und Reform des Komitatswesens seineStimme erhob, erschienen gesammelt als "Publicistai dolgozatok"(Pest 1847, 2 Bde.). Sein "Státusférfiak könyve"(Pest 1847-52) enthält Lebens- und Charakterschilderungenbedeutender reformatorischer Staatsmänner. Von der ungarischenRegierung 1848 zu ihrem Gesandten bei der deutschen Zentralgewaltin Frankfurt ernannt, ging er dann in derselben Eigenschaft nachLondon, ward aber hier nicht anerkannt, begab sich darauf in dieSchweiz und kehrte später nach Pest zurück, wo er 1861zum Reichstagsabgeordneten gewählt wurde. Er starb 17. Juli1864 in Salzburg. Seine Hauptwerke (in ungarischer Sprache) sind:"Geschichte Ungarns" (Leipz. 1850-60, 6 Bde.; deutsch vonWögerer, Pest 1866 bis 1875, 3 Bde.); "NikolausEsterházy von Galantha, Palatinus von Ungarn" (das. 1862-66,2 Bde.); "König Johann und die Diplomatie" (im "BudapestiSzemle" 1858-60); "Ungarisch-geschichtliche Denkwürdigkeiten"(Pest 1858-60, 3 Bde.). Vgl. Flegler, Erinnerungen an L. v. S.(Leipz. 1866).

Szamarodny (spr. ssá-), s. Tokayer.

Szamos (spr. ssámosch), Nebenfluß derTheiß in Ungarn, entspringt im Biharer und Aranyoser Gebirgein zwei Quellflüssen, die sich bei Deés vereinigen,fließt dann nordwestlich, nimmt die Kraszna auf undmündet in der Nordwestecke des Szatmárer Komitats beiOcsva-Apathi.

Szamos-Ujvár (spr. ssámosch-,Armenierstadt), Stadt im ungar. Komitat Szolnok-Doboka(Siebenbürgen), an der Klausenburg-Bistritzer Bahn, Sitz einesgriechisch-kath. Bischofs, mit schöner armenischer Kirche,altem Schloß, bischöflichem Palais, Franziskanerkloster,griechisch-katholischer theologischer Akademie, (1881) 5317 meistarmen. Einwohnern, lebhaftem Getreide- und Viehhandel,Lederindustrie, Landesstrafanstalt und Bezirksgericht. In derNähe das Schwefelbad Kérö.

Szanthó (spr. ssánto), Markt im ungar.Komitat Abauj-Torna, am Hegyaljagebirge, mit (1881) 4279 Einw.,Weinbau und Bezirksgericht.

Szapary (spr. ssápp-), 1) Ladislaus, Graf,öfterreich. General, geb. 22. Nov. 1831 zu Pest, trat 1848 indie österreichische Kavallerie, ward 1857 Major, 1860Flügeladjutant des Kaisers, 1862 Kommandant des 1. (jetzt 13.)freiwilligen Husarenregiments, mit welchem er 1866 in Italienwichtige Dienste leistete, 1869 Generalmajor und Brigadekommandeurin Pest, 1874 Feldmarschallleutnant und Kommandeur der 20.Division, mit der er 1878 in Bosnien einrückte. Nach derVerstärkung der Okkupationsarmee ward er zum Kommandeur des 3.Armeekorps ernannt, nahm an der völligen Okkupationhervorragenden Anteil und erhielt im Oktober dasMilitärkommando in Temesvár, dann in Kaschau. Er starb28. Sept. 1883 in Preßburg.

2) Julius, ungar. Staatsmann, Vetter des vorigen, geb. 1. Nov.1832, ward 1861 Deputierter für Szolnok und in rascherKarriere Ministerialrat im Ministerium des Innern undStaatssekretär im Kommunikationsministerium (August 1870),welcher Stellung er aber schon im Mai 1871 entsagte, um dann 5.März 1873 Minister des Innern zu werden. Er bekämpfte dadie Schäden des alten Regimes mit Nachdruck und übernahmbei der Rekonstruktion des Ministeriums Tisza im Dezember 1878 dasFinanzportefeuille, das er bis zum Februar 1887 innehatte.

Szárvady (spr. ssar-). Wilhelmine, s.Clauß.

Szarvas (spr. ssárwasch). Markt im ungar. KomitatBékés, an der Körös, Station derUngarischen Staatsbahn, mit (1881) 22,504 Einw. (Slawen undUngarn), evang. Obergymnasium und Bezirksgericht.

Szász (spr. ssaß). Karl, ungar.Schriftsteller, geb. 15. Juni 1829 zu Nagy-Enyed inSiebenbürgen, studierte daselbst und gewann schon 1847 miteiner poetischen Erzählung einen Preis. Nach der Revolution,in deren letzten Kämpfen er als Honvéd mit focht,studierte er Theologie, wirkte als Gymnasiallehrer inNagy-Körös, wurde dann calvinistischer Seelsorger zuerstin Kézdi-Vásárhely, dann inKun-Szent-Miklós, vertrat den FülöpszallaserBezirk auf dem Reichstag von 1865 und trat 1867 als Sektionsrat imKultusministerium in den Staatsdienst. Zwei Jahre später wurdeer zum Schulinspektor und 1876 zum Ministerialrat im Ministeriumernannt. S., der Mitglied der Akademie und derKisfaludy-Gesellschaft ist und von beiden wiederholt mit Preisenausgezeichnet wurde, hat auf dem Felde der Lyrik und poetischenErzählung ("Almos", "Salamon") sowie des Dramas ("Zrinyi","Herodes", "Georg Frater"), besonders aber als poetischerÜbersetzer eine reiche Thätigkeit entwickelt und unteranderm das Nibelungenlied, Dantes "Göttliche Komödie",zwei Bände Gedichte von Goethe, mehrere Dramen vonShakespeare, Ten-

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Szászkabánya - Szécsény.

nysons Idylle, Lustspiele von Molière u. a. insUngarische übersetzt. Auch sein Buch "A vilápirodalomeposzai" ("Die großen Epen der Weltliteratur", Budapest 1882,2 Bde.) enthält zahlreiche ausgezeichneteÜbersetzungsproben. - Auch seine Brüder, Dominik, geb.1838, reformierter Bischof von Siebenbürgen, und Béla,geb. 1840, jetzt Professor der Philosophie in Klausenburg, habensich, der erstere auf theologisch-politischem Gebiet, der letztereals Lyriker, einen litterarischen Namen gemacht.

Szászkabánya (spr.ssáhßkabanja), Markt im ungar. KomitatKrassó-Szörény, mit (1881) 2812 Einw., Kupfer-und Schwefelkiesbergbau, Kupferschmelzhütten undBezirksgericht.

Szatmár (spr. ssátt-), ungar. Komitat amlinken Theißufer, von den Komitaten Bereg, Ugocsa, Marmaros,Szolnok-Doboka, Szilágy, Bihar und Szabolcs begrenzt,umfaßt 6491 qkm (117,9 QM.), ist im Süden und O.gebirgig, im übrigen Teil eben und stellenweise sumpfig. DieTheiß fließt an der Nordgrenze und nimmt die Szamos,Kraszna und den Tur auf. S. hat (1881) 293,092 Einw. (meist Ungarn)und ist in der Ebene sehr fruchtbar. In den gebirgigen Gegendenblüht Rindvieh-, Schaf-, Schweine- und Bienenzucht. DasMineralreich liefert Gold, Silber, Kupfer und Antimon; auch sindGlashütten und Sägemühlen in Betrieb. Hauptort istNagy-Károly. - Die Stadt S. (seit der 1715 erfolgtenVereinigung der Städte S. und Németi auch S.-Németi), königliche Freistadt im Komitat S. und Stationder Ungarischen Nordostbahn, liegt an beiden Ufern der Szamos, istSitz eines römisch-kath. Bischofs und Domkapitels sowie einesGerichtshofs und einer Finanzdirektion, hat eine Kathedrale, 2Klöster, ein katholisches und ein reform. Gymnasium, eineLehrer- und eine Lehrerinnenpräparandie, eine theologischeDiözesanlehranstalt, ein Seminar und (1881) 19,708 ungar.Einwohner, die Gewerbe, Handel und auf dem benachbarten S.-Hegy(einer städtischen Ansiedlung mit 2000 reform. Einwohnern)auch Weinbau betreiben. S. hat eine Dampfmühle, einkönigliches Tabaksmagazin und am Domplatz eine Büste desungarischen Dichters Kölcsey.

Szczawnica (spr. sstschá-), Badeort in der galiz.Bezirkshauptmannschaft Neumarkt, in den Karpathen, nahe derungarischen Grenze, mit mehreren Heilquellen(alkalisch-muriatischen Säuerlingen, Natron- undNatronlithion-, jod- und bromhaltigen Quellen), besuchter Trink-und Badeanstalt (ca. 3000 Kurgäste) und (1880) 2140 Einw.

Széchényi (Szécsényi, beidesspr. sséhtschenji), ein ungar. Adelsgeschlecht, das seit demSchluß des 16. Jahrh. emporkommt und vom 17. Jahrh. abbedeutende Kirchenfürsten und Staatsmänner aufweist:

1) Georg, 1645 Domherr von Gran, 1647 Bischof vonFünfkirchen, 1649 von Veszprim, 1658-68 von Raab, 1668-85Erzbischof von Kalocsa, zugleich Administrator des Raaber Bistums,1685-95 Graner Primas; ein "Wunder der Freigebigkeit" ("prodigiummunificentiae") genannt.

2) Paul, Pauliner Eremit, in welcher Lebensstellung er dieOrdensprofessur der Theologie und Philosophie bekleidete, Prior undGeneraldefinitor des Ordens, 1676 Bischof von Fünfkirchen undkaiserlicher Rat, Abt von St. Gotthardt und Propst von Raab, 1687Bischof von Veszprim.

3) Stephan, Graf von, ungar. Staatsmann, geb. 21. Sept. 1792 zuWien, Sohn des durch Stiftung des ungarischen Nationalmuseumsbekannten Grafen Franz von S. (gest. 20. Dez. 1820), diente erstbeim Insurrektionsheer gegen die Franzosen, machte dann in derregulären Armee die wichtigsten Feldzüge deseuropäischen Völkerkriegs mit, schied aber 1825 aus demMilitärdienst, um sich der Förderung des geistigen undindustriellen Interessen seines Vaterlandes zu widmen. Verdiensteerwarb er sich namentlich durch seine Mitwirkung zur Errichtungeiner ungarischen Akademie, der er 60,000 GuldenKonventionsmünze überwies, durch seine Verwendungen 1832zur Errichtung eines ungarischen Nationaltheaters undKonservatoriums der Musik und zur Erbauung einer festenDonaubrücke zwischen Pest und Ofen sowie 1834 als Kommissarfür die oberste Leitung der Regulierungsarbeiten am EisernenThor und der Regulierung des Theißbettes. Nach dem Ausbruchder Revolution von 1848 ward er zum Minister der öffentlichenArbeiten ernannt, sah sich aber als Aristokrat von derdemokratischen Partei bald in den Hintergrund gedrängt. DerSchmerz über den Bruch mit Österreich im Oktober 1848hatte für ihn eine Geisteskrankheit zur Folge, und er ward indie Irrenanstalt nach Döbling gebracht, wo er auch nach seinerscheinbaren Genesung blieb. Er erschoß sich 8. April 1860. ImJ. 1880 wurde ihm in Pest ein Denkmal errichtet. Von seinenSchriften sind noch hervorzuheben: "Hitel" ("Über den Kredit",deutsch, Pest 1830), "Világ" ("Licht, oder aufhellendeBruchstücke und Berichtigung einiger Irrtümer undVorurteile"; deutsch, das. 1832) und "Stadium", 1. Teil (Leipz.1833), das drittbedeutendste, den Reformplan enthaltend, die ihmden Beinamen "Vater der Reform" erwarben; ferner "A keletnépe" ("Das Volk des Ostens", Pest 1841); "Politaiprogrammtöredékek" ("Politische Programmfragmente",das. 1846) und "Hunnia" (18^8), "Blick auf den Rückblick"(nämlich auf die Druckschrift "Rückblick" von demMinister Bach; anonym, Lond. 1860). Vgl. Lónyay, GrafStephan S. und seine hinterlassenen Schriften (deutsch von Dux,Pest 1875) ; A. Zichy, Die Tagebücher des Grafen Stephan S.(Budapest 1884). - Sein Neffe Graf Emmerich, geb. 15. Febr. 1825,ist seit Januar 1879 österreichischer Botschafter in Berlin,ein andrer Neffe, Graf Paul, geb. 1838, war bis 1888 ungarischerHandelsminister.

4) Béla, Graf, Asienreisender, geb. 3. Febr. 1837 zuBudapest, studierte in Berlin und Bonn Staatswissenschaft, bereiste1863 Nordamerika und schrieb daraus "Amerikai utam" ("Meineamerikanische Reise", Pest 1865), ging 1865 nach Algerien und tratim Dezember 1877 von Triest aus, begleitet vom Obersten Kreitnerund dem Geologen L. v. Loczy, eine Reise nach Asien an. Indien,Japan, Java, Borneo und einen großen Teil von Chinadurchreisend, gelangte er zwar nicht nach Lhassa, der HauptstadtTibets; aber es war ihm doch möglich, unter vielen Gefahrenwertvolle Daten von solchen Gegenden des Weltteils zu sammeln,über welche bisher kein Europäer nach direkter Anschauunggeschrieben hatte. Auf der Rückreise kam S. durch Jünnanund so von China nach Hinterindien. S. war zweimal Abgeordneterfür das Ödenburger Komitat und lebt gegenwärtig inBudapest. Die Schilderung jener Expedition gibt das Werk seinesReisebegleiters Kreitner: "Im fernen Osten. Reisen des Grafen S.1877-80" (Wien 1881). In Verbindung mit Kreitner, Lóczy u.a. gab er 1883 ein wissenschaftliches Werk über seine Relsenmit Atlas auf eigne Kosten heraus.

Szécsény (spr. sséhtschenj), Marktim ungar. Komitat Neográd, mit Franziskanerkloster, einstberühmtem festen Schloß, (1881) 3097 Einw. undBezirksgericht.

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Szegedin - Szemere.

Szegedin (spr. sségg-), königliche Freistadtim ungar. Komitat Csongrád, am Zusammenfluß der Marosund Theiß, Kreuzungspunkt der Österreichisch-UngarischenStaats- und der Alföld-Fiumaner Bahn und Dampfschiffstation,wurde durch die 11. und 12. März 1879 eingetretene furchtbareÜberschwemmung, wobei die Theißfluten den Damm derAlföldbahn durchbrachen, beinahe ganz vernichtet. Über5300 Häuser sind teils eingestürzt, teils unbewohnbargeworden, und erst Mitte August 1879 wurde die Stadt wasserfrei.Zur Sicherung derselben gegen die fast jährlich wiederkehrendeHochflut hat man zwei Dammgürtel und einen 9 1/2 m hohenRingdamm errichtet und die ganze Stadt, für welche damals 2,9Mill. Gulden an Liebesgaben eingingen, unter der Leitung desRegierungskommissars, des jetzigen Grafen Ludwig Tisza,rekonstruiert. Das heutige S., der Hauptort des Alföld, isteine ganz moderne Stadt mit zwei großen, durch mehrereRadialstraßen verbundenen Ringen, breiten, geradenNebengassen, großen Plätzen (darunter derSzéchényiplatz in der Mitte der Stadt) undzahlreichen Pracht- und Monumentalbauten. Die hervorragendstenneuen Gebäude sind: das große Rathaus mit imposantemTurm am Széchényiplatz, das Hotel Tisza(Redoutengebäude), das Justiz-, Post- und Telegraphen- und dasFinanzpalais, das Theater mit Kiosk und Stephaniepromenade amTheißufer (an Stelle der frühern Citadelle), dasGefangenhaus, der Honvéd-Offizierspavillon, dieHonvédkaserne, die Infanteriekaserne mit Offizierspavillon,die große Mädchenschule, die evangelische u. die reform.Kirche etc. Über die Theiß führt außer zweiEisenbahnbrücken eine monumentale eiserne Bogenbrücke(nach dem Plan Gustav Eiffels, 405 m lang, samtBrückenköpfen und Auffahrtrampe 591 m). S. hat (1881)73,675 ungar. Einwohner, viele Fabriken (für Spiritus, Seife,Soda, Salami, Zündhölzchen, Tabak, Tuch, Ziegel etc.),eine Schiffswerfte, lebhaften Handel mit Getreide, Holz, Wolleetc., bedeutende Viehzucht, Acker-, Tabaks-, Wein-, Gemüse-,Paprikabau, hervorragende Märkte, einen großenSchiffsverkehr, eine Staatsoberrealschule, ein kath. Obergymnasium,eine Lehrerpräparandie und 4 Klöster. S. ist Sitz desKomitats, eines Honvéd-Distriktskommandos, einer Finanz- u.Staatsgüterdirektion, eines Gerichtshofs und hat einTabakseinlösungs- und Tabaksmagazin und eine Filiale derÖsterreichisch-Ungarischen Bank. - S., schon zu MatthiasCorvinus' Zeiten eine berühmte ungarische Stadt, fiel nach derSchlacht bei Mohács in Solimans II. Gewalt, welcher siestärker befestigen ließ. 1686 wurden die Türkengeschlagen und mußten S. räumen. Hier 3. Aug. 1849Haynaus Sieg über die aufständischen Ungarn.

Szeghalom (spr. ssé-), Markt im ungar. KomitatBékés, an der Mündung des Berettyókanalsin die Schnelle Körös, mit (1881) 7537 ungar. Einwohnern,Ackerbau, bedeutender Rindvieh-, Schaf- u. Schweinezucht undBezirksgericht.

Szegszárd (spr. sségssard), Markt und Sitzdes ungar. Komitats Tolna, am Sárviz, mit Nonnenkloster,Landes-Seidenbauinspektorat, Gerichtshof und (1881) 11,948 Einw.,die sich mit Wein-, Obst- und Seidenkultur beschäftigen; derSzegszárder Rotwein gehört zu den besten WeinenUngarns.

Szék (spr. ßehk), Stadt im ungar. KomitatSzolnok-Doboka (Siebenbürgen), mit 4 Kirchen, großemStadthaus, (1881) 2759 ungarischen und rumän. Einwohnern,Salzquellen und Bezirksgericht. S. war ehemals der Hauptort desKomitats Doboka.

Székely (spr. sséhk-), Bartholomäus,ungar. Maler, geb. 1835 zu Klausenburg, studierte in Münchenbei Piloty und in Brüssel bei Gallait und machte sich seit1860 durch Bilder aus der ungarischen Geschichte, von denen dieAuffindung der Leiche Lndwigs II. zu Mohács, Doboczytötet seine Gattin (beide im Nationalmuseum zu Pest), dieSchlacht bei Mohács, die Frauen von Erlau verteidigen ihreStadt gegen die Türken und die Flucht EmmerichTökölys aus der Festung Lika hervorzuheben sind, bekannt.Er hat auch zahlreiche Illustrationen gezeichnet (zuEötvös, Petöfi u. a.). S. ist Professor an derköniglichen Landesmusterzeichenschule zu Pest und hat eineSchrift über die Grundprinzipien seines Faches (Budap. 1877)veröffentlicht.

Székely-Keresztur (spr. ssék-, auchSzitas-Keresztur), Markt im ungar. Komitat Udvarhely(Siebenbürgen), an der Ungarischen StaatsbahnlinieSchäßburg-Székely-Udvarhely, mit (1881) 2968ungarischen und rumän. Einwohnern,Staatslehrerpräparandie, unitar. Gymnasium und Fabrikation vonSieben.

Székely-Udvarhely (spr.sséhkelj-úddwarhelj), Stadt, Sitz des ungar. KomitatsUdvarhely (Siebenbürgen), am GroßenKüküllö und an der Ungarischen StaatsbahnlinieSchäßburg-S., mit 2 Kirchen, Burgruine,Franziskanerkloster und (1881) 5003 ungarischen und rumän.Einwohnern, die zumeist Tabaksbau, Bienenzucht und verschiedeneGewerbe betreiben. S. hat ein kath. Gymnasium, ein reform.Kollegium, eine Staatsoberrealschule und einen Gerichtshof. In derNähe das Bad Szejke, mit alkalisch-muriatischerSchwefelquelle.

Székler (spr. ssék-, ungar.Székely), ungar. Volksstamm, welcher die östlichen undnordöstlichen Gegenden Siebenbürgens bewohnt und denUrtypus des Magyarentums am treuesten bewahrt hat. Ihre alteFreiheit behauptend, galten die S. bis 1848 als adlig, hattenfreies Jagd- und Weiderecht, leisteten keine Frondienste undunterstanden nur ihren eignen Richtern. Obgleich trefflicheGrenzwächter, sträubten sie sich doch lange gegen denregulären Militärdienst und wurden erst nachUnterdrückung eines Aufstandes dazu vermocht, einHusarenregiment und zwei Infanterieregimenter zu stellen. Sie waren1848 und 1849 die tapfersten Verfechter des Magyarentums inSiebenbürgen, und an ihrer Spitze vornehmlich erfocht Bemseine Siege. Sodann verloren sie mit ihrer Verfassung auch ihreVorrechte und wurden den übrigen Landesbewohnerngleichgestellt. Das Land der S. war bis 1876 in fünf sogen.Stühle eingeteilt; jetzt bildet es zumeist die KomitateUdvarhely, Csik und Háromszék. Vgl. Hunfalvy,Ethnographie Ungarns (Leipz. 1877); v. Herbich, DasSzéklerland, geologisch beschrieben (Pest 1878). DieVolkspoesien der S. wurden von Kriza ("Székelyvadrózsák". "Wilde Rosen der S.", 1863)gesammelt.

Széll (spr. ssell), Koloman, ungar.Finanzminister, geb. 8. Jan. 1842 zu Rátót imEisenburger Komitat, studierte in Pest und Wien, ward 1867 zumDeputierten in den Reichstag gewählt und war aus allenbisherigen Reichstagen eins der thätigsten Mitglieder sowie1868-75 Schriftführer des ungarischen Abgeordnetenhauses. 1875wurde S. Finanzminister und führte große Ersparnisseein. Wegen der großen Kosten der bosnischen Okkupation nahmer Ende 1878 seine Entladung und wurde Präsident derUngarischen Kreditbank in Pest.

Szemere (spr. ssé-), Bartholomäus, ungar.Staatsmann und Schriftsteller, geb. 27. Aug. 1812 zu Vatta imBorsoder Komitat, studierte in Preßburg, praktizierte daraufim Borsoder Komitat als Advokat, ward

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Szene - Szilagy.

1842 zum Oberstuhlrichter, 1846 zum Vizegespan in Borsod und vondemselben Komitat als Deputierter in den Reichstag gewählt. Ererwies sich hier als eins der thätigsten Mitglieder der Parteides Fortschritts und bearbeitete als Reichstagsschriftführereine Reihe der wichtigsten Gesetzentwürfe. Im März 1848im Ministerium Batthyányi mit dem Portefeuille des Innernbetraut, entschied er sich mit Kossuth für entschlosseneRevolution, übernahm nach dem Rücktritt des Ministeriumsmit jenem die provisorische Leitung der Landesangelegenheiten undtrat auch in den Landesverteidigungsausschuß ein. Im Dezember1848 als Reichskommissar nach Oberungarn delegiert, bildete er hierein Guerillakorps zur Abwehr des eingefallenen Schlikschen Korps.Nach der Unabhängigkeitserklärung (14. April 1849)übernahm er das Präsidium des neuen Kabinetts und floh,nachdem Görgei die Waffen gestreckt, nach Konstantinopel,machte dann eine Reise nach Griechenland und ließ sichhierauf in Paris nieder. Hier veröffentlichte er dievornehmlich gegen Kossuth gerichteten Charakteristiken: "LudwigBatthyanyi, A. Görgei und L. Kossuth" (Hamb. 1851). 1865kehrte er, gebrochen an Leib und Seele, in die Heimat zurückund starb 18. Jan. 1869 in einer Privatirrenanstalt zu Ofen. Seinegesammelten Schriften sind 1869 in Pest erschienen.

Szene (griech.), der Platz im Schauspielhaus, wo dasStück gespielt wird, die Bühne; dann auch der Ort und dasLand, wo die Handlung vorgeht; auch s. v. w. Auftritt (f. d.). EinStück in S. setzen, s. v. w. es zur theatralischenAufführung vorbereiten, fertig machen. Szenerie, das auf derS. oder Bühne vermittelst der Dekorationen etc. dargestellteBild; allgemeiner s. v. w. Landschaftsbild, Gegend.

Szenische Spiele (Ludi scenici), bei den RömernSpiele, welche auf einer Schaubühne (scena), der Sage nachseit der Pest von 361 v. Chr., aufgeführt wurden und anfangsnur in Tanz mit Flötenbegleitung, ohne Beimischung von Gesangund Mimik, die erst später hinzukam, bestanden; vgl.Komödie.

Szent (ungar., spr. ssent), s. v. w. Sankt.

Szeut-Endre (spr. ssent-. Sankt-Andrä), Stadt imungar. Komitat Pest, am rechten Donauufer, 15 km nördlich vonOfen, Sitz des Ofener griechisch-orientalischen Bischofs, mitvielen Kirchen, (1881) 4229 deutschen, serbischen und ungar.Einwohnern, Weinbau und Bezirksgericht. S. heißt auch eineschmale Donauinsel, welche sich von Waitzen bis gegen Budapesterstreckt und mehrere Dörfer enthält.

Szentes (spr. ssénntesch), Stadt im ungar. KomitatCsongrád, liegt an der Kurcza unfern der Theiß und hatmehrere Kirchen, (1881) 28,712 Einw., starken Weinbau und einBezirksgericht.

Szent-Miklós (spr. ssent-miklösch), Namemehrerer Orte in Ungarn: 1) Gyergyó-S. (s. d.), Markt imKomitat Csik. - 2) Kún-S. (s. d.), Markt im Komitat Pest. -3) Liptó-S. (s. d.), Markt im Komitat Liptau. - 4) Nagy-S.(s. d.), Markt im Komitat Torontál. - 5) Török-S.,Markt im Komitat Iasz-Nagy-Kun-Szolnok, an der UngarischenStaatsbahn, mit (1881) 16,046 ungar. Einwohnern.

Szent-Peter (Sajó-S., spr.schájö-ssent-), Markt im ungar. Komitat Borsod, amSajó und der Ungarischen StaatsbahnlinieFülek-Miskolcz, mit schöner reform. Kirche, (1881) 3230ungar. Einwohnern, vorzüglichem Weinbau undBezirksgericht.

Szent-Tamas (spr. ssent-támäsch), Markt imungar. Komitat Bács-Bodrog, am Franzenskanal, mit (1881)10,609 meist serb. Einwohnern, Getreidebau und Viehzucht.

Szepes-Bela (spr. ssépesch-), eine 1881entdeckteTropfsteinhöhle von riesigem Umfang im ungar. KomitatZips (in der Hohen Tátra, am Berg Kobuly Vrch), zu der mandurch das 8 km lange prachtvolle Tatraseenthal gelangt. Sie istEigentum der Stadt Bela (s. d.), besteht aus mehrerenübereinander liegenden Grotten und zeichnet sich durch diegroßartigsten Tropfsteingebilde aus. In der Nähe derSzepes-Bélaer Tátra-Höhlenhain, klimatischerKurort, 763 m ü. M., 10 km von der BahnstationPoprád-Felka.

Szepes-Olaszi-Váralja (spr. ssépesch-),Name der Kaschau-Oderberger Bahnstation für die StädteWallendorf und Kirchdrauf (s. d.) im ungar. Komitat Zips. In derNähe von Kirchdrauf das Bad Baldócz, mit zwei erdigen,kalkhaltigen Säuerlingen.

Szerdahely (spr. ssér-, auch Duna-S.), Markt imungar. Komitat Preßburg, Hauptort der Schüttinsel, mit(1881) 4182 ungar. Einwohnern, lebhaftem Vieh- handel undBezirksgericht.

Szerencs (spr. ssérentsch), Markt im ungar.Komitat Zemplin, an der Ungarischen StaatsbahnlinieDebreczin-Miskolcz, mit altem Schloß und (1881) 2370 ungar.Einwohnern. In der Umgegend gedeiht vortrefflicher Wein.

Szetschuan, chines. Provinz, s. Setschuan.

Sziget (spr. ssi-), 1) (Szigetvár) Markt undehemals bedeutende Festung Im ungar. Komitat Somogy, amAlmás, Station der Fünfkirchen-Barcser Bahn, mit nochsichtbaren Mauern und Gräben, mehreren Kirchen,Franziskanerkloster und (1881) 5014 Einw. S. ist denkwürdigdurch den Heldentod Nikolaus Zrinys (s. d.) 15. Sept. 1566 bei derVertei- digung der Festung gegen die Türken unter Soliman. -2) Stadt, s. Marmaros-Sziget.

Szigligeti (spr. ssi-), Eduard (eigentlich JosephSzathmary), ungar. Dramatiker, geb. 1814 zu Großwardein,bildete sich in Pest zum Ingenieur aus, betrat aber 1834 in Ofendie Bühne und ward dann Sekretär und Regisseur desNationaltheaters zu Pest. Von 1834 bis 1872 hat S. gegen hundertStücke geschrieben und diese Zahl seitdem nochbeträchtlich über-stiegen. Von seinen Lustspielen undTragödien, denen eine gewisse Bühnenwirksamkeit nichtabzusprechen, wiewohl ihnen jeder tiefere poetische Wert abgeht,wurden viele von der Akademie mit dem Preis gekrönt.Besonderes Verdienst erwarb sich S. durch das ungarischeVolksstück (ein von ihm geschaffenes Genre), in welchem ermagyarisches Volksleben schildert und die magyarischen Volksliederauf die Bühne bringt. Mehrere seiner hierher gehörigenDramen, wie: "Der Deserteur", "Zwei Pistolen", "Der Jude", "DerCsikós" etc., fanden auch auf deutschen Bühnen Beifall.Seine Stücke bilden fast ausschließlich das Repertoireder Provinzialtheater und wandernden Schauspielertruppen Ungarns.S., der außerdem viele Beiträge zur Geschichte desmagyarischen Schauspielwesens geliefert und eine Dramaturgie ("Adráma és vál-fajai", Budap. 1874) geschriebenhat, war Mitglied der ungarischen Akademie und derKissaludy-Gesellschaft sowie seit 1873 dramatischer Direktor desNationaltheaters. Er starb 20. Jan. 1878.

Szikszo (spr. ssíkssö), Markt im ungar.Komitat Abauj-Torna, an der Miskolcz-Kaschauer Bahnlinie, mitreform. Kirche in gotischem Stil, (1881) 3586 Einw., Getreide-,Wein- u. Obstbau u. Bezirksgericht.

Szilagy (spr. ssílädj), ungar. Komitat amlinken Theißufer, 1876 aus den Komitaten Kraszna,Mittelszolnok und einem Teil von Doboka gebildet, grenzt im N. andas Komitat Szatmár, im O. an Szolnok-Doboka, im Südenan Klausenburg, im W

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Szilagy-Somlyo - Szymanowski.

an Bihar, umfaßt ein Gebiet von 3671 qkm (66,6 QM.), dassehr wald- und wildreich ist, und wird vom Kraszna- oderBükkgebirge erfüllt und von den Flüssen Kraszna,Szamos, Berettyo, Szilagy etc. bewässert. S. hat (1881)171,079 Einw. (Rumänen und Ungarn, meist Griechisch-Unierte),welche Acker- und Weinbau, Rindvieh- und Schweinezucht treiben.Sitz des Komitats ist die Stadt Zilah.

Szilágy-Somlyó (spr.ssiladj-schómljó), Stadt im ungar. KomitatSzilágy, an der Kraszna, mit Schloß, alter Felsenburg,1434 von Stephan Bathori erbauter Kirche und Minoritenkloster, hat(1881) 4189 ungarische und rumän. Einwohner, Weinbau, eineMineralquelle, ein Untergymnasium und Bezirksgericht.

Szilicze (spr. ssilize, auch Lednice genannt),Eishöhle im ungar. Komitat Gömör, in der Nähevon Rosenau, mit großartigen Eisbildungen.

Szinyák (spr. ssinjak), Badeort im ungar. KomitatBereg, nordöstlich von Munkács, mit einer bei Gicht,Rheuma, Nervosität und Hautleiden heilkräftigen kaltenalkalischen Schwefelquelle.

Szinver-Váralja (spr. ssinjer-wáhralja),Markt im ungar. Komitat Szatmar, mit (1881) 3691 rumänischenund ungar. Einwohnern, Weinbau und Töpfereien.

Szkleno (spr. sskléno), berühmtes altes Badim ungar. Komitat Bars, liegt im wildromantischen Teplathal, unweitvon Schemnitz, mit acht gegen Rheumatismus, Gicht, Nerven- undHautübel wirksamen gipshaltigen Thermen von 45-53,5° C.Temperatur. Vgl. Bachschitz, Kurort S. (Budap. 1877).

Szlachcic (poln.), s. Schlachtschitz.

Szlatina (spr. sslá-, Akna-S.), Ort im ungar.Komitat Marmaros, 4,6 km von Marmaros-Sziget, mit dem es durch eineSchmalspurbahn verbunden ist, hat ein großes Salzbergwerk,das jährlich ca. 350,000 metr. Ztr. produziert.

Szlávy (spr. sslawi), Joseph, ungar. Staatsmann,geb. 23. Nov. 1818 zu Raab, trat, nachdem er seine Studien an derSchemnitzer Bergakademie absolviert hatte, in den Staatsdienst,zuletzt bei der ungarischen Hofkammer in Ofen, und ward 1848 vonKossuth mit der Leitung der Montanangelegenheiten in Oraviczabeauftragt. Hier wurde S. nach der Revolution verhaftet; vomTemesvarer Kriegsgericht zu fünf Jahren Festungshaft in Eisenverurteilt, verbrachte er zwei Jahre in Olmütz. Dann inFreiheit gesetzt, lebte er zurückgezogen abwechselnd inPreßburg und auf seinem Landgut zu Almosd im Biharer Komitat.1861 wurde er zum Statthaltereirat, 1865 zum Obergespan des BiharerKomitats, 1867 zum Staatssekretär im Ministerium des Innern,1870 nach Abdankung des Grasen Miko zum Handelsminister und 1872zum Ministerpräsidenten ernannt; doch blieb er in dieserStellung nur wenige Monate. 1879 wurde er Präsident desAbgeordnetenhauses, 1880 Reichsfinanzminister und 1882 ungarischerKronhüter und Vizepräsident des Oberhauses.

Szliács (spr. ssliatsch, Ribarer Bad),berühmter und besuchter Badeort im ungar. Komitat Sohl,südlich von Neusohl, Station des Altsohl-NeusohlerFlügels der Ungarischen Staatsbahn, mit bei Frauenkrankheitenund Nervenleiden heilsamen, kohlensäurereichen Eisenthermen(25-32° C.). Vgl. Hasenfeld, Der Kurort S. (3. Aufl., Wien1878).

Szobráncz (spr. sso-), Bad bei Ungvár imungar. Komitat Ung, liegt, gegen N. vollständiggeschützt, an der Südseite des Vihorlátgebirgesund hat vier kalte salz- und schwefelhaltige Quellen undSchlammbäder.

Szofer, s. Sopher.

Szolnok (spr. ssól-), Stadt, Sitz des ungar.Komitats Jász-Nagy-Kun-S., Knotenpunkt derÖsterreichisch-Ungarischen u. Ungarischen Staatsbahn, an derMündung der Zagyva in die Theiß, über die zweiBrücken führen, mit (1881) 18,247 ungar. Einwohnern, dieAckerbau, Gewerbe, Fischerei und Handel mit Obst, Bauholz etc.treiben. S. hat eine königliche Tabaks- u. eineMaschinenfabrik, ein Franziskanerkloster, ein Obergymnasium, einTabakseinlösungsamt und ein Bezirksgericht.

Szolnok-Doboka (spr. ssól-), ungar. Komitat inSiebenbürgen, grenzt an die Komitate Szilágy,Szatmár, Marmaros, Bistritz-Naszód und Klausenburg,umfaßt 5150 qkm (93,5 QM.), ist besonders im nördlichenTeil gebirgig und waldreich, wird von der Großen und KleinenSzamos durchströmt und hat (1881) 193,677 meist rumän.Einwohner (Griechisch-Katholische), die Ackerbau, Viehzucht undBergbau betreiben. Das Land ist namentlich in den Thälernfruchtbar (im Süden gedeiht auch Wein) sowie reich an Vieh undWild, Salz und Eisen. Hauptort ist Dees.

Szörény (spr. ssörenj), ehemaligesKomitat in Ungarn, welches 1876 aus dem östlichen Teil der1873 aufgelösten Banater Militärgrenze errichtet und 1880mit dem Komitat Krassó vereinigt wurde (s.Krassó-Szörény). Amtssitz war Karansebes.

Szováta (spr. ssówata), Badeort im ungar.Komitat Maros-Torda (Siebenbürgen), mit (1881) 1471ungarischen und rumän. Einwohnern, mehreren Salzseen,Solbädern und dem höchst merkwürdigen Salzberg, beidem das Steinsalz in ganzen Felsen frei zu Tag tritt (s.Parajd).

Szujski (spr. sch-), Joseph, poln. Historiker unddramatischer Dichter, geb. 1835 zu Tarnow in Galizien, beendeteseine Studien 1858 zu Krakau, zog sich dann auf seinväterliches Gut Kurdwanow bei Krakau zurück, war 1868-69Reichsratsabgeordneter und wurde 1869 ordentlicher Profefsor derpolnischen Geschichte an der Krakauer Universität. 1881 zumMitglied des österreichischen Herrenhauses ernannt, starb erschon 7. Febr. 1883. S. gehörte zur konservativ-monarchischenPartei. Er veröffentlichte zahlreiche historische, durchlebensvolle Charakteristik ausgezeichnete Schauspiele ("SamuelZborowski", "Halszka z Ostroga". "Hieronim Radziejowski","Jadwiga", "Jerzy Lubomirski", "Sawanarola", "Michal Korybut", "JanIII.", "Kopernikus", "Dlugosz i Kallimach" u. a.), ferner einevorzügliche "Geschichte Polens" ("Dzieje Polski", Lemb.1862-65, 4 Bde.), "Rys driejót literatury zwiawaniechszescianskiego" (Krak. 1867) und metrische Übersetzungenvon Äschylos, Aristophanes etc. In deutscher Sprache schrieber: "Die Polen und Ruthenen in Galizien" (Teschen 1882). Seinegesammelten Werke erscheinen seit 1885 in Krakau.

Szymanowska (spr. schü-), Sophie, s.Lenartowicz.

Szymanowski (spr. schü-), Waclaw, poln.Schriftsteller, geb. 1821 zu Warschau, nach absolvierten StudienFinanzbeamter, seit 1867 Redakteur des verbreitetsten polnischenLokalblattes: "Kurjer warszawski"; starb 21. Dez. 1886. Er schriebdie Dramen: "Salomon i Sedziwoj", "Dzieje serca"("Herzensgeschichte"), "Matka" ("Die Mutter"), "Ostatnie chwileKopernika" ("Die letzten Augenblicke des Kopernikus"), "Ostatniapróba" ("Die letzte Probe", 1880) etc.; ferner dieDichtungen : "Timur Leng" (1872), "Gawedy ("Erzählungen") und"Satyry" ("Satiren", 1874) etc.

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T - Tabak.

T.

T (te) t, lat. T, t, der harte oder tonlose dentaleVerschlußlaut. Die Lautphysiologie zeigt, daß er aufvier verschiedene Arten gebildet werden kann. Von diesen ist dassogen. alveolare t besonders in Norddeutschland üblich; derVerschluß wird hier dadurch hervorgebracht, daß man denvordern Teil der Zunge an das hintere Zahnfleisch (Alveolen) derOberzähne anlegt. Dagegen wird das in Süddeutschland(besonders im z) vorherrschende dorsale t dadurch hervorgebracht,daß man den vordern Teil des Zungenrückens (Dorsum) demGaumen nähert, während die Zungenspitze herabhängt.Außerdem pflegt in der norddeutschen Aussprache ein leiserHauch dem t zu folgen. Das Sanskritalphabet hat ein besonderesZeichen für das cerebrale t, das dadurch entsteht, daßman den vordern Zungensaum stark in die Höhe biegt und demGaumen nähert; ganz ebenso wird das gewöhnliche t desEnglischen ausgesprochen. Das hochdeutsche t geht, geschichtlichbetrachtet, vermöge der Lautverschiebung (s. d.) auf einälteres d zurück, das in den übrigen germanischenSprachen noch geblieben ist; man vergleiche z. B. unser toll mitenglisch dull. plattdeutsch doll. Das altgermanische d geht aberseinerseits auf ein aspiriertes d zurück, das sich z. B. imSanskrit als dh, im Griechischen als th zeigt; so finden wirfür das griechische ther im Gotischen dius, im Englischendeer, während im Hochdeutschen aus dem d wieder ein t gewordenist: Tier; gotisch ga-daursan, "wagen", englisch to dare,heißt im Sanskrit dharsh, im Griechischen tharsein. Das thist im Englischen ein gelispelter Laut, der zur Klasse derReibelaute gehört, ebenso wie das th der Neugriechen, das c ingewissen spanischen Wörtern. Früher, in deralthochdeutschen Periode, existierte dieser oder ein ähnlicherLaut auch in der deutschen Sprache; da derselbe aber längstverschollen ist und das th jetzt überall wie t ausgesprochenwird, so ist es wenigstens in deutschen Wörtern ganzüberflüssig geworden und wirkt nur störend. Es sinddaher Schreibungen wie Heimath, Monath mit Recht in Abnahmegekommen; doch ist, obwohl namentlich J. Grimm und andre deutscheAltertumsforscher einen Vernichtungskrieg gegen das theröffneten, dasselbe so festgewurzelt, daß selbst diereformatorische neue Orthographie es nicht ganz beseitigt. Siebehält es (außer in Fremdwörtern, wie Katheder,Theater, Thee) bei in Silben, die nicht schon sonstwie als langkenntlich sind, daher z. B. in Thal, Thor, That, thun; nicht aberin Teil, Tier, Mut, Turm, der Silbe -tum, z. B. in Altertum, undden meisten andern Fällen. Der Buchstabe t stammt von demgriechisch-phönikischen Tau ab.

Abkürzungen. Als Zahlzeichen bedeutet im Griechischen$\tau$' 300, ,$\tau$ 300,000; im Lateinischen T 160, T 160,000. AlsAbkürzung bedeutet T. den römischen Vornamen Titus; imHandel ist T. = Tara; bei Büchercitaten = Tomus (Band); t =Tonne.

T., bei botanischen Namen für Tonrnefort (s. d.).

t. a. = testantibus actis (lat.), wie die Akten bezeugen.

T C, in der internationalen Telegraphie =télégramme comparé (franz.), verglichenesTelegramm.

T. F., in Frankreich früher den Zuchthanssträflingenauf die Schulter eingebrannte Buchstaben, = travail forcé,"Zwangsarbeit"; desgleichen:

T. P. = travaux à perpétuité."lebenslängliche Zwangsarbeit".

T. P. L. = twice past the line (engl.), "zweimal die Linie (denÄquator) passiert", auf den Etiketten mancher Weine.

t. s. = tasto solo (s. d.).

t. s. V. p. = tournez, s'il vous plaît! (franz.), "wendenSie gefälligst (das Blatt) um!"

Ta, in der Chemie Zeichen für Tantal.

Ta, Gewicht, s. Pikul.

Taaffe, Eduard, Graf, österreich. Staatsmann, geb.24. Febr. 1833 zu Prag aus irischem Geschlecht, Sohn des Ministersvon 1848, sodann Präsidenten des obersten Gerichtshofs, GrafenLudwig Patrick T. (geb. 23. Dez. 1791, gest. 21. Dez. 1855), wardmit dem jetzigen Kaiser erzogen, trat 1857 in den Staatsdienst unddurchlief sehr schnell die Stufen der Beamtenlaufbahn. 1861 nochStatthaltereisekretär, ward T. Ende 1861 Statthaltereirat undVorsitzender der Kreisbehörde in Prag. Im April 1863 wurde erzum Landeschef im Herzogtum Salzburg, im Januar 1867 zumStatthalter in Oberösterreich, 7. März d. J. nachBelcredis Sturz zum Minister der innern Angelegenheiten ernannt. T.hatte bereits 1865-66 dem Landtag Böhmens als Abgeordneterangehört und damals zur verfassungstreuen Partei gestanden;Ende März 1867 wählte ihn der fideikommissarischeGrundbesitz Böhmens zu seinem Vertreter im Landtag, und imApril wurde er Mitglied des Reichsrats. Als es sich im Dezember1867 darum handelte, für die Länder diesseit der Leithaein parlamentarisches Ministerium zu berufen, wurde T. Minister derLandesverteidigung und öffentlichen Sicherheit sowieStellvertreter des Ministerpräsidenten Carlos Auersperg. Alsdieser im Herbst 1869 zurücktrat, war T. bis 15. Jan. 1870Ministerpräsident. Vom 12. April 1870 bis 7. Febr. 1871 war erwieder Minister des Innern und wurde darauf zum Statthalter vonTirol ernannt. Nach dem Rücktritt des Ministeriums Auerspergwurde T. im Februar 1879 Minister des Innern und 12. Aug.Ministerpräsident und bezeichnete 5. Dez. die "Versöhnungder Nationalitäten" als sein Ziel. Nachdem sein Versuch, eineMittelpartei zu bilden, gescheitert war, stützte er sich ganzauf die Ultramontanen, Polen und Tschechen, behauptete sich zwartrotz mancher Ministerwechsel, mußte aber seinenAnhängern wichtige Zugeständnisse in der Sprachenfrage,in materiellen Punkten und in der Volksschulsache machen, wodurcher die liberalen Deutschen gegen sich erbitterte, ohne doch dieslawischen Ansprüche zu befriedigen.

Taasinge (Thorseng), dän. Insel,südöstlich von Fünen, Amt Svendborg, 69 qkm (1,25QM.) groß mit (1880) 4529 Einw. und dem Flecken Troense.

Tabagie (franz., spr. -schih). Kneipe.

Tabago, Insel, s. Tobago.

Tabagorohre, s. Bactris und Cocos, S. 194.

Tabak (Nicotiana Tourn.), Gattung aus der Familie derSolanaceen, ein-, seltener mehrjährige, häufigdrüsenhaarige, klebrige Kräuter, bisweilen halbstrauchig,selten strauch- oder baumartig, mit einfachen, ganzrandigen, seltenbuchtigen Blättern, endständigen Blütentrauben oderRispen und trockner, zweifächeriger, vom bleibenden Kelchumgebener Kapsel mit zahlreichen sehr kleinen Samen. Etwa 50, bisauf wenige australische und polynesische, in Amerika heimischeArten. Bauerntabak (N. rustica L.), einjährig, 60-120 cm hoch,drüsig kurz behaart, klebrig, mit mehr oder wenigerverästeltem Stengel,

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Tabak (Anbau, Handelssorten).

eiförmigen, oben sitzenden, unten gestielten, geripptenBlättern, grünlichgelben Blüten inendständigen, gedrängten Rispen und fast kugeligenKapseln, in Mexiko und Südamerika, wird bei uns seltenergebaut, im Orient aber ausschließlich und liefert dentürkischen T. und Latakia. Gemeiner, virginischer T. (N.Tabacum L., s. Tafel "Genußmittelpflanzen"), einjährig,1-2 m hoch, drüsig kurz behaart, klebrig, mit sitzenden (dieuntern halbstengelumfassend, herablaufend), länglichlanzettförmigen, lang zugespitzten Blättern, inendständiger, ausgebreiteter Rispe stehenden,langröhrigen, hellroten Blüten und eiförmigenKapseln, in Südamerika, wird in den gemäßigten undsubtropischen Klimaten aller Erdteile kultiviert. Dergroßblätterige Marylandtabak (N. macrophylla Metzg.)unterscheidet sich von letzterer Art durch breitere, stumpfe, amGrund geöhrte, sitzende oder geflügelt gestielteBlätter und durch den gedrungenern Blütenstand, ist abervielleicht nur eine Varietät derselben. Der T. gedeiht imallgemeinen noch, wo der Winterweizen im ersten Dritteil des MonatsAugust reif wird; guter T. fordert aber ein Weinklima, und diefeinsten Sorten werden zwischen 15 und 35° gebaut. DerNormalboden für den T. ist ein kalkhaltiger oder gemergelterLehm der Sandkonstitution, welcher leicht erwärmbar undhumushaltig ist. Auch milder Kalkmergelboden paßt nochfür den T., muß aber recht warm liegen. Dem T. gehtKlee, Luzerne, eine beliebige grün untergebrachte Frucht odereine Hackfrucht voran; er folgt zwei und mehrere Jahre auf sichselbst und gibt sogar im zweiten oder dritten Jahr ein feineresProdukt als im ersten. Der T. entnimmt seinem Standort bedeutendeMengen Kali, leidet aber durch Chlorverbindungen. FürPfeifengut und Deckblätter wirkt Gründüngung oderuntergebrachter Klee mit Rindermistdüngung im Herbst amgünstigsten, und im Spätherbst gibt man eine tiefeFurche. Auf sandreichem Boden wirkt eine Auffuhr von Modervortrefflich. Kurz vor der Bestellung erhält das Landgartenartige Bearbeitung. Die jungen Pflanzen erzieht man inMistbeeten oder in Kasten mit eingeschlagenen Pfählen(Kutschen); man säet im März, begießtfleißig, schützt die Pflanzen durch Strohdecken vorFrost, lichtet die Saat zur Zeit der Baumblüte, verpflanzt diekräftigsten Pflänzchen 2,5-5 cm weit mit Erdballen inGartenbeete, schützt sie auch hier durch Strohdecken vorNachtfrösten und bringt sie Ende Mai oder mit der erstenJunihälfte mit 6-7 Blättern auf den Acker. Man stellt sie60 cm weit voneinander in 60 cm weit entfernten Reihen undläßt nach je zwei Reihen einen Weg. Sobald die Pflanzenangegangen sind, werden sie behackt, beim zweiten Behacken auchbehäufelt und, wenn sich die Blütenrispe entwickeln will,geköpft, so daß je nach der Varietät 8-12Blätter stehen bleiben. Später entfernt man auch die ausden Blattwinkeln entspringenden Seitentriebe (Geizen). Bei derersten Behackung gräbt man zwischen je vier PflanzenLöcher und gießt mit Wasser verdünnte und mit Guanogemengte Jauche hinein. Man kann statt dessen auch im FrühjahrMist einbringen, doch gibt die Jauche stets ein feineres Produkt.Wenn der T. etwa 90 Tage auf dem Acker gestanden hat, sind dieBlätter reif; sie werden matt, gelbfleckig, klebrig undbekommen einen starken Geruch. In diesem Zustand erntet man denfür Deckblätter bestimmten T., Pfeifengut aber erst, wenndie Blätter anfangen, ihre Ränder einzurollen. Manverliert dadurch an Gewicht, aber das Produkt wird feiner. Bei derErnte bricht man zuerst die untersten Blätter(Sandblätter), dann die folgenden (Erdblätter) undzuletzt als Haupternte die übrigen, welche die besten sind.Bei gutem Wetter knickt man die Blätter nur ein und löstsie am folgenden Tage ganz ab. Man trocknet sie in einem luftigenRaum auf Stangengerüsten, indem man sie auf Ruten anspilltoder an Bindfaden auffädelt, und läßt sie wochen-und monatelang hängen. Das Ernteverfahren variiertübrigens mehrfach, und in Amerika nimmt man die ganzenPflanzen vom Feld ab, nachdem man sie einige Tage vorher so weitangehauen hat, daß sie sich umlegen, und hängt sie mitden Blättern zum Trocknen auf. Der Ertrag schwankt zwischen900-2000 kg pro Hektar. Behandelt man den Geiz wie die Haupternte,so gibt auch jener noch einen Ertrag, freilich von geringerQualität. Die geernteten Blätter bindet man in kleineBündel, trocknet sie an der Luft und unterwirft sie dann einemGärungsprozeß, indem man sie in lange, frei stehendeHaufen von 1,25-1,5 m Breite und Höhe aufschichtet(Brühhaufensetzen, Aufstocken, Lagern) und nach eingetretenerhinreichender Erwärmung der Haufen umschlägt, sodaß die äußern Schichten nach innen zu liegenkommen. Diese Arbeit wird so oft wiederholt, bis die Blättervollständig eingeschrumpft sind und eine mehr oder wenigerdunkelbraune Farbe angenommen haben. Dann setzt man die Bündelzu sogen. Trockenbänken auf und lagert sie ingrößern Haufen. In der Pfalz, welche viele Blätterals Zigarrendeckblatt versendet, streicht man diese beigehörigem Feuchtigkeitsgrad sorgfältig glatt, schichtetsie zu kleinen Stößen auf und preßt diese. Diefeinern Sorten werden auch entrippt, indem man die beidenBlatthälften von der dicken Mittelrippe abzieht. Die Rippenselbst dienen zu Schnupftabak oder, zwischen Stahlwalzen flachgepreßt, zu Zigarreneinlagen oder billigem Rauchtabak.

Handelssorten. Wirkung des Tabaksgenusses. Die Handelssortensind meist nach ihren Produktionsländern benannt; diewichtigsten sind etwa folgende: 1) Südamerikanischer T. a)Varinas (Kanaster) aus den Provinzen Varinas, Merida, Margaritaetc. der Republik Venezuela, kommt in 7-8 kg schweren, 4-5 cmdicken, gesponnenen Rollen in Körben aus gespaltenem Rohr(canastra, daher der Name) in den Handel; er ist äußerstmild, mit feinem, weichem, kastanienbraunem Blatt und bildet denfeinsten Rauchtabak. Die besten Rollen bilden den Muffkanaster; b)Orinokokanaster, sehr stark; c) Ori-nokokanasterblätter; d)Cumanátabak, dem Varinas gleichstehend; e)Cumaná-Andouillen oder Karotten; f) brasilischer T. inRollen, Zigarren und Zigarretten, gegenwärtig ziemlich beliebtund stark eingeführt; g) Paraguaytabak, zum Teil sehr stark;h) Columbiatabak aus Neugranada und den angrenzenden Ländern:Carmen, Giron-Palmyra, Ambalema, meist Zigarrentabak, dem Varinasnahestehend; i) mexikanischer T., erst in neuester Zeit in dengroßen Markt eingetreten. 2) Westindischer T. a) Cuba oderHavana, die vorzüglichste aller Sorten, deren ausgesuchtesteund teuerste Blätter Cabanos heißen. Der Havanatabakwird größtenteils an Ort und Stelle auf Zigarrenverarbeitet; es kommen aber auch Blätter in Bündeln undSeronen nach Europa, um namentlich als Deckblatt benutzt zu werden,und fette, schwere Sorten, aus denen man in Spanien den Spanioldarstellt. Der als Cuba in den Handel kommende T. ist inverschiedenen Gegenden der Insel gewachsen, kommt zum Teil demHavana sehr nahe und dient meist zu Zigarren. Von den verschiedenenSpezialsorten kommt am häufigsten Yara vor; b) Do-

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Tabak (chemische Bestandteile, Fabrikation des Rauchtabaksetc.).

mingo, von der gleichnamigen Insel, Tortuga und Samane, dient zuZigarren und Rauchtabak; c) Portorico, von der gleichnamigen Insel,nächst Varinas der beste Rauchtabak, wird an Ort und Stelleauch viel auf Zigarren verarbeitet. 3) Nordamerikanischer T. a)Maryland, allgemein beliebter Rauchtabak, fein, gelb, vonangenehmem, süßem Geruch; die beste Sorte ist derBaytabak. Ähnlich ist der Ohio-tabak. b) Virginia, lebhaftbraun, teils fette, schwere Sorten für feinen Schnupftabak,teils leichtere Blätter für mittlern Rauchtabak; c)Kentucky, zu Zigarren, Rauch- und Schnupftabak benutzt; ihmschließen sich an die Tabake aus Tennessee und Missouri.Seedleaf wird in Pennsylvanien, Connecticut und Ohio aus Samen vonCuba erzogen und dient zu Zigarren. Florida gibt einvorzügliches, sehr schön geflecktes Deckblatt. 4)Asiatischer T. a) Manila, sehr gute Ware, meist an Ort und Stellezu Zigarren verarbeitet; b) Java, von feinem Aroma, meist zuZigarren verarbeitet; chinesische, japanische und indische Tabakesind bei uns keine Marktartikel. 5) Europäischer T. Frankreichproduziert in 18 Departements T., welcher zu Schnupf- undordinären Rauchtabaken benutzt wird. Auch Algerien liefertgroße Quantitäten; die Produktion wird aber im Landselbst verbraucht. Österreich-Ungarn baut T. in Tirol,Galizien, namentlich aber in Ungarn am linken Ufer der Theiß.Der ungarische T. hat ein dünnes, weiches, gelbes Blatt undeignet sich besonders zu Rauch- und Schnupftabak, wird aber zumTeil auch zu Zigarren benutzt. Vom holländischen T. ist derAmersfoorter der beste und besonders zur Fabrikation vonSchnupftabak gesucht; das belgische Gewächs steht demholländischen nach. In Deutschland ist diehauptsächlichste Kulturgegend die Pfalz, wo man namentlichZigarrentabak baut, der nicht nur an inländische, Bremer undHamburger Fabriken abgesetzt, sondern auch nach Amerika exportiertwird. Ebenso beziehen Frankreich, Holland, die Schweiz etc.deutschen T. Italien, Spanien, Portugal haben Tabaksmonopol undkommen für den europäischen Handel nicht in Betracht.England baut gar keinen T. Der türkische T. verdankt denklimatischen und Bodenver-hältnissen, der sorgfältigenKultur und Behandlung die vorzügliche Beschaffenheit, welcheihn mit dem Havana rivalisieren läßt. Alle Provinzenproduzieren T., den besten aber Makedonien in den Thälern vonKarasu, Wardar und Krunea. Die hier erzogenen feinen Sorten: Druma,Pravista, Demirli, Yenidje, Sarishaban, Ginbeck etc. sind in lange,dünne Fäden geschnitten, schön goldbraun,aromatisch, kräftig, trocken und schmackhaft zugleich. DieTabake der asiatischen Türkei sind schwerer als dierumelischen und stärker; von den syrischen Sorten ist derLatakia und Abou Reha aus der Provinz Saida grob geschnitten, braunbis schwarz, stark fermentiert. Als türkischer T. gehtübrigens auch viel griechisches und russisches Produkt.

Tabaksblätter riechen narkotisch, schmecken widerlich undscharf bitter; sie enthalten 16-27 Proz. anorganische Stoffe,welche zu 1/4-1/3 aus Kalk, oft bis zu 30 Proz. aus Kali bestehen,auch reich an Phosphorsäure und Magnesia sind. DerStickstoffgehalt beträgt 4,5 Proz. Die Basen findgroßenteils an organische Säuren gebunden, und dieleichte Einäscherung der Blätter, also die richtigeBrennbarkeit des Rauchtabaks, ist abhängig von der Gegenwartorganischer Kalisalze. Schlecht brennender T. liefert eine anKaliumsulfat und Chlorkalium reiche, aber von Kaliumcarbonat freieAsche. Von großem Einfluß auf die Brennbarkeit desTabaks ist auch der Gehalt an Salpetersäure, welcher in derHauptrippe 6 Proz., im übrigen Blatt 2 Proz. betragen kann.Der wirksame Bestandteil der Tabaksblätter ist das Nikotin (s.d.), von welchem sie wechselnde Mengen enthalten, ohne daßder Gehalt in erkennbarem Verhältnis zur Güte des Tabaksstände. Geringere Tabakssorten pflegen reicher an Nikotin zusein; doch ist dessen Menge auch von der Zubereitung abhängig,welcher der T. unterworfen wird. Guter lufttrockner Pfälzer T.enthält 1,5-2,6 Proz. Nikotin. Andre Bestandteile des Tabakssind: Nikotianin (s. d.), Äpfel-, Zitronensäure, Harz,Gummi, Eiweiß etc. Trockne und gegorne Blätter enthaltenals Gärungsprodukte Ammoniak, auch Trimethylamin undFermentöle. Beim Rauchen würden sich aus der Cellulose,dem Gummi, Eiweiß etc. unangenehm riechende Substanzenentwickeln; man entfernt daher die an Cellulose reiche Mittelrippeund sucht durch den Gärungsprozeß und durch Beizen dieübrigen unwillkommenen Bestandteile der Blätter zuentfernen. Die bei diesen Operationen sich bildendenFermentöle tragen wohl zum Aroma des Tabaks wesentlich bei.Bei dem Verglimmen der Blätter entstehen Ammoniak,flüchtige Basen, empyreumatische Stoffe, Blausäure,Schwefelwasserstoff, flüchtige Säuren, Kohlenoxyd,Kohlensäure etc. Das Nikotin wird vollständig zersetzt;wohl aber geht Nikotianin in den Tabaksrauch über, und diesemsowie den Basen (Pyridin, Picolin, Lutidin, Collidin etc.) und demKohlenoxyd sind die Wirkungen desselben zuzuschreiben. Die je nachAbstammung, Boden- und klimatischen Verhältnissen und nach derBehandlung milden oder stärkern, angenehm aromatischen oderscharfen, rauhen Blätter werden für den Handelsorgfältig sortiert und entsprechend gemischt. GeringereSorten werden oft durch jahrelanges Lagern, wobei sie einerleichten Gärung unterliegen, verbessert; bisweilen laugt mansie auch mit Wasser, Kalkwasser, Ammoniak, Aschenlauge oder mitSalzsäure angesäuertem Wasser aus oder röstet sie,indem man die ganzen oder zerschnittenen Blätter (oft nach demBe-sprengen mit Salzsäure oder Essig) auf mäßigerhitzten eisernen Platten behandelt und dabei auch wohl mit denHänden rollt (Kraustabak). Am häusigsten unterwirft manden T. einer Gärung, zu welchem Zweck man ihn mitSiruplösung oder Fruchtsäften besprengt, auch wohl Hefe,Weinstein, Salz etc. zusetzt und in dieGärungsgefäße einpreßt. Durch Ausbreiten ander Luft, auch wohl durch Rösten wird der Prozeßunterbrochen, worauf man die Blätter mit gewürzhaftenBrühen besprengt, welchen man auch Salpeter zusetzt, um dieBrennbarkeit zu erhöhen. Zur Darstellung des Rauchtabakswerden die so weit vorbereiteten Blätter sortiert, entripptoder zwischen Walzen geglättet, mit Saucen, deren Bestandteile(Sirup, Salze, Gewürze), fast in jeder Fabrik anders gemischtsind, besprengt oder darin eingetaucht, gefärbt und auf derSpinnmühle oder Spinnmaschine ähnlich wie ein Seilgesponnen oder geschnitten und dann getrocknet oder geröstet.Über die Darstellung der Zigarren s.d. -Schnupftabak bereitetman hauptsächlich aus Virginiatabak, Amersfoorter und andernholländischen Sorten und benutzt auch wohl polnischen,ungarischen und Pfälzer T. Die Blätter werden sortiert,entrippt, mit Saucen gebeizt und der Gärung unterworfen.Überhaupt ist hier die Anwendung von Beizen und Saucen vongrößter Wichtigkeit, und der Rohstoff wird durch dieAnwendung derselben und durch die Gärung viel eindringlicherverändert als beim Rauchtabak. Nach der Gärung

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Tabak (Wirkung des Tabaksgenusses, Produktion undVerbrauch).

werden die Blätter entweder gleich zerschnitten, gestampft,gemahlen, gesiebt, oder vorher in Karotten geformt. Letztere sind30cm und darüber lange, nach beiden Enden verjüngteRollen von gebeizten Blättern in einer festen Umwickelung vonBindfaden; man läßt sie längere Zeit lagern underzielt dadurch eine eigentümliche Nachgärung, welchewesentlich zur Verbesserung des Schnupftabaks beiträgt. Um diekostspielige Arbeit des Karottierens zu ersparen, preßt mandie Blätter auch nur in Kisten zusammen und läßtsie darin gären. Zum Zerreiben der Karotte dient dieRapiermaschine, welche ein gröbliches Pulver, Rapé,liefert. Man benutzt aber auch Stampfen, und die mehlförmigenSorten werden nach dem Trocknen auf Tabaksmühlen erzeugt.Kautabak wird in der Regel aus schwerstem Virginiatabakdargestellt, den man nach dem Fermentieren und nach dem Behandelnmit verschiedenen Saucen in fingerdicke Rollen spinnt undpreßt.

Die Wirkung der unveränderten Tabaksblätter beruht aufdem Gehalt an Nikotin; große Dosen töten unterklonischen Zuckungen, bei enormen Dosen tritt der Tod sehr schnellohne Konvulsionen unter allgemeiner hochgradigsterMuskelschwäche und Bewegungslosigkett ein. In den zubereitetenTabaksblättern ist der Nikotingehalt oft auf ein Minimumvermindert, und beim Rauchen kommt das Nikotin nicht oder kaum inBetracht. Die ersten Versuche des Tabaksrauchens haben in der RegelEkel, Übelkeit, Angst, Beklommenheit, kalten Schweiß,Muskelzittern, Schwindel, Neigung zur Ohnmacht, nicht seltenErbrechen und Diarrhöe zur Folge. Wer sich an dasTabaksrauchen gewöhnt hat, empfindet dabei eine angenehmeErregung, ein Gefühl allgemeiner Behaglichkeit, unter dessenEinfluß die Funktionen des Verdauungsapparats befördertwerden. Gleichwohl widerstehen Tabaksraucher dem Hunger beffer alsNichtraucher. Auch scheint mäßiges Rauchen ohne jedenschädlichen Einfluß zu sein. Anhaltendes starkes Rauchenstört dagegen die Verdauung, mindert den Appetit, versetzt dieSchleimhaut des Rachens, auch wohl die des Kehlkopfs, in denZustand eines chronischen Katarrhs und erzeugt in geschlossenenRäumen leichte chronische Augenentzündung. Bisweilentreten aber auch schwere Symptome auf, welche indes fast stets beigänzlicher Enthaltsamkeit wieder verschwinden. Das Schnupfenbringt weniger Allgemeinerscheinungen hervor, nurbeeinträchtigt es meist den Geruchs- und Geschmackssinn underzeugt auch chronischen Rachenkatarrh. Dagegen werden, namentlichaus Nordamerika, heftige Krankheitssymptome als Folge desTabakskauens geschildert, vor allen hochgradigeVerdauungsstörungen und vielfach psychische Alterationen,tiefe geistige Verstimmung und Willensschwäche. InTabaksfabriken haben sich keine Störungen bei den Arbeiterngezeigt, welche als Folge des Tabaks aufzufassen wären.

Produktion und Verbranch.

Die außereuropäischen Tabaksexporte betrugen in denJahren 1883-85 pro Jahr:

Kilogr. Kilogr.

Vereinigte Staaten 109 193 700 Kolumbien .... 2 250 000

Türkei. .......... 32 000 000 Puerto Rico ... 1 757 900

Brasilien .... .... 23 485 000 China ......... 1 557 900

Niederl.-Ostindien.. 19 878 900 Japan. ........ 1 531 100

Philippinen........ 7 452 800 Paraguay. ..... 1 413 500

Britisch-Ostindien 7 259 300 Peru ........ 400 000

Cuba .............. 5 909 900 Mexiko......... 350 000

San Domingo........ 4 832 600 Venezuela...... 286 000

Algerien........... 4 092 700 ---------------

Persien............ 2 600 000 Zusammen: 226 251 300

Meyers Konv -Lexikon, 4. Aufl., Xv. Bd.

Berechnet man die Differenz zwischen Produktion und Exportfnr die Vereinigten Staaten mit nur 100 Mill. kg, fürJapan mit 40, für Britisch-Ostindien mit 160, fürAlgerien mit 4 Mill. kg, so ergibt dies, ohne Persien zuberücksichtigen, eine Jahreserzeugung von 530 Mill. kg, welcheaber der Wirklichkeit bei weitem nicht entspricht, da sie denLokalverbrauch aller in dieser Berechnung nicht genanntenLänder unberücksichtigt läßt. Dieeuropäische Tabaksproduktion (Rohtabak) betrug:

Kilogr.

Österreich-Ungarn . . . 1885 80 752 900

Rußland ...... 1885 51 024 000

Deutsches Reich .... 1884-85 47 193 000

Frankreich ...... 1884 16 262 800

Griechenland ..... 1883 7 680 000

Italien ....... 1884 6 017 900

Belgien ....... 1884 4 713 800

Rumänien ...... Mittelernte 3 000 000

Niederlande ..... 1884 2 976 500

Bulgarien ...... Schätzung 2 320 000

Schweiz ....... 1885 2 000 000

Serbien ....... Schätzung 1 500 000

Bosnien-Herzegowina. . Mittelernte 600 000

Finnland . . . . . . Mittelernte 200 000

------------------------------- Zusammen: 226 240 900

Hiernach ergibt sich eine Gesamtproduktion von mindestens756 Mill. kg ohne Berechnung des eignen Konsums desgrößten Teils der orientalischen, westindischen,süd- und mittelamerikanischen und afrikanischenVölkerschaften. Der Tabaksverbrauch pro Kopf und Jahr inKilogrammen beträgt: Vereinigte Staaten 2,3, Niederlande 2,9,Belgien 2,0, Schweiz 2,2, Österreich - Ungarn 2,1, Deutschland1,5, Schwe-den 0,8, Großbritannien 0,6, Norwegen 1,15,Rußland 0,6(?), Frankreich 0,95, Italien 0,6, Dänemark1,6. In Deutschland wird am meisten T. in der oberrheinischen Ebeneund den unmittelbar daran grenzenden Hügelgegenden gebaut. Aufdieses Gebiet, welchem die Tabaksländereien der bayrischenPfalz, Badens, Hessens und Elsaß-Lothringens angehören,entfallen 70 Proz. des ganzen deutschen Tabakslandes. Als einzelneTeile desselben lassen sich wiederum die badische und bayrischePfalz mit dem südlichen Teil der hessischen ProvinzStarkenburg als die hauptsächlichste Tabaksgegend Deutschlands(40,8 Proz.), ferner der Tabaksbezirk des badischen Oberlandes,(13,3 Proz.) und endlich westlich von diesem jenseit des Rheins daselsässische Tabaksland (14,4 Proz. des gesamten deutschenTabakslandes) unterscheiden. Von den übrigen 30 Proz. kommenauf das rechtsrheinische Bayern, das noch in der Gegend vonNürnberg und Hof einen Tabaksbezirk von einigem Umfang hat,3,1 Proz., auf das Königreich Württemberg 0,9 Proz. undauf das ganze nördlich von Mainz gelegene Deutschland wenigmehr als ein Viertel des deutschen Tabakslandes. Hier hat derTabaksbau nur in der Ukermark und deren nördlicher undöstlicher Fortsetzung gegen das Haff und die Oder sowie an derobern Oder in der Gegend von Breslau und in der Weichselniederungeinige Bedeutung ; in allen übrigen Gegenden tritt dieseKultur nur sporadisch auf. Das ukermärkische Tabaksland, dasbedeutendste in Norddeutschland, umfaßt 12,3 Proz. desgesamten deutschen Tabakslandes. 1871 brachten 22,673 Hektar717,907 Ztr. in trocknen Blättern, 1887 wurden auf

21,465 Hektar 817,386 Ztr. geerntet (1904 kg auf

1 Hektar), davon entfallen auf Baden 305,548, Preu-

ßen 221,424, Bayern 133,590, Elsaß -Lothringen100,912, Hessen 28,436, Württemberg 12,128 Ztr. 1888 waren nur18,130 Hektar mit T. bepflanzt. Die

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Tabakkampfer - Tabakspapier.

Einfuhr betrug 1887 von T. 41,915, von Tabaksfabrikaten 1249,die Ausfuhr 920, resp. 1398 Ton.

Geschichtliches.

Über das Alter des Tabaksrauchens in China, wo manNicotiana chinensis Fisch. benutzt, ist nichts Sicheres bekannt.Nach Europa gelangte die erste Nachricht vom T. durch Kolumbus,welcher 1492 die Eingebornen von Guanahani cylinderförmigeRollen von Tabaksblättern, mit einem Maisblatt umwickelt,rauchen sah. Fra Romano Pane, den Kolumbus auf Haitizurückgelassen hatte, machte 1496 Mitteilungen über dieTabakspflanze an Petrus Martyr, und durch diesen gelangte dieselbe1511 nach Europa. Die Eingebornen auf Haiti rauchten den T. alszusammengerollte Blätter oder zerschnitten aus langenRöhren. Diese, nach andern die Maisblattrollen, sollen Tabacosgeheißen haben, nach andern soll der Name T. von der InselTobago oder von der Provinz Tabasco in Mittelamerikaherrühren. Eine genaue Beschreibung der Pflanze gab 1525Gonzalo Hernandez de Oviedo y Valdes, Statthalter von San Domingo.Später pries der spanische Arzt und Botaniker Nicolas Menardesin seinem 1571 zu Sevilla erschienenen Buch über Westindienden T. als Heilpflanze, und nun ward derselbe als Arznei- undWunderkraut kultiviert. So auch von Jean Nicot, französischemGesandten in Portugal, der 1560 Tabakssamen nach Paris schickte;ihm zu Ehren benannte Linne die Gattung. Kurze Zeit nachher erhieltauch Konrad Geßner indirekt von Occo in Augsburg das Krautund erkannte es durch Vergleichung mit einer Abbildung, welche ihmAretius in Bern nach von letzterm selbst aus Samen gezogenenPflanzen entworfen hatte. Geßner machte in Deutschland zuerstauf den T. und seine medizinischen Eigenschaften aufmerksam. DasTabaksschnupfen wurde in Frankreich unter Franz II. üblich, zuSevilla in Spanien entstand gleichzeitig eine Schnupftabaksfabrik,welche den Spansol lieferte. l636 führten spanische Geistlichedas Schnupfen in Rom ein, gegen welches Urban VIII. eine Bulleerließ, die erst 1724 wieder aufgehoben wurde. 1657 gabVenedig Fabrikation und Verschleiß des Schnupftabaks inPacht. Das Tabaksrauchen wurde durch spanische Matrosen undenglische Kolonisten nach Europa importiert und zwar durch erstereschon um die Mitte des 16. Jahrh. nach Spanien aus Westindien,durch letztere 1586 nach England aus Virginia. In Nordamerikascheint das Rauchen ebenfalls seit uralter Zeit gebräuchlichgewesen zu sein; bei den Indianern galt es als ein der Sonne unddem großen Geist gebrachtes Opfer; als Raleigh Virginiaentdeckte, war der Tabaksbau bei den dortigen Eingebornen ganzallgemein verbreitet. Gegen Ende des 16. Jahrh. war das Rauchen inSpanien, Portugal, England, Holland, 1605 auch in Konstantinopel,Ägypten und Indien bekannt, und weltliche und geistlicheMächte eiferten vergebens gegen die weitere Verbreitungdesselben. 1622 brachten englische und holländische Truppendas Tabaksrauchen nach dem Rhein und Main, von wo es durch denDreißigjährigen Krieg bald in andre Teile Deutschlandsgelangte. Jakob I. von England belegte zuerst den Tabakshandel mithohen Steuern. 1616 wurde der erste T. in Holland gebaut, wenigspäter in England, 1659 in Wasungen, 1676 in Brandenburg und1697 in der Pfalz und in Hessen. Schnupfen und Kauen des Tabakssind europäische Erfindungen. Da man sich anfangs scheute,öffentlich zu rauchen, so entstanden in Frankreich,zunächst in Paris, besondere Lokale, die Tabagies, fürdie Freunde des Tabaks, und in Deutschland wurde dieser Name biszur Mitte des 19. Iahrh. ganz allgemein für öffentlicheLokale gebraucht. Bis 1848 war das Rauchen auf den Straßen inden meisten Ländern Europas verboten. Vgl. Tabakssteuer.

Vgl. Tiedemann, Geschichte des Tabaks (Frankf. 1854); Babo, DerTabaksbau (3. Aufl., Berl. 1882); Nessler, Der T., seineBestandteile etc. (Mannh. 1867); Schmidt, Fabrikation von Schnupf-und Kautabak (Berl. 1870); Fries, Anleitung zum Anbau, zurTrocknung und Fermentation des Tabaks (3. Aufl., Stuttg.1870);Wagner, Handbuch der Tabaks- und Zigarrenfabrikation (5. Aufl.,Weim. 1888); Becker, Die Fabrikation des Tabaks (2. Aufl., Norden1883); Lock, Tobacco; growing, curingand manufacturing (Lond.1886); Fairholt, Tobacco, it's history and associations (das.1875); Fermond, Monographie du tabac (Par. 1857); Knoblauch,Deutschlands Tabaksbau und -Ernte (Berl. 1878); "Statistik desDeutschen Reichs", Bd. 42: "Tabakbau, Tabakfabrikation etc. imDeutschen Reich" (das. 1880); Meyer, Aus der Havanna (5. Aufl.,Norden 1884); Jolly, Etudes hygieniques et medicales sur le tabac(Par. 1865); Derselbe, Le tabac et l'absinthe (das. 1875);Dornblüth, Die chronische Tabaksvergiftung (Leipz. 1878);Hare, The physiological and pathological effects of the use oftobacco (Lond. 1886); Stinde, Das Rauchen (2. Aufl., Berl. 1887);Keibel, Wie sollen wir rauchen? (das.1887); "DeutscheTabakszeitung" (Berl., seit 1868); Bragge, Bibliotheca nicotiana(Lond. 1880).

Tabakkampfer, s. Nikotianin.

Tabaksblei, s. Bleiblech.

Tabakskollegium, Abendgesellschaft, welche KönigFriedrich Wilhelm I. von Preußen fast täglich abends zuBerlin, Potsdam oder Wusterhausen um sich versammelte, und zu derdie Vertrauten des Königs (Leopold von Dessau, Grumbkow,Seckendorff), Minister, Stabsoffiziere, Gelehrte (s. Gundling 2)und durchreisende Standespersonen gezogen wurden. Die Erholung wardem König um so erwünschter, als er in diesem vertrautenKreise sich völlig gehen lassen, seine eigne Meinung freiaussprechen zu können und die andrer zu vernehmen glaubte.Alles Zeremoniell war verbannt; niemand durfte aufstehen, wenn derKönig hereintrat. Der König betrachtete sich bloßals Offizier und als unter seinesgleichen. Man rauchte (aus kurzenthönernen Pfeifen), und die, welche nicht rauchten,mußten die Pfeifen wenigstens in den Mund nehmen. Dazu wardDucksteiner Bier aufgetragen; im Nebenzimmer stand für denBedarf kalte Küche. Die Unterhaltung bezog sich aufLektüre von Zeitungen, Bemerkungen über Politik undKriegsgeschichte und Besprechung von Tagesneuigkeiten; auch wurdenmancherlei Späße, bisweilen sehr derber Art, getrieben,namentlich mit Gundling. Von Spielen war nur Schach- und Damenspielgestattet. Der Einfluß, den in diesen Abendgesellschaftennamentlich die von Österreich bestochenen Vertrauten auf denKönig ausübten, der sich arglos ihnen preisgab, machtedieselben selbst für die preußische Geschichte wichtig.Eine Schilderung des Tabakskollegiums liefert die BiographieGundlings in Öttingers "Narrenalmanach" für l846, einedramatische Darstellung Gutzkows "Zopf und Schwert".

Tabaksmonopol, s. Tabakssteuer.

Tabakspapier, ein mit Zusatz von Tabaksstengeln undTabaksrippen hergestelltes Papier, welches als Deckblatt fürZigarren, auch zu Zigarretten benutzt wird; Bleiblech zum Verpackenvon Schnupftabak.

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Tabakspfeife - Tabaksteuer.

Tabakspfeife, Instrument, womit man Tabak raucht. Bei denthönernen oder irdenen Pfeifen bilden Rauchröhre und Kopf(Verbrennungsraum für den Tabak) nur Ein Stück; dieübrigen Pfeifen bestehen aus mehreren Stücken: Spitze(Mundstück aus

Horn, Elfenbein oder Bernstein), Rohr aus Holz, Guttapercha oderbiegsamen Geflechten, Saftsack und Kopf. Die irdenen oderthönernen Tabakspfeifen werden in besondern Fabriken aus einemfeuerfesten, weißen, eisenfreien, seltener farbigen (gelbenoder roten) Thon (Pfeifenthon) gefertigt (s. Thonwaren). Die inUngarn, Serbien, den Ländern der untern Donaugebräuchlichen Thonpfeifen werden aus roten, gelben undschwarzen Pfeifenerden in eigentümlichen Formen mit niedrigem,breitem Kopf gefertigt. Wie für die sogen. holländischenirdenen Pfeifen Gouda der Hauptsitz der Fabrikation ist, so ist erfür die Donauländer Debreczin. Die Produktion derGoudaer, Kölner etc. Brennereien wurde ehedem auf 60 Mill.jährlich veranschlagt, hat aber in neuerer Zeit sehrabgenommen. Viele Pfeifenköpfe werden auch aus Meerschaum (s.d.) und Maserholz (Ulmer Köpfe) geschnitten. Am bedeutendstenist aber die Fabrik-tion der Pfeifenköpfe von Porzellan, derenHauptsitz

der Thüringer Wald ist. Vgl. Tschibuk, Nargileh undTschimin.

Tabakssteuer. Als entbehrliches, aber doch ingroßen Mengen von der erwachsenen arbeitsfähigenBevölkerung verbrauchtes Genußmittel bildet der Tabakein finanziell sehr ergiebiges und geeignetes Mittel

der Besteuerung. Letztere kommt vor in der Form der

1) Handelsbesteuerung, am einfachsten durchgeführt inEngland, wo schon seit 1652 (ebenso für

Irland mit einer Unterbrechung von 1799 bis 1831,

dann für Schottland seit 1782) der Tabaksbau verboten istund die Steuer durch reine Verzollung in Verbindung mit Lizenzenerhoben wird. In Portugal, wo 1664 das Monopol eingeführtworden war, ist heute für die Lizenz zum Tabaksbau eineGebühr zu entrichten. Neue Tabaksfabriken dürfen nachGesetz vom 27. Jan. 1887 nicht mehr errichtet, bestehende nichterweitert werden. Schweden, welches seinen Tabakgrößtenteils aus Rußland bezieht, erhebt nur einenZoll, dagegen keine innere Abgabe. Die von Händlern undFabrikanten erhobenen Lizenzen können überhaupt nur dieBedeutung von Ergänzungssteuern haben, da sie eine Belastungnach der Steuerfähigkeit, bez. dem Geschäftsumfang nichtermöglichen, daher mäßige Sätze nichtüberschreiten dürfen. In andern Ländern bildet derTabakszoll eine Ergänzung der innern Verbrauchssteuer.

2) Die Rohprodukten- od. Pflanzungssteuer (Urproduzentensteuer)trifft die inländischen Erzeugnisse an Rohtabak entweder inder Form der Flächen- oder in der der Gewichtssteuer. DieFlächensteuer wird nach der Größe der mit Tabakbepflanzten Fläche bemessen, wobei auch noch Abstufungen nachder Ertragsfähigkeit des Bodens statthaben können. Im

übrigen nimmt sie keine Rücksicht auf die insbesonderevon Jahr zu Jahr wechselnde Menge und auf Qualität deserzeugten Tabaks. Diese Steuer bestand in Preußen seit 1828,nachdem seit 1819 nach

dem Gewicht besteuert worden war, im Zollverein von

1868 bis 1879. Sie wurde 1879 durch die Gewichtssteuer ersetzt,welche nach dem Gewicht des Tabakserzeugnisses bemessen wird,während die Flächensteuer für kleine Pflanzungen vonweniger als 4 Ar

Flächengehalt als Regel beibehalten wurde. Das zu

erwartende Ergebnis wird an Ort und Stelle vor der

Ernte amtlich eingeschätzt. Später findet amtliche

Nachzählung und Verwiegung statt. In Belgien (1883) wirddie Steuer nach der Pflanzenzahl bemessen, indem nur in weiternGrenzen das Gewicht (drei Abstufungen nach der Bodengüte) inRechnung gezogen wird. Diese Steuer nimmt keine

Rücksicht auf die Qualität und beengt durch ihreKontrollen den Tabaksbau (Kulturzwang, Pflanzung in Reihen undgleichen Abständen, Verbot der Mischung mit andern Pflanzen,Vollendung des Köpfens und

Ausgeizens vor Erhebung der Blätterzahl, Vernichtung allervor der Ernte stattfindenden Abfälle etc.). Flächen- wieGewichtssteuer reizen bei hohen Steuersätzen zurVerschlechterung des versteuerten Rohtabaks durch Beimengungen,gestatten nicht eine richtige Bemessung der Ausfuhrvergütungund bedingen oft lange dauernde Steuervorschüsse.

3) Die Fabrikatsteuer, welche in den Vereinigten Staaten seit1868, in Rußland seit 1877 besteht,

wird nach Gewicht und Form der aus der Fabrik in den Handelübergehenden Fabrikate (Rauch-, Schnupftabak, Zigarren etc.)erhoben. Bei derselben lassen sich Stempelmarken (Banderollen)anwenden, welche der Fabrikant von der Behörde bezieht und anseinen Waren in der Art anbringt, daß sie bei dem Verbrauchzerstört werden müssen, was bestimmte Vorschriftenüber die Verpackung etc. sowie eine scharfe Kontrolle desTabakshandels nötig macht. Die Fabrikatsteuer ermöglichteine wenn auch nicht sehr weit gehende Unterscheidung derQualitäten sowie eine genauere Bemessung derAusfuhrvergütung, dann ist ihre Erhebung dem wirklichenVerbrauch zeitlich nahegerückt. Dagegen beansprucht sielästige und teure, bis zum Tabaksbau sich erstreckendeKontrollen,

begünstigt durch ihre Technik den Großbetrieb undbringt leicht den Tabaksbauer in Abhängigkeit von

letzterm.

4) Die Besteuerung des Tabaks auf dem Weg der Monopolisierungwurde in Frankreich schon 1674 eingeführt, wo sie mit kurzenUnterbrechungen (1719-23 und 1723-30) bis 1791 bestand

und 1810 durch Napoleon I. wieder ins Leben gerufen wurde. DasTabaksmonopol besteht ferner in Österreich-Ungarn und zwar ineinzelnen Landesteilen ob der Enns schon seit 1670, in allenLändern diesseit der Leitha seit 1828 und in der gesamtenMonarchie seit 1851, in Spanien seit 1730, in Mexiko seit

1764, in Italien seit 1865 (ursprünglich verpachtet,seit

1884 von der Regierung in eignen Betrieb genommen),

Rumänien seit 1865 in der Türkei seit 1884(Verpachtung), in Serbien seit 1885 (ebenfalls mit Verpachtung aneine Gesellschaft). Diese Besteuerungsform kommt nur als vollesTabaksmonopol vor, d. h. der Staat behält sich dasausschließliche Recht des Ankaufs heimischen Rohtabaks, derEinfuhr fremder Tabake und das der inländischenTabaksfabrikation vor, um durch Vermittelung von konzessioniertenVerkäufern den Tabak zu Preisen zu verkaufen, welche einenÜberschuß über die Kosten als Steuer ergeben. DieEinfuhr ausländischer Tabaksfabrikate ist in Frankreich ganzverboten, in Österreich nur ausnahmsweise gegen Lizenzengestattet. Der Tabaksbau wird im Inland nur in bestimmtenAnbaubezirken gegen Staatserlaubnis und unter Kontrolle gestattet,die Erzeugnisse desselben sind gegen alljährlich von derVerwaltung festgesetzte Preise an dieselbe abzuliefern. Fürund gegen das Tabaksmonopol lassen sich im wesentlichen dieGründe vorführen, die überhaupt für und widerdie Monopolisierung geltend gemacht werden. Es gestattetKostensparung durch Zentralisierung und Minderung desZwischenhandels (Frankreich hat nur

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Tabaldie - Tabellen.

16 Staatsfabriken mit etwa 18,000 Arbeitern, während inDeutschland die Verarbeitung der doppelten Menge Rohtabaks sich auffast 11,000 selbständige Betriebe mit etwa 110,000beschäftigten Personen verteilt), es erspart Kosten derKontrolle und Erhebung, gewährt Sicherheit gegenFälschung, es ermöglicht, den Steuerfuß derQualität anzupassen und denselben nach Bedarf zu ändern,endlich, und darin besteht seine eigentlich praktische Bedeutung,läßt es die vollständigste Ausbeutung einerergiebigen Steuerquelle zu. Dagegen ist die Monopolisierung mit denSchattenseiten verknüpft, welche dem weniger beweglichenStaatsbetrieb mit seiner büreaukratischen Beamtenwirtschaftüberhaupt anhaften. Insbesondere befürchtet man inDeutschland, es möchte die Staatsgewalt allzusehr alle andernLebenskreise überwuchern. Ob nun diese Übelständeoder jene Vorteile des Monopols überwiegen, diesläßt sich nur von Fall zu Fall beantworten. InDeutschland steht der Monopolisierung vorzüglich der Umstandim Weg, daß hier Industrie und Handel in Tabaken sich lebhaftentwickelt haben und infolgedessen nicht allein die Frage derEntschädigung große Schwierigkeiten bereitet, sondernauch die Änderung in der Steuerform erhebliche wirtschaftlicheUmwälzungen bewirken würde. Das auf den Handel mitRohtabak beschränkte Monopol, bei welchem der Staat alsalleiniger Aufkäufer den Tabak mit einem Preiszuschlag anHändler abgibt, ist noch nirgends zur Durchführunggekommen.

Im Deutschen Reich war in 1000 Mk. der Ertrag

durchschnittlich jährlich der Tabakssteuer desEingangszolls von Tabak der Nettoertrag der Tabaksabgaben im ganzenauf den Kopf

1871-79 1490 14687 15967 0,37

1881-86 9909 29059 38503 0,84

1886-87 11067 36992 47535 1,02

Die Reineinnahme des Staats aus den Tabaksgefällen war inMillionen Mark in

Frankreich . . 1815: 25,7, 1883: 242,8

Österreich . . 1869: 59,2, 1883: 76,5

Ungarn . . . 1869: 22,2, 1884: 37,4

Italien . . . 1877: 63,7, 1883: 86,8

Großbritannien 1842: 72,4, 1883: 181,3

Verein. Staaten 1883: 208,6, 1884: 138,6

Auf den Kopf entfiel 1883, bez. 1884 eine Reineinnahme in

Frankreich . . von 6,95 Mk.

Großbritannien 5,10

Spanien . . . 4,32

Österreich . . . 4,16

Verein. Staaten 4,15

Italien . . . 3,30

Ungarn . . . 2,46

Norwegen 1,59 Mk.

Schweden 0,91

Deutschland . 0,81

Rußland 0,65

Dänemark 0,55

Belgien . 0,34

Holland 0,05

Vgl. Mayr, Das Deutsche Reich und das Tabakmonopol (Stuttg.1878); M. Mohl, Denkschrift für eine Reichstabakregie (das.1878); Felser, Das Tabakmonopol u. die amerikanische Tabaksteuer(Leipz. 1878); Derselbe, Zur Tabaksteuerfrage (das. 1878); H.Pierstorff, Entwickelung der Tabaksteuergesetzgebung in Deutschlandseit Anfang dieses Jahrhunderts (in den "Jahrbüchern fürNationalökonomie" 1879, Heft 2); Mährlen, Die Besteuerungdes Tabaks im Zollverein (Stuttg. 1868); R. Schleiden, Zur Frageder Besteuerung des Tabaks (Leipz. 1878); Krükl, DasTabaksmonopol in Österreich und Frankreich (Wien 1879);Creizenach, Die französische Tabaksregie (Mainz 1869);Aufseß, Über die Besteuerung des Tabaks (Leipz. 1878);Reinhold, Das Tabaksteuergesetz vom 16. Juli 1879 (das. 1881).

Tabaldie, der Affenbrotbaum.

Tabanus, Bremse; Tabanina (Bremsen), Familie aus derOrdnung der Zweiflügler.

Tabarieh, Stadt, s. Tiberias.

Tabarka, kleine Hafenstadt in Tunis an derNordküste, die aber durch ihr an Metallen und Holz reichesHinterland wichtig werden muß, wenn die geplante Eisenbahnvollendet ist. Davor die gleichnamige kleine Insel mit jetzt sehrheruntergekommener Korallenfischerei.

Tabascheer, s. Bambusa.

Tabasco, ein Küstenstaat der Republik Mexiko, amMexikanischen Meerbusen, 25,241 qkm (458,4 QM.) groß mit(1882) 104,747 Einw., ist ein vom untern Grijalva und einem Arm desUsumacinta durchzogenes Flachland, feucht und ungesund, aberungemein fruchtbar. Nur an der Südgrenze treten bewaldeteHügel auf. Hauptprodukte sind: Kakao, Mais, Zuckerrohr,Kaffee, Piment, Bohnen, Reis, Tabak, Vanille, Sassaparille, dieverschiedensten Nutz- und Farbhölzer. Fabriken gibt es nicht.Die Hauptstadt San Juan Bautista de T. liegt am Grijalva, 100 kmoberhalb dessen Mündung auf einer Anhöhe in fruchtbarer,Überschwemmungen ausgesetzter Gegend, hat einRegierungsgebäude, ein Colegio Juarez, ein Zollamt und 8000Einw. An der Mündung des Flusses liegt der Hafen Frontera deT. mit Leuchtturm und (1880) 2168 Einw. Die Ausfuhr wertete1883-84: 626,209 Pesos.

Tabasmyrte, s. Pimenta.

Tabatiere (franz., spr. -tjähr),Schnupftabaksdose.

Tabatieregewehr, das Snider-Gewehr mittabaksdosenähnlichem Verschluß, wurde 1870/71 von derfranz. Mobilgarde geführt; s. Handfeuerwaffen, S. 104.

Tabatinga, Stadt in der brasil. Provinz Amazonas, dichtan der Grenze von Peru am Amazonenstrom, 3375 km oberhalbPará, hat lebhaften Handel und ist in der neuesten Zeit alsDampfschiffstation wichtig geworden.

Tabellen (lat.), auch Tafeln, in Rubriken geordneteZusammenstellungen des Gesamtinhalts irgendeines Wissensgebiets.Derartige T. finden mannigfache Verwendung im Unterrichtswesen,wenn auch ihr Wert nach dem heutigen Stande der wissenschaftlichenPädagogik nicht mehr so hochgeschätzt wird wie ehedem,indem sie nur nachträglich zur festern Einprägungeinzelner Hauptpunkte oder zum Nachschlagen bei der Vorbereitungbenutzt werden, aber nicht in den Mittelpunkt des Unterrichtstreten sollen. Dahin gehören unter andern Geschichtstabellen,Regenten- u. Stammtafeln, tabellarische Übersichtennaturhistorischer Systeme, des spezifischen Gewichts derwichtigsten Naturkörper, des Atomgewichts der Elemente; auchLogarithmentafeln, Zins- und Zinseszinstabellen für Arithmetikund Trigonometrie u. a. Wichtiger noch ist die Rolle, welche dasTabellenwesen in der Statistik spielt. Die gesetzmäßigwiederkehrenden Zahlenverhältnisse im Wechsel derBevölkerung etc. sind von dieser Wissenschaft in feste T.gebracht worden, auf welchen sich dann die praktischenSchlußfolgerungen aufbauen, wie z. B. die Berechnung derBeiträge für Lebensversicherung, Witwenversorgung etc.auf den Mortalitätstabellen. Auch die Ergebnisse statistischerErhebungen über Alters-, Erwerbsverhältnisse,Nationalvermögen, Gesundheitsstand werden zumeist in Form derT. sich darstellen. Erhellt hieraus die weitgreifende Bedeutung derT. für das moderne Leben, so darf anderseits nichtverschwiegen werden, daß sie im Organismus der Verwaltung oftunverhältnis-

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Taberistan - Täbris.

mäßig viel Kraft verzehren, und daß sie, um mitSicherheit praktisch verwertet zu werden, ebenso sorgfältigaufgestellt wie vorsichtig benutzt sein wollen.

Taberistan (Tabaristan), Landschaft im nördlichenPersien, den gebirgigen Südosten der Provinz Masenderanumfassend, das Land der Tapuri im alten Hyrkanien, hatschönes, die Viehzucht begünstigendes Weideland, vieldichten Wald und Wild, zahlreiche kleine Flüsse und einangenehmes Klima. Das Mineralreich liefert besonders Schwefel. Dieteils ansässigen, teils nomadisierenden Einwohner bekennensich zum Islam.

Tabernaculum (lat., Tabernakel), s. v. w.Sakramentshäuschen. In der lateinischen Bibelübersetzungheißt T. die Stiftshütte der Israeliten, daher beiMethodisten s. v. w. Bethaus.

Tabernaemontana Arn., Gattung aus der Familie derApocynaceen, Sträucher oder Bäume mitgegenständigen, ganzen Blättern, zu zweienendständigen, weißen oder gelben, wohlriechendenBlüten und fleischigen, wenigsamigen Früchten. Viele inden Tropen weitverbreitete Arten. T. utilis Arn. (Milchbaum vonDemerara, Hya-Hya), ein Baum Guayanas von 9-12 m Höhe, mitgrauer, etwas rauher Rinde, aus welcher bei Verletzungen eineweiße Milch fließt, die von der des Kuhbaums (s.Galactodendron) wesentlich verschieden ist, aber, wie diese, alsnahrhaftes, wohlschmeckendes Getränk benutzt werden kann undfrei von aller Schärfe ist. T. dichotoma Roxb. (Evaapfelbaum),ein immergrüner Baum Ceylons mit wohlriechenden Blütenund an fadenförmigen Zweigen hängenden, sehr giftigenFrüchten, welche Äpfeln ähneln, aus denen einStück herausgebissen ist. T. coronaria W., mit großen,weißen, sehr wohlriechenden Blüten, aus Ostindienstammend, wird als Zierpflanze kultiviert.

Taberne (lat., auch Taferne), Wirtshaus, namentlichWeinschenke; seltener Herberge.

Tabes (lat.), Auszehrung, Schwindsucht, besondersRückenmarksschwindsucht (s. d.); T. meseraica.tuberkulöse und käsige Zerstörung des Darms und derGekrösdrüsen.

Tableau (franz., spr. tabloh), Gemälde; wirkungsvollgruppiertes Bild (namentlich im Schauspiel); auch s. v. w.übersichtlich angeordnete Darstellung. Tableaux vivants ,lebende Bilder (s. d.).

Table de marbre (franz., "Marmortafel"), in Frankreichehemals Name des Marschalls-, Admiralitäts- und besonders desOberforstgerichts; früher auch Name der Bühne, aufwelcher die Clercs der Bazoche (s. d.) ihre Theatervorstellungengaben.

Table d'hote (franz., spr. tabl doht), "Wirtstafel" ineinem Gasthaus (Hotel) mit festem Preis für das Gedeck, anwelcher die Gäste gemeinschaftlich teilnehmen, ohne sich dieSpeisen auswählen zu können.

Tablette (franz.), Täfelchen; Schreibtafel;Büchergestellchen; Präsentierteller. Tabletterie, kleineArtikel der Kunsttischlerei, wie Kästchen, kleineSchränke, Kartenpressen, Damenbretter u. dgl., Gegenstandeiner namentlich in Wien, Nürnberg, Fürth, Berlin,Dresden, Prag etc. vertretenen Industrie.

Tablinum (lat.), der Teil des altrömischen Hauses,welcher sich zwischen dem Atrium und dem hintern Raum (Peristylium)befand und meistens dem Herrn zum Geschäftszimmer diente. S.Tafel "Baukunst VI", Fig. 4.

Taboga, Insel im Golf von Panama (Zentralamerika), 30 kmsüdlich von der Stadt Panama, ist etwa 6 km lang, dichtbewaldet und hat 1568 Einw., die Perlenfischerei treiben.

Taboleira (Platte, Tischplatte), in Brasilien Name derkaum merklich wellenförmigen, zugleich vorherrschenddürren Ebenen, welche den Mesas in den Llanos von Venezuelaentsprechen.

Tabor, in der türk. Armee das Infanteriebataillon,im Kriegsetat etwa 830 Köpfe stark; 3 Tabors bilden 1 Regimentund 8 Kompanien (Bölük) 1 T.

Tabor (vom türk. thabur, "Lager"), bei den Tschechenübliche Bezeichnung für Volksversammlung.

Tabor (Atabyrius mons, arab. Dschebel Tûr), Berg inPalästina, 9 km südwestlich von Nazareth, ein 650 m hoherstumpfer Kegel, nach der (irrigen) Tradition der Berg derVerklärung Christi. Am T. schlug Barak den Kanaaniter Sissera(Richter 4, 6 ff.); Antiochos d. Gr. fand 218 v. Chr. eine Stadt T.auf dem Gipfel des Bergs; 53 n. Chr. wurde hier von den Römernunter Gabinius den Juden eine Schlacht geliefert. Späterließ Josephus den T. befestigen, ebenso 1212 Melek el Adil,der Bruder Saladins; im April 1799 siegte hier General Kleberüber die englisch-türkische Armee. Heutzutage befindensich aus dem Gipfel zwei (nicht alte) Klöster.

Tabor, Stadt im südöstlichen Böhmen, aufsteiler, von der Luschnitz umflossener Anhöhe, 460 m ü.M., am Kreuzungspunkt der Staatsbahnlinien Wien-Prag undIglau-Pisek, hat eine Bezirkshauptmannschaft, ein Kreisgericht,eine Finanzbezirksdirektion, ein Oberrealgymnasium, einelandwirtschaftliche Lehranstalt, eine Dechanteikirche und einRathaus (mit Museum), beide aus dem 16. Jahrh., mittelalterlicheStadtmauern mit Türmen, eine neue Synagoge, ein Theater,hübsche Anlagen, eine Badeanstalt, eine Sparkasse (2 Mill.Gulden Einlagen), eine ärarische Tabaksfabrik, Bierbrauerei,Malzfabrik, Gerberei, Kunstmühlen, starken Vieh- undGetreidehandel und (1880) 7413 Einw. Den Marktplatz schmücktseit 1877 ein Denkmal Ziskas. Die Stadt steht an der Stelle deruralten Festung Kotnow, deren malerische Trümmer nochvorhanden sind, und wurde 1420 von den Hussiten unter Ziska alsverschanztes Lager (Tábor) erbaut.

Tabora, großer Markt der arabischenSansibarhändler, südlich vom Ukerewesee, unter 5°südl. Br. und 33° östl. L. v. Gr., die vielbesuchteZwischenstation aller Reisenden, welche von Sansibar westwärtsnach Innerafrika gehen.

Taboriten, Partei der Hussiten (s. d.), welche sich nachder Hussitenfeste Tabor (Kotnow) benannte und in politischer wiereligiöser Hinsicht radikale Tendenzen verfolgte, selbst aberwieder in zahlreiche Sekten zerfiel. Gemeinsame Forderungenderselben waren die Anerkennung der individuellen Überzeugungauf Grund der Heiligen Schrift und eine republikanische Verfassungohne Unterschied der Stände u. des Eigentums. Ausartungenwaren die Adamiten (s. d.) und Picarden (s. d.). Der niedere Adel,die Bürgerschaft der Städte und die Masse des Landvolkesschlossen sich meist den T. an. Ihre Führer waren Nikolaus vonPistna (Hus) und Ziska, dann die beiden Prokope. Im Kampf gegen diedeutschen Kreuzheere zeigten sie sich tapfer undunüberwindlich; war die Gefahr vorbei, so wandte sich ihrHaß gegen die Gemäßigten (Kalixtiner), und sieverheerten Böhmen und die Nachbarländer durchPlünderungszüge, bis sie durch die gemäßigtePartei in der Schlacht bei Böhmisch-Brod 30. Mai 1434vernichtet wurden. Vgl. Krummel, Utraquisten und T. (in der"Zeitschrift für historische Theologie" 1871); Preger,über das Verhältnis der T. zu den Waldesiern (Münch.1887).

Täbris, Stadt, s. Tebriz.

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Tabu - Tachometer.

Tabu (Tapu), nach einem aus der Sprache derSüdseeinsulaner herrührenden Wort s. v. w. unverletzlich.So gelten bei Naturvölkern die Person des Häuptlings,Begräbnisplätze, Kultstätten etc. an sich als t.;aber man wußte auch jede beliebige andre Örtlichkeit,einen Baum, verlassene Wohnungen, ja ein einzelnesBesitzstück, vor Annäherung, Berührung oder Wegnahmezu schützen, indem man sie mit einem einfachen Faden, in denunter bestimmten Zeremonien einige Knoten mit oder ohne Fetischeeingeknüpft worden waren, umgrenzte oder umband (s.Knotenknüpfen). Die Rassenangehörigen warenüberzeugt, daß bei Verletzung dieses Fadens alleÜbel, die der Knotenschürzer hineingeknüpft hatte,unfehlbar auf sie fallen würden, und so ersetzte derAberglaube die noch unausgebildete Sicherheitspolizei bei denverschiedensten Naturvölkern, denn unter verschiedenen Formenfindet oder fand sich das T. in allen Erdteilen.

tabula Amalphitana. s. Amalfi.

tabula rasa (lat.), eigentlich abgekratzte, leereSchreibtafel, auf welcher das mit dem Griffel in denWachsüberzug derselben Eingegrabene durch Umkehrung desGriffels wieder vertilgt worden; daher sprichwörtlich T. r.machen, s. v. w. alles aufzehren, aufarbeiten, vollständigbeseitigen.

Tabularium (lat.), öffentliches Archiv.

Tabulat (lat.), gedielter Gang in Klöstern etc.

Tabulatur (v. lat. tabula, Tafel), eine seit dem Beginndes vorigen Jahrhunderts veraltete Tonschrift, welche sich derLiniensysteme und Notenköpfe nicht bediente, sondern dieTöne nur durch Buchstaben oder Zahlen bezeichnete. Da unsreNotenschrift auf Linien nur eine abgekürzteBuchstabentonschrift ist (der Baßschlüssel ist einunkenntlich gewordenes F, der Altschlüssel ein c, derViolinschlüssel ein g), so ist es nicht verwunderlich,daß die Buchstabentonschrift von A-G älter ist als unserNotensystem; ihr Ursprung reicht mindestens bis ins 10. Jahrh.zurück, wenn auch bestimmt nicht bis zu Gregor d. Gr., wie manfrüher annahm (vgl. Buchstabentonschrift). Speziell fürdie Orgel und für das Klavier war diese sogen. deutsche oderOrgeltabulatur besonders im 15. und 16. Jahrh. in Deutschlandallgemein üblich; für andre Instrumente, besonders dieLaute (s. d.), hatte man in verschiedenen Ländern verschiedeneeigne Buchstaben- oder Zifferntabulaturen, welche sich aber auf dieGriffe bezogen und je nach Stimmung des Instruments verschiedeneTonbedeutung hatten. Das Gemeinsame aller Tabulaturen ist eineeigentümliche Bezeichnung der rhythmischen Werte der Tönedurch über die Buchstaben, resp. Zahlen gesetzte Marken,nämlich: einen Punkt [....] für die Brevis, einen Strich| für die Semibrevis, eine Fahne [...] (Häkchen) fürdie Minima, eine Doppelfahne [...] für die Semiminima, eineTripelfahne für die Fusa und eine Quadrupelfahne für dieSemifusa. Dieselben Zeichen über einem Strich, [...], [...]etc., galten als Pausen. Später (im 17. Jahrh.) entsprichtaber der Strich | unserm Viertel, [...] dem Achtel, d. h. diemoderne Schreibweise in den kurzen Notenwerten ist von denTabulaturen her übernommen worden. Da die Tabulaturen schon im16. Jahrh. statt der Fähnchen bei mehreren einander folgendenMinimen etc. die gemeinsame Querstrichelung anwandten, welche dieMensuralnotenschrift erst zu Anfang des 18. Jahrh. bekam, z. B.[...] und den Taktstrich durchweg gebrauchten, so sehen jeneTabulaturen unsrer heutigen Notierung in mancher Beziehungähnlicher als die Mensuralnotationen, besonders wenn sie, wasauch vorkam, den Melodiepart auf ein Fünfliniensystem mittelsschwarzer Notenköpfe aufzeichneten, mit denen die rhythmischenWertzeichen verbunden wurden. Zahlreiche Druckwerke inOrgeltabulatur sind auf uns gekommen (von Virdung, Agricola, Paix,Amerbach, Bernh. Schmid, Woltz u. a.). - Über die T. derMeistersänger s. Meistergesang.

Tabulett (lat.), Kasten aus dünnen Brettern, worinwandernde Krämer (Tabulettkrämer, Reffkrämer) ihreWaren herumtragen.

Tabun (russ.), die in den russischen Steppen und Feldernweidenden Pferdeherden.

Taburett (franz. Tabouret), Polstersessel, niedrigerStuhl ohne Arm- und Rücklehne.

Tacamahaca, s. Calophyllum.

Tacchini (spr. tackini), Pietro, Astronom, geb. 21.März 1838 zu Modena, studierte an verschiedenenUniversitäten Italiens und ward 1859 Direktor der Sternwarteseiner Vaterstadt. Seit 1863 an der Sternwarte in Palermothätig, hauptsächlich mit Beobachtung der Erscheinungenan der Sonne beschäftigt, gründete er behufssystematischer spektroskopischer Beobachtung der Sonne mit Secchi1871 die Italienische Spektroskopische Gesellschaft, in derenMemoiren er seitdem den größten Teil seiner Arbeitenveröffentlicht hat. 1874 beobachtete er in Indien denVenusdurchgang. Gegenwärtig ist T. Direktor des CollegioRomano zu Rom. Vgl. "Il passaggio di Venere sul Sole dell' 8-9 dec.1874, osservato a Muddapur" (Pal. 1875).

Tace! (lat.), schweige!

Tacet (lat., auch ital. tace oder taci, abgekürzttac., "schweigt") bedeutet in Chor- oder Orchesterstimmen,daß das Instrument (die Stimme) während der betreffendenNummer nicht mitzuwirken hat.

Tachau, Stadt im westlichen Böhmen, an der Mies,Sitz einer Bezirkshauptmannschaft und eines Bezirksgerichts, mitDechanteikirche, Franziskanerkloster, Schloß des FürstenWindischgrätz, einem Kaiser Joseph-Denkmal, einer Fachschulefür Drechslerei, lebhafter Holzindustrie, Knopffabrikation,Bierbrauerei und (1880) 4177 Einw. In der Nähe mehrereGlashütten. Vgl. Stocklöw, Geschichte der Stadt T.(Tachau 1879).

Tacheometer (Tachymeter), s. Theodolit.

Tachina, Mordfliege; Tachinariae, s. v. w.Mordfliegen.

Tachira, Sektion des Staats Andes der venezuelan.Bundesrepublik, an der Grenze von Kolumbien, ist meist gebirgig(bis 3208 m hoch) und 12,545 qkm (227,8 QM.) groß mit (1873)68,619 Einw. Landbau bildet die Haupterwerbsquelle, Petroleum istgefunden worden. Hauptstadt ist San Christóbal.

Tachograph (griech., "Schnellschreiber"), ein demHektograph ähnlicher Apparat zur leichten Herstellung vielerAbzüge einer Schrift oder Zeichnung.

Tachometer (griech., Tachymeter,"Geschwindigkeitsmesser"), mechan. Vorrichtungen zum Messen derGeschwindigkeit von Maschinen in jedem Augenblick ihrer Bewegung.Bei allen bisher konstruierten Tachometern wird dieZentrifugalkraft der sich bewegenden Maschine als treibendesElement benutzt. Uhlhorn in Grevenbroich bei Düsseldorf hat um1817 derartige T., namentlich für Baumwollspinnereien, zuerstkonstruiert. Gegen 1844 trat Daniel mit einem T. zum Gebrauch beiLokomotiven hervor, bei welchem ein Zentrifugalpendel auf Gewichteund Federn wirkt und ein Uhrwerk zur Registrierung des Ganges derLokomotive mittels Zeichenstifts auf Pappscheiben in

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Tachopyrion - Tacitus.

Bewegung setzt. Vervollkommt wurde dieses T. durch Dato (s.Stathmograph). Donkin in England hat das Ausfließen vonQuecksilber zum Messen der Geschwindigkeit benutzt. DiesesKonstruktionsprinzip ist durch Schäfer und Buddenberg inMagdeburg für die Praxis weiter entwickelt worden.Hydrotachometer (Hydrometer) sind Instrumente zur Bestimmung derGeschwindigkeit fließenden Wassers, also s. v. w. Strommesser(s. Fluß, S. 410). Vgl. Schell, Die Tachymetrie (Wien1880).

Tachopyrion (griech.), s. Feuerzeuge.

Tachygraphie (griech.), s. Stenographie.

Tachyhydrit (fälschlich Tachhydrit), Mineral aus derOrdnung der Doppelchloride, kristallisiert rhomboedrisch, istwachs- bis honiggelb, durchsichtig bis durchscheinend,zerfließt sehr schnell an der Luft (daher der Name) undbesteht aus Chlorcalcium, Chlormagnesium und WasserCaCl2+2MgCl2+12H2O. Es findet sich in rundlichen Massen im dichtenAnhydrit der Abraumsalze von Staßfurt.

Tachylyt, Gestein, s. Basalte, S. 414.

Tachymeter, s. v. w. Tachometer; auch ein Distanzmesserund ein Theodolit besonderer Konstruktion.

Tachypetes, Fregattenvogel.

Tacitus, Marcus Claudius, röm. Kaiser, geb. 200 n.Chr., leitete sein Geschlecht vom Historiker T. ab und befahl,dessen Werke in allen Bibliotheken aufzustellen und zehnmaljährlich auf Staatskosten abzuschreiben. Er ward nach KaiserAurelians Tod und nach einem sechsmonatlichen Interregnum 25. Sept.275 gegen seinen Willen vom Senat, dem das Heer die Wahlfreigestellt hatte, zum Kaiser erhoben. Er entsprach durch Mildeund Weisheit vollkommen dem Vertrauen, welches ihn auf den Throngehoben hatte, führte auch, als 75jähriger Greis, einenglücklichen Krieg gegen die Alanen, ward aber schon nach sechsMonaten (April 276) zu Tyana in Kleinasien von den zügellosenSoldaten erschlagen. Ihm folgte sein Bruder Florianus T., der nachdrei Monaten dasselbe Schicksal hatte.

Tacitus, (Publius?) Cornelius, berühmter röm.Geschichtschreiber, geboren um 54 n. Chr., war zuerst mitAuszeichnung als Sachwalter und Redner in Rom thätig, wurde,wahrscheinlich 79, Quästor, dann, wahrscheinlich 81,Volkstribun oder Ädil, 88 Prätor, brachte hierauf vierJahre, 90-94, vielleicht als Statthalter einer Provinz,außerhalb der Hauptstadt zu und bekleidete 97 das Konsulat.In öffentlicher Thätigkeit erscheint er uns zuletzt 100,wo er mit dem jüngern Plinius, seinem Freund, in einembedeutenden Prozeß als Ankläger auftrat. Er starb nach117. Seine frühste Schrift ist der "Dialogus de oratoribus",welcher von den Ursachen des Verfalls der Beredsamkeit seit derKaiserzeit handelt, eine geistvolle, leider lückenhaft auf unsgekommene Schrift, wahrscheinlich um 80 verfaßt, die man T.wegen mancher sprachlicher und stilistischer Verschiedenheiten vonden spätern Schriften mit Unrecht abgesprochen hat. Hierauffolgten 98 zwei andre kleinere Schriften. "De vita et moribusAgricolae" und die sogen. "Germania" (eigentlicher Titel: "Deorigine, situ, moribus ac populis Germanorum"), ersteres dieLebensbeschreibung seines Schwiegervaters, letzteres die bekannte,für uns Deutsche ungemein wertvolle, mitbewunderungswürdigem Sinn für die Eigentümlichkeiteneines Naturvolkes abgefaßte Schilderung des damaligenDeutschland. Des T. beide Hauptwerke aber sind die "Historiae" unddie sogen. "Annales" (eigentlicher Titel: "Ab excessu diviAugusti"), erstere in 14 Büchern die Geschichte seiner Zeitvon 69 bis 96 n. Chr., letztere, welche später als dieHistorien verfaßt und zwischen 115 und 117 herausgegebensind, in 16 Büchern die Geschichte des Julisch-ClaudischenHauses von Augustus' Tode (daher der Titel) von 14 bis 69enthaltend, so daß beide zusammen ursprünglich dievollständige Kaisergeschichte von Tiberius bis zum TodeDomitians umfaßten; von beiden sind nur Teile erhalten, vonden Historien die vier ersten Bücher und ein Teil desfünften, nicht volle zwei Jahre, 69-70, umfassend, von denAnnalen die sechs ersten (mit einer Lücke zwischen demfünften und sechsten Buch), Tiberius' Zeit (14-37), und diesechs letzten (zu Anfang und zu Ende unvollständigen)Bücher, Claudius' Regierung und Neros Geschichte 47-68. Inbeiden Werken herrscht die annalistische Anordnung des Stoffesdurchaus vor. Sie beruhen auf eingehenden und umfänglichenQuellenstudien und sorgfältiger Kritik, wenn sie auchhinsichtlich selbständiger Forschung und genauer Kenntnisaller Verhältnisse, besonders des Militärischen und derÖrtlichkeiten, nicht an einen Thukydides und Polybiosheranreichen. Stets bemüht, das Thatsächliche zuermitteln und vornehmlich die innern Gründe der Ereignisse ausden Verhältnissen und den handelnden Persönlichkeiten zuerklären, zeigt T. sich als Meister in der Charakterzeichnungund der psychologischen Analyse. Seinem Versprechen, ohneParteilichkeit (sine ira et studio) zu schreiben, getreu, strebt erdurchaus nach einer objektiven Darstellung, und wenn man auchvielfach seine subjektive Ansicht durchfühlt, so darf ihm dochnie absichtliche Färbung und Entstellung vorgeworfen werden,wie es in neuerer Zeit mehrfach, namentlich in Bezug auf dieSchilderung des Tiberius, geschehen ist (so von Sievers, "Studienzur Geschichte der römischen Kaiser", Berl. 1870; Stahr,"Tiberius", 2. Aufl., das. 1873, u. in der Übersetzung derersten sechs Bücher der "Annalen", das. 1871; Freytag,"Tiberius und T.", das. 1870). Voll von Bewunderung für dieehemalige Tugend u. Größe Roms, ist er im HerzenRepublikaner, aber ebenso überzeugt, daß dasgegenwärtige Rom wegen des Sittenverfalls, den er aufsschmerzlichste empfindet, die Republik nicht ertrage; daher derentsagungsvolle und schwermütige, hier und da sogar bittereTon, der sich, auch ohne durch Worte ausgedrückt zu werden,überall in seinen Schriften kundgibt. Im Gegensatz zu derheitern Anmut und Fülle seiner Erstlingsschrift wird sein Stilim Fortschreiten seiner schriftstellerischen Thätigkeit immerernster und pathetischer und zeigt eine sich steigernde Neigung zurrhetorischen Färbung und Annäherung an den poetischenAusdruck; dazu kommt das Streben nach Kürze des Ausdrucks biszur epigrammatischen Zuspitzung, das sich am eigentümlichstenund großartigsten in den "Annalen" zeigt. Die erste, abernoch unvollständige Ausgabe erschien Venedig 1470. Die erste,durch Hinzufügung der sechs ersten Bücher der "Annalen"vervollständigte Gesamtausgabe ist die von Beroaldus (Rom1515). Unter den spätern sind hervorzuheben die von Bekker(Leipz. 1831, 2 Bde.), Ritter (Bonn 1834-1836, 2 Bde.; Cambridge1848, 4 Bde.), Orelli (Zürich 1846-48, 2 Bde.; neubearbeitet,Berl. 1877 ff.); Textausgaben von Haase (Lpz. 1855), Halm (4.Aufl., das. 1883) und Nipperdey (Berl. 1871-76, 4 Bde.). Auch gibtes eine große Anzahl von guten Ausgaben einzelner Schriftendes T., so der Annalen von Nipperdey und Andresen (8. u. 4. Aufl.,Berl. 1884 u. 1880, 2 Bde.), der Historien von Heräus (4.Aufl., Leipz. 1885,2Bde.) und Wolff (Berl. 1886 ff.); des"Dialogus" von Michaelis (Leipz. 1868), von Andresen (das. 1872 undin

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Tacna - Tadschurrabai

der neuen Auflage der Orellischen Gesamtausgabe, Berl. 1877 ff.)und von Peter (Jena 1877) ; des "Agricola" von Walch (Berl. 1828),Wex (Braunschw. 1852), Kritz (3. Aufl., Berl. l874), Urlichs(Würzb. 1875) und Peter (Jena 1876); der "Germania" von Haupt(3. Aufl., Berl. 1869), Kritz (3. Aufl., das. 1869),Schweizer-Sidler (2. Aufl., Halle 1874), Holder (Leipz. 1878),Baumstark (das. 1875-80, 2 Bde.). Unter den deutschenÜbersetzungen sind die von Gutmann (4. Aufl., Stuttg. 1869, 5Bde.) und Roth (4. Aufl., Berl. 1888) hervorzuheben. AlsHilfsmittel für die Einsicht in den Sprachgebrauch des T.dient das "Lexicon Taciteum" von Bötticher (Berl. 1830); einneues, weit vollständigeres ist begonnen von Gerber und Greef(Leipz. 1877 ff.). Vgl. Hoffmeister, Die Weltanschauung des T.(Essen 1831); Dräger, Über Syntax und Stil des T. (3.Aufl., Leipz. 1882); Dubois-Guchan, Tacite et son siècle(Par. 1862, 2 Bde.); Urlichs, De Taciti vita et honoribus(Würzb. 1879).

Tacna, ehemaliges Departement der südamerikan.Republik Peru, am Stillen Ozean, vom Rio Zama bis zum Rio Camaronesund im Innern bis jenseit der westlichen Kordilleren reichend,wurde 1884 an Chile (s. d., S. 1022) abgetreten. Die Küstesteigt steil an. Das Innere besteht aus stufenweise zu denKordilleren ansteigenden, meist wüsten Hochebenen. Die wenigenFlüsse nehmen ihren Lauf durch tiefe Schluchten (Quebradas).Der Tacorapaß (4170 m, s. d.) verbindet T. mit Bolivia.Fruchtbare Stellen kommen fast nur im nördlichen Teil desDepartements vor. T. hat ein Areal von 22,500 qkm (408,62 QM.) und(1885) 29,523 Einw. Die Ausfuhr besteht vorwiegend aus Kupfer,Zinn, Silber, Gold, Koka, Alpako- und Schafwolle. Hauptstadt istSan Pedro de T., 560 m ü. M., in hübscher Ebene, amgleichnamigen Fluß, mit (1876) 7738 Einw. T. ist Sitz einesdeutschen Konsuls. Die Stadt wurde 1605 gegründet, hat einColegio, ein Hospital, ein kleines Theater und eine schöneAlameda. Eine Eisenbahn verbindet sie mit Arica (s. d.).

Tacoary, Fluß, s. Taquary.

Tacoma, Berg im nordamerikan. Staat Washington, 4400 mhoch, ein fast erloschener Vulkan mit Gletschern; hießfrüher Mount Rainier.

Tacoma, Stadt im nordamerikan. Staat Washington, amPugetsund, Endstation einer Pacificbahn, mit großemHotel.

Tacorapaß (auch Gualillos), ein fahrbarer Paßder Kordilleren in 17°50' südl. Br., verbindet Tacna mitBolivia und ist 4170 m hoch. Nördlich von ihm erhebt sich derTacora Pik oder Chipicani (6017 m), ein ausgebrannter Vulkan miteiner Solfatare in seinem zusammengestürzten Krater; andemselben liegt das Dorf Tacora, eine der höchstenWohnstätten der Erde (4000 m).

Tacnarembo, ein Departement des füdamerikan. StaatsUruguay, ein Hügelland, 21,022 qkm (381,8 QM.) groß mit(1885) 27,329 Einw., die fast nur Viehzucht treiben (1,034,000Rinder, 65,000 Pferde, 476,000 Schafe). Gold ist 1859 im Cunapiresentdeckt worden. Hauptstadt ist San Fructuoso mit 3000 Einw.

Tacubaya, Villa, 5 km südwestlich von Mexiko, beiChapultepec, mit dem Sommerpalast des Erzbischofs von Mexiko, denVillen reicher Mexikaner, der Militärakademie (Colegio) und(1880) 7867 Einw.

Tacullies, f. Carrierindianer.

Tacunga (Llactacunga), Hauptstadt der Provinz Leon in dersüdamerikan. Republik Ecuador, am Fuß des Cotopaxi 2780m ü. M. gelegen, hat ein Colegio, eine Pulverfabrik und 17,000Einw.

Taeda Koch. Gruppe der Gattung Pinus. s. Kiefer, S.714.

Tadcaster, alte Stadt in Yorkshire (England), amschiffbaren Wharfe, zwischen Leeds und York, mit (1881) 2965 Einw.Es ist das römische Calcaria. Dabei das Schlachtfeld vonTowton (1461), wo Eduard von York das Lancastrische Heerbesiegte.

Tadel, als Äußerung des ästhetischen odersittlichen Mißfallens (wie Lob des Gefallens) durch Rede oderHandlung, unterscheidet sich von diesem selbst dadurch, daßer unterdrückt werden kann und unter Umständen soll,während das Mißfallen (und Gefallen) alsunwillkürliches Geschmacks- oder Gewissensurteil sich nichthemmen läßt.

Tadema, Maler, s. Alma-Tadema.

Taedium vitae (lat.), Lebensüberdruß.

Tadjainseln, s. Togianinseln.

Tadmor, Stadt, s. Palmyra.

Tadolini, 1) Adamo, ital. Bildhauer, geb. 1789 zuBologna, bildete sich auf der Kunstschule daselbst, dann in Ferraraund Rom und erhielt 1811 eine Professur in Bologna. Von seinenWerken sind zu nennen: Venus und Amor; Ganymed, der den Adlertränkt; die Bacchantin, für das Museum Borghese, der RaubGanymeds; das Grabmal des Kardinals Lante, für die StadtBologna, und eine große Anzahl Büsten. Zu seinenkirchlichen Hauptwerken gehört die Statue des heil. Franz vonSales in der Peterskirche zu Rom. Er arbeitete in der RichtungCanovas. T. starb 23. Febr. 1868 in Rom.

2) Eugenia, ital. Bühnensängerin, Gattin desKomponisten Giovanni T. (geb. 1793 zu Bologna, gest. 1872daselbst), geb. 1810 zu Florenz, trat zuerst daselbst, dann inVenedig und endlich an der Italienischen Oper in Paris auf. Nachder Scheidung von ihrem Gatten (1834) kehrte sie nach Italienzurück, wo sie sich auf allen ersten Bühnen bis 1850 dergrößten Beliebtheit zu erfreuen hatte, namentlich in denvon Mercadante ("Schwur") und Donizetti ("Lucia", "Don Pasquale","Regimentstochter", "Linda") für sie geschriebenen Opern. Auchin Wien feierte sie die größten Triumphe.

Tadorna, s. Enten, S. 671.

Tadousac (spr. tadusak), Dorf in der brit.-amerikan.Provinz Quebec, an der Mündung des Saguenay in den St.Lorenzstrom, der erste Ort, an welchem die Franzosen in Amerika einsteinernes Haus bauten, jetzt als Badeort vielbesucht.

Tadsch (Tadschmahal), ein Mausoleum, s. Agra.

Tadschik (auch Dihkan, "Landleute", und Dihvar,"Dorfbewohner", od. Parsevan, "Perser", genannt), dieansässige, Ackerbau treibende Bevölkerung Irans, welchezur iranischen Völkerfamilie gehört und durchgehends diepersische Sprache spricht. Sie finden sich in Ostiran(Afghanistan), in Kabul und Herat, in Balch, Chiwa, Bochara sowiein Badachschan bis gegen die Hochebene Pamir und in Kaschgarienunter dem angeführten Namen, während sie im westlichenIran (Persien) unter dem speziellen Namen der Perser (Farsi)bekannt sind. Als Handel treibendes Volk trifft man sie auchvielfach außer Landes, östlich bis nach China undwestlich bis Orenburg und Kasan. Die östlichen T.unterscheiden sich von den Persern durch manche körperlicheEigenschaften und bewahren auch verschiedene altertümlicheSitten und Gebräuche. Vgl. Afghanistan, S. 143, Persien, S.866, etc.

Tadschurrabai, tief eindringende Meeresbucht inNordostafrika, an der Danakilküste, westlich von Bab

Ta-dse - Taft. 4^9 el Mandeb, deren Einfahrt im N. Ras Bir, imS. Ras Dschebuti markiert. In derselben liegen die früherEngland, jetzt Frankreich gehörigen Muscha-inseln; an derNordseite die Ortschaften Obok (s. d.), Tadschurra, Ambado,Sagallo. Ta-dse, Volk, s. Orotschen. Tael (spr. tehl, chines.Liang), Gewicht und Rech-nungsgeld, in China a 10 Mace a 10Candarin a 10 Käsch; in Schanghai 1 T. = 34,246 g fein Silber,=6,164 Mk., etwa 2,75 Proz. mehr alsderRegierungs-(Haikuan-) T.für Zölle und Tonnengelder. Im aus-wärtigen Handelrechnet man 72 T. = 100 mexikan. Dollar; mithin ist 1 T. = 33,^87 gfein Silber = 6 Mk. 1 Kanton- T. als Gold- und Silbergewicht =37,573 g; 16 Taels = 1 Kin oder Kätty; als Han-delsgewicht =37,79.^ g. Tafalla, Bezirksstadt in der span. Provinz Navarra, ander Eisenbahn Alsasua-Saragossa, mit altem Schloß und (1878)6040 Einw. Tafelauffa.^, ein zum Schmuck der Tafel dienendesSchaustück, zumeist aus Edelmetall (Silber und ver- goldetemSilber), in neuerer Zeit auch aus Bronze. Der T. hatgewöhnlich die Gestalt einer flachen, von einem hohenFuß getragenen Schale, aus welcher ein kelchförmigerAufsatz zur Aufnahme von Blumen emporsteigt. Dieser Grundform^entspricht der be-rühmte T. von Iamnitzer (s. Tafel"Goldschmiede-kunst", Fig. 3). Doch wurden in der gotischen undRenaissan^zeit auch Tafelaufsätze in der Gestalt vonphantastischen oder tropischen Tieren (Elefanten, Straußenetc.), von Schiffen (das "glückhafte Schiff"), Brunnen,Festungen etc. angefertigt. Die neuere Gold-schmiedekunst hat dieTafelaufsätze durch Anordnung von Schalen neben- undübereinander, durch Verbin-dung von Kristall mit Edelmetallnoch reicher gestaltet. Tafelbai, große Bai an derSüdwestküste des Kap- landes, offen und daher trotzvielfacher Verbefserun- gen nicht sicher. An derselben liegt dieKapstadt und hinter dieser der Tafelberg (1072 m), welcher obeneine 2 km breite vollständige Ebene hat. Tafelbauaue, s.Heliconia. Tafelberg, s. Tafelbai. Tafelbild, ein auf einerHolztafel gemaltes Bild; dann im Gegensatz zur Wandmalerei jedesbeweg-liche, also auch auf Leinwand gemalte Bild; danachTafelmalerei, die Malerei auf Holzplatten. Tafelbouillou, s.Bouillontafeln. Tafeldru.k, Zeugdruck mit Applikations- (Tafel-)Farben, s. Zeugdruckerei. Tafelfichte, die höchste Spi.tze desIsergebirges (s. d.), 1123 m hoch. Tafelgefchäft (auchHandverkauf genannt), im Bankgeschäft der Verkauf von Effektenan die Stamm-kunden der Bank. Tafelgüter (Bona mensalia), zumUnterhalt des landesherrlichen Hofs, besonders in den ehemaligengeistlichen Staaten, bestimmte Güter. Sie hießen, wennin Lehngütern bestehend, Tafellehen. Vgl. Domäne.Tafella^, s. Schellack. Tafelland, Hochebene größererAusdehnung; be- sonders eine Hochebene, welche sich nur einseitigan ein Gebirge anschließt und, aus ungefährhorizonta-len Schichtsystemen zusammengesetzt, gewöhnlich inmehreren Stufen gegen das Tiefland abfällt. P la-teauwürde in dieser Ausscheidung des engern Be-griffs als Synonymvon T. aufzufaffen sein. Die Plateaus der Kalkalpen, des Karstes,die von Süd-afrika u. a. sind Beispiele solcherTafelländer. Tafelruude, in der Sage der Kreis von Helden, diezu des britischen Königs Artus Hofhaltung gehör- ten undvon ihm um eine runde Tafel, um die Gleich-heit der an ihrSitzenden zu bezeichnen, an seinen Hoffesten versammelt wurden.Weiteres s. Artus. Tafelfchiefer, s. Thonschiefer. Tafelspat, s. v.w. Wollastonit. Tafelstein, s. Edelsteine, S. 314. Täfelwerk^(Täfelung, Intabulation), Beklei- dung der Wände undDecken in Zimmern und Sä-len mit gefalzten oder genutetenBrettern, befser mit Rahmhölzern und Füllungen, welchebeim Schwin- den des Holzes keine Spalten zeigen. Hartes, z. B.Eichenholz, ist, weil es weniger leicht stockt oder fault, weichem,z. B. Tannen- oder Kiefernholz, vorzu^ie-hen und bei Anwendung desletztern das T. in einem Abstand von 15-25 mm von derWandfläche anzu- bringen. Bei einfachern Gebäuden wirddas T. mit gekehlten Rahmhölzern, bei Prachtbauten mitSchnitz-werk versehen. Die Firnisse oder Ölanstriche, welcheman demselben zur Verbesserung seines äußern An-sehensmeist in Naturfarbe gibt, tragen zugleich zum Schutz des Holzesgegen Feuchtigkeit bei. Die Holz- bekleidung ganzer Wände,welche un Mittelalter nicht selten und oft sehr kunstvollausgeführt war, wovon unter anderm Nürnberg und die^Feste Koburg treff-liche Beispiele geben, wird in der Gegenwartmeist auf die untern Teile derselben (Brüstungen, Lam- bris)beschränkt und das T. hierbei mit Fuß- und Deckleisteversehen. Vgl. Fink, Der Bautischler (Leipz. 1867-69, 2 Bde.).Tasseh, türk. Gewicht für Seide, = 1,954 kg. Taffia, f.v. w. Rum. Tafilet (Tafilelt), große Oase in Marokko, im S.des Atlas, unter 31° nördl. Br. und 3° 30^ westl. L.v. Gr., die südlichste einer vom Wadi Sis durchzogen nen Reihevon Oasen, wird von diesem wie von meh-reren andern Wadisbewässert, welche aber nur im Frühjahr Wasser führenund dann im südlichsten Teil der Oase dieSebchaDaya elDurabilden. Berg- züge, darunter der Dschebel Belgrüll imNW., um- schließen fast ringsum den 1000 qkm messenden Raum,welcher wegen der mangelhaften Bewässerung nur fürDattelpalmen geeignet ist; die Datteln von T. sind aber auch alsdie vorzüglichsten der Wüste bekannt, nur selten ist derAnbau von Weizen, Gerste, Klee möglich. Datteln sind derbedeutendste Aus-fuhrartikel, daneben gegerbte Felle,Straußfedern, Sklaven und Goldstaub. Fast alleeuropäischen Wa-ren werden in den Bazaren verkauft. Die ca.100,000 Einw., teils Araber, teils Berber, wohnen in 150Dörfern oder Ksurs, unter welchen Er Rissani, Sitz desGouverneurs, das größere, Abuam aber durch Industrie undHandel viel bedeutenderist. DieBewoh-ner der einzelnen Ksurs lebenin beständigem Kampf miteinander. Nahe bei Abuam die Ruinendes im Mittelalter berühmten Sedjelmafsa. Vgl. Rohlfs, Reisedurch Marokko (Brem. l 869). Tafna, Küstenfluß in deralger. Provinz Oran, bekannt durch die Kämpfe zwischenFranzosen und Kabylen 26. -28. Ian. 1836. An der T. schlossen di^Franzosen 30. Mai 1837 Frieden mit Abd el Kader. Taft, großesDorf in der persischen Provinz Ira.^ Adschmi, südwestlichunweit Iezd, mit 5000 Einw , einer der Hauptwohnsitze vonFeueranbetern, besitzt einen hübschen Bazar, ein kleines Fortund viele schöne Gärten und ist berühmt wegen derFabrikation einer vorzüglichen Filzsorte. Taft (Taffet),lein1vandartig gewebter Stoff aus entschälter Seide mitOrgansinkette und Einschlag von Tramseide, meist schwarz, aber vonverschiedener

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Taftpapier - Taganrog.

Dichtigkeit. Hiernach unterscheidet man ganz leichten Futtertaft(Avignon, Florence), etwas schwerern Kleidertaft, Doppeltaft(Marcelline) und Gros (mit vielen Beinamen, wie de Naples, deTours, d'Orleans etc.), welcher auf der Oberfläche eine Artregelmäßiger Körnung zeigt oder, wenn starke mitschwachen Fäden wechseln, gerippt erscheint.

Taftpapier, einseitig gefärbtes und mit Glanzversehenes Papier.

Tag (lat. Diës), entweder die Dauer einesscheinbaren Umlaufs des Fixsternhimmels oder der Sonne um die Erde,oder im gewöhnlichen Sinn: die Zeit des Verweilens der Sonneüber dem Horizont, im Gegensatz zur Nacht, währendwelcher sie sich unter dem Horizont befindet. Bestimmter nennt manSterntag die Dauer eines scheinbaren Umlaufs des Fixsternhimmelsoder einer Rotation der Erde um ihre Achse. Die Dauer des Sterntagsist so gut wie unveränderlich, wenn auch gewisseUnregelmäßigkeiten der Mondbewegung eine geringeVeränderung andeuten, während zugleich in der Wirkung derFlutwelle (wie schon Kant bemerkt hat) und in den durchallmähliche Erkaltung der Erde, durch Einstürze u. dgl.in ihrem Innern bedingten Massenumsetzungen Ursachen für eineVeränderung gegeben sind. Der Sterntag beginnt im Augenblickder obern Kulmination des Frühlingspunktes. Er wird in 24gleich lange Stunden zu 60 Minuten zu 60 Sekunden geteilt;Zeitangaben in diesem Maß nennt man Sternzeit. Obwohl uns nundie Natur in der Rotation der Erde um ihre Achfe dasgleichförmigste Zeitmaß darbietet, so ist doch der Auf-und Untergang der Sonne von so überwiegender Wichtigkeitfür das bürgerliche Leben, daß man in diesem nichtnach Sterntagen, sondern nach Sonnentagen rechnet. Wahrer Sonnentagist die Zeit zwischen zwei aufeinander folgenden mittägigenKulminationen der Sonne. Da aber dieser Zeitraum infolge derUngleichförmigkeit der Bewegung der Sonne am Fixsternhimmel imLauf des Jahrs nicht unbeträchtlichen Veränderungenseiner Dauer unterliegt (vgl. Sonnenzeit), so benutzt man denjährlichen Mittelwert desselben unter dem Namen mittler T.(bürgerlicher T.). Derselbe beträgt 24 Stunden 3 Min.56,6 Sek. Sternzeit und wird ebenfalls in 24 gleiche Stunden zu 60Minuten zu 60 Sekunden eingeteilt. Die in diesem Maßausge-drückte Zeit heißt mittlere Zeit; sie wird vonunsern mechanischen Uhren angegeben und sowohl im bürgerlichenLeben als auch in der Wissenschaft angewandt. Die christlichenVölker beginnen den T. mit Mitternacht und zählenwährend desselben ziemlich allgemein zweimal 12 Stunden. DieAstronomen aber fangen den T. erst mit dem Mittag an undzählen die Stunden bis 24. Es bedeutet also die astronomischeAngabe "Juli 23, 19h 12m" so viel wie "7 Uhr 12 Min. vormittags am24. Juli" (h=hora, Uhr; m=Minuten). Man bezeichnet den Zeitraum von24 Stunden auch als künstlichen T., im Gegensatz zumnatürlichen T., worunter man die Zeit des Verweilens der Sonneüber dem Horizont versteht. Am Äquator beträgt derletztere jahraus jahrein 12 Stunden; an andern Punkten der Erde istdies nur im Frühlings- und im Herbstanfang, wenn die Sonne imÄquator steht, der Fall. Sobald die Sonne sich nördlichüber den Äquator erhebt, werden auf der nördlichenHemisphäre der Erde die Tage immer länger, und fürdie Orte zwischen Äquator und Polarkreis (66 1/2° Br.)erreicht der T. seine größte Dauer, wenn die Sonne imWendekreis des Krebses steht (Sommersolstitium). Von da nimmt dieTageslänge wieder ab, erreicht den Wert von 12 Stunden imHerbstanfang und den kleinsten Wert (24 Stunden weniger deslängsten Tags), wenn die Sonne im Wendekreis des Steinbockssteht (Wintersolstitium). worauf er wieder wächst. Fürdie südliche Erdhalbkugel dagegen tritt der längste T.ein, wenn die Sonne im Wendekreis des Steinbocks, derkürzeste, wenn sie im Wendekreis des Krebses steht. DieGröße t des halben Tagbogens für den längstenT. in der Breite f erhält man aus der Formel cos t=-tan f.tan23 1/2; je 15 Bogengrade entsprechen einer Stunde. Es ergeben sichauf diese Weise folgende Werte:

Breite f Tagbogen 2t Längster Tag

0° 180° 0,0' 12 Stunden 0 Minuten

5° 184° 21,0' 12 Stunden 18 Minuten

10° 188° 50,5' 12 Stunden 35 Minuten

15° 193° 21,2' 12 Stunden 53 Minuten

20° 198° 10,3' 13 Stunden 13 Minuten

23 1/2° 201° 42,1' 13 Stunden 27 Minuten

25° 203° 20,8' 13 Stunden 33 Minuten

30° 209° 0,7' 13 Stunden 56 Minuten

35° 2l5° 22,5' 14 Stunden 21 Minuten

40° 222° 42,0' 14 Stunden 51 Minuten

45° 231° 25,7' 15 Stunden 26 Minuten

50° 242° 16,3' 16 Stunden 9 Minuten

55° 256° 34,8' 17 Stunden 6 Minuten

60° 277° 26,7' 18 Stunden 30 Minuten

65° 317° 0,8' 21 Stunden 8 Minuten

66 1/2° 360° 0,0' 24 Stunden 0 Minuten

Für den Polarkreis beträgt der längste T. 24Stunden; für die dem Pol noch näher liegenden Orte abergeht schon vor der Sommersonnenwende die Sonne nicht mehr unter, esist dann immerwährender T., dessen Dauer mit derAnnäherung an den Pol zunimmt und für diesen selbst einhalbes Iahr beträgt. Dem immerwährenden T. entspricht einhalbes Jahr später die gleich lange immerwährende Nacht.Der immerwährende T. währt so lange, als die Poldistanz(90° weniger der Deklination) der Sonne kleiner ist als diegeographische Breite; seine Dauer ist

1 Monat in 67° 23' Breite 4 Monate in 78° 11' Breite

2 Monate in 69° 51' Breite 5 Monate in 84° 5' Breite

3 Monate in 73° 40' Breite 6 Monate in 90° 0' Breite

Bei verschiedenen orientalischen Völkern, auch denIsraeliten, ferner bei Griechen und Römern wurde im Altertumder natürliche T. und ebenso die Nacht in 12 gleich langeStunden geteilt, deren Dauer in den verschiedenen Jahreszeitenverschieden war (horae temporales bei den Römern, währenddie immer gleich langen horae aequinoctiales hießen). Vgl.Bilfinger, Der bürgerliche T. (Stuttg. 1888). - T. heißtauch eine im voraus bestimmte Versammlung, z. B. Landtag,Reichstag, Fürstentag etc.

Tag, der bergmännische Ausdruck fürErdoberfläche, im Gegensatz zu den unterirdischenGrubenräumen, daher die Ausdrücke "über" und"unterTage".

Tagal, Stadt, s. Tegal.

Tagala (Tekela), Berglandschaft im südlichenKordofan, vom Sirga durchflossen.

Tagálen, Volk, s. Philippinen, S. 1004.

Taganai, ein Berg des südlichen Urals, im russ.Gouvernement Ufa, Kreis Slatoust, 1203 m hoch, berühmt durchseine Aventurine.

Taganrog, Hafenstadt im russ. GouvernementJekaterinoslaw, am nordöstlichen Ufer des Asowschen Meers, aufeiner Landzunge, 30 km westlich von der Mündung des Don, ander Eisenbahn Charkow-Rostow gelegen, hat 11 Kirchen (darunter 10griechisch-russische), eine Synagoge, ein griechisches Kloster(Jerusalemkloster), ein kleines kaiserliches Palais, in welchemAlexander I. 1825 starb, ein Denkmal des

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Tagblindheit - Tagewählerei.

genannten Kaisers (1831 errichtet), 2 Gymnasien (eins fürKnaben und eins für Mädchen), ein Theater, eineBörse und (1885) 56,047 Einw. (sehr viele Griechen und Juden,aber auch Armenier, Italiener und Deutsche). T. ist einer derwichtigsten Handelsplatze Südrußlands. Die weite Reedeist flach und durch Sandbänke gefährlich. Die Ausfuhrbetrug 1887: 14 Mill., die Einfuhr 2 Mill. Rubel. Ausfuhrartikelsind hauptsächlich: Weizen, Butter, Leinsaat und Talg;Gegenstände der Einfuhr: Früchte, Wein, Öl undMetallfabrikate. Die Gewerbthätigkeit ist gering. Im Hafenliefen 1887: 868 Schiffe mit 483,152 Ton. ein, außerdem imKüstenverkehr 1465 Fahrzeuge mit 282,800 Ton. DieMilitär- und Zivilverwaltung liegt in den Händen einesStadtpräfekten. T. war ursprünglich eine Festung, die1698 von Peter I. angelegt und nach ihrer Schleifung infolge desFriedens am Pruth (1711) von Katharina II. 1769 wiederhergestelltward. Es wurde 22. Mai 1855 von einer englisch-französischenFlotte bombardiert und teilweise zerstört.

Tagblindheit (Nachtsehen, Nyktalopie, Coecitas diurna),Mangel des Gesichts, der darin besteht, daß die Kranken beiTag und besonders gegen Mittag schwachsichtig oder blind sind, magsie nun Licht oder Dämmerung umgeben, während sie desNachts, vorzüglich gegen Mitternacht, bei Kerzen- oder beiMondlicht am besten sehen. Die Krankheit befällt fast immerbeide Augen zu gleicher Zeit. Die wahre T. ist eine reinperiodische Krankheit und hängt nicht von dem Grade des Lichtsab wie die symptomatische T. Beide beruhen auf einemReizungszustand der Retina, in welchem dieselbe helles Licht nichtverträgt. Als Ursachen der T. werden genannt verschiedeneKrankheiten des Auges und des Körpers überhaupt, fernerEntwöhnung vom Licht, erbliche Anlage und endemischeEinflüsse. Die Prognose hängt von den Ursachen ab. Dieals reines Lokalleiden der Netzhaut auftretende T. pflegt in 2-3Monaten zu verschwinden, macht aber bisweilen, selbst zu bestimmtenJahreszeiten, Rückfälle. Die durch Entwöhnung vomLicht entstandene T. geht bei falscher Behandlung des Auges leichtin vollkommene Blindheit über. Außer der Beseitigung derUrsachen hat die ärztliche Behandlung namentlich darauf zusehen, daß der Kranke seine Augen längere Zeit hindurchvollkommen ruhen lasse und sie erst ganz allmählich demLichtreiz wieder aussetze. In nordischen Ländern ist derGebrauch einer Schneebrille als schützendes Mittel zuempfehlen.

Tagbogen, der Teil des Tagkreises, den ein Gestirn imtäglichen Umschwung um die Erde oberhalb des Horizontsbeschreibt, im Gegensatz zu dem unterhalb des Horizonts gelegenenTeil, dem Nachtbogen.

Tagebau, im Gegensatz zum Grubenbau Abbauanlagenüber Tag; vgl. Bergbau, S. 723.

Tagebruch, Einsenkung der Erdoberfläche, entstandendurch Einsturz alter bergmännischer Anlagen.

Tagebuch, s. v. w. Journal (s. Buchhaltung, S. 565). Beider doppelten Buchführung paßt die Bezeichnung T. nurdann, wenn die Übertragungen aus den Vorbücherntäglich erfolgen, wie dies bei der französischenBuchhaltung geschieht. Über die Tagebücher der Makler s.Makler, S. 135.

Tagegelder, s. Diäten.

Tagekranz, s. Hängebank.

Tagelied (Tageweise, Wächterlied), eine Gattung desmittelalterlichen Minnegesangs, welche balladenartig das Scheidenzweier Liebenden schildert, woran der Turmwächter, denanbrechenden Tag verkündend, mahnt. Diese Dichtungsform war inder Provence erfunden, wurde aber in Deutschland schon frühnachgeahmt und hier, teils mit der Figur des Wächters, teilsohne dieselbe als bloßes Scheideduett, bald sehrpopulär; als größter Meister derselben erscheintWolfram von Eschenbach. Später übernahm das Volkslied diePflege der Tageweisen, die in der Reformationszeit auch einegeistliche Umdeutung erfuhren, wodurch die sogen. geistlichenWächterlieder entstanden, als deren letztes das noch heutegesungene Lied "Wachet auf, ruft uns die Stimme" von Ph. Nicolai zunennen ist. Vgl. Bartsch, Gesammelte Vorträge undAufsätze (Freiburg 1883); Gruyter, Das deutsche T. (Leipz.1887).

Tagelöhner, derjenige, welcher gegen Tagelohnarbeitet. Vgl. Arbeitslohn, S.759.

Tages, nach röm. Mythus der Sohn eines Genius undEnkel des Jupiter, tauchte bei Tarquinii in Etrurien aus der Furcheeines frisch gepflügten Feldes plötzlich empor undlehrte, ein Knabe von Ansehen, ein Greis an Weisheit, den Etruskerndie Haruspizien (s. Haruspices), die dann von ihnen in den Libritagetici aufgezeichnet wurden.

Tagesbefehl, s. v. w. Parolebefehl, s. Parole.

Tagesgeschäft, Tageskauf, im Gegensatz zumLieferungsgeschäft (s. d.) und zum Lieferungskauf (s. d.)dasjenige Geschäst, bei welchem die Ware unmittelbar (oderauch je nach den Börsenusancen mit gewisser Frist) nachAbschluß des Geschäfts übergeben wird.

Tageshelle, s. Diffusion des Lichts.

Tagesordnung, bei beratenden und beschließendenVersammlungen das Verzeichnis und die Reihenfolge der zur Beratungkommenden Gegenstände, welche für die jeweiligenSitzungen im voraus auf- und festzustellen sind; daher heißtzur T. übergehen s. v. w. auf einen Antrag etc. nicht weitereingehen. Geschieht dies unter der Angabe von Gründen, sospricht man von einer motivierten T., welche als eine mildere Formder Ablehnung eines Antrags gilt.

Tagesregent, in der Astrologie derjenige der siebenPlaneten: Saturn, Jupiter, Mars, Sonne, Venus, Merkur und Mond, derauf die erste Stunde eines jeden Wochentags kommt, wenn man dieerste Stunde des Sonnabends dem Saturn, die zweite dem Jupiteretc., die achte wieder dem Saturn u. s. f. in obiger Weise zuteilt.Sonach sind Saturn, Sonne, Mond, Mars, Merkur, Jupiter und Venusdie Regenten der Wochentage, vom Sonnabend angefangen, weshalbletztere auch die Namen dies Saturni (engl. saturday). d. Solis(engl. sunday), d. Lunae (Montag, ital. lunedi) , d. Martis (ital.martedI) , d. Mercurii (ital. mercord1), d. Jovis (ital. gioved1)und d. Veneris (ital. venerdi) führen.

Tagewählerei, in Luthers Bibelübersetzung (5.Mos. 18, 10) der Glaube an Glücks- oder Unglückstage beiden Juden, der sich aber fast bei allen Kulturvölkern findetund bis heute nicht geschwunden ist. Über die T. der Griechenbelehrt uns das Hesiodsche Gedicht "Werke und Tage"; bei denRömern galten alle auf die Iden folgenden Tage alsunglücklich, und dazu kamen die drei großenUnglückstage: 7. Mai, 8. Juli und 8. Nov., die den Totengewidmet waren. An solchen Unglückstagen, deren Zahl sichdurch die Daten verlorner Entscheidungsschlachten oder sonstigernationaler Unglücksfälle vermehrte, durften keine neuenUnternehmungen, Feldzüge, Bauten, Reisen, Ehen etc. begonnenwerden; für die Eheschließung galt auch der ganze MonatMai für unglücklich. Bei den alten Germanen galten dieden Hauptgöttern Wuotan und Donar heiligen Wochentage (Montagund Donnerstag) für Glückstage,

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Tagewasser - Tahiti.

Dienstag und Freitag für unglücklich, und der Freitaggilt noch heute unzähligen Menschen als ein Tag, an dem mannichts beginnen darf. Im Mittelalter dehnte sich die T. bis auf dieim Kalender verzeichneten Tage aus, an denen es gut sei, Haare zuschneiden, zu purgieren etc. Besonders lebendig ist die T. heutenoch bei den Russen und Finnen, Indern, Chinesen und Japanern. Vgl.Andree, Ethnographische Parallelen und Vergleiche (Stuttg.1878).

Tagewasser, im Bergbau das von der Erdoberfläche indie Grube gelangende Wasser.

Tagewerk, früher ein in manchen GegendenDeutschlands gebräuchliches Feldmaß, eigentlich so vielLand, wie ein Ackersmann in einem Tag bestellen kann, also etwa s.v. w. Morgen.

Tagfahrt, s. v. w. Termin.

Tagfalter (Diurna, Rhopalocera), Familie aus der Ordnungder Schmetterlinge (s. d., S. 556).

Taggia (spr. taddscha), Stadt in der ital. Provinz PortoMaurizio, Kreis San Remo, am Fluß T. und an der EisenbahnGenua-Nizza, unweit der ligurischen Küste, an welcher sich einkleiner Hafen (Arma di T.) befindet, hat ein Gymnasium, mehrereKirchen, Weinbau und (1881) 4046 Einw.

Tagil, Fluß im russ. Gouvernement Perm, kommt ausdem Ural im Kreis Jekaterinenburg, fließt an denHüttenorten Werchne-Tagilsk und Nishne-Tagilsk (s. d.)vorüber und ergießt sich nach einem Laufe von 270 km inden Fluß Tura.

Tagkreis, dem Himmelsäquator paralleler Kreis,welchen ein Gestirn bei der täglichen scheinbaren Rotation desHimmelsgewölbes beschreibt.

Tagliacozzo (spr. talja-), Stadt in der ital. ProvinzAquila, Kreis Avezzano, mit hoch gelegenem Schloß und (1881)3142 Einw. Hier 23. Aug. 1268 Schlacht zwischen Karl von Anjou undKonradin (s. d.) von Schwaben, in der letzterer besiegt wurde. Vgl.Köhler, Zur Schlacht von T. (Bresl. 1884).

Tagliamento (spr. talja-), Fluß in Venezien,entspringt in den Friauler Alpen, fließt anfangsöstlich, wendet sich dann südlich, ist von Latisana anfür Barken schiffbar und mündet nach einem Laufe von 170km ins Adriatische Meer. An der Mündung liegt der kleine HafenPorto del T. Der T. gehört zu den gefährlichstenFlüssen von Friaul und fließt meist in erhöhtem,aus Gerölle aufgebautem Bett in dünnen Wasserfäden;bei Hochwasser überschüttet er aber die Fruchtebene mitSteinen. Bei Codroipo liegt sein Bett 9 m über der Ebene. -Nach dem T. war unter Napoleon I. ein Departement Italiens mit derHauptstadt Treviso benannt.

Tägliche Lieferung, im Lieferungsgeschäft (s.d.) derjenige Kauf, bei welchem der Käufer berechtigt ist, biszu einem bestimmten Termin an jedem Tag die Lieferung zufordern.

Taglioni (spr.taljoni), berühmte Tänzerfamilie,aus der zuerst Philipp T., geb. 1777 zu Mailand, einen Namengewann; er wirkte nacheinander als Ballettmeister beim Theater inStockholm, Kassel, Wien, seit 1840 in Warschau, ließ sich1853 am Comersee nieder und starb daselbst 11. Febr. 1871. Erverfaßte viele Ballette. Von seinen fünf Kindern, diesich sämtlich der Tanzkunst widmeten, und von denen dieTöchter in altadlige Geschlechter heirateten, sind Maria undPaul zu Berühmtheit gelangt. Seine Tochter Maria, geb. 23.April 1804 zu Stockholm, wirkte seit 1827 an der Großen Operin Paris, seit 1832 zu Berlin und zog sich 1847 nach ihrerVerheiratung mit dem Grafen Gilbert de Voisins nach Italienzurück. Sie war eine der vollendetsten Tänzerinnen undausgezeichnet als Sylphide; starb 23. April 1884 in Marseille. IhrBruder Paul, geb. 12. Jan. 1808 zu Wien, debütierte 1825 inStuttgart, wurde 1829 in Berlin engagiert und 1869 zumBallettdirektor ernannt. Er verheiratete sich mit der TänzerinAmalie Galster, die, seit 1815 am Hoftheater zu Berlin engagiert,sowohl hier als auf Kunstreisen die Triumphe des Gatten teilte; siestarb 23. Dez. 1881 in Berlin. Bedeutender als Choreograph denn alsTänzer hat Paul T. eine große Fruchtbarkeit in derSchöpfung von Balletten entwickelt, deren bekannteste "Flickund Flock" und "Fantaska" sind. Er starb 7. Jan. 1884 in Berlin.Seine Tochter Maria, geb. 1833 zu Berlin, debütierte 1847 inLondon mit Glück, war längere Zeit beim königlichenBallett zu Berlin, dann am San Carlotheater in Neapel engagiert undvermählte sich 1866 mit dem Fürsten JosephWindischgrätz. Eine jüngere Tochter, Auguste, war eineReihe von Jahren als Schauspielerin zu Berlin thätig.

Tagsatzung (Tagleistung), in der Schweiz früherBezeichnung des Bundestags, welcher zumeist in Baden, späterin Frauenfeld abgehalten wurde. In der T. führte Zürichals sogen. Vorort den Vorsitz. Mit der Umwandlung deseidgenössischen Staatenbundes in einen Bundesstaat kam die T.in Hinwegfall (s. Schweiz, S. 762).

Tagschmetterlinge, s. v. w. Tagfalter.

Taguan, s. Eichhörnchen, S. 362.

Taguanüsse (Elfenbeinnüsse), die Früchtevon Phytelephas macrocarpa; vgl. Elfenbein.

Tagulandang (Tagulanda), Insel an der Nordostspitze derInsel Celebes, 140 qkm groß mit 2000 Einw., steht unter einemRadscha und gehört zur niederländischen ResidentschaftMenado.

Tag- und Nachtgleiche, s. Äquinoktium.

Tagwechsel (Präzisewechsel), s. Wechsel.

Tahaa (Otaha), eine der noch unabhängigenGesellschaftsinseln im südöstlichen Polynesien, zurLeewardgruppe gehörig, 82 qkm groß, gebirgig, dochfruchtbar, mit mehreren guten Häfen und (1885) 634 Einw.,welche durch englische Missionäre zum Christentum bekehrtwurden.

Tahiti (Otaheiti), die unter franz. Protektorat stehendegrößte und wichtigste der Gesellschaftsinseln, bestehtaus zwei durch eine schmale Landenge zusammenhängendenHalbinseln, Taiarapu und Porionuu, und hat einen Flächeninhaltvon 1042 qkm (19 QM.). Die Insel ist von einem Korallenriffumgeben, welches mehrere Öffnungen zum Einlaufen der Schiffesowie mehrere Baien und Buchten mit guten Ankerplätzen hat.Das Land ist vulkanisch und steigt von der Küste gegen dieMitte hin im Orohea oder Tobreonu bis 2104 m an. ZahlreicheBäche ergießen sich von den Bergen, in ihrem obern Laufschöne Kaskaden bildend und in der Regenzeit oft zureißenden Flüssen anschwellend. Vom Fuß der Bergebis zum Strand ist die ganze Insel von einer schmalen Niederungumgeben, auf welcher die Wohnungen zerstreut liegen. Das Klima istsehr gesund ; von einheimischen Produkten sind namentlichZuckerrohr (eine der Insel eigne Spezies), Bananen, Pisangs,Brotfrucht- und Kokosbäume, Yams, Bataten, Arum zu nennen. DieBevölkerung wurde zu Cooks Zeiten (wohl zu hoch) auf 120,000Seelen geschätzt, ist sehr gesunken und betrug 1885 nur 9562,mit dem benachbarten Morea 11,007 Seelen (davon nur 4673 weiblichenGeschlechts). Von der Gesamtzahl waren 8577 Eingeborne, 288Franzosen (davon 132 Mann Garnison), außerdem Engländer,Amerikaner, Deutsche, eine Anzahl Chinesen und als Arbeitereingeführte

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Tahk - Tahkali.

Polynesier andrer Inseln.

Das Christentum (meist methodistisches) ist durchwegangenommen; es bestehen bereits 34 Schulen, 1n welchen 1800 Kinderunterrichtet werden. Als Zeitung besteht der amtliche "Messager deT." Unter Kultur sind 3093 Hektar, davon 2328 mit Kokospalmenbepflanzt, der Rest mit Baumwolle, Zuckerrohr, Kaffee, Vanille,Mais u. a.; die Orangenbäume, von Cook eingeführt,wachsen wild und liefern reiche Erträge zur Ausfuhr nachAmerika. Der Großhandel ist in den Händen englischer,deutscher und nordamerikanischer Häuser. Eingeführtwerden: Spirituosen, Konserven, Hausgerät, Bauholz, Kleider;ausgeführt: Baumwolle, Apfelsinen, Perlschalen, Kopra,Trepang. 1887 betrug die Ausfuhr 1,644,308 Mk.: es liefen 172Schiffe ein und 156 aus. Die Post beförderte durch fünfÄmter 176,483 Sendungen. Die Ausgaben des Mutterlandesfür die Kolonie betrugen 805,000, das Kolonialbudget 1,27Mill. Frank. Die wichtigsten Häfen sind Papeete (s. d.),Papeuriri und Antimaono auf der Südküste, Papaoaostnordöstlich von Papeete. Ein monatlicher, von derfranzösischen Regierung subventionierter Schiffsverkehrbesteht mit San Francisco. Auch eine Eisenbahn von 33 km Längebesitzt T. Hauptstadt ist Papeete; im Innern in Fatuahua befindetsich ein Fort, das die ganze Insel beherrscht. Die Flagge s. Tafel"Flaggen I". Die Insel T. wurde von Quiros 1606 entdeckt undSagittaria genannt; genauere Kunde verdanken wir aber erst demEngländer Wallis, welcher die Insel 1767 besuchte und GeorgsIII.-Insel nannte. Im April 1768 wurde sie von Bougainvillebesucht, der sie wegen der Sinnlosigkeit der Weiber NouvelleCythère (Neukythera) taufte. Cook, der sie 1769 mit Forstergenauer untersuchte, gab dem Archipel den NamenGesellschaftsinseln. Seitdem ist der Archipel von Wilson, Turnbull,Bellinghausen, Duperrey, Kotzebue, Beechey, Dumont d'Urville u. a.besucht und beschrieben worden. Der gesellschaftliche ZustandTahitis wurde besonders durch die 1797 erfolgte Ankunft derenglischen Missionäre umgewandelt. Der König Pomare I.nahm die Missionäre günstig auf, aber erst seinNachfolger Pomare II. trat 1812 zum Christentum über.Vielweiberei und Kindermord, früher an der Tagesordnung,hörten auf; 1822 zählte man auf T. schon 66 Kirchen undKapellen. Da Pomare II. 1821 einen erst 18 Monate alten Sohn,Pomare III., hinterließ, nahmen die Missionäre, damitdie Fortschritte der Bildung nicht gefährdet würden,selbst das Staatsruder in die Hand. 1824 erhielt T. eine Art vonKonstitution. Der junge König starb aber schon 11. Jan. 1827,worauf seine 16jährige Schwester als Pomare Wahine I. auf denThron erhoben ward. Die Wirksamkeit der englischen Missionäreward gestört, als, durch einen belgischen Kaufmann,Moerenhout, der sich 1829 auf T. niederlassen, veranlaßt,französische katholische Missionäre auf T. Fuß zugewinnen suchten. Die Königin ließ die letzterngewaltsam vertreiben, worauf die französische Regierung denKapitän Dupetit-Thouars beauftragte, Genugthuung und zugleichEntschädigung für die vertriebenen Missionäre zuverlangen. Die Königin mußte nachgeben und dieAnsiedelung katholischer Priester auf der Insel dulden. AufMoerenhouts Veranlassung baten 1841 einige Häuptlinge diefranzösische Regierung um Übernahme des Protektoratsüber die Insel. Am 1. Sept. 1842 erschien Dupetit-Thouarswieder vor Papiti und erzwang durch Drohungen die Anerkennung vonFrankreichs Protektorat. Als er aber 1843 die Absetzung derKönigin proklamierte, entstanden daraus Verwickelungen mitEngland. Das französische Gouvernement mußte nachgebenund behielt bloß das Protektorat, welches aberallmählich in völlige Herrschaft verwandelt wurde. DerCode Napoléon gilt als Gesetzbuch, die Richter werden ausden französischen Zivil- und Militärbeamten genommen. DieKönigin starb 17. Sept. 1877; ihr Nachfolger war ihr SohnArijane, der als Pomare V. eine Scheinregierung führte, die er1880 in aller Formen Frankreich abtrat. Vgl. Le Chartier, T. et lescolonies françaises de la Polynésie (Par. 1887).

Tahk, Längenmaß, s. Thuok.

Tahkali, s. Carrierindianer.

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Tahoe - Taine.

Tahoe (spr. tahu), See an der Grenze der nordameri-kan.Staaten Kalifornien und Nevada, 906 qkm groß, liegt 1902 mü. M. und fließt durch den 150 km langenTruckeefluß in den Pyramid Lake ab.

Tahfil-dar, türk. Steuerbeamter, welcher denSteuerpachtern beigegeben wird.

Taifun, Wirbelsturm, s. Teifun.

Taikun, f. Shogun.

Taillandier (spr. tajangdjeh), Saint-René(eigentlich René Gaspard Ernest), franz. Schriftsteller,geb. 16. Dez. 1817 zu Paris, studierte daselbst und in Heidelbergdie Rechte, daneben Philosophie und schöne Litteratur, ward1841 Professor der Litteratur zu Straßburg , 1843 zuMontpellier und erhielt 1863 an Saint-Marc Girardins Stelle denLehrstuhlder französischen Poesie an der Sorbonne. 1870-72fungierte er als Generalsekretär des Erziehungsministers; 1873wurde er zum Mitglied der Akademie ernannt. Er starb 24. Febr.1879. T. hat sich mit besonderm Erfolg der Aufgabe gewidmet, seineLandsleute mit der Geschichte und den litterarischen Arbeiten derDeutschen bekannt zu machen. Wir nennen von seinen Werken: "ScotÉrigène et la philosophie scholastique" (1843, 2.Aufl. 1877); "Histoire de la jeune Allemagne" (1849) und"Études sur la révolution en Allemagne" (1853, 2Bde.); ferner: "Allemagne et Russie" (1856); "Histoire etphilosophie religieuse" (1860); "Écrivains et poètesmodernes" (1861); "La comtesse d'Albany" (1862); "Maurice deSaxe"(1865)^ "Tchèques et Magyars" (1869); "Drames et romansde la vie littéraire" (1870); "Le généralPhil. de Ségur" (1875); "Dix ans de l'histoire d'Allemagne"(nach der Korrespondenz Friedrich Wilhelms IV. mit Bunsen, 1875);"Le roi Léopold et la reine Victoria, récitsd'histoire contemporaine" (1878, 2 Bde.); "Étudeslittéraires: Boursault, etc." (1881). Auch gab er dieÜbersetzung des Goethe-Schillerschen Briefwechsels von derBaronin Carlowitz (1863, 2 Bde.) heraus.

Taille (franz., spr. tallje), der Schnitt eines Kleides;Wuchs, Körpergestalt, insbesondere der Teil zwischenHüften und Brust und das entsprechende Stück derFrauenkleidung, Leibchen; in der Musik s. v. w. Tenor; basse-t.,der zweite (tiefere) Tenor (auch s. v. w. Bariton). In Frankreichbedeutete T. ursprünglich eine Steuer, welche der Lehnsherrvon seinen Vasallen erhob; später überhaupt Staatssteuer,nachdem sie unter Karl VIL zu einer bleibenden geworden war, um dieersten stehenden Truppen zu erhalten; beim Pharospiel s. v. w.Abzug, d. h. eine Tour des Spiels und die Karten dazu in der durchdas Mischen bewirkten Reihenfolge.

Taille-douce (franz., spr. taj-duhß), s. v. w.Kupferstich (im Gegensatz zu Eau forte, Radierung); Taille-dure,Stahlstich.

Tailleur (franz., spr. tajör), Schneider.

Taillon (franz., spr. tajong), Nachsteuer.

Taimyr, nördlichste Halbinsel des asiatischenFestlandes zwischen der Jenisseimündung und dem Chatangabusen,nach neuern Bestimmungen der schwedischen Polarexpeditionenzwischen 81 und 114° östl. L. v. Gr. gelegen. Ihrenördlichste Spitze ist das Kap Tscheljuskin unter 77° 36'48'' nördl. Br. und 103° 17' 12'' östl. L. DieHalbinsel wird vom Taimyrfluß, welcher den großen,über 100 km breiten Taimyrsee durchfließt und sich indie Taimyrbucht ergießt, in zwei Halbinseln, einegrößere östliche und eine kleinere westliche,geteilt und von dem in nordöstlicher Richtung streichendenByrrangagebirge durchzogen, dessen östliche TeileNordenskjöld auf 600-900 m Höhe schätzt. Die T.liegt jenseit der Baumgrenze, so daß auf ihr dieverschiedenen Formen der Tundra (s. d.) in besonderscharakteristischer Weise zur Entwickelung gelangen. Durchforschtwurde die T. zur Zeit der großen nordischen Expedition(1735-43) von Minin, Sterlegow, Prontschischew, Chariton, Laptew,Tschekin und Tscheljuskin; im J. 1843 drang v. Middendorff bis zurTaimyrbai vor, und 1878 ist dieser nördlichste Teil derOstfeste von der Expedition der Vega umfahren worden.

Tain, 1) (spr. täng) Stadt im franz. DepartementDrôme, Arrondissem*nt Valence, am Rhône und an derBahnlinie Lyon-Avignon, mit dem gegenüberliegenden Tournondurch zwei Hängebrücken verbunden, hat einenrömischen Opferaltar, eine Kaltwasserheilanstalt,Seidenspinnerei, trefflichen Weinbau (auf dem Eremitagehügel)und (1881) 2150 Einw. - 2) (spr. tähn) Hafenstadt in derschott. Grafschaft Roß, am Dornoch Firth, mit Lateinschuleund (1881) 1742 Einw.

Taine (spr. tähn), Hippolyte, angesehener franz.Schriftsteller, Philosoph und Kritiker, geb. 21. April 1828 zuVouziers (Ardennen), erhielt seine Bildung am College Bourbon undan der École normale in Paris, studierte hierauf Philologie,um sich dem Lehrfach zu widmen, entsagte aber diesem Plan, nachdemer bereits durch seine beiden Abhandlungen: "De personisPlatonicis" und "Essai sur les fables de Lafontaine" (1853, 11.Aufl. 1888) sich den Doktortitel erworben hatte, um sich ganzseinen wissenschaftlichen Forschungen hingeben zu können. Zweiseiner ersten Schriften, der von der Akademie gekrönte "Essaisur Tite-Live" (1854, 5. Aufl. 1888) und "Les philosophes francaisdu XIX. siècle" (1856, 6. Aufl. 1888), erregten bereitsdurch die Unabhängigkeit der darin ausgesprochenen Ansichtengroßes Aufsehen; noch mehr war dies der Fall mit seiner"Histoire de la littérature anglaise" (1864; 5. Aufl. 1886,5 Bde.; deutsch, Leipz. 1877-78), die von seiten der orthodoxen undpäpstlichen Partei einen wahren Sturm gegen den Verfassererregte, weil man darin anti-spiritualistifche Grundsätzewahrzunehmen glaubte. Die Arbeit erhielt darum trotz ihreswissenschaftlichen Werts den akademischen Preis nicht. AlsEntschädigung erhielt der Verfasser durch Vermittelung desKaisers eine Professur der Geschichte und Kunstgeschichte an derEcole des beaux-arts; auch wurde er 1878 an Lomenies Stelle zumMitglied der Akademie erwählt. Von seinen sonstigen,übrigens von Paradoxien nicht immer freizusprechendenSchriften sind hervorzuheben : "Voyage aux eaux desPyrénées" (1855, 11. Aufl. 1887); "Essais de critiqueet d'histoire" (1857, 3. Aufl. 1874) und "Nouveaux essais" (1865,4. Aufl. 1886); "Notes sur Paris, ou Vie et opinions de Fred. -Thomas Graindorge", satirische Sittenbilder (6. Aufl. 1880); "Lepositivisme anglais", Studien über St. Mill (1864) ; "Voyageen Italie" (1866, 6. Aufl. 1889); "Philosophie de l'art en Italie"(1866, 3. Aufl. 1877); "L'ideal dans l'art", Vorträge (1867);"Philosophie de l'art dans les Pays-Bas" (1868); "Philosophie del'art en Grece" (1869); "De l'intelligence" (5. Aufl. 1888, 2Bde.); "Notes sur l'Angleterre" (8. Aufl. 1886) u. sein Hauptwerk:"Les origines de la France contemporaine", das in 2 Teile:"L'ancien regime" (15. Aufl. 1887) und "La Revolution" (1878-84,Bd. 1-3; 16. Aufl. 1888), zerfallt. In demselben nimmt T. einensehr selbständigen und vielleicht etwas paradoxen, aber aufein ungeheures tatsächliches Material gestütztenStandpunkt ein, der bei der demokratischen Schule großenAnstoß er

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Taiping - Takelung.

regt hat; er führt nämlich alle vorgeblichenGroßthaten, Entdeckungen und Neuerungen der Revolution aufältere Institutionen und Ideen zurück und bringt sie soin einen organischen Zusammenhang mit dem alten Königtum, wieihn die Jünger Michelets und Louis Blancs nimmermehr zugebenwollen. Als Kunstschriftsteller ist T. in der Analyse derKunstwerke unübertroffen.

Taiping, Name der Aufständischen in China 1849 bis1866 (vgl. China, S. 19).

Taitsing, s. Tsing.

Taiwan, chines. Traktatshafen auf der Insel Formosa undHauptstadt derselben, Sitz eines englischen Konsuls, welcher mitVertretung der deutschen Interessen betraut ist, mit katholischerund evangelischer Mission, zählt einschließlich desnördlicher gelegenen Takao 235,000 Einw. Da Anping, der Hafenvon T., nur eine offene, schlechte Reede ist, bewegt sich derVerkehr mit dem Ausland über Takao (s. d.).

Tajo (spr. tachho), einer der Hauptflüsse derPyrenäischen Halbinsel, entspringt an der Grenze der span.Provinzen Guadalajara und Teruel, am Westabhang der Muela de SanJuan, fließt in westlicher Hauptrichtung an Aranjuez, Toledound Alcantara vorüber und erhält beim Übertritt nachPortugal, wo er reißend wird und den Namen Tejo annimmt, denCharakter eines Stroms. Unterhalb Salvaterra teilt er sich in zweiArme, den westlichen Tejo novo und den östlichen Mar de Pedro,welche eine Art Delta, die Lezirias do Tejo, bilden. Alle Armemünden in die herrliche Bai von Lissabon, welche im W. durchdie breite Entrada do Tejo mit dem Meer in Verbindung steht. Dieregelmäßige Schiffahrt beginnt bei Abrantes, Barkengehen noch 50 km weiter hinauf; bei Santarem beginnt dieDampfschiffahrt, und von hier ab befahren ihn auch Seeschiffe. DieLänge des T. beträgt 912 km, der Quellabstand 675 km, dasStromgebiet 82,525 qkm (1498,8 QM.). Zuflüsse von rechts sind:Gallo, Jarama (mit Lozoya, Henares, Tajuna und Manzanares),Guadarrama, Alberche, Tiétar, Alagon, Ponsul, Zezere; vonlinks: Guadiela, Almonte, Salor, Zatas uno Canha.

Taka, Längenmaß in Sansibar, à 2 Tobeà 2 Schucka à 2 War (s. d.).

Takao (Takeu), chines. Traktatshafen an derSüdwestküste der Insel Formosa, südlich von Taiwan(s. d.), mit dem es nahezu ein zusammenhängendes Ganze bildet.In dem Hafen von T. verkehrten 1886: 190 Schiffe von 103,076 Ton.,darunter 58 deutsche von 19,732 T. Die Einfuhr betrug 1887:1,228,238, die Ausfuhr 585,789 Haikuan Tael.

Takazze (Setit), rechter Nebenfluß des Atbara (s.d.) in Abessinien.

Takel, in der Seemannssprache s. v. w. Flaschenzug.

Takelung (Takelage, hierzu Tafel "Takelung"), die gesamteVorrichtung zum Anbringen und Handhaben der Segel auf einem Schiff:die Masten, Raaen, Segel und das Tauwerk mit seinenzugehörigen Blöcken (Rollen, Kloben). Von den Mastenheißt der vordere der Fock-, der mittlere der Groß- undder hintere der Besahnmast, und alle Rundhölzer, Spieren,Segel und Taue, die an einem Mast geführt werden, werden mitden entsprechenden Beiwörtern gekennzeichnet. Bei denTakelungen mit zwei Masten fehlt bei der Brigg der Besahnmast, beimSchoner der Fockmast. Der Mast besteht nur bei kleinen Fahrzeugenseiner Länge nach aus einem Stück, auf Schiffengewöhnlich aus drei Stücken. Von diesen ist daswichtigste der Untermast (Fig 1 I), welcher, mit seinem Fußauf dem Kielschwein (s. Schiff, S. 455) stehend, durch alle Deckegeht und mit 1/2-2/3 seiner Länge über das Oberdeckemporragt. Der hölzerne Untermast besteht aus dem innern Teil(Herz), welcher, wenn in der erforderlichen Länge vorhanden,aus Einem Stück gemacht wird, und den um dieses gruppiertenSchalen, die zum Schutz und zur Verstärkung dienen und durchviele eiserne Ringe unter sich und mit dem Herzen zu einem Ganzenverbunden sind. Die Masten stehen nicht senkrecht zur Wasserlinie,sondern nach hinten geneigt, die vordern weniger, die hintern mehr.Durch Änderung der Neigung der Masten ist man im stande, dieLage des Segelschwerpunktes, d. h. des Druckmittelpunktes desWindes auf die Segel, zu modifizieren und dadurch dieSegeleigenschaften des Schiffs zu verbessern. Unter dem obern Endedes Untermastes (Topp, II) ist derselbe durch zwei Kniee (III)verstärkt, auf denen die Längs- und Quersalingen (IV undV) ruhen. Auf letztern endlich ist der Mars (s. d., VI) verbolzt.Gestützt wird der Untermast nach vorn durch ein Stag (a) undnach hinten und den Seiten durch die Wanten (b b), starke Taue,welche mit einem Auge über den Topp des Mastes gestreift, mitdem andern Ende am Deck, resp in den Rüsten an der Schiffseitebefestigt werden. Die Wanten werden nebenbei benutzt, umaufzuentern, d. h. in die T. zu klettern; sie sind dazu mitQuerleinen, den sogen. Webeleinen, ausgewebt. Wanten sindallerdings, heißen darum aber keineswegs "Strickleitern". Dienächste und Hauptverlängerung des Mastes ist dieMarsstenge (VII), welche mit ihrem Fuß mittels einesSchloßholzes (Riegels) auf den Längssalingen steht undweiter oben durch das Eselshaupt (VIII) an dem Untermastfestgehalten wird; sie hat ebenfalls einen Topp (IX), Stagen (a'a') und Wanten (b' b'), außerdem Stütztaue nach hinten(Pardunen, c' c'). An ihrem Topp ist in derselben Weise (nur einMars fehlt) die zweite Verlängerung, die Bramstenge (X), durchein Eselshaupt (XI) befestigt und durch Stagen (a'' a'''), Wanten(b'' b'') und Pardunen (c'' c'') gestützt. Ähnlich wieein Mast, besteht auch das vorn am Bug befindliche, schrägliegende Bugspriet aus dem eigentlichen Bugspriet und seinenVerlängerungen, dem Klüver- undAußenklüverbaum, welche durch Bug-, Back- undWasserstagen nach den Seiten und unten gestützt werden. Dasbisher erwähnte Tauwerk heißt stehendes Gut zumUnterschied vom laufenden (s. d. und unten), welches seinen Namendaher hat, daß es über allerlei Rollen und durchBlöcke läuft, ehe es zur bequemen Handhabung auf demOberdeck bereit ist. Zum stehenden Gut benutzt man häufigDrahttauwerk, welches dauerhafter und widerstandsfähiger ist.An den Befestigungsstellen des stehenden Gutes auf dem Oberdeck undanderwärts sind stets Vorrichtungen vorhanden, um die Spannungin dem betreffenden Tau zu regulieren, resp. dasselbenachzuspannen. Es sind dies meist sogen. Taljereeps, d. h.flaschenzugartige Apparate ohne Rollen, in neuerer Zeit auchSpannschrauben. Gegen Witterungseinflüsse wird das stehendeGut bekleidet und stark geteert, daher es schonäußerlich an seiner schwarzen Farbe zu erkennen ist. Daslaufende Gut ist braun, wenn aus europäischem Hanf, oder fastweiß, wenn aus Manilahanf gefertigt. An dem Untermast, dichtunter dem Topp, hängt die Unterraa (1). Sie wird, wie jedeandre Raa, nach oben durch Toppnanten (d) an ihren Nockengestützt und mit Brassen (e) versehen, welch letztere sie ineiner Horizontalebene drehen (anbrassen) können. An denUnterraaen sind die Untersegel (A A) befestigt, welche nach unten,also bis zum Oberdeck, gesetzt (ausge-

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Takelung der Seeschiffe.

I Untermast.

II Topp.

III Kniee.

IV Längssalingen.

V Quersalingen.

VI Mars.

VII Marsstenge.

VIII Eselshaupt.

IX Topp der Marsstenge.

X Bramstenge.

XI Eselshaupt der Bramstenge.

XII Leesegelspieren.

XIII Gaffel.

A Untersegel.

B Marssegel.

C Bramsegel.

D Oberbramsegel.

E Stagsegel.

F Gaffelsegel.

G Leesegel.

J Jungfern.

P Püttinj

a Stag.

a' Stenge

a'' Bramstengestag.

a'" Oberbramstengestag.

b Wanten,

b'b" Stengewanten.

c' Pardunen.

c"c,"' Bramstenge- }

Oberbramstenge- } Parduncn.

f ^Pferde^,

g Reefleinen.

1 Unterraa.

2 Marsraa.

3 Bramraa

4 Oberbramraa.

Fig. 9. Yawl.

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Takeu - Takowo-Orden.

spannt) werden. An der Marsstenge, dicht über demEselshaupt (VIII), befindet sich die Marsraa (2), aber zumHeißen (Aufziehen) mittels des Marsdrehreeps eingerichtet; anihr ist das Marssegel (B B) befestigt, dessen Schoothörner(untere Zipfel) durch Taue, welche Schooten heißen, nach denEnden oder Nocken der Unterraa hin ausgeholt werden; es wirdzuletzt die ganze Marsraa geheißt und dadurch das Segelgespannt. Wie die Marssegel, sind die Bram- und Oberbramsegel (Cund D) an den Bram- und Oberbramraaen (3 und 4) eingerichtet. DieTaljen, resp. Taue, mit denen die Raaen geheißt werden,heißen Fallen. Sollen die Segel geborgen (eingezogen) werden,so werden sie mittels der Geitaue und Gordingszusammengeschnürt, dann gehen Matrosen auf die Raaen, um, inden Paarden (Pferden, f) stehend, das Segel aufzurollen undvollends festzubinden. Mars und Untersegel können auchverkleinert oder gerefft werden und sind dazu mit Reffleinen (g g)versehen, welche, im Segel befestigt, von demselben mehrere,gewöhnlich vier, Streifen (jeder = ein Reff) abteilen. BeimReffen läßt man die Raa etwas herunter, dann ziehenMatrosen, welche auf der Raa verteilt sind, das Segel in dieHöhe und befestigen die Reffleine auf der Raa. Etwasabweichend sind die Schratsegel eingerichtet. Die Normalstellungder bisher besprochenen Raasegel ist senkrecht zurLängsrichtung des Schiffs. die der Schratsegel liegt inderselben. Sie sind entweder Stagsegel (E E) oder Gaffelsegel (FF). Erstere sind dreieckig: an der obern Ecke, der Piek oder demFallhorn, ist das Fall (s. oben) befestigt; die untere, der Hals,sitzt fest an irgend einem Mastteil; die hintere, das Schoothorn,wird durch die Schoot gespannt. Zu den Stagsegeln gehört derKlüver. Gaffelsegel s. unten. Bei leichtem und günstigemWind wird die Segelfläche durch die Leesegel (G G)vergrößert, dazu die Raaen durch Leesegelspieren (XII)verlängert, zwischen denen erstere ausgespannt werden. Manunterscheidet Unter-, Ober- und Bramleesegel, welche resp. dieUnter-, Mars- und Bramsegel seitlich vergrößern.

Auf kleinern Schiffen ist die Schoner- oder Gaffeltakelungzweckmäßiger als die bisher besprochene Raatakelung,weil sie leichter zu bedienen ist, und weil mit derselben besserbei dem Wind (s. Segelmanöver) gesegelt werden kann. JederMast hat hier nur ein trapezförmiges Hauptsegel, das an einerGaffel (XIII) und am Mast selbst befestigt ist und, wie dieStagsegel, mit einer Schoot gesetzt wird. Über diesem kann einzweites, das Gaffeltoppsegel, zwischen den Enden der Gaffel und desMastes, der nur eine Stenge hat, angebracht werden (Fig. 7). AmBugspriet kommt auch bei dieser T. noch eine Anzahl Stagsegelhinzu. Neuere und große Schiffe haben nicht selten eiserneMasten, welche von demselben Durchmesser wie hölzerne, aberhohl, nur inwendig stark verstrebt, gefertigt werden; zuweilenbestehen Untermast und Stenge aus einem Stück. Sie sinddauerhafter und, wo Hölzer von der erforderlichenGröße schwer zu beschaffen sind, auch billiger; Raaenstellt man aus demselben Grund zuweilen aus Stahlröhren her.Auf Kauffahrteischiffen sind doppelte Marsraaen und Patentmarsraaenvielfach in Gebrauch. Bei letztern kann man schnell, und ohnedaß einer in die T. zu gehen braucht, reffen. Indemnämlich die Raa gefiehrt (herabgelassen) wird, dreht sie sich,mittels eines Zahnrades an der mit einer Zahnleiste versehenenStenge herunterrollend, und wickelt dabei den obern Teil desMarssegels um sich selbst auf. Nach den verschiedenen Takelungenunterscheidet man bei den Seeschiffen: Voll- oder Fregattschiffe(drei Masten, alle mit Raatakelung, Fig. 2); Barken (drei Masten,Fock- und Großmast mit Raatakelung, BesahnmastGaffeltakelung, Fig. 5); Schonerbarken (nur der FockmastRaatakelung, Groß- und Besahnmast Gaffeltakelung, Fig.4);dreimastige Schoner (alle drei Masten Gaffeltakelung); Briggs (zweiMasten, beide mit Raaen, Fig. 3); Schonerbriggs (auch Voll- oderRaaschoner; Fockmast mit Raaen, Großmast mit Gaffeltakelung,Fig. 6); Schoner (beide Masten mit Gaffeltakelung, Fig. 7).Einmastige Schiffe mit Raaen gibt es nicht. Die kleinern(Küsten-) Fahrzeuge unterscheiden sich mehr nach ihrer Bauart,wie z. B. Kuff, Galjaß, Galjot, und führen dabei eineder vorerwähnten Takelungen mit geringen Abweichungen. DieGesamtsegelfläche wird durch eine Zahl angegeben, derenEinheit der Flächeninhalt des größten Querschnittsdes Schiffs unterhalb der Wasserlinie ist. Sie beträgt bei dengroßen modernen Kreuzern mit Dampfkraft 25-30, bei kleinern30-40; bei den großen Segelschiffen einer vergangenen Periode40-50, bei den kleinern 60. Hat man die Gesamtsegelflächeeines zu erbauenden Schiffs bestimmt, dann muß die T. soangeordnet werden, daß der Segelschwerpunkt, d. h. derAngriffspunkt der gesamten zur Wirkung kommenden Windkraft, eineauf dem Erfahrungsweg bestimmte Lage hat, nämlich etwas vordem Schwerpunkt und hinter der Drehachse des Schiffs und in einerHöhe über der Wasserlinie, welche mit der Stabilitätin Einklang steht. Liegt der Schwerpunkt der Segelfläche zuweit nach hinten, so wird das Schiff luvgierig, d. h. von der Seitekommender Wind wird bestrebt sein, den Bug des Schiffs dem Windentgegenzudrehen. Liegt der Segelschwerpunkt zu weit nach vorn, sowird das Schiff leegierig. Etwas luvgierig müssen guteSeeschiffe sein. Über die T. der Boote s. Boot. Vgl. Sterneck,T. und Ankerkunde (Wien 1873); Bréart, Manuel degréement (4. Aufl., Par. 1875), und die Litteratur bei Art.Seemannschaft.

Takeu, Stadt, s. Takao.

Takkaceen, monokotyle, nur 8-10 Arten umfassende, imtropischen Asien, Neuholland und Polynesien einheimischePflanzenfamilie aus der Ordnung der Liliifloren, die zunächstmit den Dioskoraceen verwandt ist. Die T. wachsen an feuchtenStellen des Meeresufers und in den Bergwäldern des tropischenAsien, Afrika und der Inseln des Ozeans.

Takonisches System, eine von amerikanischen Geologengebrauchte Bezeichnung sehr alter Gesteinsschichten, in seineruntern Abteilung mit der Huronischen Formation (s. d.) identisch,in der obern Abteilung mit den kambrischen Schichten (s. SilurischeFormation) oder dem Untersilur der europäischen Geologen zuparallelisieren.

Takowo, Graf von, Name, den der frühere KönigMilan von Serbien nach seiner Abdankung (1889) annahm.

Takowo-Orden, serb. Zivil- undMilitärverdienstorden, gestiftet von Milosch ObrenowitschIII., 1876 von Milan IV. erneuert und 15. (27.) Febr. 1878 mitStatuten versehen. Der Orden hat fünf Klassen:Großkreuze, Offiziersgroßkreuze, Kommandeure,Offiziere, Ritter. Die beiden ersten Klassen haben gleiche, nurdurch die Größe unterschiedene Dekorationen, bestehendin einem grünen Lorbeerkranz, dessen Zweige in einer rotemaillierten Krone endigen, darauf liegend ein goldenesAndreaskreuz, in dessen Mitte die

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Taksim - Taktik.

Chiffer MO steht, von blauem Band umwunden, mit der Devise:"Für Glauben, Fürst und Vaterland"; dazu einenachtstrahligen, weiß emaillierten Stern mit dem Takowokrenzin der Mitte. Die erste Klasse trägt das Kreuz am Bandüber die Schulter, die zweite um den Hals, den Stern auf derBrust; die dritte Klasse trägt nur das Kreuz um den Hals, dievierte das Kreuz an einem im Dreieck zusammengelegten Band auf derBrust, die fünfte ein Kreuz ohne Email. Das Band ist rot mitblauen und weißen Randstreifen.

Taksim (arab.), in den orientalischen Städten dasReservoir der Wasserleitungen; auch s. v. w. musikalischer Vortrag,Phantasie.

Takt (ital. Tempo, franz. Mesure), die nach bestimmtenVerhältnissen abgemessene Bewegung der Töne undTonverbindungen in der Zeit. Der T. zerfällt in Taktteile, diehinsichtlich der Zahl je nach der Taktordnung verschieden sind,immer aber dazu dienen, die verschiedenen Töne, Tonfigurenetc. nach der Zeit zu messen. Die nächste Unterabteilung derTaktteile sind die Taktglieder, wie z. B. im Zweivierteltakt dieViertelnoten Taktteile, die Achtelnoten Taktglieder sind. DerAnzahl der Taktteile nach unterscheidet man zunächst einezweiteilige und eine dreiteilige (gerade und ungerade) Taktordnung.Beide sind einfache Taktordnungen. Durch Zusammenziehung von jezwei Abschnitten der zweiteiligen entsteht die vierteilige, durchZusammenziehung von je zwei Abschnitten der dreiteiligen diesechsteilige Taktordnung. Werden je drei Abschnitte derdreiteiligen Ordnung zusammengezogen, so entsteht die neunteiligeund durch Zusammenziehung von vier Abschnitten der dreiteiligen diezwölfteilige Taktordnung. Sämtliche Taktordnungen von dervierteiligen an heißen zusammengesetzter T. Durch den Accenterhalten die Taktteile verschiedenen innern Wert. Hiernachunterscheidet man gute oder schwere Taktteile, welche den Accenthaben (Thesis, Niederschlag), und schlechte oder leichte Taktteile,welche den Accent nicht haben (Arsis, Aufschlag). Aus der obigenEntwickelung der Taktordnungen ergibt sich, daß in derzweiteiligen und dreiteiligen der 1., in der vierteiligen der 1.und 3. Taktteil, in der sechsteiligen das 1. und 4., in derneunteiligen das 1., 4. und 7. und in der zwölfteiligen das1., 4., 7. und 10. Taktglied den Accent haben müssen. DieTaktnoten zweiteiliger Ordnung sind: der Zweizweiteltakt (kleinerAllabrevetakt), dessen zwei Taktteile aus halben Noten bestehen undnur durch 2/2 bezeichnet werden; der Zweivierteltakt (2/4) und derZweiachteltakt (2/8). Die dreiteilige Ordnung enthält denDreizweitel- (3/2), den Dreiviertel- (3/4) und den Dreiachteltakt(3/8). Der vierteiligen Taktordnung gehören derVierzweiteltakt (großer Allabrevetakt), bezeichnet durch(2/1), 2,2, der Viervierteltakt (gewöhnlich durch Cbezeichnet) und der Vierachteltakt (4/8) an. In der sechsteiligenOrdnung sind der Sechsviertel- (6/4), Sechsachtel- (6/8) und derSechssechzehnteltakt (6/16) zu nennen. Die neunteilige Ordnungenthält den Neunachteltakt (9/8), die zwölfteilige denZwölfachteltakt (12/8) und den Zwölfsechzehnteltakt(12/16). Die jedesmalige Taktart wird mit den betreffenden Zeichenoder Ziffern, Taktzeichen genannt, am Anfang des Tonstücksbemerkt. Die Taktarten mit einer geraden Anzahl von Taktteilennennt man gerade, die mit einer ungeraden Anzahl von Taktteilenungerade Taktarten (Tripeltakt). Die durch den T. im Rhythmusgebildeten Abschnitte scheidet man durch die Taktstriche, welchedas Liniensystem senkrecht durchschneiden. Im psychologischen Sinnbezeichnet T. das verständige Gefühl des Richtigen undSchicklichen oder die Fähigkeit, aus bloßäußerer Aufeinanderfolge rasch das innerlich wirklichZusammengehörige zu erraten und passend anzuwenden, eineEigenschaft, welche besonders dem Frauengeschlecht eigen ist undals "scheinbare Einfalt" sich von dieser durch Verständigkeit,vom wirklichen Verstande dagegen durch die Bewußtlosigkeitunterscheidet.

Taktieren, bei Aufführung eines Musikstücks miteinem Stab (Taktierstock) den Takt angeben. Die dabei üblichenBewegungen sind konventionell feststehend und zwar im wesentlichenfolgende: der erste Taktteil (Taktanfang) wirdregelmäßig durch den Herunterschlag ^ angezeigt, dieübrigen Schläge halten sich mehr unten, und der letztegeht nach oben ^. Ob der zweite Schlag von rechts nach links odervon links nach rechts geführt wird, ist einerlei. Dieüblichsten Arten der Taktierung sind der zweiteilige Takt, derdreiteilige, vierteilige und der sechsteilige Takt (vgl. Takt). Manschlägt sie in folgender Weise:

Ein Crescendo wird gewöhnlich durch weiter ausholendeSchläge anschaulich gemacht, während die Verkleinerungder Schläge ein Diminuendo andeuten soll; scharfe Accente,Sforzati etc. verlangt man durch kurze, zuckende Bewegungen,Veränderungen des Tempos (stringendo, ritardando) durchZuhilfenahme der andern Hand, doch fangen hier bereits dieindividuellen Eigentümlichkeiten an. Die Dauer einer Fermatewird durch Stillhalten des Taktstocks in der Höhe angedeutet,ihr Ende durch eine kurze Hakenbewegung. Vgl. K. Schröder,Katechismus des Taktierens und Dirigierens (Leipz. 1889).

Taktik (griech., Aufstellungslehre, Fechtweise), Lehrevon der Führung und dem Verhalten der Truppen auf demGefechtsfeld. Wenn die Strategie der Kriegführung Richtung undZiele gibt, so ist die Anordnung zur Ausführung derMärsche, die Unterbringung und Sicherung der Truppenwährend der Ruhe wie die Durchführung der Gefechte dieAufgabe der T. Man unterscheidet eine niedere oder Elementartaktik,welche sich nur mit der Thätigkeit der taktischen Einheiten(Kompanie, Eskadron und Batterie) beschäftigt, und höhereT.. welche den Gebrauch der größern Truppenverbändelehrt. Die Vorschriften (Reglements) für Aufstellung, Bewegungund Gefecht der Truppenkörper ohne Rücksicht aufKriegslage, Terrain und Feind bilden das Gebiet der reinen oderformellen T., die Anwendung dieser Formen im Terrain und dem Feindgegenüber das Gebiet der angewandten T. Vgl. v. Boguslawski,Die Entwickelung der T. von 1793 bis zur Gegenwart (2. u. 3. Aufl.,Berl. 1873-85, 4 Bde.); v. Brandt, Grundzüge der T. (3. Aufl.,das. 1859); v. Decker, Die T. der drei Waffen (3. Aufl., das.1851-54, 2 Bde.); v. Griesheim, Vorlesungen über T. (3. Aufl.,das. 1872); Meckel, Lehrbuch der T. (2. Aufl., das. 1873 ff.);Derselbe, Elemente der

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Taktmesser - Talent.

T. (2 Aufl., das. 1883); Pönitz, T. der Infanterie undKavallerie (4. Aufl., Adorf 1859, 2 Bde.); Rüstow, AllgemeineT. (2. Aufl., Zürich 1868); Derselbe, Strategie und T. derneuesten Zeit (Stuttg. 1872-75, 3 Bde.); v. Lettow, Leitfaden derT. für die königlichen Kriegsschulen (6. Aufl., Berl.1884); v. Verdy du Vernois, Studien über Truppenführung(das. 1873-75, 2 Tle.); Derselbe, Taktische Beispiele (das. 1880) ;v. Scherff , Von der Kriegführung (das. 1883).

Taktmesser (griech Metronom), einschwingendes Pendel mitverschiebbarem Gewicht und einer Skala, welche angibt, wie vieleHin- und Hergänge das Pendel in der Minute macht, je nachdemdas Gewicht gestellt ist. Der T. dient zur genauen Bestimmung desTempos, in welchem der Komponist sein Werk ausgeführt wissenwill, und ist daher eine höchst bedeutsame Erfindung, da unserAllegro, Andante etc. doch Angaben von wenig Bestimmtheit sind. Derjetzt allgemein verbreitete T. ist der Metronom des MechanikersJohann Nepomuk Mälzel (geb. 1772 zu Regensburg, gest. 1838 inAmerika), 1816 patentiert, doch eigentlich nicht MälzelsErfindung, sondern die eines Mechanikus Winkel in Amsterdam. Aufihn bezieht sich die seitdem übliche Bezeichnung vonKompositionen, z. B. M. M. ^ = 100 etc. (die Halben von der Dauereines Pendelschlags, wenn das Gewicht auf 100 gestellt ist, d. h.100 in der Minute). Vorausgegangen waren ihm ähnliche, mehroder minder unvollkommene Versuche von Loulié, Stöckelu. a.

Taktstrich, s. Takt.

Taktvorzeichnuugen, die Bruchzahlen oder Zeichen, welcheam Anfang der Tonstücke, unmittelbar hinter dem Schlüsselstehen und die Taktart derselben bezeichnen, als ^, ^. 3/4, 6/8etc. Dieselben sind insofern ungenügend, als sie wohl die Zahlder Taktteile angeben, aber die eigentlichen Zählzeiten nichtimmer deutlich genug hervorheben, wie z. B. die Vorzeichnung 6/4nicht erkennen läßt, ob der Takt dreizählig (3/2)oder zweizählig (2/3) sein soll.

Taku, Befestigungen, welche den Eingang zumPeihofluß in Ch1na verteidigen, an welchem Peking liegt. Vgl.Tientsin.

Talanti (Atalanti), Stadt im griech. Nomos Phthiotis undPhokis, 6 km von der Meerenge von T., welche das griechischeFestland von der Insel Negroponte (Euböa) scheidet, Sitz einesBischofs, mit (1879) 1377 Einw.

Talar (lat.), zunächst als Haustracht der kathol.Geistlichen ein langer, gewöhnlich schwarzer Rock, der weitund faltenreich vom Hals bis auf die Füße hinabgeht,woraus sich später der T. als Amtskleid der evangelischenGeistlichen, der Gerichtspersonen etc. entwickelte.

Talar (pers.), eine längliche Halle, Vorhalle, auchEmpfangssalon der Fürsten.

Talarien (lat.), die Flügelschuhe des Merkur.

Talaro, in Persien, Arabien etc. derMariatheresienthaler, = 4,20 Mk.

Talassio (Talassus), röm. Hochzeitsgott, demHymenäos der Griechen entsprechend, gehörte zu denverschollenen Göttern und wurde nur im Refrain ("Talasse") desbei der Heimführung der Braut gesungenen Hochzeitsliedesangerufen. Spätere Deutung machte ihn zu einem beim Raub derSabinerinnen beteiligten Genossen des Romulus.

Tala'ut, Gruppe kleiner ostind. Inseln, zwischen Celebesund den Philippinen, nordöstlich von den Sangirinseln, inadministrativer Hinsicht zur niederländischen ResidentschaftMenado auf Celebes gehörig. Die Inseln, deren bedeutendsteTulur (Karkelong), Salibabu und Kabruang heißen, sindsämtlich fruchtbar, gut bevölkert und angebaut.

Talavera de la Réina, Bezirksstadt in der span.Provinz Toledo, am Tajo, über den eine Steinbrücke mit 25Bogen führt, und an der Eisenbahn Madrid-Lissabon, hat starkeTöpferei (im 16.-18. Jahrh. Hauptfabrikationsort der nach T.benannten bemalten Fayencen), Wachszieherei und Bleicherei, einegroße Messe (im August) und (1878) 10,029 Einw. Hier 27. und28. Juli 1809 Sieg Wellingtons über die Franzosen unterKönig Joseph.

Talbot, John, s. Shrewsbury.

Talca, Provinz der südamerikan. Republik Chile,liegt zwischen dem Rio Mataquito und dem schiffbaren RioMáule, reicht vom Stillen Ozean bis zum Kamm der Kordillerenu. umfaßt 9527 qkm (173 QM.) mit (1885) 133,472 Einw. Landbauund Viehzucht sind die Haupterwerbszweige. Gold kommt imFlußsand vor, die Ausbeute aber ist unbedeutend. DieHauptstadt San Augustin de T., am Rio Claro, einem Nebenflußdes Máule, 83 m ü. M., hat eine schöne Kathedrale,eine höhere Schule, ein Hospital und (1875) 17,496 Einw., dielebhaften Handel und Handweberei (Ponchos) betreiben. EineEisenbahn verbindet Talca mit Santiago und Concepcion.

Talcahuana, Hafenstadt im südamerikan. Staat Chile,Provinz Concepcion, 20 km von der Hauptstadt, ist Sitz derMarinebehörden, hat ein Kriegsarsenal, Schiffwerfte, einenMolo, an dem die größten Schiffe anlegen können,und (1875) 2495 Einw. Die Einfuhr in den Hafen von T. betrug 1887:5,492,628 Pesos, die Ausfuhr 5,504,767 Pesos.

Talch, s. Acacia, S. 74.

Talcium, s. v. w. Magnesium.

Talegalla, Huhn, s. Wallnister.

Taleman (schwed.), der Sprecher des Bauernstandes auf denschwedischen Reichstagen.

Talent (griech.), ausgezeichnete geistige oder auchkörperliche Befähigung. In diesem Sinn spricht man vonmathematischem, philosophischem, künstlerischem etc., aberauch technischem, mechanischem etc. T. Der innere Grund derVerschiedenartigkeit der einzelnen Talente ist, wie alles, wasunter den allgemeinen Begriff der Anlage (s. d.) fällt, einProblem der Psychologie. Der Unterschied des Talents vom Genie istaber deshalb schwer festzustellen, weil das T. in seinenhöchsten Entfaltungen sich dem Genie bis auf einenunmerklichen Abstand nähern kann. Im allgemeinen kann mansagen, daß dem Genie die schöpferischeUrsprünglichkeit, mit der es sich seine eigne Bahn bricht undneue Wirkungskreise aufthut, daher unter günstigenUmständen der Kunst und Wissenschaft ganz neue Gebieteöffnet, als Eigentum zuzusprechen sei, während sich dasT. an das Gegebene hält, das Vorhandene seinem Zweckgemäß zu benutzen und umzuformen weiß, aberweniger aus sich selbst produziert und auch weniger seinen eignenWeg geht. Vgl. Genie.

Talent (griech. tálanton), bei den Griechen diehöchste Einheit für Gewicht und Geld, vorzüglichSilbergeld, war eingeteilt in 60 Minen à 100 Drachmenà 6 Obolen. Der Wert des Talents war zu verschiedenen Zeitenund in verschiedenen Staaten verschieden. Das gewöhnlichste T.war das von Solon eingeführte kleine attische, welches stetsgemeint ist, wenn T. ohne weitern Zusatz genannt wird. Dasselbehielt dem Gewicht nach 26,2 kg, als Geldsumme nach den neuestenBerechnungen rund 4710 Mk. - Im jetzigen Griechenland ein Gewicht,= 150 kg

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Talfourd - Talisman.

Talfourd (spr. tälförd), Sir Thomas Noon, engl.Dichter, geb. 26. Jan. 1795 zu Doxey bei Stafford, widmete sich derjuristischen Laufbahn, vertrat 1834 bis 1843 Reading im Parlamentund machte sich hier durch das Einbringen und die Verteidigung derCopyright bill bekannt. 1849 wurde er zum Richter am Court ofCommon Pleas ernannt und starb 20. März 1854 währendeiner Anrede an den großen Gerichtshof zu Stafford.Berühmt wurde T. durch seine Trauerspiele ("Dramatical works",neue Ausg. 1852), deren erstes: "Ion", zugleich sein bestes, 1836zur ersten Aufsührung kam. Außerdem schrieb er eineAnzahl politischer und belletristischer Werke, darunter: "The lifeof Charles Lamb" (neue Ausg. 1850. 2 Bde.) und "Vacation ramblesand thoughts, recollections of three continental tours" (3. Aufl.1851. Supplement 1854).

Talg (Unschlitt, Inselt), das Fett der Rinder, Schafe,Ziegen, Hirsche, ist farblos, riecht schwach eigentümlich, isthärter bei Trockenfütterung, im warmen Klima und beimännlichen Tieren, enthält durchschnittlich 75 Proz.Stearin und Palmitin und 25 Proz. Olein. Rindertalg schmilzt bei43,5-45°, ist unlöslich in kaltem, schwer löslich insiedendem Alkohol; Hammeltalg ist härter, brüchig, fastgeruchlos, schwer löslich in Alkohol, schmilzt bei46,5-47,5°. Ziegentalg ist dem Rindertalg ähnlich, riechtaber stärker. über Hirschtalg s. d. Zur Gewinnung desTalgs erhitzt man das zerschnittene Fett (Talglinsen) unter Zusatzvon einigen Prozenten Wasser unter beständigem Umrührenim kupfernen Kessel, schöpft das geschmolzene Fett ab undpreßt endlich den Rückstand (Griefen, Grieben) aus.Vorteilhafter schmelzt man die Linsen mit Dampf unter Zusatz vonetwa 1 Proz. Schwefelsäure in hölzernen, mit Bleiausgeschlagenen Bottichen, bedeckt, um die übelriechendenDämpfe abzuleiten, die Kessel und bringt ein mit der Feuerungin Verbindung stehendes Ableitungsrohr an, welches zur Verteilungder Dämpfe mit einem Sieb endigt. Die Ausbeute beträgt75-92 Proz. und ist im allgemeinen beim Schmelzen mit Dampfgrößer als beim trocknen Schmelzen. Zur Reinigung wirdder T. wiederholt mit 5 Proz. Wasser, auch mit Alaun-, Salz- oderSalpeterlösung umgeschmolzen, in kaltes Wasser gegossen und inSpänen an der Sonne gebleicht. Auch durch Schmelzen mit etwa 1Proz. Braunsteinpulver, 2 Proz. Schwefelsäure und 30 Proz.Wasser, Abgießen, Versetzen mit 1 Proz. Oxalsäure undabermaliges Abgießen kann T. gebleicht werden. ZumHärten schmelzt man T. mit 0,5 Proz. Schwefelsäure und0,5 Proz. Salpetersäure, wäscht aus und erhitzt bis zumVerdunsten des Wassers, oder man rührt 0,007 Proz. Bleizuckerin das geschmolzene Fett ein. Man kann auch geschmolzenen T. auf20-25° abkühlen lassen und das flüssig gebliebeneOlein abpressen. Das abgepreßte breiförmige Talgöldient zur Darstellung von Kunstbutter. Die größte MengeT. liefert Rußland, im Süden mehr Hammeltalg(weißer T.), im Norden hauptsächlich Rindertalg (gelberT.). Je nach der Reinheit und Konsistenz unterscheidet man auchLichtertalg und Seifentalg, welch letzterer namentlich aus Sibirienkommt. Auch Polen, Holland und Dänemark liefern viel und gutenT., welcher, wie die inländische Produktion, in Deutschlanddem russischen vorgezogen wird. Neuerdings wird auch T. ausAustralien und den La Plata-Staaten zugeführt. Man benutzt T.als Nahrungsmittel, zu Kerzen, zur Darstellung vonStearinsäure und Seife, in der Lederbereitung, zuSchmiermitteln etc.

Talg, vegetabilischer, starres Pflanzenfett vonhöherm Schmelzpunkt und der Zufammensetzung der echten Fette.Chinesischer Talg, aus der festen Fettschicht, welche die Samen vonStillingia sebifera umgibt, in China, Ost- und Westindien durchSchmelzen und Abpressen gewonnen, ist farblos odergrünlichweiß, ziemlich hart, schmilzt bei 37-44°,besteht aus Stearin und Palmitin, reagiert sauer durch einen Gehaltvon Essigsäure und Propionsänre, dient in China undEngland zur Darstellung von Kerzen und Seifen. Vateriatalg(Pineytalg), aus den Samen der ostindischen Vateria indica durchwarmes Pressen gewonnen, ist gelblich, später farblos, riechtschwach angenehm, schmilzt bei 36,4°, besteht aus festen Fettenund freien Fettsäuren und enthält 2 Proz. fettes Öl,dient in England zur Kerzenfabrikation. Virolafett, aus den Samenvon Virola sebifera in Guayana durch Auskochen und Pressengewonnen, ist gelblich, innen oft bräunlich mitpunktförmigen Kristallaggregaten, riecht frisch nachMuskatbutter, wird bald ranzig, schmilzt bei 44°,vollständig bei 50°, ist nur teilweise verseifbar, dientzur Kerzen- und Seifenfabrikation. Myricawachs (Myrtle-,Myrtenwachs), aus den Beeren von Myrica cerifera und M.carolinensis in Nordamerika, M. caracassana in Neugranada und M.quercifolia, cordifolia, laciniata am Kap durch Auskochen mitWafser gewonnen, ist grünlich, riecht sehr schwach balsamisch,schmilzt bei 42,5-49°, besteht aus Fetten, wird wie Bienenwachsund mit diesem gemengt verwendet. Japanisches Wachs, aus den Samenvon Rhus succedanea in China und Japan durch warmes Pressengewonnen, ist blaßgelblich, wachsartig, nach längermLiegen außen gelb bis bräunlich mit schneeweißemAnflug, schmilzt bei 52-53°, besteht wesentlich aus Palmitinund ist von allen vegetabilischen Talgarten die wichtigste. Eskommt seit 1854 aus Japan und Singapur, zum Teil über China,in großen Mengen nach Europa und Amerika und wird zurKerzenfabrikation und wie Bienenwachs, auch mit diesem gemengtbenutzt. Über die Bassiafette (Schibutter, Galambutter etc.)s. Bassia.

Talgbaum, mehrere festes Pflanzenfett liefernde Pflanzen,namentlich: Stillingia sebifera, Vateria indica, Myricacerifera.

Talgdrüsen, s. Hautdrüsen.

Talglichte, s. Kerzen, S. 696.

Talgsäure, s. v. w. Stearinsäure.

Talgstoff, s. v. w. Stearin.

Talha, s. Acacia, S. 74.

Talhaka, König, s. Tirhaka.

Talifu, Stadt in der chines. Provinz Jünnan, derenBewohner als Hauptbeschäftigung die Bearbeitung vonMarmorplatten betreiben, welche bei dem Dorf Tiensing gebrochenwerden, und die sich durch ihr wunderbares Farbenspiel auszeichnen.Es war nach 1857 Hauptstadt der aufständischen muselmanischenPanthai, bis es Ende 1872 wieder von den Chinesen eingenommenwurde.

Talion [Dehnungsstrich auf dem o] (lat.), Vergeltungeiner Handlung durch eine gleiche; daher Jus talionis, das Rechtder Wiedervergeltung; Poena talionis, die Strafe der Vergeltung,die in den ältern germanischen Rechten sowie bei den Griechenund Römern üblich war.

Talipes (lat.), der Klumpfuß.

Talisman, Bild von Metall oder Stein, welchem die Kraftinnewohnen soll, denen, die es tragen, oder in und an derenWohnungen es sich befindet, Schutz gegen Krankheit und Zauberei zugewähren sowie überhaupt Glück zu bringen. Diesemagischen Bilder

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Talismanexpedition - Talleyrand.

mit der Metallreligion der alten Akkadier zusammenhängend,waren besonders im alten Babylon und Ninive im Gebrauch, woselbstkein Gebäude ohne schützendes Bild (meistZwittergestalten von Göttern, Menschen und Tieren) gebautwurde. Auch in den arabischen Erzählungen spielt der T. einewichtige Rolle. Ähnliche Dinge waren die Skarabäen derÄgypter, die Abraxasgemmen der Gnostiker (s. Abraxas), dieAlraunen und der Allermannsharnisch des Mittelalters, dieSiegessteine der Wielandsage und die meist nur mit magischenZeichen und Sprüchen beschriebenen Amulette (s. d.). Das WortT. findet sich in fast allen europäischen Sprachen und wirdaus das arabische tilsam (Zauberbild, Plural tilsamât odertalâsim) zurückgeführt. Vgl. Lenormant, Die Magieund Wahrsagekunst der Chaldäer (deutsch, Jena 1878); Fischerund Wiedemann, Babylonische Talismane (Stuttg. 1881).

Talismanexpedition, 1883, s. Maritime wissenschaftlicheExpeditionen, S. 285.

Taliter qualiter (lat.), so gut es eben geht.

Talith (hebr.), der vom Gesetz (4. Mos. 15, 37 ff.)gebotene shawlförmige Gebetmantel der Juden.

Talje, im Seewesen s. v. w. Flaschenzug; das bei der T.zur Anwendung kommende Tau heißt deren Läufer; das andem einen Block der T. befestigte Ende des Läufers die festePart, das andre Ende desselben die lose oder die holende Part. Umauf die holende Part eine Zugkraft ausüben zu können, istes meist erforderlich, deren Richtung durch einen sogen. Leitblockzu verändern; der Klappläufer ist ein Leitblock, dessenobere Backe zum Aufklappen eingerichtet ist, so daß derTaljenläufer direkt auf die Scheibe des Leitblocks gebrachtwerden kann.

Taljereeps, s. Takelung, S. 495.

Talk, Mineral aus der Ordnung der Silikate (Talkgruppe),kristallisiert wahrscheinlich rhombisch, zeigt nur seltentafelförmige Kristalle, bildet gewöhnlich schalige,blätterige, schieferige, auch dichte, weiße,grünliche oder gelbliche, selten farblose Aggregate. T. ist indünnen Lamellen durchsichtig, besitzt Perlmutter- oderFettglanz, ist sehr mild und fühlt sich fettig an. Härte1, spez. Gew. 2,69-2,80. Der chemischen Zusammensetzung nach ist T.mit Speckstein (s. d.) identisch und entspricht, wie dieser, derchemischen Formel H2Mg3Si4O12. Oft tritt auch etwas Eisen undAluminium in die Zusammensetzung ein. T. ist ein häufigesMineral, bildet als Talkschiefer (s. d.) ein einfaches Gestein,kommt aber auch untergeordnet auf Lagern, Nestern, Gängen, imGemenge mit andern Mineralspezies, ferner als Überzug vor.Hauptfundorte sind: Tirol, Steiermark und die Schweiz. Er dient,ähnlich wie Speckstein, als Maschinenschmiere, alsPoliermaterial für weiche Gegenstände, in derSchminkebereitung etc.

Talkeisenstein, s. Magneteisenerz.

Talken, böhm. Hefengebäck aus Butterteig inKloßform, wird mit Pflaumenmus bestrichen, mit zerriebenemPfefferkuchen bestreut und mit zerlassener brauner Butterbegossen.

Talkerde, s. Magnesia.

Talkhydrat, s. Brucit.

Talkschiefer, einfaches Gestein, schieferiger Talk vonunreinen weißen, gelblichweißen, grünlichgrauenund lichtgrünen bis ölgrünen Farben, von fettigemGlanz und großer Weichheit beim Anfühlen. Er kommtdünn und dickschieferig, als reines Talkgestein, aber auch mitQuarz und Feldspat gemengt vor. Er bildet Übergänge,namentlich zu Chloritschiefer. Als accessorische Bestandteileenthält er: Glimmer, Chlorit, Magneteisen, Strahlstein,Cyanit, Staurolith, Turmalin, Granat, Asbest, Magnesit, Bitterspat,Eisenkies, Gold. Er ist ein Glied der huronischen Formation undmeist dem Glimmerschiefer untergeordnet, in welchem er dann oft mitChloritschiefern, Hornblendegesteinen, oft auch in Verbindung mitSerpentin auftritt. Mit Chlorit oder mit diesem und Asbest inniggemengt, bildet er ein dichtes Gestein, den Topfstein (s. d.). Imganzen von beschränkter Verbreitung, tritt der T. auf in denAlpen, so im Montblanc- und Monte Rosa-Gebirge, in Graubündenund Oberitalien, in den Tauern und am Bachergebirge, im Apennin, inSchweden, sehr ausgedehnt im Ural, in Nordamerika, in Brasilien,hier die Lagerstätte der Topase, des Euklases, sehrbeschränkt im Fichtelgebirge, als Topfstein inGraubünden, bei Chiavenna (Lapis comensis). Wegen seinerFeuerfestigkeit benutzt man T. zu Gestellsteinen.

Talkspat, s. Magnesit.

Tallahassee, Hauptstadt des nordamerikan. Staats Florida,mit Staatenhaus und (1880) 2293 Einw. T. wurde erst 1824 angelegt.Am 7. Jan. 1861 wurde hier die Sezessionsordinance angenommen.

Tallart (spr. -lar), Camille, Graf von, Herzog vonHostun, Marschall von Frankreich, geb. 14. Febr. 1652 in derDauphiné, focht zuerst unter dem großen Conde in denNiederlanden, dann 1674 und 1675 unter Turenne im Elsaß und1678 als Marechal de Camp am Rhein. 1690 überschritt er, umden Rheingau zu plündern, den Rhein auf dem Eis. Im spanischenErbfolgekrieg kommandierte er 1702 ein Korps am Rhein unter demOberbefehl des Herzogs von Burgund. 1703 erhielt er denMarschallsstab, eroberte Breisach, belagerte Landau und schlug denzum Entsatz herbeirückenden Prinzen von Hessen bei Speier.1704 führte er dem Kurfürsten von Bayern 35,000 MannHilfstruppen zu, um mit ihm gemeinschaftlich in Österreicheinzudringen, fiel aber in der Schlacht bei Höchstädt inenglische Gefangenschaft. Nach seiner Befreiung (1712) erhielt erden Herzogstitel, 1715 die Pairswürde. Seitdem lebte er denWissenschaften und der Staatskunst. In seinem Testament ernannteihn Ludwig XIV. zum Mitglied des Regentschaftsrats, allein derHerzog von Orléans vollzog als Regent diese Bestimmungnicht. 1724 erwählte die Akademie der Wissenschaften T. zuihrem Präsidenten. Von Ludwig XV. 1726 zum Staatsministerernannt, starb er 20. März 1728.

Talleyrand (spr. tall'rang), altes franz. Geschlecht,stammt von einem Zweig der Grafen de la Marche, der sich in dieLinien Périgord, welche 1400 erlosch und T. (so benannt nacheinem Gut in Périgord) teilte. Der erste Graf von T. warHélier (um 1100). Die drei Linien der Talleyrands stammen abvon Daniel Marie Anne, Marquis von T., Fürsten von Chalais,welcher 1745 bei der Belagerung von Tournai blieb und fünfSöhne hinterließ. Der Stifter der ersten Linie warGabriel Marie von T., der von Ludwig XV. den Titel eines Grafen vonPérigord zurückerhielt. Sein Enkel Augustin Marie ElieCharles, Fürst von T., Herzog von Périgord, geb. 10.Jan. 1788, diente unter Napoleon I., ward unter den Bourbonen zumObersten befördert und starb 11. Juni 1879. Mit seinem Sohn,dem Fürsten Elie Roger Louis von T., Herzog vonPérigord (geb. 23. Nov. 1809), erlosch die Linie 1883. DerStifter der zweiten Linie war Charles Daniel von T., gest. 1788.Dessen Sohn war der berühmte Diplomat (s. unten). JetzigerChef derselben ist Napoléon Louis, Herzog von T.-

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Talleyrand-Périgord

Périgord, geb. 12. März 1811, seit dem Tod seinerMutter, der Herzogin von Kurland (gest. 19. Sept. l862), Herzog vonSagan; sein Bruder ist Alex andre Edmond, Marquis vonT.-Périgord, geb. 15. Dez. 1813, durch Zession seines VatersHerzog von Dino und seit dem Tod seiner Mutter Besitzer derHerrschaft Deutsch-Wartenberg in Schlesien, die er 1879 an denehemaligen preußischen Minister Friedenthal verkaufte. DerGründer der dritten Linie war Louis Marie Anne, 1788französischer Gesandter zu Neapel; dessen vierter Bruder,Alexandre Angélique, geb. 16. Okt. 1736, widmete sich demgeistlichen Stand, ward 1777 Erzbischof von Reims und mußte1791 auswandern, begleitete als Beichtvater den nachmaligenKönig Ludwig XVIII. nach Mitau und später nach England.Nach der Restauration wurde er zum Pair, 1817 zum Erzbischof vonParis und Kardinal erhoben. In dieser Stellung übte ergroßen Einfluß auf die Gestaltung der kirchlichenVerhältnisse, starb jedoch schon 20. Nov. 1821. Chef derdritten Linie ist jetzt Charles Angélique, Graf vonT.-Périgord, geb. 8. Nov. 1821, er war 1862 bis 1864französischer Gesandter zu Berlin, 1864-69 in Petersburg.

Talleyrand-Périgord (spr. tall'rang-perigör),Charles Maurice, Prinz von T., Fürst von Benevent,berühmter Diplomat, geb. 13. Febr. 1754 zu Paris, wurde,obschon erstgeborner Sohn, wegen einer Fußlähmung zumgeistlichen Stand bestimmt. 1780 ward er zum Generalagenten desKlerus in Frankreich und 1788 zum Bischof von Autun ernannt. AlsMitglied der Nationalversammlung von 1789 stimmte er 19. Juni 1789für die Vereinigung des geistlichen Standes mit dem dritten,ward 16. Febr. 1790 Präsident, trug auf feste Besoldung derGeistlichkeit, Abschaffung der Zehnten, Verkauf der geistlichenGüter und Einführung gleichen Maßes und Gewichts inganz Frankreich an und entwarf einen freisinnigen Unterrichtsplan.Beim Bundesfest 14. Juli 1790 hielt er auf dem Marsfeld das Hochamtam Altar des Vaterlandes, leistete als einer der ersten den Eid aufdie Konstitution und weihte die ersten konstitutionellen Priester.Infolge davon vom Papst Pius VI. 1791 mit dem Bann belegt, legte ersein Bistum nieder. 1792 des Royalismus verdächtigt, entfloher nach Nordamerika, wo er Handelsgeschäfte trieb. Nach demSturz der Schreckensherrschaft kehrte er 1795 zurück. Nach demStaatsstreich vom 18. Fructidor (1797) übernahm er auf kurzeZeit das Ministerium des Auswärtigen. Er schloß sichjetzt Bonaparte an, half diesem nach seiner Rückkehr vonItalien beim Staatsstreich vom 18. Brumaire (1799), übernahmdas Portefeuille des Auswärtigen und war seitdem Napoleonskluger diplomatischer Ratgeber. Die Friedensunterhandlungen vonLüneville, Amiens, Preßburg, Posen und Tilsit leitete ervornehmlich; auch das Konkordat, durch welches 1802 derKatholizismus in Frankreich wiederhergestellt ward, wargrößtenteils sein Werk. Zum Dank dafür entband ihnPapst Pius VII. von den geistlichen Weihen und erteilte seinerZivilehe mit Madame Grant die kirchliche Legitimation. NachErrichtung des Kaiserthrons ernannte ihn Napoleon zumGroßkämmerer von Frankreich und 1806 zum souveränenFürsten von Benevent. Zwar erhob ihn Napoleon noch im August1807 zum Vizegroßwahlherrn (vice-grand-électeur) undnahm ihn 1808 mit nach Bayonne und Erfurt; doch war T. gegen dieunaufhörlichen Eroberungskriege, fiel deshalb in Ungnade,verlor seinen Ministerposten und zog sich 1808 auf sein LandgutValençay zurück. Nach der Katastrophe in Rußlandtrat er in geheime Unterhandlungen mit den Bourbonen und betriebnach dem Einrücken der Verbündeten in Frankreich ihreRestauration. Als Ludwig XVIII. die Regierung angetreten, wurde T.zum Fürsten, Pair, Oberkammerherrn und Minister desAuswärtigen ernannt. Die glänzendsten Triumphediplomatischer Kunst feierte er auf dem Kongreß zu Wien, woer sich durch das von ihm erfundene Prinzip der Legitimitätzum Mittelpunkt aller Verhandlungen machte. Mitaußerordentlicher Gewandtheit verwirrte er die Interessen derMächte und ermüdete den Kongreß, um ihn destosicherer zu beherrschen und für Frankreich die möglichstgrößten Vorteile zu erlangen. Schon hatte er 5. Jan.1815 Österreich und England für ein geheimes Bündnismit Frankreich gegen Rußland und Preußen gewonnen, alsNapoleons Rückkehr diesen Umtrieben ein Ende machte. EinVersuch Napoleons, T. wieder für sich zu gewinnen,mißlang, und als jener darauf den Fürsten in die Achterklärte, rächte sich dieser dadurch, daß er dieÄchtung Napoleons bei den Verbündeten aufs eifrigstebetrieb. Nach der zweiten Restauration übernahm T. aufs neuedas Portefeuille der auswärtigen Angelegenheiten zugleich mitder Präsidentschaft im Ministerium, legte aber sein Amt nochvor dem zweiten Pariser Frieden nieder, da die reaktionäreHofpartei ihn als Revolutionär verabscheute undbekämpfte. Der König beider Sizilien schenkte ihm 1816das Fürstentum Dino; doch übertrug T. den Titel einesHerzogs von Dino schon 1827 auf seinen Neffen, den Herzog Edmond,der ihn seinem zweiten Sohn, Alexandre Edmond, vererbte. Nach KarlsX. Thronbesteigung (1824) zog sich T. nach Valençayzurück. In der letzten Zeit der Restauration gehörte erin der Pairskammer zur Opposition und war auch an derJulirevolution nicht unbeteiligt. Er riet, um seine Meinungbefragt, Ludwig Philipp zur Annahme der Krone. Auch ging er alsBotschafter nach London, wo er eine Verständigung überdie griechische und belgische Frage zu stande brachte. DieUnterzeichnung der Quadrupelallianz 1834, durch welchezunächst im europäischen Westen das konstitutionellePrinzip aufrecht erhalten werden sollte, war sein letztesdiplomatisches Werk. Er lebte fortan zurückgezogen inValençay, wo er 17. Mai 1838 starb. Sein Gelst und seinschlagfertiger, feiner Witz in der Unterhaltung, seine kurze,treffende Ausdrucksweise sind berühmt. Eine Mengeglücklicher Wendungen werden von ihm überliefert und sindgeflügelte Worte geworden. Die bekannteste (freilich nichtzuerst von T. herrührende) ist, daß dem Menschen dieSprache gegeben sei, um seine Gedanken zu verbergen. Sehr bequem,verstand er vortrefflich die Kunst, andre für sich arbeiten zulassen. Egoist im höchsten Grad, war er, von der Sucht nachGold abgesehen, fast ohne alle Leidenschaften, verstand es abervortrefflich, andrer Leidenschaften für sich auszubeuten. Seinauf 18 Mill. Frank sich belaufendes Vermögen vermachte ergrößtenteils seiner Nichte, der Herzogin von Dino. Vonseinen hinterlassenen Memoiren ist bisher nur ein Auszug ("Extraitsdes mémoires du prince T.", Par. 1838, 2 Bde.)veröffentlicht. Seine Korrespondenz mit Ludwig XVIII.während des Wiener Kongresses gab Pallain (Par. 1881, 2 Bde.;deutsch von Bailleu, Leipz. 1887), "Lettres inédites de T.à Napoléon 1800-1809" (Par. 1889) Bertrand und die"Correspondance diplomatique de T. La mission de T. àLondres en 1792" Pallain (das. 1889) heraus. Vgl. Pichot, Souvenirsintimes sur T. (Par. 1870).

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Tallien - Talmud.

Tallien (spr. talliâng), Jean Lambert, franz.Reolutionsmann, geb. 1769 zu Paris, war beim Ausbruch derRevolution Advokatenschreiber, wurde 10. Aug. 1792 zumGeneralsekretär des neugebildeten revolutionärenGemeinderats ernannt, Ende d. J. in den Nationalkonventgewählt, gesellte sich hier zu der Bergpartei und drang aufdie Verurteilung und Hinrichtung des Königs ohne Aufschub undAppellation an das Volk. Am Tag der Hinrichtung Ludwigs wählteihn der Konvent zum Präsidenten. Im April 1793 ging er alsKonventsdeputierter nach den aufrührerischen westlichenDepartements und veranlagte dort zahlreiche Hinrichtungen. Durchseine stürmische Beredsamkeit trug er im Mai viel zum Sieg derBergpartei über die Girondisten bei. Vom Konvent nach Bordeauxgesandt, um die der Guillotine Entflohenen ausfindig zu machen,ließ er sich dort durch die Frau v. Fontenay (s. unten), dieer im Gefängnis kennen lernte, und zu der er eineglühende Neigung faßte, zu mildern Maßregelnbestimmen. Als Robespierre seine Geliebte von neuem verhaftenließ, verband sich T. mit Dantons Anhängern zu seinemSturz, den er auch 9. Thermidor (1794) durchsetzte. Hierauf zumPräsidenten des Wohlfahrtsausschusses gewählt, hob er dasRevolutionstribunal auf, schloß den Jakobinerklub und suchteüberhaupt der Schreckensherrschaft zu steuern. Nach derAuflösung des Konvents (26. Okt. 1795) trat er in den Rat derFünfhundert; doch verlor er in ruhigern Zeiten seine Bedeutungund verkam. 1798 schloß er sich der Expedition Bonapartesnach Ägypten an, erhielt dort eine Stelle bei der Verwaltungder Nationaldomänen und gab ein Journal: "Décadeégyptienne", heraus. Nach Bonapartes Abreise ausÄgypten wurde er von Menou nach Frankreichzurückgeschickt, fiel aber in englische Gefangenschaft undward nach London gebracht. Nach seiner Rückkehr nach Pariserhielt er den Posten eines französischen Konsuls zu Alicante,lebte später, auf einem Auge erblindet, in Paris von einemGnadengehalt, den ihm Napoleon I. bewilligte, und starb 20. Nov.1820. - Seine Gemahlin Jeanne Marie Ignazie Therese, geb. 1775 zuSaragossa, Tochter des spanischen Finanzmanns, späternMinisters Grafen Cabarrus, erhielt eine vorzügliche Erziehung,entzückte in Paris alles durch ihre Schönheit und Grazie,heiratete 1790 den alten Marquis de Fontenay, flüchtete mitdiesem vor den Greueln der Revolution nach Spanien, ward aber inBordeaux verhaftet, von T. befreit und, nachdem die Ehe mit demMarquis geschieden worden, dessen Geliebte. Sie war zwar eineeifrige Anhängerin der Revolution, bewog aber T. zur Milde undrettete viele Opfer. Nach einer Rede im Konvent für die Frauenward sie auf Robespierres Befehl verhaftet, aber durch seinen Sturzwieder befreit, worauf sie T. heiratete. Während desDirektoriums war ihr Salon der gefeiertste und besuchteste vonParis. Da T. mehr und mehr von seiner frühern Größeherabsank, trennte sie sich während seiner Abwesenheit inÄgypten von ihm und heiratete 1805 den Grafen von Caraman,spätern Fürsten von Chimay (s. d.). Sie starb 15. Jan.1835 auf dem Schloß Ménars bei Blois.

Tallipotbaum, s. Corypha.

Talma, François Joseph, berühmter franz.Schauspieler, geb. 15. Jan. 1763 zu Paris, begann seineöffentliche theatralische Laufbahn im April 1787 auf demThéâtre-Français als Seïde im "Mahomet"von Voltaire und wurde zwei Jahre später Societär diesesInstituts. Später begründete er das Théâtrede la République, auf dem er große Triumphe feierte,gastierte auch in der Provinz sowie in London und Belgien. DieWahrheit seiner Darstellungen, die Natürlichkeit des Spielsund die Treue, mit der er sich zuerst des geschichtlichenKostüms statt des modernen französischen bediente,begründeten eine neue Epoche in der dramatischen KunstFrankreichs. Seine Hauptrollen waren: Seïde, Orest,Vendôme, Hamlet, Regulus, Karl IX., Sulla etc. Napoleon Lhatte ihn oft unter seiner Umgebung, so 1808 zu Erfurt und 1813 zuDresden. T. starb 19. Okt. 1826 in Paris. Seine "Réflexionssur Lekain et sur l'art théâtral" (Par. 1825, neueAusg. 1874) zeugen von tiefer Einsicht in das Wesen derSchauspielkunst. Seine "Mémoires" wurden herausgegeben vonMoreau (Par. 1826) und A. Dumas (das. 1849-50, 4 Bde.). Vgl. Copin,T. et la revolution (Par. 1886); Derselbe, T. et l'empire (das.1887). - Auch seine Gattin Charlotte Vanhove, geb. 10. Sept. 1771im Haag, erst als Mademoiselle Vanhove, dann (bis 1794) als MadamePetit-Vanhove und zuletzt (seit 1802) als Madame T. bekannt, wareine der größten Schauspielerinnen ihrer Zeit, zog sichaber schon 1811 von der Bühne zurück und starb 11. April1860 in Paris. Sie schrieb "Études sur l'artthéâtral" (Par. 1835).

Talmigold, gelbe Kupferlegierung (z. B. aus 86,4 TeilenKupfer, 12,2 Zink, 1,1 Zinn, 0,3 Teilen Eisen), welche als Blechoder Draht mit Gold plattiert und dann weiter verarbeitet wird. DerGoldgehalt des Talmigoldes übersteigt zwar selten 1 Proz.;dennoch ist es den gewöhnlichen vergoldeten Kupferlegierungenvorzuziehen, da die Plattierung manche Vorteile gewährt. Dasbeste T. liefert Tallois in Paris; man unterscheidet es von schwachvergoldeter Ware durch Auflösen in Salpetersäure, wobeiein zusammenhängendes dünnes Goldblättchenzurückbleiben muß.

Talmud (Thalmud, "Lehre, Belehrung^), die Hauptquelle desrabbinischen Judentums, das bändereiche Schriftdenkmal aus denersten fünf Jahrhunderten n. Chr., welches den gesamtenreligionsgesetzlichen Stoff der jüdischen Tradition, nichtsystematisch geordnet, sondern in ausführlichen freienDiskussionen, mit erbaulichen Betrachtungen, Parabeln, Legenden,historischen und medizinischen Thematen u. a. vermischt,enthält. Die Entstehungsgeschichte des T. erhellt ausfolgendem. Neben dem im Pentateuch enthaltenen schriftlichen Gesetzhatte sich ein dieses ergänzendes und erklärendesmündliches Gesetz von Geschlecht zu Geschlecht vererbt,welches mit der Erweiterung und Änderung des sozialen Lebensim Lauf der Zeit derart anwuchs, daß eine Sichtung undschriftliche Fixierung des ganzen Materials sich als notwendigerwies. Diese in hebräischer Sprache, der aber bereitslateinische und griechische Ausdrücke eigen sind, von R.Jehuda Hanassi im Verein mit gelehrten Zeitgenossen 189 n. Chr.abgefaßte Sammlung mündlich überlieferter Gesetzeund Gebräuche (Halachot) führt den Namen Mischna("Wiederholung", nämlich des Gesetzes) und zerfällt insechs Ordnungen (Sedarim): 1) Seraim (von den Saaten), 2) Moëd(Feste), 3) Naschim (Ehegesetze), 4) Nesikin (Zivil- undStrafgesetze), 5) Kodaschim (Opfer- und Speisegesetze), 6) Taharot(Reinheitsgesetze). Die von R. Jehuda nicht aufgenommenen Gesetzewurden später von seinen Jüngern gesammelt undführen den Namen Boraitha (außerhalb [des Kanons]stehende), eine noch spätere Sammlung heißt Tossefta. Inden Akademien Palästinas und Babylons bildete die Mischna nundie Grundlage der gelehrten Verhandlungen, welche, spätergesammelt, Gemara (vollständige Erklärung) oder, mit derMischna ver-

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Talon - Tamarindus.

bunden, T. genannt wurden. Zu Anfang des 4. Jahrh. entstand inPalästina der jerusalemische T., in aramäischem Idiomgeschrieben, die vier ersten Ordnungen der Mischna behandelnd; um500 war der babylonische T., bald aramäisch, baldrabbinisch-hebräisch abgefaßt, redigiert. Vonältern Mischnaerklärern sind Maimonides, der auch einenwissenschaftlichen Kodex des T. ("Mischne Thora" oder "Jadha-chasaka") abfaßte (1178-80), Bartenora, Liepmann Heller("Tosefot Jom-tob"), von Übersetzern der Mischna, die schon im10. Jahrh. ins Arabische, später ins Spanische übertragenward, Surenhusius (lateinisch), Rabe (deutsch) und Jost (deutschmit hebräischen Lettern), Samter-Baneth, von Lehrbüchernund Einleitungen zur Mischna die Werke von Geiger, Dukes,Weiß, Z. Frankel, der auch eine "Einleitung zumjerusalemischen T." schrieb, und Jakob Brüll zu nennen.Erklärer des babylonischen T. sind neben Raschi dieTossafisten (Glossatoren), eine Reihe meist nordfranzösistherRabbiner, Rosch (R. Ascher ben Jechiel, 1306-27) u. a.Wörterbücher verfaßten: R. Natan ben Jechiel ausRom ("Aruch", 1101), Buxtorff (2. Aufl. von Fischer, Leipz.1866-1870, 2 Bde.), Levy (das. 1875-89) und Kohut ("Aruchcompletum", auf Grundlage des "Aruch" von R. Natan ben Jechiel,Wien 1878 ff.); einzelne Traktate übersetzten: ins LateinischeRiecius, Clarke, Ullmann, Surenhus, Lund, Ludovic, Coccejus,Hirschfeld, fa*gius, Hartmann u. a.; ins Französische Schwab,Rabbinowicz; ins Deutsche Ewald, Pinner, Samter und Rawitsch. Derbabylonische T. in seinen haggadischen Bestandteilen ist vonWünsche übersetzt (Leipz. 1886 ff.). Die Methode undeinzelne Disziplinen des T. behandelten: Hirschfeld (Exegese),Lewysohn (Zoologie des T.), Wunderbar (Medizin), Markus(Pädagogik), Duschak (Botanik), Bloch (Polizeirecht), Auerbach(Obligationenrecht), Rabbinowicz (Zivil- und Kriminalrecht),Zuckermann (Mathematik), Frankel (gerichtlicher Beweis), Fassel(Zivilrecht, Tugend- und Rechtslehre, Strafrecht) u. a.; eineRealencyklopädie des T. gab Hamburger (Neustrelitz 1883)heraus; die Evangelien erläuterte aus T. und Midrasch Aug.Wünsche (Götting. 1878). Vgl. Rabbinowicz, KritischeÜbersicht der Gesamt- und Einzelausgaben des Babylonischen T.(Münch. 1877); Deutsch, Der T. (a. d. Engl., Berl. 1869);Weber, Die Lehren des T. (Leipz. 1886).

Talon (franz., spr. -óng, "Ferse"), beiWertpapieren der Erneuerungsschein für die Koupons (s.d.); imKartenspiel die nach dem Geben übriggebliebenen Karten, dieKaufkarten; im Hasard der Kartenstamm, welchen der Bankier abzieht;im Domino die Kaufsteine.

Talos, nach dem Mythus der Alten ein eherner Riese aufKreta, der als Wächter des Minos die Insel täglichdreimal umkreiste und die Herannahenden durch Steinwürfeverscheuchte oder mit den Gelandeten ins Feuer sprang und sie solange an seine glühende Brust drückte, bis sieverbrannten. Von seinem Kopf ging eine Blutader bis zur Ferse, wosie durch einen Nagel geschlossen war. Als die Argonauten nachKreta kamen, ließ Medea den Nagel durch Zaubergesangherausspringen (oder Pöas, der Vater des Philoktet,schoß ihn mit dem Bogen heraus), worauf T. verblutete. SeinTod ist auf einem ausgezeichneten apulischen Vasengemäldedargestellt, wo T. infolge des Zaubers der Medea in den Armen derDioskuren stirbt. T. gilt für ein altes Symbol desSonnengottes und ist mit dem phönikischen Moloch verwandt.Vgl. Mercklin, Die Talossage und das Sardonische Lachen (Petersb.1851).

Talpa (lat.), Maulwurf.

Taltal, Hafenort im südamerikan. Staat Chile,Provinz Atacama, mit 1876 entdeckten Salpeterlagern.

Talus (lat.), Sprungbein.

Talus (franz., spr. -lüh), s. Böschung.

Talvj, Pseudonym, s. Robinson 3).

Taman, Halbinsel zwischen dem Schwarzen und AsowschenMeer, zum kubanischen Landstrich gehörig, mit dergleichnamigen Bai und dem kleinen Orte T., war im Altertum Sitzblühender Kolonien der Griechen, an deren Stellen (z. B. beiSennaja, vermutlich der Stätte des alten Phanagoria) seit 1859erfolgreiche Ausgrabungen veranstaltet wurden. In den aufgedecktenKurganen fand man Gerippe von Menschen und Tieren (Pferden) undviele Geräte meist griech. Ursprungs, die jedoch nichtüber das 4. Jahrh. v.Chr. zurückreichen. Vgl. Görtz,Archäologische Topographie der Halbinsel T. (russ., Mosk.1870).

Tamandua, s. Ameisenfresser.

Tamanieh (Tamanib), Dorf in Nubien, südwestlich vonSuakin am Wadi Chab und der über Sinkat nach Berberführenden Straße. Hier 13. und 25. März 1884Gefechte des englischen Generals Graham gegen Osman Digma, inwelchem der letztere zwar geschlagen und das Dorf eingenommen undverbrannt wurde, die Engländer aber ihren Zweck, die FortsSinkat und Tokar zu entsetzen, nicht erreichen konnten.

Tamaquna, Stadt im nordamerikan. Staat Pennsylvanien, amSchuylkill inmitten ergiebiger Kohlengruben, mit (1880) 5730Einw.

Tamar (Tamer, spr. tähmer), Grenzfluß zwifchenden englischen Grafschaften Cornwall und Devon, mündet in denPlymouthsund; 96 km lang. Sein Ästuar bildet die berühmteReede Hamoaze. Er ist bis Launceston schiffbar, von wo ein Kanalnach Budehaven an der Nordküste von Cornwall führt.

Tamara, ital. Würzpulver aus Koriander, Zimt,Nelken, Fenchel und Anis; wird in der Küche wie Curry-powder(s. d.) benutzt.

Tamarikaceen (Tamariskenartige), dikotyle, etwa 40 Artenumfassende Familie aus der Ordnung der Cistifloren, Holzpflanzen,selten Stauden mit kleinen, oft schuppenförmigen,blaugrünen, abwechselnden Blättern undregelmäßigen, zwitterigen, 4-5zähligen, inÄhren, Köpfen, Trauben oder Rispen stehenden Blüten.Von den verwandten Familien unterscheiden sich die T.hauptsächlich durch einen Haarschopf am Samen. In Deutschlandkommt nur Tamarix (Myricaria) germanica Devs. an kiesigenFlußufern vor, deren Rinde wie auch die der am Mittelmeerheimischen Tamarix gallica L. früher offizinell war. DerFamilie der T. werden auch die kleinen Gruppen der Reaumurieen undFouquiereen beigezählt.

Tamarindus Tourn. (Tamarinde), Gattung aus der Familieder Cäsalpinieen, mit der einzigen Art T. indica L. (s. Tafel"Arzneipflanzen II"), ein bis 25 m hoher, immergrüner Baum mitweit ausgebreiteter, sehr verästelter Krone, abwechselnden,paarig gefiederten, 10-20jochigen Blättern,linealisch-länglichen Blättchen, wenigblütigen,endständigen Blütentrauben, weißen, purpurngeäderten Blüten und gestielten, bis 15 cm langen, 2,5 cmbreiten, länglichen oder lineal-länglichen, meist etwasgekrümmten, mäßig zusammengedrücktenHülsen, welche in dünner, zerbrechlicher, gelbbrauner,rauher Schale ein schwarzes oder braunes Mus und in diesem rundlichviereckige, glänzend rotbraune Samen enthalten. Die Tamarindeist im tropischen Afrika, südwärts bis zum Sambesi,heimisch, wohl auch im südlichen

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Tamarix - Tambow.

Asien und in Nordaustralien, und wird in diesen Ländern undin Amerika kultiviert. Man genießt die Früchte als Obst,macht sie auch ein und bereitet daraus kühlende Getränkeund durch Zusammenkneten der entrindeten Früchte dasTamarindenmus, welches aus Ostindien, Ägypten und (mit Sirupversetzt) aus Westindien in den Handel kommt. Dasselbe istschwarzbraun, riecht säuerlich weinartig, schmecktsüßlich-sauer, wenig herb und enthält Zucker,Weinsäure, Pektinsäure, Gummi etc. Es dient als leichtabführendes Mittel und zu Tabaksaucen. Das feste Holz desBaums wird von Würmern nicht angegriffen und daher vielfachbenutzt.

Tamarix L. (Tamariske), Gattung aus der Familie derTamarikaceen, ästige Sträucher mit kleinen,schuppenförmigen Blättern, rosafarbenen oder weißenBlüten in gewöhnlich endständigen, einfachen oderzusammengesetzten Trauben und mit aufspringenden Kapseln; wachsenvorzugsweise auf salzhaltigem Boden in der Nähe derKüsten in den Mittelmeerländern, im mittlern undsüdlichen Asien. T. (Myricaria Devs.) germanica L. (deutscheCypresse), ein Strauch mit rutenförmigen, zahlreichenÄsten, sehr kleinen, cypressenartigen, graugrünenBlättern und weißlichen Blüten, ist in Mittel- undSüdeuropa heimisch und wird als Zierstrauch in Gärtenkultiviert; ebenso T. gallica L., ein Strauch an den Ufern desMittelländischen Meers sowie im nördlichen Afrika, inKleinasien bis zum Himalaja, dem vorigen ähnlich, mitpunktierten, bläulichgrünen Blättern undrötlichen, in Rispen stehenden, sehr wohlriechendenBlüten. Aus einer Spielart, T. gallica mannifera Ehrenb.(Manna Tamarisca, Tarfabaum), welche im Steinigen Arabien undbesonders am Sinai ganze Wälder bildet, schwitzt infolge desStiches einer Schildlaus eine zähe, süße Substanzaus, welche Zucker und Schleim enthält, von den Mönchenam Sinai gesammelt und für das Manna der Israeliten ausgegebenwird. Auch andre Arten, wie T. tetrandra Pall. aus dem Orient, undT. chinensis Lour. aus Ostasien, beide mit weißlich hellrotenBlüten, werden als Ziersträucher kultiviert.

Tamaro, Monte, eins der drei Häupter destessinischen Voralpenlandes, erhebt sich am obern Ende des LagoMaggiore 1961 m hoch.

Tamarugal (Pampa de T.), wüster Landstrich in derProvinz Tarapacá des südamerikan. Staats Chile, jenseitder Küstenkordillere, etwa 1000 m ü. M., bildet einenördliche Fortsetzung der Wüste von Atacama und ist reichan Lagern von Salpeter und Borax.

Tamaschek (Ta-Mascheq), die zum hamit. Stammgehörige, von der Sprache der alten Libyer abstammende Spracheeines Teils der nomadisierenden Stämme Nordafrikas (Tuareg).Vgl. Hanoteau, Essai de grammaire de la langue tamachek (Par.1860). Das T. besitzt ein besonderes Alphabet.

Tamatave, Stadt, s. Madagaskar, S. 39.

Tamaulipas, der nördlichste der östlichenKüstenstaaten von Mexiko, 76,000 qkm (1380 QM.) groß,besteht aus einem niedrigen Küstenstrich, der sich vomTampicofluß bis zur Mundung des Rio Grande del Norteerstreckt und teilweise durch die langgestreckte Laguna del Madrevom Meer getrennt wird, reicht 190 km weit den Rio Grande hinauf,der ihn von den Vereinigten Staaten trennt, und erstreckt sich imInnern auch über ein reichbewaldetes Hügelland. Das Klimaist an der Küste heiß und ungesund, im Innern aberangenehm. Die Bevölkerung (1880: 144,747) bestehtüberwiegend aus Mestizen. Angebaut werden: Mais, Weizen,Baumwolle, Reis, Zuckerrohr, Bohnen, Bataten, Maguey etc. Silber,Kupfer, Blei und Steinkohlen kommen vor, werden aber noch kaumausgebeutet. An der Küste wird etwas Salz gewonnen und in denLagunen auch Fischfang betrieben. Die Industrie ist noch ganzunbedeutend. Hauptstadt ist Victoria. S. Karte "Mexiko".

Tambach, Flecken im Herzogtum Sachsen-Gotha, imThüringer Wald, an der Apfelstedt und an der LinieGeorgenthal-T. der Preußischen Staatsbahn, 453 m ü. M.,hat eine evang. Kirche, eine Oberförsterei, Fabrikation vonBürstenwaren, Papier, Korken, Porzellan, eine Öl- undeine Dampfschneidemühle und 2000 evang. Einwohner. Nahebei dieromantischen Thäler Spittergrund und Dietharzer Grund.

Tamberlick, Enrico, Opernsänger (Tenor), geb. 16.März 1820 zu Rom, studierte erst Theologie und widmete sichspäter unter Leitung Guglielmis der Kunst. Er debütierte1841 in Neapel und ging 1843 nach Lissabon, wo seine Stimme einemerkwürdige Wandlung durchmachte, indem aus dem tiefen elnhoher Tenor wurde, später nach Petersburg, wo er zumkaiserlichen Kammersänger ernannt ward. Nachdem er daraufSüdamerika bereist hatte, trat er endlich (1858) auch an derItalienischen Oper zu Paris auf und erregte dort durch seinenvollendeten Vortrag, namentlich auch durch sein phänomenaleshohes Cis Bewunderung. Obwohl in der komischen wie in der ernstenOper gleich ausgezeichnet, glänzte er doch am meisten alsOthello, Troubadour, Herzog in "Rigoletto" und Don Ottavio 1868befand sich T. gerade in Madrid, als Isabella vertrieben wurde, underregte als Masaniello einen grenzenlosen Jubel, da man ihmrepublikanische Gesinnungen zuschrieb. 1869 erschien er wieder inParis und ist dort auch noch 1877 aufgetreten. Er starb daselbst14. März 1889.

Tambilan (Timbalan), Inselgruppe im Indischen Archipel,zwischen Borneo und Sumatra, zur niederländischenResidentschaft Rion gehörig, 72 qkm groß mit 3200Einw.

Tambohorn, Berg , s. Adula.

Tambora, Vulkan, s. Sumbawa.

Tambour (franz., spr. -bur, vom pers. Tambur, s. d.),Trommel; auch Trommler, Trommelschläger (s. Spielleute); daherT. battant, mit schlagendem Trommler, vom Sturmangriff im freienFeld, wobei der T. den Sturmmarsch schlägt. In der Baukunstbezeichnet T. einen cylindrischen oder polygonen Unterbau einerKuppel (s. Laterne); in der Befestigungskunst eine kleine, meistaus Palissaden bestehende Anlage zur Deckung der Eingänge inDörfer, Feldschanzen, Forts etc. (vgl. Palissaden); beiKrempelmaschinen die mittlere Trommel.

Tambow, russ. Gouvernement, zu den ZentralgouvernementsGroßrußlands gehörig, umfaßt 66,586,7 qkm(1209 QM.). Das Land ist eben und gehört vorzugsweise derKreideformation an. Von nützlichen Mineralien finden sichEisen, Kalkstein, Gips und Thon. Der größte Teil desGouvernements ist mit Schwarzerde (Tschernosem) bedeckt, und diebeiden südlichsten Kreise tragen sogar den Charakter derSteppe. Die Oka und der Don berühren auf kurzer Strecke dasGouvernement; in die erstere mündet die Mokscha mit der Zna,welche das ganze Gouvernement durchströmen; im S. fließtdie Worona zum Choper. Nur ein Sechstel des ganzen Landes ist mitWald bedeckt. Das Klima ist gemäßigt. Die Einwohnerzahlbeträgt (1885) 2,607,881 (39 pro QKilometer). Die Zahl derEheschließungen war 1885 22,780, der Gebornen 126,222, derGestorbenen

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Tambur - Tammany-Ring.

83,184. Das Gouvernement T. gehört zu denackerbautreibenden ersten Ranges, aber bis auf den heutigen Tagbesteht fast allenthalben noch die Dreifelderwirtschaft. Mansäet hauptsächlich Hafer, Roggen, Buchweizen, im S. auchWeizen; außerdem baut man Lein und Hanf, Kohl, Gurken,Rüben, Rettiche, Tabak und Runkelrüben. Das Areal bestehtaus 63,3 Proz. Acker, 18,3 Wald, 13,4 Wiesen und 5 Proz. Unland.Die Ernte war 1887: 14,2 Mill. hl Roggen, 11,3 Mill. hl Hafer, 4,4Mill. hl Kartoffeln, 2½ Mill. hl Hirse, Buchweizen 1,1 Mill.hl, Weizen, Gerste und Erbsen in nicht beträchtlichen Mengen.Die Ernte ergab beim Roggen durchschnittlich das siebenfache Korn.Viehzucht wird nur so weit betrieben, als sie zur Befriedigung derBedürfnisse des Ackerbaus dient; eine Ausnahme macht diePferdezucht. Die Pferde aus den östlichen Stutereien sind sehrgesucht, finden beständigen Absatz in St. Petersburg undMoskau und werden auch für die Armee angekauft. Manzählte 1873: 171 Stutereien mit 525 Zuchthengsten und 3027Stuten. Der Viehstand überhaupt bezifferte sich 1883 auf399,478 Stück Rindvieh, 1,326,588 grobwollige und 200,816feinwollige Schafe, 656,338 Pferde und 269,685 Schweine. Der Wertder industriellen Produktion ward 1885 auf 25,796,000 Rubelbeziffert. Hervorragend sind: Brennerei (18 Mill. Rub.),Tuchfabrikation (2,2 Mill. Rub.), Talgsiederei (1,4 Mill. Rub.),Zuckerfabrikation (1,3 Mill. Rub.), Tabaksindustrie undEisengießerei. Die Handelsumsätze des Gouvernementsüberschreiten 52 Mill. Rub. Den ersten Platz in Bezug auf denHandel nimmt die Stadt T. ein, dann Koslow und Morschansk.Schiffbare Flüsse und mehrere Eisenbahnen begünstigen underleichtern den Handel. Die Zahl aller Lehranstalten belief sich1885 auf 755 mit 48,115 Schülern, darunter 19 Mittelschulenund 2 Fachschulen (ein geistliches und ein Lehrerseminar). T. wirdeingeteilt in zwölf Kreise: Borissoglebsk, Jelatma, Kirsanow,Koslow, Lebedjan, Lipezk, Morschansk, Schazk, Spask, T., Temnikowund Usman. - Die gleichnamige Hauptstadt, an der BahnlinieKoslow-Saratow, hat 27 Kirchen (darunter eine evangelische), einPriesterseminar, ein klassisches Gymnasium, einMädchengymnasium, ein Lehrerseminar und viele kleinereLehranstalten, das Alexander-Institut adliger Fräulein,Schulen für Feldschere und Hebammen, ein Theater, eineStadtbank, eine Abteilung der Reichsbank, viele Fabriken, Handelmit Getreide, Vieh, Talg und Wolle und (1885) 35,688 Einw. T. istSitz eines griechischen Bischofs.

Tambur (Tanbur), ein arabisch-persisches lautenartigesSaiteninstrument, das wie die Mandoline mit einem Plektrum gespieltwurde.

Tamburinen, s. Stickerei, S. 317.

Tamburin (franz. Tambourin, spr. -âng. Handtrommel,Handpauke), ein mit einer Haut überspannter metallener oderhölzerner Reif, welcher ringsum mit Schellen oderGlöckchen besetzt ist. Der Reif wird in der linken Hand inverschiedenen Wendungen herumgedreht und mit dem Daumen der rechtenHand auf dem Fell im Kreis umhergefahren oder zur Markierung desRhythmus mit der Faust auf dasselbe geschlagen, wodurch einverschiedenartiges Getön, Wirbel etc., verbunden mitSchellengeklingel, hervorgebracht wird. Das Instrument ist bei denSpaniern, Ungarn, Orientalen etc. zu Nationaltänzengebräuchlich (in der Hand der Tänzer selbst).

Tamburini, Antonio, Opernsänger (Baß), geb.28. März 1800 zu Faenza, machte frühzeitig Gesangsstudienund wurde schon mit zwölf Jahren für den Opernchor inseiner Vaterstadt engagiert. Ans Neigung zum Theater verließer mit 18 Jahren heimlich das elterliche Haus und debütierteglücklich in dem Städtchen Cento, von wo er nach und nachan die größern Bühnen Italiens gelangte, bis erendlich 1819 in Neapel ein vorteilhaftes Engagement und reichenBeifall fand. 1825 engagierte ihn der berühmte ImpresarioBarbara auf sechs Jahre für seine Unternehmungen in Neapel,Mailand und Wien. 1832, nachdem er zuvor noch England besuchthatte, kam T. nach Paris und debütierte als Dandini im"Aschenbrödel". Von nun an bildete er länger als 20 Jahredas Entzücken der Pariser, und noch 1854 sang er den Don Juanmit klangvoller Stimme und jener Leichtigkeit der Tonbildung, dieihm den Beinamen des "Rubini unter den Baritonisten" verschaffthatte. Er befuchte von Zeit zu Zeit sein Vaterland und fand auchmehrmals in Rußland die wohlwollendste Aufnahme. Im Besitzeines beträchtlichen Vermögens, zog er sich endlich aufseine Besitzung in Sèvres bei Paris zurück, siedeltejedoch 1871 nach Nizza über, wo er 9. Nov. 1876 starb. Vgl.Biez, T. et la musique italienne (Par. 1877).

Tamerlan, s. Timur.

Tamfana, Göttin, s. Tanfana.

Tamías (griech.), Schatzmeister, Rendant, einTitel, den in Athen verschiedene Behörden führten, vorallen aber der auf vier Iahre gewählte Verwalter derHauptkasse, welcher von den Apodekten (Generaleinnehmern) allefür die öffentlichen Ausgaben bestimmten Gelderabgeliefert erhielt und an die Kassen der einzelnen Behördenfür ihre etatmäßigen Ausgaben verteilte.

Tamias, Backenhörnchen, s. Eichhörnchen, S.362.

Tamil, die Sprache der Tamulen (s. d.).

Tamina, wilder Gebirgsfluß im schweizer. Kanton St.Gallen, 26 km lang, entspringt am Sardonagletscher,durchfließt zunächst das nur im Sommer bewohnteAlpenthal Kalfeusen; hier liegt Sardona-Alp 1748, die Kapelle St.Martin 1351 m ü. M. Aus dieser Oberstufe herausgebrochen,erreicht sie den obersten permanent bewohnten Thalort Vättis(947 m) und durchfließt nun ein enges Waldthal, wo in einemFelsschlund die Therme von Pfäfers hervorquillt. Endlichgelangt der Fluß durch eine Klus zur Rheinebene hinaus. Hierliegt am Zusammenfluß von Rhein und T. der Badeort Ragaz (503m).

Tamis (franz., spr. -mih, "Sieb"), s. v. w. Etamin.

Tamise (vläm. Temsche), Marktflecken in der belg.Provinz Ostflandern, Arrondissem*nt St.-Nicolas, an der Schelde undder Bahn Mecheln-Terneuzen, mit Flachs- und Baumwollspinnerei,Segeltuch- u. Holzschuhfabrikation, Brauereien, Salzsiederei,Schiffbau und (1888) 10,701 Einw.

Tammany-Ring, ein nach seinem Versammlungsort, derTammany Hall, benannter Klub in New York, 1789 als ein geheimerOrden (Columbian Order) gestiftet und ursprünglichkonservativ, später demokratisch. Derselbe bemächtigtesich mit Hilfe der zahlreich zugewanderten Irländer in den60er Iahren der einflußreichsten Stellen, namentlich derFinanzämter, in der Stadtverwaltung. Seine Häupter,Tweed, Sweeney u. a., beuteten die Ämter, in deren Besitz siekamen, zu ihrer Bereicherung aufs frechste und schamloseste aus,wußten durch Bestechung und Terrorismus alle Wähler nachihrem Sinn zu lenken und auch in der Verwaltung und Gesetzgebungdes Staats New York einen höchst verderblichen Einflußzu gewinnen. Die Stadt New York belasteten sie mit einer Schuld vonvielen Millionen, ohne da-

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Tammerfors - Tana.

für etwas zu leisten. Endlich 1871 gelang es der zurEinsicht gekommenen Bürgerschaft, die Herrschast desTammany-Rings durch unabhängige Wahlen zu brechen und dieHäupter dem Strafgericht zu überliefern. Trotzdembehauptete sich die Tammany Society als demokratischer Verein undgelangte auch allmählich wieder zu Einfluß, so daß1889 ihrem Vorsitzenden die einträglichste Stelle der StadtNew York übertragen wurde.

Tammerfors (finn. Tampere), die bedeutendste FabrikstadtFinnlands, im Gouvernement Abo-Björneborg, am Tampereenkoski,einer Stromschnelle, welche die Seen Näsijärvi undPyhäjärvi verbindet, und an der Eisenbahn Tawastehus-T.,hat Baumwoll- und Leinenspinnereien, Papier- und Wollwarenfabriken,eine mechanische Werkstatt etc. und (1886) 16,744 Einw. T. ist Sitzeines deutschen Konsulats. Angelegt wurde die Stadt 1779 von GustavIII.

Tammus (hebr.), im jüd. Kalender der zehnte29tägige Monat des bürgerlichen, der 4. des Festjahrs,welcher von einer gleichnamigen syrisch-phönikischen Gottheit(Hesek. 8, 14) den Namen erhielt. Der 17. ist ein jüdischerFasttag zur Erinnerung an das erste Eindringen der Chaldäer inJerusalem. Der Tod des erwähnten Gottes wurde mit lauterKlage, seine Auferstehung mit Freudengeschrei begangen,entsprechend dem Dumuzi der Chaldäer, Adonis der Griechen undOsiris der Ägypter. Vgl. Sonnenkultus.

Tampa, Hafenort im nordamerikan. Staat Florida, anherrlicher, fisch- und schildkrötenreicher Bai am Golf vonMexiko, mit (1880) 720 Einw.

Tampicin, s. Ipomaea.

Tampico, Hafenstadt im mexikan. Staate Tamaulipas,oberhalb der Mündung des Rio de T., der aus der Vereinigungder Flüsse Panuco und Rio de Tula entsteht und über eineBarre (3 m Wafser) ins Meer mündet, hat ein Theater, Kasino, 2Hospitäler und (1880) 5000 Einw. Die Stadt wird zwar auch vomgelben Fieber heimgesucht, ist aber immerhin gesünder alsVeracruz. Ihr Handel ist bedeutend und wird sich nach Vollendungder im Bau begriffenen Eisenbahn nach San Luis Potosi sowie desKunsthafens noch heben. Zur Ausfuhr (1886: 955,400 Pesos) gelangen:Edelmetalle, Häute, Sassaparille, Jalappe, Tabak, Vanille,Wolle und Farbholz. T. ist Sitz eines deutschen Konsuls und wurdeerst 1824 gegründet; November 1862 bis August 1866 war es vonden Franzosen besetzt. T. gegenüber, im Staat Veracruz, liegtder Pueblo viejo de T., jetzt unbedeutender Ort mit Fischerei undSalinen.

Tamping, in Singapur Sack von 12 engl. Pfund.

Tampon (franz., spr. tangpóng), Pfropfen; in derChirurgie Scharpieballen, Gazepfropfen. Daher Tamponade, dieAusfüllung einer Körperhöhle oder Wunde mitWattepfropfen, namentlich zur Blutstillung angewandt, wennUnterbindung unmöglich ist. Vgl. Kolpeurynter.

Tamsel, Dorf im preuß. Regierungsbezirk Frankfurta. O., Kreis Landsberg, an der Linie Berlin-Schneidemühl derPreußischen Staatsbahn, hat eine evang. Kirche (mitGrabstätte des Feldmarschalls Hans Adam v. Schöning), einSchloß und (1885) 797 Einw.; bekannt durch die öftereAnwesenheit Friedrichs d. Gr. während seines Aufenthalts inKüstrin.

Tamsui, chines. Traktatshafen auf der Insel Formosa, amNordende desselben, mit 95,000 Einw. In den fürgrößere Schiffe ungeeigneten und den Teifunenausgesetzten Hafen und den des benachbarten Kelung liefen 1886 einund aus 273 Schiffe von 118,657 Ton., darunter 78 deutsche von31,931 T. Die Einfuhr wertete 1887: 1,298,613, die Ausfuhr 44,260Haikuan Taels. T. ist Sitz eines englischen Konsuls, welcher auchdie deutschen Interessen vertritt. Die Stadt wurde 1. Okt. 1884 vonvier französischen Kriegsschiffen beschossen und diechinesischen Batterien zum Schweigen gebracht, als aber 8. Okt. dieFranzosen landeten, wurden sie zurückgetrieben.

Tamtam (Gong), ein Schlaginstrument der Chinesen, Inderetc., bestehend aus einer zum Teil aus edlen Metallen gefertigten(gehämmerten) Metallscheibe, deren mittelster Teil starkkonkav ist; der breite Rand hat einen ziemlich großen rundenAusschnitt. Der Ton des Tamtams dröhnt und hallt ungemeinlange nach, seine Wirkung ist sowohl im forte als im piano eineerschreckende, beängstigende. Das T. wird im neuernÖpernorchester angewendet, doch ist dasselbe wegen der hohenAnschaffungskosten (gute Tamtams werden aus China bezogen) ziemlichselten.

Tamulen, das gebildetste und unternehmendste Volk derDrawidarasse in Vorderindien, wohnt im sogen. Karnatik, vom KapComorin bis über die Polhöhe von Madras und vom Kamm derWestghats bis zum Bengalischen Golf. Außerdem gehört zuden T. auch die Arbeiterbevölkerung des nördlichen undnordwestlichen Ceylon sowie die Mehrzahl der sogen. Kling (s. d.).Die Sprache der T. (Tamil oder Tamulisch genannt) wird von 14,8Mill. Menschen gesprochen; sie besitzt ein eignes, aber mit demSanskritalphabet verwandtes Alphabet, dazu eine ziemlichreichhaltige, alte Litteratur und ist ohne Zweifel dieinteressanteste Sprache vom Drawidastamm. Die Litteratur der T.reicht mit ihren ältesten erhaltenen Denkmälern bis etwains Jahr 1000 unsrer Zeitrechnung zurück und enthältneben zahlreichen Übersetzungen aus den Sprachen desnördlichen Indien auch ausgezeichnete eigne Werke. Alsberühmtestes derselben ist der "Kural" (Kurzzeiler) vonTiruvalluver zu nennen, ein in vier- oder dreifüßigenStrophen abgefaßtes gnomonisches Gedicht, mit Sprüchenüber die sittlichen Ziele des Menschen, voll zarter und wahrerGedanken, aber krankend an dem Wahn der Wiedergeburt, von dem aufbuddhistischem Weg eine Erlösung erstrebt werden soll. Einevollständige Textausgabe des Gedichts mit lateinischerÜbersetzung findet sich in Grauls "Bibliotheca tamulica"(Leipz. 1854-65, 4 Bde.), die noch andre tamulische Texte mitlateinischer oder englischer Übersetzung, Glossare und im 2.Band auch eine Grammatik enthält. Eine Grammatik lieferte nochJ. Lazarus (Lond. 1879). Tamil-englische Lexika lieferten Rottler(Madras 1834-41) und Winslow (das. 1862), eine Geschichte dertamulischen Schrift etc. Burnell (in "Elements of South-Indianpalaeography", 2. Aufl., Lond. 1878). Vgl. auch Graul, Reise nachOstindien (Leipz. 1854-56, 5 Bde.).

Tamworth, Stadt in Staffordshire (England), amZusammenfluß von Tame und Anker, hat eine normännischeKirche, ein altes Schloß, Baumwollspinnerei etc. und (1881)4891 Einw. T. ist der Geburtsort Sir Robert Peels, dem hier 1852eine Bronzestatue errichtet wurde.

Tan, in China s. v. w. Pikul oder Tang.

Tana, 1) (Tanaelv) Fluß in Norwegen, entsteht ausdem Znsammenfluß des Anarjokka (Enaraelv) und des Karasjokka,bildet im obern Lauf die Grenze zwischen dem russischen Finnlandund dem norwegischen Amt Finnmarken, fließt innordöstlicher Richtung und mündet nach einem Laufe von280 km in den Tanafjord des Nördlichen Eismeers. - 2) (auchDana oder Manga) Fluß in Ostafrika, ent-

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Tana - Tangaren.

springt am Schneeberg Kenia und mündet unter 2°47'südl. Br. in die Ungama- oder Formosabai, einnördlicherer Mündungsarm, der Osi, bildet dieSüdgrenze von Witu. In der Regenzeit kann der T. 180 kmaufwärts befahren werden. Er bildet einen sehr gutenKommunikationsweg nach dem Innern Ostafrikas und die Nordostgrenzeder britischen Interessensphäre gegen das Somaliland.

Tana, im Mittelalter Name von Asow (s. d.).

Tanab, Flächenmaß in Turkistan, = 3600Quadratschritt.

Tanacetum L., Gattung aus der Familie der Kompositen, derGattung Chrysanthemum sehr nahe stehend und auch mit dieservereinigt. T. vulgare L. (Rainfarn), ausdauernd, bis 1,25 m hoch,mit siederteiligen Blättern, länglich-lanzettlichen,eingeschnittenen Abschnitten, doldenrispig gehäuften, kleinen,gelben Blütenköpfchen, nicht strahlenden Randblütenund mit Harzdrüsen besetzten Achenen mit kurzem Kelchsaum.Wächst an Wegen und Rainen in Europa. Alle Teile, besondersdie Blüten, riechen beim Zerreiben stark aromatisch,kampferartig, schmecken gewürzig bitter und enthalten eingelbes ätherisches Öl, welches als Wurmmittel verwendbarist.

Tanagra, im Altertum Stadt in Böotien, am Asopos(jetzt Vuriendi), am Einfluß des Baches Thermodon (Laris), woman noch den Lauf der Ringmauern erkennt. Jetzt Gremada. Hier 457v. Chr. Sieg der Spartaner über die Athener, welch letztereindessen 456 T. eroberten. Noch im 6. Jahrh. n. Chr. blühteT., dessen Gebiet in neuester Zeit durch die in der Nekropole aufdem Kokkalihügel gefundenen herrlichen Thonstatuetten vonneuem berühmt geworden ist (s. Terrakotten).

Tanaïs, antiker Name des Don.

Tanak (Tinak), Badeort im russ. Gouvernement Astrachan, 6km von der Wolga entfernt, mit stark salzhaltigenSchlammbädern, die bei Rheumatismen und Flechtenvorzügliche Wirkung äußern.

Tánaquil, Gattin des Tarquinius Priscus (s.d.).

Tanaro, Fluß in Oberitalien, entsteht in denSeealpen, durchfließt in nördlicher undnordöstlicher Richtung die Provinzen Cuneo und Alessandria,wird bei Alessandria für größere Fahrzeugeschiffbar und mündet nach einem Laufe von 205 km unterhalbBassignana rechts in den Po.

Tänaron, Vorgebirge, s. Matapan.

Tanasee (Tsana-, Dembeasee), See im Hochland Abessiniens,südlich von Gondar, 1755 m ü. M., ist 67 km lang, 15-52km breit, nach Stecker 2980 qkm (54 QM.) groß. Letzterermaß 72 m als größte Tiefe in inselfreiem Raum,Hericourt aber 197 m bei der Insel Meteraha. Mehr als 30Flüsse ergießen sich in den von malerischen Bergen undfruchtbaren Hochebenen umgebenen See; der Abai (der Blaue Nil)fließt in einem bogenförmigen Lauf durch ihn hindurch.Aus dem klaren Wasser erheben sich viele meist bewohnteBasaltinseln, deren größte Deg heißt. Der See istreich an Fischen und Nilpferden; Krokodile dagegen fehlen. Anseinem östlichen Ufer liegt die Handelsstadt Korata.

Tanbur, Musikinstrument, s. Tambur.

Tandem, Fabrikname eines zweisitzigen Velocipeds.

Tandil, Stadt in der Argentinischen Republik, ProvinzBuenos Ayres, 260 km südsüdwestlich von der Hauptstadt,bei der Sierra de T. (450 m), hat ein Krankenhaus, 2Dampfmühlen, eine Seifensiederei und (1882) 3600 Einw.

Tandschor (Tanjore), Hauptstadt des gleichnamigenDistrikts in der britisch-ind. Präsidentschaft Madras, liegtam Hauptarm der Kaweri und an der Südbahn, ist ein Sitzaltindischer Gelehrsamkeit, hat großartige Hindubauten, einekatholische und evang. Mission, lebhafte Industrie und (1881)54,745 Einw.

Tandur, in der Türkei eine Art Wärmapparat,welcher mittels einer über einem kupfernen Kohlenbeckenausgebreiteten Decke hergestellt wird und bei den Frauen in derTürkei sehr beliebt ist (s. Mangal).

Tanesruft (Hamada), mit scharfkantigen Steinenübersäete Hochebenen der Sahara (s. d., S. 176).

Tanet-Sande und -Thone, s. Tertiärformation.

Tanfana (Tamfana), Göttin der Marser, hatte einenTempel zwischen der Ems und Lippe, den Germanicus 14 n. Chr.zerstörte. Nach andern führten der Hain und das Heiligtumselbst diesen Namen.

Tang (Tan), japan. Flächenmaß, = 10 Seh - 300Tsjubo = 995,73 qm.

Tang, die Meeresalgen, welche die Familien der f*ckaceenund Florideen ausmachen, die hauptsächliche Vegetation desMeers bilden und durch ihre eigentümlichen, sehrmannigfaltigen Formen und oft ansehnlichen Dimensionen sichauszeichnen. Die meisten sind festgewachsen auf dem felsigenMeeresgrund, an Klippen, Steinen, Schalen von Konchylien etc. unddienen selbst wieder zahllosen Seetieren zum Aufenthalt und zurNahrung; viele Arten leben gesellig und bilden submarineWälder, andre fluten mit dem beblätterten Teil an derMeeresoberfläche, wie die gigantische Macrocystis pyrifera (s.d.) der Südsee. Vgl. Fucus, Sargassum.

Tanganjika (Msaga der Wakawendi, Kimana der Warungu),großer See im Innern von Ostafrika, zwischen3°20'-8°40' südl. Br. und 29°10'-32°30'östl. L. v. Gr., nach Reichard 780 m ü. M. gelegen,enthält süßes Wasser und erstreckt sich bei einerdurchschnittlichen Breite von 52 km auf 750 km in die Länge.Seine an Buchten (Cameron- und Horebai im S., Burtongolf im NW.)reichen Gestade sind rings von bewaldeten Bergen umgeben und dichtbevölkert; von allen Seiten fallen zahlreiche Gewässer indenselben, unter denen jedoch nur der von N. her einmündendeRusisi bedeutender ist. Als Ausfluß des T. nach W., zumLualaba-Congo hin, muß der unter 6° südl. Br.austretende Lukuga betrachtet werden. Der T. wird von Kähnender Eingebornen und arabischen Dhaus befahren; die Ufer sindproduktenreich, sein Wasser beherbergt viele Fische,Flußpferde und Krokodile. Der wichtigste Ort ist Kawele oderUdschidschi am Ostgestade, mit arabischer Niederlassung undMissionsstation; andre nennenswerte Orte und Missionsstationensind: Karema, Kawala, Mpala, Kahunda, Pambete. Das Westufer desSees gehört dem Congostaat, das Ostufer wird der deutschenInteressensphäre zugerechnet. Entdeckt wurde der T. 1858 vonBurton und Speke; seine nähere Kenntnis verdanken wirLivingstone, Cameron u. Stanley, welcher ihn 1875 ganz umfuhr,ferner Hore, Thomson, Reichard. S. Karte bei "Congo". Vgl. Thomson,Expedition nach den Seen von Zentralafrika, S. 47 ff. (deutscheAusg., Jena 1882); Böhm, Von Sansibar zum T. (Leipz.1887).

Tangaren (Tanagridae Gray), Familie aus der Ordnung derSperlingsvögel, schlank gebaute, zum Teil überausprachtvolle Vögel mit schlankem, kegelförmigem, auf derRückenfirste wenig, an der Spitze etwas herabgebogenem, vorderselben meist ausgekerbtem Schnabel, mittellangen Flügelnund Schwanz, ziemlich kräftigen, kurzen Läufen und Zehen,starker und langer Hinterzehe und gekrümmten Krallen, bewohnendie Wälder Amerikas von Paraguay bis Ka-

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Tangelbaum - Tangentometer.

nada, leben meist gesellig, fliegen gut und bewegen sich auf demBoden recht gewandt. Einige sollen ansprechend singen, viele aberlassen nur unangenehme Laute vernehmen. Sie nähren sichhauptsächlich von Früchten, zeitweilig von Körnernund fressen sämtlich auch Insekten. Ihr Nest bauen sie aufBäumen oder Sträuchern. Die wandernden Arten brütennur einmal im Jahr, während die in wärmern Gegendenlebenden wohl mehrere Bruten erziehen. Wegen der bestechendenSchönheit der T. werden viele Arten in Käfigen gehalten,worin sie bei sorgfältiger Pflege auch ziemlich gut gedeihen.Die Tapiranga (Rhamphocelus brasiliensis L., s. Tafel"Stubenvögel") besitzt die Größe des Gimpels, istglänzend dunkelblutrot, an den Flügeln und dem Schwanzschwarz, an den Schwingen und Oberflügeldecken verwaschenbraunrot gesäumt; die Iris ist hochrot, der Schnabelbräunlichschwarz, die Wurzelhälfte des Unterschnabelsperlmutterweiß, der Fuß schwarz. Das Weibchen istoberseits schwarzbraun, am Bürzel und auf der Unterseiteschmutzig rostbraun. Die Tapiranga bewohnt Brasilien und ist in denGebüschen sowie in den Rohrbrüchern an denFlußufern sehr gemein.

Tangelbaum, s. v. w. Kiefer.

Tangénte (lat., Berührungslinie), eineGerade, welche mit einer krummen Linie oder mit einer Flächezwei zusammenfallende Punkte gemein hat. Man erhält sie, wennman erst zwei benachbarte Punkte der Linie oder Fläche durcheine Gerade (eine Sekante) verbindet und dieselbe dann so weit umden einen der zwei Punkte dreht, bis der zweite mit diesemzusammenfällt. Beim Kreis und der Kugel steht die T. senkrechtauf dem Halbmesser, der nach dem Berührungspunkt geht. Legtman an einen Punkt einer krummen Fläche beliebig vieleTangenten, so liegen dieselben in einer Ebene (Tangentialebene). -In der Trigonometrie ist T. der Quotient aus Sinus und Kosinus.Beim alten Klavichord hießen so die auf den hinternTastenenden stehenden Metallzungen, welche die Saiten nichtanrissen, wie die Federposen des Kielflügels, sondern nurstreiften (tangierten), daher auf eine ähnliche Weisetonerzeugend wirkten wie der Bogen der Streichinstrumente (s.Klavier, S. 816).

Tangentenbussole, Vorrichtung zur Messung der Stärkeeines galvanischen Stroms durch die Ablenkung einer Magnetnadel.Sie besteht (s. Figur) aus einem kreisförmig gebogenenKupferstreifen o, dessen geradlinig nach abwärts gebogeneEnden a b und c d unten mit Klemmschrauben zur Aufnahme der von denPolen der galvanischen Batterie kommenden Drähte versehensind. Im Mittelpunkt des kupfernen Ringes schwebt auf einer Spitzeinmitten eines in Grade geteilten Kreises eine Magnetnadel; derRing kann in seinem Fußgestell so gedreht werden, daßseine Ebene mit der Magnetnadel in ihrer Ruhelage (d. h. mit demmagnetischen Meridian) zusammenfällt. Sobald nun eingalvanischer Strom durch den Kupferring geht, wird die Nadel ausihrer Ruhelage so weit abgelenkt, bis das Drehungsbestreben dererdmagnetischen Kraft, welche die Nadel in die Ebene des Ringeszurückführen will, demjenigen des galvanischen Stroms,welcher sie senkrecht zu dieser Ebene zu stellen strebt, dasGleichgewicht hält. Da die Wirkung des Erdmagnetismus auf einund dieselbe Magnetnadel als unveränderlich angesehen werdenkann, so läßt sich aus den Ablenkungen, welcheverschiedene Ströme hervorbringen, auf die Stärke dieserStröme schließen, und zwar ergibt sich aus obigerGleichgewichtsbedingung, daß die Stromstärken sichverhalten wie die "trigonometrischen Tangenten" derAblenkungswinkel. Eine T. zeigt, an welcher Stelle einesSchließungskreises man sie auch einschalten mag, immer diegleiche Ablenkung und gibt dadurch kund, daß dieStromstärke in einer geschlossenen Leitung überall gleichgroß ist. Eine T. zur Messung sehr starker elektrischerStröme ist von Obach angegeben worden. Wird durch den Ringeiner gewöhnlichen T. ein sehr starker Strom, z. B. derjenigeeiner großen dynamoelektrischen Maschine, geleitet, soerleidet die Magnetnadel eine Ablenkung von nahezu 90°, welcheallerdings durch eine passende Nebenschließung verringertwerden kann. Da aber der Ring der Bussole nur einen geringenWiderstand haben darf, die anzubringende Nebenschließungdemnach einen noch geringern, der wegen seiner Kleinheit kaum zumessen ist, so läßt sich mit der gewöhnlichen T.eine brauchbare Messung großer Stromstärken nichterzielen. Obach hat daher für solche Messungen die T. derartabgeändert, daß der mit einem Kupferband oder mitDrahtwindungen belegte Ring um eine mit der Ruhelage derMagnetnadel zusammenfallende horizontale Achse gedreht und der demRing erteilte Neigungswinkel gegen die Vertikale an einem Teilkreisabgelesen werden kann. Die Nadel selbst wird nicht auf einer Spitzebalanciert, sondern sie ist, um das bei stärkerm Neigen desRinges eintretende Kippen der Nadel zu vermeiden, mit einer in zweiLagern drehbaren vertikalen Achse versehen. Die auf die Nadelausgeübte Richtkraft des Stroms wird durch diese Einrichtungin dem Verhältnis von l zu dem Sinus des Neigungswinkelsverringert. Man findet demnach die Stärke des Stroms, wenn mandie wie gewöhnlich aus dem Ablenkungswinkel berechneteverringerte Stromstärke durch den Sinus des Neigungswinkelsdividiert. Macht man den Ring um seine vertikale Achse drehbar unddreht denselben der abgelenkten Nadel nach, bis dieselbe wieder aufdem Nullpunkt der Teilung einsteht, so ist die Stromstärke demSinus des Winkels, um welchen die Nadel abgelenkt ist,proportional. Dieser Winkel wird an einem horizontalen, mit demStativ fest verbundenen Teilkreis abgelesen. Ein so eingerichtetesInstrument heißt Sinusbussole.

Tangentialbewegung, s. Zentralbewegung.

Tangentialräder (Partialturbinen), s. Wasserrad.

Tangentometer, von Prüsker in Wien angegebenesInstrument zum Höhenmessen und Nivellieren, besteht ausStativ, worauf mittels Nuß mit Stellschrauben ein um eineAchse am Okularende auf- und abstellbares Fernrohr ruht,ähnlich dem Nivellierfernrohr, eher noch wie bei der Kippregel(s. d.).

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Tanger - Tanguten.

Die Horizontalstellung des Fernrohrs ist sehr sorgfältigkonstruiert und beruht auf der Horizontalkorrektur einerStützplatte als der Grundlage für die Messungen, aufwelcher die Ständer für das Fernrohr befestigt sind, undauf der darauf selbständig zu bewirkenden Horizontalstellungdes Fernrohrs selbst, also mittels zweier Libellen. Auf derStützplatte ist am Objektivende des Fernrohrs ein Lineal(gerade, nicht Kreisbogen) senkrecht befestigt, an welchem beiHebungen das Objektivende auf- und niedergeht und zwar mit einementsprechend sich schiebenden Index und Nonius. Bei 0 des Index auf0 des Lineals und im übrigen einspielenden Libellen ist dieFernrohrachse horizontal und das Instrument unmittelbar zumgewöhnlichen Nivellieren mit der Latte zu benutzen. Erhebtoder senkt man das Fernrohrende, so wird an dem geraden Lineal nunnicht der Höhen- oder Tiefenwinkel angegeben, wie man ihn zuHöhenmessungen braucht (mit Theodolit oder Kippregel), sondernman liest direkt dessen Tangente ab, kann also bei bekannterHorizontalentfernung des Instruments vom Objekt sofort denHöhenunterschied ermitteln. Vgl. Prüsker, Der T. (Wien1879).

Tanger (arab. Tandscha), Seestadt in der marokkan.Provinz Hasbat, am westlichen Eingang der Straße vonGibraltar, amphitheatralisch am Abhang eines kahlen Kalkgebirgeserbaut, hat meist unregelmäßige, enge und steilaufsteigende Straßen, schöne Moscheen, einFranziskanerkloster mit Kapelle, dem einzigen christlichenGotteshaus im ganzen Reich, mehrere Synagogen und Häusereuropäischer Agenten, eine alte, teilweise verfalleneCitadelle, aber bedeutende Befestigungen am Hafen. Dieser ist zwarklein und von geringer Tiefe, die Reede aber schön undziemlich geräumig. T. ist der bedeutendste SeehandelsplatzMarokkos und unterhält namentlich einen sehr lebhaften Verkehrmit Gibraltar. Es liefen 1887: 806 Schiffe von 168,598 Ton. ein;der Wert der Ladungen betrug im Eingang 8,52, im Ausgang 4,4 Mill.Mk. Die Konsuln (darunter auch ein deutscher) in T. haben dort einebedeutendere Stellung als an irgend einem andern Orte, da sie diepolitischen Vertreter ihrer Staaten beim Sultan von Marokko sind.Da letzterer nicht gestattet, daß Europäer in seinerHauptstadt residieren, so läßt er seinen Minister derauswärtigen Angelegenheiten in T. wohnen, wo derselbe zugleichGouverneur ist. Die Einwohner, 20,000 an der Zahl, sind meistMauren; dazu kommen Juden spanischen Ursprungs und wenigeEuropäer. - T. hieß bei den Römern Tingis und wardunter Kaiser Claudius Hauptstadt der Provinz Tingitana oder deswestlichen Mauritanien. Die Westgoten eroberten es im 5. Jahrh., im8. Jahrh. kam es an die Araber. Die Portugiesen brachten es 1471 inihre Gewalt. 1662 ward es als Brautschatz der portugiesischenInfantin Katharina bei deren Vermählung mit Karl II. vonEngland an letzteres abgetreten, aber wegen der kostspieligenUnterhaltung 1684 aufgegeben, worauf es die Mauren wieder in Besitznahmen. Am 6. Aug. 1844 ward es von einer französischen Flottebombardiert, worauf 10. Nov. daselbst der Friede zwischenFrankreich und Marokko abgeschlossen ward.

Tangermann, Wilhelm (pseudonym Victor Granella),altkathol. Theolog und Schriftsteller, geb. 6. Juli 1815 zu Essenan der Ruhr, bezog 1840 die Akademie Münster, vollendete hierden philosophischen Kursus und begann das Studium der Theologie,das er 1842-43 in München unter Döllinger, Görresund Haneberg beendete. Darauf in das erzbischöflicheKlerikalseminar zu Köln aufgenommen, erhielt er 1845 diePriesterweihe und ward 1846 Kaplan in Neuß, 1862 in Unkel.Infolge seiner Weigerung, die vatikanischen Dekrete vom l8. Juli1870 anzuerkennen, wurde er seines Amtes entsetzt, zog nach Bonnund übernahm 1872 das Pfarramt bei der neuen altkatholischenGemeinde zu Köln. Von seinen Schriften nennen wir: "Wahrheit,Schönheit und Liebe", philosophisch-ästhetische Studien(Leipz. 1867); "Patriotische Lieder und Zeitgedichte" (Bonn 1871);"Aus zwei Welten", Wahrheit und Dichtung (Leipz. 1871); "Diotima",eine kulturhistorische Novelle (Köln u. Leipz. 1873); "ZurCharakteristik der kirchlichen Zustände" (das. 1874); "Herzund Welt", Dichtungen (das. 1876); "Philosophie und Christentum inihren Beziehungen zur Kultur- und Religionsfrage" (das. 1876); "Dasliberale Prinzip in seiner ethischen Bedeutung für Staat undKirche etc." (3. Aust., Köln 1883); "Sions Harfenklänge"(Bonn 1886); "Philosophie und Poesie^, Sonettenkränze(Köln 1886); "Neuer Frühling, neues Leben.Zeitbetrachtungen" (Essen 1889). Alle diese Schriften stehen mitder geistigen Richtung, als deren unerschrockener Streiter T.eingetreten ist, im Zusammenhang, offenbaren aber über ihrentendenziösen Zweck hinaus eine poetische Anlage u. vertiefteBildung.

Tangermünde, Stadt im preuß. RegierungsbezirkMagdeburg, Kreis Stendal, am Einfluß der Tanger in die Elbeund an der Eisenbahn Stendal-T., hat Mauern und Thore aus demMittelalter, die 1376 begonnene gotische Stephanskirche, einSchloß, ein spätgotisches Rathaus, eine Schifferschule,ein Amtsgericht, Zuckerraffinerie, Öl- und Schrotfabrikation,Bierbrauerei, Schiffbau, Schiffahrt, Getreidehandel, Fischerei und(1885) 5852 Einw. In der Nähe an der Tanger und der LinieLeipzig-Wittenberge der Preußischen Staatsbahn dieTangerhütte mit Raseneisensteingräberei,Eisengießerei, einem Emaillierwerk und (1885) 200 Einw. - T.erscheint schon im 12. Jahrh. als Stadt. Die dortige Burg warwiederholt Residenz der Markgrafen von Brandenburg, besonders zurZeit Kaiser Karls IV., wurde aber 1640 von den Schwedengrößtenteils zerstört; von dem alten Bau ist nochder Kapitelsturm übrig. Vgl. Götze, Geschichte der BurgT. (Stendal 1871).

Tangerwicke, s. v. w. Lathyrus tingitanus.

Tangieren (lat.), berühren; Eindruck machen.

Tanguten (bei den Chinesen Sifan, d. h. westlicheBarbaren), ein den Tibetern nahe verwandtes Volk in denAlpenländern westlich von den chinesischen Provinzen Schensiund Setschuan, am obern Lauf der Zuflüsse des Huangho undJantsekiang. Sie werden seit 634 n. Chr. in den chinesischenAnnalen öfters erwähnt und sind gegenwärtig denChinesen tributpflichtig. Die T. sind von mittlerm, aberkräftigem Wuchs, mit schwarzem Haar und starkem,kurzgeschornem Bart, gerader Nase, großen, nicht schmalgeschlitzten Augen und dicken, oft aufgeworfenen Lippen. IhreKleidung, bei beiden Geschlechtern dieselbe, besteht in einer ArtSchlafrock aus Tuch oder Schaffellen. Ihre Unsauberkeitüberschreitet alle Grenzen. Die Sprache der T. gehört zurtibetischen Gruppe der einsilbigen Sprachen. Die T. sind Nomaden,welche sich vornehmlich mit Schafzucht befassen; nach der Farbe derZelte, unter welchen sie wohnen, unterscheidet man schwarze odergelbe T. Ihre Religion ist ein durch allerhand Aberglaubenentstellter Buddhismus. Alle T. werden von eignen Beamten regiert,welche einem chinesischen Beamten in Sinin (Kansu) unterstelltsind.

510

Tangwiesen - Tanne.

Tangwiefen, s. f*ckusme^e.

Taenia. Bandwurm.

Tanis (ägypt. T'a, T'an, hebr. Zo'an, arab. Sân),altägypt. Stadt

im nordöstlichen Nildelta, deren zuerst von Mariette, dann1883-84 von

Flinders Petrie aufgedeckte Ruinen beim heutigen FischerdorfSân el

Hager unweit des Südufers des Menzalesees liegen. Schonunter der

6. Dynastie um die Mitte des 3. vorchristlichen Jahrtausendsbestehend,

wurde T. um 2100 Residenz der semitischen Hyksoskönige undspäter

diejenige der großen Herrscher aus der 19. Dynastie, wieRamses' II. und

Merenptahs, deren ersterer in T. einen großartigen Tempeldes

Kriegsgottes Set erbaute, in dessen Ruinen nicht weniger als14

Obelisken gefunden wurden. In sehr fruchtbarer, wild- undfischreicher

Gegend gelegen und selbst für Seeschiffe erreichbar, war T.vor der

Gründung Alexandrias wohl die größteHandelsstadt Ägyptens, sank aber

später infolge von Landanschwemmungen und des Versandensder

Tanitischen Nilmündung und wurde wahrscheinlich 174 n.Chr.

gelegentlich eines Aufstandes zerstört. Vgl. FlindersPetrie, Tanis

(Lond. 1885, Bd. 1).

Tanjore, Stadt, s. Tandschor.

Tankred, 1) T. von Hauteville, normänn. Ritter im 11.Jahrh., dessen zehn Söhne, unter ihnen

der berühmte Robert Guiscard und Roger I., 1038

nach Unteritalien zogen, es eroberten und dort dasnormännische Reich

gründeten.

2) Berühmter Kreuzfahrer, Enkel des vorigen, vondessen Tochter Emma aus

ihrer Ehe mit dem Markgrasen Otto dem Guten, geb. 1078,begleitete 1096

seinen Vetter Bohemund von Tarent auf dem ersten Kreuzzug,zeichnete

sich bei der Belagerung von Nikäa durch Tapferkeit aus,besetzte

Tarsos, über dessen Besitz er sich mit Balduin entzweite,that sich vor

Antiochia hervor, besetzte Bethlehem, erstürmte bei derEroberung von

Jerusalem zuerst mit den Seinen die Mauern und pflanzte seinBanner auf

der Moschee Omars auf. Er blieb auch nach dem Sieg bei Askalonin

Palästina und erhielt das Fürstentum Tiberias. Nachdem Tod Gottfrieds

von Bouillon suchte er die Wahl zum König von Jerusalemvergeblich auf

seinen Vetter Bohemund zu lenken. Als die Sarazenen Bohemund

gefangennahmen und dieser nach seiner Freilassung 1103 nachEuropa ging,

verwaltete er dessen Fürstentum Antiochia und hielt eineharte

Belagerung durch die Sarazenen aus. Er vergrößertedas Fürstentum durch

Eroberung von Adana, Mamistra und Laodikea, rettete Edessa vorder

Einnahme durch die Seldschukken, worauf ihm auch diesesFürstentum

übertragen wurde, und eroberte Arta. Er starb 21. April1112. Vermählt

war er mit Cäcilie, einer natürlichen Tochter desKönigs Philipp I. von

Frankreich. Wenn schon Tankreds Ruhm in der Geschichtebegründet ist,

so ist derselbe doch ganz vorzüglich erhöht wordendurch Tafsos

"Befreites Jerusalem", worin T. ganz als Held

erscheint. Vgl. Raoul von Caen, Gesta Tancredi (in Guizots"Collection

des mémoires"); Delabarre, Histoire de Tancrède(Par. 1822), und

Kugler, Boemund und T., Fürsten von Antiochien(Tübing. 1862).

3) T. von Lecce, König von Sizilien,natürlicher Sohn des Herzogs Roger

von Apulien und Enkel des Königs Roger II. von Sizilien,ward nach

Wilhelms des Gütigen Tod 1190 von den Sizilianern inPalermo zum König

gewählt und verteidigte den Thron mit Glück gegenKaiser Heinrich VI. Nach

seinem Tod 22. Febr. 1194 mußte sein unmündiger

Sohn Wilhelm III. auf die Krone verzichten und

starb bald auf der Burg Hohenembs.

Tann, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Kassel, KreisGersfeld, in der

Rhön, an der Ulster und der Linie Fulda-T. derPreußischen Staatsbahn,

359 m ü. M., hat eine neue gotische evang. Kirche, 3Schlösser der

Freiherren von der T. (s. Tann-Rathsamhausen),Holzwarenfabrikation,

Spinnerei und (1885)

1090 meist evang. Einwohner. Die Stadt ward 1866

von Bayern an Preußen abgetreten.

Tanna, 1) (Thana) Hauptstadt eines Distrikts in der

britisch-ind. Präsidentschaft Bombay, auf der Ostseite derInsel

Salsette, mit einem alten Fort (jetzt Gefängnis),portugiesischer

Kathedrale und l4,456 Einw. - 2) Eine der südlichsten derNeuen

Hebriden, 380 qkm (7 QM.) mit 10,000 Einw. Im Innern ein 135 mhoher,

thätiger Vulkan mit Schwefelquellen an seinem Fuß.Die Küstenstriche

sind äußerst fruchtbar. Hafenplatz istResolution.

Tanna, Stadt im Fürstentum Reuß j. L., LandratsamtSchleiz, an der

Eisenbahn Schönberg-Hirschberg, 538 m ü. M., hat eineevang. Kirche,

Viehmärkte, Holzhandel und (1885) 1636 evang.Einwohner.

Tannahill, Robert, schott. Dichter, geb. 3. Juni

1774 zu Paisley, trieb die Weberei und dichtete daneben Lieder,die

durch seines Freundes R. A. Smith Kompositionen baldvolkstümlich

wurden. Auch gab er "Poems and songs" (1807) heraus. Ambekanntesten

wurden unter seinen Gedichten: "Jessy, the flower of Dumblane"und "The

song of the battle of Vittoria", die nur von den bestenDichtungen

Rob. Burns' übertroffen werden. Später verfiel er inSchwermut und

zuletzt in Wahnsinn; in diesem nahm er sich 17. Mai 1810 selbstdas

Leben. Eine Sammlung seiner Werke nebst Biographie erschien

Glasgow 1838 (neue Ausg. 1879).

Tanne (Picea Don., Abies Lk., hierzu Tafel "Tanne"), Gattung ausder

Familie der Abietineen, meist hohe Bäume, derenHauptäste in

unregelmäßigen Quirlen und deren Nebenäste meistzweireihig stehen,

mit einzeln stehenden, meist zweizeiligen, flachen, unterseitslängs des

Mittelnervs bläulichweiß gestreiften Nadeln,aufrechten Zapfen und nach

der Reife von der Achse sich lösenden Zapfenschuppen. Dieeuropäische

Edeltanne (Weißtanne, P. pectinata Lam., Abies alba Mill.,A. Picea

L., A. pectinata Dec., A. excelsa L., P. Abies Dur., s. Tafel),einer

der schönsten Waldbäume mit in der Jugend pyramidaler,im Alter fast

walzenförmiger, unregelmäßiger, am Wipfelstorchnestartig abgeplatteter

Krone, wird im Schluß über 65 m hoch, hat zuerstolivenbraune, später

weißgraue Rinde, behaarte, rauhe Zweige, an welchen dieNadeln nach zwei

Seiten flach gestellt sind. Sie werden 2-3 cm lang und sind amobern

Ende abgerundet und ausgerandet; die Blüten stehen fast nurin den

obersten Verzweigungen des Wipfels an vorjährigen Trieben,die

männlichen Blütenkätzchen sind viel längerals die der Fichte, die

senkrecht aufgerichteten, 4-6 cm langen weiblichenBlütenzäpfchen

gelbgrün, die aufrecht stehenden, 14-20 cm langen Zapfenlänglich

walzenförmig, hell grünlichbraun, ihre Deckschuppenlineal zungenförmig

mit dem zwischen den Fruchtschuppen hervorragenden Teilrückwärts

gebogen. Nach der Samenreife im Oktober, oft erst im April desfolgenden

Jahrs, löst sich der Zapfen ganz auf, und nur diespindelähnliche Achse

bleibt am Trieb stehen. Die Samen sind dreikantig,geflügelt. Die T. hat

eine ziemlich tief gehende Pfahlwurzel und unter derOberfläche des

Bodens verlaufende zahlreiche Nebenwurzeln. Die Keimpflanzebesitzt ge-

Tanne.

Tanne (Abies Picea).

1. Zweig mit männlichen Blütenkätzchen.—

2. Trieb mit weiblichen Blütenkätzchen. -

3. 4. Weibliche Deckschuppe mit der noch kleinen Samenschuppevon der Innen- und Außenseite, an ersterer unten dieSamenschuppe mit den zwei Samenknospen. —

5. (und die Figur darüber) Die Samenschuppe inverschiedenen Entwickelungszuständen, wie 3 und 4vergrößert. —

6. 7. Männliche Blütenkätzchen, als Knospe undvollkommen entwickelt (doppelte Größe). —

8. Staubgefäße. —

9. Nadel (doppelte Größe). —

10. Querschnitt derselben, ebenso. —

11. Keimpflänzchen. —

12. Stammknospe desselben mit abgeschnittenen Nadeln undKeimnadeln, vergrößert.

Zum Artikel »Tannen.

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Tannenberg - Tannenhäher.

wöhnlich 5-7 sehr große Keimnadeln; in der Jugendwächst die T. viel langsamer als die Fichte, vom 25. oder 30.Lebensjahr an beginnt aber ein fördersameres Wachstum, welcheslänger als bei irgend einem Waldbaum, mit Ausnahme der Eiche,anhält. Sie erreicht ein sehr hohes Alter. Im allgemeinenträgt sie später und seltener Früchte als dieFichte. Ihre Verbreitung ist auch viel beschränkter. Siegehört als Waldbaum den höhern Stufen desmitteleuropäischen Berglandes (Riesengebirge, Erzgebirge,Böhmerwald, Bayrischer Wald, Fichtelgebirge, Frankenwald,Schwarzwald, Alb, Jura, Wasgenwald), densüdwesteuropäischen (Burgund, Auvergne, Pyrenäen)und südosteuropäischen Gebirgslandschaften (Karpathen,Siebenbürgen, östlicher Balkan, thrakischeBerglandschaft), meist in Höhen von 800-1200 m ü. M. immittlern, von 1200 -1900 m im südlichen Europa, an. Die T.meidet die aufgeschwemmten Bodenarten des Flachlandes und liebt vorallen den Verwitterungsboden des Urgebirges. Sie gedeiht nur imBestandsschluß zur höchsten Vollkommenheit, da sie einenerheblichen Schirmdruck erträgt und in der Jugend des Schutzesdurch Altstämme bedarf. Ausgedehnte Bestände bildet siemit der Rotbuche zusammen, auch mit der Fichte; ihr ganzesWuchsverhalten aber stempelt sie zum Betrieb in reinenBeständen mit höherm Umtrieb (140-150 Jahre). Die T. iststurmfest und dem Schneebruch und Insektenschäden wenigunterworfen, Wildbeschädigungen aber sehr ausgesetzt. Manverjüngt die Tannenbestände am besten in dunkelnSamenschlägen; zur Neubegründung von solchenBeständen wendet man Schirmschläge an. Man pflücktdie Zapfen im September; der Same bedarf des Ausklengens nicht, daderselbe von selbst ausfällt. Ein Hektoliter Zapfen wiegt 45kg und ergibt etwa 3 kg gereinigten Samen (4½ kggeflügelten Samen). Ein Kilogramm reinen Samens enthält16,000 Körner. Zur Saat verwendet man pro Hektar 25 kg(Plätzesaat) bis 80 kg (Vollsaat) reinen Samen. Meist machtman Riefensaaten (0,5 m breit) mit 50 kg Samen pro Hektar. ImSaatkamp säet man 5 kg pro Ar. Der Same wird höchstens0,8 cm tief mit Erde bedeckt. Frühjahrssaat ist wegen derFrostgefahr und des Mäusefraßes vorzuziehen. Saat- undPflanzkämpe legt man in frostfreien Lagen, thunlichst in nichtzu geschlossenen alten Schirmbeständen an. Diezweijährigen Pflänzlinge werden umgepflanzt (verschult),im sechsjährigen Alter in die Bestände gepflanzt.Vielfach werden auch Wildlinge mit Ballen, fünf- bissechsjährig, zur Vervollständigung der Kulturenverwendet. Man benutzt das sehr gleichmäßige undspaltbare Tannenholz wie Fichtenholz, außerdem namentlich zuResonanzböden musikalischer Instrumente. Die T. liefert auchHarz und Terpentinöl, aber die Rinde ist zum Gerben nichtgeeignet. A. venusta Dougl., in Kalifornien, mit brauner Rinde,weit herabhängenden untern und unregelmäßigabstehenden obern Ästen, zugespitzten Nadeln und dreilappigen,sehr lang zugespitzten Deckblättern, wird über 30 m hochund bei uns als Zierpflanze kultiviert, ebenso A. amabilis Dougl.,an der Westseite Nordamerikas, mit brauner Rinde, in der Jugend aufbeiden Seiten bläulich gestreiften, zuletztgleichmäßig grünen, an der Spitze oft ausgerandetenNadeln und am Rand gezähnelten Deckblättern, über 60m hoch werdend. P. balsamea Loud. (A. balsamea Mill., Balsamtanne),in Nordamerika, südlich bis Virginia, sehr verbreitet, mitschwärzlichgrauer Rinde, an der Spitze ausgerandeten,unterseits bläulichweiß gestreiften Nadeln,gezähnelten Deckblättern und violetten Zapfen, wird 15 mhoch und bildet eine pyramidale Krone; ihre Blätter und Zweigeriechen gerieben sehr angenehm; sie liefert den Kanadabalsam. P.Nordmanniana Loud. (A. Nordmanniana Link.), im Kaukasus und imPontischen Gebirge, 30 m hoher, meist vom Grund anregelmäßig mit Ästen besetzter Baum mitschwärzlichgrauer Rinde, ringsum gestellten, an der Spitzeausgerandeten, wenigstens am obern Teil gezähnelten und meistmit verlängerter Spitze versehenen Deckblättern und sehrgroßen, meist mit Harz stark bedeckten Zapfen, zählt zuden schönsten und höchsten Edeltannen, istraschwüchsig und vollständig hart und wird daher vielfachals Zierpflanze kultiviert. P. Pinsapo Loud. (A. Pinsapo Boiss.,spanische Edeltanne), in den Gebirgen des südlichen Spanienund Nordafrikas, ein 20-25 m hoher Baum mit grauschwärzlicherRinde, ringsum stehenden, zugespitzten, gleichfarbigen oderunterseits schwach bläulichweiß gestreiften Nadeln,kurzen, gezähnelten und mit einer besondern Spitze versehenenDeckblättern und ziemlich großen, am obern Teil etwaseingedrückten Zapfen, hält in Norddeutschland ingeschützten Lagen ziemlich gut aus. Amerikanische Edeltanne(P. nobilis Loud., A. nobilis Lindl.), 70 m hoher Baum Kaliforniensmit kastanienbraunem Stamm, fast ringsum gestellten, nach obengekrümmten Nadeln, 16-18 cm langen Zapfen mitspatelförmigen, oben geschlitzt gezahnten und in eine schmallanzettliche Spitze auslaufenden, sehr langen Deckschuppen, eineder schönsten Edeltannen, bildet in ihrem Vaterlandgroße Wälder und ist in Norddeutschland vollkommen hart.Vgl. Schuberg, Die Weißtanne (Tübing. 1888).

Tannenberg, 1) Dorf in der sächs.Kreishauptmannschaft Zwlckau, Amtshauptmannschaft Annaberg, an derZschopau und der Linie Schönfeld-Geyer der SächsischenStaatsbahn, hat eine evang. Kirche, Baumwollspinnerei, Papier- undPappenfabrikation, Gorlnäherei und (1885) 1277 Einw. - 2) Dorfim preuß. Regierungsbezirk Königsberg, Kreis Osterode,hat (1885) 247 Einw. und ist bekannt durch die Niederlage desdeutschen Ordensheers gegen die Polen und Litauer 15. Juli1410.

Tannenfalk, s. v. w. Wanderfalk, s. Falken, S. 9.

Tannenfichte, s. v. w. Weimutskiefer.

Tännengebirge, ein Gebirgsstock derSalzkammergutalpen, vom Salzachthal zwischen Golling und Werfenöstlich gegen die Dachsteingruppe sich hinziehend, im Raucheck2428 m hoch, verengert mit dem gegenüberliegendenHaagengebirge das Salzachthal zu enger Schlucht (PaßLueg).

Tannenhäher (Nucifraga Briss.), Gattung aus derOrdnung der Sperlingsvögel, der Familie der Raben (Corvidae)und der Unterfamilie der eigentlichen Raben (Corvinae),kräftig gebaute Vögel mit langem, starkem, sanft nach derSpitze zu abfallendem Schnabel, mittellangen, stumpfenFlügeln, in welchen die vierte und fünfte Schwinge amlängsten sind, mittellangem, gerundetem Schwanz und starkenFüßen mit kräftigen Nägeln an den mittellangenZehen. Der T. (Nußknacker, Berg-, Birkenhäher, N.caryocatactes Briss.), 36 cm lang, 59 cm breit, ist dunkelbraun,weiß gefleckt. nur auf Scheitel und Nacken ungefleckt,Schwingen und Schwanzfedern sind schwarz, letztere an der Spitzeweiß; die Augen sind braun, Schnabel und Füßeschwarz. Der T. bewohnt die Wälder Nordeuropas, Nordasiens undunsrer Hochgebirge, besonders im Gebiet der Zirbelkiefer. InDeutschland ist er sehr selten, erscheint aber in manchem Winterziemlich häufig; im Norden

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Tannenklee - Tansillo.

wandert er regelmäßiger, doch im allgemeinen auchnur, wenn die Zirbelnüsse mißraten sind. Er klettert anden Bäumen umher und meißelt mit dem Schnabel, wie dieSpechte. Seine Nahrung besteht wesentlich aus Sämereien,Nüssen, Beeren, Kerbtieren, Schnecken, kleinen Vögelnetc. Er nistet im März auf Bäumen und legt 3-4 blaßgrünblaue, hellbraun gefleckte Eier, welche das Weibchen in17-19 Tagen ausbrütet. Er wird nützlich, indem er zurVerbreitung des Arvensamens an den unzugänglichsten Stellenbeiträgt. In der Gefangenschaft fällt besonders seineMordlust auf. Vgl. Tschusi zu Schmidhoffen, Verbreitung und Zug desTannenhehers (Wien 1888).

Tannenklee, s. Anthyllis.

Tannenlaus, s. Blattläuse, S. 2.

Tannenpapagei, s. Kreuzschnabel.

Tannenpfeil, s. Kiefernschwärmer.

Tannenroller, s. Spechte.

Tannhausen, Dorf im preuß. RegierungsbezirkBreslau, Kreis Waldenburg, im Weistritzthal und im WaldenburgerGebirge, hat eine kath. Kirche, ein Schloß,Steinkohlenbergbau, mechanische Weberei, Dampfziegelei und bestehtaus den Orten Blumenau (Ober-T.) mit (1885) 1941, Mittel-T. mit1551 und Erlenbufch (Nieder-T.) mit 356 Einw.

Tannhäuser (Tanhuser), Minnesänger, vermutlichein Salzburger oder Bayer, der um die Mitte des 13. Jahrh. am HofeFriedrichs des Streitbaren und andrer Fürsten sich aufhieltund ein abenteuerliches Wanderleben geführt zu haben scheint.In seinen Liedern schildert er, dem Vorgang Neidharts folgend, mitVorliebe das bäuerliche Leben und derbsinnliche Minne,nebenbei mit allerlei litterarischer Gelehrsamkeit prunkend. Auchein didaktisches Gedicht: "Hofzucht", wird ihm beigelegt. Eineseiner Weisen erhielt sich bei den Meistersängern. Seinelyrischen Gedichte finden fich im 2. Teil der "Minnesinger" vonHagen (Leipz. 1838), die "Hofzucht" im 6. Band von Haupts"Zeitschrift für deutsches Altertum" (das. 1848). An seinbewegtes Leben und ein ihm beigelegtes Bußlied knüpftsich die bekannte Sage vom Ritter T., der im Venusberg verweilte,dann nach Rom pilgerte, um Vergebung seiner Sünden zuerlangen, und, als ihm diese versagt wurde, verzweiflungsvoll zuFrau Venus im Hörselberg (s. d.) zurückkehrte. R. Wagnerhat die Sage zu einer Oper verarbeitet. Vgl. Grässe, Der T.und ewige Jude (2. Aufl., Dresd. 1861); Zander, DieTannhäusersage und der Minnesänger T. (Königsb.1858).

Tannieren, s. Gallieren.

Tannin, s. Gerbsäuren, S. 160.

Tanningensäure, s. Katechin.

Tanninstoffe, s. v. w. Gerbsäuren.

Tann-Rathsamhausen, Ludwig Samson Heinrich Arthur,Freiherr von und zu der, bayr. General, geb. 18. Juni 1815 zuDarmstadt als Sohn des 1848 verstorbenen bayrischen KämmerersFreiherrn Heinrich von und zu der T. und einer Freiin vonRathsamhausen aus einer erloschenen elsässischen Familie, trat1833 als Leutnant in die bayrische Artillerie, ward 1840 in denGeneralstab versetzt, 1844 Adjutant des Kronprinzen Maximilian undbald Major, ging 1848 beim Ausbruch des Kriegs inSchleswig-Holstein dahin, wo er in kurzem in das FreischarenwesenOrdnung zu bringen wußte und bei Altenhof und Hoptrupglänzende Waffenthaten verrichtete, ward 1849 Chef desGeneralstabs der unter dem Prinzen Eduard von Sachsen-Altenburgstehenden Division und trat im Juli 1850 als Oberst undGeneralstabschef des Generals Willisen in dieschleswig-holsteinische Armee, mit der er bei Idstedt, Missunde undFriedrichstadt kämpfte. Nach Bayern zurückgekehrt, warder Oberstleutnant und Adjutant des Königs Maximilian II., 1855Generalmajor, 1860 Generaladjutant des Königs und 1861Generalleutnant und Generalkommandant in Augsburg, dann inMünchen. 1866 wurde er zum Generalstabschef des Prinzen Karl,des Oberbefehlshabers der süddeutschen Kontingente, ernannt,schloß mit Österreich zu Olmütz die Konvention vom14. Juni ab und leitete die Operationen der Bayern im Juli, derenunglücklicher Verlauf von der ultramontanen Presse besondersT. schuld gegeben wurde, so daß derselbe den Angriffen durcheine Anklage des "Volksboten" ein Ende machen mußte. (Vgl."Die bayrische Heerführung und der Chef des Generalstabs,Generalleutnant Freiherr v. d. T., vor den Geschworen etc.,Kissing. 1866.) T. blieb nach dem Kriege Generaladjutant desKönigs und Divisionskommandeur und wurde 1869 zum General derInfanterie und Kommandeur des 1. bayrischen Korps befördert.An der Spitze desselben kämpfte er 1870 mit Auszeichnung beiWörth, Beaumont und Sedan, erhielt Anfang Oktober denOberbefehl über eine aus seinem Korps, der 22.preußischen Infanterie- sowie der 1. und 4.Kavalleriedivision gebildete Armeeabteilung, siegte 10. Okt. beiOrléans, das er besetzte, zog sich nach tapferer Gegenwehrgegen die französische Übermacht bei Coulmiers 9. Nov.nach Norden zurück, kämpfte 2.-10. Dez. unter demGroßherzog von Mecklenburg in mehreren blutigen Gefechten beiOrléans und kehrte Ende Dezember 1870 zur Zernierungsarmeevor Paris zurück. Er starb als Kommandeur des 1. bayrischenArmeekorps 26. April 1881 in Meran. Vgl. Zernin, Freih. Ludw. vonund zu der T. (Darmstadt 1883); Helvig, Ludw., Freih. v. T. (Berl.1884).

Tannroda, Stadt im weimar. Verwaltungsbezirk Weimar I, ander Ilm und der Eisenbahn Weimar-T.-Kranichfeld, 294 m ü. M.,hat eine evang. Kirche, eine Burgruine, eine Oberförsterei,Korbflechterei, eine Dampfschneide-, Mahl-, Gips- undLohmühle, Holzhandel und (1885) 889 Einw.

Tannwald, Stadt in der böhm. BezirkshauptmannschaftGablonz, an der Bahnlinie Eisenbrod-T., mit Bezirksgericht,Baumwollspinn- und Webfabrik (23,500 Spindeln und 500 mechanischeWebstühle), Maschinenbauwerkstätte, Glasschleiferei,Glaskurzwarenindustrie und (1886) 2726 Einw.

Tan-ra, früher Name der Insel Quelpart (s.d.).

Tansillo, Luigi, ital. Dichter, geboren um 1510 zu Venosaim Neapolitanischen, trat früh in die Armee und erwarb sichdurch seinen Mut nicht minder als durch sein poetisches Talent dieGunst des Don Garcias, Sohns des Vizekönigs von Neapel, den ernach Sizilien und später auf der Expedition gegen Tunis (1551)begleitete. Ein geistreiches, aber schlüpfriges Gedicht: "Ilvendemmiatore" (Neapel 1534, Vened. 1549, Par. 1790; franz. vonMercier: "Jardin d'amour", das. 1798), begründete seinenlitterarischen Ruf, zog ihm aber das Verdammungsurteil derrömischen Kurie zu. Um dieselbe wieder auszusöhnen,schrieb er das religiöse Epos "Le lagrime di San Pietro", vonwelchem jedoch bei seinen Lebzeiten nur ein Teil gedruckt wurde,und welches er auch unvollendet hinterließ. Erst nach seinemTod erschien das Gedicht, welches im einzelnen großeSchönheiten besitzt, aber durch seine Länge und einegewisse Monotonie ermüdet (Vened. 1606). T. starb um 1570.Außer den genannten Werken hat man

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Tansimat - Tantieme.

von ihm das dramatische Gedicht "I due pellegrini" (Neap. 1631).Die Ausgabe seiner "Opere" (Vened. 1738) enthält die beidenletztgenannten Gedichte und seine "Rime Varie", unter welchen sichviele gute befinden. Später wurden aus Handschriftenpubliziert die beiden Lehrgedichte: "La balia" (Vercelli 1767,Vened. 1797) und "Il podere" (Tur. 1769, Parma 1797), welchletzteres zu den besten seiner Gattung in der italienischenLitteratur gehört, sowie verschiedene "Capitoli" (Vened.1832-31).

Tansimat,s. Tanzimat.

Tanta, Hauptstadt der ägypt. Provinz Garbieh mit(1882) 33,750 Einw. (1029 Ausländer), hat großekommerzielle Bedeutung infolge seiner zentralen Lage im Nildelta,als Kreuzungspunkt mehrerer Eisenbahnen und Kanäle, desprächtigen Grabes des wunderthätigen Scheichs Ahmed elBedawi und seiner drei großen Messen, von welchen die imAugust an 500,000 Menschen hier versammelt. Die hiesige Medressewird von nahe an 5000 Schülern besucht und steht nur der vonKairo nach. T. ist Sitz eines deutschen Konsulats.

Tantal (Columbium) Ta, chemisch einfacher Körper,findet sich als Tantalsäuresalz im Tantalit, Columbit,Yttrotantalit, Pyrochlor und andern seltenen Mineralien, wird ausdiesen als schwarzes, sehr widerstandsfähiges Pulver erhalten,verbrennt beim Erhitzen an der Luft zu TantalsäureanhydridTa2O5 und gibt beim Erhitzen in Chlor Tantalchlorid TaCl5.Tantalsäure H3TaO4 verbindet sich mit Basen in mehrerenVerhältnissen. Atomgewicht des Tantals ist 182. T. wurde 1801von Hatchett entdeckt.

Tautalit, Mineral aus der Ordnung der Tantalate undNiobate, findet sich in rhombischen, säulenförmigenkristallen, auch derb und eingesprengt, ist schwarz,undurchsichtig, unvollkommen metallglänzend, Härte 6-6,5,spez. Gew. 6,3-8, besteht aus tantal- und niobsaurem EisenoxydulFe(TaNb)2O6 mit Mangangehalt. Eine zinnreiche Varietät ist derIxiolith. T. findet sich bei Falun in Schweden, in Finnland etc.,überall in Granit eingewachsen.

Tantalos, im griech. Mythus König von Lydien oderPhrygien, Sohn des Zeus und der Pluto, Vater des Pelops und derNiobe, Großvater des Atreus und Thyestes, durfte als Lieblingdes Zeus an den Göttermahlen teilnehmen. Dadurchübermütig geworden, lud er selbst die Götter ein undsetzte ihnen, um ihre Allwissenheit zu prüfen, das Fleischseines eignen Sohns Pelops vor. Nach andern soll er des Zeusgeheime Ratschlüsse ausgeplaudert oder Nektar und Ambrosia vomGöttertisch entwendet haben. Zur Strafe für diesen Frevelstürzten ihn die Götter in die Unterwelt, und hiermußte er (nach der Sage bei Homer) fortwährend denqualvollsten Hunger u. Durst leiden. Er stand in einem Teich,während Bäume ihre fruchtbeladenen Zweige über ihnnieder neigten; aber so oft er davon pflücken oder aus demTeich trinken wollte, wichen Früchte und Wasser zurück.Nach Pindar schwebt er selbst in der Luft, und über seinemHaupt hängt ein stets den Sturz drohender Felsenblock.Darstellungen finden sich auf Vasenbildern, z. B. in derMünchener Sammlung (s. Abbildung).

Tautalusbecher, Vexierbecher, s. Heber, S. 256.

Tantardini, Antonio, ital. Bildhauer, geb. 1829 zuMailand, bildete sich an der dortigen Akademie und zeigte schon inseinen ersten Arbeiten, einer Marmorbüste von Dantes Beatrice,einer Marmorstatue des Studiums und dem Grabdenkmal derSängerin Giuditta Pasta (gest. 1865), ein eifriges Studium derAntike und der Cinquecentisten. Es folgten eine kolossale Statuedes Moses für Mailand, eine Statue des Märtyrers Arnoldvon Brescia (in Desio bei Mailand), die sitzende Muse derGeschichte an dem Cavour-Denkmal Tabacchis in Mailand und dasDenkmal des Physikers Volta in Pavia. Unter seinen kleinernArbeiten, die sich durch meisterhafte Behandlung des Stofflichenauszeichnen, aber auch unter dem die moderne italienische Plastikbeherrschenden Streben nach Koketterie leiden, sind zu nennen. eineFigur der Eitelkeit, eine Badende, eine Lesende, eineMarmorbüste Dantes, der erste Schmerz und Faust und Gretchen.T. starb 7. März 1879 als Professor der Akademie inMailand.

Tantarer, alte ägypt. Stadt, s. Dendrah.

Tant de bruit pour une omelette! (franz.), "so vielLärm um einen Eierkuchen!" d. h. um nichts,sprichwörtlich gewordener Ausruf, der nach einer bekanntenAnekdote auf den Dichter Desbarreaux zurückgeführtwird.

Tante (franz., mit vorgeschobenem t v. altfranz. ante,engl. aunt, lat. amita), Muhme, Base, Vaters-, Mutterschwester,Frau des Oheims etc.

Tantième (franz., spr. tangtíähm, "dersovielte Teil"), der Anteil, welchen jemand von dem Gewinn einesUnternehmens bezieht. Das Tantiemesystem bildet den Gegensatz zudem Honorarsystem, indem bei dem letztern eine bestimmte und demBetrag nach feststehende Vergütung gewährt wird,während die T. sich nach dem finanziellen Erfolg desUnternehmens richtet und sich nach Prozentsätzen desGeschäftsgewinns bestimmt. T. beziehen gewisse Beamte,Handlungsgehilfen, Provisionsreisende, Arbeiter (s. Arbeitslohn, S.759), Verwaltungsräte bei Aktiengesellschaften etc. Die T.kommt aber auch neben festem Gehait vor, wie dies z. B. bei denDirektoren von Aktiengesellschaften üblich ist. FürGenossenschaften ist nach dem deutschen Genossenschaftsgesetz von1889 das Tantiemesystem ausgeschlossen, soweit es sich um dieBezahlung der Aufsichtsräte handelt. Dagegen ist dasTantiemesystem bei der Aufführung von dramatischen undmusikalischen Werken das herrschende. Der Komponist wie der Dichterkönnen hiernach als Autorenanteil einen Bruchteil von derEinnahme beanspruchen, welche sich beider Aufführung ihresWerkes (Tantiemevorstellung) ergibt. In Frankreich schon 1791gesetzlich eingeführt, wurde die Theatertantieme erst seit1847 von der Generalintendantur der königlichen Schauspiele inBerlin und ebenso von der Direktion des Burgtheaters in Wienverwilligt. Jetzt ist die Tantiemezahlung in derregelmäßigen Höhe von 10 Proz. allgemeinüblich, und die Ausübung einer diesbezüglichenKontrolle ist eine Hauptaufgabe der 1871 gegründeten

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Tantos - Tanzmusik,

Deutschen Genossenschaft dramatischer Autoren und Komponisten,welche in Leipzig ihren Sitz hat. Im einzelnen Fall ist derzwischen dem Autor und dem Unternehmer der Aufführungabgeschlossene Vertrag, im Zweifel die "Theaterpraxis"maßgebend. Das Bundes- (Reichs-) Gesetz vom 11. Juni 1870,betreffend das Urheberrecht an Schriftwerken, Abbildungen,musikalischen Kompositionen und dramatischen Werken, sichert demDichter wie dem Komponisten und ihren Rechtsnachfolgern ihrenAnspruch auf die Vergütung für die Überlassung desAufführungsrechts (s. Urheberrecht).

Tantos, s. Rechenpfennige.

Tantra, Name eines spätern brahmanischen Systems,das ungefähr 500 n. Chr. in Indien entstand und überNepal nach Tibet wanderte, wo es einen starken Einfluß aufden Buddhismus ausübte. Die Anhänger der Tantralehre(Tantrikas) verehren als Hauptgottheiten Siwa und seine GattinPârwatî, die hier zu strafenden und rächendenGottheiten wurden, welche die Verteidigung der Religion des Buddhaübernommen haben. Ihre Schriften, meist Dialoge zwischenbeiden Gottheiten und von der Schöpfung und Zerstörungder Welt, der Götterverehrung, der Erlangungübermenschlicher Kräfte etc. handelnd, sind in Europanoch wenig bekannt.

Tanunda, Ort in Südaustralien, hat 3 deutscheKirchen und zählt mit dem nahen Langmeil, Bethanien u. a. 900Einw. (meist Deutsche).

Tanz, gewisse von Musik begleitete und in einembestimmten Zeitmaß ausgeführte körperlicheBewegungen, die durch technische Fertigkeit und Geschmack in dasGebiet der Kunst erhoben werden können (Tanzkunst), sowie dasbegleitende Musikstück selbst (s. Tanzmusik). Die Tanzkunstgehört unter die mimischen Künste; wie aber bei derPantomime die Bewegungen der Füße den Bewegungen undGebärden des übrigen Körpers untergeordnet sind, sofinden im T. umgekehrt die Bewegungen der Füßegewissermaßen eine Begleitung (Akkompagnement) in denBewegungen des übrigen Körpers. Man teilt den T. in dengesellschaftlichen und den theatralischen. Der gesellschaftliche T.hat das gemeinschaftliche Vergnügen, die Unterhaltung zumZweck und schließt auch die sogen. Nationaltänze, dieals Ausdruck nationaler Eigentümlichkeiten ein besonderesInteresse haben, in sich. Zu letztern gehören bei denDeutschen namentlich der Walzer (künstlich zur Allemandeausgebildet), bei den Franzosen die Menuett und Française,in England die Anglaise, in Schottland die Ekossäse, bei denSpaniern die Sarabande und der Fandango, bei den Italienern dieTarantella und der Saltarello, in Polen die Polonäse, Mazurka,der Krakowiak etc. Beim theatralischen T., der vonkünstlerisch gebildeten Tänzern aufgeführt wird,unterscheidet man gewöhnlich die grotesken Tänze, diemehr Ausdruck der Kraft als der Grazie, ungewöhnlicheSprünge und Gebärden erfordern; die komischen Tänze,die, ebenfalls lebhaft, sich mitunter bis zum Mutwillen steigern,und die halben Charaktere, die eine Intrige, eine Liebesaffairedarstellen und besonders Zierlichkeit und Geschmack verlangen;hierzu kommt noch das Ballett (s. d.). - Schon in den frühstenZeiten des Altertums nahm der T. eine wichtige Stelle ein und zwarvorzugsweise zur Verherrlichung öffentlicher Feste und alsTeil des Kultus; namentlich konnte in Asien der sinnlicheGötterdienst des Tanzes nicht entbehren. Am meisten wurde aberdie Kunst des Tanzes (Orchestik) bei den Griechen ausgebildet, beidenen sie auch das ganze Gebärdenspiel mit in sichschloß und in der innigsten Vereinigung mit Gesang, Poesieund Schauspielkunst stand (vgl. Flach, Der T. bei den Griechen,Berl. 1880). Die Römer überkamen Tänze von denGriechen, eigentliche Nationaltänze hatten sie kaum. DieHistrionen (Ludier) tankten auf den Theatern nach demFlötenspiel, ohne dabei zu singen, und suchten durchGebärden Ernsthaftes auf lächerliche Weise nachzuahmen.Von der altrömischen Bühne ging der T. auf dieitalienischen Volkstheater über; die neuere Tanzkunst ist vonden Italienern und Franzosen ausgegangen. DieGesellschaftstänze haben mehrfache Wandlungen durchgemacht.Anfangs wurde bei diesen sogen. niedrigen Tänzen (dansesbasses) weder gesprungen, noch gehüpft, sondern man bewegtesich nur in feierlichem Schritt (pas). Diese Tanzweise fand inFrankreich unter Ludwig XII., Franz I. und Heinrich II. Eingang.Unter Katharina von Medici erhielten die Damen üppigereKleidung, kurze Röcke etc., und die Tänze selbst wurdenlebhafter; auch verband man Maskeraden mit Bällen und tanztedie Nationaltänze der Provinzen. Unter Ludwig XIV. legteBeauchamp den Grund zu dem künstlichen theatralischen T. derFranzosen, den später besonders Noverre ausbildete. In derneuern Zeit machten sich besonders die Familien Vestris undTaglioni im Kunsttanzen berühmt; außerdem sind alshervorragende Tänzerinnen zu nennen Therese und FannyElßler, Fanny Cerrito, Marie Taglioni, Grisi, Lucile Grahnund Adele Granzow; als Tänzer A. Saint-Leon, K. Müller,Paul Taglioni u. a. Geraume Zeit leistete das Ballett derGroßen Oper zu Paris das Höchste in dieser Kunst, bisihm in der neuern Zeit das Ballett des Berliner Opernhausesebenbürtig zur Seite trat. Vgl. Czerwinski, Tanz und Tanzkunst(2. Ausg., Leipz. 1882); Derselbe, Die Tänze des 16.Jahrhunderts (Danz. 1878); Voß, Der T. und seine Geschichte(Berl. 1868); Angerstein, Die Volkstänze im deutschenMittelalter (2. Aufl., das. 1874); Klemm, Katechismus der Tanzkunst(5. Aufl., Leipz. 1887); Böhme, Geschichte des Tanzes inDeutschland (das. 1886, 2 Bde., mit Musikbeilagen); Zorn, Grammatikder Tanzkunst (das. 1887).

Tanzimat (Tansimat, arab.), s. v. w. Anordnungen;besonders die auf den Hattischerif (s. d.) von Gülhane sichgründenden organischen Gesetze, welche als Norm für dieRegierung des türkischen Reichs vom Sultan Abd ul Medschid1844 veröffentlicht wurden. Sie betreffen namentlich auch dieStellung der christlichen Unterthanen der Pforte, wurden aber nieernstlich durchgeführt. Infolge der Reformverpflichtungen,welche die Pforte nach Ausbruch des Krimkriegs ihreneuropäischen Bundesgenossen gegenüber eingehenmußte, erließ der Sultan 7. Sept. 1854 eine neueVerordnung, in welcher nicht allein die vollständigeDurchführung der T. befohlen, sondern zu diesem Behuf aucheine besondere Kommission niedergesetzt ward. Allgemeiner verstehtdas türkische Volk unter T. überhaupt Neuerungen.

Tanzkunst (Choreutik), s. Tanz.

Tanzmusik, die bei Gesellschaftstänzen üblichenMusikstucke, als deren zur Zeit beliebteste zu nennen sind: Walzer,Mazurka, Schottisch (Polka), Tirolienne (Ländler), Galopp,Polonäse, Française, Kontertanz (Anglaise) undQuadrille. Aus verschiedenen Tänzen zusammengesetzt ist derKotillon. Haupteigenschaften guter T. sind: gut gruppierteRhythmen, fließende, ungesuchte, gefällige und dabeipikante Melodien mit ansprechender Harmonie und interessanterInstrumentation. In der Komposition der

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Tanzwut - Tapeten.

höhern theatralischen T. oder des Balletts haben besondersBenda, Weigl, Winter, Righini, Adam, Beethoven ("Prometheus"),Spontini, Weber, Meyerbeer, Halévy, in neuester ZeitRubinstein (Ballettmusik in der Oper "Feramors") Ausgezeichnetesgeleistet, während die Musik für gesellschaftlicheTänze in unsrer Zeit vor allen durch Strauß und Lanner,denen sich Gungl, Labitzky und Lumbye beigesellten, ausgezeichnetePflege fand. In Frankreich stehen an der Stelle der erstgenanntenWalzerkönige die Quadrillenkomponisten Tolbecque, Musard,Offenbach, Lecocq, als Komponist von Ballettopern L. Delibes. - Dieältern Tänze waren ursprünglich Tanzlieder, so diedeutschen Ringelreihen und Springtänze, die spanischenSarabanden, die französischen Branles, Gavotten, Couranten,Giguen, Rigaudons, Musetten, Bourrées, Passepieds, Louresetc., die italienischen Paduanen, Gagliarden, Ciaconen, Passamezzi,die englischen Ballads, Hornpipes, dänischen Reels etc. DieInstrumentenspieler verbreiteten die Melodien, und sie mögenoft genug schon vor dem 16. Jahrh. nur von Instrumenten ohne Gesanggespielt worden sein. Eine kunstgemäße mehrstimmigeBearbeitung für Instrumente erfuhren sie, wie es scheint,zuerst im Anfang des 16. Jahrh., aus welcher Zeit uns vielegedruckte Sammlungen erhalten sind. Eine Sammlung deutscherTanzlieder und Tanzmelodien enthält Böhmes "Geschichtedes Tanzes in Deutschland" (Bd. 2, Leipz. 1886). In eine neue Phaseder Entwickelung traten die Tanzstücke, als man anfing, ihrermehrere zu cyklischen Formen zu vereinigen, wobei zunächst dieEinheit der Tonart das Bindemittel bildete. In der darausentspringenden Form der Partie (Partita) oder Suite (s. d.), diebesonders für Klavier allein und für Violine allein odermit Klavier um die Wende des 17.-18. Jahrh. mit Vorliebe gepflegtwurde, erfuhren die Tanzstücke erhebliche Weiterungen, sodaß sie statt kurzer achttaktiger Reprisen ausgeführteThemen, Gegenthemen und Durchführungen erhielten. In unsermJahrhundert finden teilweise noch die ältern TanzstückePflege (besonders das Menuett), sei es in der Form der Sonate oderSuite oder in noch freiern Zusammenstellungen von Stückenverschiedener Art oder einzeln (Gavotte), teils sind auch dieneuesten Tänze einer kunstvollen Ausgestaltung unterworfenworden, so von Haydn (Menuette), Beethoven ("Deutsche Tänze"und "Kontertänze"), Weber ("Aufforderung zum Tanz", Esdur-Polonäse, Ekossäsen etc.), Schubert (Walzer,Ländler, Ekossäsen), Chopin (Polonäsen, Mazurken,Walzer), Schumann ("Ballszenen", "Faschingsschwänke","Karneval"), Brahms ("Walzer", "Ungarische Tänze" etc.), Kiel("Deutsche Reigen", Walzer für Streichquartett), Liszt ("Valsede bravour", "Chromatischer Galopp"), Raff (Humoresken, Tarantellaetc.) u. a.

Tanzwut (Tanzsucht), epidemische Volkskrankheit desMittelalters, welche besonders in den Jahren 1021, 1278, 1375 und1418 herrschte. Von religiösem Wahnsinn ergriffen, tanztenTausende, bis ihnen Schaum aus dem Mund quoll, Zuckungen sicheinstellten und der Unterleib unförmlich aufschwoll. Dabeigaben sie vor, während des Tanzes himmlische Visionen zuhaben, und zogen häufig, wie die Flagellanten (s. d.), mitbekränztem Haupt von Ort zu Ort. Da man die Tänzerfür vom Teufel Besessene hielt, nahm der Klerus allerleiBeschwörungen vor, obwohl fruchtlos, und die Angehörigenwandten sich mit Gebet um Hilfe an St. Johannes und St. Veit (daherVeitstanz). Im 14. Jahrh. trieben am Niederrhein dieJohannistänzer ihr Wesen, welche ihren Tanz zu Ehren des St.Johannes aufführten. Auch der Tanz der Derwische und derSchüttlersekten in Nordamerika kann zu diesenExaltationszuständen gerechnet werden. Manche mittanzähnlichen Bewegungen verbundene körperlicheKrankheitszustände, wie die Reitbahn- oder Manegetouren,gehören in das Gebiet der sogen. Zwangsbewegungen. S. auchTarantel und Veitstanz. Vgl. Hecker, Die T., eine Krankheit imMittelalter (Berl. 1832); Derselbe, Die großenVolkskrankheiten des Mittelalters (das. 1865).

Tao, s. Laotse.

Taormina, Stadt in der ital. Provinz Messina (Sizilien),Kreis Castroreale, 396 m ü. M., an der Ostküste der Inselund an der Eisenbahn Messina-Catania reizend gelegen (herrlicheAusblicke auf den Ätna und das Meer), hat ein wohlerhaltenes,in griechischer Zeit gegründetes, unter den Römernumgebautes Theater, ein großes Wasserreservoir fürBäder (sogen. Naumachia), römische Grabmäler undandre antike Baureste, ein maurisches Kastell, eine alte Mauer mitTürmen, interessante gotische Gebäude, einen Dom mitZinnenturm und (1881) 2388 Einw. - T. ist an Stelle des nahesüdlich am Kap Schiso 736 v. Chr. von Chalkidierngegründeten, 403 von Dionysios von Syrakus zerstörtenNaxos 358 als Tauromenion gegründet worden. Im Sklavenkriegwie in den Kämpfen zwischen Oktavian und Sextus Pompejusheruntergekommen, geriet es, wenn auch durch eine römischeKolonie ausgefrischt, in Verfall und behauptete nur noch inarabischer und normännischer Zeit eine strategischeBedeutung.

Taos, Ort im N. des nordamerikan. Territoriums Neumexiko,80 km nordnordöstlich von Santa Fé, früher vonBedeutung, jetzt nur ein ärmliches Dorf.

Taosse, s. Laotse.

Taouata (Tauata, Santa Christina), eine derMarkesssinseln, 70 qkm groß mit (1885) 551 Einw. In demFreihafen Port Anna Maria konzentriert sich der Verkehr der Inseln;hier ist auch der Sitz der französischen Behörden.

Tapachula (spr. -tschula), Stadt, s. Soconusco.

Tapajoz (spr. -schos, Tapayoso), Fluß in Brasilien,entspringt als Arinos in der Provinz Mato Grosso, wird baldschiffbar, fließt nordöstlich in die Provinz Para undfällt dort nach einem Laufe von etwa 1680 km bei Santaremrechts in den Amazonenstrom. Er bildet mehrere Wasserfälle.Dampfschiffe befahren ihn von 330 km aufwärts bis zu demuntersten derselben, der Caxoeira de Apué.

Tapanhoancanga, brasilisches, Gold, Diamant und andreEdelsteine führendes Trümmergestein, besteht aus eckigen,großen Fragmenten von Eisenoxyden (Magneteisen, Roteisen,Brauneisen), durch eisenschüssiges Bindemittel verkittet.

Tapet (lat. tapetum), Teppich oder Decke zur Bekleidungvon Tischen, Wänden, Fußböden etc.; daher "etwasaufs T. bringen", s. v. w. auftischen, zur Sprache bringen. Aus demzum Singular gewordenen Plural tapeta entstand unser Tapete.

Tapeten, Gewebe, Leder oder farbiges und gemustertesPapier zur Bekleidung der Wände. T. und Teppiche (v. lat.tapetum. griech. tapes, Decke) haben ihren gemeinsamen Ursprung imZelte der wandernden Völkerschaften und gelangten aus diesemin die Wohnungen der seßhaften Völker. Tyros, Sidon undPergamon waren im Altertum berühmt wegen ihrer Teppiche. Ausdem Orient, wo sich die Bildweberei und Stickerei schon frühzu hoher Vollkommenheit entwickelt hatte, brachten Araber dieseKunst nach Europa. Während man in Frankreich und Ita-

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Tapeten (Fabrikation).

lien die orientalischen Gewebe in Seide nachahmte, verarbeiteteman in dem nördlichern Belgien nur Wolle und lieferte im14.-17. Jahrh. namentlich in Antwerpen, Brüssel, Brügge,Courtrai gewirkte T. mit figürlichen Darstellungen nachEntwürfen hervorragender Künstler. Im 17. Jahrh. galtensolche Wandteppiche, zu welchen selbst Rubens Vorlagen lieferte,und auf denen später mit Vorliebe Genrebilder von Teniers,Jagden u. dgl. m. nachgebildet wurden, als kostbares Besitztum.Sehr geschätzt waren die T. von Arras, unter denen diejenigen,welche Leo X. nach Kartons von Raffael anfertigen ließ,besonders berühmt geworden sind (vgl. Arrazzi). Neben dengewirkten T. fertigte man auch solche aus Seide oder Leinen, diemit Malereien oder Stickereien geschmückt wurden. Ein solcherWandteppich befindet sich zu Bayeux in Frankreich (DepartementCalvados), ein 70 m langer, 0,50 m hoher Leinwandstreifen, auswelchem in Stickerei mit Leinwandfäden die Eroberung Englandsdurch die Normannen dargestellt ist. Aus den Niederlanden gelangtedie Teppich- und Tapetenweberei auch nach Frankreich (um 1550Schule von Fontainebleau) und Deutschland, und unter Ludwig XIV.legte Colbert eine Teppichweberei in der Fabrik der GebrüderGobelin an, aus welcher die nach diesen Fabrikanten benanntenGobelins (s.d.) hervorgingen. Die Herstellung derselben (je nachdemdie Kette senkrecht oder wagerecht aufgezogen wird, Hautelisse-oder Basselisseweberei genannt) ist ungemein mühsam undgleichsam ein Sticken oder Malen mit dem Faden. Auf die Kette desleinwandartigen Gewebes wird das auf durchsichtiges Papiergezeichnete Muster gelegt und mit Punkten auf die Ketteübertragen, worauf jede Farbe, welche auf der Zeichnungisoliert steht, in Schußfäden mittels kleiner Spulen ausfreier Hand eingezogen wird. Die Savonnerietapeten (nach dem Ortihrer Anfertigung, einer frühern Seifenfabrik in Chaillot,benannt) ahmen persische und türkische T. nach und erforderngleichfalls viel Handarbeit, indem die Noppen einzeln an dieKettenfäden angeknüpft werden. Schon im 11. Jahrh. wurdenin Spanien Ledertapeten (Cordovatapeten) hergestellt, indem man dasLeder versilberte, polierte und mit goldfarbenem Lack überzog,worauf die Muster mit hölzernen Modeln eingepreßt undder Grund von oben mit Bunzen gemustert wurde. Auch tratspäter Malerei hinzu. Im 16. Jahrh. wurden Ledertapeten inVenedig und Sizilien, im 17. Jahrh. in den Niederlanden undFrankreich, auch in Deutschland und England verfertigt, bis sie im18. Jahrh. durch Seiden- und Papiertapeten verdrängt wurden.In neuerer Zeit sind sie wieder in Aufnahme gekommen, doch wird dasLeder meist durch eine Nachahmung aus Papiermasse ersetzt. Einbilligerer Ersatz der Ledertapeten waren die Wachstuchtapeten,welche auch mit Wollpulver (Flocktapeten) gemustert wurden. Nebenihnen sind noch zu erwähnen: die Kattuntapeten derHolländer, atlas- und damastartig gewirkte seidene T., wieBrocatelles, Bergamées etc., die mit der Nadel auf Kanevasausgeführten Chinatapeten, die Federtapeten (s. d.) etc.

Heutigestags versteht man unter T. die zur Wandbekleidungangewendeten Papiertapeten, welche in Stücken (Rollen) vonetwa 0,5 m Breite und 10 bis 11 m Länge oder als Borten vongeringerer Breite oder auch in abgepaßten Größen(Plafond- und Füllungstapeten) einfarbig und gemusterthergestellt werden. Zur Erzeugung derselben dient im Stoffgefärbtes oder einseitig mit Farbe überzogenes(grundiertes) Papier. Man trägt die mit Leimlösunggemischte Farbe mit Bürsten oder auf der Grundier- (Foncier-)Maschine auf. Hierbei läuft das Papier von einer Rolle abüber eine große Trommel, nachdem es von einer Filzwalzedie Farbe erhalten hat, welche durch hin- und hergehendeBürsten verstrichen wird. Darauf folgt ein Trocknen in einerHängemaschine, welche sich unmittelbar an die Grundiermaschineanschließt. Sollen die T. Glanz erhalten (Glanztapeten), sowerden sie nach dem Grundieren satiniert, indem man sie mit Talkumabbürstet. Glätte erhalten sie mittels Kalander (s. d.).So vorbereitet gelangen die Rollen zum Bedrucken, wobei entweder,wie beim Kattundruck, Druckformen oder neuerdings vielfachTapetendruckmaschinen, welche in der Stunde 800-900 m Papierbedrucken, zur Verwendung kommen. Das Wesen derselben besteht inDruckwalzen aus Holz, Letternmetall oder Kupfer, in derenPeripherie die Muster entweder erhaben oder vertieft vorhandensind. Eine solche Maschine besteht aus einem Apparat zurununterbrochenen Zuführung des Papiers, aus so vielDruckwalzen, als Farben verwendet werden sollen, aus ebensovielVorrichtungen zum Auftragen der Farben, aus einemwiderstandsfähigen Organ zum Auflegen des Papiers währenddes Druckens, endlich aus einer Vorrichtung zum Aufhängen undTrocknen der bedruckten Papiere. Auch die auf Maschinen gedrucktenT. müssen nachher geglättet werden.

Besondere Arten von T. sind: Veloutierte T. (Wolltapeten,Samttapeten), auf welchen der Grund oder ein Teil des Musters mitfestklebenden, gefärbten kurzen Wollhärchen (Scherwolle)oder auch fein zerriebenen Holzspänchen (Holzwolle) derartbedeckt ist, daß diese Stellen eine dichte undgleichmäßig wollige Oberfläche zeigen. DasVeloutieren wird nach dem Drucken dadurch vorgenommen, daßman die Stellen der T., welche Wolle annehmen sollen, mittelshölzerner Formen mit einem sehr zähen Leinölfirnisbedruckt oder bestreicht, dann in einem langen Kasten mit einemBoden aus Kalbleder oder Pergament ausbreitet, Scherwolle ausstreutund den Deckel des Kastens schließt. Durch Trommeln auf demBoden desselben mit Holzstäben werden die Wollstäubchenin die Höhe geworfen und verteilen sich herabfallend auf denT., wo sie an den noch nassen gefirnißten Stellen klebenbleiben und mit antrocknen. Vergoldete und versilberte T. stelltman durch Andrucken von Blattgold oder Blattsilber an mitLeinöl bedruckte Stellen oder durch direktes Bedrucken mitpulverförmigem Gold, Silber oder Bronze her. Gepreßte(gaufrierte) T. heißen solche, welchen mittels einesbesondern Walzwerks (Gaufriermaschine) ein Reliefmuster aufgedrucktist. Gefirnißte T. Mit dem Firnissen bezweckt man, den T. einhohen Glanz zu geben, sie gegen Feuchtigkeit zu schützen, sodaß sie abgewaschen werden können, undwiderstandsfähiger zumachen. Man bedient sich dazu in derRegel des Kopalfirnisses, der mit großen Bürsten wiebeim Grundieren aufgetragen wird. Namentlich sind es die dieHolzmaserung nachahmenden Holztapeten, welche gefirnißtwerden, um ihnen das Ansehen polierter Holzflächen zu geben.Iristapeten sind solche, bei denen zwei oder mehrere nebeneinanderaufgetragene Farben durch sanft verwaschene Mitteltöneineinander übergehen, woraus ein buntes, dem Farbenreichtumdes Regenbogens zuvergleichendes Ansehen hervorgeht. Die Irisierungkann entweder beim Grundieren oder beim Drucken vorgenommen werden.Vgl. Exner, Die T.-

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Tapetenzellen - Tapir.

und Buntpapierindustrie (Weim. 1869); Hoyer, Fabrikation desPapiers, der Buntpapiere und T. (Braunschweig 1887); Seemann, DieTapete (Wien 1882); Planchon, Étude sur l'art de fabriquerles tapisseries des gobelins (Par. 1867); Guiffrey, Müntz undPinchart, Histoire générale de la tapisserie (das.1878-85, l00 Tafeln); de Campeaux, Tapestry (Lond. l878); Guiffrey,La tapisserie depuis le moyen-âge, etc. (Tours 1885);Müntz, La tapisserie (Par. 1888); Farabulini, L'arte degliarazzi e la nuova galleria dei Gobelins al Vaticano (Rom 1885);Havard u. Vachon, Les manufactures nationales (Par. 1889). S. auchTapezieren.

Tapetenzellen, s. Embryosack, S. 598.

Tapetum nigrum (lat.), schwärzliche Pigmentlage,welche die Regenbogenhaut, Strahlenkörper und Aderhaut voninnen bedeckt.

Tapezierbiene (Blattschneider, Megachile Latr.),Insektengattung aus der Ordnung der Hautflügler und derFamilie der Bienen (Apiariae), Insekten mit sehr breitem Kopf,stumpfer Unterlippe, welche um die Hälfte länger ist alsdie Lippentaster, sehr langer, säbelförmiger Kieferlade,kurzen, zweigliederigen Tastern und beim Weibchen auf demRücken bedeutend abgeflachtem Hinterleib, welcher nach obensticht, während beim Männchen die beiden letztenHinterleibsringe nach unten eingekrümmt sind; zahlreiche,über alle Erdteile verbreitete Arten, welche ihre Nester inBaumlöcher, Mauerspalten, Erdhöhlen etc. bauen und ausBlattstücken gewisser Pflanzen fingerhutförmige,aneinander gereihte Zellen fertigen. Die gemeine T. (M.centuncularis L.), am Mittelleib braungelb und schwärzlich, amHinterleib fast kahl, nur vorn mit graulichen Zottenhaaren, mitweißen, oft unterbrochenen Bändern und am Bauch mitrotbraunen Sammelhaaren, fliegt in Europa und Nordamerika und bautihr Nest in Baumlöcher, z. B. in den Gang einerWeidenbohrerraupe, welchen sie zurechtnagt und mit sorgfältigausgeschnittenen Blattstückchen, besonders vonRosenstöcken, tapeziert. Sie füllt die Zellen mit Honig ,legt in jede ein Ei und verschließt sie mit einemBlattstück. Eine Zelle steht auf der andern. Die entwickelteLarve spinnt ein Gehäuse, überwintert, und imnächsten Frühjahr schlüpft die Biene aus.

Tapezierblei, s. Bleiblech.

Tapezieren, die Wände mit Tapeten überziehen,im weitern Sinn die Kunst des Dekorateurs, welcher in den WohnungenVorhänge, Gardinen, Portieren etc. anordnet; auch diePolsterung von Sitzmöbeln gehört in das Gebiet desTapeziererhandwerks. Das T. ist zuerst von den Franzosenkünstlerisch ausgebildet worden. Nachdem sie bis um die Mitteder 60er Jahre den europäischen Geschmack fast alleinbeherrscht hatten, machten sich zuerst die Österreicher, seitMitte der 70er Jahre auch die Deutschen unabhängig. Vgl.Reuter, Schule des Tapezierers (2. Aufl., Weim. 1884); "DieTapezierkunst" (Berl. 1887); Streitenfeld, Die Praxis desTapezierers (48 Tafeln, das. 1888 ff.); Deville, Dictionnaire dutapissier (Par. 1879-1880, 2 Bde.) und Litteratur bei Tapeten.

Tapferkeit kommt mit dem Mut (s. d.) darin überein,daß sie wie dieser die Gefahr nicht scheut, aber nicht wiedieser eine aus körperlicher Organisation entsprungene,sondern auf Bewußtsein und Willen beruhende Eigenschaft istund daher weder, wie die Tollkühnheit (s. d.), aus Unkenntnis,noch, wie die Verwegenheit, aus Geringschätzung der Gefahr,sondern im Bewußtsein der Pflicht derselben nicht achtet.

Tapferkeitsmedaillen, militärische Ehrenzeichen,welche vornehmlich für Unteroffiziere und Soldaten bestimmtsind, die sich durch eine besonders tapfere That im Kriegausgezeichnet haben, während Offiziere Ehrenkreuze und Ordenerhalten. Beinahe sämtliche Staaten haben solche Medaillen,die, in Gold oder Silber oder Kupfer verliehen, auf der Brust oderim Knopfloch am Band eines Militärordens getragen werden undmeist mit einer Pension, resp. Zulage zur Löhnung verbundensind.

Tapia, Don Eugenio de, span. Dichter und Schriftsteller,geb. 1785 zu Avila in Altkastilien, studierte zu Toledo undValladolid, ließ sich in Madrid als Advokat nieder undredigierte während des Unabhängigkeitskampfes mehrerepatriotische Blätter. Unter der konstitutionellen Regierung(1820) ward er Direktor der Staatsdruckerei und Deputierter derCortes, deshalb aber nach der Restauration 1823 proskribiert. 1830zurückgekehrt, wurde er zum Mitglied derGesetzgebungskommission sowie zum Generalstudiendirektor undMitglied der Akademie ernannt. Er starb 1860. T.veröffentlichte: "Poesia líricas, satíricas ydramáticas" (Madr. 1821, 2 Bde., und im 67. Bande der"Biblioteca de autores españoles", 1877); die satirischenSchriften: "Viage de un curioso por Madrid" und "Ensayossatíricos en prosa y verso" (unter dem Namen Machuca); dasumfangreiche juristische Werk "Elementos de jurisprudenciamercantil" (1828, 15 Bde.; neue Ausg. 1845, 10 Bde.) und eine durchReichtum des Inhalts und echt historischen Stil ausgezeichnete"Historia de la civilisacion española" (l840, 4 Bde.), seinHauptwerk.

Tapiau, Stadt im preuß. RegierungsbezirkKönigsberg, Kreis Wehlau, am Ausfluß der Deime aus demPregel und an der Linie Seepothen-Eydtkuhnen der PreußischenStaatsbahn, hat eine evang. Kirche, ein Amtsgericht, eineOberförsterei, ein Warendepot der Reichsbank, eineZuckerfabrik, Biskuitfabrikation, eine Dampfsäge- und eineDampfmahlmühle, Dampfbäckerei und (1885) 3059 meistevang. Einwohner. Dabei ein altes Schloß des Deutschen Ordens(jetzt die ostpreußische Landarmen- undBesserungsanstalt).

Tapioka, s. Kassawa.

Tapir (Tapirus L.), Säugetiergattung aus der Ordnungder Huftiere, repräsentiert allein die Familie der Tapire(Tapirina), verhältnismäßig kleine, plump gebauteTiere mit verlängertem, schmächtigem Kopf, schlankemHals, kurzen, aufrecht stehenden Ohren, kleinen Augen,rüsselförmig verlängerter Oberlippe, dreiSchneidezähnen, einem Eckzahn und oben sieben, unten sechsBackenzähnen in jedem Kiefer, mittelhohen, kräftigenBeinen, vorn vier-, hinten dreizehigen Füßen undstummelhaftem Schwanz. Der indische T. (Schabrackentapir, Tapirusindicus Desm.), 2,4 m lang, 1 m hoch, mit 8 cm langem Schwanz undsehr gleichmäßigem Haarkleid, ist am Kopf, Hals undVorderteil des Leibes bis hinter die Schulterblätter und anden Beinen schwarz, sonst grauweiß, lebt in Hinterindien,Südchina und auf Sumatra und wurde in Europa erst 1772bekannt. Über sein Freileben ist nichts bekannt. Deramerikanische T. (T. americanus L.), bis 2 m lang, 1,7 m hoch,schwärzlich graubraun, mit kurzer, steifer Nackenmähne,lebt im südlichen und östlichen Südamerika,während ihn im Norden und Westen sowie in Mittelamerika andreArten ersetzen. Er bewohnt dichte Wälder, durch welche erregelmäßige Pfade bricht, meist einsam oder in kleinenFamilien, erinnert in seinem Wesen vielfach

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Tapisseriearbeit - Tarabulus.

an die Schweine, wälzt sich in jeder Pfütze, schwimmtund taucht vortrefflich und läuft längere Zeit auf demGrunde der Gewässer hin. Er ist sehr friedlich und furchtsam,und nur in seltenen Fällen stürzt er blind wütendauf den Feind. Er hält sich am Tag meist verborgen und ruht,geht in der Dämmerung und in der Nacht seiner Nahrung nach,die aus allerlei Pflanzenstoffen, besonders Blättern, besteht,und richtet in Plantagen oft große Verwüstungen an. DasWeibchen wirft ein gestreiftes Junge. Fleisch und Fell werdenbenutzt, Klauen und Haaren schreibt man Heilkräfte zu. In derGefangenschaft hält er gut aus, hat sich aber noch nichtfortgepflanzt.

Tapisseriearbeit, die Kunst, aus farbigen wollenen oderseidenen Fäden, Perlen etc. vermittelst der Nadel auf Kanevasnach Mustern Teppiche, Schuhbesätze, Schmuck fürOfenschirme, Bürsten, Kasten, Hosenträger u. dgl. m.anzufertigen. Besondere Geschäfte sorgen für den Bedarfvon Vorlagen und Material. Die T. wird vornehmlich von Dilettantenbetrieben. Während bisher naturalistische Blumenmuster,Figuren und ganze Bilder nachgeahmt wurden, hat J. Lessing in den"Altorientalischen Teppichmustern" (Berl. 1877) stilistischmustergültige Vorbilder für die Straminstickerei aufKanevas geboten. Vgl. Handarbeiten, weibliche.

Tapolcza (spr. tápolza), 1) Markt im ungar.Komitat Zala, mit Nonnenkloster, (1881) 2913 Einw., Weinbau,Schwefelquelle, Badeanstalt und Bezirksgericht. - 2) Badeort imungar. Komitat Borsod, 3 km von Miskolcz, mit einer ergiebigenindifferenten Therme von 25° C., die mehrere Teiche bildet.

Tapotement (franz., spr. -pott'mang), das Klopfen bei derMassage.

Tapp, süddeutsches Kartenspiel mit 36 Blättern(As bis Sechs), welche wie im Sechsundsechzig rangieren. DreiPersonen sind nötig; jeder erhält 11 Karten, 3 Kartenbleiben als Talon. Coeur ist stets höchste Farbe; die andernFarben rangieren gleich. Man spielt Coeurfrage (mit Einnehmen desTalons und Ekartieren), Solo in schlechter Farbe und Coeursolo. BeiSolo zählt der Talon für den Spieler, darf aber nichtangesehen werden. Zum Gewinnen muß der Spieler 61 Pointshaben. Die Pointzahl, welche er darüber hat, wird ihm beiFrage zum vierten Teil, bei schlechtem Solo zur Hälfte und beiCoeursolo voll ausbezahlt. Ein angesagter Tout kostet doppelt.

Tappert, mantelartiges, bis auf die Füßereichendes Überkleid mit und ohne Kapuze, welches vom Anfangdes 14. bis zum Anfang des 16. Jahrh. in Frankreich, England,Deutschland und den Niederlanden getragen wurde.

Tappert, Wilhelm, Komponist und Musikschriftsteller, geb.19. Febr. 1830 zu Ober-Thomaswaldau bei Bunzlau in Schlesien,erhielt seine Ausbildung von 1848 bis 1850 am Schullehrerseminar zuBunzlau sowie von 1856 bis 1858, nachdem er mehrere Jahre alsSchullehrer gewirkt, in Berlin durch Kullak und Dehn. Späterwar er wieder mehrere Jahre in Groß-Glogau als Lehrerthätig, bis er 1866 in Berlin seinen bleibenden Wohnsitz nahm.Hier hat er als Kritiker, namentlich als Verteidiger derneudeutschen Schule, Hervorragendes geleistet, redigierte auch von1878 bis 1881 die "Allgemeine Deutsche Musikzeitung". Außerzahlreichen Beiträgen für diese sowie für andreBlätter veröffentlichte er: "Musik und musikalischeErziehung" (Berl. 1867), "Musikalische Studien" (das. 1868), "DasVerbot der Quintenparallelen" (Leipz. 1869), "Wagner-Lexikon.Wörterbuch der Unhöflichkeit, enthaltend grobe,höhnende, gehässige und verleumderische Ausdrücke,welche gegen den Meister Richard Wagner etc. gebraucht worden sind"sowie einen Band "Gedichte" (Berl. 1878) und gab auch Bearbeitungenaltdeutscher Gedichte mit Klavierbegleitung heraus.

Taprobane, alter Name der Insel Ceylon.

Tapti, Fluß in Britisch-Indien, entspringt in denZentralprovinzen und mündet nach einem Laufe von 720 kmunterhalb Surate in den Golf von Cambay.

Tapu, s. Tabu.

Tapu (türk.), Besitztitel für Immobilien unddie mit denselben verbundene Steuer.

Taquary (Tacoary), Fluß in der brasil. Provinz MatoGrosso, entspringt an der Grenze der Provinz Goyaz, hat vieleKrümmungen, bildet mehrere Wasserfälle und mündetlinks in den Paraguay.

Taquary, deutsche Kolonie in der brasil. Provinz RioGrande do Sul, am schiffbaren Fluß gleiches Namens, 80 km vonPorto Alegre, hat Ausfuhr von Holz und landwirtschaftlichenProdukten.

Tara (ital., ursprünglich arab., Abzug), das Gewichtder Umhüllung (Kiste, Faß etc.) verpackter Waren. DerUnterschied zwischen Gesamtgewicht und T. ist das reine oderNettogewicht der Ware. Reine oder Nettotara ist die durch besondereWägung eines jeden Stücks ermittelte und in Abzuggebrachte T.; usanzmäßige, usuelle T. (Uso- oderUsanztara) ist die durch Herkommen bestimmte T., insbesondere beiden über See bezogenen Kolonialwaren, für welche dasBruttogewicht berechnet und als Gewichtsvergütung für dieT. ein durch bestimmtes Prozent (daher auch Prozenttara) als Abzugan der Kaufsumme verstattet wird. Hierher gehört auch diegesetzliche T. des Zollwesens, welches, um das Tarieren und die oftunthunliche Abnahme der Umhüllung zu ersparen, feststehende,nach Art der Gegenstände und der Verpackungsweise bestimmteTarasätze (Zolltara) vom Bruttogewicht der zollpflichtigenWare in Abzug bringen läßt. Supertara oder Sopratara istdie an manchen Orten neben der gewöhnlichen T. vorkommendebesondere Vergütung auf das Gewicht. Reduzierte T., die T.,welche aus der am Orte der Verpackung festgesetzten Originaltaranach einem usanzmäßigen Verhältnis in das Gewichtdes Bestimmungsortes umgerechnet wurde. Tarieren heißt dasAbwägen der Warenumhüllung zum Behuf derTaraermittelung.

Tara, Hügel inmitten der irischen Grafschaft Meath,10 km südsüdöstlich von Navan. Auf ihm stand derPalast (Teaghmor) der alten Könige von Irland, und hierversammelte sich 554 das letzte Parlament unter König Diarmid.O'Connell hielt hier 1843 eine große Volksversammlung ab.

Tara, Kreisstadt im asiatisch-russ. Gouvernement Tobolsk,an der Mündung der Tara in den Irtisch, mit (1885) 8654 Einw.,welche Handel mit Talg, Hauten, Pelzwerk, Getreide und Buttertreiben.

Tarabulus (Tripolis), Stadt im asiatisch-türk.Wilajet Schâm (Syrien), am Libanon, unweit des Mittelmeers,hat ein altes Kastell, gegen 20 Moscheen, 18 Kirchen und 7Klöster, starke Getreideausfuhr, Seiden- undBaumwollmanufakturen, Schwammfischerei, Handel mit Seide, Seife,Tabak, Orangen etc., welche die fruchtbare Umgebung liefert, und17,000 Einw. Schiffsverkehr 1886: 310 Dampfer von 328,686 Ton. und929 Segelschiffe von 275,747 T. Die Stadt ist Sitz eines deutschenKonsuls. - T. ist das alte Tripolis, eine phönikischeBundesstadt. Von den Kreuzfahrern wurde es 1109 erst nachfünfjähriger Belagerung erobert und war dann 180 Jahrelang

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Taracanae pulvis - Taraschtscha.

Sitz einer fränkischen Grafschaft, bis es 1289 vom SultanKilawun erstürmt ward.

Taracanae pulvis, s. v. w. Antihydropin (s. d.).

Tarafa, berühmter arab. Dichter, kurz vor Mohammed,Neffe des Amrilkais (s. d.), im jugendlichen Alter umgekommen(worüber eine hübsche Sage in Rückerts"Morgenländischen Sagen und Geschichten", Stuttg. 1837). Seine"Moallaka" ist einzeln herausgegeben von Reiske (Leid. 1742) undVullers (Bonn 1829), seine sämtlichen Gedichte in AhlwardtsAusgabe der sechs alten Dichter (Lond. 1870).

Tarai, s. Himalaja, S. 541.

Tarancon, Bezirksstadt in der span. Provinz Cuenca, amRianzares und der Eisenbahn Aranjuez-Cuenca, mit prächtigemSck)loß des Herzogs von Rianzares, lebhaftem Handel und(1878) 4588 Einw.

Tarandus, Renntier.

Taranis, der Donnergott der alten Gallier; Menschenopferwurden ihm dargebracht, und Eichen waren sein Idol, weshalb nochdas spätere Mittelalter in Gallien Eichenklötzeverehrte.

Tarantás (russ.), bedeckter Wagen auf langenTragbäumen, das gewöhnliche Gefährt bei Relsen aufrussischen Landstraßen.

Tarantel (Tarantula Walck.), Spinnengattung aus derOrdnung der Webspinnen und der Familie der Zweilungigen(Dipneumones), Wolfsspinnen, deren vordere Kopffläche steilabfällt und verhältnismäßig hoch oben aufeiner Querschwiele die vier vordersten, unter sich fast gleichen,kleinen Augen trägt; je zwei große Augen stehen in denbeiden hintern Reihen, eine mehrzähnige, stark entwickelteKlaue bewehrt die weiblichen Taster, und von den vier langenBeinpaaren ist das dritte das kürzeste. Sie spinnen keineFangnetze, sondern erjagen ihre Beute im Lauf, jagen aber meist nurnachts. Die schwarzbäuchige T. (T. melanogastra Walck.),über 2 cm lang, oberseits gelbbraun, dunkel gezeichnet,unterseits schwarz, an den Beinen unregelmäßig schwarzund weiß gefleckt, lebt in Südfrankreich, in derTürkei und in den pontischen Steppen in steinigen, unbebautenGegenden. Die apulischeT. (T. Apuliae Walck., s. Tafel"Spinnentiere"), 3,5 cm lang, rehfarben, auf dem Hinterleib mitschwarzen, rötlichweiß eingefaßten Querstrichen,am Bauch mit schwarzer Mittelbinde, auf dem Vorderleib schwarz,rötlich gezeichnet, lebt in Spanien und Süditalien, bauteinen etwa 30 cm langen Gang in die Erde, tapeziert diesen mitGespinst und überwintert darin, nachdem sie ihn mitversponnenen Blättern etc. verschlossen hat. Im Sommer jagtsie auf Heuschrecken und andre Insekten. Den weißen Eiersack,welcher 600-700 Eier enthält, schleppt sie mit sich herum; dieim Hochsommer ausgeschlüpften Jungen bleiben in der Näheder Mutter, bis sie selbständiger geworden sind. Der Bißder T. hat besonders im Süden und in der heißestenJahreszeit üble Folgen, er erzeugt Schmerz, Entzündung,Ermattung, Unbehagen, Zuckungen, große Reizbarkeit,Melancholie, Tobsucht. Gewisse Farben und musikalische Dissonanzensollen den Zustand verschlimmern, der in der kalten Jahreszeit sichbessert, aber zuweilen regelmäßig wiederkehrt. Man heiltdie Kranken durch Querschnitte über die Wunde und Einreibenmit Ammoniak, auch durch Behandeln der Wunde mit Öl oderBranntwein; in Italien und Spanien aber scheinen mit dem Zustandeigentümliche Idiosynkrasien verbunden zu sein, und das Volkheilt sich durch einen wilden Tanz ( "Tarantella"), welcher nachbestimmten Melodien getanzt wird und heftigen Schweißhervorruft; dieser, noch mehr der feste Glaube bringt denGebissenen (Tarantati) Genesung. Wahrscheinlich steht dieserVolksglaube. mit der mittelalterlichen Tanzseuche (Tarantismus),welche in Apulien und andern Teilen Italiens herrschte, inZusammenhang. Vgl. Bergsöe, Über die italienische T. undden Tarantismus (Kopenh. 1865, dänisch). Tarantella, einneapolitanischer, aber wahrscheinlich ursprünglichtarentinischerTanz, wenn man nicht annehmen will, daß erseinen Namen von der Wolfsspinne, der Tarantel (s. d.), erhielt.Die von ältern Schriftstellern mitgeteilten Proben vonHeiltänzen für den Tarantelbiß haben wenigÄhnlichkeit mit der modernen T. Letztere hat eineäußerst geschwinde Bewegung (Presto) und steht im 3/8-oder 6/8-Takt. Wie alle andern Tänze ist auch die T. von derKunstmusik aufgegriffen und eine Lieblingsform brillanterSolostücke (für Klavier, Violine, Cello etc.)geworden.

Taranto, Stadt, s. Tarent.

Tarantschen, Name für die mit iranischem Blutvermischten Turko-Tataren im Kuldschagebiet, welche sich vonchinesischen Einflüssen freier gehalten haben als ihreNachbarn und Verwandten, die Dunganen. Sie sind Mohammedaner, ohneaber die Vorschriften des Islam streng einzuhalten. Ihre Vorfahrenwurden von den Chinesen im 18. Jahrh. nach der Eroberung derDsungarei aus Ostturkistan in das Ilithal übergesiedelt, teilswegen ihrer Teilnahme an dem Aufstand von 1756, teils zurWiederbevölkerung des verödeten Landes überhaupt.Während des Dunganenaufstandes bildeten die T. ein eignesReich, das infolge von Unruhen von den Russen in Verwaltunggenommen, durch den Vertrag vom 14. Febr. 1881 aber wieder an Chinazurückgegeben wurde. Darauf siedelten an 80,000 T. aufrussisches Gebiet über. Sie sind sämtlich Ackerbauer.

Tarapacá, Provinz des südamerikan. StaatsChile, liegt am Stillen Ozean zwischen Rio Camarones und Rio Loa,erstreckt sich bis zum Gipfel der Kordilleren, die sie von Boliviatrennen, und hat ein Areal von 50,006 qkm (908 QM.). DieKüstenkordillere steigt bis 1770 m an; hinter derselbenbreitet sich die wüste Pampa de Tamarugal (1000 m ü. M.)aus, mit reichen Lagern von Salpeter und Borax (Ausfuhr 1885:9,478,000 Ztr.). Das Innere bietet Weiden für Schafe, Lamas,Alpakos und Vicuñas. Ergiebige Silberminen liegen in derNähe der Küste, und Guano findet sich in Mengennördlich vom Rio Loa bis Patillos. Ackerbau ist nur an wenigendurch Bewässerung begünstigten Stellen möglich. T.hat etwa (1885) 45,086 Einw., der Mehrzahl nach Chilenen. DieProvinz wurde 1883 von Peru an Chile abgetreten. Hauptstadt istIquique. Die ehemalige Hauptstadt T., in 1158 m Meereshöhe imInnern gelegen, hatte früher ergiebige Silbergruben, ist aberjetzt nur ein Dorf mit (1876) 1038 Einw.

Tarapoto, Stadt im südamerikan. Staat Peru(Departement Loreto), 374 m ü. M., an einem Nebenflußdes Rio Mayo, hat Baumwollweberei und (1876) 4740 Einw. Tarar(Aspirator), s. Mühlen, S. 848.

Tarare (spr. rár), Stadt im franz. DepartementRhône, Arrondissem*nt Villefranche, an der Turdine und derEisenbahn Lyon-Roanne, mit Handelskammer, Marmorbrüchen,lebhafter Industrie in Musselin, Tarlatan, Samt, Plüsch,Stickereien, Druckwaren, Handel und (1886) 11,651 Einw. Westlichdavon der erzreiche Mont T. (719 m).

Taraschtscha, Kreisstadt im russ. Gouvernement Kiew, hat3 Kirchen und (1885) 15,801 Einw., die sich großenteils mitAckerbau beschäftigen.

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Tarascon - Tardieu.

Tarascon (spr. -kóng), 1) (T. sur Ariége)Stadt im franz. Departement Ariége, Arrondissem*nt Foix, amAriége und an der Eisenbahn Toulouse-T., mitSchloßruinen, Eisengruben, Wollspinnerei, Fabrikation vonEisenwaren und (1881) 1404 Einw. - 2) (T. sur Rhône) Stadt imfranz. Departement Rhônemündungen, Arrondissem*nt Arles,am Rhône, über welchen eine Hängebrücke nachdem gegenüberliegenden Beaucaire führt, hat alteRingmauern, ein auf einem Felsen unmittelbar am Rhône sicherhebendes, trefflich erhaltenes Schloß (ein festungsartigergotischer Bau, einst König Renés Residenz), eine aufden Resten eines römischen Tempels errichtete gotische Kirche(Ste.-Marthe), ein Kommunalcollège, Handelsgericht, wichtigeFabrikation von Wollen-, Seiden-, Baumwollen- und Leinenstoffenetc., Bereitung von Fleischwürsten ("saucissons d'Arles"),Schiffbau und (1886) 5881 Einw. T., an der eigentlichen Spitze desRhônedeltas gelegen, war immer von großer Bedeutungfür den Verkehr, wie sich auch heute dort die Linien nachNîmes, Remoulins und St.-Remy von der EisenbahnParis-Marseiile abzweigen.

Tarasp, die einzige kathol. Gemeinde des GraubündnerThals Engadin, 1401 m ü. M., mit (1880) 346 Einw.,berühmt durch ihre Heilquellen. Im Revier Schuls-T.-Fettanfolgen sich in bunter Reihe Säuerlinge, Bitter-, Salz-,Schwefel- und Stahlwässer. Dem frühern Mangel anEinrichtungen und Kommunikationen ist abgeholfen; eingroßartiges Etablissem*nt ist zu Nairs. Oberhalb Vulperazeigt man die "Todeslöcher", kleine Trichteröffnungen imBoden, aus deren Spalten Kohlensäure aufsteigt. DieLöcher haben etwa 1 m Durchmesser und 2-2½ dcm Tiefe,und die Kohlensäure liegt darin etwa l0 cm hoch. Vgl. Arquint,Der Kurort T. und seine Umgebung (Chur 1877), und die Schriften vonKillias (9. Aufl., das. 1886), Pernisch (3. Aufl., das.1887).

Tarawera, Vulkan auf der Nordinsel von Neuseeland, imSeendistrikt, welcher 1886 durch eine Eruption die berühmtenSinterterrassen des Rotomahanasees vollständigzerstörte.

Taraxacum Haller. Gattung aus der Familie der Kompositen,sehr kurzstengelige Kräuter mit grundständiger Rosetteungeteilter, gezahnter, buchtiger oder schrotsägeförmigerBlätter, blattlosen, einköfsigen Blütenschäftenund länglichen Achänen mit einfachen, ungleich langenPappushaaren. Auf der ganzen nördlichen Erdhälfteverbreitet. T. vulgare Schrk. (Leontodon T. L., gemeinerLöwenzahn, Butterblume, Pfaffenröhrlein), sehr gemein anWegen, auf Wiesen etc., ausdauernd, stark milchend, mit walzigspindelförmiger Wurzel, kahlen, lanzettlichen, buchtigfiederspaltigen Blättern und hohlem, kahlem Blütenschaftund gelben Blüten, wächst gemein auf der nördlichenErdhälfte, die Wurzel mit dem Kraut ist offizinell und wirdgegen Stockungen im Unterleib als mild lösendes Mittelangewandt. Das Kraut gibt gutes Futter für Ziegen undRindvieh; die jungen Blätter benutzt man auch als Salat.

Tarazona, Bezirksstadt in der span. Provinz Saragossa, amQueiles, in einem rebenbedeckten Hügelgelände, hat einPriesterseminar und (1878) 8270 Einw. Die Stadt istBischofsitz.

Tarbagatai, Gebirge im russisch-asiat. GebietSemipalatinsk, an der Grenze gegen die chinesische Mongolei und dasGebiet Semiretschinsk, erstreckt sich nach O. bis zum See Ulungurin der Dsungarei und bildet die Wasserscheide zwischen demdsungarischen Steppengebiet und dem Saissanbecken. Die mittlereKammhöhe des Gebirges ist 2300 m, doch gibt es mehrere 3000 mhohe Piks. Ewigen Schnee trägt aber erst der östlichabgezweigte Musstau. S. Karte "Zentralasien".

Tarbert, zwei Fjorde (Lochs) in Schottland, die sich anihrem obern Ende bis auf 1½ km nähern und die Halbinselvon Kintyre (s. d.) fast vom Hauptland abtrennen. Ein Kanaldurchschneidet die Landenge. Das gleichnamige Dorf amöstlichen Loch hat (1881) 1629 Einw.

Tarbert, kleine Hafenstadt in der irischen GrafschaftKerry, am Ästuar des Shannon, mit (1881) 712 Einw. Dabei diebefestigte Insel T. mit Leuchtturm.

Tarbes (spr. tarb), Hauptstadt des franz. DepartementsOberpyrenäen und der ehemaligen Grafschaft Bigorre, inreichbebauter Ebene, am Adour und an der Eisenbahn Bayonne-Toulousegelegen, von welcher hier die Linien nach Bagnères, Auch undMorceux abzweigen, hat eine Kathedrale mit gotischer Kuppel, eineKirche St.-Jean aus dem 14. Jahrh., eine stattlicheKavalleriekaserne (vor derselben steht das Denkmal des ChirurgenLarrey), einen schönen öffentlichen Garten mit Museum,ein treffliche Reitpferde lieferndes Gestüt, einen Hippodrom(jährlich im August große Pferderennen) und (1886)21,090 (Gemeinde 25,146) Einw., welche Eisengießerei,Maschinenbau, Fabrikation von groben Wollenstoffen u. Filz undMarmorschneidemühlen sowie Handel mit Vieh undlandwirtschaftlichen Produkten betreiben. Der Staat besitzt in T.eine Waffenfabrik und Kanonengießerei. Von Bildungsanstaltenbestehen daselbst ein Lyceum, eine Lehrerbildungsanstalt, eingeistliches Seminar und eine Bibliothek (16,000 Bände); T. istSitz eines Bischofs, eines Gerichts- und Assisenhofs wie einesHandelsgerichts. - Die Stadt hieß unter römischerHerrschaft Tarba und gehörte zu Aquitania tertia, sodann zuNovempopulania. Mehrmals von den Goten, Arabern und Normannenzerstört, blühte sie als Hauptstadt der GrafschaftBigorre wieder auf, war bis 1370 in der Gewalt der Engländerund litt später sehr durch die Hugenottenkriege.

Tardando (ital.) , s. v. w. Ritardando (s. d.).

Tardieren (franz.), zögern, zaudern,säumen.

Tardieu (spr. -djöh), 1) franz.Kupferstecherfamilie. Nicolas Henri T., geb. 1674 zu Paris,Schüler Audrans, stach zahlreiche Blätter nach Rigaud,Lebrun, Domenichino u. a.; starb 1749. Sein Sohn Jacques NicolasT., genannt Cochin, geb. 1718, gest. 1795 als Hofkupferstecher desKurfürsten von Köln, hat besonders Porträtegestochen. Von seinen Neffen lieferte Pierre Alexandre T., geb.1756 zu Paris, Schüler von I. I. Wille, gest. 1844,schätzbare Porträte und Blätter nach Raffael,Domenichino, van Dyck, David u. a., während Jean BaptistePierre T., geb. 1746 zu Paris, gest. 1816, und AntoineFrançois T., geb. 1757 zu Paris, gest. 1822,Landkartenstecher waren. Des letztern Sohn Pierre T., geb. 1784 zuParis, stach Karten zu Werken v. Humboldts, v. Buchs,Brönsteds, Ségurs u. a. Ambroise T., geb. 1790 zuParis, gest. 1837, stach Landkarten, Porträte undArchitekturstücke.

2) Auguste Ambroise, Mediziner, geb. 10. März 1818 zuParis, studierte daselbst, wurde 1850 Chefarzt am SpitalLariboisière, 1861 Professor an der Pariser medizinischenFakultät, 1864 beratender Arzt des Kaisers, 1867Präsident des Komitees für öffentlicheGesundheitspflege. Er übernahm 1870 die Leitung des Hotel-Dieuin Paris und starb 12. Jan. 1879. Seine ersten Arbeiten warenklinischer Natur, später wandte er sich der gerichtlichenMedizin zu und gewann für diese eine große Bedeutung,namentlich

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Tardigrada - Targum.

durch die Ableitung von Erfahrungssätzen aus denüberaus zahlreichen Fällen, die seiner Begutachtungunterlagen. Seine Hauptwerke sind: "Étudemédico-légale sur l'attentat aux moeurs" (6. Aufl.1872; deutsch von Theile, Weim. 1860); "Étudemédico-légale et clinique sur l'empoisonnement" (2.Aufl. 1874; deutsch von Theile u. Ludwig, Erlang. 1868).Außerdem schrieb er: "Dictionnaire d'hygiène publiqueet de salubrité" (2. Aufl. 1862, 4 Bde.); "Étudemédico-légale sur la pendaison, la strangulation etla suffocation" (2. Aufl. 1879); "Étudemédico-légale sur la folie" (2. Aufl. 1879), "surl'avortement" (4. Aufl. 1881) und "sur l'infanticide" (2. Aufl.1879) u. a.

Tardigrada, s. Spinnentiere, S. 154.

Tarént (Taranto), befestigte Seestadt undKreishauptort in der ital. Provinz Lecce, auf einer Insel zwischendem großen Golf von T. und dem lagunenartig ins Landhineinragenden Mare piccolo gelegen, ist durch eine sechsbogigeBrücke und einen alten byzantinischen Aquädukt mit demFestland verbunden und Station der Eisenbahn von Bari nach Reggiodi Calabria. Die Lage von T. ist eine so überausgünstige, daß diese Stadt, wie es im Altertum der Fallwar, zum Organ bestimmt erscheint, durch welches Italien mit demOrient in Beziehungen tritt. Es hat im Mare piccolo einen tiefen,völlig geschützten Hafen, und auch der äußereGolf bietet in seiner Verengerung mit den beiden vorgelagerten,trefflich zur Verteidigung geeigneten Inseln San Pietro und Paoloeiner ganzen Flotte sichern Schutz. Zwei Eisenbahnen, die eine ander ganzen West-, die andre an der Ostseite der Halbinsel bis zumGolf von T. verlängert, finden hier ihren natürlichenEndpunkt. Treffliches Quellwasser sprudelt im Mare piccolo wie imMare grande selbst empor. So dürfte sich T., namentlich wenndas Projekt der Verlegung des Kriegshafens von Neapel und derWerfte von Castellammare dorthin zur Ausführung gelangensollte, neuerlich zu großer Bedeutung erheben. Auch derHandel hebt sich schon einigermaßen. 1886 sind im Hafen 408Schiffe mit 144,962 Ton. eingelaufen. Der Warenverkehr zur See(Einfuhr von Kohle, Holz, Getreide, Ausfuhr von Öl, Wein,Hülsenfrüchten etc.) beläuft sich allerdings erstauf 65,000 Ton. Fischerei, auch Austernzucht, Handel, Oliven-,Feigen- u. Weinbau sind die Haupterwerbszweige der als sehrindolent geltenden Bewohner, deren man 1881: 25,246 zählte.Die Stadt dehnt sich jetzt nur auf der kleinen felsigen Halbinselzwischen den Meeren aus und hat wenig Reste des Altertums wie desMittelalters aufzuweisen. Sie ist Sitz eines Erzbischofs, einesUnterpräfekten, eines Zivil- und Korrektionstribunals, einesHauptzollamtes sowie eines deutschen Konsuls und hat ein Lyceum,ein Gymnasium etc. - T. ist das Tarentum (Taras) der Alten. Taraswurde 708 v. Chr. von den spartanischen Partheniern unter demHerakliden Phalanthos gegründet und durch seinegeschützte Lage und seinen vorzüglichen Hafen eine dermächtigsten griechischen Pflanzstädte in Unteritalien.272 ward dieselbe von den Römern erobert, nachdem Pyrrhos, derfür sie seit 280 gegen Rom Krieg geführt, 275 Italienverlassen hatte. Im zweiten Punischen Krieg ward sie 211 vonHannibal erobert, die Römer behaupteten sich indes in der Burgund bemächtigten sich von da aus 209 der Stadt wieder. Dieseward geplündert und zum Teil zerstört, und gegen 30,000Einw. wurden in die Sklaverei verkauft. 123 ward die Stadt mitrömischen Bürgern bevölkert und blühte seitdemwieder auf. Das dortige Erzbistum soll 378 gegründet wordensein. Im Mittelalter stand die Stadt erst unter den byzantinischenKaisern, ward dann von den Sarazenen erobert und endlich demKönigreich beider Sizilien und mit diesem 1861 demKönigreich Italien einverleibt. T. ist die Vaterstadt desMusikers Giovanni Paësiello. Der französische MarschallMacdonald (s. d.) wurde von Napoleon I. zum Herzog von T. ernannt.Vgl. Döhle, Geschichte Tarents bis auf seine Unterwerfungunter Rom (Straßb. 1877); de Vincentiis, Storia di Taranto(Neap. 1878 ff., 5 Bde.); Gagliardo, Descrizione topogratica diTaranto (Tarent 1886).

Tarent, Goif von, ein fast viereckiger, zwischen denVorgebirgen Santa Maria di Leuca und Nao in die Apenninenhalbinseleindringender Golf, der von den Halbinseln von Apulien undKalabrien begrenzt wird, im Altertum der Hauptsitz griechischerKultur in Unteritalien. Tarent, Metapont, Herakleia, Sybaris,Thurii, Proton und andre Griechenstädte blühten an seinenUfern, denen jetzt, versumpft und ungesund, wie sie sind, zweiEisenbahnen, welche sie wieder mit der Ost- und Westküste derHalbinsel verbinden, neues Leben zuzuführen bestimmt sind.

Tarentaise (spr. -rangtâhs^), Landschaft im franz.Departement Savoyen, das Hochthal der Isère mit seinenSeitenthälern, durch welches die Straße über denKleinen St. Bernhard führt, reich an Wäldern und Weiden,von einem kleinen, lebhaften und sich ausfallend von den Umwohnernunterscheidenden Menschenschlag bewohnt. Wichtigster OrtMoutiers.

Tarfabaum, s. Tamarix.

Targovist (Tirgovist, Targu-Vestia), ehemals (von1383-17l6) Hauptstadt der Walachei, jetzt Hauptort des KreisesDimbowitza und heruntergekommen, liegt 262 m hoch am Fuß derKarpathen, durch Zweigbahn mit der Linie Roman-Verciorovaverbunden, und hat 29 griechisch-orthodoxe Kirchen (darunter dieschöne Metropolitankirche), eine alte kath. Kirche, Ruinen desSchlosses der Woiwoden, ein Tribunal, ein Arsenal (seit 1865),Gymnasium und 7125 Einw. (ehedem über 40,000).

Targowicz (Targowice), Stadt im russ. Gouvernement Kiew,Kreis Uman, an der Siniusca, mit 2000 Einw. Hier 14. Mai 1792Konföderation des polnischen Adels gegen die Konstitution von1791.

Targum (chald., Plur. Targumim, "Übersetzung"), Nameder chaldäischen Übersetzungen und teilweiseUmschreibungen des Alten Testaments, die vom Beginn des zweitenjüdischen Staatslebens an, als sich das Bedürfniseinstellte, den Synagogenbesuchern, welche der hebräischenSprache nicht mehr mächtig waren, die Bibelvorlesungen (s.Sidra, Haftara) zu übersetzen und, wenn erforderlich, durchUmschreibung zu erklären, entstanden sind. DieÜbersetzung und Deutung geschah durch besonders angestellteÜbersetzer. Jahrhunderte ward, wie dies mit demmündlichen Gesetz (s. Midrasch, Talmud) üblich war, dasT. nicht niedergeschrieben. Die erste schriftliche Fixierunggeschah nach dem 3. Jahrh. n. Chr. und zwar mit dem fastwortgetreuen T. Onkelos (aramäische Form des griechischenEigennamens Akylas), einer Pentateuchübersetzung, welche imGegensatz zu T. jeruschalmi (das jerusalemische T. des Jonathan benUsiel) T. babli heißt und im ostaramäischen Dialektabgefaßt ist. Westaramäische Targumim sind zu Ruth,Esther, Hoheslied, Prediger, Klagelieder, Psalmen, Sprüche,Hiob und Chronik vorhanden. Sie sind meistens weitschweifige, mitGeschichte, Sage und Legende verquickte Textum-

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Tarieren - Tarn-et-Garonne.

schreibungen. Ein vorzügliches Lexikon zu den Targumim gabLevy (3. Ausg., Leipz. 1881), das T. Onkelos Berliner (Berl. 1884),eine "Chrestomathia targumica" Merx (das. 1888) heraus.

Tarieren, s. Tara.

Tarif (arab.), ein Verzeichnis verschiedener Waren oderLeistungen mit beigesetzten Preisen, namentlich ein amtlichfestgestelltes Verzeichnis, daher Zolltarif (vgl.Handelsverträge), Münz-, Steuertarif, insbesondere imVerkehrswesen: Droschken-, Post-, Schiff-, Eisenbahntarif etc.Tarifieren, in einen T. mit bestimmtem Tarifsatz aufnehmen; dahertarifierte Münzen, solche, welchen durch den gesetzlichenMünztarif ein bestimmter Kurs gegeben ist.

Tarifa, alte befestigte Stadt in der span. Provinz Cadiz,an der Straße von Gibraltar, der südlichste Ort deseuropäischen Festlandes, mit Hafen und Leuchtturm (auf derInsel T.) und (1878) 12,234 Einw.; benannt nach demBerberhäuptling Tarifa ibn Malik, welcher zuerst in Spanienlandete.

Tarija (spr. -richha), ein Departement dersüdamerikan. Republik Bolivia, zwischen den DepartementsChuquisaca und Potosi und der Argentinischen Republik, 296,500 qkm(5385 QM.) groß. Den Westen durchzieht die östlicheKordillere, der Osten erstreckt sich durch die Chaco boreal bis zumParaguay. Die wichtigsten Flüsse sind der Pilcomayo und derTarija (oberer Rio Vermejo), die beide dem Paraguay zueilen. T.bietet sowohl fruchtbare Ackerländereien als vorzüglicheWeiden und schöne Waldungen dar. An nutzbaren Mineralien istes arm. Die Industrie ist ganz unbedeutend. Die Bevölkerungschätzte man 1882 auf 53,389 Seelen, ohne etwa 50,000 wildeIndianer. - Die Hauptstadt T., 1770 m ü. M., in fruchtbaremThal, wo viel Tabak gebaut wird, hat ein Franziskanerkloster(ehemals berühmtes Missionskollegium mit Bibliothek) und etwa8300 Einw.

Tarik, arab. Feldherr, Sohn Zejjads, ward 711 von demOberfeldherrn der Araber in Afrika, Musa, mit 12,000 Mann nachSpanien geschickt, landete bei Gibraltar (Gebel al T., "Felsen desT."), besiegte in der siebentägigen Schlacht bei Ieres de laFrontera 19.-25. Juli 711 die Westgoten unter Roderich, eroberte,indem er den Sieg rasch verfolgte, den größten Teil derHalbinsel, wurde aber von dem auf ihn neidischen Musa, obwohl erihm seine ungeheure Beute demütig darbrachte, seinerWürde entsetzt und, mit Ketten belastet, in den Kerkergeworfen, rächte sich zwar nach seiner Befreiung, indem erMusas Sturz herbeiführte, starb aber unbelohnt und inVergessenheit.

Tarlatan (franz. tarlatane), eine Sorte glatterbaumwollener Gaze, welche meist einfarbig hergestellt und zuBallkleidern und zum Ausputz benutzt wird. Die Stoffe sind sehrwohlfeil, vertragen aber das Waschen nicht. Grüner T. ist oftmit Schweinfurter Grün gefärbt, welches sich staubartigablöst und der Trägerin des Kleides durch Einatmen derarsenikhaltigen Farbe gefährlich werden kann.

Tarma, Stadt im Departement Junin der südamerikan.Republik Peru, im tiefen, aber fruchtbaren Chanchamayothal, 3053 mü. M., hat eine höhere Schule, Fabrikation von Ponchosetc. aus Vicuñawolle und (1876) 3834 Einw.

Tarn, Fluß im südlichen Frankreich, entspringtam Fuß des Pic de Malpertus im Lozèregebirge,durchfließt in vorherrschend westlicher Richtung dieDepartements Lozère, Aveyron, T., Obergaronne undTarn-et-Garonne und mündet 6 km unterhalb Moissac nach einemLaufe von 375 km (wovon 148 km schiffbar) rechts in die Garonne.Nebenflüsse sind rechts: der Aveyron, links: Dourbie undAgout. Der T. bildet oberhalb Albi den prächtigen, 19 m hohenWasserfall Saut de Sabo.

Tarn, franz. Departement, aus den ehemaligenDiözesen von Albi, Castres und Lavaur des Languedoc gebildet,grenzt im N. und NO. an das Departement Aveyron, im SO. an Herault,im S. an Aude, im W. an Obergaronne und im NW. an Tarn-et-Garonneund hat einen Flächenraum von 5743 qkm (104,7 QM.). Das Landist die nach SW. geneigte plateauartige Abdachung des zentralenHochfrankreich, im O. gegen 600, im W. wenig über 100 m hoch.Es lehnt sich im SO. an die rauhen Berge von Lacaune (1266 m), imS. an die Montagne Noire an. Während es in den höhernGebenden nur für Viehzucht und Industrie geeignet ist,überwiegt nach W. hin in den sich immer breiter öffnendenfruchtbaren Flußthälern mit dem mildern, fastmediterranen Klima der Ackerbau, der sich auch auf Wein- undSeidenkultur erstreckt. Der Hauptfluß ist der Tarn, welcherfast alle Gewässer des Departements (Rance, Agout, Aveyron u.a.) aufnimmt. Die Bevölkerung belief sich 1886 auf 358,757Einw. (darunter ca. 17,000 Reformierte). Von der Oberflächekommen (1882) 309,805 Hektar auf Äcker, 52,755 auf Wiesen,59,510 auf Weinberge, 77,677 auf Wälder, 37,894 Hektar aufHeiden und Weiden. Hauptprodukte sind: Getreide (3 Mill. hl),insbesondere Weizen, Roggen und Mais; fernerHülsenfrüchte, Kartoffeln, Hanf und Flachs, Wein (beiGaillac und Albi, in guten Jahren bis 1 Mill. hl), Obst, Kastanien,Rindvieh (117,874 Stück), Schafe (410,177). Schweine(127,788), viel Geflügel (besonders Hühner und Tauben),Kaninchen. Der Bergbau liefert Steinkohlen (Gruben bei Carmaux miteinem Erträgnis von 330,000 Ton.); auch hat das Departementmehrere Mineralquellen, darunter die von Trébas. DieIndustrie hat namentlich in der Schafwollwarenfabrikationgroße Bedeutung; dieselbe verfügt über 55,000Spindeln, 5000 Hand- und 140 mechanische Webstühle und hatihre Hauptsitze zu Castres und Mazamet. Andre Industriezweige sind:Seidenspinnerei, Gerberei, Fabrikation von Stahl, Sensen, Glas,Fayence u. a. Der ziemlich lebhafte Handel vertreibt die Natur- undIndustrieprodukte des Landes. Das Departement wird von derEisenbahnlinie Figeac-Toulouse und der von ersterer abzweigendenLinie über Albi nach Castres und Castelnaudary mitSeitenlinien nach Carmaux und Mazamet durchzogen. Es zerfälltin die vier Arrondissem*nts: Albi, Castres, Gaillac und Lavaur;Hauptstadt ist Albi. Vgl. Bastié, Description dudépartement du T. (Graulhet 1876-77, 2 Bde.).

Tarn-et-Garonne, franz. Departement, aus Teilen derGuienne (Quercy, Rouergue, Agenais), der Gascogne (Lomagne,Armagnac) u. des Languedoc (Diözese Montauban)zusammengesetzt, grenzt im N. an das Departement Lot, im O. anAveyron, im SO. an Tarn, im S. an Obergaronne, im SW. und W. anGers und Lot-et-Garonne und hat einen Flächenraum von 3720 qkm(67,8 QM.). Es ist ein Hügelland von 200-300 m Höhe, inwelches die drei großen Flüsse Garonne (mit der Gimone),Tarn und Aveyron, die sich hier vereinigen, und deren Spiegel beiihrem Eintritt in das Departement kaum höher, zum Teil sogarniedriger als 100 m liegt, breite, überaus fruchtbareThäler eingeschnitten haben. Der Schifffahrt dient außerGaronne und Tarn der Seitenkanal der Garonne. Das Klima ist imallgemein

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Tarnkappe - Tarock.

nen mild. Die Bevölkerung belief sich 1886 auf 214,046Seelen (1861: 232,551), darunter ca. 10,000 Reformierte. Von derOberfläche kommen 223,536 Hektar auf Äcker, 22,366 aufWiesen, 48,720 auf Weinberge, 48,050 auf Wälder, 10,138 Hektarauf Heiden und Weiden. Die wichtigsten Produkte sind: Getreide(durchschnittlich 2 Mill. hl), vor allem Weizen, dann Hafer undMais, Hülsenfrüchte, Kartoffeln, Hanf, Flachs,Futterrüben, Wein (bis zu 1 Mill. hl), Obst, Holz, Seide,treffliche Pferde, Rindvieh (89,039 Stück), vielGeflügel, Marmor und Bausteine. Neben dem Ackerbau, als derHaupterwerbsquelle der Bewohner, ist die Industrie von keinemgroßen Belang und nur durch einige Seidenfilanden,Seidenabfallspinnereien, Papier-, Kerzen- und Seifenfabrikenvertreten. Von größerer Bedeutung ist der Handel mit denLandesprodukten, für welche Montauban der Hauptstapelplatzist. Die Eisenbahn von Bordeaux nach Toulouse (mit der Abzweigungvon Montauban nach Lexos) durchschneidet das Departement. Eszerfällt in drei Arrondissem*nts: Castelsarrasin, Moissac undMontauban; Hauptstadt ist Montauban. Vgl. Moulenq, Documentshistoriques surleTarn-et-Garonne (Montauban 1879-85, 3 Bde.).

Tarnkappe (v. altd. tarnan, verbergen, auch Tarnhaut,Nebelkappe), in der deutschen Mythologie ein Mantel, welcherunsichtbar machte und zugleich die Kraft von zwölfMännern verlieh. Vgl. Elfen und Zwerge.

Tarnobrzeg, Studt in Galizien, an der Weichsel und derEisenbahn Dembica-Rozwadow, Sitz einer Bezirkshauptmannschaft undeines Bezirksgerichts, mit (1880) 3460 Einw.

Tarnogrod, Stadt im russisch-poln. Gouvernement Lublin, KreisBjelgorai, an der galizischen Grenze, hat starke Leinweberei und(1885) 5436 Einw. (viele Juden); geschichtlich merkwürdigdurch den hier 26. Nov. 1715 geschlossenen Bund des polnischenAdels gegen die sächsische Armee.

Tarnopol, Stadt in Ostgalizien, am Sereth und an derEisenbahn Lemberg-Podwoloczyska (Linie nach Odessa), Sitz einerBezirkshauptmannschaft, eines Kreisgerichts und einerFinanzbezirksdirektion, hat ein Obergymnasium, Unterrealschule,Lehrerbildungsanstalt, Jesuitenkollegium mit Privatgymnasium,Stärkefabrikation, Dampfmühle, Ziegelbrennerei, lebhaftenHandel und (1880) 25,819 Einw. (darunter 13,500 Juden).

Tarnow, Stadt in Galizien, nahe der Mündung oerBiala in den Dunajec, Station der Karl Ludwigs-Bahn(Krakau-Lemberg), in welche hier die Staatsbahnlinie Stroze-T.einmündet, ist Sitz einer Bezirkshauptmannschaft, einesrömisch-katholischen Bischofs und Domkapitels, einesKreisgerichts, einer Finanzbezirksdirektion und einesHauptzollamtes, hat eine alte Domkirche, ein schönes Rathaus,eine theologische Lehranstalt, ein bischöfliches Seminar, einObergymnasium, eine Lehrerbildungsanstalt, mehrere Klöster,eine Waisenanstalt, Sparkasse, Fabrikation von landwirtschaftlichenMaschinen, Zichorienfabrik, Glashütte, Dampfmühle,bedeutenden Handel und (1860) 24,627 Einw. (davon 11,349Juden).

Tarnow, Fanny, Schriftstellerin, geb. 27. Dez. 1783 zuGüstrow in Mecklenburg, lebte auf dem väterlichen GutNeubuckow, ging 1816 nach dem Tod ihrer Mutter zu einer Freundinnach Petersburg, wo sie viel mit Klinger verkehrte, verließaber des rauhen Klimas wegen Rußland bald wieder und hatteseit 1820 ihren Wohnsitz in Dresden, seit 1828 in Weißenfels,zuletzt in Dessau, wo sie 20. Juni 1862 starb. Ihre Romane undNovellen, deren lange Reihe "Natalie" (Berl. 1811) eröffnete,und zu denen auch das Buch "Zwei Jahre in Petersburg" (Leipz. 1833)gehört, waren zu ihrer Zeit bei der Frauenwelt sehr beliebt,ohne daß sie auf künstlerischen Wert Anspruch machenkönnten. Gesammelt erschienen eine "Auswahl" (Leipz. 1830, 15Bde.) und "Gesammelte Erzählungen" (das. 1840-42, 4 Bde.).Vgl. Amely Bölte, Fanny T., ein Lebensbild (Berl. 1865).

Taruowitz, Kreisstadt im preuß. RegierungsbezirkOppeln, Knotenpunkt der Linien Breslau-T., Kreuzburg-T.,T.-Schoppinitz und T.-Tarnowitzerhütte der PreußischenStaatsbahn, 326 m ü. M., hat eine evangelische und eine kath.Kirche, eine Synagoge, ein Realgymnasium, eine Bergschule, einKreiswaisenhaus, ein Rettungshaus, ein Amtsgericht, eineBerginspektion, den Vorstand des OberschlesischenKnappschaftsvereins, Bergbau auf Eisen, ein großes Eisenwerk,Fabrikation von Trottoirplatten, Stöcken, Seife, Tütenund Zigarrenspitzen, Dampfmahl- und Schneidemühlen und (1885)8618 meist kath. Einwohner. In der Nähe die Friedrichsgrube,eine Bleierzgrube, deren Erze in der nahen Friedrichshütteverhüttet werden. T. ward 1526 angelegt und erhielt 1562Stadtrechte.

Tarnowski, Stanislaus, Graf, poln. Litterarhistoriker,geb. 7. Nov. 1837 zu Dzikow in Galizien, studierte zu Krakau undWien, erlitt 1863-65 anläßlich des Aufstandes einezweijährige Haft, begründete dann mit Szujski diekonservative Zeitschrift "Przeglad Polski", war 1867-70Reichsratsabgeordneter, wandte sich dann aber ganz denwissenschaftlichen Studien zu und wurde im November 1871 zumordentlichen Professor der polnischen Litteratur an der KrakauerUniversität und 1884 zum Mitglied des Herrenhauses ernannt.Unter seinen zahlreichen literarhistorischen Monographien (in poln.Sprache), die sich insgemein durch Gründlichkeit, Schärfedes Urteils und Eleganz der Sprache auszeichnen, sindhervorzuheben: "Geschichte der vorchristlichen Welt", "Überden polnischen Roman am Anfang des 19. Jahrhunderts", "Überden Verfall der polnischen Litteratur im 18. Jahrhundert","Über die Lustspiele Fredros". "Shakespeare in Polen" undinsbesondere sein klassisches Hauptwerk: "Die polnischenpolitischen Schriftsteller des 16. Jahrhunderts" ("Pisarzepolityczni XVI wieku"; Krak. 1886, 2 Bde.).

Taro, s. Colocasia.

Tarock, kompliziertes Spiel unter drei Personen mit einereignen, 78 Blätter starken Karte, die französischenUrsprungs sein soll. Zu den gewöhnlichen 52 Blätternkommen noch hinzu: 4 Cavalls (Reiter), 21 Tarocks, Trümpfeoder Stecher (Karten mit I bis XXI bezeichnet) und ein einzelnesBlatt, der Skis. Die Kartenfolge läuft in den roten Farben vomAs herab zur Zehn und in den schwarzen umgekehrt von der Zehn herabzum As. Der Geber gibt in Würfen zu 5 jedem 25 Blätter,die drei letzten behält er noch für sich, weil er dasRecht hat, 3 Karten in den Skat zu legen. 59 Blätter sindleere (Latons), 19 aber Zähler. Der König gilt 5, dieDame 4. der Cavall 3, der Bube 2. Der I (der Pagat), der XXI (derMond) und der Skis gelten an sich je 5, können aber beimAnsagen als Matadore oder als Tarocks unter Umständen nochbesonders zählen. Der Skis (richtiger Sküs, von excuser)sticht weder, noch wird er gestochen; er erscheint bald als T.,bald als Laton, bald als Bild, ja auch in allen drei Eigenschaftenzusammen. Als T. benutzt man den Skis, wenn man 9 Tarocks neben ihmhat (man sagt

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Tarots - Tarquinius Superbus.

dann 10 Tarocks an), ferner, wenn man T. fordern will oder einMitspieler T. gefordert hat. In letztern Fällen sagt man: "Ichskisiere (exküsiere) mich!" legt den Skis in seine Stiche undgibt aus diesen einen Laton oder leeren T. an den ab, welcher denletzten Stich machte. Als Bild fungiert der Skis beim Ansagen eineshalben (skisierten) Königreichs oder einer halben oderskisierten Kavallerie (3 Könige, resp. 3 Bilder einer Farbeund der Skis). 4 Könige gelten als ganzes Königreich, 4Bilder einer Farbe als ganze oder natürliche Kavallerie. Hatman zu 15 Latons den Skis, so darf man 16 Latons ansagen. Als Latonbenutzt man auch den Skis, wenn man ein Blatt einer angezogenenFarbe nicht weggeben will. Da der Skis nicht sticht, kann man nichtdie Vole mit ihm machen, wohl aber sich stichfrei spielen. Manmuß den Skis vor den 5 letzten Blättern ablegen, weil ersonst dem Gegner zufällt. Hat der Geber Skat gelegt, so folgtdas Ansagen. 10 Tarocks gelten 10, jeder T. über 10 gilt 5,eine ganze Kavallerie 10 etc. Diese Posten werden jedem Ansagendenvon den Mitspielern sogleich bezahlt. Jede Ansage muß aufVerlangen aufgezeigt werden. Nach dem Ansagen beginnt das Spiel.Hierbei wird Farbe bekannt; wer Renonce ist, muß mit einem T.stechen. Bei den Tarocks sticht die höhere Zahl die niedere.Soviel man in seinen Stichen über 26 Augen erlangt, hat mangewonnen, was daran fehlt, muß bezahlt werden. Ein besonderesZiel des Spielers ist es, den Pagat zu ultimieren, d. h. denletzten Stich mit ihm zu machen, bez. das Ultimieren des Pagat zuverhindern. Für den ultimierten Pagat erhält man vonjedem Mitspieler l0 Points, für den ultimo abgestochenenmuß der Pagatist jedem andern 10 Points geben. DasStichfreispielen sagt man an beim 1. oder 13. Stich, die Vole darfman auch vor den letzten sechs Blättern noch melden. In denSkat legen darf man alle Latons, alle Bilder mit Ausnahme derKönige, aber einen T. nur dann, wenn man nur 3 oder weniger u.nicht den XXI hat. Den Skis legt man nur, wenn man die Vole machenwill. Vgl. Werner, Das moderne Tarockspiel (Wien 1883); Ulmann,Illustriertes Wiener Tarockbuch (das. 1887).

Tarots (franz., spr. -oh), Tarockkarte (s. Tarock); inder Typographie s. v. w. Unterdruck, Untergrund aufWechselformularen, Wertpapieren etc., ähnlich dem Muster derRückseite der Tarockkarte; tarotiert, mit solchem Unterdruckversehen.

Tarpau, s. Pferde, S.945.

Tarpawlings (spr. tarpáh-), s. Jute, S. 341.

Tarpejischer Fels, südliche Spitze desKapitolinischen Hügels in Rom (über der heutigen KircheSanta Maria della Consolazione), von wo in den ältern Zeitender Republik und dann wieder zur Kaiserzeit Verbrecher undVaterlandsverräter hinabgestürzt wurden. Benannt war dieStätte nach Tarpeja, der Tochter des kapitolinischen BurgvogtsSpurius Tarpejus, durch deren Verrat, wie die Sage berichtet, sichdie Sabiner unter Titus Tatius der wichtigen Burg bemächtigthatten, wofür Tarpeja, statt belohnt, von ihnen getötetwurde. Sie hatte auf dem Felsen auch ihr Grab, wo ihralljährlich Totenopfer dargebracht wurden. Vgl. Krahner, DieSage von der Tarpeja (Friedland 1858).

Tarporley (spr. tárrporli), altesMarktstädtchen in Cheshire (England), 16 kmsüdöstlich von Chester, mit Strumpfwaren- undLederhosenfabrikation und (1881) 2669 Einw.

Tarquinii, im Altertum eine durch ihre Kunstübungberühmte Stadt Etruriens, wahrscheinlich Mutterstadt derzwölf Bundesstädte, lag auf einem Hügel amFluß Marta. Durch die Kriege mit Rom im 4. Jahrh. v. Chr. kamdie Stadt herab und lag schon zur Kaiserzeit in Ruinen. Dieselbenfinden sich auf dem Hügel Turchina bei Corneto, namentlich diegriechischen Einfluß verratende Nekropole, deren Aufdeckungdie Museen Europas mit den herrlichsten Vasen und andernKunstwerken gefüllt und in Corneto die Gründung einesetruskischen Museums veranlaßt hat.

Tarquinius Priscus, Lucius, fünfter röm.König (616-578 v. Chr.), Sohn des Korinthers Demaratos undeiner Tarquinierin, geboren zu Tarquinii, wanderte, da er dort alsSohn eines Fremdlings keine Ehrenstelle erlangen konnte, auf denRat seiner mit der Gabe der Weissagung ausgestatteten GemahlinTanaquil nach Rom aus. Hier machte er sich sowohl beim KönigAncus Marcius als beim Volk sehr beliebt; er wurde daher vomsterbenden König zum Vormund seiner beiden Söhne ernanntund konnte sich nach dessen Tod selbst der Herrschaftbemächtigen. Er vollendete die Unterwerfung Latiums, besiegtedie Sabiner und verwendete die gewonnene Beute zur Ausführunggroßer Bauten. Dahin gehören vor allen: der großeAbzugskanal (cloaca maxima), wodurch namentlich das Forum trockengelegt wurde, die Anlage des Circus maximus, der Beginn einerStadtmauer und des kapitolinischen Tempels. Der drittenStammtribus, den Luceres, gewährte er die Aufnahme in denSenat, indem er aus ihnen als Patres minorum gentium 100 neueSenatoren den frühern 200 hinzufügte. Da seine Absicht,drei neue Tribus, wahrscheinlich aus den Plebejern, zu bilden,scheiterte, begnügte er sich, die Zahl der Ritter, die dadurchauf 1800 stieg, zu verdoppeln, ohne den drei alten Centurien neueunter besondern Namen hinzuzufügen. Er wurde von denSöhnen des Ancus, denen er den Thron entzogen, 578 ermordet,sein Tod aber durch die Klugheit der Tanaquil so lange verhehlt,bis es seinem Schwiegersohn Servius Tullius gelungen war, sich dieNachfolge zu sichern.

Tarquinius Superbus, Lucius, Roms siebenter und letzterKönig (534-510 v. Chr.), Sohn des Tarquinius Priscus. ServiusTullius hatte ihn und seinen Bruder Aruns mit seinen Töchtern,die beide den Namen Tullia führten, verheiratet, um siedadurch zu gewinnen und sie wegen ihrer Verdrängung vom Thronzu versöhnen. Allein Lucius vereinigte sich mit derjüngern Tullia, der Gemahlin des Aruns, zu demverbrecherischen Plan, Servius Tullius gewaltsam vom Thron zustoßen; Aruns und die ältere Tullia wurden durch ihrebeiderseitigen Gatten aus dem Wege geräumt, und nun ließsich T. in der Kurie des Senats zum König ausrufen. AlsServius Tullius herbeieilte, um ihn zur Rede zu stellen,stieß er den schwachen Greis die Stufen der Kurie hinab undließ ihn durch nachgesandte Bewaffnete töten; Tulliaaber, welche sofort ihren Gemahl in der Kurie als Königbegrüßte, scheute sich nicht, auf dem Heimweg überden Leichnam ihres Vaters hinwegzufahren, so daß sie mitdessen Blut bespritzt zu Hause anlangte. Die Regierung des T.entsprach der Art und Weise, wie er dieselbe an sich gerissenhatte. Es gelang ihm zwar, die Latiner völlig zu unterwerfen,auch wurde die benachbarte Stadt Gabii durch die List und denVerrat seines Sohns Sextus in seine Gewalt gebracht, und in Romselbst setzte er den Bau der unterirdischen Kanäle fort undvollendete den Bau des kapitolinischen Tempels. Dagegen erbitterteer das ganze Volk durch Grausamkeit und Willkür undinsbesondere durch die

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Tarraco - Tarsos.

Härte, mit der er die ärmern Bewohner zu Fronarbeitenzwang. Als daher, während er selbst mit dem Heer vor dembelagerten Ardea lag, sein Sohn Sextus die Lucretia (s. d.) entehrthatte, rief Junius Brutus das Volk zur Empörung auf; T. eiltezwar von Ardea nach der Stadt, wurde aber von dieser und nachherauch vom Lager ausgeschlossen und in Rom die Republikeingeführt. Vergebens suchte er hierauf mit Hilfe derTarquinier, die beim Wald Arsia geschlagen wurden, des KönigsPorsena (s. d.) von Clusium und endlich der Latiner, die am SeeRegillus gegen die Römer unterlagen, den Thronwiederzuerobern. In letzterer Schlacht fielen auch seine SöhneTitus und Aruns; er selbst starb als Flüchtling 495 inCumä. Sextus begab sich nach Gabii, wo er von denen, diefür seinen an Gabii verübten Verrat Rache suchten,ermordet wurde.

Tarraco, Stadt in dem nach ihr benanntentarraconensischen Hispanien, im Gau der Cessetaner, eine uralteFelsenfeste, durch Augustus, der die Verwaltung der Provinz dahinverlegte, mit einem künstlichen Hafen versehen und mit vielenPrachtbauten geschmückt, deren Reste das jetzige Tarragona (s.d.) anfüllen. Die Provinz Hispania Tarraconensis umfaßteden ganzen nördlichen und östlichen Teil des Landes undübertraf an Umfang die beiden andern Provinzenzusammengenommen. Als Hauptvölker sind zu nennen: dieKontestaner, Edetaner und Cessetaner im O., die Ilergeten,Vaskonen, Kantabrer, Asturier und Galläken im N., dieKeltiberer und Karpetaner in der Mitte des Landes, die Oretaner undBastetaner im S. Hauptstädte waren außer T.: CarthagoNova, Saguntum, Calagurris, Barcino, Bilbilis, Numantia, Toletumetc.

Tarragona, span. Provinz, den südlichsten Teil derLandschaft Katalonien umfassend, grenzt im N. an die ProvinzLerida, im O. an Barcelona, im S. an das Mittelländische Meer,im W. an Castellon, Teruel und Saragofsa und hat einenFlächenraum von 6490 qkm (117,8 QM.). Das Innere des Landesist großenteils gebirgig und enthält unter anderm dieBerggruppen des Tosal del Rey (1392 m), Monte Caro (1413 m),Montsant (1071 m), Puig de Montagut (953 m). Ebenen bilden dieMeeresküste und die Thäler einzelnerKüstenflüsse. Die Provinz enthält den Unterlauf desEbro mit dem Mündungsdelta, dann von wichtigernKüstenflüssen den Francoli und Gaya. Die Bevölkerungbelief sich 1878 auf 330,105 Seelen (51 pro QKilometer) und wurde1886 auf 345,000 Seelen geschätzt. Produkte sind: Getreide,sehr viel Öl, Seide, viel Wein (1887 wurden auf 110,060 Hektar1,6 Mill. hl geerntet), Südfrüchte und andres Obst,insbesondere Mandeln, Haselnüsse, Johannisbrot, Lakritzen,dann Bleierz, Braunstein und Salz. Die lebhafte Industrie erzeugtBaumwoll-, Seiden- und Lederwaren, Steingut, Seife, Papier, Essig,Weingeist etc. Der Handel findet in mehreren Häfen, dann inder Küstenbahn Barcelona-Valencia Förderungsmittel. DieProvinz umfaßt acht Gerichtsbezirke (darunter Reus, Tortosa,Valls). Die gleichnamige Hauptstadt, an der Mündung desüberbrückten Francoli ins Mittelländische Meer undan der Küstenbahn, welche hier über Reus nach Leridaabzweigt, gelegen, zerfällt in die obere,unregelmäßig gebaute, von starken Festungswerkenumgebene Altstadt und die untere, regelmäßig angelegte,durch das Fuerte Real verteidigte Neustadt. Im W. liegt das FortOlivo, am Hafen das Fort Francoli. Die Stadt hat eineprächtige, 1120 erbaute gotische Kathedrale, viele andreKirchen, ein Instituto, Seminar, eine Normalschule, Akademie derschönen Künste, ein Altertumsmuseum, ein Theater undeinen guten Hafen. Von Altertümern aus der Römerzeitfinden sich noch die schöne Wasserleitung Puente de lasFerreras, Ruinen eines Amphitheaters, eines Palastes des KaisersAugustus etc., der schöne Triumphbogen Arco de Sura und 6 kmvon der Stadt das unter dem Namen des "Turms der Scipionen"bekannte Denkmal, welches die Asche der Scipionen enthalten soll.Die Stadt zählt (1886) 23,152 Einw. Die Industrie erstrecktsich auf Spinnerei und Weberei (insbesondere in Seide, auch inJute), Filz-, Spitzenfabrikation u. a. Von großer Bedeutungsind Handel und Schiffahrt. 1887 sind 1202 Schiffe von 500,723 Ton.im Hafen eingelaufen. Die Einfuhr hatte einen Wert von 31,2, dieAusfuhr einen solchen von 32,2 Mill. Pesetas. Hauptartikel sindbeim Import Spiritus (meist aus Deutschland), Getreide (ausRußland), Holz, Stockfisch, Kohle, Eisen, Schwefel; beimExport Wein (705,464 hl), dann Weingeist, Haselnüsse, Mandeln,Lakritzen, Weinstein. T. ist Sitz des Gouverneurs und einesErzbischofs (mit dem Titel "Fürst von T.") sowie einesdeutschen Konsuls. - Die Stadt T. (Tarrakon, röm. Tarraco) warin der Römerzeit die Hauptstadt des tarraconensischen Spanien.Während der Völkerwanderung hatte sie unter denEinfällen der Sueven, Vandalen und Goten viel zu leiden. 714wurde sie von den Mauren nach dreijähriger Belagerung erobertund gänzlich verwüstet, über drei Jahrhundertespäter (1038) aber von den Grafen von Barcelona wiederaufgebaut. Das nach 1038 gegründete Bistum ward 1154 zumErzbistum erhoben. 1119 wurde die Stadt von Alfons I. von Aragonienden Arabern abgenommen. Am 28. Aug. 1811 eroberte sie derfranzösische General Suchet mit Sturm. Im August 1813 ward sievon den Engländern belagert, und da Suchet sie nichtlänger behaupten konnte, ließ er die Festungswerke 8.Aug. 1813 sprengen, wobei die Stadt sehr litt. 1833 ward T.Hauptstadt der Provinz.

Tarrasa, Bezirksstadt in der span. Provinz Barcelona, ander Bahnlinie Saragossa-Barcelona, mit Tuch-, Flanell- undBaumwollfabriken und (1878) 11,193 Einw.

Tarrasbüchsen (tschech. tarras, "Bollwerk, Schirm,daher auch Schirmbüchsen), in den Hussitenkriegen alsWallgeschütz und im Feld hinter Schirmen aus Bohlen gebrauchteGeschütze meist kleinen Kalibers.

Tarrytown (spr.-taun), Dorf im nordamerikan. Staat NewYork, am Hudson, mit Taubstummenanstalt, Villen und (1880) 3025Einw.

Tarsius, s. Koboldmaki.

Tarso, Gebirgsstock in Tibesti (s. d.).

Tarsos, im Altertum Hauptstadt von Kilikien inKleinasien, am Kydnos (Tarsus Tschai), vom assyrischen KönigSanherib (705-681) gegründet und seit 607 Sitz eigner,später unter persischer Hoheit stehender Könige, gelangtebesonders zu Ansehen, als sich unter den Seleukiden viele Griechenhier niederließen, welche einen schwunghaften Handel trieben.Die dortige Philosophenschule blühte namentlich unter denersten römischen Kaisern. Antonius oder Augustus verlieh derStadt das Recht der sogen. freien Städte. Von besondererWichtigkeit war T. in den Partherkriegen der Römer, und selbstnoch unter den Arabern war es eine volkreiche Stadt. Spätersank ihr Wohlstand. T. war auch Geburtsort des Apostels Paulus.Jetzt Tersus, in der Provinz Adana, mit 8-10,000 Einw. (darunterviele Sattler, Gerber und

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Tarsus - Tarudant.

Zeltmacher) und Ausfuhr von Baumwolle, Südfrüchten,Getreide, Wolle, Sesam etc. Mit Mersina und Adana steht es durchEisenbahn in Verbindung.

Tarsus (griech.), die Fußwurzel, d. h. die Knochenam Anfang des Fußes (s. d.). Bei den Insekten ist T. oderFuß der letzte Abschnitt des Beins und besteht selbst wiedermeist aus fünf aneinander beweglichen Gliedern; das letzte vondiesen trägt gewöhnlich zwei Klauen oder Krallen, oftauch noch sogen. Haftlappen.

Tarsza (spr. tarscha), Eduard, Pseudonym, s. Grabowski1).

Tartaglia (ital., spr. -tallja, "Stotterer"), Name einerkomischen Maske des neapolitanischen Volkslustspiels.

Tartaglia (spr. -tallja, lat. Tartalen), Niccolò,Mathematiker, geboren zu Brescia am Anfang des 16. Jahrh., wurdeals Kind von einem Soldaten derart mißhandelt, daß erzeitlebens stotterte, wovon er den Namen T. (der Stotterer)empfing. Sein Familienname war bis vor kurzem nicht bekannt; inseinem 188l von Boncompagni veröffentlichten Testament nennter aber einen gewissen Zampiero Fontana als seinen legitimenleiblichen Bruder. Er studierte Latein, Griechisch und Mathematik,und von 1530 an war er in Verona, Piacenza, Venedig, Mailand undzuletzt wieder in Venedig als Lehrer thätig. Er starb 14. Dez.1557. T. kannte bereits den binomischen Lehrsatz für ganzepositive Exponenten, behandelte Probleme derWahrscheinlichkeitsrechnung, nahm zahlreiche Bestimmungen desspezifischen Gewichts vor und vervollkommte die Ballistik;hauptsächlich aber ist er berühmt durch seineAuflösung der kubischen Gleichungen, derenVeröffentlichung durch Cardanus Anlaß gab zu einemheftigen litterarischen Streit mit Cardanus und dessen SchülerFerrari (vgl. Cardanische Formel).Tartaglias Hauptwerk: "Generaltrattato de' numeri e misure" (Vened. 1556-60, 3 Bde.),enthält diese Lösung nicht; der Bericht überdieselbe ist in seinen "Quesiti ed inventioni diverse" (das. 1554)enthalten. Der Darstellung Tartaglias, die Hankel ("Zur Geschichteder Mathematik", Leipz. 1874) reproduziert, hat Gherardi eine andreentgegengestellt (Grunerts Archiv, 52. Teil). Vgl. Matthiessen,Grundzüge der antiken und modernen Algebra, S. 367 (Leipz.1878).

Tartan, der gewürfelte Wollenstoff, den die Schottenbei ihrer Nationaltracht zu Mänteln und Kilts (s. d.)verwenden; auch das Kleidungsstück selbst.

Tartane (roman.), bei den Italienern, Spaniern etc. einkleines ungedecktes Piratenschiff, später ein Fischerfahrzeugmit Pfahlmast, großem lateinischen Segel und zweiKlüvern am Klüverbaum, während dieösterreichische T. ein gedecktes, zweimastigesKüstenfahrzeug mit trapezoidischen Segeln ist. In Spanienheißt T. auch eine Art zweiräderiger Wagen.

Tartarei, unrichtig für Tatarei (s. d.).

Tartaros, bei Homer tiefer Abgrund unter der Erde, soweit unter dem Hades, als der Himmel über der Erde ist, durcheherne Pforten geschlossen; später die ganze Unterwelt oderderjenige Teil derselben, wo die Verdammten ihre Qualen leiden, imGegensatz zu den elysischen Gefilden, dem Aufenthaltsort derSeligen. Personifiziert ist T. der Sohn des Äther und derGäa und von dieser Vater der Giganten. Vgl. Hölle.

Tartarus (lat.), Weinstein, saures weinsaures Kali; T.ammoniatus, weinsaures Kaliammoniak; T. boraxatus, Boraxweinstein,s. Borax (S. 210); T. depuratus, Cremor tartari, gereinigterWeinstein; T. emeticus, stibiatus, Brechweinstein (s. d.); T.ferratus, martiatus, chalybeatus, Eisenweinstein, s.Eisenpräparate; T. natronatus, weinsaures Kalinatron; T.solubilis, tartarisatus, neutrales weinsaures Kali; T. vitriolatus,schwefelsaures Kali.

Tartas (spr. -tas), Stadt im franz. Departement Landes,Arrondissem*nt St.-Sever, an der Midouze mit altem Stadthaus und(1881) 2110 Einw.; steht im Rufe von Krähwinkel.

Tartini, Giuseppe, Violinspieler und Komponist, geb. 12.April 1692 zu Pirano in Istrien, erhielt seinen erstenMusikunterricht im Kollegium dei padri delle scuole zu Capod'Istria, begab sich 1710 nach Padua, um Jurisprudenz zu studieren,mußte eines Liebeshandels wegen von da fliehen und fand imMinoritenkloster zu Assisi Aufnahme, wo er sich mit Eifer demViolinspiel und zugleich dem theoretischen Studium der Tonkunstwidmete. Später lebte er mehrere Jahre in Ancona undvervollkommte sich, angeregt durch den berühmtesten Geigerjener Zeit, Veracini, den er auf der Durchreise in Venediggehört, mehr und mehr auf der Violine; 1721 wurde er bei derKirche Sant'Antonio zu Padua als Solospieler angestellt und zweiJahre später nach Prag berufen, um bei den Festlichkeitengelegentlich der Krönung des Kaisers Karl VI. mitzuwirken.Nachdem er hierauf noch drei Jahre im Dienste des kunstsinnigenGrafen Kinsky zugebracht hatte, kehrte er nach Padua zurückund begründete hier 1728 seine berühmte Geigerschule, ausder viele treffliche Künstler hervorgingen. Er starb 16. Febr.1770. Von seinen zahlreichen, durch edlen Gedankengehalt, Schwungund Korrektheit sich auszeichnenden Violinkompositionen erschienenneun Sammlungen; neuerdings wurden von David, Alard u. a. einzelneseiner Werke mit Klavierbegleitung herausgegeben. Die von T.hinsichtlich der Bogenführung aufgestellten Prinzipien geltennoch gegenwärtig in den Violinschulen italienischer undfranzösischer Meister. Als Theoretiker ist er besonders durchseine Schrift "Trattato di musica secondo la vera scienzadell'armonia" (Padua 1754) berühmt geworden, in welcher er dasvon ihm erdachte, auf den sogen. Kombinationston (s. d.)begründete Harmoniesystem zur Darstellung bringt.

Tartinischer Ton, s. v. w. Kombinationston (s. d.). Vgl.Schall, S. 398.

Tartlau, Markt im ungar. Komitat Kronstadt(Siebenbürgen), bei Kronstadt, mit sehenswerter Kirche, (1881)3233 deutschen und ruman. Einwohnern und Fischzuchtanstalt.

Tartrate (Tartarate), s. v.w. Weinsäuresalze, z.B.Kaliumtartrat, weinsaures Kali.

Tartsche, seit dem 13. Jahrh. viereckiger Schild,namentlich bei Turnieren gebräuchlich, zum Einlegen der Lanzemit Ausschnitt versehen und an den Brustharnisch angeschraubt (s.Schild, mit Abbildung); im 15. Jahrh. kleiner Faustschild derReiter.

Tartsenflechte, s. v. w. Isländisches Moos, s.Centraria.

Tartuffe (Tartüff), Name der Hauptperson inMolières gleichnamigen Lustspiel; danach verallgemeinert s.v. w. scheinheiliger Schurke; Tartüfferie, Scheinheiligkeit,Heuchelei. "Lady T." , Titel eines Lustspiels von Mad. de Girardin(1853).

Tartulin, esthn. Name von Dorpat (s. d.).

Tarudant, Hauptstadt der marokkan. Provinz Sûs, amSüdfuß des Atlas, 52 km östlich vom AtlantischenOzean, rechts am Wadi Sûs, ist dem Umfang nachgrößer als Fes; der Raum innerhalb seiner mitTürmen versehenen Umfassungsmauer wird aber meist vonGärten und Olivenhainen eingenommen; im Ost-

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Tarumares - Taschenspieler.

teil erhebt sich die starke Kasbah. DieStadt selbst hat engeStraßen, niedrige Häuser und nur 8300 meist maur.Einwohner, deren Hauptgewerbe die Anfertigung kupfernerGefäße aus unpoliertem englischen Metall ist zur Ausfuhrnach Kuka, Kano, Timbuktu.

Tarumares, Indianerstamm, s. Chihuahua.

Tarussa, Kreisstadt im russ. Gouvernement Kaluga, an derOka, mit Fabriken und (1886) 2561 Einw.

Tarutino, 1) Dorf im russ. Gouvernement Kaluga, 32 km vonBorowsk, bekannt durch den am 18. Okt. 1812 errungenen Sieg derRussen unter Kutusow über die Franzosen, an den ein Denkmalerinnert. - 2) Deutsche Kolonie in Bessarabien, Kreis Akjerman,Verwaltungszentrum sämtlicher deutscher Ansiedelungen derProvinz, mit (1882) 3642 Einw.

Tarvis, Marktflecken im österreich. HerzogtumKärnten, Bezirkshauptmannschaft Villach, Hauptort desKanalthals, an der Staatsbahnlinie St. Valentin-Pontafel, vonwelcher hier die Linie T.-Laibach abzweigt, mit Bezirksgericht,schöner Kirche, Zementfabrik und (1880) 1506 Einw. T. istwegen seiner herrlichen Lage beliebte Sommerfrische undTouristenstandort. In der Nähe der Luschariberg (1721 m) mitWallfahrtskirche, das Dorf Raibl mit ärarischem Bleibergwerkund der Paß Predil.

Tasa (Teju, Stadt in Marokko, östlich von Fes, mit3500 Einw., ein strategisch sehr wichtiger Platz mit einer kleinenmarokkanischen Garnison, die aber aus der doppelten Umwallung sichkaum herauswagt aus Furcht vor dem räuberischen Stamm derRiati, welcher in Wirklichkeit Herr der ganzen Gegend ist.

Tasbusen, östliche Abzweigung des ObischenMeerbusens, in dessen westlichen Arm der Pur, in dessenöstlichen der Tas mündet. Zwischen letzterm und demJenissei breitet sich die Tastundra aus.

Tasch ("Stein"), im Mittelalter die türkischeMeile.

Täschelkraut, s. Capsella.

Taschen, Mißbildungen an Pflaumenbäumen, s.Exoascus.

Taschenberg, Ernst Ludwig, Entomolog, geb. 10. Jan. 1818zu Naumburg a. S., studierte seit 1837 in Leipzig und BerlinMathematik und Naturwissenschaft, ging dann als Hilfslehrer an dieFranckeschen Stiftungen nach Halle und widmete sich beim Ordnen derbedeutenden Käfersammlung des Professors Germar und bei derBeschäftigung mit der Insektensammlung des zoologischenMuseums speziell der Entomologie. Er fungierte dann als Lehrer zweiJahre in Seesen und fünf Jahre zu Zahna und folgte 1856 einemRuf als Inspektor am zoologischen Museum in Halle, 1871 wurde erzum außerordentlichen Professor ernannt. TaschenbergsThätigkeit gipfelte in der Erforschung der praktischenBedeutung der Insektenwelt für den Landwirt, Gärtner undForstmann. Er schrieb: "Was da kriecht und fliegt, Bilder aus demInsektenleben" (Berl. 1861, 2. Aufl. 1878); "Naturgeschichte derwirbellosen Tiere, die in Deutschland den Feld-, Wiesen- undWeidekulturpflanzen schädlich werden" (Leipz. 1865); "DieHymenopteren Deutschlands" (das. 1866); "Entomologie fürGärtner und Gartenfreunde" (das. 1871); "Schutz derObstbäume und deren Früchte gegen feindliche Tiere" (2.Aufl., Stuttg. 1879); "Forstwirtschaftliche Insektenkunde (Leipz.1873); "Das Ungeziefer der landwirtschaftlichenKulturgewächse" (das. 1873); "Praktische Insektenkunde" (Brem.1879-80, 5 Tle.); "Die Insekten nach ihrem Nutzen und Schaden"(Leipz. 1882); auch bearbeitete er die Insekten für Brehms"Tierleben (2. Aufl. 1877) und lieferte einige Wand.-tafelnfür den Schulgebrauch. - Sein Sohn Otto, geb. 28. März1854, außerordentlicher Professor an der UniversitätHalle, schrieb: "Die Flöhe" (Halle 1880); "Die Mallophagen"(das. 1882), "Die Lehre von der Urzeugung" (das. 1882), "DieVerwandlungen der Tiere" (Leipz. 1882), "Bilder aus dem Tierleben"(das. 1885) und bearbeitete eine neue Folge der "Bibliothecazoologica, 1861-80" (das. 1886 ff.) u. a.

Taschenbücher, jährlich erscheinendeBücher in kleinem Format, welche früher einen Kalender,genealogische Nachrichten und allerlei gemeinnützigeMitteilungen enthielten, nach und nach aber immer mehrbelletristischen, besonders novellistischen, Inhalt aufnahmen undsich endlich mit wenigen Ausnahmen auf letztern alleinbeschränkten, als charakteristisches Merkmal aber fastsämtlich eine Zugabe an Kupferstichen (von Chodowiecki zuerstaufgebracht) enthielten. Erwähnung verdienen namentlich dasViewegsche "Taschenbuch" (Berl. 1798-1803), in welchem 1798 Goethes"Hermann und Dorothea" erschien; das "Taschenbuch der Liebe undFreundschaft" (Frankf. 1801-41); die "Urania" (Leipz. 1810-38, neueFolge 1839-48) u. das "Frauentaschenbuch" (Nürnb. 1815-3l).Späterhin fing man auch an, für die ernsternWissenschaften jährliche T. herauszugeben; hierhergehören besonders Fr. v. Raumers "Historisches Taschenbuch"(1830 gegründet, seit 1881 hrsg. von Maurenbrecher), Prutz'"Literarhistorisches Taschenbuch" (1843-48) u. a. Auch gibt es T.für Botaniker, Jäger, für das Bühnenwesenetc.

Taschengeige, s. Quartgeige.

Taschenkrebs, s. Krabben.

Taschenpfeffer, s. Capsicum.

Taschenspieler, Personen, welche verschiedenartige, aufden ersten Anblick an das Wunderbare grenzende Kunststückeverrichten. Letztere beruhen auf einer Täuschung desZuschauers, die der Künstler hauptsächlich durchgroße Gewandtheit in seinen Körperbewegungen, namentlichFingerfertigkeit, durch Ablenken der Aufmerksamkeit des Zuschauersauf Nebendinge vermittelst eines möglichst gewandten Vortrags,durch Einverständnis mit einigen Gehilfen und Zuschauern,durch geschickte Benutzung der Chemie und Experimentalphysik,endlich durch allerhand mechanische Vorrichtungen, Apparate mitDoppelböden, durchlöcherte Tische und Fußbödenetc. bewirkt. Früher pflegten derartige Künstler alle zuihren Stücken nötigen Vorbereitungen in einergroßen Tasche (Gaukeltasche) mit sich herumzutragen (daherder Name T.). Bei allen gesitteten Völkern finden wir dieseKunst zur Unterhaltung geübt, vor allen andern berühmtsind die T. Indiens und Chinas. Auch im alten Griechenland und Romwaren T. früh beliebt; ebenso finden wir sie in Italien, wosie unter dem Namen Praestigiatores, Pilarii (Ballspieler) oderSaccularii (Taschenkünstler) in Städten und Dörfernumherzogen. Im Mittelalter waren die umherreisenden Spielleute dieauf den einsamen Burgen allezeit willkommenen Vertreter der"heitern Kunst" (gaya scienza) zugleich Sänger, Musiker, T.und Spaßmacher (joculatores), weshalb dieser Name in denAbleitungsformen Gaukler und Jongleur ihnen verblieben ist. Siegerieten früher leicht in den Ruf, Zauberer zu sein; derberühmte Doktor Faust war einer der geschicktesten dieserZunft. In der letzten Hälfte des vorigen Jahrhundertszeichneten sich Pinetti, Eckartshausen und vor allen Philadelphia,in neuerer Zeit Bosco, Professor Döbler, Becker, Frickell,Robert-Houdin, Bellachini, Basch, Hermann als geschickte T. aus.Eine Menge der ältern Taschenspielerkünste findet man in:Martius, Unterricht in der

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Taschentücher - Tasmania.

natürlichen Magie, umgearbeitet von Wiegleb, fortgesetztvon Rosenthal (Berl. 1786-1805, 20 Bde.). Über die durch dieheutige Physik und Chemie sehr erweiterten Hilfsmittel der modernenTaschenspielerei vgl. die Werke von Robert-Houdin: Contidences d'unprestidigitateur (2. Aufl., Par. 1861, 2 Bde.), Comment on devientsorcier (neue Ausg., das. 1877) und Magie et physique amusante(das. 1877); ferner Grandpré, Le magicien moderne (das.1879); Marian, Das Ganze der Salonmagie (Wien 1888).

Taschentücher (Schnupftücher) waren noch im 16.Jahrh. Luxusartikel, welche zuerst in Italien (s. Facilletlein)aufkamen und sich von da nach Frankreich, England und demübrigen Europa, zunächst nur zum Gebrauch der Damen,verbreiteten. Schon damals wurden sie mit Spitzen und Stickereiengeschmückt und parfümiert (mouchoir de Venus). Auch imOrient waren sie anfangs nur ein Vorrecht der Fürsten undhöhern Würdenträger, welche T. im Gürteltrugen. Das Zuwerfen von Taschentüchern, besonders an Frauen,war eine Gunstbezeigung und wird heute noch in der Türkei indiesem Sinn geübt.

Taschi Lhunpo, Klosterftadt im südlichen Tibet,südwestlich bei Digardschi (s. d.), an einer Bergwand erbautund aus 300-400 Häusern bestehend, in denen 3300 Priester mitBeamten und einem geringen weltlichen Gefolge wohnen. T. istResidenz des Pantschen Rinpotsche ("Kleinod des großenGelehrten"), gewissermaßen des zweiten Papstes der BuddhistenInnerasiens, der als eine Verkörperung des Gottes Amitabhagilt, außerordentliches Ansehen genießt und imsüdlichen Teil Tibets Regierungsrechte ausübt. T. hateine berühmte Holzdruckerei und Fabrikation vonGottesbildern.

Taschkent (Taschkund), Hauptstadt des russ.Generalgouvernements Turkistan im westlichen Zentralasien,nördlich vom Tschirtschik, einem Zufluß des Jaxartes,besteht aus einer umfangreichen ummauerten Altstadt von ovaler Formund einem europäischen Viertel mit geraden Straßen, zuderen beiden Selten sich Kanäle mit fließendem Wasserund Baumreihen hinziehen. Die russische Citadelle mit ihrenmilitarischen Etablissem*nts liegt südlich von der Altstadt.Die Stadt lst Mittelpunkt der russischen Zivil- undMilitärverwaltung Turkistans, hat zahlreicheMilitärwerkstätten und Arsenale, russische Unter- undMittelschulen, ein gutes astronomisches Observatorium, einerussische Zeitung und Bibliothek von 10,000 Bänden, eineGeographische Gesellschaft, eine kirgisische Zeitung,Karawanseraien und lebhaften, sich bereits auf 20 Mill. Rub.belaufenden Handel mit Rußland und Innerasien. Seit 1873 istT. auch mit der europäischen Telegraphenlinie verbunden. DieEinwohner, ca. 100,000 (80,000 Sarten, 1500 Russen, 120 Deutscheetc.), fabrizieren Seiden-, Leder- und Filzwaren und grobesPorzellan, treiben aber meist Handel. Die Stadt, früherHauptstadt eines selbständigen Chanats, fiel 1810 vor denAngriffen Chokands und wurde 1865 von den Russen erobert.

Taschkurgan, Stadt, s. Chulm.

Taschlich (hebr., auch "T. machen"), Bezeichnung einesaltjüd. Gebrauchs, der darin besteht, daß Israeliten amersten Nachmittag des Neujahrsfestes an einen Fische enthaltendenBach sich stellen und ein Gebet um Vergebung der Sündensprechen.

Täschner, ehemals zünftige Handwerker, dieallerlei Lederarbeiten verfertigen, Koffer und Stühle mitLeder überziehen; meist mit den Beutlern verbunden.

Tasco de Alarcon, alte Bergstadt im mexikan. StaatGuerrero, 1773 m ü. M., mit prächtiger Pfarrkirche (vonJ. de la Borda, einen. reichen Grubenbesitzer, im vorigenJahrhundert erbaut), Gold- und Silbergruben und (1880) 12,395 Einw.im Munizipium. Die schon von den alten Mexikanern angelegtenZinngruben sind jetzt aufgegeben.

Tasen, Volk, s. Orotschen.

Tasimeter (griech., Mikrotasimeter, "Dehnungsmesser"),ein von Edison angegebenes, äußerst empfindliches, aufdie vom Mikrophon her bekannte Änderung des galvanischenWiderstandes der Kohle durch Änderung des Druckesgegründetes Instrument, mit welchem sich die Ausdehnung derKörper durch Wärme, Feuchtigkeit etc. nachweisenläßt. Auf einer starken eisernen Fußplatte erhebensich, 10 cm voneinander entfernt, zwei kurze, dicke, mit der Plattein einem Stück gegossene Zapfen, zwischen welche der auf seineAusdehnung zu prüfende stabförmige und an seinen Endenzugespitzte Körper in horizontale Lage gebracht wird. Das eineEnde des Stäbchens wird aufgenommen von der Höhlung einerSchraube, welche durch den einen Zapfen hindurchgeht. An den andernZapfen ist eine vertikal stehende Platinplatte angeschraubt, welchezugleich eine cylindrisch ausgehöhlte Scheibe vonHartkautschuk festhält. Gegen die Platinplatte legt sich einePlatte von Kohle, auf die folgt ein Platinblech, gegen welches eineMessingplatte drückt, die mit einer Höhlung zur Aufnahmedes andern Endes des Stäbchens versehen ist. Der zweite Zapfeneinerseits und das Platinblech anderseits sind mit den Drähteneiner Leitung verbunden, in welche ein galvanisches Element und einGalvanometer eingeschaltet sind. Dehnt sich nun das Stäbchenaus und preßt das Platinblech stärker gegen dieKohlenplatte, so wird der Widerstand vermindert, und dasGalvanometer gibt einen größern Ausschlag. DieAusdehnung eines Stäbchens von Hartkautschuk durch dieWärme der mehrere Zoll entfernt gehaltenen Hand verursachteine Ablenkung der Galvanometernadel von mehreren Graden; selbstein Glimmerstreifen wird durch die Wärme der Hand nochmerklich affiziert. Ein Stäbchen von Gelatine wird durch denWasserdampf eines 7-8 cm entfernten feuchten Stückes Papiersofort ausgedehnt. Das Instrument eignet sich sonach zu feinenthermometrischen und hygrometrischen Beobachtungen.

Tasman, Abel Jansz, holländ. Seefahrer, fuhr imAuftrag van Diemens, des Gouverneurs von Batavia, 1642 mit zweiSchiffen über Mauritius im südlichen Bogen um Australienherum, entdeckte dabei Tasmania, ohne es als Doppelinsel zuerkennen, und kehrte durch die Gruppe der Freundschafts- und derFidschiinseln hindurch über Neubritannien nach Bataviazurück. Auf einer zweiten Fahrt 1644 nahm er die Ost- undWestküste des Carpentariagolfs auf, doch blieb ihm dieTorresstraße auch diesmal unbekannt. Durch ihn wurde dieAnsicht, daß Australien sich sehr weit nach S. hin erstrecke,ein für allemal beseitigt. Sei nGeburts- u. Todesjahr sindnicht bekannt.

Tasmania (früher Vandiemensland), große brit.Insel an der Südostspitze des Australkontinents (s. Karte"Australien") und von diesem durch die Baßstraßegetrennt. Sie hat die Form eines unregelmäßigen Dreiecksund ein Areal von 64,644 qkm (1174 QM.), wozu noch eine Anzahl vonNebeninseln kommen mit einem Areal von 4122 qkm (74,9 QM.). Von denletztern sind bedeutender: am Ostende der Baßstraße dieFurneauxgruppe mit der Flindersinsel, Kap Barren-, Clarke- undChappellinsel nebst der Kentgruppe, alle von Seehunds- undAlkenfängern (zum Teil Mischlingen) bewohnt; am Westende:

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Tasmanische Sprachen - Tassilokelch.

Kingsinsel, Robbinsinsel und die Hunterinseln. Andregrößere Inseln sind: Waterhouse-, Swan-, Scouten-,Maria-, Bruni- und Huoninsel. Die Westküste von T. ist steilund felsig und hat nur drei gute Häfen: Port Davy, Pieman'sRiver und Macquarie Harbour. Häfen der Nordküste sindStanley bei Circular Head, Emubai, Port Frederick an derMerseymündung, Port Dalrymple an der Mündung des Tamarund Waterhouse Roads zwischen der Anderson- und der Ringaroomabai;an der Östküste: Georges-, Oyster-, Spring- undFortescuebai. Die Süd- u. Südostküste hat zahlreichesichere Baien und Häfen: Port Arthur, Storm- und Norfolkbai,d'Entrecasteauxkanal, Port Esperance, Southport und Recherchebai.Die Hauptinsel ist von zwei durch eine zentrale Senkunggeschiedenen Gebirgsketten durchzogen. In der östlichenerreicht Ben Lomond 1527 m; in der westlichen, welche aus einemdurchschnittlich 1000 m hohen Tafelland besteht, erhebt sich derhöchste Berg der Insel, Cradle Mountain, zu 1689 m. ZahlreicheAusläufer gehen nach allen Richtungen, nur nicht nach O., aus.Hier befinden sich auch alle große Seen der Kolonie: derGroße See, St. Clairsee, Arthurs- und Echosee. Aus ihnenkommen die meisten Flüsse: Derwent, Huon, Tamar (entstandenaus Nord- und Süd-Esk), Ringarooma. Das Klima ist nicht sotrocken wie das des Festlandes, die Niederschläge sindregelmäßiger, das Thermometer steigt nicht über26° C. und sinkt nicht unter -5° C. Tier- und Pflanzenweltsind wie die des Festlandes. - Die Einwohner (1887: 142,478 Seelen)sind fast durchweg Briten oder britischer Abstammung; Deutschezählte man 1881 nur 782. Die Religion ist vorwiegend dieprotestantische. Hauptnahrungszweige sind Ackerbau und Viehzucht.Man baut hauptsächlich Weizen, Hafer, Gerste, Kartoffeln. Sehrreich ist die Insel an Obst, das teils frisch (namentlich nachNeusüdwales und Victoria), teils als Mus ausgeführt wird.Der Viehstand der Kolonie war 1887: 29,528 Pferde, 147,092 Rinder,1,547,242 Schafe, 52,408 Schweine. An Mineralien ist T. reich;ausgebeutet werden namentlich Zinn, Gold, Wismut, Kohle; auchKupfer und Blei werden gefunden. Der Handel führteuropäische Fabrikate und Manufakte ein und führte 1887aus: Wolle für 415,425, Zinn für 407,857 Pfd. Sterl.,ferner Obst, Hopfen, Kartoffeln, Gerberrinde, Holz. Die Einfuhrbetrug 1,596,817, die Ausfuhr 1,449,371 Pfd. Sterl. Die Eisenbahnenhatten 1887 eine Länge von 508 km, die Telegraphenlinien 2301km. Die Handelsflotte der Kolonie zählte 177 Segelschiffe von13,341 Ton. und 26 Dampfer von 4601 T., die Zahl der Walfängerhat mit den Walen sehr abgenommen. Der Tonnengehalt aller ein- undausgelaufenen Schiffe war 735,299. Das Unterrichtswesen ist ingeordnetem Zustand; Schulzwang ist eingeführt, und vierhöhere Schulen sind errichtet. Die Royal Society of T. inHobart verfolgt allgemein wissenschaftliche Zwecke. Die Kolonie istin 18 Grafschaften geteilt, außerdem in besondereWahldistrikte. Nach der Verfassung steht an der Spitze derVerwaltung ein von der Königin von England ernannterGouverneur mit verantwortlichen Ministern, Oberhaus und Unterhaus.Die Staatseinnahmen betrugen 1887: 594,976, die Ausgaben 668,759,die Staatsschuld 4,109,370 Pfd. Sterl. Hauptstadt ist Hobart.

Die Insel wurde 24. Nov. 1642 von dem holländischenSeefahrer Tasman entdeckt und zu Ehren seines Auftraggebers, desindischen Generalgouverneurs Anton van Diemen, Vandiemenslandgenannt, ein Name, der 1856 in den jetzigen umgeändert wurde.Die Insel blieb unbesucht, bis 1772 der Franzose Marion in derFrederick Hendrick-Bai landete. Fourneaux entdeckte 1773 dieAdventurebai, welche 1777 auch von Cook berührt wurde. Blighsah T. 1788 und 1792. d'Entrecasteaux, der Laperouse aufsuchensollte, segelte in die Mündungen des Derwent und Huon undbenannte mehrere Punkte. Kapitän Hayes untersuchte T. 1794noch weiter. Baß bewies 1798 die Inselnatur Tasmanias. DieKolonisation der Insel begann 1803 mit der Anlage einerVerbrecherkolonie am Derwent, die aber schon 1804 nach Hobartverlegt wurde. T. war nur eine Dependenz von Neusüdwales,erhielt aber 1824 auf Ansuchen der Kolonisten eigne Verwaltung, und1853 hörte die Deportation [corr!] auf. Die Eingebornen (s.Tafel "Ozeanische Völker [corr!]", Fig. 4), welche manvorfand, waren den Australnegern ganz nahe verwandt, sie wurdenaber teils in vielfachen Kämpfen ausgerottet, teils starbensie infolge ihrer gewaltsamen Versetzung auf die Flindersinseln bisauf wenige, welche man nach Hobart zurückführte. Dieletzte ihres Stammes, Trucamini oder Lalla Rookh, starb 1876 inLondon. Vgl. Trollope, Victoria and T. (Lond. 1874); Jung, DerWeltteil Australien, Bd. 2 (Leipz. l882); Fenton, History of T.(Lond. 1884); Bonwick, The lost Tasmanian race (das. 1884).

Tasmanische Sprachen, s. Australische Sprachen.

Tasnád (spr. táschnahd. Trestenberg), Marktim ungar. Komitat Szilágy, mit (1881) 3375 ungar.Einwohnern, vorzüglichem Weinbau und Bezirksgericht.

Tassaert (spr. -ssart), Antoine, niederländ.Bildhauer, geboren um 1729 zu Antwerpen, wo er seine Ausbildungerhielt, ging dann nach England und Paris, wo er sich durch eineStatue Ludwigs XV. bekannt machte. Der Prinz Heinrich vonPreußen beauftragte ihn, mehrere Statuen und Gruppen fürsein Palais in Berlin auszuführen, wohin er um 1770übersiedelte. Er entfaltete dort eine rege Thätigkeit,wurde Rektor der Kunstakademie und starb 1788. Er schuf unteranderm die Statuen der Generale v. Seydlitz und Keith auf demWilhelmsplatz in Berlin (später entfernt) und die BüstenFriedrichs II. und M. Mendelssohns.

Tasse, s. v. w. Banse, s. Scheune.

Tassenrot, s. Safflor.

Tassilo, Herzog von Bayern, aus dem Geschlecht derAgilolfinger, mußte 757 die Oberlehnshoheit seines Oheims,des fränkischen Königs Pippin, anerkennen, suchte sichaber unter Karl d. Gr. seiner Lehnspflicht zu entziehen, trat zudiesem Zweck mit seinem Schwager, dem Langobarden Adalgis, und denAvaren in geheime Verbindung, wurde zwar 787 mit Waffengewalt zurUnterwerfung gezwungen, erneuerte indes die Verschwörung,wurde deshalb 788 auf dem Reichstag zu Ingelheim zum Todverurteilt, aber begnadigt und in das Kloster Jumièges beiRouen eingeschlossen, wo er, nachdem er 794 nochmals feierlich demHerzogtum Bayern entsagt, starb. Mit ihm erlosch das Geschlecht derAgilolfinger.

Tassilokelch, ein im Stift Kremsmünster aufbewahrterKelch, welcher um 780 von dem bayrischen Herzog Tassilo und seinerGemahlin Luitperga geschenkt wurde und der älteste unter denerhaltenen ist, der eine Inschrift trägt. Er ist 9½ cmhoch, aus Kupfer gegoffen und vergoldet und an der Kuppe mit den inaufgeschweißtes Silber gravierten Brustbildern Christi undder vier Evangelisten, am Fuß mit den Brustbildern vonPropheten geschmückt Die Inschrift am Fuß lautet:"TASSILO DVX FORTIS LIVTPIRC VIRGO REGALIS".

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Tasso (Bernardo und Torquato).

Tasso, 1) Bernardo, ital. Dichter, geb. 1493 zu Bergamo,studierte in Padua und bekleidete dann verschiedene Stellen in Rom,Ferrara und Venedig, wo er sich auch bereits als Dichter einenNamen machte. 1531 trat er als Geheimschreiber in die Dienste desFürsten Ferrante Sanseverino von Salerno, begleitete denselbenauf Karls V. Zug nach Tunis, ging dann in Geschäften desFürsten nach Spanien, heiratete nach seiner Rückkehr nachSalerno 1539 die geistvolle Porzia de' Rossi und lebte mit ihr inZurückgezogenheit zu Sorrento bis 1547. Dann mit demFürsten von Salerno in die Ungnade des Kaisers gefallen, hielter sich an verschiedenen Orten auf und kam 1556, von allementblößt, nach Ravenna, von wo ihn der Herzog von Urbinonach Pesaro berief. 1563 ward er erster Sekretär des HerzogsWilhelm von Mantua; er starb 1569 als Gouverneur von Ostiglia. SeinHauptwerk ist das romantische Epos "L'amadigi di Francia" in 100Gesängen (Vened. 1560 u. öfter; am besten, Berg. 1755, 4Bde.), dessen Stoff größtenteils dem spanischen Romanvom Amadis entnommen ist. Außerdem verarbeitete er eineeinzelne Episode daraus zu einem besondern Gedicht: "Floridante",von welchem er aber nur 19 Gesänge vollendete. Von seinem Sohnwurde es vollendet und herausgegeben (Bologna 1587). Noch sindseine zum Teil sehr schätzbaren lyrischen Poesien, welchezuerst als "Amori" (Vened. 1555; vermehrt, das. 1560), dann als"Rime" (Berg. 1749, 2 Bde.) erschienen, und die Sammlung seiner"Lettere" (am vollständigsten, Padua 1733-51, 3 Bde.) zuerwähnen.

2) Torquato, Sohn des vorigen, sowohl durch seinen Dichterruhmals seine Schicksale bekannter geworden als der Vater, geb. 11.März 1544 zu Sorrento, wurde in Neapel, Rom und Pesaro (hiergemeinschaftlich mit dem Sohn des Herzogs von Urbino) erzogen,begann mit dem 13. Jahr zu Padua das Studium der Rechte undveröffentlichte vier Jahre später ein episches Gedicht:"Rinaldo" (Vened. 1562). Da dasselbe Beifall fand, so gab er dasStudium der Jurisprudenz auf, widmete sich zu Bologna, späterzu Padua philosophischen und litterarischen Studien und begannzugleich, den schon früher gemachten Entwurf zu einem epischenGedicht von der Befreiung Jerusalems auszuführen. 1565 beriefihn der Kardinal Lodovico von Este, dem er seinen "Rinaldo"gewidmet hatte, nach Ferrara und ernannte ihn zum Hofkavalier miteinem ansehnlichen Jahrgehalt. Der Dichter ward mit großerAchtung ausgenommen; namentlich schenkten ihm die Schwestern desHerzogs Alfons, Lucrezia, die nachmalige Herzogin von Urbino, undLeonore, ihre Gunst. 1571 reiste T. nach Vollendung der ersten achtGesänge seines Epos mit dem Kardinal nach Frankreich, wo er amHof Karls IX. die huldvollste Aufnahme fand, kehrte aber aus nichtsicher bekannten Gründen schon nach einem Jahr nach Ferrarazurück und trat durch Vermittelung der Prinzessin Leonore indie Dienste des Herzogs Alfons, der ihn mit großerZuvorkommenheit behandelte und ihm volle Muße zu seinenpoetischen Arbeiten gewährte. T. verfaßte zunächstdas Schäferspiel "Aminta", welches sofort in Szene gesetztward, vollendete darauf, nachdem er mehrere Monate zu CastelDurante bei seiner Gönnerin, der Herzogin von Urbino, verweilthatte, im Frühling 1575 sein großes Epos unter demTitel: "Goffredo" und begab sich im November d. J. nach Rom, um esdort nochmals einer gründlichen Prüfung zu unterwerfen.In Rom wurde er dem Kardinal Ferdinand von Medici, nachmaligemGroßherzog von Toscana, vorgestellt und von diesemaufgefordert, in seine Dienste zu treten, was T. jedoch ausRücksichten der Dankbarkeit gegen das Haus Este ablehnte. Vonjetzt an beginnt die Zeit seiner Leiden, deren eigentlicheVeranlassung noch nicht mit voller Sicherheit ermittelt ist, aberwohl zum Teil in den Intrigen seiner Neider und Feinde, namentlichdes Staatssekretärs Antonio Montecatino, zum Teil auch inseiner eignen geistigen Organisation zu suchen sein dürfte.Bald nach seiner Rückkehr nach Ferrara, wo ihm der Herzog daseben erledigte Amt eines Historiographen verlieh, bemächtigtesich die finsterste Melancholie des Dichters. In dieserGemütsverfassung zog er 15^7 eines Abends in den Zimmern derHerzogin von Urbino den Degen gegen einen ihrer Diener, worauf derHerzog ihn auf kurze Zeit verhaften ließ. Nachdem T. danachauf einen empfindlichen Brief an den Herzog die Weisung erhalten,weder an diesen noch an die Herzogin ferner zu schreiben, entfloher 20. Juli 1577 mit Zurücklassung seiner Papiere und begabsich auf Umwegen nach Sorrento zu seiner Schwester Cornelia, welchedaselbst als Witwe lebte. Unter der liebevollen Pflege derselbenerholte er sich einigermaßen, aber die Sehnsucht nach Ferraraließ ihm keine Ruhe. Er begab sich nach Rom und erwirkte sichdurch Vermittelung des Geschäftsträgers des Herzogs dieErlaubnis zur Rückkehr. Er wurde zwar wohlwollend aufgenommen;allein die Herausgabe seiner Manuskripte verweigerte ihm Alfons, daer ihn noch immer als einen Gemütskranken betrachtete, indessen Händen sie vielleicht vor Vernichtung nicht sicherwären. Zum zweitenmal floh daher T. aus Ferrara und wandtesich zum Herzog von Urbino und dann nach Turin (1578). Hier fand erbeim Herzog Karl Emanuel wie bei Filippo d'Este wohlwollendeAufnahme und schrieb außer verschiedenen andern Produktionenin Poesie und Prosa die zwei "Dialoghi della nobilità edella dignità". Nochmals entschloß er sich zurRückkehr nach Ferrara, erhielt auch abermals die Erlaubnisdazu (1579), sah sich jedoch in der Hoffnung, die frühereGunst des Herzogs wiederzuerlangen, getäuscht; von demFürsten nicht vorgelassen und von den Hofleuten verachtet,ergoß er sich in lauten Schmähungen gegen Fürstenund Hof. Als dies dem Herzog hinterbracht wurde, ließ er ihn(März 1579) als einen Rasenden in das St. Annenhospital, dasIrrenhaus von Ferrara, bringen. Unerwiesen ist die Behauptung,daß T. sich des Herzogs Zorn durch seine leidenschaftlicheLiebe zur Prinzessin Leonore, der er einmal in Gegenwart des Hofseinen Kuß geraubt, zugezogen habe. Daß T. wirklich,wenn auch mit Unterbrechungen, wahnsinnig war, wurde nur vonwenigen seiner Zeitgenossen bezweifelt. Im St. Annenhospitalverlebte er zuerst zwei Jahre in engem Gewahrsam in einem Zustandzwischen Gesund- und Kranksein. Oft hatte er ruhige Augenblicke, indenen er sich auf das schönste bald in Versen, bald inphilosophischen Betrachtungen aussprach; in diese Periodegehören mehrere der besten seiner "Dialoghi". Am meistenKummer machte ihm die Nachricht, daß sein Gedicht inhöchst verstümmelter Gestalt zu Venedig erschienen seiunter dem Titel: "La Gerusalemme liberata". Nach Ablauf jener zweiJahre erhielt er eine bessere Wohnung, durfte Besuche empfangen undvon Zeit zu Zeit ausgehen. Aber vergeblich bot er allesmögliche auf, seine Freiheit wiederzuerhalten; erst als sichsein Zustand mehr und mehr verschlimmerte, ließ der Herzog1586 den Dichter nach mehr als siebenjähriger Gefangenschaftfrei. T. begab sich zuerst nach Man-

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Tasso - Tassoni.

tua, dann nach Bergamo, wo er den "Floridante" seines Vaters undsein bereits in Ferrara begonnenes Trauerspiel "Torrismondo"vollendete, und 1587 nach Rom, wo er zwar sowohl beim Papst als beiden einflußreichsten Personen wohlwollende Aufnahme fand,allein ohne daß irgend etwas Wesentliches zu seinen gunstengeschah. Vergeblich reklamierte er 1588 in Neapel die Mitgiftseiner Mutter und sein väterliches Vermögen, welcheseingezogen worden war, und wechselte in den nächsten Jahren,nirgends Ruhe findend, mehrmals den Aufenthalt. Trotz diesesherumschweifenden Lebens entstanden in dieser Zeit mehrere seinerWerke. So arbeitete er die "Gerusalemme liberata" in eine"Gerusalemme conquistata" um und schrieb seine "Sette giorni delmondo creato". Inzwischen hatte Ippolito Aldobrandini, sein alterGönner, unter dem Namen Clemens VIII. den päpstlichenThron bestiegen, und sein Neffe, der Kardinal Cinzio Aldobrandini,ein Freund von Kunst und Wissenschaft, versammelte dieausgezeichnetsten Männer Italiens um sich. Auch T. wurde vonihm nach Rom berufen und hatte sich hier von seiten des Papstes undseines Verwandten der glänzendsten Aufnahme zu erfreuen.Intrigen vertrieben ihn jedoch bald wieder von da, und erst als derKardinal Cinzio Aldobrandini, der T. in Rom zu fesselnwünschte, seinem Oheim vorschlug, T. in feierlicher Weise aufdem Kapitol zum Dichter zu krönen, kehrte dieser zurück.Aber bald darauf fiel er in ein hitziges Fieber und starb imKloster Sant' Onofrio auf dem Janiculus, wohin er sich hattebringen lassen, 25. April 1595, wie es heißt, am Tag vor demzu seiner Dichterkrönung festgesetzten. Er ward in der Kirchedes genannten Klosters bestattet. Der Kardinal Bevilacqua vonFerrara ließ ihm ein Denkmal setzen; ein andres wurde inneuerer Zeit über seinem Grab errichtet. Auch in Sorrent,Bergamo, Neapel (von Solari) etc. hat man dem Dichter Statuenerrichtet.

T. gehört zu den fruchtbarsten italienischenSchriftstellern, und unter seinen poetischen Werken sind fast alleGattungen der Dichtkunst vertreten. Sein Hauptruhm abergründet sich auf sein Epos "La Gerusalemme liberata", welchesmit Recht zu den Meisterwerken seiner Gattung gerechnet wird,sowohl wegen der edlen, würdevollen Behandlung des Stoffes,der vortrefflichen Charakteristik der Hauptpersonen und derschönen Abrundung des Ganzen als auch wegen der edlen, echtpoetischen Diktion und der musikalischen Schönheit derVersifikation. Insbesondere sind die geschickt eingewebten Episodenvon großer Schönheit und machen einen Hauptreiz desGedichts aus. Zu tadeln ist dagegen der von geschraubten Antithesenund zugespitzten Wortspielen nicht immer freie Ausdruck. SeineUmarbeitung des Gedichts in eine "Gerusalemme conquistata", beiwelcher T. den Ausstellungen der Crusca Rechnung trug, ist beinaheals eine Verirrung zu betrachten und jetzt mit Recht vergessen.Nächst der "Gerusalemme" ist das Schauspiel "Aminta" Tassosvorzüglichstes Werk. Sein "Torrismondo" (zuerst Berg. 1587)gilt für eins der besten italienischen Trauerspiele aus derältern Schule; auch seinem "Rinaldo" sowie den religiösenGedichten: "Le sette giornate", "Le lagrime di Maria" . "Il monteOliveto", "La disperazione di Giuda" fehlt es nicht an schönenEinzelheiten. Seine aus Sonetten und Kanzonen bestehenden lyrischenGedichte ("Rime") endlich gehören zum Teil zu denschönsten ihrer Art. Von seinen Prosaschriften sind besondersseine von philosophieschem Geiste durchwehten "Dialoghi" sowieseine zahlreichen für die Kenntnis der gesamten Zeit wichtigen"Lettere" (hrsg. von Guasti, Flor. 1852-55, 5 Bde.) hervorzuheben.Von seinen einzelnen Werken ist namentlich die "Gerusalemme" inzahllosen Ausgaben verbreitet (erste authentische Ausgaben Parma1581 u. Mantua 1584; kritische Ausg. von Orelli, Zürich 1838,von Scartazzini, 2. Aufl., Leipz. 1882). Gesamtausgaben von TassosWerken erschienen zu Florenz 1724, 6 Bände, und Venedig1722-42, 12 Bände; die neueste und vollständigste ist dievon Rosini (Pisa 1820, 30 Bde.). Eine Auswahl ("Opere scelte") in 5Bänden erschien 1824 in Mailand. Die besten deutschenÜbersetzungen der "Gerusalemme liberata" sind die von Gries(13. Aufl., Leipz. 1874, 2 Bde.; Stuttg. 1887) und Streckfuß(mit Biographie, 4. Aufl., Leipz. 1849, 2 Bde.). "Auserlesenelyrische Gedichte" übersetzte K. Förster (2. Aufl.,Leipz. 1844). Tassos Biographie schrieb sein Freund Giamb. Manso(Neapel 1619), vollständiger Serassi (Rom 1785; neue Ausg.,Flor.1858). Vgl. Rosini, Saggio sugli amori di Torquato T. e sullecause della sua prigionia (Pisa 1832); Milman, Life of T. T. (Lond.1850, 2 Bde.); Cibrario, Degli amori e della prigionia di T. T.(Tur. 1861); G. Voigt, Torquato T. am Hofe von Ferrara (in Sybels"Historischer Zeitschrift", Bd. 20, Münch. 1868); Cardona,Studi novi sopra del T. alienato (in der "Nuova Antologia", Februar1873); Cecchi, T. T. Il pensiero e le belle lettere italiane nelsecolo XVI (Flor. 1877; deutsch, Leipz. 1880); Ferrazzi, T. T.(Bassano 1880); Speyer, Torquato T. (im "Neuen Plutarch", Bd. 10,Leipz. 1884). Unecht sind die von dem Conte M. Albertiherausgegebenen "Manoscritti inediti di Torquato T." (Lucca 1837f.).

Tassoni, Alessandro, ital. Dichter, geb. 1565 zu Modena,studierte in Bologna und Ferrara die Rechte und ward 1597 zu RomSekretär des Kardinals Colonna, den er 1600 nach Spanienbegleitete. Vom Kardinal in persönlichen Angelegenheitendesselben nach Rom zurückgesandt, ließ er sich dort ganznieder, wurde in die Akademien der "Umoristi" und "Lincei"aufgenommen und eins der eifrigsten Mitglieder derselben. Eineerste Frucht seiner Arbeiten waren seine "Considerazioni sopra lerime del Petrarca" (Mod. 1609), wodurch er in eine heftigelitterarische Fehde verwickelt ward, sich aber doch das Verdiensterwarb, der übertriebenen Verehrung Petrarcas und dem Ansehenseiner ungeschickten Nachahmer ein Ziel zu setzen. Kaum geringeresAufsehen erregten seine "Pensieri diversi" (Rom 1612), in welchener den Homer und Aristoteles angriff. 1612 trat er in die DiensteKarl Emanuels von Savoyen, zog sich aber, als nach langem Wartenseine Beförderung durch Intrigen verhindert wurde, insPrivatleben zurück, bis 1626 der Kardinal Lodovisio ihn zuseinem Sekretär und nach des Kardinals Tod Franz I. von Modenaihn (1632) zu seinem Kammerherrn ernannte. T. starb aber schon1635. Sein Ruhm beruht vorzugsweise auf seinem heroisch-komischenGedicht "La secchia rapita", in 12 Gesängen (Par. 1622),welches den zwischen den Modenesern und Bolognesern im 13. Jahrh.über einen von den erstern aus Bologna geraubten Eimerentstandenen Krieg zum Gegenstand hat. Es ist dies eigentlich daserste komische Epos der neuern Zeit im strengen Sinn des Wortes undgehört wegen seiner glücklichen Mischung von Ernst undScherz, der Originalität der Gedanken und Bilder, derSchönheit der echt toscanischen Sprache und der Leichtigkeitder Versifikation

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Taste - Tastsinn.

zu den klassischen Werken der Italiener. Die "Secchia rapita"ist nachher sehr oft wieder gedruckt worden (am besten, Mod. 1744,Par. 1766, Vened. 1813; deutsch von Kritz, Leipz. 1842). EineAnzahl Briefe Tassonis hat Gamba herausgegeben (Vened. 1827).

Taste (ital. Tasto, lat. Clavis), der Teil eines musikal.Schlaginstruments, der beim Niederdrücken mit dem Finger sichhinten wie ein Hebel in die Höhe hebt und infolge davonentweder durch den Schlag eines Hammers (wie beim Pianoforte), oderdurch Öffnen eines Ventils (wie bei der Orgel etc.) die Saite,Pfeife oder Zunge zum Ertönen bringt. Sämtliche zu einemInstrument gehörige Tasten nennt man Tastatur oder auchKlaviatur. Vgl. Klavier.

Taster, s. Palpen.

Tastkörperchen, s. Haut, S. 232.

Tasto solo (abgekürzt t. s.) bedeutet in derGeneralbaßbezifferung, daß zu dem betreffendenBaßton keine Akkorde gegriffen werden sollen.

Tastsinn (Gefühlssinn), derjenige Sinn, welcherÜber die ganze äußere Körperoberflächeund den in nächster Nähe dieser gelegenen Teil derSchleimhäute verbreitet ist und uns vermittelst mechanischeroder thermischer Reibung über bestimmte Qualitäten undZustände der reizenden Objekte sowie deren räumlicheVerhältnisse Auskunft gibt. Der T. verschafft uns zweierleiganz verschiedene Empfindungen von spezifischer Natur, nämlichdie Empfindungen des Druckes und der Temperatur. Gehen die Druck-und Temperatureinflüsse über eine gewisse Grenze hinaus,so entsteht eine ganz neue Empfindungsform, nämlich derSchmerz. Es ist nicht bekannt, ob diese Scheidung eine anatomischeBerechtigung hat, d. h. ob für jede der genannten Empfindungenein besonderer nervöser Apparat besteht. In deräußern Haut u. den benachbarten Teilen derSchleimhäute finden sich eigentümliche nervöseNervenendorgane (s. Haut, S. 232), welche aller Wahrscheinlichkeitnach für das Zustandekommen der Druck- undTemperaturempfindungen von der größten Bedeutung sind.Da wir die Empfindungen, welche uns Druck- undTemperatureinflüsse verursachen, ohne Ausnahme in diebetreffenden Körperteile verlegen (von welchen her sie demGehirn zugeleitet wurden und uns hier zum Bewußtsein kamen),so unterscheiden wir auch zwei im übrigen völlig gleicheEindrücke, welche zwei verschiedene Hautstellen betreffen, alsräumlich gesonderte. Die Organe des Tastsinnes sind also mitRaumsinn oder Ortssinn begabt. Außerdem fassen wir zwei aufdas Tastorgan nacheinander oder miteinander wirkende Einflüsseals zeitlich gesonderte oder als gleichzeitige auf. Man kann daherebensogut von einem Zeitsinn des Tastorgans wie z. B. von einemZeitsinn des Ohrs sprechen. Der Raumsinn zeigt an den einzelnenKörperstellen sehr verschiedene Grade von Schärfe; manermittelt dieselbe am besten mit dem Tastzirkel, einemgewöhnlichen Zirkel, dessen Spitzen aber nicht so fein seindürfen, daß sie die Haut verletzen. Die Spitzen desZirkels setzt man auf irgend eine Hautstelle und bestimmt (beigeschlossenen Augen des zu Prüfenden) den kleinsten Abstandder Spitzen, bei welchem noch eine zweifache Berührungwahrgenommen wird. An der Zungenspitze beträgt der kleinsteAbstand, bei welchem zwei Punkte noch als getrennt wahrgenommenwerden, 1 mm. An der ebenfalls noch feinfühligenBeugefläche des letzten Fingergliedes beträgt der Abstandbereits 2 mm, an dem roten Teil der Lippen sowie an derBeugefläche des zweiten Fingergliedes 4, an der Nasenspitze 6mm, in der Mitte des Oberarms und Oberschenkels sowie an demRücken 35-65 mm. Fortgesetzte Übung erhöht dieFeinheit des Raumsinnes und zwar an sonst minder bevorzugtenStellen verhältnismäßig mehr als an den feinertastenden Hautpartien. Besonders entwickelt ist der Raumsinn desBlinden. Wie schon erwähnt, haben wir die Tastempfindungen da,wo die betreffenden Nerven von den Tastobjekten selbst erregtwerden, also an der Oberfläche des Körpers. UnterUmständen jedoch verlegen wir die Tastempfindungen nachaußen und zwar entweder in nervenlose Teile, welche mit dertastenden Fläche verbunden sind, oder sogar an das Ende einesmit der Haut in Berührung kommenden fremden Körpers. DieHaare z. B. leiten Bewegungen, welche ihnen mitgeteilt werden, biszu den empfindenden Hautstellen, aus denen sie hervorwachsen; wirverlegen aber die dadurch bedingten Empfindungen in die an sichunempfindlichen Haare. Der Druck, welchen äußere Objekteauf uns ausüben, wird entweder unmittelbar geschätztmittels spezifischer Tastempfindungen (Druckempfindungen) odermittelbar dadurch, daß eine von uns gegen den drückendenKörper ausgeführte willkürliche Bewegung uns zumBewußtsein kommt. Im letztern Fall erschließen wirnämlich die Größe des Druckes oder Gewichts sowohlaus den begleitenden Muskelgefühlen als auch aus derSchätzung des Kraftmaßes, des aufzuwendendenWillensimpulses, welchen wir nötig haben, um dem ObjektWiderstand zu leisten, oder um es zu heben. Die nämlichenHilfsmittel dienen zur Wahrnehmung von Druckunterschieden(Drucksinn). Man ist im stande, noch zwei Gewichte voneinander zuunterscheiden, deren Schwere sich wie 40:41 verhält,vorausgesetzt, daß die Gewichte weder zu schwer noch zuleicht sind. Zunahme eines auf der Hand lastenden Druckes wirdleichter wahrgenommen als Abnahme desselben. Der Drucksinn zeigt inden verschiedenen Bezirken der Haut geringere Unterschiede seinerFeinheit als der Raumsinn. Die Leistungen des Drucksinns sindgeringer als die des Muskelgefühls; durch das letztereschätzen wir die Druckempfindungen, indem wir die Gewichte aufdie Hand legen und zugleich Bewegungen mit der Hand ausführen.Die zweite Art von spezifischen Empfindungen, welche uns der T.vermittelt, sind die Temperaturempfindungen (Temperatursinn). Wirhaben nur innerhalb ziemlich enger Grenzen wirklicheTemperaturempfindungen. Denn es verursacht uns z. B. das Wasser bei55° C. keine eigentliche Wärmeempfindung, sondern einleises Brennen, während es schon bei einigen Graden unter Nullnicht eigentlich mehr als kalt empfunden wird, sondern unsSchmerzen verursacht. Temperaturempfindungen entstehen unterzweierlei Bedingungen, nämlich durchTemperaturveränderungen der Haut oder durchWärmetransmission derselben. Kommt ein Körper, welcherdieselbe Temperatur wie die Haut besitzt, mit dieser inBerührung, so erscheint er uns weder kalt noch warm. Letzteresist aber sofort der Fall, wenn jener Körper unsre Haut durchZuleitung von Wärme höher temperiert, oder wenn er siedurch Wärmeentziehung abkühlt. Bleibt die Temperatur derHaut konstant, so haben wir keine oder nur sehr schwacheWärmeempfindungen; die verschieden temperierte Haut derWangen, Hände und Füße z. B. erweckt in uns keineTemperaturempfindungen. Sind aber die bei konstanter Temperatur derHaut in einer bestimmten Zeit nach außen abgegebenen oder vonda aufgenommenen Wärmemengen verhältnismäßigbedeutend, so haben wir das Gefühl anhaltender

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Tastwerkzeuge - Tataren.

Kälte oder anhaltender Hitze. ObjektiveTemperaturempfindungen entstehen somit nicht bloß beiVeränderungen der Hauttemperatur, sondern auch beim Durchgangbedeutender Wärmemengen durch die konstant temperiertbleibende Haut. Wir vermögen zwischen 14 und 29° R. nochTemperaturunterschiede von 1/5-1/6°, jedoch nur bei sehrgroßer Aufmerksamkeit, zu erkennen. Am bevorzugtesten sind indieser Beziehung die Zungenspitze, die Gesichtshaut, die Finger.Die Fähigkeit für Temperaturwahrnehmungen wird durchverschiedene Umstände vorübergehend beeinträchtigt,so z. B. schon durch Eintauchen der Hand in Wasser von einigen 50Grad, durch Schmerzen verschiedener Art u. dgl. Ist eine Hautstelledurch Eintauchen in niedrig temperiertes Wasser (z. B. von 10°)abgekühlt worden, so empfindet man beim Einbringen derselbenin Wasser von z. B. 16° einige Sekunden hindurch Wärme, solange nämlich, als die Hauttemperatur von 10 auf 16°steigt. Dann erst folgt anhaltendes Kältegefühl. Diejeweilige Temperatur der Haut veranlaßt also falscheBeurteilungen der objektiven Temperatur. SchnelleTemperaturveränderungen der Haut bedingen lebhaftereEmpfindungen. Kalte Körper, welche die Wärme gut leiten,wie Metalle, halten wir deshalb (weil sie der Haut die Wärmeschnell entziehen) für viel kälter als andre gleichkalte, welche schlechte Wärmeleiter sind, wie z. B. Holz,Stroh etc. Die Hand empfindet das gleiche Gefühl des Brennensbei Luft von 120°, bei Holz von 80° und bei Quecksilber von50°, weil die Luft langsamer als das Holz, dieses langsamer alsdas Quecksilber die Wärme an den Körper abgibt. KleineHautstrecken verursachen schwächere Temperatureindrückeals größere. Taucht man z. B. einen Finger der linkenHand in Wasser von 32° R., die ganze rechte Hand dagegen in einsolches von 28½°, so erscheint uns letzteres gleich wohlwärmer als das erstere, während der Unterschied sofortden wirklichen Verhältnissen entsprechend erscheint, wenn manbeide Hände ganz eintaucht. Die Fundamentalarbeit überden T. verdanken wir E. H. Weber: "Über T. undGemeingefühl" in Wagners "Handwörterbuch derPhysiologie".

Tastwerkzeuge (Tastorgane), die zum Tasten oderFühlen dienenden Einrichtungen des tierischen Körpers,liegen ausnahmslos in der Haut und bestehen aus besondernHautzellen, welche nach innen zu mit einer Nervenfaser inVerbindung stehen, um den empfangenen Reiz zur Wahrnehmung zubringen, nach außen gewöhnlich ein Haar oder sonst eineVorrichtung zur Erleichterung der Berührung mit einemFremdkörper tragen. Bei den meisten Tieren ist nicht die ganzeHaut in gleichem Maß mit Tastwerkzeugen ausgestattet, sonderndiese finden sich meist an besondern Anhängen (Fühlern,Tentakeln, Gliedmaßen) und dann oft in großer Anzahl.Bei den Wirbeltieren speziell sind die T. besonders entwickelt inder Umgebung des Mundes (sogen. Barteln mancher Fische, Tasthaareoder Schnurrhaare mancher Säugetiere) und vielfach auch an denHänden und Füßen. Wegen der eigentümlichenTastkörperchen s. Haut, S. 232.

Tat, iranischer Volksstamm, welcher mit den verwandtenGuran den äußersten Westen von Iran bewohnt und dortdieselbe Stelle einnimmt wie die Tadschik im äußerstenOsten. Sie treiben Ackerbau in der Provinz Baku, wohin sie unterden Sassaniden aus Aserbeidschân eingewandert sein sollen,die Guran im Zagros. Die Sprache beider Völker nähertsich dem Persischen.

Tatar-Bazardschik, Stadt in Ostrumelien, an der Maritzaund der nach Konstantinopel führenden Eisenbahn, hat starkenReisbau und (1887) 15,659 Einw. (ca. ¼ Türken). In derUmgegend viel Weinbau. T. wurde um 1420 von Tataren gegründet,welche Sultan Mohammed von Brussa dorthin verpflanzte.

Tatarei (unrichtig Tartarei), im Mittelalter NameInnerasiens, dessen gegen W. heranstürmende Horden man unterdem Gesamtnamen der Tataren (s. d.) begriff. Später nannte mandie Kleine oder europäische T. die russischen GouvernementsKrim, Astrachan und Kasan, im engern Sinn aber insbesondere dieKrim und die Gegenden am untern Dnjepr und Don. Die Großeoder asiatische T., seit dem 13. Jahrh. von ihrem Beherrscher, demSohn Dschengis-Chans, auch Dschagatai genannt, führt jetzt inden geographischen Werken den allgemeinen. Namen Zentralasien (s.d.), teilweise auch Turkistan (s. d.). Die Namen chinesische oderHohe T. für das östliche und Freie T. für daswestliche (russische) Turkistan sind jetzt außerGebrauch.

Tataren, ursprünglich Name eines mongol.Volksstammes, der aber im weitern Verlauf nicht nur auf dieMongolen überhaupt, sondern infolge des politischenÜbergewichts, welches dieselben nach Dschengis-Chan in Asienbesaßen, auch auf die ihnen unterworfenen verwandtenVölker übertragen ward. Gegenwärtig bezeichnet manmit dem Namen T. einen Zweig des uralaltaischen Volksstammes, dervon den Gestaden des Mittelländischen und Schwarzen Meers bisan die Ufer der Lena in Sibirien eine Reihe von Völkerschaftenumfaßt, als: die Jakuten, die nordöstlichsten Gliederdes Zweigs, an der Lena; die Buruten oder schwarzen Kirgisen, imchinesischen Turkistan; die Kirgisen oder Kasak (in drei Horden);die Uzbeken, von Bochara bis zum Kaspischen Meer; die Turkmenen,südlich vom Oxus bis Kleinasien; die Karakalpaken,südlich vom Aralsee; die Kumüken, im nordöstlichenKaukasus; die Osmanen, die türkischen Bewohner dereuropäischen Türkei und teilweise Kleinasiens, und die T.im engern Sinn. Die letztern werden nach ihrer Lebensweise alsansässige und nomadisierende T. unterschieden. Ihre Zahl wirdgeschätzt auf 1,200,000 im europäischen Rußland,100,000 im Kaukasus und 70,000 in Sibirien; sie sind alleMohammedaner. Die Kasanschen T. haben durch ihre Vermischung mitFinnen und Russen ihren mongolischen Typus mehrfacheingebüßt; sie zeichnen sich durch Nüchternheit,Gastfreiheit und Arbeitsamkeit aus, sind sehr begabt, könnenalle lesen und schreiben und ernähren sich vorzugsweise durchden Handel; ihre Zahl wird auf 450,000 angegeben. Die Krimschen T.werden in Steppen- und Bergtataren eingeteilt, von denen dieerstern den mongolischen Typus recht rein erhalten haben. Siebeschäftigen sich vorzugsweise mit Viehzucht, namentlichSchafhaltung; einige unter ihnen bauen auch Tabak, Arbusen undMelonen. Der Reichtum der Bergtataren besteht in Frucht- undObstgärten. Ihr häusliches Leben ist durch Sauberkeit undOrdnungsliebe ausgezeichnet. Ihre Zahl wird auf 250,000geschätzt. Die stark mit Mongolen vermischten Nogaiischen T.oder Nogaier wohnen, 50,000 Seelen stark, zwischen dem Schwarzenund dem Kaspischen Meer an den Flüssen Kuban, Kuma, Wolga undin der Krim. Die Sibirischen T. sind zum größten Teilansässig, nur ein kleiner Teil nomadisiert. Ein Hauptstammderselben sind die Tureliner, aus denen man die eigentlichen T. unddie nach den von ihnen bewohnten Gegenden benannten Taraischen,Tobolskischen, Tjumenschen und Tomskischen T. unterscheidet. ZumTeile leben sie in Städten und

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Tataren - Tättowieren.

treiben Ackerbau, zum Teile liegen sie dem Ackerbau, derViehzucht und der Jagd ob. Weiter gehören zu den SibirischenT. die Barabiner in der Steppe Baraba zwischen Ob und Irtisch, eingutartiges Naturvolk, das fast ausschließlich Viehzucht undFischerei treibt; die Tschulymschen T., am Fluß Tschulym, diesich schon sehr den Russen genähert haben; die Teleuten (s.d.), Sagaer, Abakan oder Katschinzen (s. d.), Karagassen (s. d.)und Reste der einst zahlreichen Ariver und Asanen (s. d.). S. Tafel"Asiatische Völker", Fig. 7. Die Umbildung des Namens T. inTartaren wird auf ein Wortspiel König Ludwigs des Heiligen vonFrankreich zurückgeführt, der denselben von "Tartaros"ableitete und damit die T. als der Unterwelt Entstiegene bezeichnenwollte. Vgl. Schott, Älteste Nachrichten von Mongolen und T.(Berl. 1846); Wolff, Geschichte der Mongolen oder T. (Bresl. 1872);Vambery, Die primitive Kultur des turko-tatarischen Volkes (Leipz.1879); Derselbe, Das Türkenvolk (das. 1885); Radloff, AusSibirien (das. 1884, 2 Bde.).

Tataren, irreguläre leichte Reiterei des türk.Heers, welche im Krieg in Kleinasien aufgeboten wird. Zurregulären Reiterei des russischen Heers gehört eineKrim-Tatarendivision, die im Krieg zu einem Regiment von vierSchwadronen erweitert wird. Die Bezeichnung Tatarennachrichtfür unbeglaubigtes Gerücht stammt aus dem Krimkrieg, woein türkischer Tatar nach der Schlacht an der Alma dieunrichtige Nachricht vom Fall Sebastopols brachte.

Tatargebirge, s. Sichota Alin.

Tatargolf (Tatarischer Sund), Meerenge zwischen demasiatischen Festland (sibirische Küstenprovinz) und der InselSachalin, welche das Japanische mit dem Ochotskischen Meerverbindet. Seine schmälste Stelle, die Mamiastraße,wurde nach dem Seefahrer Mamia Rinzo benannt, welcher 1808 eineKarte des Golfs verfaßte.

Tatarka, pelzverbrämte niedrige Tuchmütze mitviereckigem Deckel, 1860 in Osterreich bei den Ulaneneingeführt, wurde 1876 durch die Czapka (s. d.) ersetzt.

Tati, Missionsstation in Südafrika amFlüßchen T., unter 21° 50' südl. Br. und27° 50' östl. L. v. Gr. Der Distrikt wurde bekannter durchdie hier 1868 von Mauch entdeckten goldreichen Quarze.

Tatianus, christlicher Apologet des 2. Jahrh., angeblichein Assyrer, wurde durch Justinus Martyr zum Christentum bekehrt,wandte sich aber nach dem Tod seines Meistersdualistisch-gnostischen Lehren zu und erwarb sich eine strengasketische Anhängerschaft. Erhalten ist von ihm eine 176geschriebene "Oratio ad Graecos" (hrsg. von Otto im "CorpusApologetarum", 6. Abteil., 3. Ausg., Jena 1882, und von Schwartz,Leipz. 1888). Über das von ihm verfaßte "Diatessaron" s.Evangelienharmonie. Vgl. Daniel, T. der Apologet (Halle 1837);Zahn, Forschungen zur Geschichte des neutestamentlichen Kanons, Bd.1 (Erlang. 1881).

Tatihou, franz. Insel, s. Saint-Vaast.

Tatischtschew, Wasilij Nikitisch, russ. Staatsmann undSchriftsteller, geb. 19. Febr. 1686, entstammte der Schule Petersd. Gr., machte mehrere Reisen ins Ausland, war unter anderm alsDiplomat in Schweden und als Aufseher des Bergwesens in Sibirienthätig, bekleidete 1741-45 den Posten eines Gouverneurs vonAstrachan und starb 15. Juli 1750. Er regte zu großenwissenschaftlichen Unternehmungen an, sammelte das Material zueiner geographisch-historischen Encyklopädie Rußlands(hrsg. Petersb. 1793) und schrieb eine mehrbändige GeschichteRußlands, welche erst nach seinem Tod (1769-1848, 5 Bde.)gedruckt wurde. Vgl. Pogow, T. und seine Zeit (Mosk. 1861,russ.).

Tatius, Titus, nach der Sage König der Sabiner inCures, zog wegen des von den Römern an den Sabinerinnenbegangenen Raubes gegen Romulus, besetzte den Quirinalischen undsodann den Kapitolinischen Berg und beherrschte nach erfolgterAussöhnung gemeinsam mit Romulus den Doppelstaat derRömer und Quiriten, in welchem die zweite Tribus nach ihmTatienses oder Titienses genannt ward, bis er bei einem feierlichenOpfer zu Lavinium von Laurentern, die er beleidigt hatte,erschlagen ward.

Tatowieren, s. Tättowieren.

Tátra (Hohe T.), s. Karpathen, S. 557.

Tátra-Füred, Badeort, s. Schmeks.

Tatteln (Törteln, Terteln, Derdeln), Spiel unterzweien mit Pikettkarte, dem Pikett sehr ähnlich. Jedererhält 9 Blätter, dann wird Atout aufgeschlagen, und derRest der Karten bleibt als Talon, von welchem nach jedem Stichabgehoben wird. Kartenordnung ist im Nichtatout As, Zehn,König, Dame etc., im Atout aber Bube, Neun, As, Zehn,König, Dame. Man zählt nicht Stiche, sondern Augen. Aszählt 11, die Zehn 10, König 4, Dame 3, Bube 2, Atoutbubeaber 20 und Atoutneun 14. Vor dem Ausspiel finden Ansagen statt,wie im Pikett. Sequenz von drei Blättern heißt "Tattel"und zählt, sobald der Gegner keine höhere hat; Sequenzvon 4 Blättern heißt "Quart", von 5 Blättern"Fuß". Eine Quart zählt nicht nur als solche, sondernauch als zwei Tattel, ein Fuß ebenso als drei Tattel und zweiQuarten. Drei gleiche Figuren werden von vier gleichen (wenn auchniedrigern) überboten, sonst schlägt das höhereGedritt und Geviert das niedere des Gegners. Die Zehn nimmt bei denSequenzen und Kunststücken ihren natürlichen Platz ein.Farbebekennen wird erst nach Erschöpfung des Talons, in denletzten 9 Stichen, obligatorisch. Die Atoutsieben raubt. Wer vonden letzten 9 Stichen gar keinen erhält, muß den Matschzahlen. Der letzte Stich zählt, auch wenn er leer ist, an sich10 Points. Bezüglich der Berechnung der Sequenzen undKunststücke sowie der Pointszahl, bis zu der man die ganzePartie spielt, vgl. Pikett. T. kann übrigens auch ohneTrumpfwahl gespielt werden.

Tattesall (fälschlich Tattersall), Sammelpunktfür die Freunde des Sports in London, hat seinen Namen vonRichard Tattesall, Training-groom des Herzogs von Kingston, welcher1795 an der südwestlichen Ecke des Hydeparks ein Etablissem*ntzur Ausstellung und zum Verkauf von Pferden begründete. Durchden Enkel Tatesalls wurde das sehr erweiterte Etablissem*nt 1865verlegt. Ähnliche Einrichtungen in Paris, Berlin etc. habendenselben Namen angenommen.

Tatti, Jacopo, Bildhauer, s. Sansovino 2).

Tättowieren (richtiger Tatowieren, v. tahit. tatau),der Gebrauch, gewisse Stoffe, zumal Kohle, in Form von Rußoder Tusche (in Europa vielfach Schießpulver) aufmechanischem Weg, durch Stechen mit Dornen und Nadeln oder durchEinreiben in die durch Muscheln oder Zähne geritzte Haut einesMenschen einzuführen, um dadurch möglichstunvergängliche Zeichnungen hervorzubringen, findet sich beibeinahe sämtlichen Völkern, den wilden sowohl als denzivilisierten, der Erde. Er ist vorwiegend auf den Wunsch derBetreffenden, sich zu verschönern und zu verzieren,zurückzuführen. Verschiedentlich, zumal da, wo das T. vonPriestern ausgeübt wird sind mit

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Tatu - Tauben.

demselben Begriffe meist religiöser Art verknüpft, dieursprünglich nichts mit demselben zu thun haben. Wegen der mitdem T. verbundenen Schmerzen wird dasselbe bei beiden Geschlechternhäufig als eine der vielsach grausamen Zeremonien bei derFeier der eingetretenen Pubertät vollzogen. Es entwickelt sichauch zum Stammes- oder Häuptlingsabzeichen und kann mehrfachals ein Ersatz für Kleidung betrachtet werden. Völker mitdunkler Hautfarbe, wie Neger, Melanesier und Australier, ziehen demT. den Gebrauch vor, den Körper mit Narben zu zieren, die aufder schwarzen Haut, oft künstlich vergrößert,besser zur Geltung kommen als die dunkelblauen Zeichnungen derTättowierung. Zum T. der roten Farbe wird meist Zinnoberverwendet. In der Südsee ist die Sitte des Tättowierensdurch den Einfluß der Missionäre im Aussterben, dagegenin Hinterindien, Laos, Birma etc., noch lebhaft im Schwange; inJapan neuerdings verboten. In Europa ist das T., allerdings meistnur auf einzelne Figuren und Symbole beschränkt, bei Reisendenaller Gesellschaftsklassen, dann bei Matrosen, Soldaten undHandwerkern in hohem Grad beliebt und verbreitet. Vgl. Wuttke, DieEntstehung der Schrift (Leipz. 1872); Lacassagne, Les Tatouages(Par. 1881); Joest, T., Narbenzeichnen und Körperbemalen(Berl. 1887).

Tatu, s. Gürteltier.

Tatzmannsdorf (ung. Tarcsa), besuchtes Frauenbad imungar. Komitat Eisenburg, an der steirischen Grenze, unweitSteinamanger, mit einem alkalisch-glaubersalz-eisenhaltigenSäuerling. Vgl. Thomas, Tatzmannsdorf (Wien 1885).

Tau (Tagh, türk.), Gebirge.

Tau (Seil), s. Tauwerk.

Tau, derjenige wässerige Niederschlag (oderAusscheidung eines Teils des in der Atmosphäre enthaltenenWasserdampfes), welcher durch eine Erkaltung der an derErdoberfläche befindlichen Körper bewirkt wird. DieTemperatur, bei welcher die Luft mit Wasserdampf gesättigtist, d. h. so viel Wasserdampf enthält, als diese Temperaturzuläßt, nennt man den Taupunkt. Sobald die Temperaturder an der Erdoberflache zunächst gelegenen Luftschichtenunter den Taupunkt gesunken ist, fängt der Wasserdampf an, ausihnen ausgeschieden zu werden und sich in Gestalt kleinerWasserkügelchen oder Tauperlen auf die abgekühltenGegenstände zu legen. Im gewöhnlichen Leben sagt man:"der T. fällt"; aber dies ist nach der obigen Erklärungder Taubildung nicht richtig. Eine für diese genügendstarke Abkühlung der untern Luftschichten tritt jedesmal ein,so oft bald nach Sonnenuntergang, besonders während der Nachtund am frühen Morgen, eine kräftigeWärmeausstrahlung der Erdoberfläche stattfinden kann;hierzu gehören vor allem klarer Himmel, ruhige Luft und eineBodenbedeckung, die leicht ihre Wärme abgibt, z. B.Rasenflächen und Blätter der Pflanzen. Glänzende undmetallische Gegenstände sowie überhaupt Körper mitgeringem Strahlungsvermögen (s. Wärme) sind fürTaubildung weniger geeignet. Alles, was die nächtlicheStrahlung hindert oder vermindert, wie z. B. ein bedeckter Himmel,hindert oder vermindert auch die Taubildung. Auch wird eineTaubildung verhindert oder wenigstens erschwert, wenn die Luftbewegt ist, weil dann stets von neuem warme Luft mit demabgekühlten Erdboden in Berührung kommt und sich dieselbedaher nicht bis zum Taupunkt abkühlen kann. Ganz besondersstark ist die Taubildung in den tropischen Gegenden, wo die Luftviel Wasserdampf enthält und durch die Wärmestrahlungeine sehr starke Abkühlung erfährt. Das Drosometer, einzum Messen des Taues bestimmter Apparat, enthält eine an einerfeinen Zeigerwage befindliche, mit feiner, flockiger Wolle bedecktePlatte, die sich in der Nacht mit T. bedeckt, und derenGewichtszunahme die Taustärke angibt. Die auf diese Weiseerhaltenen Resultate entbehren aber vorläufig noch dernotwendigen Genauigkeit. Wenn der Körper, an welchem sich derkondensierte Wasserdampf absetzt, unter 0° erkaltet ist, sokann dieser nicht die flüssige Gestalt annehmen, sondernerhält die Form von Eisnadeln und bekommt dann den Namen Reif(s. d.), so daß letzterer nichts andres als gefrorner T.ist.

Taub, von Gesteinen, s. v. w. keine nutzbaren Mineralienenthaltend, unhaltig.

Taubahnen, s. Straßeneisenbahnen, S. 377.

Taube Kohle, s. Anthracit.

Tauben (Columbidae, hierzu Tafel "Tauben"), Unterordnungder Taubenvögel (s. d.). Die große Holz-, Kohl-, Wald-oder Ringeltaube (Columba Palumbus L.), taubenblau, Kopf u. Bruströtlichblau, Hals grünlich und purpurn schillernd, anjeder Seite mit großem, weißem Fleck, Flügelgraublau mit breitem, weißem Streifen am Bug,Unterrücken und Steiß hellblau, Schwanz mattschwarz, mithellerer Querbinde und großem, weißem Fleck, Unterseitehell graublau, Hinterleib weiß, ist 43 cm lang, findet sichin ganz Europa und einem großen Teil Asiens, nährt sichvon Getreide und Grassämereien, Schnecken, Regenwürmern,vorzugsweise aber von Nadelholzsamen, auch Eicheln und Bucheln, imSommer von Heidelbeeren u. a. Sie nistet in Nadelholzdickicht,niedrig oder hoch, auf allerlei Bäumen. Obwohl überausscheu und vorsichtig, wohnt sie zuweilen doch inmitten volkreicherStädte auf den Bäumen der Anlagen, so in Stuttgart undnamentlich in Paris, wo sie zutraulich und dreist von denSpaziergängern sich füttern läßt. Die kleineHolz- oder Hohltaube (C. Oenas L.), mohnblau, Kopf aschgraublau,Hals wie bei der vorigen schillernd, Oberrücken dunklergraublau, Schwingen schieferblau, nur mit reihenweise stehenden,schwarzen Flecken, kein Weiß im Flügel, Bruströtlichgrau, Unterleib schwach rötlich aschgrau, ist etwa32,5 cm lang. Verbreitung wie die vorige; sie nistet jedoch nur inBaumhöhlungen und wird, weil diese überall mangeln, immerseltener. Zugvogel. Die Felsentaube (C. livia L.. s. Tafel"Tauben", Fig. 1), oberhalb aschgraublau, unterhalb mohnblau, Kopfhell graublau, Hals wie bei den vorigen metallisch schillernd,Schwingen aschgrau und Flügel mit zwei schwarzen Binden,Unterrücken rein weiß, Schwanz dunkel graublau, mitschwarzem Endsaum, die beiden äußersten Federn mitweißem Endsaum, Auge hellgelb, Schnabel schwarz,Füße rot, 34 cm lang, findet sich in fast ganz Europa,Asien und Nordafrika, doch nur, wo es Felsen gibt, in derenHöhlungen oder auch in den Löchern alten Gemäuerssie nistet. Man unterscheidet zwei Varietäten mit weißemund blauem Unterrücken und nennt letztere auch Bergtaube (C.glauconotos Br.). Sie nährt sich vorzugsweise von Getreide undSamen der Vogelwicke und andern Unkräutern. Sie soll dieStammmutter aller Haustaubenrassen sein. Die Turteltaube (C. TurturL.), oberhalb rötlich braungrau, schwarz und aschgraugefleckt, Stirn weißlichgrau, Oberkopf und Hals graublau,letzterer mit vier schwarzen, weiß gesäumtenQuerstreifen, Flügel schwärzlich aschgrau, Kehle undOberbrust weinrot, ganze Unterseite rötlich graublau,Hinterleib gräulichweiß, 28,6 cm lang, findet sich infast ganz Europa und Asien, besonders in Nadelholz-

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Tauben (Haustaubenrassen).

wäldern, wandert, wie die vorige, südwärts. Sienistet auf mittelhohem Gebüsch, nährt sich namentlich vonErbsen, Linsen, Wicken und wird vielfach in Käfigen gehalten.Die Lachtaube (C. risoria L.), blaß rötlichgelbweiß, mit halbmondförmigem, schwarzem Fleck amHinterhals, unterseits heller, Schnabel schwarz, Augen hellrot,Füße karminrot, 31,2 cm lang, bewohnt Afrika, Mittel-und Südasien. Außer dem Girren hat sie besondere Laute,welche menschlichem Lachen einigermaßen ähneln, daherder Name. Die Wandertaube (C. migratoria L., Ectopistes migratoriusL.), oberhalb schieferblau, unterhalb rötlichgrau, Halsviolettrot schillernd, Schwingen schwärzlich, weißgesäumt, Schwanzfedern schwarz, an beiden Seiten hellgrau,weiß gespitzt, Bauch und Hinterleib weiß, Schnabelschwarz, Augen und Füße rot, 42,4 cm lang, bewohnt fastganz Amerika, vorzugsweise das östliche Nordamerika. Siewandert im Herbst und Frühjahr in ungeheuern Schwärmen,welche in früherer Zeit in angebauten Gegenden großenSchaden verursachten, gegenwärtig aber durch dieunausgesetzten Verfolgungen sehr stark zusammengeschmolzen sind.Audubon schätzte den wöchentlichen Bedarf einesWandertaubenzugs auf 1,712,000 Scheffel Sämereien und seineVerbreitung auf einen Raum von 8-10 engl. Meilen, währendseine Brutplätze bei einer Verbreitung von 4-5 engl. Meilensich 50 Meilen weit durch die Wälder ziehen sollten, sodaß man auf manchen Bäumen 50-100 Nester fand. Von denfremdländischen T. gelangen 70 Arten lebend in den Handel undwerden zum Teil als Stubenvögel gehalten.

Haustauben. (Vgl. beifolgende Tafel "Tauben".)

Unsre Haustauben stammen wahrscheinlich von der Felsentaube ab,von welcher manche unsrer Feldflüchter kaum zu unterscheidensind. Die Domestizierung derselben reicht ins graue Altertumzurück. Inder und Ägypter hatten bereits besondereRassen. Auch in neuerer Zeit blüht die Taubenzucht im Orient.Eine völlig befriedigende Einteilung der Haustauben scheintnoch nicht gefunden zu sein. Die neuern Taubenkundigen("Peristerologen") verteilen die gegen 10 Rassen mit etwa 80Unterrassen oder Schlägen unter 4 oder 5 Hauptgruppen.

I. Feld- oder Farbentauben. Im Bau und in der Haltung der wildenFelsentaube ähnlich, ist Färbung des Gesamtgefieders odereinzelner Teile entscheidend. Sie neigen mehr oder weniger zumFelden. Von den etwa 25 Rassen nebst vielen Farbenschlägensind die schönsten und beliebtesten: Eistaube, Porzellantaube,Lerchentaube, Starhals, Blässentaube, Pfaffentaube,Mäusertaube, Mönchtaube, Deckeltauben, Flügeltauben,Schwingentauben, Schnippentaube, Farben- (Mohren-) Köpfe,Elstertaube, Hyacinthtaube, Viktoriataube, Strasser u. a. Beivielen der genannten Rassen gibt es Farbenschläge, d. h. diegefärbten Teile kommen in den vier Hauptfarben (Blau, Schwarz,Rot, Gelb) oder in verschiedenen Nebenfarben (Mischungen aus denHauptfarben) vor; ebenso verschiedene Kopf- undBeinbefiederungsarten (Haube, Kuppe, Doppelkuppe, Latschen etc.).Zur II. Gruppe, welche sich durch eigentümliche Stimme(Trommeln) auszeichnen, gehören die drei Rassen derTrommeltauben (Trompeter), die Altenburger (Fig. 3), Russische undBucharische (Fig. 2).

Die III. Gruppe enthält die durch besondere Federstrukturdes Gesamtgefieders (Locken- [Fig. 4l oder Strupptaube) odereinzelner Teile desselben (Mähnentaube, Perückentaube[Fig. 10], Möwentaube) oder zugleich auch durchgrößere Anzahl der Schwanzfedern, Haltung derselben unddes Halses (Pfautaube [Fig. 14 u. 15]) gekennzeichneten. Unter denLieblingen dieser Gruppe, den Möwentauben (Fig. 11, 12 u. 13),sind die orientalischen (Sattinetten, Blondinetten, Turbitins)Muster der Züchtungskunst in Bezug auf Reinheit derFärbung und Zeichnung.

Die IV. Gruppe, die der Formtauben, begreift drei sehrvoneinander verschiedene Unterabteilungen.

1) Die Huhntauben zeigen in Körperform und Haltunggroße Ähnlichkeit mit den Hühnern: länglicher,spitz zulaufender Kopf, großer, huhnartig gebauter undgetragener Rumpf und Schwanz, S-förmig gebogener Hals, kurzeFlügel, starke, hohe, glatte Beine. Hauptrassen sind: dieMalteser T., die Florentiner, die Monteneur, die Modeneser T.

2) Die Kropftauben (Kröpfer) zeichnen sich durch kleinenKopf, langen Hals, schmalen Rumpf, lange, schmale Flügel,langen Schwanz, langen, dünnen Schenkel und Lauf (glatt oderbis auf die Zehen herab befiedert) und durch den riesigen Kropfaus, den möglichst hervorzuheben der lange, schlanke Korperbausehr geeignet ist. Man kennt gegen 15 nach den Züchtungsortenbenannte Rassen und Unterrassen. Englische (Fig. 16),Französische (Fig. 17), Pommersche, Sächsische,Brünner (Fig. 18), Prager etc.

3) Warzentauben (Schnabeltauben), Kennzeichen: kurzer dickeroder langer kegelförmiger oder stark nach unten gebogenerSchnabel, mit kleinen bis walnußgroßen Warzen an derBasis des Oberkiefers und fleischigen Warzenringen um die Augen,welche bei einigen Rassen den Schädel überragen. ZehnRassen mit 8-9 Unterrassen: Lang-, krumm- und kurzschnäbeligeBagdetten, Berbertauben, Römische T., Montaubantauben,Belgische Brieftauben. Die englische Bagdette (Karrier, Fig. 19),mit großen, häßlichen Schnabel- und Augenwarzen,bei der vom Taubenkopf kaum noch etwas übrig ist, gilt inEngland als die Königin der T., für "bezaubernd". AndreRassen sind der Englische Dragoner, die Französische Bagdette,die bogenschnäbelige Nürnberger (Fig. 20), diekurzschnäbelige Türkische, die Berbertaube (Indianer,Cyprische Taube, Fig. 2l) und die Römische Taube (Fig.22).

V. Gruppe, Flugtauben, d. h. Tümmler und Purzler. Dasgemeinsame Kennzeichen dieser beliebten und rassenreichsten ist beiübrigens verschiedener Kopf- und Schnabelform dereigentümliche Flug. Sie steigen hoch in die Luft undüberschlagen sich (purzeln) beim Herabfliegen weniger oderöfter, zuweilen bis auf den Boden herab, manche Rassen auf demBoden selber. Man teilt die Tümmler in flachstirnigeLangschnäbel (8 Rassen mit 6-7 Unterrassen, meist deutscherZucht), flach- und hochstirnige Mittelschnäbel (9 Rassen) undin hochstirnige Kurzund Dickschnäbel (11-12 Rassen, meistenglischer und deutscher Zucht). Unter den Englischen Tümmlernnehmen die Almonds- (Fig. 8), Bart- (Fig. 9) undWeißkopftümmler den ersten Rang ein und werden nebst denKröpfern und Karriers zu hohen Preisen verhandelt. Auch unterden deutschen, österreichischen und dänischen Rassen(Berliner [Fig. 6], Danziger, Stralsunder, Braunschweiger,Hannoveraner, Königsberger, Altstämmer, Wiener, Prager,Pester, Kopenhagener, Kalotten [Fig.5], Nönnchen [Fig.7],Elster etc.) gibt es eine Menge sehr schöner und wertvollerT.

Haltung und Zucht der T. Die wirtschaftlichen Zwecken dienendeTaubenzucht, für welche nur die Feld- oder Farbentauben zuempfehlen sind, ist eine sehr einfache. Der einfachsteTaubenschlag, womöglich hoch gelegen, und jede gegen dieUnbilden der

TAUBEN.

1. - Felsentaube. -

2. Bucharische Trommeltaube. -

3. Deutsche Trommeltaube. -

4. Lockentaube. -

5. Kalotte. -

6. Berliaer altstämmiger Tümmler. -

7. Nönnchen. -

8. Almond. -

9. Barttümmler. -

10. Perückentaube. -

11. Ägyptisches Möwchen. -

12. Chinesisches Möwchen. -

13. Deutsches Möwchen. -

14. 15. Pfauentaube. -

16. Englischer Kröpfer. -

17. Französischer Kröpfer. -

18. Brünner Kröpfer. -

19. Karrier. -

20. Deutsche Bagdette. -

21. Cyprische Taube. -

22. Römische Taube. -

23. Antwerpener Brieftaube. -

21. Lütticher Brieftaube.

Zum Artikel »Tauben«.

537

Tauben (Taubenzucht, Brieftauben).

Witterung einigermaßen schützende Einrichtung,Fütterung zur Zeit des Nahrungsmangels (Wicken, Gerste undandre Sämereien), reines Trinkwasser und alterKalkmörtel, allenfalls das Unschädlichmachen einesboshaften Taubers ist im allgemeinen alles, was das Gedeihen desFeldflüchters verlangt. Weit schwieriger ist Haltung undZüchtung der Rassetauben. Geräumige, für dieverschiedenen Rassen geeignete, den Mäusen und Raubtierenunzugängliche, warme und reinlich gehaltene Schläge,passende Nester, reine Luft, gesunde Nahrung, oft erneuertesTrinkwasser sind unerläßliche Vorbedingungen. Sorgefür Pfleger (Ammen) solcher Rassen, welche ihre Jungen nichtselber füttern können (Kurzschnabeltümmler, Berber,Kröpfervarietäten, Karriers). Stete Beaufsichtigung derbrütenden und atzenden Paare etc.; richtige Paarung, einenicht leicht zu erwerbende Kunst.

Die wichtigsten Krankheiten der T. sind: diphtherischeSchleimhautentzündung (Geflügeltyphoid), Unverdaulichkeitoder Schwerverdaulichkeit, Darmkatarrh (Durchfall), der Katarrh derNase oder der Luftsäcke, durch Schimmelpilze hervorgerufeneLungenentzündung, Verstopfung des Kropfes, Rachitis,Vergiftungen durch Bleipräparate, Geflügelpocken(Gregarinen-Epithelium). Von den Hautleiden haben dasSchmarotzertum der Vogelmilben und Flöhe sowie der Kopfgrindund das allgemeine Ausfallen der Federn das meiste Interesse. Vgl.Prütz, Die Krankheiten der Haustauben (Hamb. 1886). Die sogen.feinen Rassen sind viel häufiger Krankheiten ausgesetzt alsdie gewöhnlichen. Zur Vermeidung von Erkrankungen sorge manfür gute Ventilation, vermeide Überfüllung, Zugluft,zu große Hitze und Kälte des Schlags, gebe nur bestesund reichliches, aber nicht überreichliches Futter, im Sommertäglich dreimal frisches, reines Wasser und halte aufpeinlichste Reinlichkeit des Schlags, der Nester und allerUtensilien; im Sommer tägliche Reinigung des Schlags. Manvermeidet durch diese Vorbeugemittel die ganze Reihe von meistgefährlichen Krankheiten der Atmungs- und Verdauungsorgane,der rheumatischen und andrer Übel. Auf Erkrankung darf manschließen, wenn die Flügel schlaff herabhängen, derSchnabel geöffnet, die Zunge und die Mundhöhle trockenoder mißfarbig sind, ein Ausfluß aus Schnabel und Nasevorhanden, die Augen entzündet, die Exkremente zu dünn,grünlich oder zu konsistent und selten sind odergänzliche Verstopfung eingetreten ist. Die erkrankten Tieresind sofort von den gesunden zu trennen und abgesondert und warm zuhalten. Wenn es sich nicht um besonders wertvolle Tiere handelt,ist von meist lange dauernden und erfolglosen Kurversuchen lieberabzusehen; Käfige und sonstige infizierte Räumlichkeitensind zu desinfizieren, die gestorbenen oder getöteten Krankenzu verbrennen oder tief zu vergraben. Unter den geflügeltenFeinden der T. sind Taubenfalke, Habicht und Sperber diegefährlichsten; gegen Katzen, Marder, Iltis, Wiesel, Rattenund Mäuse kann man die Schläge von vornhereinschützen; gegen die parasitischen, zum Teil verderblichenInsekten hilft sorgfältigste und oft wiederholte Reinigung derSchläge, Nester etc., tägliche Wegnahme des Mistes,Bestreuung des Bodens mit Asche, Tabaksstaub, des Gefieders mitpersischem Insektenpulver, Einreiben mit verdünntemAnisöl. Der Nutzen der wirtschaftlichen Taubenrassen wiegt denSchaden bedeutend auf. Junge und Alte liefern eine gesunde,leichtverdauliche Speise für Kranke und Genesende und bildenim Sommer oft die einzige Fleischkost auf dem Land oder eineneinträglichen Marktartikel. Die Gewinnung des Düngers,dessen Wert für Garten- und Feldbau man höherschätzen gelernt hat, ist im Orient einziger Zweck derTaubenhaltung (rings um Ispahan zählt man über 3000Taubentürme). Franzosen und Italiener ziehen ihn zugärtnerischen Zwecken dem Guano vor. Den angeblichen Schadenan Sämereien, gerade zur Saatzeit, hat man auf Grundgenauester Untersuchungen (Snell hat jahrelang Körner undVogelwickensamen in Kropf und Magen gezählt [in einer jungenTaube 3582], die T. auf seine Äcker gelockt und die bestenGetreideernten erhalten) als großen Vorteil erkannt. de Viteyund Befroy erachten die Zerstörung der gegen 50,000Taubentürme in Frankreich durch die Revolution von 1789 alsNationalunglück. Der wirkliche Schade an Mehl- undÖlfrüchten zur Zeit der Ernte kommt dagegen nicht inBetracht.

Brieftauben.

Als Stammeltern der Brieftaube gelten der Karrier und die vonihm zunächst gezüchtete Drachentaube, dann die Feldtaube,das Möwchen und der Tümmler. Man unterscheidet wohl 3oder 4 mehr oder minder ausgeprägte Brieftaubenrassen,namentlich die Antwerpener (Fig. 23), die Lütticher (Fig. 24)und die Brüsseler, welche aber in neuester Zeit wiederweitergebildet wurden, so daß gegenwärtig einegroße Mannigfaltigkeit vorhanden ist. Eine gute Brieftaubemuß aufrechte Haltung, langen Hals, breite Brust, breite undlange Schwingen, große Muskelkraft in den Flügeln undblaue oder dunkle Farbe besitzen; ungeduldiges, stürmischesBenehmen gelten als besonders gute Zeichen. Zu ihrem Dienstmuß die Brieftaube angelernt werden. Während man durchdie den Brieftauben gereichte Nahrung auf Erhöhung desFlugvermögens durch Stärkung der Muskeln wirkt,Fettbildung aber unterdrückt, nimmt man mit den TierenFlugübungen vor, die ihren Orientierungssinn und ihrGedächtnis stählen und allmählich immer weiterausgedehnt werden. Natürlich lernen die Tiere nur einebestimmte, immer dieselbe bleibende Richtung mit Sicherheitdurchfliegen, d. h. sie müssen im stande sein, den Weg nachihrer Heimatsstation von einer Außenstation selbst bei Nachtund ungünstiger Witterung (Nebel, Regen) zurückzulegen;nicht aber kann man von ihnen das Fliegen von mehrerenAußenstationen aus verlangen oder gar, daß sie nacheiner andern als der Heimatsstation fliegen, denn nur die Sehnsuchtnach der Heimat, als ein diesen Tieren von der Natur gegebenerInstinkt, macht sie für obige Zwecke geeignet. Deshalb werdenauch die T. verschiedener Flugrichtungen stets getrennt gehalten.Die Geschlechter sondert man voneinander nach der ersten,spätestens zweiten Brut, um eine neue Begattung der T. zuverhindern, welche die Täubin durch Entwickelung des Eies imKörper reiseuntüchtig machen würde, und ferner auch,um die Begierde zur Paarung und damit den Drang zu heben, der altenHeimat zuzufliegen. Im Schlag macht man durchLattenverschlüsse Abteilungen, deren jede einzelne freieBewegung nach dem Flugloch und Ausflugkasten gestattet, dieuntereinander aber nur durch verschließbareSchiebethüren und Lauflöcher am Boden in Verbindungstehen.

Das Einüben der T. für eine bestimmte Tour beginnt vomMai ab, nach Beendigung des Brutgeschäfts, mit Entfernungenvon 7-8 km und steigt allmählich bis zu 200 km, wobei aber dieT. erst dann in weiterer Entfernung aufgelassen werden, wenn siedie Tour vom ersten Auflaßort in geradester Richtung undkürzester Frist zurücklegen. Die Geschwin-

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Tauben (Taubenpost, Kulturgeschichtliches etc.).

digkeit des Flugs der Brieftaube beträgt 60-70 km in derStunde, übertrifft also die der schnellstenEisenbahnzüge. Bei 15-20 Meilen Entfernung kommen fastsämtliche Brieftauben unter günstigen Verhältnissenheim, mit der zunehmenden Weite aber verringert sich ihre Anzahl.Als Verlust auf kürzern Flügen schätzt man etwa 10von 100 T., doch nimmt diese Zahl mit der Entfernung in steigendemVerhältnis zu. Bei mehr als 100 Meilen Weite ist auf dieRückkehr überhaupt nicht mehr sicher zu zählen, unddann bleiben sonderbarerweise gerade die besten undzuverlässigsten Brieftauben am ehesten aus. Es haben indes aufeine Entfernung von 1600 km (Madrid-Lüttich) einige derausgelassenen T. ihren Heimatsschlag erreicht, und 1886 flogen von9 Brieftauben eine von London in den Heimatsschlag zu Boston, einezweite erreichte New York, eine dritte Pennsylvanien. DieAntwerpener Vereine wählen für die Konkurse eine Weitevon höchstens 200 Stunden. Wenn die Brieftaube in der Jugendnicht zu sehr angestrengt wird, so hält sie wohl mehrere Jahregut aus, und man hat Brieftauben von 6, 7-10 Jahren, die nochalljährliche Wettflüge in tüchtigster Weisemitmachen.

Zu den Auflaßorten werden die T. in besonderskonstruierten, ihre Verpflegung zulassenden Reisekörben perKurier- oder Schnellzug unter Aufsicht eines Wärtersbefördert. Dort angekommen, werden sie an einem freieÜbersicht gewährenden Ort bei guter Witterung, undnachdem sie kurz vor dem Abflug noch getränkt, aber nichtgefüttert worden, aufgelassen; zur Kontrolle ist jedeseinzelne Tier auf den Schwungfedern genau gezeichnet; an denSchlägen aber befindet sich ein elektrischer Läutapparat,welcher das Einspringen in den Stall dem Wärter anzeigt.Sollen die Brieftauben für Kriegszwecke benutzt werden, sowerden sie bei der Mobilmachung aus den Festungen oder sonstigenHeimatsstationen nach den Außenstationen verschickt und dortinterniert. Die Depeschen werden zu ihrer Beförderung aufmikrophhotographischem Weg auf ein feines Kollodiumhäutchenübertragen, deren sich mehrere in einem Federkiel unterbringenlassen. Dieser wird mit einem Wachspfropfen geschlossen und an eineSchwanzfeder der Taube angenäht; daß diese Feder, wennz. B. ein wenig in der Haut gelockert oder beim Zusammenstoßmit einem Raubvogel, leicht verloren gehen kann, liegt auf derHand; deshalb verlangt das Befestigen der Depesche sehr geschickteFinger, und man fertigt stets fünf T. mit der gleichenNachricht ab; deshalb hat man auch zu einem von den Chinesen seitundenklichen Zeiten angewandten Mittel gegriffen, um die T. nachMöglichkeit vor dem Anfall durch Raubvögel zuschützen. Man befestigt nämlich an die SchwungfedernGlöckchen von durchdringendem Ton, die von größterLeichtigkeit sind, das Tier also nur wenig belästigen und, jeschneller die Taube fliegt, desto heller tönend, dieRaubvögel verscheuchen. Durch die Mikrophotographie ist man imstande, den Inhalt von zwölf großen Journalen auf denRaum eines Zwanzigpfennigstücks zu konzentrieren; dasDechiffrieren erfolgt dann nach Vergrößerung mittelsLupe oder Laterna magika.

Die Benutzung der Brieftauben ist sehr alt, sie findet sich beiChinesen, Griechen und Römern und scheint im Morgenlandniemals aufgehört zu haben. Sie blühte besonders im 12.Jahrh. und später, seitdem der Kalif von Bagdad, Sultan Nur eddin, die ersten wirklichen Taubenposten eingerichtet hatte. Aus demOrient brachten sie die Kreuzfahrer nach Deutschland, wo sie vonBurg zu Burg Nachrichten trugen. Wilhelm von Oranien (1573 und1574) und Napoleon I. benutzten Brieftauben zurNachrichtenbeförderung im Krieg. Nathan Rothschild erhielt vonseinen Agenten durch die Taubenpost die neuesten Nachrichtenüber Napoleons Feldzüge und benutzte dieselben zu seinerSpekulation. Auch zwischen Paris und Brüssel habenBankhäuser Kurstauben unterhalten, und das ReuterscheBüreau bediente sich bis 1850 einer Taubenpost zwischen Aachenund Brüssel. In ganz Belgien war damals bereits, wie nochheute, die Brieftaubenliebhaberei weit verbreitet, und die ganzemilde Jahreszeit hindurch veranstaltete man allsonntäglichWettflüge, welche vom König und den Behörden durchAussetzung von Prämien unterstützt wurden. Dieser Sportverbreitete sich auch nach Frankreich, und 1820 hatte Paris einenTaubenwettflug. Zu großer Bedeutung gelangte dieBrieftaubenpost 1870 bei der Belagerung von Paris; man sandte dortim ganzen 534 T. mittels des Luftballons ab, von denen etwa 100zurückkamen. Eine Taube hat den Weg zehnmal gemacht. Auf dieseWeise wurden 60 Serien von Depeschen nach Paris hineinbefördert, und wenn diese Resultate einer improvisiertenEinrichtung auch nicht sehr glänzende waren, so hatten siedoch für die belagerte Stadt hohen Wert und veranlaßtendie Militärbehörden nach dem Frieden zu eingehenderBerücksichtigung der Brieftaubenpost. In Frankreich errichteteman im Jardin d'acclimatation eine Zentralzuchtanstalt und statteteParis und Langres derart mit T. aus, daß sie sechs Monatelang den Verkehr mit vielen andern Stationen unterhaltenkönnen. Taubenhäuser wurden außerdem in Vincennes,Perpignan, Lille, Verdun, Toul und Belfort errichtet. Aus dem MontValérien besteht eine Spezialschule für Trainierungjunger Tauben. Ein Gesetz verpflichtet alle Besitzer vonBrieftauben, diese im Krieg an die Regierung abzugeben, welchedadurch einen Zuwachs von 150,000 T. erwarten darf. ÄhnlicheEinrichtungen wurden seit 1872 in Deutschland getroffen. Dasgesamte Militärbrieftaubenwesen ist der Inspektion derMilitärtelegraphie, die Stationen (Köln [Zentralstelle],Mainz, Metz, Straßburg, Posen, Thorn, Wilhelmshaven, Kiel,Danzig) sind den örtlichen Fortifikationen oder Kommandanturenunterstellt. Die etwa 350 Brieftaubenvereine Deutschlands,besonders im Rheinland vertreten, werden im Krieg ihre etwa 50,000T. der Heeresleitung zur Verfügung stellen. NächstDeutschland ist die Kriegstaubenpost besonders in Italienentwickelt, und auch in fast allen andern Staaten hat manentsprechende Einrichtungen getroffen. 1876 wurden an derNordseeküste, besonders in Tönning an derEidermündung, Versuche angestellt, um eine Verbindung der inSee liegenden Leuchtschiffe mit dem Land (55 km) durch T.herzustellen, und in der That haben die T. bei heftigenStürmen die Lotsen herbeigerufen.

Die Taube ist das Symbol des Schöpfungswassers, derUrfeuchte (der Geist Gottes schwebte über den Wassern wie eineTaube), Regen u. Schiffergestirn, wegen ihrer Üppigkeit u.Fruchtbarkeit der Vogel der Venus, für welchen in SyrienKolumbarien errichtet wurden. Babylon war die Stadt der Taube, wodie aus einem Taubenei geborne Semiramis herrschte. Taube,Phönix und Palme identifizierte die Hieroglyphe als Bilder derZeit und der Zeugung. Noch jetzt nisten Scharen wilder T.ungestört in Mekka, und Freudenmädchen halten Kornfür dieselben feil. Auch den Israeliten war die Taube heilig,und Jerusalem hieß ebenfalls Stadt der Taube. Die Taube wardas At-

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Taubenerbsen - Tauberbischofsheim.

tribut Mariens, dann des Heiligen Geistes und später auchder Apostel. Als Symbol der Auferstehung wurden T. in dieGräber der Märtyrer gelegt, und die Grablampen (s.Lampen, Fig. 10) sowie kirchliche Geräte (s. Peristerium)erhielten Taubengestalt. In Rußland dürfen keine T.getötet werden, weil sie nach dem Volksglauben die Herbergender Seelen Verstorbener sind. Endlich ist auch die Taube Symbol derehelichen Liebe und Eintracht. Vgl. Temminck und Prevost, Histoirenaturelle générale des pigeons (Par. 1808-43, 2Bde.); Bonaparte, Iconographie des pigeons (das. 1857);Reichenbach, Naturgeschichte der T. (Leipz. 1862); Brehm,Naturgeschichte und Zucht der T. (Weim. 1857); Öttel,Geflügelhof (7. Aufl., das. 1887); Neumeister, Das Ganze derTaubenzucht (3. Aufl. von G. Prütz, das. 1876); Baldamus, DieTauben (Dresd. 1878); Prütz, Arten der Haustaube (3. Aufl.,Leipz. 1878); Ders., Illustriertes Mustertaubenbuch (Hamb. 1884);Tegetmeier, Pigeons (Lond. 1867); Fulton, The illustrated book ofpigeons (Lond. 1876); Wright, Der praktische Taubenzüchter(deutsch, Münch. 1880); Bungartz, Taubenrassen (Leipz. 1886);Derselbe, Brieftaubensport (das. 1888); Lorentz, Die Taube imAltertum (das. 1886); über Brieftauben die Schriften vonLenzen (Dresd. 1873), Ruß (Hannov. 1877), Schomann (Rostock1883); Chapuis, Le pigeon-voyageur belge (Verviers 1866); Puy dePodio, Brieftauben in der Kriegskunst (deutsch, Berl. 1873); Gigot,La science colombophile (Brüssel 1889); drei Fachjournaleüber Brieftauben in Brüssel und Antwerpen.

Taubenerbsen, s. Caragana.

Taubenfalke, s. v. w. Habicht oder Wanderfalke.

Taubenkropf, Pflanze, s. Fumaria und Corydalis.

Taubenmosaik, s. Mosaik, S. 817.

Taubenpost, s. Tauben, S. 538.

Taubenschießen, ein Sport vonaußerordentlicher Grausamkeit, dem hauptsächlich dievornehmen Stände huldigen. Vor dem Schießstand befindensich Blechkasten, deren Wände nur lose zusammengefügtsind, so daß der Bau zusammenfällt, wenn an einem daranbefestigten Draht gezogen wird. In jeden Kasten wird eine Taubegesteckt, die man meist vorher durch Ausreißen der Federn undÄtzen der Wunden, Blenden auf einem oder beiden Augen, Brechender Knochen etc. gräßlich verstümmelt hat, damitsie ihren Aufflug nicht kreisend, sondern gerade aufrecht oder nacheiner bestimmten Seite nimmt. Auf ein Kommandowort desSchützen wird an dem Draht gezogen, der Kasten fälltzusammen, die erschreckte Taube fliegt davon, und der Schützemuß sie so zu treffen suchen, daß sie innerhalb derUmzäunung zu Boden fällt, sonst gilt der Schußnicht. Anlaß zu dem grausamen Sport gab wohl der Vorwand,sich im Treffen rasch sich bewegender Gegenstände zuüben. Doch ist dieser Vorwand hinfällig, seitdem Bogarduseine Vorrichtung erfunden, durch welche mittels einer FederGlaskugeln in die Höhe geschleudert werden, und zwar mitderselben Geschwindigkeit wie der Aufflug einer Taube. Das T.blüht hauptsächlich in Monaco, England und Belgien und amHeiligen Damm bei Doberan. In Brüssel und Ostende alleinwerden alljährlich etwa 35,000 Tauben dem Blutdurst einigervornehmer Müßiggänger geopfert. Baden, Holland undandre Staaten haben das T. verboten. In England scheiterte eindiesbezüglicher Gesetzentwurf an dem Widerspruch desOberhauses. Vgl. "Aussprüche über die Taube und denTaubensport", gesammelt von A. Engel (Guden 1888).

Taubenstößer, s. v. w. Habicht.

Taubenvögel (Tauben, Columbae), Ordnung derVögel von mittlerer Größe mit kleinem Kopf, kurzemHals, schwachem Schnabel, mittellangen Flügeln und kurzenSpaltfüßen. Die T. stehen den Hühnern in vielerBeziehung sehr nahe, unterscheiden sich jedoch äußerlichdurch die Form der Flügel und des Schnabels, innerlich durchden Besitz eines paarigen Kropfes und andre Merkmale von ihnen. ImGefieder fehlen zwischen den Konturfedern die Daunen völlig;die Flügel sind (mit Ausnahme der Dodos) ziemlich lang undzugespitzt. Der Kamm des Brustbeins ist sehr hoch. Der Schnabel istam Grund weichhäutig. Der Magen hat eine sehr starkeMuskelschicht, die Gallenblase fehlt; die Blindsäcke des Darmssind sehr kurz. Die T. sind durchgängig gute, zum Teilausgezeichnete Flieger, aber schlechte Läufer. ZurBrütezeit leben sie paarweise zusammen und ziehen dannzuweilen in ungeheuern Scharen umher (Wandertaube). Das Weibchenlegt gewöhnlich 2, selten 1 oder 3 Eier in ein kunstlosesNest; die Jungen schlüpfen fast ganz nackt aus und werdendurch elne milchartige Flüssigkeit, welche im Kropf der Mutterabgesondert wird, die ersten Tage hindurch ernährt. Die T.sind fast auf der ganzen Erde zu finden, haben indessen ihregrößte Artenzahl nicht auf dem Festland, sondern auf denInseln der Südsee sowie den Antillen, wo ihre Eier denNachstellungen der Vierfüßer und Raubvögel wenigausgesetzt sind. Fossil kennt man sie aus Frankreich und England;in historischer Zeit ausgestorben ist der Dodo. Man unterscheidetdrei Unterordnungen: 1) Dodos oder Dronten (Dididae) mit 2Gattungen: Didus (Dronte, s. d., von Mauritius) und Pezophaps(Solitaire, von Rodriguez), noch im 17. Jahrh. lebend und auf dengenannten Inseln sehr zahlreich. Flügel und Schwanzverkümmert. 2) Erdtauben (Didunculidae), nur die ArtDidunculus strigirostris von den Samoainseln umfassend, mitgezahntem Unterschnabel, kurzem Schwanz, mäßig langenFlügeln, starken Läufen und langen Krallen. 3) Tauben(Columbidae) mit stets ungezahntem Schnabel. Man kennt etwa 50Gattungen mit über 350 Arten und sondert sie in die Familien:Gouridae (von Hühnergröße, auf dem Kopf eineFederkrone; nur die Gattung Goura, auf Neuguinea, Java und denBandainseln), Caloenadidae (Lauf lang; nur die Gattung Caloenas;Nikobaren, Philippinen, Neuguinea), Columbidae (Lauf kurz, Schwanzmit 12 Steuerfedern) und Treronidae (Lauf kurz, Schwanz mit l4Steuerfedern). Die beiden letztgenannten Familien sind dieHauptvertreter der Gruppe.

Taubenweizen, s. Sedum.

Tauber, linksseitiger Nebenfluß des Mains,entspringt an der Frankenhöhe beim Dorf Michelbach inWürttemberg aus dem Taubersee, durchfließt zunächstzwischen Rothenburg und Mergentheim den lieblichen Taubergrund imnordöstlichen Teil des württembergischen Jagstkreises,tritt unterhalb Mergentheim in den badischen Kreis Mosbach, wo ihrThal an Tiefe zunimmt, und mündet, immer in nordwestlicherRichtung fließend, nach 120 km langem Lauf bei Wertheim. ImTauberthal, namentlich im badischen Teil desselben, wird guter Weingebaut.

Tauberbischofsheim, Stadt im bad. Kreis Mosbach, an derTauber und der Linie Lauda-Wertheim der Badischen Staatsbahn, 183 mü. M., hat eine kath. Kirche, ein Gymnasium, einePräparanden-, eine Gewerbe- und eine landwirtschaftlicheKreisschule, ein Bezirksamt, ein Amtsgericht, eineBezirksforstei,

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Taubert - Taubstummenanstalten.

Schuh- und Zigarrenfabrikation, Marmorschneiderei und-Schleiferei, eine Kunstmühle, Bierbrauerei, Weinbau und-Handel und (1885) 3325 meist kath. Einwohner. T. war schon 725 einbischöflicher Hof mit Kammerkloster, welches im 13. Jahrh. inein Spital umgewandelt wurde. Hier 24. Juli 1866 Gefecht zwischenden Preußen und Württembergern.

Taubert, 1) Wilhelm, Klavierspieler und Komponist, geb.23. März 1811 zu Berlin, bezog in seinem 16. Jahr die BerlinerUniversität, wo er philosophische Kollegien hörte,zugleich aber auch unter Berger und Klein Komposition studierte,und wirkte dann hauptsächlich als Lehrer, bis ihm 1831 dieLeitung der Hofkonzerte am Klavier übertragen wurde. ZehnJahre später wurde er zum Kapellmeister der königlichenOper ernannt, und im Winter 1842/43 rief er die Symphoniesoireender königlichen Kapelle ins Leben, welche er auch nach seiner1870 erfolgten Pensionierung als Opernkapellmeister zu leitenfortfuhr. Seit 1839 Mitglied der Akademie der Künste, wurde er1882 zum Präsidenten der musikalischen Sektion derselbenernannt. Als Komponist hat T. auf allen Gebieten Beachtenswertesgeleistet; von seinen dramatischen Werken verdienen die Opern: "DieKirmes" (1832), "Macbeth" (1857), "Cesario" (1874) sowie die aufVeranlassung Friedrich Wilhelms IV. geschriebene Musik zur "Medea"des Euripides und die Musik zu Shakespeares "Sturm" Erwähnung,obwohl sie, wie auch seine zahlreichen Instrumentalwerke, nur einenAchtungserfolg erzielten. Unbedingten Beifall haben dagegen seineLieder gefunden, welche (namentlich die Kinderlieder) durch denVortrag einer Jenny Lind, Johanna Wagner, A. Joachim und andrerSängerinnen ersten Ranges zu seltener Popularitätgelangten.

2) Ernst Eduard, Komponist, geb. 25. Sept. 1838 zu Regenwalde inPommern, studierte zu Bonn Theologie, bildete sich hier unterAlbert Dietrichs sowie später in Berlin unter Kiels Leitung inder Komposition aus und nahm dann in letzterer Stadt seinenWohnsitz. Als Komponist, als Lehrer wie auch als Musikkritikernimmt T. in Berlin eine hervorragende Stellung ein. Unter seinenWerken haben die für Kammermusik sowie eine große Zahlvon Liedern allgemeinen Beifall gefunden.

3) Emil, Dichter, Sohn von T. 1), geb. 23. Jan. 1844 zu Berlin,studierte daselbst Philologie und Philosophie, wurde Lehrer amFriedrich Wilhelms-Gymnasium, 1877 Oberlehrer am königlichenLehrerinnenseminar und 1886 zum Intendanturrat bei denköniglichen Schauspielen ernannt. Er veröffentlichteaußer Novellen etc. in Zeitschriften: "Gedichte" (Berl.1865); "Neue Gedichte" (das. 1867); "Jugendparadies, Gedichtefür jung und alt" (das. 1869) und "Juventas. Neue Dichtungenfür jung und alt" (das. 1875); "Waffenklänge"(Zeitgedichte, das. 1870). Als talentvoller Schilderer vonNaturszenen und lebendiger Erzähler bewährte er sich vorallem in den poetischen Erzählungen: "Der Goldschmied zuBagdad", "Am Kochelsee" und "Die Cikade" (Leipz. 1880), denen "DieNiobide", Novelle (das. 1880), und "Der Torso", eineKünstlergeschichte in Versen (das. 1881), das epische Gedicht"König Rother" (Berl. 1883) u. die Novellen: "Der Antiquar"(das. l882),"Sphinx Atropos"(das. 1883), "Marianne" (das. 1883),"Simson" (Gera 1886), "Laterna magika" (das. 1885) und "Langen undBangen" (Berl. 1888) etc. nachfolgten.

4) A., Schriftstellerin, s. Hartmann 12).

Taubheit (Surditas), die höhern und höchstenGrade der Schwerhörigkeit (s. d.). Fälle von absoluter T.sind selten und beruhen immer auf vollständiger Lähmungbeider Gehörnerven. Vgl. Taubstummheit.

Taubilder (Mosersche Bilder, Hauchbilder). Wenn man miteinem trocknen, nicht abfärbenden Gegenstand auf eine ebeneFläche schreibt, so treten die unsichtbaren Schriftzügehervor, sobald man auf der Fläche durch Anhauchen eine zarteSchicht von Wasserbläschen erzeugt, weil die Wasserdämpfeauf den Schriftzügen anders kondensiert werden als auf derübrigen Fläche. Legt man auf eine polierteMetallfläche ein Petschaft, eine Münze oder einengeschnittenen Stein, so kann man nach einigen Stunden ebenfallsdurch Anhauchen das Gepräge der Münzen auf derMetallfläche hervorrufen. Auf einer mit Jod geräuchertenSilberplatte kann man T. mit Quecksilberdämpfen hervorbringen,indem sich diese bald vorzugsweise an denjenigen Stellenniederschlagen, an welchen eine Berührung stattfand, bald anden nicht berührten Stellen. Es bedarf sogar nicht einmal derunmittelbaren Berührung der Metallplatte und des Stempels; esgenügt, wenn letzterer in sehr geringer Entfernung überder Platte aufgehängt wird. Moser nahm zur Erklärungdieser Erscheinung die Existenz eines latenten Lichts an; dagegenwies Waidele nach, daß es sich hier um Molekularwirkungenzwischen festen und gasförmigen Körpern handelt. Jederfeste Körper ist für sich mit einer Hülleverdichteter Luft umgeben, von welcher er durch Glühen, durchstarkes anhaltendes Reiben oder durch Berührung mitabsorbierenden Substanzen befreit werden kann. Wenn nun ein Stempelauf eine Platte gesetzt wird, so werden sich im allgemeinen dieOberflächen beider Körper nicht in einem gleichen Zustandder Reinheit befinden; an den Berührungsstellen geht alsogewissermaßen ein Austausch der Atmosphären vor sich.Die Platte wird an der Stelle, wo der Stempel lag, je nach denUmständen mehr oder weniger Gase verdichtet haben als anandern Stellen, und hier werden also auch die Dämpfestärker oder schwächer kondensiert werden. Das Bild wirdmithin ein anderes, je nachdem der Stempel oder die Platte vonihrer Atmosphäre gereinigt worden war, und man erhält garkein Bild, wenn man auf die gereinigte Platte einen gereinigtenStempel setzt.

Täubling, Pilz, s. Agaricus III.

Taubmann, Friedrich, Gelehrter, geb. 1565 zu Wonsees beiBaireuth, ward 1595 Professor der Dichtkunst in Wittenberg undstarb daselbst 24. März 1613. Er that viel für Belebungder humanistischen Studien und bekämpfte mit den Waffen desErnstes und Spottes die Verirrungen seiner Zeit. Bekannt ist dieSammlung seiner witzigen Einfälle und Aussprüche unterdem Titel: "Taubmanniana" (Frankf. 1713, Münch. 1831), diemanche fremde Zuthaten enthält. Vgl. Genthe, Friedrich T.(Leipz. 1859); Ebeling, F. T. (3. Aufl., das. 1884).

Taubnessel, stinkende, s. Ballota.

Taubsein der Glieder, s. v. w. Absterben.

Taubstummenanstalten und Taubstummenunterricht. Die fürErziehung und Unterricht der Taubstummen bestimmten Anstaltenverdanken ihren Ursprung den seit der zweiten Hälfte des 18.Jahrh. hervortretenden Humanitäts- undWohlthätigkeitsbestrebungen. Im Altertum (Aristoteles) wie imchristlichen Mittelalter (Augustinus, römisches Recht) hieltman die Taubstummen für bildungsunfähig. Auch trug manöfters sogar religiöse Bedenken, Geschöpfen dieSegnungen der Bildung sozusagen aufzudrängen, denen Gott dienatürliche Befähigung für

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Taubstummenanstalten und Taubstummenunterricht.

diese Güter versagt habe. Doch wurden im Altertum wie imMittelalter einzelne Fälle bekannt, in denen die geistigeAusbildung Taubstummer gelungen war. So werden im alten Rom zweistumme Maler genannt; um 700 n. Chr. hat nach Beda demEhrwürdigen Bischof Johannes von Hagunstald (Hexham) einenTaubstummen zum Absehen und zum Sprechen gebracht. Rudolf Agricola(gest. 1485) berichtet als Augenzeuge, daß ein Taubstummerzum ungehinderten schriftlichen Verkehr mit seiner Umgebungherangebildet war. Der berühmteste der älternTaubstummenlehrer ist der spanische Mönch Pedro de Ponce zuSahagun in Leon (gest. 1584), welcher vier Taubstummen dieLautsprache beibrachte. In Deutschland unterrichtete gleichzeitigder kurbrandenburgische Hofprediger Joachim Pascha (gest. 1578) mitErfolg seine taubstumme Tochter. Zahlreicher treten ähnlicheLeistungen im 18. Jahrh. hervor, in dessen zweiter Hälftezuerst geordnete Anstalten für den Unterricht taubstummerKinder gegründet wurden. Dies geschah durch diemenschenfreundliche Thätigkeit zweier Männer, desAbbé Charles Michel de l'Epée zu Versailles (1760,seit 1791 Staatsanstalt) und Sam. Heinickes zu Eppendorf beiHamburg (1768), welch letztern der Kurfürst Friedrich Augustvon Sachsen 1778 zur Einrichtung einer öffentlichenTaubstummenanstalt nach Leipzig berief. Seit jener Zeit ist diePflicht des Staats und der Gesellschaft, für Erziehung undUnterricht der Taubstummen in besondern Anstalten Sorge zu tragen,mehr und mehr zum allgemeinen Bewußtsein gekommen. Trotzzahlreicher und großenteils gut ausgestatteter Anstaltendieser Art ist aber dem Bedürfnis selbst unter den gebildetenVölkern Europas noch bei weitem nicht Genüge geleistet.Die Unterweisung eines taubstummen Kindes muß übrigensmöglichst schon im elterlichen Haus beginnen. Auch ist esrätlich, taubstumme Kinder, ehe sie in einer Anstalt Aufnahmefinden können, in der Ortsschule an den technischenÜbungen teilnehmen und den bildenden Umgang mit vollsinnigenKindern genießen zu lassen.

Der Taubstummenunterricht soll zunächst und vor allem denTaubstummen dahin bringen, daß er andre verstehe und sichihnen verständlich machen könne, woran sich dann Weckungund Übung der geistigen Kräfte des Zöglings sowieMitteilung der nötigen Kenntnisse und Fertigkeitenanknüpfen. In dieser Hinsicht empfiehlt sich, das taubstummeKind so viel, wie es der natürliche Fehler zuläßt,nach der für gesunde Kinder geltenden natürlichen Methodezu unterrichten. Ganz besonders ist hier auch der sogen.Handfertigkeitsunterricht, d. h. die Anleitung zuäußern, zur sinnigen Beschäftigung wie zumanständigen Fortkommen im bürgerlichen Leben dienendenFertigkeiten, am Platz. Dieser Unterricht wird in gutenTaubstummenanstalten mit besonderer Aufmerksamkeit und oft mitüberraschendem Erfolg betrieben (s. Industrieschulen). Diefür den Taubstummenunterricht in Betracht kommenden Mittel derVerständigung sind: die Zeichen-, die Laut- und dieSchriftsprache. Zu der erstern gehören: die natürlicheZeichen- und Gebärdensprache, auf welche sich alle Menschen,besonders aber die Taubstummen, von Haus aus verstehen, und welchedas unentbehrliche Verständigungsmittel für denanfänglichen Verkehr der zu unterrichtenden Taubstummen mitdem Lehrer und untereinander ist; die künstliche, methodischeZeichen- oder Gebärdensprache und die Finger- oderHandsprache, bei der die Buchstaben des Alphabets durch Finger- undHandbewegungen dargestellt werden (s. Gebärdensprache[Fingersprache]). Die beiden letztern sind, als dem eigentlichenZweck der Taubstummenbildung (Befähigung des Viersinnigen zumVerkehr in der Welt) hinderlich, heutzutage aus allen gutenAnstalten verbannt. Aber auch die (leicht überwuchernde)natürliche Gebärde wird in Deutschland mißtrauischangesehen und auf das engstmögliche Gebiet beschränkt.Bei der Laut- oder Lippensprache (Artikulation) muß dertaubstumme Schüler befähigt werden, durch aufmerksamesBeobachten der Bewegungen der Lippen, der Zunge und zum Teil auchder Gesichtszüge den Sprechenden zu verstehen und sich anderndurch lautes Sprechen verständlich zu machen. Mit derLautsprache geht die Schriftsprache Hand in Hand. Zu derLautsprache den Taubstummen zu befähigen, ist zwar schwierig,muß aber als die eigentliche Aufgabe desTaubstummenunterrichts betrachtet werden; denn hat der Taubstummedieselbe einmal erlernt, so ist er im stande, mit der menschlichenGesellschaft in bewußte Wechselwirkung zu treten, wodurchsowohl seine weitere Bildung als sein äußeres Fortkommenungemein erleichert wird. Da auch der ausgebildete Taubstumme wederdie eignen Worte noch diejenigen andrer hört, bringt er esnatürlich nicht zu einer klangvollen und wohlbetontenAussprache, wiewohl auch hierin einzelne begabtere Zöglingeerstaunliche Fortschritte machen. Dagegen gelingt es in gutenAnstalten stets, solche Kinder, die rechtzeitig eintreten (8.-12.Jahr) und nicht aus andern Ursachen bildungsunfähig sind, zueinem im wesentlichen lautrichtigen und daher verständlichenSprechen anzuleiten. Hierin ist das Ziel angedeutet, welches sichnach Heinickes Vorgang seit Jahrzehnten alle deutschen undheutzutage alle gut eingerichteten Anstalten stecken. Der Sieg derArtikulationsmethode ist namentlich durch die Beschlüsse derinternationalen Kongresse für Taubstummenwesen zu Paris (1879)und Mailand (1880) entschieden. Heinicke hatte darin schon denSpanier Ponce, den Schweizer Amann (in Holland um 1700) u. a. zuVorgängern. Der Abbé de l'Epée dagegen und nachihm Sicard und Guyot hatten sich für die Zeichen- undGebärdensprache als das hauptsächliche Mittel desgeistigen Verkehrs für Taubstumme entschieden, ohne dieArtikulation darum ganz auszuschließen. Taubstummenanstaltengibt es gegenwärtig gegen 400, davon in Europa 340, inDeutschland 100 und von diesen in Preußen 51. Manschätzt die Anzahl der Taubstummen in Europa auf etwa 300,000,wovon 60,000 im schulpflichtigen Alter, aber nur 20,000 inregelrechter Pflege stehen. In Deutschland genießen von etwa8000 schulpflichtigen Taubstummen gegen 6600 Anstaltserziehung,also etwa 8.2 Proz. Dagegen wachsen hier 18, inGroßbritannien 43, in Frankreich gegen 40, inÖsterreich-Ungarn gegen 70, in Rußland und andernLändern bis zu 90 Proz. der Taubstummen noch ohnegehörige Bildung auf. Vgl. Hill, Der gegenwärtige Zustanddes Taubstummenbildungswesens in Deutschland (Weim. 1866);Derselbe, Grundzüge eines Lehrplans fürTaubstummenanstalten (das. 1867); Schöttle, Lehrbuch derTaubstummenbildung (Tübing. 1874); Walther, Geschichte desTaubstummenbildungswesens (Bielef. 1882); Derselbe, Diekönigliche Taubstummenanstalt zu Berlin (Berl. 1888); Gude,Gesetze der Physiologie und Psychologie und Artikulationsunterrichtder Taubstummen (Leipz. 1880); Hedinger, Die Taubstummen undTaubstummenanstalten (Stuttg. 1882); "Beiträge zur Geschichteund Statistik der Taubstummenbildung" (Berl. 1884): Schneider undv. Bremen, Volksschulwesen des preußischen Staats (Berl.

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Taubstummheit - Taucherapparate.

1886-87, 3 Bde.). Zeitschriften: "Blätter fürTaubstumme" (hrsg. von Hirzel, Schwäb.-Gmünd, seit 1855),"Organ der Taubstummenanstalten" (hrsg. von Vatter, Friedberg, seit1855) und "Blätter für Taubstummenbildung" (hrsg. vonWalther und Töpler, Berl., seit 1887).

Taubstummheit (Aphonia surdorum, Surdomutitas),Stummheit, durch Taubheit bedingt, ist entweder angeboren oderwährend der Kindheit vor der Zeit entstanden, in welcher dieKinder gewöhnlich sprechen lernen, nämlich vom 1. oder 2.bis zum 6. oder 7. Jahr. Viel häufiger, als man früherannahm, entwickelt sich Taubheit nach ansteckendenKinderkrankheiten, Masern und Scharlach, welche einen Katarrh desMittelohrs herbeigeführt haben; allmählich verlernensolche Kinder, denen die Kontrolle der Lautbildung durch dasGehör fehlt, auch die Sprache, und so kommt volle T. zustande. Die Stimmwerkzeuge sind in der Regel von Natur ausvollkommen gebildet und bleiben nur wegen ihres unterbliebenenGebrauchs zum Sprechen in ihrer Ausbildung zurück; die Zungeist dick, schwer beweglich, nur zum Kauen und Hinabschluckengeeignet; der kleine, nicht hervorspringende Kehlkopfläßt nur zeitweise unwillkürliche und unangenehmklingende Laute vernehmen; die Stimme ist rauh, unartikuliert,näselnd und pfeifend oder springt plötzlich aus demBaß in den Sopran über; die Silben werden schwierig odergar nicht ausgesprochen, und die Artikulation ist mangelhaft. Ingebirgigen Gegenden kommt T. verhältnismäßighäufiger vor als in den mehr ebenen, denn während siesich hier wie 1 zu 1300-1500 verhält, ist das Verhältnisin der kretinreichen Schweiz wie 1 zu 175. In Sardinien, imSchwarzwald, in Savoyen, in den Kantonen Bern, Wallis und Aargaukommt T. nach den vorhandenen Zählungen am häufigstenvor. Vgl. Hartmann, Taubheit und Taubstummenbildung (Berl. 1880).Weiteres s. Taubstummenanstalten.

Taucha, Stadt in der sächs. Kreis- undAmtshauptmannschaft Leipzig, an der Parthe und an der LinieLeipzig-Eilenburg der Preußischen Staatsbahn, hat eine evang.Kirche, ein Schloß, eine Korrektions- und Siechenanstalt, einAmtsgericht, starke Schuhmacherei, Rauchwaren-Zurichterei und-Färberei, eine chemische Fabrik, 2 Dampfziegeleien u. (1885)2778 Einw.

Tauchenten (Fuligulidae), Familie aus der Ordung derSchwimmvögel (s. d.).

Taucher (Urinatores), Familie aus der Ordnung derSchwimmvögel, umfaßt die Pinguine, Seetaucher,Steißfüße und Alken.

Taucherapparate, Vorrichtungen, mittels welcher manlängere Zeit unter Wasser verweilen kann. Da diegeschicktesten Taucher höchstens zwei Minuten in der Tiefeverharren, so hat man sich bemüht, Mittel zu finden, um dasAtmen unter Wasser möglich zu machen. Hermetischanschließende Helme, welche den ganzen Kopf des Tauchersbedecken, gewähren nur geringe Hilfe, da die in ihnenenthaltene Luft sehr schnell ihres Sauerstoffs so weit beraubtwird, daß sie nicht länger eingeatmet werden kann.Geräumige Glocken (Taucherglocken), welche mit einem Seil indie Tiefe gelassen werden, bergen für den in ihnen sitzendenTaucher mehr Luft; aber auch diese ist bald verbraucht. Fürlängern Aufenthalt unter Wasser wurden daher die Apparate erstgeeignet, als man sie durch Röhren mit Pumpwerken inVerbindung setzte, welche sie fortwährend mit frischer Luftversorgten. Die Pumpe preßt ununterbrochen Luft in dieGlocke, so daß diese ganz wasserleer wird und großeLuftblasen an ihrem unteren Rand entweichen. Auf diesem Prinzipberuhen unter anderm die großen Apparate, in welchen mehrereArbeiter zum Fundamentieren der Brückenpfeiler u. dgl. unterWasser arbeiten. Sie bestehen aus cylindrischen oder prismatischenGefäßen (caisons) aus Eisenblech, welche unten offen,oben aber geschlossen sind und durch ununterbrochenes Einpumpen vonfrischer Luft unter einem der Wassertiefe entsprechenden Druckwasserfrei gehalten werden, so daß bequem, wennschon inkomprimierter Luft, darin gearbeitet werden kann. Das Ein- undAustreten der Arbeiter erfolgt durch eine sogen. Schleuse, eineenge Kammer, welche nach der freien Luft sowie nach dem Innern desCaissons durch eine Thür hermetisch abgeschlossen werden kann,so daß beim Befahren nie eine größere als demInhalt der Kammer entsprechende Luftmenge verloren geht. Indem derGrund tiefer ausgegraben wird, sinkt der Caisson immer weiter einund wird, wenn man auf festem Baugrund angekommen ist, mit Betonausgefüllt und so in einen mächtigen Steinblockverwandelt, auf welchem dann weiter gebaut wird. Der Luftdruck,unter welchem sich die Arbeiter befinden, beträgt 1Atmosphäre für je 10 m Wassertiefe u. wirkt nachteiligauf die Gesundheit (vgl. Komprimierte Luft). Der gewöhnlicheTaucherapparat, Skaphander-Apparat, besteht aus einem wasserdichtenAnzug und einem Helm, der mit der Pumpe verbunden ist, undgestattet eine freie Bewegung des Tauchers, kann aber leicht durchden plötzlich auf den Taucher einwirkenden Luftdruckgefährlich werden. Beim Niedersinken enthält nämlichdie Lunge des Tauchers Luft von gewöhnlicher Spannung und wirddurch die eingeatmete komprimierte Luft zusammengedrückt.Steigt der Taucher auf, so nimmt der äußere Druck sehrschnell ab, und dadurch ist die Lunge der Gefahr ausgesetzt, durchdie in ihr enthaltene dichtere Luft zerrissen zu werden. Sehrwichtig ist daher der Apparat von Rouquairol-Denayrouze, welcherden Taucher fortwährend mit Luft, die unter gewöhnlichemDruck in die Lungen gelangt, versorgt. Der Taucher nimmt diesen auszwei Kammern bestehenden und mit komprimierter Luft gefülltenApparat wie einen Tornister aufgeschnallt mit sich in die Tiefe.Die eine Kammer wird vermittelst eines Schlauchs direkt durch dieLuftpumpe mit komprimierter Luft gefüllt, während dieandre Kammer durch einen Schlauch und ein Mundstück mit derLunge des Tauchers in Verbindung tritt. Beide Kammern stehen nundurch ein Kegelventil in Verbindung, welches durch den Druck derkomprimierten Luft in der ersten Kammer geschlossen wird, sich aberdurch Saugen an dem Mundstück oder durchVergrößerung des Wasserdrucks öffnet. Auf dem zumMundstück führenden Rohr ist ein Ventil zum Ausatmenangebracht. Der Apparat (Regulator) kann ohne und in Verbindung mitHelm gebraucht werden. Letzterer sowie der damit verbundeneTaucheranzug dient nur als Schutz gegen die Nässe. Mit diesemApparat kann sich der Taucher während mehr als 4-5 Stundenfrei und ohne Beschwerden in der Tiefe bewegen, und da seinKörper durch keinen weitern Apparat belästigt ist, sovermag er auch anstrengende Arbeiten unter Wasser auszuführen.Ein andrer Apparat unterscheidet sich von diesem insofern, als derTaucher nur durch den Mund aus dem Regulator einatmet, dieverbrauchte Luft aber durch die Nase in das Innere seines Anzugsausstößt, aus welchem er sie von Zeit zu Zeit durchÖffnen eines Hahns am Helm ablassen kann. Wird letzteres eineZeitlang unterlassen, so füllt sich der Anzug stark mit Luft,und der Taucher steigt von selbst empor. T. sind schon

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Taucherglocke - Tauerei.

von Aristoteles beschrieben worden. Die Taucherglocke wirdschon im Altertum erwähnt, Aristoteles spricht indes nurvon einer Taucherkappe, einem umgestürzten Kessel, welcher denKopf des Tauchers aufnehmen sollte. Der WürzburgerMathematiker Kaspar Schott (1608-66) beschrieb in seiner "Technicacuriosa" (1664) eine wirkliche Taucherglocke, und Sinclairbeschrieb in seiner "Ars nova et magna gravitatis et levitatis"(1669) die Taucherglocke, welche 1588, 1665 u. 1687 angewandtwurde, um die Schätze der versunkenen spanischen Armada zuheben. Halley versah 1716 die Taucherglocke mit einer Vorrichtung,um dem Taucher Luft zuzuführen. Seine 1721 konstruierteTaucherkappe ist im Prinzip noch heute bei den Arbeiten auf demMeeresgrund im Gebrauch. Die T. haben große Bedeutunggewonnen bei der Korallen-, Bernstein- und Perlenfischerei, beiWasserbauten, bei Reparaturen an Schiffen und namentlich auch zumTorpedolegen. Für größere Tiefen als 45 mkönnen T., welche den Aufenthalt in komprimierter Luftbedingen, nicht mehr verwendet werden. Den Taucherapparatenverwandt sind die Rettungsapparate für Feuersbrünste(Östbergs Patent), welche aus doppelwandigen Gummianzügenbestehen, aus denen nach allen Seiten Wasser ausspritzt, welches,wie auch Luft zum Atmen, durch Röhren zugeführt wird.Vgl. Respirationsapparat.

Taucherglocke, s. Taucherapparate.

Taucherkolben, s. v. w. Mönchskolben, Plunger; s.Pumpen, S. 462.

Taucherschiff, s. Unterseeische Fahrzeuge.

Tauchnitz, 1) Karl Christoph Traugott, namhafterBuchdrucker und Buchhändler, geb. 29. Okt. 1761 zuGroßbardau bei Grimma, gründete 1796 zu Leipzig eineDruckerei, mit der er 1798 eine Verlagsbuchhandlung verband, unddie er allmählich zu einer der größten OffizinenDeutschlands erweiterte. Seine Thätigkeit richtete ernamentlich auf die Herstellung von Stereotypausgaben dergriechischen und römischen Klassiker, vonWörterbüchern und Bibeln. Berühmt ist auch der vonihm in der Ursprache gedruckte Koran (1834). T. starb 14. Jan. 1836in Leipzig. - Sein Sohn Karl Christian Philipp T., geb. 4.März 1798 zu Leipzig, führte das Geschäft in der vomVater angebahnten Weise bis 1865 fort, in welchem Jahr dasselbedurch Kauf in den Besitz von O. Holtze überging. T. starb 16.April 1884 in Leipzig, sein bedeutendes Vermögen der StadtLeipzig zur Errichtung einer wohlthätigen Stiftunghinterlassend.

2) Christian Bernhard, Freiherr von, Neffe von T. 1),Buchhändler, geb. 25. Aug. 1816 zu Schleinitz bei Naumburg,gründete 1837 unter der Firma Bernhard T. in Leipzig eineVerlagshandlung nebst Druckerei, besonders bekannt durch die 1841begonnene "Collection of British authors", von welcher bis 1889über 2550 Bände erschienen sind. Daneben pflegte T.besonders den Verlag von größern juristischen Werken undWörterbüchern sowie von kritischen griechischen undrömischen Klassikerausgaben. Seit 1866 läßt er aucheine "Collection of German authors", welche die vorzüglichstenWerke der deutsch en Litteratur in englischer Übersetzungenthält, und seit 1886 die "Student's Tauchnitz editions",Ausgaben englischer und amerikanischer Werke mit deutschenEinleitungen und Anmerkungen, erscheinen. Im J. 1860 wurde T. vomHerzog von Koburg in den erblichen Freiherrenstand erhoben und 1877zum Mitglied der sächsischen Ersten Kammer ernannt; auch ister großbritannischer Generalkonsul für dasKönigreich Sachsen.

Tauenzeichenpapier, aus alten Schiffstauen hrgestelltesPapier, dient zu Werkstattzeichnungen.

Tauenzien (Tauentzien), Boguslaw Friedrich Emanuel, GrafT. von Wittenberg, preuß. General, geb. 15. Sept. 1760 zuPotsdam, Sohn des im Siebenjährigen Krieg berühmtgewordenen Verteidigers von Breslau und Gönners Lessings, desGenerals Boguslaw Friedrich von T. (geb. 18. April 1710 imLauenburgischen, gest. 20. März 1791), trat 1775 in diepreußische Armee, nahm an dem Feldzug von 1793 teil, ward1795 Oberst und 1801 Generalmajor. Als solcher befehligte er 1806ein vom Fürsten Hohenlohe bis Saalburg vorgeschobenesBeobachtungskorps, wurde zwar vom Marschall Soult nach Schleizzurückgedrängt, bewerkstelligte aber dann trotz desunglücklichen Gefechts vom 9. Okt. seinen Rückzug auf dieHauptarmee. Bei Jena befehligte er die Avantgarde desHohenloheschen Korps. Nach dem Frieden zu Tilsit erhielt er alsGeneralleutnant das Kommando der brandenburgischen Brigade undbeteiligte sich an der Reorganisation der Armee. 1813 zumMilitärgouverneur zwischen der Oder und Weichsel ernannt,leitete er die Belagerung von Stettin. Seit August kommandierte erdas meist aus Landwehr bestehende 4. preußische Armeekorpsund focht an der Spitze desselben bei Großbeeren (23. Aug.)und Dennewitz (6. Sept.). Im Oktober ward sein Korps zur Deckungdes Übergangs über die Elbe bei Dessauzurückgelassen. Nach der Schlacht bei Leipzig zwang er Torgauzur Kapitulation (26. Dez.) und nahm Wittenberg in der Nacht vom13. zum 14. Jan. 1814 mit Sturm, wodurch er sich dasEhrenprädikat "von Wittenberg" erwarb. Auch Magdeburg fielnach engerer Einschließung 24. Mai. Im Feldzug des folgendenJahrs erhielt T. das Kommando des 6. Armeekorps; doch war, als erden französischen Boden betrat, der Krieg durch die Schlachtbei Waterloo bereits entschieden. Nach dem Frieden erhielt T. denOberbefehl über das 3. Armeekorps. Er starb als Kommandant vonBerlin 20. Febr. 1824.

Tauerei (Kettenschiffahrt, Seilschiffahrt, Touage), einSystem der Schleppschiffahrt, bei welchem die auf dem Schiffstehende Maschine Trommeln in Umdrehung versetzt, um welche maneine endlose Kette oder ein endloses Seil mehreremal schlingt,während Kette oder Seil längs des ganzen vom Schiff zudurchlaufenden Wegs über den Boden hin ausgespannt und anbeiden Enden an letzterm entsprechend befestigt sind. Der auf dieseWeise bewegte Ketten- oder Seildampfer dient in gewöhnlicherWeise als Schleppschiff (Toueur), welchem die Lastschiffeangehängt werden. Die ersten Versuche mit der T. wurden 1732auf Veranlassung des Marschalls Moritz von Sachsen angestellt; zurAusführung im großen kam die T. aber erst 1820 in Lyonauf der Saône durch Tourasse und Courteaut. Die hierbeiverwendeten Schiffe trugen einen sechsspännigenPferdegöpel, durch welchen ein Hanfseil auf eine Trommelaufgewunden wurde. Das andre Ende des Seils war in einer Entfernungvon etwa 1 km am Ufer befestigt, und sobald das Seilvollständig aufgewunden war, mußte es wieder abgewickeltwerden, während man ein zweites, in gleicher Entfernung amUfer befestigtes Seil aufwand. Seit diesen Versuchen wurde dasPrinzip beständig ausgebildet, und 1853 kam die T. in ihrerheutigen Vollkommenheit auf der Seine in Anwendung. Auch andrefranzösische Flüsse und Kanäle wurden mit der Ketteversehen, und bald folgten Belgien und Holland dem gegebenenBeispiel. In Deutschland wurde die erste T. 1866 durch dieHamburg-

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Tauerei - Tauern.

Magdeburger Dampfschiffahrtsgeschschaft in Magdeburg auf der¾ Meile langen Elbstrecke zwischen Neustadt und Buckauausgeführt und der Betrieb sogleich mit so großem Erfolgbewerkstelligt, daß damit die Rentabilität der T.für die meisten schiffbaren Flüsse außer Zweifelgesetzt wurde. 1871 wurde die ganze Linie von Magdeburg bis zurböhmischen Grenze eröffnet und 1873 auch die Strecke vonder Mündung der Saale bis Kalbe in Betrieb gesetzt. Seitdemhat die T. auch auf andern deutschen Flüssen Verwendunggefunden, auf dem Rhein seit 1877 (zuerst Ruhrort-Emmerich), aufHavel und Spree seit 1882 etc. Am großartigsten ist derTauereiverkehr in den Vereinigten Staaten von Nordamerika aufFlüssen und Seen entwickelt. Der in Magdeburg angewandteKettendampfer ist mit Ausnahme des Verdecks vollständig ausEisen konstruiert, 51,3 m lang, 6,7 m breit und hat 48 cm Tiefgang.Er besitzt an beiden Enden Steuerruder, welche von der Mitte desSchiffs aus gemeinsam regiert werden können. Mit Hilfe dieserSteuerung sowie zweier an jedem Schiffsende angebrachterbeweglicher Arme, welche die Kette zwischen Rollen aufnehmen,dagegen in horizontaler Richtung fast um 90° drehbar sind, wirdes möglich, das Schiff auch in andrer als der Richtung derZugkette zu steuern, ohne daß dadurch die Aufwickelung derletztern gestört wird. Dies ist für die Anwendung desKettenschiffs auf gekrümmten Stromstrecken von großerBedeutung. Auf dem Hinterteil des Schiffs befinden sich zweiTrommeln von 1,1 m Durchmesser und 2,6 m gegenseitigerAchfenentfernung, von denen jede mit vier Rinnen versehen ist. DieKette, welche von dem Schiff auf dessen Vorderseite aus dem Wasseremporgehoben wird, läuft in einer schräg aufsteigenden,mit Leitrollen versehenen Rinne zu den Trommeln und schlingt sichum jede 3½mal, indem sie von der ersten Rinne der erstenTrommel auf die erste Rinne der zweiten Trommel, dann auf diezweite Rinne der ersten Trommel etc. übergeht. Zuletzt wirdsie in einer schräg abfallenden Rinne an das hintere Ende desSchiffs geleitet und sinkt in das Wasser zurück. DieBetriebsdampfmaschine, welche auf jeder Seite durch einewasserdichte Wand vom übrigen Schiffsraum abgeschlossen ist,hat 60 Pferdekräfte. Das Schiff befördert eine Last, dieso groß ist wie die von 4-6 Güterzügen von 100Achsen, und überwindet ungleich größere Hindernisseals ein gewöhnlicher Schlepper. Auf der Oberelbe beträgtdie mittlere Fahrgeschwindigkeit zu Berg 1,4 m pro Sekunde oder0,66 Meile in einer Stunde. Die Kettenschiffe befördern z. B.die Lastschiffe von Magdeburg nach Dresden in 72 Stunden,während Raddampfer dazu 120 Stunden brauchen. In Belgien hatman sich bemüht, die Kette durch ein Drahtseil zu ersetzen.Man wendet hierbei die von Fowler für seine Dampfpflügekonstruierte Klappentrommel an, welche in der Mitte des Schiffs ander einen Seitenwand angebracht ist. Das Seil legt sich auf dieseTrommel, fällt an jeder Seite vertikal herab und wird durchzwei kleinere Trommeln in horizontaler Richtung nach dem Vorder-und Hinterteil des Schiffs geführt, um hier von zwei kleinenRollen aufgenommen und in das Wasser geleitet zu werden. DieseFührungsrollen sind nach allen Seiten drehbar und stellen sichdaher der jedesmaligen Richtung des Schiffs entsprechend. DieFowlersche Trommel besitzt an ihrem Umfang eine aus zwei Reihenbeweglicher Backen gebildete Rinne, deren Breite sich nach derAchse der Trommel hin verringert, so daß das auf derTrommelliegende Seil um so stärker gespannt wird je tiefer es sich indie Rinne einlegt. Zur Verhinderung des Abgleitens des Seils beimIngangsetzen des Schiffs dienen zwei in der Nähe der Trommelbefindliche Friktionsrollen. Das auf der Maas angewandte Drahtseilhat 25 mm Durchmesser und ist aus 42 eisernen Drähtenzusammengesetzt. Es wiegt pro Meter 2,25 kg und ist um vielesbilliger als die Kette, welche bei einem Durchmesser von 26 mm 15kg wiegt. Es gewährt auch den Vorteil, daß es sich, ohneErschütterungen des Schiffs zu verursachen, und ohneGeräusch über die Trommel bewegt, während die Kettebeides in ziemlich hohem Grad hervorbringt. Dagegen soll die Dauerder Kette 12-14, die des Seils nur 9 Jahre betragen. Die Vorteile,welche die T. gewährt, sind hauptsächlich folgende: DieFrachtspesen werden geringer teils wegen des geringernKohlenkonsums der Kettenschiffe im Vergleich zu dengewöhnlichen Dampfschleppschiffen, teils weil die Bedienungder Fahrzeuge auf den dritten Teil reduziert werden kann. NachMeitzen berechnen sich die Kosten der Zugkraft bei einem Schiff von7000 Ztr. Tragkraft unter gleichen Bedingungen pro Zentner undMeile für Pferdezug auf 0,16, Schleppdampfer auf 0,04, T. auf0,01-0,02 Pf. Die Schiffe brauchen weder Masten noch Takelage undkönnen also um das Gewicht derselben mehr beladen werden. Derstarke Wellenschlag, den die Raddampfer erzeugen, fällt weg,und die Beförderung wird eine schnellere undregelmäßigere, so daß bei leidlichem Wasserstanddie Lieferungszeiten genauer innegehalten werden können. Vgl."Bateau toueur à vapeur" in Armengauds "Publicationindustrielle", Bd. 14 (Par. 1862); Chanoine und Lagrène,Mémoire sur la traction des bateaux, in "Annales des pontset chaussées" 1863; "Die Kettenschiffahrt auf der Elbe" undZiebarth, "Über Ketten- und Seilschiffahrt", in "Zeitschriftdes Vereins deutscher Ingenieure", Bd. 11 u. 13 (Berl. 1867 u.1869); Hoffmann, Über Kettenschleppschiffahrt und derenEinführung auf der Elbe (Dresd. 1869); Schmidt, Mitteilungenüber die Kettendampfschiffahrt auf der Oberelbe (das. 1870);Eyth, On towing-boats on canals and rivers by a fixed wire rope andclip drum, in "Artisan" 1870; Werneburg, Die Kettenschiffahrt aufdem kanalisierten Main (Frankf. 1880).

Tauern, Name eines Hauptzugs der Deutschen Zentralalpen,der östlichen Fortsetzung der Zillerthaler Alpen in Salzburg,Kärnten und Steiermark. Man unterscheidet die Hohen T. und dieNiedern T. Jene erstrecken sich vom Krimmler Achenthal und Ahrnthalim W. bis zum Großarlthal und Malthathal im O. Diesesgroße Stück Gebirgswelt zerfällt in folgende Teile:1) Die Hohe Tauernkette im eigentlichen Sinn, an der GrenzeSalzburgs einer-, Tirols und Kärntens anderseits, gehörtzu den hochsten und am wenigsten tief eingeschnittenen Teilen derAlpen, da die Kammhöhe 2600-2900 m erreicht, mehr als 16Gipfel über 3500 m und an 100 über 3200 m emporragen undauf 150 km Länge keine fahrbare Straße sich findet. DieVergletscherung erreicht in einzelnen Fällen, wie bei derPasterze (10 km lang, zweitlängster Gletscher der DeutschenAlpen), Schlattenkees, Obersulzbacher Gletscher, eine gewaltigeAusdehnung, erscheint jedoch im allgemeinen geringer als die derÖtzthaler und Ortlergruppe und ist namentlich in den letztenzwei Jahrzehnten ansehnlich zurückgegangen. Dagegen sind dieT. teils wegen der Steilheit der Seitenwände ihrerThäler, insbesondere aber wegen der tiefen Lage derThalsohlen, das an Wasserfällen reichste Gebiet der DeutschenAlpen. In den höchsten Terrassen der zahlreichen

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Tauernwind - Taufe.

parallel zum wasserscheidenden Hauptkamm hinaufziehendenTauernthäler finden sich malerische Hochseen. Bemerkenswertsind auch die von den Thalbächen gebildeten Felsenschlunde,darunter die großartigen Liechtenstein- und Kitzlochklammen.Die T. bilden wegen ihrer herrlichen, in neuerer Zeit leichterzugänglich gewordenen Naturszenerien eins der besuchtestenReisegebiete in den Alpen. Die schönsten Punkte sindaußer den erwähnten Klammen und abgesehen von denGipfeln: Gastein mit Umgebung, Rauriser Goldberg, Fusch undFerleiten, Kaprun mit dem Moserboden, Stubachthal, KrimmlerWasserfälle, Gschlöß, Kalser Thörl, derPasterzengletscher. Im Volksmund heißen T. nur die hochgelegenen Gebirgspässe, von welchen folgende in den Bereichdieses Gebirgszugs fallen: der Krimmler T., 2635 m, Übergangaus der Prettau (von Bruneck her) ins Krimmler Achenthal, zugleichdie Grenze zwischen den Hohen T. und den Zillerthaler Alpenbildend; der Felber T., 2545 m, welcher, die Großglockner-von der Großvenedigergruppe scheidend, aus dem Isel- undTauernthal (Lienz, Windischmatrei) nach dem Pinzgau (Mittersill)führt; der Kalser T., 2506 m, mlt Übergang vom Iselthalüber Kals ins Stubachthal im Pinzgau; der Mallnitzer T., 2414m, zwischen der Hochnarr- und Ankoglgruppe aus dem Möllthalüber Mallnitz ins Gasteinthal führend. Die wichtigstenBerggruppen und deren Kulminationspunkte in den Hohen T. sind inder Richtung von W. nach O.: Dreiherrenspitze (3503 m),Großvenediger (3673 m), Großglockner (3797 m),Großes Wiesbachhorn (3575 m), Hochnarr (3258 m),Hochalpenspitze (3355 m). 2) Die Antholzer Gruppe, zwischenAhrnthal einer-, Antholz, Stalleralpsattel und Stalleralpenthalanderseits; höchster Gipfel: Hochgall (3442 m). 3) DasDeferegger Gebirge, südlich des Deferegger Thals, zwischen demAntholzer und untern Iselthal, im Weißspitz (2955 m)kulminierend. 4) Die Schobergruppe, begrenzt durch den Iselbergzwischen Lienz und Winklern, der Möll, dem Kalserbach und derIsel; höchste Punkte sind der Petzeck (3275 m) und derHochschober (3243 m). 5) Die Kreuzeckgruppe, zwischen Iselberg,Möll und Drau, mit dem Kreuzeck (2703 m) und Polinik (2780 m).- An der Markkarspitze, dicht neben der Arlscharte (2342 m),spaltet sich der Hauptkamm der östlichen Zentralalpen in einennördlichen und südlichen Zug: letzterer, südlich derMur, heißt die Kärntnisch-Steirischen Alpen; ersterer,zwischen der Mur im S., der Enns im N., bildet die Niedern T. oderSteirischen Alpen, die sich bis zum Schoberpaß oder derWalder Höhe hinziehen; höchster Punkt ist der Hochgolling(2872 m). Sie haben keine Gletscher, wohl aber fahrbare Pässe:den Radstädter T. (1763 m), über den eine Straßevon Radstadt nach St. Michael und in weiterer Fortsetzung überden Katschbergpaß (1641 m) nach Gmünd und Spittal inKärnten führt, und den RottenmannerT. (1760 m), dessenStraße Lietzen an der Enns mit Judenburg an der Murverbindet. Über die Walder Höhe führt dieRudolfsbahn. Die zentrale Hauptkette der T. besteht auskristallinischen Schiefern (Gneis, Glimmerschiefer, Talk- undChloritschiefer) mit eingelagertem körnigen Kalkstein undSerpentin, hier und da auch von Granit durchsetzt. Vgl. v. Sonklar,Die Gebirgsgruppe der Hohen T. (Wien 1866); Derselbe, Karte (2.Aufl., das. 1875); Heß, Führer durch die Hohen T. (das.1886).

Tauernwind, ein in den Norischen Alpen (Tauern)auftretender kalter Nordostwind; s. Bora.

Taufe (griech. Baptisma, Baptismus), das Sakrament, durchwelches der Täufling mittels Untertauchung oder Besprengungmit Wasser in die christliche Kirche aufgenommen wird. HeiligeWaschungen findet man fast bei allen alten orientalischenVölkern (s. Reinigungen) und Spuren von feierlicher Lustrationneben der Beschneidung auch bei den Juden (s. Proselyt), welchendie körperliche, sogen. levitische Reinheit als das Symbol, jaSurrogat der innern Reinheit galt. Durch die Wassertaufe weihtenamentlich Johannes der Täufer alle, welche Buße thaten,für das nahe bevorstehende Gottesreich, und auch Jesus empfingdiese T. im Jordan. Nach seinem Vorbild ließen sich dannseine Gläubigen taufen. In Paulinischen Kreisen faßteman die T. als ein mysteriöses Bad der Wiedergeburt auf undsetzte sie mit dem Tod und der Auferstehung Christi in Beziehung,daher man bald in der T. eine über das Sinnbild des Unter- undAuftauchens hinausschreitende, geheimnisvolle Verbindung mitChristum fand. Weil man sie zugleich als das spezifische Organ derinnerlichen Reinigung und Sündenvergebung betrachtete,verschoben viele, wie Kaiser Konstantin, ihre T. bis ans Lebensende(procrastinatio baptismi). Erst Augustin aber gab durch seine Lehrevon der Erbsünde der T. eine dogmatische Unterlage und bewiesihre absolute Notwendigkeit. Die Erbsünde wird durch sie zwarals Schuld getilgt, doch bleibt die Fleischeslust noch als "Zunderder Sünde" in dem Getauften. Die Wiederholung der T. war langeeine Streitfrage, besonders mit Bezug auf die Ketzertaufe. Seit dem3. Jahrh. sprach sich die Kirche immer bestimmter dahin aus,daß ein auf die Trinität getaufter Ketzer beimÜbertritt zur orthodoxen Kirche nicht wiederum zu taufen sei.Die richtig vollzogene T. ist nach katholischer Lehre das dieerstmalige Eingießung übernatürlicher Gerechtigkeitvermittelnde Sakrament. Auch nach den protestantischen symbolischenBüchern gewährt die T. Vergebung der Sünde undMitteilung des Heiligen Geistes, kann folglich, wennrechtmäßig vollzogen, an demselben Individuum nichtwiederholt werden. Während aber nach der lutherischen Lehredie T. durch die wunderbare Wirksamkeit des mit dem Wasserverbundenen Worts außer der Sündenvergebung auchWiedergeburt (s. d.), Wiederherstellung der Freiheit des Willenszum Guten und sogar in Kindern den Glauben wirkt, gilt sie beiZwingli als Pflichtzeichen und kirchlicher Einweihungsakt,überhaupt in der reformierten Kirche mehr als Symbol undUnterpfand dafür, daß Gott denen, welche zum Glaubengelangen, die verheißenen Heilsgüter auch zukommenlassen werde. Beide Kirchen haben auch die Kindertaufe beibehalten,welche schon seit etwa 200 sporadisch vorgekommen, seit Augustinallmählich herrschende Sitte geworden war. Weil fürdieselbe kein Befehl Christi und der Apostel vorliegt, und weil dieKinder überdies auch zu dem Glauben, welcher in der T.vorausgesetzt ist, nicht befähigt sind, verwarfen dieWiedertäufer (Mennoniten) dieselbe völlig, indem sie eineWiederholung der T. an den Erwachsenen statuierten. Ähnlichweisen auch die Quäker (s. d.) und die Baptisten (s. d.)Englands und Nordamerikas die Kindertaufe zurück. Dagegen sollnach der Lehre der katholischen und evangelischen Kirche die T.regelmäßig von dem ordinierten Geistlichen verrichtetwerden. Nur in Notfällen soll auch die Laientaufe (Nottaufe)zugelassen werden. Die unter wörtlicher Beziehung auf die dreiPersonen der Trinität vorzunehmende Applikation desWassers

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Taufe eines Schiffs - Taunus.

kann Untertauchung (immersio) oder Besprengung (adspersio oderinfusio) sein. Der erstere Taufmodus ist bis in das 12. Jahrh.üblich gewesen und findet noch jetzt in dermorgenländischen Kirche statt. Der Exorzismus (s. d.) ist inder protestantischen Kirche nicht überall abgeschafft worden.In der alten Kirche wurde die T. in den Kathedralkirchenvorgenommen, welche besondere Taufkapellen (Baptisterien) hatten.Nachdem aber die Bischöfe sich nur noch die Konfirmation oderFirmung (s. d.) ausschließlich vorbehalten hatten, dieVerrichtung der T. dagegen den Presbytern zugewiesen worden war,brachte man in jeder Kirche Taufsteine an. Später wurdenHaustaufen üblich, mehr noch bei den Lutheranern als bei denKatholiken. Bei der T. findet nach Luk. 1,59; 2,21, wie bei derjüdischen Beschneidung, eine Namengebung statt. Wo sich Staatund Kirche nicht in der Weise der modernen Gesetzgebung auseinandergesetzt haben, erscheint die T. als notwendige Handlung und kanndaher auch gegen den Willen der Eltern erfolgen; über die T.selbst muß der Geistliche ein Register führen (s.Kirchenbuch); die formellen Auszüge daraus (Taufzeugnisse)gelten als öffentliche Urkunden. Vgl. Höfling, DasSakrament der T. (Erlang. 1846-48, 2 Bde.).

Zur T. diente in den Kirchen ursprünglich ein Bassin mitWasser, in welchem der Täufling untergetaucht wurde. An seineStelle trat später der Taufstein, ein Becken aus Stein aufhohem Ständer, mit symbolischen Figuren oder auf die T.bezüglichen Darstellungen, bisweilen auch von Figuren (denvier Flüssen des Paradieses, Löwen u. a.) getragen.Solcher Taufsteine sind noch viele aus romanischer Zeit erhalten.In die Vertiefungen der Steine ließ man seit dem 11. Jahrh.metallene Becken ein, zu denen sich später metallene Deckelgesellten, die ebenfalls mit bildlichen Darstellungen verziertwaren und durch Ketten emporgezogen oder durch Arme fortbewegtwurden, wenn Taufen vollzogen wurden. In spätgotischer Zeitwurden über die Taufsteine bisweilen Baldachine angebracht. Inneuerer Zeit (seit dem 17. Jahrh.) sind die Taufbrunnen außerGebrauch gekommen, und an ihre Stelle sind Taufschüsseln undTaufkannen getreten.

Taufe eines Schiffs, s. Ablauf.

Tauferer Thal, nördliches Seitenthal des Pusterthalsin Tirol, mit seinen Seitenthälern eins der schönstenAlpenthäler, im N. und W. von den Zillerthaler Alpen, im O.und S. von den Hohen Tauern begrenzt, zieht sich von Bruneck biszum Krimmler Tauern zuerst nördlich, dann nordöstlichhinan. Von Bruneck bis Taufers, dem Hauptort des Thals (mitBezirksgericht), aus dem gleichnamigen hoch gelegenen Schloßund den Dörfern Sand und St. Moritzen bestehend, heißtes das T. T. im engern Sinn, von da bis gegen St. Peter Ahrnthalund von hier bis zu seinem Schluß an der Birnlucke Prettau.Nebenthäler sind das Mühlwald-Lappacher, das Rainthal,das Weißenbachthal und das Mühlbacher Thal. Vgl. Daimer,Taufers und Umgebung (Gera 1879).

Taufgesinnte, s. Mennoniten.

Taufname, s. v. w. Vorname, s. Name.

Taufstein, s. Taufe, S. 546.

Taufstein, Berg, s. Vogelsberg.

Taufzeugen, s. v. w. Paten.

Taugarn, grobes Hanfgespinst zu den schwerstenSeilerwaren.

Taugras, s. Agrostis.

Tauler, Johannes, deutscher Mystiker, geboren um 1300 zuStraßburg, trat in den Dominikanerorden und wirkte alsVolksprediger meist in seiner Vaterstadt bis zu seinem 1361erfolgten Tode. Daß er sich gegen das päpstliche Verbot,welches den Gottesdienst in Straßburg während der Zeitdes über die Stadt verhängten Interdikts untersagte,aufgelehnt habe, läßt sich ebensowenig festhalten, wiedaß die in des "Meisters Buch" sich findendeBekehrungsgeschichte sich auf T. beziehe. Die Abfassung des bisherallgemein dem T. zugeschriebenen Buches "Von der Nachfolgung desarmen Lebens Christi" muß, wie Denifle und Ritschlnachgewiesen haben, demselben abgesprochen werden. Taulers Mystiklernen wir jedoch aus seinen Predigten kennen, sie hält sichvon dem Pantheismus eines Eckart (s. d.) fern. T. fordert,daß sich der Christ der Gelassenheit befleißige undinnerlich von aller Kreatur frei werde. Ein Feind der von derkatholischen Kirche so laut gepredigten Selbstgerechtigkeit, war T.ein Verkünder der alles wirkenden göttlichen Gnade. DerWeg aber, auf dem man nach T. zur Selbstverleugnung gelangt, istder der Nachfolge des Lebens Jesu. Vgl. K. Schmidt, J. Tauler(Hamb. 1841); Denifle, Das Buch von der geistlichen Armut etc.(Münch. 1877); Derselbe, Taulers Bekehrung (das. 1879); Jundt,Les amis de Dieu au XIV. siècle (Par. 1879) ; Ritschl in der"Zeitschrift für Kirchengeschichte" (1880). Taulers Predigtenwurden ins Hochdeutsche übertragen von Hamberger (2. Aufl.,Frankf. 1872).

Taumelkäfer (Gyrinidae), s. Wasserkäfer.

Taumellolch, s. Lolium.

Taumler, an Drehkrankheit (s. d.) leidende Schafe.

Taunton (spr. tohntön), 1) Hauptstadt der GrafschaftSomerset (England), am schiffbaren Tone, hat eine gotische Kircheaus der Zeit Heinrichs VII., ein altes Schloß (jetzt Museum),eine Lateinschule, zahlreiche milde Stiftungen, etwas Seiden- undHandschuhfabrikation, lebhaften Handel und (1881) 16,614 Einw. Hierhielt der berüchtigte Jeffreys 1685 seine Blutgerichte. - 2)Stadt im nordamerikan. Staat Massachusetts, am schiffbarenFluß T., der 25 km unterhalb in die Narragansetbaimündet, mit Gerichtshof, Irrenanstalt, bedeutenderGewerbthätigkeit (Bau von Lokomotiven, Kupfer- undNagelschmieden, Kurzwaren) und (1885) 23,674 Einw.

Taunus (auch die Höhe, früher Einrich, auchEinrichgau genannt), ein zum niederrheinischen Gebirgegehöriger Gebirgszug im preuß. RegierungsbezirkWiesbaden (s. Karte "Hessen-Nassau"), breitet sich mit seinenNebenzweigen und Vorbergen zwischen dem Main, Rhein und der Lahnaus und ist ein in seiner gesamten Ausdehnung wohl 90 km langes,mit Wald bedecktes Gebirge, welches, in der Gegend von Wetzlar ausdem Lahnthal ansteigend, anfangs als ein mäßig hoherBergrücken die Westseite der Wetterau begrenzt, dann insüdwestlicher Richtung sich über Oberursel, Kronberg,Königstein und Eppstein nach Schlangenbad fortzieht, sich vonda, durch ein kleines Nebenthal unterbrochen, unter dem Namen desRheingaugebirges fortsetzt und bei Rüdesheim und Lorch amRhein endigt. Auf der Südseite ist der Abfall des Gebirgesziemlich steil, noch steiler aber auf der Westseite vonRüdesheim bis Lahnstein, wo er mit seinen obst- undrebenreichen, von Burgruinen gekrönten Höhen einenäußerst malerischen Anblick gewährt. Auf derNordseite treten felsige Verzweigungen des Gebirges bis hart an dieLahn vor. Der wenig geschlossene Hauptkamm des Gebirges hat einemittlere Höhe von 480 m, über welche sich seinegerundeten oder abgestumpften Gipfel noch um 300-400 1n erheben.Der höchste Punkt

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Taunusschiefer - Taurin.

ist der Große Feldberg (880 m) bei Königstein.Südwestlich von diesem erhebt sich der Kleine Feldberg (827m), von diesem südlich der Altkönig (798 m) mit zweikolossalen Steinringwällen. Im mittlern Teil der Kette sind zubemerken: der Rossert (516 m), der Staufen (452 m), der Trompeter(540 m) und die Platte nördlich von Wiesbaden (500 m); weiternach SW. die Hohe Wurzel (618 m). Die höchste Spitze desRheingaugebirges ist die Kalte Herberge (620 m), dersüdwestlichste Ausläufer der Niederwald (330 m). DieHauptmasse des Gebirges besteht aus Thonschiefer, der hier und dain Talkschiefer übergeht und auf den Höhen von Quarzüberlagert wird; nach N. schließen sichGrauwackebildungen an. Bergbau findet auf dem T. nicht statt.Überall, wo der Boden sich dazu eignet, ist das Gebirge wohlangebaut, und an den südlichen Abhängen finden sichherrliche Weinpflanzungen, Obsthaine, Kastanienwäldchen undselbst Mandelbäume. Von den zahlreichen Gewässern des T.fließt die Use östlich der Wetter, die Schwarzesüdlich dem Main, die Wisper westlich dem Rhein zu,während die mit längerm Lauf, wie die Aar, Ems und Weil,nach N. zur Lahn abfließen. Der T. ist besonders durch dieMenge seiner Mineralquellen berühmt, deren mehr als 40 bekanntund größtenteils benutzt sind, und von denen mehrere zuden berühmtesten Deutschlands gehören (Wiesbaden,Schwalbach, Selters, Homburg, Schlangenbad, Soden, Ems etc.). DenSüd-, West- und Nordfuß des T. begleitet dieEisenbahnlinie Frankfurt a. M.-Lollar, den Ostfuß die LinieFrankfurt a. M.-Kassel, während die Linie Höchst- undWiesbaden-Limburg das Gebirge durchschneidet und in zwei fastgleiche Teile teilt und mehrere kürzere Linien in und an dasGebirge führen. Durch die Bemühungen des Taunusklubs istder Touristenverkehr im T. in stetem Steigen begriffen. Vgl.Schudt, Taunusbilder in Geschichten, Sagen und Liedern (Homb.1859); Großmann u. a., Die Heilquellen des T. (Wiesb.1887).

Taunusschiefer, s. Sericitschiefer.

Tauposee, See auf der Nordinsel von Neuseeland, 770 qkmgroß, mit vielen warmen Schwefelquellen.

Taupuukt, s. Tau und Hygrometer, S. 844.

Taura, Dorf in der sächs. KreishauptmannschaftLeipzig, Amtshauptmannschaft Rochlitz, mit evang. Kirche,Handschuhfabrikation und (1885) 2722 Einw.

Taurellus, Nikolaus (eigentlich Öchsle), Philosoph,geb. 1547 zu Mömpelgard (Montbéliard), das damals unterwürttembergischer Herrschaft stand, wirkte erst als Professorder Medizin in Basel, seit 1580 als Professor der Philosophie zuAltdorf und starb daselbst 1606. Er hat sich als Gegner desAristoteles und des averrhoistischen Aristotelismus und Pantheismusdes Cesalpino (s. d.), insbesondere der Lehre von der Ewigkeit derWelt, durch die Schriften: "Philosophiae triumphus" (Basel 1573),"Alpes caesae" (Frankf. a. M. 1597) und "De rerum aeternitate"(Marb. 1604) bekannt gemacht, in welchen er die Philosophie alsmenschliche, der Theologie als geoffenbarter Weisheit als Grundlageunterzuschieben, aber zugleich mit der letztern insbesondere durchdie Rechtfertigung der zeitlichen Schöpfung aus nichts und desSündensalls in Einklang zu bringen suchte. Vgl. Schmid ausSchwarzenberg, Nikolaus T., der erste deutsche Philosoph (Erlang.1860).

Taurien, das südlichste Gouvernement Rußlands,umfaßt die Halbinsel Krim und einen Teil des Festlandes, wirdim S. vom Schwarzen und Asowschen Meer, im W. vom GouvernementCherson, im N. und O. von Jekaterinoslaw begrenzt und hat ein Arealvon 63,553,5 qkm (1154 QM.). Über die Bodenbeschaffenheit desletztern s. Krim und Taurisches Gebirge. Der festländischeTeil des Gouvernements ist Steppe, deren Boden von Schieferthon,Quarzsand und Thon eingenommen wird; jedoch finden sich auf demFestland auch ausgedehnte, mit schwarzer Erde bedeckte Strecken.Mineralische Reichtümer sind: Porphyr, roter und grauer Marmorund vorzügliches Salz aus den Steppenseen. Der einzigebedeutende Fluß ist der die Nordwestgrenze beruhrende Dnjepr.Auf demselben wird Holz aus den innern Gouvernementshinabgeflößt; stromaufwärts geht Salz. Das Klimaist mild und im allgemeinen gesund, außer am Faulen Meer undam Dnjeprliman. Die mittlere Jahrestemperatur am Süduferbeträgt +11,6° C., in Simferopol +10°. T. ist eins derschwach bevölkerten Gouvernements, mit (1885) 1,060,004 Einw.(16 pro QKilometer), bestehend in Groß- und Kleinrussen,Tataren, deutschen Kolonisten, Bulgaren, Juden, Griechen undArmeniern. Die Zahl der Eheschließungen war 1885: 8445, derGebornen 51,059, der Gestorbenen 29,843. DieHauptbeschäftigung in den nördlichen Teilen istViehzucht, Ackerbau und Salzgewinnung, in den Bergthälern undam Abhang der Gebirge Garten- und Weinbau. Der Fortschritt im Anbauder Cerealien ist der rationellen Wirtschaft bei den deutschenKolonisten, zumal bei den Mennoniten, aber auch bei den russischenSektierern zu verdanken, ist aber überhaupt nicht bedeutend.Das Areal besteht aus 38,7 Proz. Acker, 47 Wiese und Weide, 6 Waldund 8,3 Proz. Unland. Die Ernte betrug 1887: 2,6 Mill. hl Weizen,¾ Mill. hl Roggen, 1,4 Mill. hl Gerste, andres Getreide undKartoffeln in kleinern Mengen. Die besten u. ergiebigstenWeingärten sind am Südufer der Krim vom Kap Aluschta bisKap Laspi, und die Fruchtgärten liefern gute Äpfel undBirnen. Der Viehstand bezifferte sich 1882 auf 485,000 StückRindvieh, 994,600 grobwollige und 2,891,000 feinwollige Schafe,356,279 Pferde, 118,000 Schweine und 64,900 Ziegen. Hervorragendist die Zucht der Merinoschafe; doch auch Rinder- und Pferdezucht,Bienenzucht und Fischfang (Heringe) werden mit großem Erfolgbetrieben. Der Wert der industriellen Thätigkeit wird 1885 auf6½ Mill. Rubel angegeben. Der Handel besteht mehr in derAusfuhr zur See (Berdjansk, Sebastopol, Feodosia) als zu Land insInnere des Reichs. Die Haupausfuhrartikel sind: Weizen, Wolle,Fische, Salz, Früchte und Wein. Die Zahl aller Lehranstaltenwar 1885: 669 mit 40,186 Schülern, darunter 21 Mittelschulenund 13 Spezialschulen (vorzugsweise Navigationsschulen). DasGouvernement zerfällt in acht Kreise, von denen die KreiseMelitopol, Berdjansk und Aleschki auf dem Festland, Perekop,Simferopol, Eupatoria, Jalta und Feodosia auf der Halbinsel Krimliegen. Hauptstadt ist Simferopol.

Taurin C2H7NSO3 findet sich frei oder mit Cholsäureverbunden (Taurocholsäure) in der Galle der Ochsen undvieler andrer Tiere, im Darminhalt und Lungengewebe, in Muskelnwirbelloser Tiere und Fische, entsteht bei Zersetzung derTaurocholsäure durch Säuren, beim Erhitzen vonisäthionsaurem Ammoniak C2H9SO4, bildet farb-, geruch- undgeschmacklose Kristalle und ist leicht löslich in heißemWasser, nicht in Alkohol und Äther, schmilzt und zersetzt sichgegen 240°; es reagiert neutral, bildet aber mit Basen Salze,wird durch Kochen mit Alkalien und Säuren nicht verändertund gibt beim Schmelzen mit Kalihydrat Essigsäure, schwefligeSäure, Ammoniak und Wasserstoff.

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Tauris - Tauschwert.

Tauris, Stadt, s. Tebriz.

Taurische Halbinsel, s. Krim.

Taurisches Gebirge (Krimsches Gebirge), am Südrandder Halbinsel Krim im südlichen Rußland, von Balaklawaim NO. bis zur Straße von Jenikale. Der Hauptrückenheißt Jaila Dagh (Jailagebirge) und erstreckt sich vonBalaklawa bis Feodosia in einer Länge von 122 km. Das Gebirgefällt mit schroffem und wild zerrissenem Absturz nach S. indie See und sinkt unter dem Wasser noch so jäh ab, daßoft schon in geringer Entfernung vom Ufer das Senkblei keinen Grundfindet; es besteht aus mehreren reichbewaldeten, durch anmutigeThäler getrennten Parallelketten. Die höchsten Gipfelsind der Tschadyr Dagh oder Zeltberg (nach Parrot und Engelhardt1661 m), der Babugan Jaila (l655 m) und der Ai-wassilem (1627m).

Taurisker, kelt. Volksstamm, welcher in den Ostalpen ander obern Drau wohnte, ward 13 v. Chr. durch P. Silius und Drususder römischen Herrschaft unterworfen. Ihr Name soll sich indem der Tauernkette erhalten haben.

Tauriskos, griech. Bildhauer und Bruder des Apolloniosaus Tralles (s. Apollonios 3). Er scheint auch als Maler Bedeutungerlangt zu haben.

Taurocholsäure, s. Gallensäuren.

Tauroggen, Flecken im litauisch-russ. Gouvernement Kowno,an der Jura (Zufluß der Memel), 7 km von derpreußischen Grenze, mit Grenzzollamt und 4720 Einw. Hierunter zeichnete 21. Juni 1807 Kaiser Alexander I. den dem Friedenvon Tilsit vorausgehenden Waffenstillstand. Im nahen Dorf Poscherunschloß 30. Dez. 1812 der preußische General York mitdem russischen General Diebitsch die denkwürdigeWaffenstillstands- u. Neutralitätskonvention (Konvention vonT.).

Tauromenion, s. Naxos (Stadt) und Taormina.

Taurus (Tauros, griech. Umformung des nordsemit. tur,"Gebirge"), das südliche Randgebirge des Hochlandes vonKleinasien, zieht vom Euphrat westwärts bis an dasÄgeische Meer und bildet einen ununterbrochenen Gebirgszug,der gegen S. in sehr kurzen Absätzen oder plötzlich undsteil zum Meer abfällt, gegen N. sich sanft zu Hochebenenabdacht. Das unwegsame Gebirge erreicht in dem östlichen Teilder Landschaft Kilikien in seinen Gipfeln eine Höhe vonüber 3000 m. Der wichtigste Paß ist Gülek-Boghas,die Kilikischen Pässe der Alten, durch welche die großeHeer- und Karawanenstraße von Kleinasien nach Syrienführt. Westlich davon führt das Gebirge jetzt den NamenBulghar Dagh, östlich Ala Dagh. Hier wird es von zweiFlüssen durchbrochen, dem Seihun (Saros) und Dschihan(Pyramos), welche beide in das Mittelländische Meermünden. Noch zahlreiche andre, aber meist unbedeutendeFlüsse gehen vom T. ins Mittelländische Meer. Weitwasserärmer ist die Nordseite des Gebirges, wo mehrerebedeutende, meist salzhaltige Seen liegen. Östlich vom Saroszweigt sich als mächtiger Seitenarm der Antitaurus (heuteBinbogha Dagh) ab, der, anfangs gegen N., dann gegen NO. ziehend,zwischen Euphrat und Kisil Irmak (Halys) die Wasserscheidebildet.

Taus (tschech. Domazlice), Stadt im westlichenBöhmen, an der Böhmischen Westbahn, in welche hier dieStaatsbahnlinie Janowitz-T. mündet, mit Beirkshauptmannschaftund Bezirksgericht, Dechanteikirche, Kommunalobergymnasium,Augustinerkonvent, Zuckerraffinerie, Bandfabrik, Bautischlerei,Strumpfwirkerei und Topferei, Bierbrauerei, besuchten Märktenund (1880) 7364 Einw. Bei T. 14. Aug. 1431 Sieg der Hussitenüber das deutsche Kreuzheer. In der Umgebung Glas- undPorzellanfabriken, Brettsägen undZündwarenfabrikation.

Tausch (Tauschgeschäft, Tauschvertrag, Permutatio),der Vertrag, durch welchen sich jeder von beidenVertragschließenden zur wechselseitigen Hingabe einer Sachean den andern verpflichtet. Im Gegensatz zum Kaufvertrag, wobeisich der eine Vertragschließende (der Verkäufer) zurHingabe der Ware, der andre (der Käufer) zur Übergabeeiner bestimmten Geldsumme, des Preises, verpachtet,charakterisiert sich der T. eben dadurch, daß beideLeistungen zugleich den Charakter des Preises und den der Ware ansich tragen. Der Entwurf eines deutschen bürgerlichenGesetzbuchs (§ 502) erklärt denn auch: "Jeder derVertragschließenden ist in Ansehung der von ihm versprochenenLeistung gleich einem Verkäufer und in Ansehung der ihmzugesicherten Leistung gleich einem Käufer zu beurteilen".

Tausch, bei botan. Namen für J. F. Tausch, geb. 1792zu Taussing in Böhmen, gest. 1848 als Professor der Botanik inPrag. Beschrieb die seltenen Pflanzen des gräflich CanalschenGartens.

Tauschaninseln, türk. Inselgruppe im ÄgeischenMeer, südlich von der Dardanelleneinfahrt gelegen.

Tauschhandel, s. Barattieren.

Tauschierarbeit, eine Art eingelegter Metallarbeit,welche frühzeitig in Damaskus geübt wurde und daher auchDamaszierung (s. d. und Damaszener Stahl) genannt wird. DerAusdruck stammt von dem italienischen Tausia her, welches wohlverwandt ist mit Tarsia; beides bedeutet eingelegte Arbeit, aberersteres solche in Metall, letzteres solche in Holz; diefranzösische technologische Litteratur pflegt für dieseTechnik noch die Ausdrücke Incrustation oder Damasquinure zugebrauchen. Die T. wird mit Blattgold oder Blattsilber meist aufEisen oder Bronze ausgeführt, doch kommen auch Verzierungenaus einem Edelmetall auf dem andern vor; die Befestigung derOrnamente auf dem zu diesem Zweck rauh gemachten Grund geschiehtnur durch Druck oder Schlag, nicht durch Bindemittel oder Feuer. Inder Regel ist die Zeichnung in die Oberfläche des Grundmetallseingraviert, mitunter derart, daß die Vertiefungen unten einwenig breiter sind als oben und daher die überstehendenRänder das eingebettete Edelmetall festhalten; doch lassensich auch die aus Gold- oder Silberfäden gebildeten oder ausfeinem Blech ausgeschnittenen Ornamente frei auf den aufgerauhtenGrund auflegen; ferner kann man den Grund nachträglich durchÄtzung vertiefen, so daß die Zeichnung erhaben bleibt.In Indien, China, Japan ist die T. von alters her bekannt;Theophilus handelt davon im dritten Buch seiner "Schedula" (Kap.90: "De ferro"); später in Vergessenheit geraten, fiel Benv.Cellini diese Technik an türkischen Dolchen auf, und er ahmtesie nach (vgl. seine Selbstbiographie, Buch 1, Kap. 6). Im 16.Jahrh. war die T. besonders für Prachtrüstungen beliebt(Mailand, München, Augsburg etc.), kam jedoch auch beiGefäßen und Geräten zur Anwendung; durch dieWaffenfabrikation erhielt sie sich in Spanien (Eibar im Baskenland)und ist gegenwärtig als Zweig der Goldschmiedekunst wiederallgemein in Übung. Uneigentlich wird auch die jetztgebräuchliche Verzierung des Eisens und der Bronze aufgalvanischem Weg oder vermittelst flüssiger Metallfarben T.genannt.

Tauschlepper (Taustreicher), s. Ackerkulte.

Tauschuarre, s. Ralle.

Tauschwert, s. Wert.

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Tauschwirtschaft - Tautochronische Erscheinungen.

Tauschwirtschaft wird oft die heutige auf Privateigentumund Arbeitsteilung beruhende gesellschaftliche Ordnung genannt,bei welcher die meisten oder alle für Befriedigung der eignenBedürfnisse erforderlichen Güter auf dem Weg des Tausches(Kaufs) beschafft werden.

Tausend, Einheit der dritten höhern Ordnung imdekadischen Zahlensystem. Beim Handel mit Stab- und Faßholzsowie mit Schieferplatten unterscheidet man das Großtausend,= 1200, von dem ordinären T., = 1000 Stück.

Tausendfuß, s. v. w. Vielfuß.

Tausendfüßer (Myriopoda, Myriopoden), Klasseder Gliederfüßer (Arthropoden), landbewohnende,flügellose Tiere mit zahlreichen Körperringen undFüßen. Der Kopf ist vom Rumpf deutlich abgesetzt,dagegen zerfällt der letztere nicht, wie bei den Insekten, inBrust und Hinterleib, sondern bildet einen gleichförmigen,runden oder platt gedrückten Cylinder. Am Kopf, welcher demder Insekten sehr ähnlich ist, befinden sich die zweiFühler, die Augen und zwei Kieferpaare. Am Rumpf trägtjeder Ring ein Paar sechs- bis siebengliederiger Beine, nur bei derAbteilung der Chilognathen (s. unten) ein jeder, mit Ausnahme derdrei ersten, zwei Paare. Im innern Bau stimmen die T. in denmeisten Punkten mit den Insekten überein. Das Nervensystembesteht aus dem Gehirn und der sehr langen Bauchganglienkette; dieAugen sind nur selten echte zusammengesetzte (facettierte),gewöhnlich Gruppen von Einzelaugen, fehlen aber auch wohlgänzlich. Der Darm durchzieht fast immer in gerader Linie denLeib vom Mund zu dem am hintern Körperende gelegenen After undzerfällt in die Speiseröhre mit den in sie mündendenSpeicheldrüsen, den Magendarm mit kurzen Leberschlauchen undden Enddarm, in welchen auch die zwei oder vier Harnkanäle(sogen. Malpighische Gesäße) ihren harnartigen Inhaltentleeren. Das Herz erstreckt sich als pulsierendesRückengefäß durch den ganzen Rumpf. Zur Atmungdienen die Tracheen (s.d.), deren Luftlöcher (Stigmen) an fastallen Ringen vorhanden sind. Die Geschlechtsorgane (Hode, resp.Eierstock) sind meist lange, unpaare Schläuche und mündenentweder mit einfacher Öffnung am hintern Körperende odermit doppelter (rechter und linker) Öffnung an dem zweitenBeinpaar aus. Die Eier werden abgelegt; die aus ihnenhervorkommenden Jungen haben erst wenige (bei den Chilognathensogar nur drei) Beinpaare und Ringe, erhalten dieselben aber durcheine Reihe von Häutungen nach und nach, indem hinten stetsneue Ringe sich abschnüren. Die T. leben unter Steinen oderBaumrinde, an feuchten, dunkeln Orten und in der Erde; dieChilopoden ernähren sich räuberisch von Insekten undandern kleinen Tieren, die Chilognathen von vegetabilischer Kost,besonders von modernden Pflanzenteilen und Aas. Man kennt 500-600Arten, welche meist den Tropen angehören. Fossile Reste findetman im Jura, viel zahlreicher aber im Bernstein. Man teilt die T.in zwei Gruppen: 1) die Schnurasseln oder Chilognathen(Chilognatha); je zwei Beinpaare an den mittlern und hinternLeibesringen; hierher unter andern die Gattung Julus(Vielfuß, s. d.); 2) die Lippenfüßer oderChilopoden (Chilopoda); an jedem Ring nur ein Beinpaar; die beidenersten Paare als Kieferfüße dicht an den Mundgerückt (daher der Name Lippenfüßer); hierher unterandern die Gattung Scolopendra (Skolopender, s. d.). Vgl. Latzel,Die Myriopoden der österreichisch-ungarischen Monarchie (Wien1880-84, 2 Bde.).

Tausendgraufläschchen, f. Spezifisches Gewicht.

Tausendgüldenkraut, f. Erythraea.

Tausendjähriges Reich, s. Chiliasmus.

Tausendschön, s. Amarantus und Bellis.

Tausendundeine Nacht, berühmte alte Sammlungmorgenländ. Märchen und Erzählungen, über derenUrsprung viel gestritten worden ist. Man hat sie fürindischen, persischen, arabischen Ursprungs gehalten; jedenfallshaben alle diese Länder ihre Beiträge dazu geliefert. Diejetzige Gestalt des Ganzen bietet ein anschauliches Bild arabischenLebens dar. Das Werk scheint in seinen Grundzügen im 9. Jahrh.n. Chr. entstanden zu sein, und es mag ihm die älterepersische Sammlung "Hêsar efschâne" ("Die 1000Märchen") des Rasti zu Grunde liegen. Das Ganze in seinerjetzigen Gestalt stammt aus Ägypten und zwar aus dem 15.Jahrh. und wurde im Abendland erst durch Gallands "Les mille et unenuits" (Par. 1704-1708, 12 Bde.; in den verschiedenen Auflagenvermehrt von Caussin de Perceval u. a.) bekannt. Dievollständigste deutsche Übersetzung der GallandschenBearbeitung ist die von Habicht, v. d. Hagen und Schall (5. Aufl.,Bresl. 1840, 15 Bde.). Neue, selbständig nach dem Originalgearbeitete Übersetzungen ins Deutsche lieferten Weil (neuesteAusg., Stuttg. 1889, 4 Bde.) und König (neue Ausg.,Brandenburg 1876, 4 Bde.), ins Englische Lane (neueste Ausg., Lond.1877, 3 Bde.). Eine Ausgabe des Originals besorgten Habicht undFleischer (Bresl. 1825-1843, 11 Bde.) sowie Macnaghten (Kalk.1839-42, 4 Bde.). Unter den mannigfachen Nachbildungen der Sammlungsind Petit de la Croix und Lesages "Mille et un jours" (Par. 1710,5 Bde.; deutsch von v. d. Hagen, Prenzl. 1836, 11 Bde.), ferner"Les mille et une heures" (Amsterd. 1733, 2 Bde.) und "Les mille etun quart d'heure" (Haag 1715-17, 3 Bde.) zu nennen.

Tausig, Karl, Klavierspieler, geb. 4. Nov. 1841 beiWarschau, war bis zum 14. Jahr Schüler seinem Vaters,genoß später in Wien noch den Unterricht Boklets,Thalbergs und Liszts, machte Kunstreisen, lebte dann in Dresden,1861-62 in Wien und von 1866 an als königlicher Hofpianist inBerlin, wo er bis 1870 eine Akademie für Klavierspiel leitete.Er starb bereits 17. Juli 1871 in Leipzig. Als genialer Virtuosevon keinem seiner Zeitgenossen übertroffen, ließ sich T.so wenig wie sein Vorbild Liszt dazu verleiten, seine Kraft jemalsanders als im Dienste der reinsten Kunst zu verwenden. Gleichgroß als Interpret der klassischen wie der modernenKlaviermusik, konnte er auch als Lehrer nach allen Seiten anregendwirken und einen für die Kürze seiner Kunstlerlaufbahnaußerordentlichen Einfluß ausüben. Von seinenKompositionen sind nur wenige veröffentlicht. WeiteVerbreitung fanden seine Klavierbearbeitungen Wagnerscher Opern (z.B. der Klavierauszug der "Meistersinger") und die von ihmveranstaltete Ausgabe des Clementischen "Gradus ad parnassum". Vgl.Weitzmann, Der letzte der Virtuosen (Berl. 1868).

Tautazismus (griech.), Häufung von gleichenAnfangslauten in nacheinander stehenden Silben oderWörtern.

Tautochrone (Isochrone, griech.), Linie gleicherFallzeit, s. Cykloide und Fall, S. 16.

Tautochronische erfcheinuugen, in der AstronomieErscheinungen, welche für alle Beobachter in demselbenabsoluten Moment stattfinden, wie die Mondfinsternisse, dieVerfinsterungen der Jupitermonde; auch solche, welche, wie dieSchwingungen eines Pendels, in genau gleichen Zeiträumenstattfinden.

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Tautogramm - Taxation.

Tautogramm (griech.), Gedicht mit demselbenAnfangsbuchstaben in allen Zeilen.

Tautologie (griech.), Bezeichnung eines Begriffs durchzwei oder mehrere gleichbedeutende Ausdrücke (z. B. einzig undallein, bereits schon). Insofern die T. ganz dasselbe noch einmal,wenn auch mit andern Worten, fa*gt, unterscheidet sie sich vomPleonasmus (s. d.), der nur mehr, als zur Deutlichkeit unbedingterforderlich ist, ausdrückt.

Tauwerk der Schiffe wird vom Reepschläger aus Hanf oderManilahanf hergestellt. Man spinnt den Hanf zunächst inGarne von ca. 340 m Länge, die geteert und in der Anzahl von2-18 zu Leinen oder zu 18-50 zu einem Kardeel zusammengedrehtwerden. 3-5 Kardeele geben eine Trosse, ausmehreren Trossen bildetman ein Kabel. Trossen und Kabel benennt man nach ihrem Umfang inZentimetern (3-50 cm) und nach ihrer Anfertigung: drei-, vier- oderfünfschäftig; rechts oder links geschlagen (gedreht).Laufendes Gut ist dreischäftig rechts geschlagen, stehendesvierschäftig links geschlagen, während die Kardeele, ausdenen letzteres besteht, ebenfalls rechts geschlagen sind. BeiDrahttauwerk treten Eisendrähte an Stelle der Garne (f.Drahtseile).

Tavannes (spr. -wánn), Gaspard de Saulx de, franz.Marschall, geb. 1509 zu Dijon, kam als Page an denfranzösischen Hof, widmete sich dann der militärischenLaufbahn, zeichnete sich in den Kriegen unter Franz I. und HeinrichII. aus, bewies sich in der Zeit der Hugenottenkriege als eins derfanatischten Häupter der katholischen Partei, ward 1569 nachden Siegen von Jarnac und Moncontour Marschall und entflammte inder Bartholomäusnacht 1572 persönlich den PariserPöbel zur Ermordung der Protestanten; starb 1573 auf demSchlosse Suilly bei Autun. Seine Briefe an Karl IX. wurden 1857veröffentlicht, "Lettres diverses" von Barthélemy 1858.Seine Biographie verfaßte sein Sohn Jean (Lyon 1657). - SeinSohn Guillaume de Saulx de T., geb. 1553, gest. 1633,hinterließ "Mémoires historiques", von 1560 bis 1596reichend (Par. 1625).

Tavernikus (Tavernicorum regalium magister),Schatzmeister, ehemals Titel des ungarischenReichswürdenträgers, der den königlichen Schatz zuverwalten hatte, und unter welchem die königlichen Städtestanden. Später wurde die Verwaltung des Schatzes einem eignenBeamten übergeben, und der T. fungierte als oberster Aufsehereines Teils der königlichen Städte, der sogen.Tavernikalstädte, als Mitglied des königlichen Rats unddes obersten Gerichtshofs (Tavernikalgericht). Noch später warder T. Mitglied der königlich ungarischen Statthalterei undder Septemviraltafel sowie in Verhinderung des Palatins und desJudex curiae Präsident der Magnatentafel. Gegenwärtigbesteht die Würde des T.(Tavernikat) nur noch als Titel.

Tavetscher Thal, Alpenthal im schweizer. KantonGraubünden, oberhalb Disentis, vom Vorderrhein durchflossen,mit (1880) 784 Einw. Hauptort ist Sedrun (1398 m).

Tavira, wohlgebaute Stadt in der portug. Provinz Algarve,an der Südküste, zu beiden Seiten des Rio Sequa, mitmaurischem Kastell, 2 Kollegiatkirchen, Hospital, Schwefelbad(26° C.), Hafen, Sardellen- und Thunfischfang und (1878) 11,459Einw.

Tavistock, Stadt in Devonshire (England), nördlichvon Plymouth, am Tavy, der hier zwischen engen Ufern raschdahineilt, hat eine Abteiruine, 2 Lateinschulen, Kupfer- undBleigruben und (1881) 6914 Einw. Es ist Geburtsort von FranzDrake.

Taviuni (Vuna), eine der Fidschiinseln,südöstlich von Vanua Levu und durch die Somo Somo-Passagevon demselben getrennt, 553 qkm. Der Mittelpunkt dieserschönsten und fruchtbarsten aller Inseln der Gruppe hebt sich800 m über den Meeresfpiegel und hat auf seiner Spitze einenSee, vermutlich die Ausfüllung eines erloschenen Kraters.

Tavolara (bei den Römern Bucina), unbewohnte Inselan der Nordostküste der Insel Sardinien, zur italienischenProvinz Sassari gehörig, hat einen Umfang von 22 km,beherbergt wilde Ziegen und lieferte ehemals Purpurschnecken.

Tawastehus, Gouvernement im GroßfürstentumFinnland, von den Gouvernements Nyland, Abo, Wasaund St. Michelbegrenzt, 21,584 qkm (392 QM.) groß mit (1886) 240,896 Einw.,ist im allgemeinen gebirgig, hat eine große Menge Seen undFlüsse und ist relch bewaldet. Der Boden ist im ganzenfruchtbar, und der Ackerbau wird mit Erfolg betrieben. - Die StadtT. (finn. Hämeenlinna), am See Wanajäjärvi gelegen,durch Zweigbahn mit der Linie St. Petersburg-Helsingfors verbunden,hat 4098 Einw. und ist Sitz des Gouverneurs. Dabei SchloßKronoborg oder Tawasteborg, von Birger Jarl 1249 erbaut, jetztKaserne und Besserungsanstalt.

Tawastland, Landschaft im Innern von Finnland, etwa demGouvernement Tawastehus entsprechend.

Taxation (lat.), Schätzung oder Wertbestimmung einerzum Verkauf, zum Austausch oder zur Übergabe bestimmten Sache,geschieht auf Anordnung einer Staatsbehörde oder aufVeranlassung von Privatpersonen durch Taxatoren,Sachverständige, welche von den Parteien in gleicher Anzahlvorgeschlagen oder gemeinschaftlich gewählt oder von derBehörde ernannt werden. Wo eine Grundsteuer erhoben wird,stellt der Staat Taxatoren an, welche die Abschätzungen derBodengüte (Bonitierung, s. d.) unter der Anleitung vonÖkonomiekommissaren vornehmen. Gleiches geschieht unterMitwirkung der Behörden, wenn Grundstücke auf dem Weg derExpropriation verkauft werden sollen; bei Truppenbewegungen (z. B.Manövern), durch welche Saaten vernichtet werden, beidenVorkehrungen gegen gefährliche Feinde der Pflanzen, beiAusbruch der Rinderpest, Hagelschaden, Viehsterben etc. Die aufFeldern etc. stehende Kreszenz oder der für diese gemachtegesamte Bestellungsaufwand wird Gegenstand einer T., umfestzustellen, wieviel ein anziehender Pachter oder Käufereines Guts dem Vorgänger an Entschädigung zu zahlen hat,soweit nicht eine Verpflichtung für ihn vorlag. Schwierigerist die T. bei Ablösungen von Gerechtsamen, um zu ermitteln,welchen Wert die Gerechtsame für den Berechtigten hatten. Jenachdem die Zeitströmung dem Berechtigten oder dem Belastetengünstig war, hat man den ermittelten Gesamtjahreswert solcherGerechtsame (abzüglich der Kosten) mit 14, 15, 16, 17, 18multipliziert, um die Ablösungssumme festzustellen. Die T. beiGewannwegsregulierungen, Separationen und Meliorationsarbeitenfordert zunächst eine Feststellung des Wertes allerGrundstücke, welche verändert oder dem Besitzer genommenwerden sollen; sodann wird der gesamte Kostenaufwand entsprechendauf die Beteiligten ausgeschlagen und schließlich jedemwieder ein dem Wert seines frühern Besitztums analoger Wertüberwiesen. Die T. am Schluß eines Geschäftsjahrsund zu Beginn eines Betriebs (Inventur) besteht in der Ermittelungdes gesamten Vermögens, soweit solches zum Geschäftverwendet wird. Wieder eine andre Art der T. wird seitens derer,die

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Taxationsrevision - Taxodium.

Geld auf Hypothek darleihen wollen, vorgenommen: die Kredit-oder Grundwerttaxe. Da, wo eine gute Buchführung mitregelmäßiger Inventur sich findet, bedarf es einersolchen besondern Taxe nicht. In den meisten Fällenbegnügt man sich aber mit einer durch ortskundige Personengerichtlich abgegebenen Taxe der Grundstücke und derGebäude, und das gesamte Inventarium, der beweglicheVermögensteil, bleibt ausgeschlossen. Vielfach fertigt manjedoch auch, um die Höhe des zu gewährenden Kredits zubemessen, einen besondern Anschlag über das zu erwartendewirtschaftliche Ergebnis und zwar in etwa derselben Weise an, wiees bei Kauf und Verpachtung üblich ist, den sogen.Ertragsanschlag (s. d.). Vgl. Birnbaum, LandwirtschaftlicheTaxationslehre (Berl. 1877); Pabst, LandwirtschaftlicheTaxationslehre (3 Aufl., Wien 1881); v. d. Goltz,Landwirtschaftliche Taxationslehre (Berl. 1880-82, 2 Bde.).Vorzügliche Details finden sich in Block, Beiträge zurLandgüterschätzungskunde (Bresl. 1840), und in dessen"Mitteilungen landwirtschaftlicher Erfahrungen etc." (das. 1836-39)sowie in den entsprechenden Werken von v. Flotow, Kleemann, v.Honstedt, Meyer, Kreyßig etc., in Krämer,Landwirtschaftliche Berechnungen (Stuttg. 1858), und Graf zurLippe, Der landwirtschaftliche Ertragsanschlag (Leipz. 1862).

Taxationsrevision, die periodische Berichtigung, bez.Fortsetzung der Forsteinrichtung (s. d.) mit Rücksicht auf dieim Wald- und Wirtschastszustand eingetretenen Veränderungen.Dergleichen Revisionen sollen etwa alle zehn Jahre vorgenommenwerden. Taxe (franz., v. lat. taxare), Würdigung,Wertschätzung einer Sache, insbesondere durch vereideteSchätzer (Taxatoren), welche sich vielfach an bestimmteTaxgrundsätze zu halten haben; dann der öffentlichfestgesetzte Preis für Waren oder Leistungen, daher auch einebesonders in Süddeutschland übliche Bezeichnung fürGebühren und verschiedene Verkehrssteuern (z. B.Taxen fürAnstellung und Beförderung, Stempeltaxe etc.). Früherwurden auch für notwendige Lebensmittel von der BehördeTaxen (Polizeitaxen) festgesetzt, man hatte Fleischtaxen (s. d.),Brottaxen (s. d.), Biertaxen (s. d.) etc., dann auch Lohntaxen (s.d.) und Zinstaxen (vgl. Wucher). Doch sind viele derselben und zwarin Deutschland durch die Gewerbeordnung als eine Konsequenz derGewerbefreiheit aufgehoben worden. Man ging hierbei von derÜberzeugung aus, daß es der Polizei nicht möglichfei, einen angemessenen Preis zu bestimmen, wie er sich alsErgebnis der freien Konkurrenz bilde. Insbesondere vermag sie nichtden mannigfaltigen, rasch wechselnden Produktionsbedingungen undden veränderlichen Konjunkturen Rechnung zu tragen. Ist die T.zu hoch angesetzt, so hat sie keine praktische Bedeutung; ist siezu niedrig bemessen, so wird sie nicht allein für denVerkäufer, sondern auch für den Käuferschädlich wirken, indem sie das Angebot herabdrückt undeine volle Deckung auch derjenigen Bedarfe verhindert, fürwelche gern höhere Preise gezahlt werden. Ein Fehler derPolizeitaxe ist noch der, daß sie in vielen Fällen denaußerordentlich verschiedenen Qualitäten der einzelnenWaren sich nicht anzubequemen vermag und auch nicht verhütenkann, daß sich der Verkäufer durch Verschlechterung derWare schadlos halte. Allerdings können Taxen eine Wohlthatsein, wo die freie Konkurrenz eine beschränkte und eineAusbeutung durch monopolistische Preise nicht ausgeschlossen ist.Sie waren deshalb früher Zwangs- und Bannrechtengegenüber ein unerläßliches Mittel zum Schutz desPubliku*ms und sind auch heute noch bei vielen Privilegien undnatürlichen Monopolen (Eisenbahnen) nicht zu entbehren. Diedeutsche Gewerbeordnung läßt darum Taxen zu fürPersonen, welche an öffentlichen Orten ihre Dienste oderTransportmittel anbieten, für Schornsteinfeger, wenn ihnenBezirke ausschließlich zugewiesen sind, fürGewerbtreibende, welche nur in beschränkter Zahl angestelltsind, insbesondere auch für Apotheker. Die betreffendenGewerbtreibenden können jedoch diese Taxenermäßigen. Die Bezahlung der approbierten Ärztebleibt der freien Vereinbarung überlassen, doch sind Taxenaufgestellt, welche in streitigen Fällen im Mangel einerVereinbarung zur Anwendung kommen sollen. Die Gebührentaxefür Rechtsanwalte wird durch die Gewerbeordnung nichtberührt. Über die Preiskurante der Gastwirte s.Gastwirt.

Taxes assimilées (franz.), in Frankreich die dendirekten Steuern zugesellten Abgaben, wie die Steuer von der TotenHand, die Bergbauabgabe etc.

Taxidermie (griech.), die Kunst des Ausstopfens und derZubereitung von Tieren für Sammlungen, besteht im wesentlichenin dem Abbalgen oder in der Entfernung allerfäulnisfähigen Weichteile aus dem Hautsack, Anfüllendesselben mit trocknem Sand oder Ausstopfen des Balgs mitentsprechend geformten Körpern aus Werg und Trocknen des soweit hergerichteten Tiers in einer möglichst natürlichenStellung. Bei größern Tieren zieht man, um dienötige Festigkeit zu erzielen, Drähte oderEisenstäbe durch das Werg, bildet auch wohl den Körperoder nur einzelne Teile desselben aus festem Stoff nach undüberzieht ihn dann mit der Haut. Der Erfolg ist wesentlich vonder genauen Beachtung der anatomischen Verhältnisseabhängig, und eine verbesserte Methode, die Dermoplastik, gehthierin am weitesten, indem sie die Gestalt des Tiers vor demÜberziehen der Haut durch plastischen Thon naturgetreunachbildet. Um der Beschädigung der ausgestopften Tiere durchInsekten vorzubeugen, benutzt man Arsenikseife, auch Kampfer mitSeife und Koloquintentinktur und ähnliche Mittel. Vgl.Naumann, Taxidermie (2. Aufl., Halle 1848); Martin, Praxis derNaturgeschichte (2. Aufl., Weim. 1876-82, 3 Tle.); Eger, DerNaturaliensammler (5. Aufl., Wien 1882); Förster, Anleitungzum Ausstopfen (Osnabr. 1887).

Taxineen (Eibengewächse), Pflanzenfamilie in derOrdnung der Koniferen (s. d.).

Taxionomie (griech.), Ordnungslehre, Systematik.

Taxis (griech.), die Reposition vonEingeweidebrüchen (s. Bruch, S. 485).

Taxis, s. Thurn und Taxis.

Taxites Brongn., vorweltliche Pflanzengattung unter denKoniferen (s. d., S. 1013).

Taxodium Rchd., (Taxodie, Sumpfcypresse, Sumpfzeder,Eibencypresse), Gattung der Kupressineen, hohe Bäume miteirund länglicher Krone und deutlich hervortretendem Stamm,zerstreut stehenden Ästen, kurzen, auf zwei Seiten mithautartigen, linsenförmigen, hellgrünen Blätternbesetzten Zweigen, welche scheinbar ein gefiedertes Blattdarstellen und meist im Herbst abfallen, monözischenBlüten und rundlichen, nicht großen Fruchtzapfen am Endeverkürzter Äste. T. distichum L. (kalifornische Zeder)ist ein 30-40 m hoher Baum mit wagerecht stehenden Hauptästen,im Winter abfallenden Zweigen und linienförmigen, obenabgerundeten, aber mit einer Spitze endigenden Blättern, derenMittelnerv auf der Oberfläche eingesenkt ist. Die Wurzelnbreiten sich zum Teil auf der Oberfläche des Bodens aus undbilden häufig über demselben bis

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Taxus - Taylor.

1,5 m hohe kegelförmige Knollen. Der Baum findet sich vonDelaware und Virginia bis Florida und Mexiko, auch in Kalifornien,besonders aufsumpfigem Boden und an Flußufern und wird beiuns als einer der schönsten Bäume kultiviert. Er erreichtein sehr hohes Alter; De Candolle schätzt das Alter derCypresse des Montezuma auf nahe an 6000 Jahre. Man pflanzt den Baumzur Befestigung der Ufer an Kanälen und benutzt das Holz alsweißes Zedernholz. Der Baum findet sich bereits inTertiärschichten.

Taxus L. (Eibenbaum), Gattung aus der Familie derTaxineen, immergrüne Bäume oder Sträucher dergemäßigten Klimate der nördlichen Halbkugel mitweißem Splint und rotbraunem harten Kernholz, zerstreutstehenden, durch die herablaufenden Blattbasen kantigen Zweigen,lederigen, spiralig dicht gestellten und fast zweiseitswendigen,linealischen bis ovaloblongen, flachen, oft sichelförmiggekrümmten, kurz stachelspitzigen Blättern,diözischen Blüten, auf der Spitze eines Kurztriebes inden Blattachseln stehenden, fast kugeligen männlichenBlütenkätzchen und einzeln an der Spitze einesKurztriebes stehenden weiblichen Blüten, deren kurze,napfförmige Hülle sich zu einem fleischigen, hochroten,den Samen bis fast zur Spitze umhüllenden, aber offenenFruchtbecher entwickelt. Man kennt sechs Arten, unter denen eineeuropäische. T. baccata L. (gemeiner Taxbaum, Roteibe), einbis 12-15 m hoher, meist aber niedrigerer Baum oder (in Kultur)Strauch mit 2,5 cm langen, am Rand kaum umgeschlagenen, oberseitsdunkelgrünen, unterseits hellgrünen (nicht blauweißgestreiften, wie bei der Tanne) Blättern, hell scharlachrotenScheinfrüchten u. blauvioletten Früchten, wächst inWäldern Mittel- und Südeuropas von den britischen Inseln,dem mittlern Norwegen, Schweden und Rußlandsüdwärts bis Spanien, Sizilien, Griechenland und zumKaukasus, in Deutschland jetzt nur noch sehr zerstreut, besondersauf Kalkboden in der Eichen- und Buchenregion. Die Eibe findet sichferner auf den Azoren, in Algerien, in Vorderasien, am Himalaja, amAmur; sie soll ein Alter von 2000 Jahren erreichen. Man benutzt siezu Lauben, Hecken, und namentlich zu Ludwigs XIV. Zeiten spieltesie eine große Rolle in den Gärten. Das Holz istungemein fest und fein (deutsches Ebenholz, Eibenholz) und dient zuSchnitzereien, Haus- und Tischgeräten, ehemals auch zuArmbrüsten. Die Früchte sind genießbar, von fademGeschmack, die Blätter aber giftig, Als Emmenagogum undAbortivum werden sie noch jetzt vom Volk benutzt. Bei den Alten warder T. ein Baum des Todes; die Furien trugen Fackeln von Eibenholz,und die Priester bekränzten sich im innern Heiligtum vonEleusis mit Myrten- und Taxuszweigen. Mehrere Varietäten,besonders T. hibernica Mack., mit aufrecht stehenden Zweigen, ausIrland und andre Arten aus Nordamerika und aus dem östlichenAsien werden bei uns als Ziersträucher kultiviert.

Tay (spr. teh), Fluß in Perthshire (Schottland),entspringt als Dochart im Gebirge nördlich vom Loch Lomond,fließt nordöstlich durch den Loch T., tritt bei Dunkeldin das fruchtbare Strathmore ein und mündet durch den Firth ofT. in die Nordsee. Der T. ist besonders in seinem obern Lauf sehrreißend und bildet bei Mones einem schönen Wasserfall.Seeschiffe können auf ihm mit der Flut bis nach Perth fahren.Seine bedeutendsten Nebenflüsse sind: der Tummel mit Garry,die Isla und der Earn. Die großartige Eisenbahnbrückeüber den T., oberhalb Dundee, die 1877 gebaut wurde und 3,2 kmlang war, stürzte Weihnachten 1879 mit einem über siehineilenden Zug in die Fluten. Seit 1883 ist indes vom Ingenieur W.H. Barlow eine neue Brücke erbaut worden, die auf eisernen,mit Zement gefüllten Cylindern ruht, 3214 m lang und 18,3 mbreit ist, 85 Öffnungen hat (11 zu je 75,3 m) und in der Mittesich 23,5 m über den mittlern Wasserstand erhebt.

Taÿgetos (auch Taygeton, jetzt Pentedaktylon,"Fünffingerberg"), Gebirge im Peloponnes, zieht sich alsGrenze zwischen Lakonien und Messenien von der Grenze Arkadiens biszum Vorgebirge Tänaron hinab, eine ununterbrochene Kettebildend, durch welche nur ein einziger, sehr beschwerlicherPaß, die sogen. Langada (von Sparta nach Kalamata),hindurchführt. Die höchsten, mit Schnee bedeckten Spitzenhießen Taleton (2409 m hoch) und Euoras.

Taylor (spr. tehler), 1) Zachary, zwölfterPräsident der Vereinigten Staaten von Nordamerika, geb. 24.Nov. 1784 in Orange County im Staat Virginia, verlebte seine Jugendin Kentucky, wohin seine Eltern als Farmer übersiedelten, ward1808 Leutnant in einem Infanterieregiment, 1812, nachdem er mit 50Mann im Fort Harrison am Wabashfluß 5. Sept. 1812 dieAngriffe zahlreicher Indianerscharen mit Erfolgzurückgeschlagen, Major und 1832 Oberst des 6.Infanterieregiments, an dessen Spitze er im Blackhawkkrieg unterScott focht. Auch an dem Feldzug gegen die Indianer in Florida 1836nahm er als General mit Auszeichnung teil, und im Dezember 1837erfocht er an der Spitze einer Brigade über die Indianer einenblutigen Sieg am See Okitschobi. Nachdem er das Oberkommando inFlorida noch bis 1840 geführt, erhielt er das Kommando imersten, die Staaten Louisiana, Mississippi und Alabama umfassendenMilitärdepartement, 1845 aber den Oberbefehl über dienach Texas bestimmte Okkupationsarmee. Er überschritt 1846 imKriege gegen Mexiko den Rio Grande, nahm nach einer Reihe kleinerGefechte Monterey (24. Sept.), erfocht 22. und 23. Febr. 1847 mitseinen 6000 Mann über Santa Annas 21,000 Mann einenentscheidenden Sieg und schlug im April noch ein andres KorpsMexikaner bei Tula. Diese Erfolge hatten ihm solchePopularität erworben, daß er von der Whigkonvention inPhiladelphia als Kandidat für die Präsidentschaftaufgestellt, 7. Nov. 1848 mit bedeutender Majoritätgewählt ward und 4. März 1849 sein Amt antrat. Aber40jährige Kriegsstrapazen hatten seine Gesundheit untergraben,und er starb nach kurzer unparteiischer Verwaltung schon 9. Juli1850 in Washington

2) Henry, engl. Dichter und Schriftsteller, geb. 1810 in derGrafschaft Durham, trat im Kolonialamt in den Staatsdienst,verheiratete sich mit der Tochter Lord Monteagles, wurde 1873 zumRitter erhoben und starb 27. März 1886 in Bornemouth. AlsDramatiker begann er mit "Isaac Comnenus" (1827); dann folgte diezweiteilige historische Tragödie "Philip van Artevelde"(1829), sein Hauptwerk, von ihm selbst als "historischer Roman indramatischer und rhythmischer Form" bezeichnet, durch kräftigeCharakteristik ansprechend und reich an wirkungsvollen Szenen. Vonseinen übrigen, wiederholt aufgelegten Stücken nennenwir: "Edwin the Fair" (1842), "The virgin widow" (1850) und "St.Clement's eve" (1862). Außerdem schrieb er: "The statesman",eine Abhandlung voll scharfer und feiner Beobachtungen (1836); "Theeve of the conquest, and other poems" (1847); "Notes from life"(1847); "Notes from books" (1849); "A Sicilian summer, and minorpoems" (1868) u. a. Seine gesammelten

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Taylors Lehrsatz - Teano.

"Works" erschienen 1877-78, 5 Bde.; seine "Autobiography" 1885,2 Bde. Seine "Correspondence" gab Dowden heraus (1888).

3) Tom, engl. Dramatiker und Humorist, geb. 1817 bei Sunderlandals Sohn einer Deutschen, studierte in Glasgow und Cambridge, wurdeRechtsanwalt, dann Professor der englischen Litteratur amUniversity College in London, trat 1850 in den Staatsdienst, ward1854 Hauptsekretär des Gesundheitsamtes und bei Auflösungdieser Behörde nach 21jähriger Dienstzeit in Ruhestandversetzt. Inzwischen hatte er als Kunstkritiker der "Times"bedeutenden Einfluß erworben, als Mitarbeiter des "Punch"viel Heiteres geschrieben und besonders als dramatischerSchriftsteller sich hervorgethan. Mehr als 100 Stücke sind ausseiner Feder hervorgegangen, freilich viele nach fremden Mustern."The fool's revenge", "An unequal match". "The ticket-of-leaveman", "Clancarty" haben sich auf der Bühne erhalten, ebensodie historischen Dramen: "Twixt axe and crown", "Joan of Arc" und"Anne Boleyn". Während der letzten acht Jahre seines Lebenswar er Herausgeber des "Punch". Er starb 12. Juli 1880 in London.Auch als Herausgeber der Biographien englischer Künstler, wieHaydons (1853), Leslies (1859), Reynolds (1865), sowie eines"Catalogue of the works of Sir J. Reynolds" (1869) hat sich T.verdient gemacht.

4) Bayard, nordamerikan. Tourist, Schriftsteller, und Dichter,geb. 11. Jan. 1825 zu Kennett Square in Pennsylvanien, wurde mit 17Jahren Buchdruckerlehrling in Westchester, widmete sich nebenbeider Litteratur und den schönen Wissenschaften und machte mitseinen Ersparnissen 1844-46 eine Fußtour durch Europa,worüber er in "Views afoot" (1846) berichtete. Darauf lebte erzu New York als Mitredakteur an der "New York Tribune" und machte1848, nachdem er seine "Rhymes of travel" veröffentlicht, imAuftrag des genannten Blattes eine Reise nach Kalifornien, die erin "El Dorado" (1849) beschrieb. Seine "Poems and ballads"erschienen 1851, ebenso sein "Book of romances, lyrics and songs".In demselben Jahr unternahm er eine Reise nach dem Orient und insInnere von Afrika. Im Oktober 1852 begab er sich von Englandüber Spanien nach Bombay und von da nach China, wo er deramerikanischen Gesandtschaft beigegeben wurde. Darauf begleitete erKommodore Perrys Flottengeschwader nach Japan und kehrte Ende 1853nach New York zurück. Seine Reiseberichte veröffentlichteer in der "Tribune", später in Buchform: "A journey to CentralAfrica" (1854), "The lands of the Saracen" (1855) und "A visit inIndia, Japan and China" (1856). Von 1856 bis 1858 von neuem aufReisen, besuchte er namentlich Lappland und Norwegen, dannGriechenland und Kreta, Polen und Rußland. Früchtedieser Reisen waren die Schriften: "Northern travel" (1857) und"Travels in Greece and Russia" (1859). Nachdem sich T. 1857 mit derTochter des Astronomen Hansen in Gotha vermählt (die in derFolge viele seiner Schriften ins Deutsche übertrug), baute ersich in Cedarcroft bei Philadelphia ein Landhaus, wo erzunächst seinen Wohnsitz aufschlug, verweilte dann 1862-63 alsGesandtschaftssekretär in Petersburg, machte 1865 einenSommerausflug durch die Felsengebirge, war 1866-68 und wiederum1872-1874 von neuem in Europa, vorzugsweise in Thüringen,Italien und in der Schweiz, von wo er auch Abstecher nachÄgypten und nach Island machte, und wurde im Mai 1878 vomPräsidenten Hayes zum Gesandten der Vereinigten Staaten inBerlin ernannt, wo ihn 19. Dez. 1878 ein plötzlicher undfrüher Tod ereilte. Von Reisebeschreibungen erschienen noch:"Home and abroad" (1859, 2. Serie 1862), "Colorado" (1867), "Bywaysof Europe" (1869) und "Egypt and Iceland" (1875). Seine poetischenArbeiten umfassen noch die Sammlungen: "Poems of the Orient"(i854), "Poems of home and travel" (1855), "The poet's journal"(1862), das didaktische Gedicht "The picture of St. John" (1866),die Idylle: "Lars (1873) und "Home pastorals" (1875) sowie mehreredramatische Dichtungen: "The masque of the gods" (1872), "Theprophet" (1874), "Prince Deukalion" (1878) und eine meifterhafteÜbertragung von Goethes "Faust" im Versmaß des Originals(1870-71, 2 Bde.). Außerdem schrieb T. Novellen, wie: "HannahThurston" (l863), "John Godfrey's fortunes" (1865), "The story ofKennett" (1866), "Joseph and his friend" (1871) u. a., sowie dieWerke: "A school history of Germany" (1874), "The Echo Club"(1876), eine harmlose Satire auf englische Dichter der Neuzeit, unddie nach seinem Tod erschienenen "Studies in German literature"(1879) und "Critical essays and notes" (1880). Eine Sammlung seinerReisen erschien in 6 Bänden (New York 1881), seine "Completepoetical works" Boston 1881. Um die Verbreitung der Kenntnisdeutscher Litteratur in Amerika hat sich T. große Verdiensteerworben. Viele seiner Schriften erschienen auch in deutscherübersetzung, die "Gedichte" von Bleibtreu (Berl. 1879). Vgl.Conwell, Life, travels and literary career of B. T. (Boston 1879);Marie Hansen-Taylor und H. Scudder, Life and letters of Bayard T.(das. 1884, 2 Bde.; deutsch, Gotha 1885).

5) George, Pseudonym, s. Hausrath.

Taylors Lehrsatz, von dem englischen Mathematiker BrookTaylor (1685-1731) zuerst 1717 in seinem Werk "Methodusincrementorum" (Berl. 1862) aufgestellte Formel:

f(x+h) = f(x) + h/1 . f'(x) + h2/1.2 . f''(x) + ... ,

wo f'(x), f''(x), ... der erste, zweite etc.Differentialquotient (s. Differentialrechnung) der Funktion f(x)sind. Setzt man darin x = 0 und x an die Stelle von h, soerhält man die Maclaurinsche Reihe:

f(x) = f(0) + x/1 . f'(0) + x2/1.2 f''(0) + ...

welche zur Entwickelung einer Funktion in eine nach Potenzen vonx fortschreitende Reihe dient.

Tayport (spr. téh-), Stadt, s. Ferry-Port onCraig.

Taytao, Halbinsel an der Ostküste Patagoniens,südlich von Chonosarchipel, dicht bewaldet, durch zahlreicheFjorde eingeschnitten und 1200 m hoch; endet im SW. mit dem steilenKap Tres Montes.

Tazette, s. Narcissus.

Tazie (arab., "bemitleiden"), eine Art Passionsspiele aufdas tragische Schicksal Hassans und Husseins sowie der Alideninsgesamt, welche im schiitischen Persien und Hindostanwährend des Monats Muharrem mit besonderer Feierlichkeitaufgeführt werden. Einzelne derselben sind auch in Europadurch Übersetzung bekannt geworden. Taziechan, die Sängerund Darsteller dieser Spiele. Vgl. Gobineau, Les religions del'Asie centrale (2. Aufl., Par. 1866).

Te, in der Chemie Zeichen für Tellur.

Teakbaum (Tikbaum), s. Tectona.

Teano (das antike Teanum), Stadt in der ital. ProvinzCaserta, an der Eisenbahn Rom-Neapel, mit Calvi Sitz eines Bistums,hat eine Kathedrale mit antiken Säulen, Überreste vonBauwerken der

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Teb, El - Technische Hochschulen.

alten Stadt (zur Zeit Strabons nach Capua der beeutendsteBinnenort Kampaniens), ein Gymnasium, eine technische Schule, eineMineralquelle, Öl- und Getreidehandel und (1881) 4969Einw.

Teb, El, Oase in Nubien, südlich von Suakin, auf demWeg von Trinkitat am Roten Meer nach dem Fort Tokar. Hier 29. Febr.1884 siegreiches Gefecht des englischen Generals Graham gegen dieMahdisten, worauf Tokar besetzt wurde.

Teba, Eugenie Marie de Guzman, Gräfin von, s.Eugenie 1).

Tebbes, Stadt in der pers. Provinz Irak Adschmi, dicht ander Grenze von Chorasan, liegt in einer von Bergen umrahmten Ebene,inmitten eines schmalen Kulturgürtels, besitzt Mauern und eineCitadelle, die sich aber nicht in verteidigungsfähigem Zustandbefinden, hat weder Bazare noch viel Handel und produziert nuretwas Seide. Das Klima ist sehr heiß, trotzdem T. etwa 630 mü. M. liegt. Die Einwohnerzahl dürfte 40,000 nichterreichen.

Tebet (hebr.), im jüd. Kalender der 4. Monat desbürgerlichen, der 10. des Festjahrs, vom Neumond des Januarsbis zu dem des Februars.

Tebriz (Täbris, Tauris), Hauptstadt der pers.Provinz Aserbeidschân, in einer fruchtbaren Ebene amAdschitschai 1348 m hoch gelegen, ist im allgemeinen schlechtgebaut, hat einige Befestigungen, eine verfallene mittelalterlicheBurg mit Zeughaus, eine Villa des Thronfolgers, zahlreiche(angeblich 318) Moscheen (darunter sehenswert die Ruine derberühmten blauen Moschee), 5 armenische Kirchen, reiche Bazaremit fast 4000 Läden, 166 Karawanseraien, Fabrikation vonseidenen und baumwollenen Zeugen, Teppichen und Lederwaren,bedeutenden Handel und 160-170,000 (darunter ca. 3000 armenische)Einw. Im 18. Jahrh. sehr heruntergekommen, verdankt die Stadt ihrenerneuerten Wohlstand namentlich dem starken Transitverkehrüber Eriwan, Tiflis und Poti zwischen Europa und Persien,welcher T. zur ersten Handelsstadt Persiens gemacht hat. - T. wurde792 von Zobeide, der Gemahlin des Kalifen Harun al Raschid,gegründet. Am 6. Aug. 1605 hier Sieg der Perser über dieTürken; 1725 wurde die Stadt von den Türken erobert; bis1828 war sie die Residenz des Kronprinzen Abbas Mirza, wurde aberim Oktober 1827 von den Russen besetzt, worauf hier 2. Nov. derFriede zwischen Rußland und Persien zu stande kam, in welchemletzteres das Chanat Eriwan an Rußland abtrat. Am 23. Sept.1854 litt die Stadt durch ein Erdbeben.

Tebu, Volksstamm, s. Tibbu.

Tecax (spr. -aß), Stadt im mexikan. Staat Yucatan,75 km südöstlich von Merida, mit Ruinen altindianischerBauten und (1880) 9637 Einw.

Tech (spr. teck), Küstenfluß im franz.Departement Ostpyrenäen, entspringt an der spanischen Grenzein den Pyrenäen, fließt nordöstlich durch einmalerisches Thal (Vallspire) und fällt nördlich vonArgelès in das Mittelländische Meer; 82 km lang.

Technik (griech.), Inbegriff der Regeln, nach denen beiAusübung einer Kunst verfahren wird, z. B. T. der Malerei.Daher Techniker, Kunstverständiger, einer, der mit der innernEinrichtung, dem Zweck und der Wirksamkeit praktischer Anstaltenvertraut ist, wie z. B. Werkführer von chemischen und andernFabriken, Münzmeister etc.; technisch, alles auf Gewerbe oderauf den materiellen Teil der Künste Bezügliche;technische Ausdrücke (termini technici), Kunstausdrücke,die in einzelnen Gebieten der Künste, Gewerbe oder auch derWissenschaften in eigentümlicher Bedeutung gebräuchlichenAusdrücke; technische Anstalten, s. v. w. polytechnischeSchulen. In der Musik bezeichnet T. das Mechanische, sozusagenHandwerksmäßige der Kunst, das, was gelernt werden kannund gelernt werden muß. Man spricht daher sowohl von einer T.der Komposition als einer T. der Exekution, meint indes, wenn manden Ausdruck schlechtweg gebraucht, zumeist die letztere. ZurAusbildung in derselben hat man in neuerer Zeit die sogen.technischen Studien aufgebracht, d. h. die Urelemente, aus denensich musikalische Phrasen, Passagen, Läufe, Verzierungen etc.zusammensetzen, werden in kleinen Bruchstücken, ohneZusammenhang, rein systematisch geübt.

Technische Artillerie, s. Technische Institute derArtillerie.

Technische Hochschulen, Lehranstalten zur höchstentechnischen Ausbildung namentlich der auf diesem Gebiet leitendenStaatsbeamten. Nachdem während der ersten zwei Drittel unsersJahrhunderts diese Fachschulen in Deutschland sehr verschiedenorganisiert waren und mancherlei Schwankungen zwischen den beidenIdealtypen der höhern Gewerbeschule und des akademischenPolytechniku*ms durchzumachen hatten, ist ihre Entwickelung in denletzten beiden Jahrzehnten zu einem gewissen Abschlußgelangt. über den geschichtlichen Hergang finden sich einigeAndeutungen unter Polytechnikum (s. d.). Als dessenSchlußpunkt kann man die 1879 erfolgte Vereinigung derBauakademie und der Gewerbeakademie in Berlin zu einer technischenHochschule betrachten, der das provisorische Verfassungsstatut vom17. März 1879 im wesentlichen den Zuschnitt der technischenHochschulen zu Zürich und zu München gab. Von 1877 bis1880, zuletzt März 1880 in Berlin, unter Beteiligungstaatlicher Kommissare abgehaltene Konferenzen von Abgeordnetensämtlicher deutscher Anstalten (auch von Zürich, Wien,Brünn, Graz) trugen viel dazu bei, die Organisation dertechnischen Hochschulen einheitlich zu gestalten. Die dreipreußischen Hochschulen erhielten unter dem unmittelbarenEindruck dieser Vorgänge neue Verfassungsstatute, und zwarHannover und Aachen gleichzeitig 7. Sept. 1880, Berlin 22. Aug.1882. Damals bezog die Berliner Anstalt auch ein neues,großartiges Gebäude in Charlottenburg. Jene Statutenstimmen in den Hauptpunkten wörtlich überein; doch istnaturgemäß auf die größere Ausdehnung undeigentümliche Stellung der hauptstädtischen AnstaltRücksicht genommen. Die wichtigsten Vorschriften des BerlinerStatuts sind folgende: § 1. Die technische Hochschule hat denZweck, für den technischen Beruf im Staats- und Gemeindedienstwie im industriellen Leben die höhere Ausbildung zugewähren sowie die Wissenschaften und Künste zu pflegen,welche zum technischen Unterrichtsgebiet gehören. Dietechnische Hochschule ist dem Minister der geistlichen,Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten unmittelbar unterstellt.§ 2. An der technischen Hochschule bestehen fünfAbteilungen: 1) für Architektur, 2) fürBauingenieurwesen, 3) für Maschineningenieurwesen(einschießlich Schiffbau), 4) für Chemie undHüttenkunde, 5) für allgemeine Wissenschaften, namentlichMathematik und Naturwissenschaften. § 3. Mit denVorträgen in den einzelnen Disziplinen sind je nachBedürfnis praktische Übungen, Besuch der Sammlungen,Ausflüge etc. verbunden. § 4. Der Unterricht ist nachJahreskursen geordnet; Ferien vom 1. Aug. bis 1. Okt., ferner zuWeihnachten und zu Ostern je 14

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Technische Institute der Artillerie - Technologie.

Tage. § 5. Die Wahl der Vorträge und Übungen istbis auf gewisse naturgemäße Beschränkungen frei.Doch werden Studienpläne aufgestellt und empfohlen. § 6.Lehrer sind die Professoren (vom König ernannt), Dozenten,Assistenten und Privatdozenten. Die Habilitation dieser (§ 7)vollzieht sich bei den einzelnen Abteilungen ähnlich wie beiden Fakultäten einer Universität. Überhauptverhalten sich Hochschule und Abteilungen wie Universität undFakultäten; jene wird vom Rektor und Senat, diese vomAbteilungskollegium und seinem Vorsteher verwaltet. Der Rektor wirdalljährlich von den vereinigten Abteilungskollegiengewählt und bedarf der Bestätigung des Königs; dieVorsteher werden auf ein Jahr gewählt und vom Ministerbestätigt. Für Kassen- und Verwaltungssachen steht demRektor ein Syndikus zur Seite (§ 8-28). Deutsche werden alsStudierende nur mit dem Reifezeugnis eines deutschen Gymnasiumsoder eines preußischen Realgymnasiums und einerpreußischen Oberrealschule ausgenommen; doch berechtigt derBesuch der technischen Hochschule auf Grund einesOberrealschulzeugnisses allein nicht zu einer Staatsprüfungfür den höhern technischen Dienst. Es muß nochmindestens die Prüfung im Lateinischen an einem Realgymnasiumhinzutreten. Über das regelrechte Studium in einer der vierersten Abteilungen werden auf Grund vorgängiger PrüfungenDiplome ausgestellt (§ 29-33). Doch können auchHospitanten vom Rektor zugelassen werden (§ 34-36). DieselbenGrundzüge kehren in den Verfassungen sämtlicher deutschertechnischer Hochschulen wieder; doch ist die Zahl der Abteilungenan mehreren dieser Anstalten größer, indem z. B.Braunschweig noch eine pharmazeutische Abteilung hat, München,Zürich u. a. eine landwirtschaftliche. In Deutschland gibt esgegenwärtig neun t. H.: Berlin, Hannover, Aachen,München, Dresden, Stuttgart, Karlsruhe, Darmstadt undBraunschweig (Carolinum, jetzt Carolo-Wilhelminum). Diese neunAnstalten zählten 1878 zusammen: 535 Dozenten und 6433Studierende. 1883 war die Zahl der Studierenden um 40 Proz. oderauf 3900 zurückgegangen. Seitdem fand eine langsame Steigerungder Besuchsziffer statt, so in den preußischen Anstalten von1386 (1883) auf 1727 (1888), nämlich Berlin 1098 (gegen 897),Hannover 418 (gegen 318), Aachen 211 (gegen 171). Von diesen 1727gehörten den einzelnen Abteilungen an für Architektur326, Bauingenieurwesen 286, Maschinenwesen und Schiffbau 620,Chemie und Hüttenkunde 277, allgemeine Wissenschaften 3,woneben noch 215 Hörer im allgemeinen ohne Bezeichnung einerbestimmten Abteilung zugelassen waren. Die technische Hochschule zuMünchen zählte 1887: 612 Hörer, die zu Dresden 370,die zu Zürich 496. Österreichs sechs t. H. zählten1884 bei 330 Lehrern 2450 Studierende. Die Gesamtzahl derStudierenden im Winter 1888/89 betrug 1694 gegen 1619 im Vorjahrund zwar in Wien 745, Prag (deutsch) 182, Prag (tschechisch) 334,Brünn 122, Graz 154, Lemberg ebenfalls 154. Davon kamen aufdie allgemeine Abteilung 18, Ingenieurwesen 696, Hochbau 136,Maschinenbau 508, chemische Technik 214 Studierende. Das ungarischeJosephspolytechnikum zu Budapest hatte 1887 bei 47 Lehrkräften619 Studierende.

Technische Institute der Artillerie sind in Deutschland dieunter militärischer Leitung stehenden Fabriken zurAnfertigung von Armeematerial und zwar: Artilleriewerkstättenzu Spandau, Danzig, Deutz, Straßburg i. E., Dresden,München; Geschützgießereien zu Spandau, Augsburg;Feuerwerkslaboratorien zu Spandau, Ingolstadt;Geschoßfabriken zu Spandau, Teil derGeschützgießerei, Siegburg, Ingolstadt; Pulverfabrikenzu Spandau, Hanau, Ingolstadt, Gnaschwitz (bei Bautzen);Schießwollfabrik zu Hanau. Die Arbeiter sind Zivilpersonen;Meister, Werkführer, Ingenieure etc. sind Beamte. InÖsterreich-Ungarn umfaßt die technische Artillerie(Handwerks-, Zeugsartillerie) das Artilleriearsenal, dieArtilleriezeugsfabrik, die 24 Artilleriezeugsdepots und diePulverfabrik in Stein.

Technische Militärakademie, inÖsterreich-Ungarn die Artillerie- und Genieschule.

Technisches uud administratives Militärkomitee, inÖsterreich-Ungarn ein Organ des Reichskriegsministeriums,besteht aus Artillerie-, Genieoffizieren und Verwaltungsbeamten undleitet alle diesen Gebieten angehörigen Versuche.

Technische Truppen, Genie-, Eisenbahn- und Telegraphentruppen;vgl. Technische Institute der Artillerie.

Technoglyphen (griech.), s. Bildstein.

Technologie (griech., Gewerbskunde), die Lehre von denMitteln und Verfahrungsarten zur Umwandlung der rohen Naturproduktein Gebrauchsgegenstände. Da diese Umwandlung nur durch eineÄnderung des innern Wesens, d. h. der Substanz, nach denGesetzen der Chemie oder durch eine Änderung deräußern Form oder Gestalt nach den Gesetzen der Mechanikerfolgen kann, so teilt man das Gebiet der T., das die ganzeIndustrie umfaßt, ein in chemische und mechanische T. Diechemische T. beschäftigt sich mit der Darstellung chemischerMaterialien (Alkalien, Säuren, Salze, Farben, Teerfarben,Ultramarin etc.), der Brenn- und Leuchtstoffe (Kohle, Stearin,Leuchtgas etc.), der Nahrungs-, Genuß- und Arzneimittel(Brot, Bier, Branntwein, Zucker, Chinin etc.), mit derFärberei, Druckerei, Gerberei, Thonwaren-Fabrikation etc. Diemechanische T. zieht in ihren Bereich die Bearbeitung der Metalle,des Holzes und ähnlicher Materialien auf Grund ihrerArbeitseigenschaften (Gießfähigkeit, Dehnbarkeit,Schmiedbarkeit, Teilbarkeit), die Verarbeitung der Faserstoffe(Spinnerei, Seilerei, Weberei, Pavierfabrikätion), dieVerarbeitung der verschiedenen Produkte (Stickerei, Wirkerei,Flechterei etc.) etc. Eine Menge Gewerbe gehörenselbstverständlich zum Teil der chemischen, zum Teil dermechanischen T. an, da sie ihrer Natur nach sowohl chemische alsmechanische Prozesse verlangen (Glas, Thonwaren, Kautschuketc.).

Als man anfing, den Gewerben eine wissenschaftliche Grundlage zugeben, lag es nahe, dies in der Weise zu thun, daß man denStoff nach den einzelnen Gewerben ordnete und diese besondersbehandelte (Bierbrauerei, Branntweinbrennerei, Färberei,Gießerei, Schlosserei, Uhrmacherei, Tischlerei, Drechslerei,Böttcherei, Baumwoll-, Flachs-, Wollspinnerei etc.). Aufsolche Weise entstand die sogen. spezielle T. als eine Lehrmethode,welche auch jetzt noch Anwendung findet, wenn es sich um dieDarstellung solcher Gewerbe handelt, die wenig oder gar keinegemeinsamen Anknüpfungspunkte besitzen. Da dies namentlich inden chemischen Gewerben der Fall ist, weil in der praktischenHandhabung der chemischen Gesetze solche Verschiedenheitenobwalten, daß nur einzelne Gegenstände, z. B.Feuerungsanlagen, vielen zugleich angehören, so ist hier dleMethode der speziellen T. die Regel. In der Weiterentwickelung derT. gewann man jedoch noch eine andre Grundlage für dieBehandlung dadurch, daß man Grup-

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Technopägnia - Tectona.

pen bildete, indem man alle jene Beschäftigungen, welche inihren Prozessen, Mitteln, Manipulationen etc. vieleÄhnlichkeit und Gleichheit besitzen, zusammenfaßte undohne Rücksicht auf ihre Einzelheiten ordnete und untersuchte.Weil dadurch die Behandlung eine allgemeinere wird, so heißtdiese Art der Darstellung allgemeine T. Diese Methode reiht alleMittel zu gleichem Zweck (Gußformen, Bohrer, Drehbänkeu. dgl.) aneinander, macht sie dadurch übersichtlich undstellt sie zum Vergleich nebeneinander, weshalb sie auchvergleichende T. genannt wird. Einer auf die Weise gewonnenenGruppeneinteilung ist namentlich das Gebiet der mechanischen T.fähig, indem z. B. alle Metallarbeiten, alle Holzarbeiten, dieSpinnerei aller Faserstoffe, die Weberei aller Fäden sich ineinzelne Gruppen zusammenfassen lassen. Da diese Methodeaußerdem nicht nur die anregendste und die fruchtbarste ist,sondern es auch allein ermöglicht, das ausgedehnte Gebiet dermechanischen Industrie zu beherrschen, so hat sie allgemein alsLehrmethode in der mechanischen T. Eingang gefunden. Innerhalb derGruppen gewinnt man in den Arbeitseigenschaften der Materialieneine weitere Grundlage für die Anordnung und somit einzelneKapitel für die Bearbeitung auf Grund der Schmelzbarkeit(Gießerei), Dehnbarkeit (Schmieden, Walzen, Drahtziehen),Teilbarkeit (Scheren, Meißel, Hobel, Bohrer, Sägen,Fräfen etc.). Die Gewerbskunde wurde zuerst als Bestandteilder kameralistischen Studien, etwa seit 1772 an derUniversität gelehrt. Beckmann (s. d. 2) wurde durch seineSchriften, in denen er die einzelnen Industriezweige nach derinnern Verwandtschaft ihrer Hauptverrichtungen behandelte, derBegründer der T., welcher er auch den Namen gab. Nach ihmwaren Hermbstädt in Berlin und Poppe in Tübingenbedeutend, die neuere Richtung aber erhielt die T. durch Prechtlund Altmütter in Wien und namentlich durch Karmarsch inHannover, welcher der Begründer der allgemeinen,vergleichenden T. wurde. Die chemische T. wurde in neuester Zeitbesonders durch Knapp in Braunschweig, Heeren in Hannover, Wagnerin Würzburg, die mechanische durch Hartig in Dresden, Hoyer inMünchen, Exner in Wien gefördert. Die Litteratur der T.ist außerordentlich reichhaltig. Als Hauptwerke gelten:Prechtl, Technologische Encyklopädie oder alphabetischesHandbuch der T., der technischen Chemie und des Maschinenwesens(Stuttg. 1829-55, 20 Bde.; Supplemente, hrsg. von Karmarsch 1857bis 1869, 5 Bde.); Karmarsch und Heeren, TechnischesWörterbuch (3. Aufl. von Kick und Gintl, Prag 1874 ff.);Karmarsch, Handbuch der mechanischen T. (6. Aufl. von Fischer,Leipz. 1888 ff.); Kronauer, Atlas für mechanische T., aufGrundlage von Karmarsch' "Handbuch", mit Erklärungen (Hann.1862); Hoyer, Lehrbuch der vergleichenden mechanischen T. (2.Aufl., Wiesb. 1888); Muspratt-Stohmann, EncyklopädischesHandbuch der technischen Chemie (4. Aufl., Braunschw. 1886 ff.);Knapp, Lehrbuch der chemischen T. (3. Aufl., das. 1865-75, 2 Bde.);Bolley-Birnbaums Sammelwerk: "Handbuch der chemischen T." (das.1862 ff., 8 Bde., in vielen Teilen); R. Wagner, Handbuch derchemischen T. (12. Aufl., Leipz. 1886); Payen, Handbuch dertechnischen Chemie (deutsch von Stohmann und Engler, Stuttg.1870-74, 2 Bde.); Wagners "Jahresbericht Über die Leistungender chemischen T." (Leipz., seit 1855, jetzt hrsg. von Fischer);Poppe, Geschichte der T. (Götting. 1807-11, 3 Bde.);Karmarsch, Geschichte der T. seit der Mitte des 18. Jahrhunderts(Münch. 1871); Blümner, T. und Terminologie der Gewerbeund Künste bei Griechen und Römern (Leipz. 1875-1884, 3Bde.); Noiré, Das Werkzeug und seine Bedeutung für dieEntwicklungsgeschichte der Menschheit (Mainz 1880); Lazarus Geiger,Zur Entwickelungsgeschichte der Menschheit (2. Aufl., Stuttg.1878).

Technopagnia (griech.), Kunstspielereien, besondersGedichte, deren äußere Form eine bestimmte Figurdarstellt (s. Bilderreime).

Teck, langgestreckter Berg nördlich vor demSchwäbischen Jura, südlich von Klrchheim, 774 m hoch. Aufdem Gipfel die Ruine des Stammschlosses der Herzöge von Teckund eine Felsengrotte (Sibyllenloch).

Teck, im Mittelalter kleines Herzogtum in Schwaben,welches von der gleichnamigen Burg auf dem ebenfalls gleichnamigenBerg im württembergischen Donaukrels den Namen führte.Dieselbe war ursprünglich im Besitz der Herzöge vonZähringen und kam 1152 an einen Sohn Konrads, Adalbert I.,welcher aus dem benachbarten Gebiet und dem durch Erbschaft ihmzufallenden Ulmburg das Herzogtum T. bildete. Letzteres ging 1381durch Kauf an Württemberg über, doch starb dasherzogliche Geschlecht erst 1439 mit Ludwig, Patriarchen vonAquileja, aus. Titel und Wappen des Herzogtums wurden 1495 vonKaiser Maximilian dem Herzog von Württemberg zugesprochen und1863 von König Wilhelm den Kindern des Herzogs Alexander vonWürttemberg (geb. 9. Sept. 1804, gest. 4. Juli 1885) ausseiner Ehe mit der Gräsin Rhedey (gest. 1. Okt. 1841)verliehen; der Sohn desselben, Franz, Herzog von T. (geb. 27. Aug.1837), seit 1866 mit einer Tochter des Herzogs von Cambridgevermählt, lebt in London.

Tecklenburg, ehemalige Grafschaft im westfäl. Kreis,330 qkm (6 QM.) groß mit 18,000 Einw., kam nach demAussterben der Grafen von T. 1262 an die Grafen von Bentheim, 1329an die Grafen von Schwerin und 1562 an den Grafen Arnold III. vonBentheim, dessen Sohn Adolf 1606 eine besondere Linie T.gründete. 1699 folgte Graf Wilhelm Moritz von Solms-Braunfels,der 1707 T. an Preußen verkaufte. Jetzt gehört dieGrafschaft zum gleichnamigen Kreis im RegierungsbezirkMünster. Vgl. Essellen, Geschichte der Grafschaft T. (Leipz.1877). - Die Kreisstadt T., am Teutoburger Wald, 235 m ü. M.,hat eine evangelische und eine kath. Kirche, eineSchloßruine, ein Amtsgericht, Zigarrenfabrikation und (1885)897 meist evang. Einwohner.

Tecoma Juss. (Jasmintrompete), Gattung der Bignoniaceen,Bäume oder kletternde Sträucher mit gefingerten oderunpaarig gefiederten Blättern und in Trauben oder Rispenstehenden Blüten. T. radicans Juss. (virginischer Jasmin),kletternder Strauch in Virginia, mit 10 m langen, an den Gelenkenwurzelnden Zweigen, unpaarig gefiederten Blättern undscharlachroten Blüten in endständigen Doldentrauben,gedeiht bei uns in geschützter Lage im Freien, verlangt aberim Winter gute Deckung. Auch andre Arten werden alsZiergehölze kultiviert.

Tectona L. fil. (Teakbaum, indische Eiche), Gattung ausder Familie der Verbenaceen, große Bäume mitgroßen, gegen- oder zu drei wirtelständigen, ganzen,abfallenden Blättern, großen, endständigenBlütenrispen mit kleinen, weißlichen oderbläulichen Blüten und vierfächeriger, vomaufgeblasenen Kelch umgebener Steinfrucht. Drei tropisch asiatischeArten. T. grandis L. fil. ein schlanker Baum von 40 m Höhe,mit großen, eiförmigen, unterseits weißfilzigenBlättern, weißen Blüten undhaselnußgroßen Früchten, findet sich als Waldbaumin Ostindien

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Tecuciu - Teer.

zwischen 25° nördl. bis 2° südl. Br. und73-120° östl. L. v. Gr., in Hinterindien und auf denMalaiischen Inseln, liefert vortreffliches Nutzholz, welchesbesonders für den Schiffbau von höchstem Wert ist, undwird in neuerer Zeit sorgfältig kultiviert. Man fällt dieBäume gewöhnlich zwischen dem 40. und 60. Jahr, wo sieeine Höhe von 17-20 und eine Stärke von 1,3 m besitzen.Das Holz wird zum Teil in Asien verarbeitet, kommt aber auch ingroßen Mengen nach Europa; das siamesische gilt als dasbeste. Es ist hell braunrötlich, wird an der Luft braun bisbraunschwarz, riecht stark, angenehm, besitzt das spez. Gew. 0,89,ist hart, spaltet sich nicht schwer, läßt sich gutverarbeiten, soll Eichenholz an Dauer um das Dreifacheübertreffen, wird von Insekten und Pilzen nicht angegriffen.Es dient auch in Indien zu Tempelbauten, zu Dammkonstruktionen etc.Die Rinde benutzt man zum Gerben, mit den Blättern färbtman Seide und Baumwolle purpurrot; auch dienen sie, wie dieBlüten, als Heilmittel.

Tecuciu, s. Tekutsch.

Teda, Volk in Nordafrika, s. Tibbu.

Teddington, Dorf in der engl. Grafschaft Middlesex, ander Themse, 30 km oberhalb London, bis wohin die Flut steigt, mit(1881) 6599 Einw.

Tedesco (ital.), deutsch.

Tedeum (lat.), s. v. w. Hymnus auf die Worte des sogen.Ambrosianischen Lobgesangs (Tedeum laudamus etc.), dessenursprüngliche Komposition eine würdige Choralmelodie ist,während das T. in neuerer Zeit gern für mehrereChöre und großes Orchester (nebst Orgel) im großenStil komponiert wird. Vgl. Bone, Das T. (Frankf. 1881).

Tedschen, Bezirk in der Transkaspischen Provinz desasiatisch-russ. Generalgouvernements Turkistan, eine vom Herirudbewässerte Oase, die früher nur von Tekke-Turkmenen ausMerw und Atok während des Sommers besucht wurde, um denfruchtbaren Boden mit Getreide zu besäen, seit 1884 aber inihrem nördlichen Teil besiedelt wird und schon 7500 Einw.(Tekinzen) zählt.

Teer, Produkt der trocknen Destillation vielerorganischer Körper, entsteht stets neben einerwässerigen, sauren oder ammoniakalischen Flüssigkeit undeinem Gasgemisch. Man gewinnt den T. häufig als Nebenprodukt,wenn es sich um die Darstellung andrer Produkte der trocknenDestillation handelt, z. B. bei der Leuchtgasfabrikation, bei derDarstellung von Holzessig etc.; in andern Fällen ist der T.das Hauptprodukt, und stets besitzt er großen Wert, seitdemman zahlreiche in verschiedenster Weise verwertbare Substanzen inihm entdeckt hat. Je nach der Natur des der Destillationunterworfenen Körpers ist der T. von sehr verschiedenerBeschaffenheit; stets aber ist er braun bis schwarz,dickflüssig, von empyreumatischem Geruch, schwerer als Wasser,entzündlich, er brennt mit rußender Flamme und gibt anWasser und Alkohol lösliche Stoffe ab. Alle Teere sind Gemengeverschiedenartiger Körper und enthalten stetsKohlenwasserstoffe, sowohl flüssige als starre, von sehrverschiedener Flüchtigkeit (wie Benzol, Toluol, Paraffin,Naphthalin etc.), ferner säureartige Körper (die Phenole,Karbolsäure etc.) und Basen (Anilin, Chinolin etc.), dann auchpech- oder asphaltbildende Substanzen von nicht näherbekannter Beschaffenheit. Wegen ihres Gehalts an Phenolen wirkendie Teere stark fäulniswidrig. Holzteer gewinnt man alsNebenprodukt bei der Darstellung von Holzkohle, Holzgas (s.Leuchtgas, S. 735) und Holzessig; doch ist die Teerschwelereibisweilen auch Hauptzweck und verarbeitet dann harzreicheNadelhölzer teils in Meilern mit trichterförmiger Sohle,von welcher der T. in ein Sammelgefäß abgeleitet wird,teils eingemauerte, stehende große eiserne Kessel, in welchendas Holz erhitzt wird, während man die Teerdämpfe ineinem durch Luft gekühlten Apparat zur Verdichtung bringt. Manerhält etwa 17 Proz. T. Der Holzteer ist dunkelbraun, riechtdurchdringend, schmeckt widrig scharf und bitter, vom spez. Gew.1,075-1,160, löst sich größtenteils in Alkohol undÄther, mischt sich mit Fetten und gibt an WasserEssigsäure und brenzlige Stoffe ab. Man benutzt ihn zukonservierenden Anstrichen, zum Kalfatern der Schiffe, zum Teerender Taue etc.; zur Darstellung von Pech und Ruß, auch wird erdestilliert, und man gewinnt hierbei leichte Teeröle(Holzöl), die wenig Benzol enthalten und meist als Fleckwasserbenutzt werden, schwere Öle, die man auf Ruß verarbeitetoder zum Imprägnieren von Holz verwertet, auch wohl Paraffinund Kreosot. Letzteres wird besonders aus Buchenholzteerdargestellt. Birkenholzteer dient zur Bereitung des Juftenleders.Torfteer wird durch trockne Destillation des Torfs inSchachtöfen oder Retorten, ähnlich wie Braunkohlenteer,dargestellt, auch bei der Verkohlung des Torfs als Nebenproduktgewonnen. Er ist ölartig, braun bis schwarzbraun, von sehrunangenehmem Geruch und dem spez. Gew. 0,896-0,965. Man gewinnt ausdemselben durch Destillation leichte Kohlenwasserstoffe, die wieBenzin und Photogen benutzt werden (Turfol), schwere, noch alsLeuchtöle verwendbare Öle, Schmieröle, Paraffin undsehr schwer flüchtige, flüssige Kohlenwasserstoffe, auswelchen Leuchtgas bereitet wird, als Rückstand Asphalt.Braunkohlenteer ist sehr verschieden je nach der Beschaffenheit derKohle. Im allgemeinen ist er dunkelbraun, riecht widerlichkreosotartig und erstarrt leicht durch hohen Paraffingehalt. Deraus Pyropissit gewonnene T. ist butterartig, wachsgelb und bildetdas Rohmaterial der Paraffinfabriken. Man gewinnt daraus durchDestillation leichte und schwere Öle (Benzin, Photogen,deutsches Petroleum, Solaröl), Schmieröl und namentlichParaffin (s. d.). In ähnlicher Weise gewinnt und verwertet manT. aus bituminösen Schiefern. Am wichtigsten ist derSteinkohlenteer (Kohlenteer), den man in Leuchtgasanstalten,bisweilen auch bei der Koksbereitung als Nebenprodukt gewinnt. Erist schwarz bis braunschwarz, übelriechend, dickflüssig,vom spez. Gew. 1,15-1,22. Er besteht aus flüssigen und festenKohlenwasserstoffen (Benzol, Toluol, Cumol, Cymol, Anthracen,Naphthalin etc.), Säuren (Phenol, Kresol, Phlorol,Rosolsäure), Basen (Anilin, Chinolin, Toluidin etc.) undAsphalt bildenden Substanzen. Die quantitative Zusammensetzung desTeers schwankt je nach der Beschaffenheit der Kohle und derAusführung der Destillation. Im allgemeinen entsteht beischneller Destillation in hoher Temperatur viel Gas und wenig T.,welcher arm an Ölen, aber reich an Naphthalin ist. DieBestandteile des Steinkohlenteers bilden das Rohmaterial fürmehrere wichtige Industriezweige. Um sie zu gewinnen, unterwirftman den T. in sehr großen Blasen, liegenden Cylindern oderkofferförmigen Retorten aus Eisenblech einer Destillationüber freiem Feuer. Es entweichen zuerst Gase, dann gehen mitsteigender Temperatur ammoniakalisches Wasser, leichte Öle,schwere Öle und feste Kohlenwafferstoffe über, und alsRückstand bleibt Steinkohlenasphalt, welcher um so härterausfällt, je weiter die Destillation bei immer gesteigerterTemperatur getrieben wurde. Bisweilen treibt man dieflüchtigsten Öle durch Wasserdampf ab, den man di-

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Teerbutt - Tegel.

rekt in den T. leitet. Der Wasserdampf reißt dieflüchtigen Kohlenwasserstoffe dampfförmig mit sich fortund wird mit ihnen zugleich in Kühlapparaten verdichtet. Dieerste Verwertung des Teers zur Gewinnung von Leuchtölendatiert von 1839, wo Selligue und de la Haye in Autun den T. vonbituminösem Schiefer in dieser Weise verarbeiteten. Zu Endeder 40er Jahre stellte Young bei Glasgow aus Bogheadkohlenteer einMineralöl (Hydrokarbür) und Paraffin dar, und um dieselbeZeit entstanden die irischen Öl- und Parafsinfabriken, welcheTorf verarbeiteten. Seit 1850 entwickelte sich dieParaffinindustrie in Deutschland (vgl. Paraffin). Steinkohlenteerwurde zuerst etwa 1846 destilliert, um karbolsäurehaltigesTeeröl zur Imprägnierung von Eisenbahnschwellenzugewinnen. Das leichte Teeröl wurde nur von Brönner alsFleckwasser benutzt und galt als lästiges Nebenprodukt, bis esum 1856 durch die Entwickelung der Anilinfarbenindustrieallmählich der wichtigste Bestandteil des Teers wurde. Dieerste größere Fabrik zur Verarbeitung vonSteinkohlenteer in Deutschland wurde 1860 in Erkner bei Berlingegründet. Erst später gewannen wieder die schwererflüchtigen Teerbestandteile, wie Karbolsäure, Naphthalinund Anthracen, erhöhte Bedeutung. Die leichtenSteinkohlenteeröle werden wegen ihres Gehalts an Benzol undToluol hauptsächlich in der Farben-Industrie benutzt,schwerere karbolsäurehaltige Öle dienen zumImprägnieren des Holzes, schwere Kohlenwasserstoffe alsSchmieröl, Naphthalin und Anthracen finden Verwendung inderFarbenindustrie, ebenso das Phenol, welches aber auch zu sehrvielen andern Zwecken, namentlich zur Darstellung vonSalicylsäure und in der Medizin, benutzt wird. Aus Toluol undNaphthalin stellt man auch Benzoesäure dar. Der Asphalt wirdzur Darstellung von Asphaltröhren und Briketten, zum Belegenvon Fußböden etc. benutzt, außerdem dientSteinkohlenteer auch zu konservierenden Anstrichen, zum Vertreibenvon Ungeziefer, und wo er keinen Absatz findet, verbrennt man ihnin Gasanstalten zum Heizen der Retorten. Der Steinkohlenteer derBerliner Gasanstalten liefert:

Benzol und Toluol ... 0,80

Sonstige wasserhelle Öle ... 0,60

Kristallisierte Karbolsäure ... 0,20

Kresol etc. ... 0,30

Naphthalin ... 3,70

Anthracen ... 0,20

Schwere Öle ... 24,00

Steinkohlenpech ... 55,00

Wasser und Verlust ... 15,20

Die Teermenge beträgt bei der Leuchtgasfabrikation 5 Proz.vom Gewicht der Steinkohlen, und da nun in Berlin jährlich 6Mill. Ztr. Kohle verarbeitet werden, so erhält man 300,000Ztr. T., dessen Beschaffenheit aber von der Beschaffenheit derKohle abhängig ist. In England verarbeitet man jährlich3,5, in Frankreich 1, in Deutschland 0,75, in Belgien und Holland0,45, zusammen 5,7 Mill. Ztr. T., welche an Ausbeute ergeben:Anthracen 19,000, Benzol 57,000, Naphtha 42,700 Ztr. Vongroßer Bedeutung dürfte der T. werden, welcher beimRaffinieren des Erdöls als Rückstand bleibt, insofernderselbe, wenigstens derjenige von südrussischem Erdöl,Produkte liefert, die reich an Benzol, Toluol und Anthracen sindund daher für die Teerfarbenindustrie ein wertvollesRohmaterial bilden. Vgl. Lunge, Destillation des Steinkohlenteers(Braunschw. 1867); Derselbe, Industrie derSteinkohlenteerfabrikation (3. Aufl., das. 1888); Bolley-Kopp,Chemische Verarbeitung der Pflanzen- und Tierfasern (das. 1867-74);Wagner, übersicht der Produkte der trocknen Destillation derSteinkohlen (Würzb. 1873); Schultz, Chemie desSteinkohlenteers (2. Aufl., Braunschw. 1887 ff., 2 Bde.),

Teerbutt, f. v. w. Flunder, s. Schollen.

Teerfarben, aus Teerbestandteilen dargestellte Farben,also die farbigen Derivate des Anilins (welches aus Benzol gewonnenwird), Naphthalins, Anthracens, Phenols etc. Vgl. Schultz, Chemiedes Steinkohlenteers, Bd. 2 (2. Aufl., Braunschw. 1887 ff., 2Bde.); Nietzki, Organische Farbstoffe (Bresl. 1886); Schultz undJulius, Übersicht der künstlichen organischen Farbstoffe(Berl. 1888); Heumann, Die Anilinfarben und ihre Fabrikation(Braunschw. 1888).

Teerfeuer (Blüse), Feuerzeichen in der Nähe vonSandbänken, Untiefen, Klippen.

Teergalle, s. v. w. Harzgalle, s. Harzfluß.

Teerjacke, Spitzname der Matrosen (vgl. Jack).

Teeröl, s. Teer.

Teerpappe, s. Dachpappe.

Teerseife, Hebras flüssige, s. Kaddigöl.

Tees (spr. tihs), Fluß im nördlichen England,entspringt am Croß Fell in Westmoreland, durchfließtdas romantische Teesdale und mündet nach einem Laufe von 153km unterhalb Middlesbrough in die Nordsee. Seine Einfahrtschützen zwei große aus Schlacken gebildeteWellenbrecher, je 3292 m lang.

Teetotalismus (neuengl., spr. ti-), das System dervollständigen Enthaltsamkeit von dem Genuß alkoholischerGetränke, wie es Joseph Livesay 1. Sept. 1832 zu Prestonbegründete. Die Vorsilbe scheint auf den an die Stelle desstreng verbotenen Branntweingenusses empfohlenen Thee hindeuten zusollen. Vgl. Mäßigkeitsvereine.

Tef, s. Eragrostis.

Teffe (früher Ega), kleine Stadt in der brasil.Provinz Amazonas, an einer seeartigen Erweiterung des Flusses T.,der 10 km unterhalb in den Amazonenstrom mündet. Handel mitWaldprodukten und Viehzucht bilden die Haupterwerbsquellen.

Tefilla (hebr.), s. Siddur.

Tefnut, ägypt. Göttin, löwenköpfigund mit dem Diskus auf dem Haupte dargestellt, gewöhnlich dieGefährtin des Gottes Schu.

Tegal (Tagal), niederländ. Residentschaft auf derNordküste der Insel Java, 3800 qkm (69 QM.) groß mit(1885) 986,544 Einw., worunter 706 Europäer, 6859 Chinesen und380 Araber. Das Land ist außerordentlich fruchtbar undvortrefflich kultiviert. Die gleichnamige Hauptstadt hat einenHafen, ein Fort, nicht unbedeutenden Handel und 30,000 Einw.

Tegea, feste Stadt im alten Arkadien, mit eignem Gebiet(Tegeatis), hatte früher eigne Könige und war diebedeutendste Stadt Arkadiens, öfters (560, 479, 464) mitSparta im Kampf, aber im Peloponnesischen Krieg dessen treuerVerbündeter. Nach der Schlacht von Leuktra trat es gezwungenin den Achäischen Bund. Ruinen 6 km sudöstlich vonTripolitsa (s. d.). In T. stand ein berühmter Prachttempel derAthene Alea, von Skopas 394 v. Chr. gebaut.

Tegel, Lokalname für einen kalkhaltigenTertiärthon des Wiener Beckens, s. Tertiärformation.

Tegel, Dorf im preuß. Regierungsbezirk Potsdam,Kreis Niederbarnim, am gleichnamigen Havelsee, 11 km von Berlin undmit diesem durch eine Pferdebahn verbunden, hat eine evang. Kirche,eine Schiff- und Maschinenbauanstalt, eine große Mühle,Wasserwerke für die Stadt Berlin und (1885) 1652 meist evang.Einwohner. Dabei das durch Schinkel 1822 bis 1824 umgebauteSchloß T., ehedem Besitzung und Wohnstätte Wilhelms v.Humboldt, mit sehenswerten Kunstschätzen und schönemPark, welcher die Grabstätte der Brüder Humboldtenthält. Vgl. Waagen, Schloß T. und seine Kunstwerke(Berl. 1859).

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Tegernsee - Tegner.

Tegernsee, See im bayr. Regierungsbezirk Oberbayern,Bezirksamt Miesbach, in reizender Gebirgsgegend, 732 m ü. M.,ist 6 km lang, 2 km breit, 72 m tief, nimmt mehrere kleineFlüsse auf und ergießt sein Wasser durch die Mangfall inden Inn. Das gleichnamige Pfarrdorf, an der Ostseite des Sees undan der Eisenbahn Schaftlach-Gmund, hat eine kath. Kirche, einSchloß mit prächtigem Garten und einerGemäldesammlung, eine Musik- und eine Zeichenschule, einAmtsgericht, ein Forstamt, eine diätetische Naturheilanstalt,eine Dampfbrauerei und (1885) 1022 kath. Einwohner. DasSchloß T. war sonst eine gefürstete Benediktinerabtei,welche zur Zeit Pippins 736 von den Agilolfingern gegründetund 1803 aufgehoben wurde. Dabei der Parapluieberg mitprächtiger Fernsicht. Am nördlichen Ende des Sees liegtder Musterökonomiehof Kaltenbrunn und südlich vom See imThal der Weißach Bad Kreuth (s. d.). Vgl. Freyberg,Älteste Geschichte von T. (Münch. 1822); Krempelhuber,Der T. und seine Umgebungen (3. Aufl., Münch. 1862).

Tegetthoff, Wilhelm, Freiherr von, österreich.Admiral, geb. 23. Dez. 1827 zu Marburg in Steiermark, wurde imMarinekollegium zu Venedig erzogen und trat 1845 als Kadett in dieösterreichische Marine ein. 1848-49 machte er die Blockade vonVenedig mit, dann, 1851 zum Fregatten-, 1852 zumLinienschiffsleutnant befördert, größereSeeexpeditionen im Mittelländischen Meer, namentlich nach derLevante, gegen die Barbareskenstaaten und nach verschiedenenPunkten der afrikanischen Westküste. 1857 zumKorvettenkapitän ernannt, führte er auf Veranlassung desErzherzogs Maximilian eine Expedition an die Küsten des RotenMeers aus. 1859 begleitete er den Erzherzog auf einer Reise nachBrasilien, wurde 1860 Fregatten-, 1861 Linienschiffskapitänund befehligte 1862 das österreichische Geschwader, welchesnach König Ottos Absetzung in den griechischen undlevantischen Gewässern kreuzte. Seine erste eigentlicheWaffenthat war das für die österreichische Flaggeehrenvolle Seegefecht bei Helgoland gegen die Dänen 9. Mai1864, wobei er auf dem Flaggenschiff Schwarzenberg bis zu dessenBrand ausharrte. T. wurde darauf zum Konteradmiral ernannt. Zueiner glänzenden Rolle war T. im Krieg des Jahres 1866berufen; die Seeschlacht von Lissa (s. d.) 20. Juli d. J. endetetrotz der bedeutenden Überlegenheit der Italiener mit einemglänzenden Sieg der Österreicher. T., welcher hierbeigeniale Begabung für Flottenführung bewiesen, ward durchseine Ernennung zum Vizeadmiral belohnt. Im Juli 1867 erhielt erden Befehl, die Leiche des erschossenen Kaisers Maximilian vonMexiko nach Europa überzuführen, und ward Ende Februar1868 an Stelle des Erzherzogs Leopold zum Generalinspektor undKommandanten der Marine, 1. April 1868 zum Geheimrat und Mitglieddes Herrenhauses ernannt, in welchem er zur liberalenVerfassungspartei gehörte, starb aber plötzlich nachkurzer Krankheit 7. April 1871 in Wien. In Marburg, Pola und Wienwurden ihm Denkmäler errichtet. Vgl. "Admiral T. und dieöfterreichische Kriegsmarine" (Meran 1867); A. Beer, AusWilhelm v. Tegetthoffs Nachlaß (Wien 1882).

Tegetthoff-Expedition, 1872-74, s. Maritimewissenschaftliche Expeditionen, S. 257.

Tegnér, Esaias, berühmter schwed. Dichter,geb. 13. Nov. 1782 zu Kyrkerud in Wermland, Sohn eines Pfarrers,ward als Knabe auf einem Kontor beschäftigt, fand aber hierGelegenheit zu weiterer Bildung, die er mit solchem Erfolgbenutzte, daß er schon 1799 die Universität Lundbeziehen konnte, wo er sich theologischen und philologischenStudien widmete und 1805 zum Adjunkten der Ästhetik, 1812 zumProfessor der griechischen Sprache ernannt wurde. Nachdem er 1818Mitglied der Akademie geworden und die theologischeDoktorwürde erhalten hatte, erfolgte 1824 seine Ernennung zumBischof von Wexiö, wo er, gegen das Ende seines Lebens anzeitweiliger Geistesstörung leidend, 2. Nov. 1846 starb. Seineersten größern poetischen Produkte waren das von derAkademie gekrönte Gedicht "Svea" (1811), das durch tiefenreligiösen Ernst und anmutige Naturschilderungen ergreifendeIdyll "Nattvardsbarnen" (1821; deutsch von Mohnike: "DieNachtmahlskinder", 5. Aufl., Halle 1876) und die etwassentimentale, aber an schönen lyrischen Episoden reichepoetische Erzählung "Axel" (1822; deutsch von Vogel, Leipz.1876), deren Stoff dem Zeitalter Karls XII. entnommen ist. Einbereits in Lund begonnenes großes Gedicht: "Helgonabacken",kam nicht zur Vollendung, ebensowenig seine letztengrößern Dichtungen: "Gerda", deren Fabel der ZeitWaldemars d. Gr. angehört, und "Kronbruden". Als dievorzüglichsten unter seinen zahlreichen kleinern Gedichtensind "Carl XII", der "Epilog vid magister promotionen 1826" und"Sång till solen" ("Gesang an die Sonne") hervorzuheben. Dengrößten Ruhm aber erwarb ihm seine allbekannte Dichtung"Frithjofs Saga" (Stockh. 1825 u. öfter; Prachtausgabe mitIllustrationen von J. A. Malmström, das. 1868; mitWörterbuch hrsg. von Silberstein, Frankf. 1873), die fast inalle lebenden Sprachen Europas übersetzt worden ist, insDeutsche über 20 mal, unter andern von Amalie v. Helwig(Stuttg. 1826, neue Ausg. 1879), Mohnike (19. Aufl., Halle 1885),Berger (11. Aufl., Stuttg. 1887), v. Leinburg (14. Aufl., Leipz.1885), Viehoff (Hildburgh. 1865), Simrock (mit den"Abendmahlskindern", 4. Aufl., Stuttg. 1883), Zoller (Leipz. 1875),Freytag (3. Aufl., Norden 1883). Eine Auswahl der kleinern Gedichteübersetzten Zeller (Stuttg. 1862) und G. v. Leinburg (2.Aufl., Leipz. 1885), der auch die "Lyrischen Gedichte"übertrug (das. 1882). T. schlug in seinen Poesien frei undunabhängig seinen eignen Weg ein, ebenso fern sich haltend vonder blinden Sucht, die Franzosen nachzuahmen, wie von der neuernSchule, die nach dem Vorbild Atterboms die deutsche Romantik alsalleiniges Muster der Nachahmung aufstellte. Seine bilderreiche,bewegliche, leicht erregbare Phantasie, seine reiche Witzesader,sein lebendiges poetisches Gefühl ließen sich in keineFesseln schlagen. Diese Eigenschaften, verbunden mit einerschönen, echt dichterischen Sprache und rhythmischerVollendung, stellen Tegnérs Gedichte unter die bedeutendstenErscheinungen auf dem Gebiet der neuern Poesie. Seine kleinernGedichte sind entweder Gelegenheitsgedichte voll schönerGedanken, männlicher Gesinnung und religiöser Weihe oderNaturschilderungen voll Gemütlichkeit und Sinn für dasIdyllische. Außer den poetischen Arbeiten sind Tegnérs"Reden" (deutsch von Mohnike, Strals. 1829) und seine Aufsehenerregenden, trefflichen "Schulreden" (in Auswahl deutsch vonMohnike, 2. Aufl., Jena 1882) als Zeugnisse einer eminentenRednergabe hervorzuheben. Tegnérs sämtliche Werkewurden von seinem Schwiegersohn Böttiger gesammelt (Stockh.1847-50, 7 Bde.; Jubelausgabe, das. 1882 bis 1885, 8 Bde.); seinenachgelassenen Schriften gab sein Enkel Elof Tegnér (das.1873-74, 3 Bde.) heraus. Eine Auswahl seiner poetischen undprosaischen Werke in deutscher Übersetzung gab G. v. Lein-

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Tegucigalpa - Teichmüller.

burg (Leipz. 1882, 7 Bde.) heraus. 1853 ward in Lund eineKolossalstatue des Dichters errichtet. Vgl. Böttiger,Tegnérs Leben (deutsch, Leipz. 1885); Waldeck,Tegnérs Stellung zur Theologie und Philosophie (Stuttg.1863); Brandes, E. Tegnér (in "Moderne Geister", Frankf.1882), und die biographischen Schriften von Christensen (2. Aufl.,Leipz. 1883), Peschier (Lahr 1882), Kippenberg (Leipz. 1884).

Tegucigalpa, Hauptstadt des mittelamerikan. StaatsHonduras, Rio Grande, 1036 m ü. M., von Bergen umgeben, mitvielen schönen Privathäusern, einer in edlem Stilerbauten Hauptkirche, einer 1847 gegründeten AcademiaLiteraria (Hochschule) und 12,000 Einw. Die Stadt hat lebhaftenHandel; früher hatte sie auch viel Bergbau.

Tegumént (lat.), s. v. w. Knospendecke, s.Knospe.

Teheran, Hauptstadt des pers. Reichs, liegt in derProvinz Irak Adschmi auf einer baumlosen Hochebene, 1170 m ü.M., südlich vom Elburz, hat an Stelle der frühernunansehnlichen Häuser und engen, unregelmäßigenStraßen im letzten Vierteljahrhundert mit Bäumenbepflanzte Boulevards, Plätze und befahrbare Straßenerhalten, und die alten Stadtmauern sind durch Erdwälleersetzt, welche fast das doppelte Areal umschließen. In derMitte der Nordseite liegt der große befestigte Palast desSchahs mit Gärten, Teichen, dem Zeughaus, denGefängnissen, der Militärschule etc. Die Stadt hat 11Moscheen, eine 1850 gegründete Gelehrtenschule mit Bibliothek,mehrere theologische Hochschulen, große moderne Bazare,zahlreiche Karawanseraien und Bäder, Fabrikation vonEisenwaren, Teppichweberei, Seiden- und Baumwollmanufakturen.Innerhalb der Stadt, besonders an ihrer Nordseite, finden sichschöne Gärten. Im Winter, wo der Hof in T. ist,beträgt die Zahl der Einwohner gegen 200,000 (nach andern nur120,000), fast lauter Schiiten, von denen im Sommer wegen derunerträglichen Hitze ein großer Teil (darunter auch dieeuropäischen Gesandtschaften) nach der am Fuß des Elburzgelegenen gesündern Landsihaft Schemiran übersiedelt. DieStadt ist für den europäischen Verkehr, der vornehmlichauf der Straße von Poti über Tiflis, Eriwan, Tebriz undKazwin hierher stattfindet, wie als Sitz des Hofs, der Großendes Reichs und der fremden Gesandten von Wichtigkeit. DurchNeuanlage vieler unterirdischer Wasserleitungen hat sich diefrüher steppenartige Umgegend neuerdings in bebautes Landumgewandelt mit zahlreichen Ansiedelungen, Dörfern undPalästen. In der Nähe von T. liegen unter andern dieköniglichen Lustschlösser Negristan mit schönenGärten, Kasr Kadschar, ein kühner, von Feth Aliausgeführter terrassenförmiger Bau, und Niaveran im N.;südlich die Trümmer des alten Rhagä (s. d.).

Tehl, s. v. w. Tael.

Tehri (Tiri), Staat und Stadt in Britisch-Indien, s.Garwhal 2).

Tehuacan de las Granádos, Stadt im mexikan. StaatPuebla, südöstlich von der Hauptstadt, 1640 m Ü. M.,ehemals ein besuchter heiliger Ort der Azteken, mit (1880) 9173Einw. im Munizipium.

Tehuantepec, Stadt im mexikan. Staat Oajaca, 20 kmoberhalb der Mündung des gleichnamigen Flusses in den StillenOzean und 22 km westlich von einem geräumigen, aber seichtenHaff, mit (1880) 24,438 Einw. in seinem Munizipium (meistIndianer), liegt an der schmälsten Stelle desnordamerikanischen Kontinents, auf dem nur 190 km breiten Isthmusvon T., der sich zwischen dem Golf von T. im S. und dem Golf vonGuazacualca des Mexikanischen Meerbusens im N. erstreckt, unddessen Einsenkung das Hochland von Guatemala von dem Plateau vonAnahuac trennt. Die niedrigste Stelle der Wasserscheide (beiTarifa) liegt 207 m ü. M. Diese Stelle veranlaßte schonfrühzeitig das Projekt einer Verbindungsstraße zwischendem Atlantischen und dem Stillen Ozean. Nachdem bereits Cortez 1520einen Kanalbau vorgeschlagen, ließ der VizekönigBucareli 1771 Vermessungen zu diesem Zweck anstellen. Ein Gleichesgeschah 1825 im Auftrag der mexikanischen Regierung. Am 25. Febr.1842 erhielt endlich der Mexikaner José Garay einPrivilegium zur Herstellung eines Kanals oder einer Eisenbahnüber den Isthmus. Er trat sein Privilegium (1846) anEngländer ab, diese (1850) an die Louisiana-TehuantepecCompany, die auch wirklich, nachdem die Regierungen von England undAmerika sich 1853 vereinigt hatten, das Unternehmen zuschützen, einige Dampfer auf den Guazacualca setzte und einenÜberlanddienst nach Ventosa am Stillen Ozean ins Werk setzte.Die politische Unsicherheit und die erfolgte Eröffnung derPanamabahn hinderten aber die Ausführung eines Kanals oderauch einer Eisenbahn. Im J. 1879 wurde abermals eine T.Interoceanic Railway Company gegründet, und als auch dasPrivilegium dieser Gesellschaft ablief, ohne daß etwasgeschehen war, nahm die Regierung das Werk selbst in die Hand. DerPlan des Kapitän J. B. Eads (1881), eine Eisenbahn zu bauen,vermöge welcher auch beladene Schiffe von Meer zu Meergeschafft werden könnten, ist nie mehr als Projekt geworden.T. ist Sitz eines deutschen Konsuls. Vgl. Shufeldt, T.,explorations and surveys (Washingt. 1873).

Tehueltschen ("Südvolk") nennen die Araukanier diePatagonier, während sie die Pampasindianer in ArgentinienPueltschen ("Ostvolk") nennen.

Teich, größere Ansammlung von Wasser, welchedurch natürliche oder künstliche Ufer eingeschlossen istund mittels gewisser Vorrichtungen abgelassen und gespannt(angefüllt) werden kann. Die Teiche dienen vorzüglich zurZucht von Fischen, außerdem zur Bewegung von Rädern undMaschinenwerken und zur Bereithaltung eines Wasservorrats. DieTeichfischerei (Teichwirtschaft, s. Fischerei, S. 305) hat infolgeder Vervollkommnung der Bodenkultur an Ausdehnung sehr verloren unddem einträglichen Feld- und Wiesenbau weichen müssen. Amausgedehntesten wird sie noch in Schlesien, Böhmen, in derOberlausitz, im Vogtland, im Altenburgischen, Thüringischen,Halberstädtischen, in Bayern und Holstein und zwar vornehmlichauf Karpfen betrieben. Große Teiche kann man bald zurFischerei, bald auch zum Feld- und Wiesenbau anwenden(Sämerung). Man legt zu dem Ende den T. im Herbste trocken,ackert den Grund um, bestellt ihn ein bis drei Jahre lang mitFeldfrüchten und benutzt ihn dann wieder zur Fischerei, umnach sechs Jahren das Besäen zu wiederholen. Vgl. D e l i u s,Die Teichwirtschaft (Berl. 1875); Nicklas, Lehrbuch derTeichwirtschaft (Stett. 1879); Benecke, Die Teichwirtschaft (2.Aufl., Berl. 1889); v. dem Borne, Handbuch der Fischzucht undFischerei (das. 1886).

Teichhuhn, s. Wasserhuhn.

Teichkolben, s. Typha.

Teichlilie, s. Iris.

Teichlinse, s. v. w. Lemna.

Teichmüller, Gustav, philosoph. Schriftsteller, geb.19. Nov. 1832 zu Braunschweig, studierte in Tübingen undvorzugsweise in Berlin unter Trendelenburg Philosophie,veröffentlichte als Lehrer am

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Teichmuschel - Teilbarkeit.

Annengymnasium in St. Petersburg 1859 seine philosophischeErstlingsschrift: "Die Einheit der Aristotelischen Eudämonie",habilitierte sich 1860 als Privatdozent in Göttingen und ward1868 als außerordentlicher Professor nach Basel, 1871 alsordentlicher Professor der Philosophie nach Dorpat berufen, wo er23. Mai 1888 starb. Neben einer Reihe Aristotelischer Forschungen:"Beiträge zur Erklärung von Aristoteles' Poetik" (Halle1866), "Aristoteles' Philosophie der Kunst" (das. 1869) und"Geschichte des Begriffs der Parusie" (das. 1873), schrieb er:"Über die Unsterblichkeit der Seele" (Leipz. 1874, 2. Aufl.1879); "Studien zur Geschichte der Begriffe" (Berl. 1874);"Herakleitos"(Gotha 1876); "Die Platonische Frage", eineStreitschrift gegen Zeller (das. 1876); "Frauenemanzipation" (Dorp.1877); "Darwinismus und Philosophie" (das. 1877) und diehumoristische, gegen den Neukantianismus gerichtete Schrift"Wahrheitsgetreuer Bericht über meine Reise in den Himmel vonImmanuel Kant" (das. 1878); ferner: die "Neuen Studien zurGeschichte der Begriffe" (Gotha 1876-79, 3 Bde.); "Über dasWesen der Liebe" (Leipz. 1879); "Die wirkliche und die scheinbareWelt; neue Grundlegung der Metaphysik" (Bresl. 1882); "Chronologieder Platonischen Dialoge" (das. 1881); "Zu Platons Schriften, Lebenund Lehre" (das. 1884); "Religionsphilosophie" (das. 1886); "NeueGrundlegung der Psychologie und Logik" (das. 1889). DerGrundgedanke der geschichtlichen Arbeiten Teichmüllers istder, die Abhängigkeit des Aristoteles von Platon nachzuweisenund das Platonische System durch strengere Verknüpfung derIdeen mit dem Prinzip der Bewegung in Einklang zu bringen, danebenaber eine eigne, von ihm als "vierte Weltansicht" bezeichnete, demLeibnizschen System mannigfach verwandte philosophische Anschauunggeltend zu machen.

Teichmuschel (Entenmuschel, Anodonta Lam.), Gattung ausder Familie der Flußmuscheln, hat ein dünnes,zerbrechliches Gehäuse und längliche, ungleichseitigeSchalen mit glatter, brauner Oberhaut. Sie lebt besonders instehenden, schlammigen Gewässern, einzelne Arten auch inFlüssen. Je nach Wohnort, Alter, Nahrung und Geschlechtweichen die Individuen ungemein voneinander ab, und dieUnterscheidung der zahlreichen Arten ist daher sehr schwierig undnoch keineswegs festgestellt. Die beiden wichtigsten sind diegroße Schwanenteichmuschel (A. cygnea L.),breit-eiförmig, mit geradem oder meist aufsteigend gebogenemOberrand und gerundetem, sehr krummlinigem Unterrand, bis 18 cmbreit, und die Cellenser T. (A. cellensis Schröt.),länglich-eiförmig, mit fast geradem, parallelem Ober- undUnterrand. Die T. findet sich fast in ganz Europa und vermehrt sichsehr stark; ein Tier enthält bisweilen an 40,000 jungeMuscheln. Diese entwickeln sich zuerst innerhalb der Kiemen desMuttertiers, schwärmen dann als kleine, sehr unreife Larvenaus und heften sich mittels eines Byssusfadens an die Flossen vonFischen an. Der von ihnen als Fremdkörpern verursachte Reizhat eine Schwellung in ihrer Umgebung zur Folge; die Haut erhebtsich zu einem Wall und schließt in 3-4 Tagen die Larvevöllig ein. In einem solchen Gefängnis nun bleibtletztere über 70 Tage und entwickelt sich dabei bedeutend.Ursprünglich mit nur einem Schließmuskel versehen,büßt sie diesen ein und erhält dafür zweineue; ferner wachsen ihr Kiemen, Herz, Geschlechtsorgane etc.Endlich öffnet sich die Haut des Fisches, und die jungeMuschel tritt hervor, um von da ab frei um herzukriechen.

Teichrohr, s. Arundo.

Teichrohrgras, s. Calamagrostis.

Teichrohrfänger, s.Schilffänger.

Teichrose, s. v. w. Nymphaea alba; gelbe T., s. v. w.Nuphar luteum (Nymphaea lutea).

Teichunke, s. v. w. Feuerkröte, s. Frösche, S.752.

Teichwirtschaft, s. Teich.

Teichwolframsdorf, Dorf im sachsen-weimar.Verwaltungsbezirk Neustadt a. O., an der Linie Werdau-Mehltheuerder Sächsischen Staatsbahn, 311 m ü. M., hat eine evang.Kirche, eine Burgruine, Kammgarnspinnerei, Harmonikafabrikation u.(1885) 1946 Einw.

Teifun (Taifun, Tyfon, Typhon), Wirbelstürme in denchinesischen und japanischen Meeren, kommen zur Zeit des Wechselsder Monsune (s. d.) vom Juni bis November, am häufigsten imSeptember und Oktober, vor und unterscheiden sich von den andernWirbelstürmen dadurch, daß sie gewöhnlich einensehr kleinen Durchmesser (d. h. Breite) besitzen. Ihre Zentra (diePunkte der Windstille innerhalb des Sturmwirbels), die oft beinahestillzustehen scheinen, bewegen sich von O. nach W. oder von OSO.nach WNW., während die Rotationsrichtung wie bei allenWirbelwinden auf der nördlichen Halbkugel, entgegengesetzt derdes Uhrzeigers ist. Sie sind, weil bei ihnen alle sonstigenVorzeichen eines herannahenden Sturms fehlen, und weil innerhalbeines so eng begrenzten Raums, wie ihn der T. einnimmt, die Windein ihren Richtungen ungewöhnlich rasch wechseln, für dieSchiffe äußerst gefährlich. Das Wort T. (tai-fung)ist chinesischen Ursprungs, und zwar heißt fung Wind, und taiist eine Bezeichnung der alten Bewohner von Formosa für einenäußerst heftigen Wind während der Monate Juni bisSeptember.

Teigdrucke, Abdrücke in einer Teigmasse vonmäßig tief eingeschnittenen Metallplatten mit biblischenDarstellungen, welche als Vorläufer des von der gestochenenKupferplatte genommenen Abzugs gelten. Sie gehören derFrühzeit des 15. Jahrh. an und sind meist auf Deckeln vonAndachtsbüchern geklebt gefunden worden. Sie sind teilweisebemalt und vergoldet. Man kennt bis jetzt etwa 20 T.

Teigfarben, s. Pastellfarben.

Teignmouth (spr. tannmoth oder tinn-), Seestadt inDevonshire (England), an der Mündung des Teign in den Kanal,hat einen Kursaal für Badegäste, Marmorschleiferei,Ausfuhr von Granit (aus den Heytorbrüchen), Töpferthonund Apfelwein und (1881) 7120 Einw. Zum Hafen gehören (1888)23 Seeschiffe von 2456 Ton. und 76 Fischerboote; Wert der Einfuhr18,302, der Ausfuhr 7330 Pfd. Sterl. T. ist Sitz eines deutschenKonsulats.

Teigwaren, Nudeln, Maccaroni, Biskuits.

Teilaccept, s. Accept.

Teilbarkeit, allgemeine Eigenschaft der Körper,zufolge welcher sich dieselben in kleinere gleichartige Teile aufmechanischem Weg trennen lassen. Ob die physikalische T. derKörper bis ins Unendliche gehe, oder ob dieselbe bei gewissenkleinsten Teilchen (Atomen), die nicht mehr teilbar seien, ihreGrenze habe, darüber hat man vorzüglich auf dem Gebietder Philosophie bis jetzt viel gestritten, weil man hierin einenwichtigen Schlüssel zur Erforschung des Wesens der Materie zufinden hoffte (s. Atom). Die Bemühungen um Auffindung derGrenze, bis zu welcher faktisch die Teilung der Körpergetrieben werden kann, hat zwar noch nicht eine derartige Grenzeergeben, aber doch gezeigt, daß, wenn eine solche vorhandenist, die kleinsten Teilchen nicht mehr meßbar sind. Man nimmtgegenwärtig an, die mechanische Teilung führeschließlich auf die Mole, während als die

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Teilbau - Teiresias.

wirklich kleinsten Teile, in welchen ein Körper im freienZustand existieren kann, die Moleküle gelten. Diese bestehenmit wenigen Ausnahmen aus mindestens zwei Atomen, welche nur durchchemische Mittel voneinander getrennt werden können.

Teilbau, s. Halbpacht.

Teilfrüchtchen, s. Frucht, S. 755.

Teilhaberschaft, s. Arbeitslohn, S. 759, undHandelsgesellschaft.

Teilmaschine, Vorrichtung zur Ausführung von Kreis-oder Längenteilungen, namentlich zur Herstellung der Grad- undLängenteilungen an Meßinstrumenten. Beide haben den zuteilenden Kreis oder Stab periodisch um eine genau bestimmteStrecke zu bewegen und dann durch ein feststehendes sogen.Reißerwerk einen Strich von bestimmter Längeauszuführen. Bei der Kreisteilmaschine wird nach Reichenbachdie Originalteilung eines Mutterkreises unter Benutzung desMikroskops kopiert oder nach Ramsden der zu teilende Kreis mitSchraube und Schraubenrad gleichmäßig gedreht und inpassenden Momenten durch das Reißerwerk eingeritzt undendlich nach Örtling eine Kombination beider Prinzipienvorgenommen. Reichenbachs Prinzip ist genau, aber zeitraubend, dasvon Ramsden ziemlich ungenau; die Kombination nach Örtlinggestattet verhältnismäßig schnelles und genauesArbeiten. Vgl. "Verhandlungen des Vereins zur Beförderung desGewerbfleißes in Preußen", Bd. 29, 1850, S. 133. Beiden Längenteilmaschinen wird die Bewegung des auf einemSchlitten befestigten Maßstabs in der Regel durchMikrometerschraube bewirkt, z. B. die T. von Gebrüder Ehrlichin Dresden und ähnlich die von Breithaupt in Kassel. Bei derT. ohne Führungsschraube von Meyerstein in Göttingen undähnlich bei der von Nasmyth wird ein Normalmaßstab zuHilfe gezogen, dessen Teilung gewissermaßen kopiert werdenmuß.

Teilnahme am Verbrechen (Mitschuld, Concursus addelictum), die Beteiligung mehrerer Personen an einer strafbarenHandlung; und zwar spricht man von einer notwendigen T., wenn zudem Begriff eines Verbrechens, z. B. zu dem Verbrechen desAufruhrs, das Vorhandensein mehrerer Thäter (Mitschuldige,Komplicen) erforderlich ist, während eine freiwillige T.vorliegt, wenn ein Verbrechen, z. B. ein Diebstahl, von mehrerengemeinschaftlich begangen wird, welches aber auch von einereinzelnen Person verübt werden kann. Die dergemeinschaftlichen Ausführung vorangehende Verabredung einesoder mehrerer einzeln bestimmter Verbrechen wird Komplott genannt.Handelt es sich dagegen um eine Verbindung, welche auf dieWiederholung von einzeln noch nicht bestimmten Verbrechen gerichtetist, so wird dieselbe als eine Bande bezeichnet. Keine T. ist dieBegünstigung (s. o.), weil es sich dabei um einennachträglichen Beistand handelt. Nur wenn dieBegünstigung vor Begehung der That zugesagt war, soll sie alsBeihilfe bestraft werden. Im übrigen werden in dem deutschenStrafgesetzbuch Mitthäter, Anstifter und Gehilfenunterschieden. Mitthäter sind diejenigen, welche einVerbrechen gemeinschaftlich ausführen. Wird dagegen dieverbrecherische That von einer Person (dem physischen Urheber)ausgeführt, welche hierzu von einer andern (demintellektuellen Urheber) durch Geschenke oder Versprechen, durchDrohung, durch Mißbrauch des Ansehens oder der Gewalt, durchabsichtliche Herbeiführung oder Beförderung eines Irrtumsoder durch andre Mittel vorsätzlich bestimmt worden war, soerscheint die letztere als Anstifter (mittelbarer, intellektueller,moralischer, physischer Urheber). Hat dagegen der Teilnehmer demThäter nur wissentlich durch Rat oder That Beihilfe geleistet,so wird er als Gehilfe bestraft, und zwar kennt das deutscheStrafgesetzbuch eine strafbare Beihilfe nur bei eigentlichenVerbrechen und Vergehen, nicht auch bei bloßenÜbertretungen. Von den Mitthätern wird jeder alsThäter bestraft (§ 47); ebenso wird der Anstifter gleichdem Thäter bestraft (§ 48). Die Strafe des Gehilfendagegen ist geringer als diejenige des Thäters; sie soll sichnach den Grundsätzen des Versuchs richten und diesenentsprechend ermäßigt werden (§ 49). Übrigensist auch der Versuch der Anstiftung für strafbar erklärt,wofern es sich um ein eigentliches (schweres) Verbrechen handelt,zu welchem der Anstifter einen andern, wenn auch ohne Erfolg,aufforderte. Die lediglich mündlich ausgedrückteAufforderung zum Verbrechen wird nur dann bestraft, wenn dieseAufforderung an die Gewährung von Vorteilen irgend welcher Artgeknüpft war. Auch die Annahme einer solchen Aufforderung iststrafbar. Das Komplott, bei welchem es noch nicht zum Beginn derAusführung der verbrecherischen That gekommen, ist beimHochverrat (§ 83) strafbar. Im deutschenMilitärstrafgesetzbuch (§ 59) ist auch die Verabredungeines Kriegsverrats mit Strafe bedroht. Die Komplotthäupter(Rädelsführer) sind beim Hochverrat und beimLandfriedensbruch vom Gesetz als besonders strafbar bezeichnet. DieBande ist nach dem Reichsstrafgesetzbuch an und für sich nichtstrafbar. Dagegen macht die bandenmäßige Ausführungden Diebstahl und den Raub zum schweren Diebstahl, resp. Raub. Vgl.v. Bar, Zur Lehre vom Versuch und Teilnahme am Verbrechen (Hannov.1859); Langenbeck, Die Lehre von der T. (Jena 1867); Schütze,Die notwendige T. (Leipz. 1869).

Teilscheibe, Vorrichtung an Räderschneidmaschinen,Drehbänken etc. zur Zerlegung von Kreisen in eine bestimmteAnzahl genau gleicher Teile.

Teilung, Bezeichnung für eine Art derungeschlechtlichen Fortpflanzung (s. d.).

Teilung der Arbeit, s. Arbeitsteilung.

Teilungsgewebe, s. Meristem.

Teilungslager, s. Zollniederlagen.

Teilungszeichen, s. Divis.

Teilungszwang, s. Gemeinheitsteilung.

Teilurteil, s. Urteil.

Teilzahlung, s. Abschlagszahlung.

Teinach, Dorf und Badeort im württemberg.Schwarzwaldkreis in einem schönen, waldreichen Thal an derTeinach und der Linie Pforzheim-Horb der WürttembergischenStaatsbahn, 398 m ü. M., hat eine evang. Kirche,kohlensäurehaltige Stahlquellen und alkalisch-erdigeSäuerlinge, welche bei Katarrh der Luftwege, Tuberkulose,Gicht, Blasenkatarrh etc. getrunken werden, und 405 Einw. Von demWasser werden jährlich gegen 1 Mill. Krüge versandt. Inder Nähe die Stadt Zavelstein (s. d.). Vgl. Wurm, Das Bad T.(5. Aufl., Stuttg. 1884).

Teint (franz., spr. täng), Gesichts- oderHautfarbe.

Teiresias (Tiresias), griech., der Ödipussageangehöriger Seher, ward in seinen Jünglingsjahren von denGöttern mit Blindheit geschlagen, weil er den MenschenGeheimnisse der Götter mitteilte (oder weil er Athene im Badgesehen hatte), dann von Zeus mit der Gabe der Weissagung und einemLeben von sieben Menschenaltern beschenkt. Bei dem Zug der Epigonengegen Theben als Gefangener abgeführt, starb er unterwegs ander Quelle Tilphussa. Er weissagte auch noch in der Unterwelt.

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Teirich - Telaw.

Teirich, Valentin, Zeichner und Kunstschriftsteller, geb.23. Aug. 1844 zu Wien, besuchte unter Fr. Schmidt die Kunstakademiedaselbst und bildete sich darauf im Atelier van der Nülls undauf Reisen zu einem gediegenen Kenner der deutschen unditalienischen Renaissance. Er ward 1868 Dozent, späterProfessor an der Kunstgewerbeschule des ÖsterreichischenMuseums und zugleich Dozent am Polytechnikum. In dieser Stellungschuf er eine große Anzahl von trefflichen Entwürfenfür die Möbel-, Bronze- und Thonwarenindustrie,begründete 1872 die "Blätter für Kunstgewerbe", diespäter von Storck fortgeführt wurden, starb aber schon 8.Febr. 1877. Er schrieb: "Die moderne Richtung in der Bronze- undMöbelindustrie" (Wien 1868) und gab heraus: "Die Ornamente ausder Blütezeit der italienischen Renaissance" (das. 1871);"Marmorornamente des Mittelalters und der Renaissance in Italien"(das. 1874; "Kabinett, im Auftrag Sr. Majestät des KaisersFranz Joseph I. entworfen" (das. 1874). Nach seinem Tod erschienen."Bronzen der italienischen Renaissance" (1878).

Teisendorf, Flecken im bayr. Regierungsbezirk Oberbayern,Bezirksamt Laufen, an der Sur und dem Fuß der Alpen sowie ander Linie München-Rosenheim-Salzburg der BayrischenStaatsbahn, hat eine kath. Kirche, Öberförsterei,Bierbrauerei und 630 Einw. In der Nähe die SchloßruineRaschenberg und Spuren der Römerstraße von Augsburg nachSalzburg.

Teisserenc de Bort (spr. täß'rang d'bor),Pierre Edmond, franz. Staatsmann, geb. 1814 zu Chateauroux, wardauf der polytechnischen Schule gebildet, dann Ingenieur bei derVerwaltung des Tabaksmonopols, darauf Regierungskommissar beiverschiedenen Eisenbahngesellschaften, Mitgründer der BahnParis-Lyon-Mittelmeer, im Februar 1871 Mitglied derNationalversammlung, wo er sich den konservativen Republikanernanschloß, war vom April 1872 bis 24. Mai 1873 Minister deröffentlichen Arbeiten, wurde 1876 Mitglied des Senats und warvom März 1876 bis 16. Mai 1877 und 13. Dez. 1877 bis Februar1879 wieder Minister der öffentlichen Arbeiten. Er bekleidetedarauf bis 1880 den Botschafterposten in Wien.

Teiste (Stechente), s. Lumme.

Teja, Stadt in Marokko, s. Thesa.

Tejada, Staatsmann, s. Lerdo de Tejada.

Tejas, letzter König der Ostgoten, war Feldherr desTotilas, nach dessen Fall bei Tagina 552 er in Pavia zum Königerhoben wurde, sammelte in Oberitalien die Reste der Goten und zogdarauf nach Unteritalien seinem in Cumä von den Römernbelagerten Bruder Aligern zu Hilfe. Hier am Sarnus kämpfte ereinen 60tägigen Verzweiflungskampf gegen die Römer, indem er endlich nach heldenhaftem Widerstand mit demgrößten Teil seines Volkes fiel.

Tejo (spr. teschu), Fluß, s. Tajo.

Teju (Tejus Gray), Eidechsengattung aus der Ordnung derSaurier (Sauria) und der Familie der Schienenechsen (Ameivae),amerikanische Reptilien mit gestrecktem Körper, meist 2-3Querfalten an der Kehle, glatten, in quere Binden geordnetenRückenschuppen, glatten, vierseitigen, in der Fünfformstehenden Bauchschuppen, an der Basis einstülpbarer Zunge, mitzwei oder drei Einschnitten versehenen obern Schneidezähnenund in der Jugend dreispitzigen, im Alter höckerigenBackenzähnen. Der T. (Salompenter, T. teguixin Gray), bis 2 mlang, oberseits bräunlichschwarz mit weißgelben undweißen Flecken und Binden, unterseits rötlichgelb,schwarz gebändert, bewohnt Südamerika von Guayana bisParaguay, lebt hauptsächlich in der Nähe der Küste,in Plantagen, Gebüschen, Wäldern, gräbt sichErdhöhlen unter Baumwurzeln, nährt sich von Früchtenund allerlei kleinen Tieren und wird auf Hühnerhöfenschädlich durch das Rauben von Eiern und jungem Geflügel.Er ist sehr schüchtern und flüchtig, leistet aber imNotfall tapfere Gegenwehr und beißt äußerstscharf. Man jagt ihn eifrig auch des wohlschmeckenden Fleischeshalber und benutzt dies und besonders das Fett gegenSchlangenbiß.

Tejuco, Stadt, s. Diamantina.

Tekendorf (ungar. Teke), Stadt im ungar. KomitatKlausenburg (Siebenbürgen), mit 3 Kirchen, (1881) 2032ungarischen, rumänischen und deutschen Einwohnern,Bezirksgericht und Weinbau.

Tekiëh, ein mohammedan. Mönchskloster.

Tekke-Turkmenen (Tekinzen), ein Stamm der Turkmenen,nördlich vom Kopet Dagh bis zur Sandwüste Karakum undsüdöstlich bis Merw in einem mit zahlreichen Festungenbesetzten Gebiet wohnhaft; sie zerfallen in drei Stämme: dieAchal-T., die Tetschen-T. und die Merw-T. Die erstern wurden nachzweijährigem hartnäckigen Widerstand von den Russenunterworfen, indem General Skobelew 24. Jan. 1881 ihre HauptfestungGök-Tepe erstürmte. Durch Ukas vom 18. Mai 1881 wurde dasGebiet der Achaltekinzen mit dem transkaspischen Gebiet vereinigtund 31. Jan. 1884 auch Merw von den Russen in Besitz genommen.

Tekrit, kleine, früher bedeutendere, von Arabernbewohnte Stadt im türk. Wilajet Bagdad, am rechten User desTigris, etwa 160 km nordnordwestlich von Bagdad auf mehrerenHügeln, die zum Flusse steil abfallen, mit Ruinen einer altenFestung und angeblich 2000 Einw.

Tekrur, der einheimische Name für die Osthälftedes Sudân vom Niger bis Kordofan.

Tektonik (griech.), die Kunst, Räume herzustellen,in welchen man wohnt, die Baukunst im weitern Sinn; dann auch dieKunst, Geräte und Möbel unter Berücksichtigung desVerhältnisses der tragenden und getragenen Teile aus Holz undandern Materialien zu verfertigen (Möbeltischlerei,Zimmermannskunst, Gefäßbildnerei etc.).

Tektur (lat.), Decke, Umschlag einesAktenstücks.

Tekutsch (rumän. Tecuciu), Kreishauptstadt inRumänien (Moldau), am Berlad, Knotenpunkt der Eisenbahnen nachGalatz, Berlad und Marasesti (Linie Roman-Verciorova), Sitz derPräfektur und eines Tribunals, mit einem Gymnasium, Weinbau,Handel und 9081 Einw.

Tela (lat.), Gewebe, z. B. T. cartilaginea,Knorpelgewebe.

Telabun, s. Eleusine.

Telamon, griech. Heros, Sohn des Äakos und derEndeis, Bruder des Peleus, flüchtete wegen des an seinemHalbbruder Phokos verübten Mordes nach Salamis zum Kychreus,der ihn zum Schwiegersohn erkor und ihm bei seinem Tode dieHerrschaft hinterließ. Seine spätere Gattin Periböagebar ihm den Aias. T. begleitete Herakles nach Troja, wo er dieTochter des Luomedon, Hesione, zum Geschenk erhielt, die ihm denTeukros gebar, und nahm auch teil an der kalydonischen Jagd und derArgonautenfahrt.

Telamonen (griech.), in der Architektur, s.Karyatiden.

Telaw, Kreisstadt im russisch-kaukas. GouvernementTiflis, Hauptort der Landschaft Kachetien, in obst- und weinreicherGegend, mit Palästen und den Ruinen alter Befestigungen, einemBazar, lebhaftem Handel mit Wein und (1879) 7022 Einw.

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Telchinen - Telegraph.

Telchinen, in der griech. Mythologie ein aus dem Meerentsprossenes Urgeschlecht auf der Insel Rhodos. Sie galtenfür die ältestem Metallarbeiter und Verfertiger vonGötterbildern und mythischen Waffen und Geräten,namentlich der Sichel des Kronos und des Dreizacks des Poseidon(welch letzterer ihnen von Rhea zur Erziehung anvertraut seinsollte, wie Zeus den rhodischen Kureten), aber auch fürneidische Zauberer und Göttern wie Menschen feindlicheDämonen. Sie wurden daher von Apollon getötet, nachandrer Sage von Zeus durch eine Überschwemmung der Inselvernichtet; nach noch andrer Tradition wanderten sie von Rhodos ausund zerstreuten sich nach Lykien, Cypern, Kreta undGriechenland.

Teleangiëktasie (griech.), s. Feuermal.

Telega, russ. Fuhrwerk, s. Kibitka.

Telegonos, im griech. Mythus Sohn des Odysseus und derKirke, zog auf Geheiß seiner Mutter aus, den Vater zu suchen,und ward durch einen Sturm nach Ithaka verschlagen. Als er hier,von Hunger getrieben, auf den Feldern des Odysseus raubte unddieser ihm entgegentrat, tötete er seinen Vater, ohne ihn zukennen. Auf Geheiß der Athene ging er darauf mit Telemachosund Penelope zur Kirke zurück und vermählte sich dort mitPenelope, die ihm den Italos gebar. Er soll Präneste undTusculum gegründet haben.

Telegramm (griech.), aus Amerika (1852) stammendeBezeichnung einer telegraphischen Nachricht (sprachlich richtigerTelegraphem, wie im heutigen Griechenland üblich). Manunterscheidet: 1) T. in offener Sprache mit allgemeinverständlichem Inhalt in einer gebräuchlichen Sprache; 2)T. in verabredeter Sprache in Wörtern, die nur für denEingeweihten einen Sinn geben. Die Wörter werden für dieinternationale Korrespondenz zugelassenen Wörterbüchernentnommen und bezeichnen oft ganze Sätze, so daß das T.sehr kurz und billig wird; 3) T. in chiffrierter Sprache, d. h. ausZiffern oder Buchstaben bestehend, zu deren Deutung einSchlüssel nötig ist (s. Chifferschrift). DieGebühren werden nach einem Einheitssatz für das Wortberechnet. Größte Länge eines Wortes für T. 1)im europäischen Verkehr 15, im außereuropäischenVerkehr 10 Buchstaben, für T. 2) höchstens 10 Buchstaben.Bei T. 3) sind je 5 Ziffern oder Buchstaben = ein Wort. Worttaxe(1889) im innern Verkehr Deutschlands 6, für Stadttelegramme 3Pfennig und im Verkehr mit Algerien-Tunis 27, Belgien 10,Bosnien-Herzegowina 20, Bulgarien 25, Dänemark 10, Frankreich15, Gibraltar 25, Griechenland mit Euböa und Poros 40,griechische Inseln 45, Großbritannien 20 (Grundtaxe 40),Helgoland 15, Italien 20, Luxemburg 6, Malta 40, Marokko 40,Montenegro 20, Niederlande 10, Norwegen 20, Österreich-Ungarn10, Portugal 25, Rumänien 20, Rußland (europäischesund kaukasisches) 25, Schweden 20, Schweiz 10, Serbien 20, Spanien25, Tripolis 105, Türkei 45 Pfennig. Dringende Telegramme(dringend, urgent, D.) werden gegen dreifache Gebühr vorandern befördert. Bezahlte Antwort (Antwort bezahlt, reponsepayee, R. P.) wird für zehn Worte berechnet, man kann aberauch für mehr Worte und für dringende Antwort (R. P. D.)bezahlen. Verglichene Telegramme (Vergleichung, collation, T. C.)werden von der Ankunftsstelle zurücktelegraphiert, Gebührfür Vergleichung ein Viertel der Gebühr für das T.Empfangsanzeige (Empfangsanzeige bezahlt, accuser réceptionC. R.), Gebühr gleich T. von zehn Worten. Nachzusendendes T.(nachzusenden, faire suivre, F. S.) wird innerhalb Europas demEmpfänger nachgesandt und die Gebühr von letztermerhoben. Zu vervielfältigendes T. an mehrere Empfänger indemselben oder an mehrere Wohnungen desselben Empfängers indemselben Ort. Gebühr für jede Abschrift 40 Pf. Offen zubestellendes T. (remettre ouvert, R. O.) wird unverschlossenübergeben. P. P. = poste payée, Post bezahlt; X. P. =exprés payé, Eilbote bezahlt. Seetelegramm(sémaphorique) für Schiffe in See mußEmpfänger, Namen des Schiffs und der zu benutzendenSeetelegraphenanstalt enthalten. Berichtigungs- oderErgänzungstelegramm: 72 Stunden nach Empfang, resp. Absenduugeines Telegramms kann man Richtigstellung zweifelhaft erscheinenderWörter fordern, hat die Gebühr für dieerforderlichen Telegramme zu hinterlegen, erhält dieselbe aberzurück, wenn Entstellung durch Schuld des Telegraphendienstessich ergibt. Die für diese besondern Telegramme angegebenenBezeichnungen sind vor das T. zu setzen, sie sind gleich dem Inhaltdes Telegramms gebührenpflichtig, die Abkürzungenzählen aber nur als ein Wort.

Telegraph (griech., "Fernschreiber", hierzu Tafeln"Telegraph I u. II"), jede Vorrichtung, welche den Austausch vonNachrichten zwischen entfernten Orten ohne Zuhilfenahme einesTransportmittels ermöglicht. Licht, Schall undElektrizität sind die Mittel, deren man sich zur Erreichungdieses Zwecks bedienen kann; doch finden die optischen undakustischen Telegraphen nur noch zu Signalen, im Eisenbahnbetrieb,bei der Schiffahrt und im Kriegswesen Verwendung. OptischeTelegraphen sind schon im Altertum angewandt worden; nachÄschylos erfuhr Klytämnestra die Eroberung von Trojadurch Feuerzeichen auf den Bergen noch in derselben Nacht, obwohleine Strecke von 70 Meilen dazwischenlag. Ähnliche Alarmfeuerwaren bei den Feldzügen Hannibals, insbesondere bei denSchotten, aber auch bei den germanischen und andernVölkerschaften gewöhnliche Mittel der Telegraphie,worüber sich unter andern bei Polybios, I. Africanus undsonstigen Schriftstellern Nachrichten finden. Kleoxenos undDemokleitos (450 v. Chr.) sollen die Buchstaben des griechischenAlphabets auf fünf Tafeln verteilt und dann durch Erheben vonFackeln nach links oder rechts zuerst die Tafel, auf welcher der zutelegraphierende Buchstabe stand, darauf die Nummer des letzternselbst bezeichnet haben. Polybios (196) ließ dieseFeuerzeichen durch Röhren beobachten, welche in gewissenStellungen fixiert waren. Weitere Ausbildung erhielt der optischeT. erst 1793 durch die Gebrüder Chappe, welche drei Balken aneinem weithin sichtbaren Ort so an einem Gestell befestigten,daß sie in vielfachen Kombinationen eine große Zahlbestimmter Zeichen geben konnten. Zwischen Paris und Lilletelegraphierte man mit diesem Apparat, unter Benutzung von 20Stationen, in 2 Minuten, und seitdem verbreitete sich derselbe sehrschnell. In neuerer Zeit benutzt man nach dem Vorgang derAmerikaner während des Bürgerkriegs auch bei deroptischen Telegraphie die Zeichen des Morsealphabets und stellt siedurch kurze und lange Lichtblitze, Stellung beweglicher Arme,Tafeln an Stangen oder Flaggen dar. Die Engländer haben imKapland und Afghanistan den Heliographen (s. d.) angewendet.Mackenzie hat mit dem Heliographen den Taster des Morse-Apparatsverbunden und fixierte auf der Empfangsstation die Lichtblitzephotographisch. Spankowski hat die Lichtblitze durch Verbrennungzerstäubten Petroleums in einer Spiritusflamme, und auf

Telegraph I.

Fig. 3. Schaltung für Kabelstation.

Fig. 13. Korrektionsrad.

Fig. 5. Schriftprobe des Heberschreibapparats.

Fig. 18. Isolier-Doppelglocke.

Fig. 17. Gegensprechschaltung von Canter.

Fig. 16. Gegensprechschaltung von Fuchs.

Fig. 4. Thomsons Heberschreibapparat.

Fig. 19. Querschnitte der Kabel

Zum Artikel »Telegraph«.

Telegraph.

Fig. 1. Casellis Pantelegraph.

Fig. 12. Druckvorrichtung des Hughes-Apparats.

Fig. 10. Hughes-Apparat.

Telegraph II.

Fig. 11. Elektromagnetsystem und Verkuppelung desHughes-Apparats.

Fig. 7 Morse-Taste.

Fig. 6. Normalfarbschreiber.

Fig. 2. Thomsons Spiegelgalvanometer.

Fig. 9. Plattenblitzableiter.

Fig. 8. Galvanoskop.

Fig. 14. Stiftbüchse des Hughes-Apparats.

Fig. 15. Schlitten des Hughes-Apparats mit seitlichemKontakt.

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Telegraph (elektrische Telegraphie).

kurze Entfernungen hat man sie durch Öffnen undSchließen einer hellleuchtenden Lampe hervorgebracht. InDeutschland, Rußland u. a. O. hat man in gefesseltenLuftballons durch elektrisches Licht ähnliche Zeichen gegeben.Bruce benutzte einen aus dünnem Stoff gefertigten Luftballonvon 4-5 m Durchmesser, in welchem eine oder mehrere Glühlampenaufgehängt sind, deren Erglühen durch eine Leitung imHaltetau hervorgerufen wird; der Luftballon erscheint dann alsglühende Kugel. Die Franzosen haben zwischen Mauritius undRéunion auf 180 km Entfernung einen optischen Telegrapheneingerichtet, bei dem die Lichtblitze einer Petroleumflamme durchPrismen verstärkt werden. Zur Zeichengebung durch beweglicheArme bedient man sich im Festungskrieg, auch auf denSchießplätzen der Artillerie, der vierarmigenSemaphoren. In gleicher Weise erfolgt die Zeichengebung durch zweinebeneinander stehende Leute, die in jeder Hand eine Tafel mitkurzem Stiel halten; die senkrechte Stellung derselben bedeutetPunkte, die wagerechte die Striche des Alphabets. Nachts treten anStelle der Tafeln farbige Laternen; je nach Vereinbarung bedeutetdie eine Farbe Punkte, die andre Striche. Diese Art desTelegraphierens bildet den Übergang zum Signalisieren (s.Signale), wobei gewisse Zeichen oder Armstellungen gewisseBedeutung erhalten, die durch ein Signalbuch festgestellt sind.

Die elektrische Telegraphie

beruht auf der schnellen Fortpflanzung der Elektrizität inmetallischen Leitern. Die Versuche, die Reibungselektrizitätzum Telegraphieren zu benutzen, führten zu keinem praktischenErgebnis; nachdem aber in der galvanischen oderBerührungselektrizität eine viel geeignetere Kraftformentdeckt war, benutzte Sömmerring 1809 die durch die VoltascheSäule bewirkte Wasserzersetzung zum Telegraphieren, indem er35 Drähte zu ebenso vielen mit Buchstaben und Ziffernbezeichneten Wassergefäßen der entfernten Stationleitete. Die hohen Kosten einer solchen Leitung sowie dieSchwierigkeit, einen Strom von erforderlicher Stärke aufgrößere Entfernungen zu entsenden, ließen auchdiese Idee als im großen unausführbar erscheinen. Inspäterer Zeit hat man die chemische Wirkung des elektrischenStroms zur Herstellung von Schreib- und Kopiertelegraphen zuverwenden gesucht, indem man Papierstreifen mit einer farblosenFlüssigkeit tränkte, welche durch den Strom ingefärbte Bestandteile zerlegt ward, z. B. mit einerLösung von Jodkalium oder Blutlaugensalz. DerartigeTelegraphen sind angegeben worden von Davy (1838), Bain (1847),Gintl und Stöhrer (1852), haben aber keine Verbreitunggefunden.

Der Pantelegraph von Caselli (Fig. 1, Tafel I) war 1865 zwischenParis und Lyon im Gebrauch. Ein innerhalb eines eisernen Rahmensbei D befestigtes langes Pendel mit der Eisenlinse E schwingt unterMitwirkung eines Chronometers F und der Batterie B zwischen denElektromagneten M M1 und überträgt durch die Zugstange deseine Bewegung auf die an dem Schlitten f befestigtenSchreibstifte. Letztere bewegen sich demnach hin und her überden auf den gekrümmten Blechpulten A A1 aufliegenden, chemischzubereiteten Papierblättern und rücken zugleich bei jederSchwingung um eine Linienbreite auf ihrer Achse vor. Der eine Stiftarbeitet nur auf dem Hingang, der andre auf dem Rückgang; eskönnen mithin zwei Telegramme zugleich abgegeben werden. DieEpoche der elektromagnetischen Telegraphie begann 1820 mitÖrsteds Entdeckung, daß eine in der Nähe desSchließungsdrahts einer Voltaschen Säule aufgestellteMagnetnadel je nach der Richtung des Stroms nach der einen oder derandern Seite hin abgelenkt wird. Da hierzu, wenn die Nadel vonzahlreichen Drahtwindungen (Multiplikator) umgeben ist, einschwacher Strom ausreicht, so war die Möglichkeit, aufgroße Entfernungen zu telegraphieren, gegeben. Jedoch wederdas Telegraphenmodell von Ampère und Ritchie (1820) mit 30Nadeln und 60 Leitungsdrähten noch dasjenige von Fechner(1829) mit 24 Nadeln und 48 Drähten eignete sich zurAusführung im großen. Erst 1832 versuchte Schilling vonCanstadt, Eine Nadel mit nur zwei Leitungsdrähten anzuwendenund die verschiedenen Buchstaben durch Kombination mehrererAblenkungen nach rechts und links auszudrücken. Aber schon1833 hatten Gauß und Weber zu Göttingen zwischen derSternwarte und dem physikalischen Kabinett eine auf derselben vonihnen selbständig gefundenen Idee beruhende telegraphischeVerbindung hergestellt. Von ihnen angeregt, legte Steinheil 1837zwischen München und Bogenhausen eine ¾ Meile langeTelegraphenleitung an; er wandte, wie Gauß und Weber, stattder gewöhnlichen galvanischen Ströme dieMagnetinduktionsströme an und fixierte die Zeichen in Formeiner Schrift, indem seine zwei Magnetnadeln, wenn sie abgelenktwurden, auf einen durch ein Uhrwerk vorübergeführtenPapierstreifen Punkte zeichneten. In England wurde derNadeltelegraph durch Cooke und Wheatstone eingeführt; erstererhatte 1836 in Heidelberg ein Modell des Schillingschen Apparatsgesehen und verband sich 1837 mit Wheatstone zur Verbesserung undpraktischen Verwertung der Schillingschen Erfindung.

Der Nadeltelegraph von Wheatstone und Cooke, welcher aufenglischen Eisenbahnlinien noch gegenwärtig vereinzelt inGebrauch ist, enthält zwei auf gemeinschaftlicher horizontalerAchse befestigte, im Ruhestand vertikal stehende Magnetnadeln,deren eine sich innerhalb einer Multiplikatorrolle, die andre alsZeiger auf der Vorderseite des Apparatgehäuses befindet; siebilden ein sogen. astatisches Nadelsystem, indem ihre gleichnamigenPole nach entgegengesetzten Seiten gekehrt sind. Zum Zeichengebendient der im untern Teil des Apparats angebrachte sogen.Schlüssel, durch dessen Drehung die Nadeln sämtlicher indie Leitung eingeschalteter Apparate so abgelenkt werden, daßsie mit der Stellung, die man dem Handgriff jeweilig gegeben hat,parallel stehen. Durch Kombinationen von Ablenkungen nach rechtsund links werden die Buchstaben ausgedrückt. DerDoppelnadeltelegraph derselben beiden Erfinder, eineZusammensetzung zweier Nadelapparate der eben beschriebenen Art,erfordert eine doppelte Drahtleitung, gestattet aber eine raschereKorrespondenz. Die Nadeltelegraphen haben den Vorteil, daß zuihrem Betrieb schon sehr schwache Ströme ausreichen; sieeignen sich deshalb vorzugsweise zur Verwendung auf Kabellinien, wosie in der Form empfindlicher Galvanometer auch heute noch benutztwerden.

Das Spiegelgalvanometer von Thomson (Fig. 2 auf Tafel II),welches auf den meisten längern Unterseekabeln alsEmpfänger dient, besteht aus einer Multiplikatorrolle mitvielen Umwindungen, innerhalb deren eine ungemein leichte, kleineMagnetnadel an einem Kokonfaden freischwebend aufgehängt ist.An der Magnetnadel ist ein kleiner Spiegel befestigt, welcher dasin der Richtung von D einfallende Bild einer dem Instrumentgegenübergestellten Lichtquelle C (gewöhnlich einerPetroleumflamme) nach E auf einen dunkel gehaltenen Schirm ABreflektiert. Die

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Telegraph (Wheatstones Zeigertelegraph, MorsesSchreibapparat).

Schraube s dient dazu, das Lichtbild im Ruhezustand auf denNullpunkt einzustellen, der gekrümmte Magnet NS, denEinfluß des Erdmagnetismus zu neutralisieren, indem mandenselben längs des Stäbchens t verschiebt. Jeder noch soschwache Strom, welcher die Umwindungen des Galvanometersdurchläuft, lenkt die Nadel ab; mit dieser dreht sich auch derSpiegel, und das Lichtbild auf der Wand bewegt sich dementsprechend von seinem Ruhepunkt nach rechts oder links. Ein bei xeintretender und bei y zur Erde geführter positiver Strombewegt die Nadel und den Lichtschein nach der einen, ein negativernach der andern Seite; durch passende Gruppierung der Ablenkungenwird das Alphabet gebildet. Das Abtelegraphieren erfolgt mit einerDoppeltaste, welche nach Belieben positive oder negativeStröme in die Leitung zu schicken gestattet. Fig. 3 (Tafel I)zeigt die gebräuchlichste Schaltung für zwei durch einUnterseekabel K verbundene Stationen A und B. T1 T2 sind dieDoppeltasten, G1G2 die Spiegelinstrumente, B1B2 die Batterien; C1C2stellen Kondensatoren von beträchtlichem Ladungsvermögendar, die behufs Unschädlichmachung der Erdströme zwischenKabel und Apparaten eingeschaltet werden; U1U2 endlich sindKurbelumschalter, welche beim Geben die Doppeltaste, beim Empfangendas Galvanometer mit dem Kondensator in Verbindung bringen. DieDoppeltaste besteht aus zwei Hebeln mit Knöpfen, welche imRuhezustand gegen eine obere Querschiene federn, beim Tastendruckaber diese verlassen und mit der untern Querschiene in leitendeVerbindung treten. Da zwischen beiden Querschienen die Batterieeingeschaltet ist, während der eine Tastenhebel mit der ErdeE, der andre mit der Leitung in Verbindung steht, so wird beimNiederdrücken der einen oder der andern Taste entweder ein +oder ein - Strom in die Leitung fließen.

An die Stelle des Spiegelgalvanometers ist jetzt vielfach derHeberschreibapparat (Syphon recorder) von Thomson (Fig. 4, Tafel I)getreten. Eine Multiplikatorolle S aus feinem Drahte, die um einenRahmen gewickelt ist, hängt freischwebend und leichtbeweglichzwischen den Polen eines kräftigen Elektromagnets MM; sieverhält sich genau wie die Nadel des Spiegelinstruments. Derankommende Strom durchläuft die Spule und lenkt sie nachrechts oder links ab; diese nimmt dabei einen feinen Glasheber tmit, der durch Kokonfäden mit ihr verbunden ist, und dessenSpitze einem bewegten Papierstreifen unmittelbargegenübersteht, ohne ihn jedoch zu berühren. DerGlasheber taucht mit feinem kürzern Ende in einTintenfaß aus Metall K, welchem durch eine eigenartigkonstruierte, im Apparat selbst angebrachte Elektrisiermaschine Bstets eine elektrische Ladung erteilt wird, die genügt, um ausder Heberöffnung nach dem Papierstreifen hin beständigkleine Tintentröpfchen abzuspritzen. In der Ruhelage desMultiplikators steht die Heberöffnung über der Mitte desStreifens; die übergeriffenen Tintentröpfchen zeichnenmithin eine punktierte gerade Linie mitten auf den Streifen. Lenktein ankommender Stromimpuls die Multiplikatorrolle und mit ihr denHeber ab, so verwandelt sich die Gerade in eine Schlangenlinie, undzwar weicht die Punktreihe je nach der Stromrichtung oberhalb undunterhalb ab (Fig. 5, Tafel I).

Die wichtigste Förderung hat die Telegraphie erfahren durchdie Anwendung von Elektromagneten. Wheatstone bediente sichderselben zuerst zur Herstellung eines Läutwerkes, welchesseinem Nadeltelegraphen als Alarmvorrichtung beigegeben war, baldaber auch zur Konstruktion seines Zeigertelegraphen (1839), beiwelchem ein durch ein Uhrwerk getriebener Zeiger durch eine amAnker eines Elektromagnets angebrachte Hemmungsvorrichtung von derentfernten Abgangsstation aus nach Belieben vor jedem der am Randedes Zifferblattes verzeichneten Buchstaben angehalten werden kann.Auch Kramer, Siemens u. Halske, Froment, Breguet u. a. habenZeigertelegraphen konstruiert, die indessen nur selten noch benutztwerden.

Die größte Verbreitung erlangte der 1836 von Morseerfundene Schreibapparat. Derselbe besteht aus einem Elektromagnetmit beweglichem Anker, dessen Hebel auf einem durch Uhrwerkvorübergeführten Papierstreifen Punkte und Stricheerzeugt. In den Reliefschreibern geschah dies durch einen an demfreien Ende des Ankerhebels befestigten stählernen Stift,welcher, sobald der Anker von dem Elektromagnet angezogen wurde,sich gegen den zwischen zwei Walzen des Laufwerkes durchgezogenenPapierstreifen anlegte und in demselben kürzere oderlängere Eindrücke hinterließ, je nachdem die zumSchließen der Batterie dienende Taste nur einen Augenblickoder längere Zeit niedergedrückt wurde. In neuerer Zeitfinden die Morseapparate vorzugsweise als Farbschreiber Verwendung,in welchen die Hebelbewegung des Ankers benutzt wird, um denPapierstreifen gegen ein Farbrädchen oder umgekehrt einFarbrädchen gegenden Papierstreifen anzudrücken. DerSiemenssche Normalfarbschreiber der deutschenReichstelegraphenanstalten mit Morsebetrieb ist in Fig. 6 auf TafelII abgebildet. E ist der hufeisenförmige Elektromagnet, dessenKerne mit Polschuhen U versehen sind. Den Polen gegenüberbefindet sich der hohle, oben aufgeschlitzte Eisenanker K, derdurch eine Preßschraube in dem Messinghebel H1 befestigt ist;letzterer hat seine Achse im Innern des Apparatgehäuses W. DieAuf- und Abwärtsbewegung des Ankerhebels wird begrenzt durchdie Kontaktschrauben C1C2 des Messingständers T. In dem Rohr Bbefindet sich eine regulierbare Abreißfeder, währenddurch Drehung der Mutter M1 das ganze Elektromagnetsystem gehobenoder gesenkt werden kann. Der federnde Ansatz F2 des Ankerhebelsläßt sich durch die Stahlschraube s höher odertiefer stellen; er trägt den Stift t1 und die Achse q1, umwelche sich ein zweiarmiger Hebel H4 gelenkartig bewegenläßt. Unterhalb H4 befindet sich ein in die vordereApparatwange eingeschraubter Stahlstift t2, auf welchen derlängere Arm von H4 sich auflegt, wenn die Schraube s angezogenwird; der kürzere Arm verläßt dann den Stift t1,und die beiden Teile F2H4 bilden einen Knickhebel, so daß H4sich hebt, wenn F2 sich senkt, und umgekehrt. Wird dagegen dieSchraube s nachgelassen, so legt sich der kürzere Arm von H4gegen t1, und die Bewegungen von F2 und H4 erfolgen im gleichenSinn. Im letztern Fall ist der Apparat für Arbeitsstromverwendbar, wobei die telegraphischen Zeichen durch das Entsendeneines Batteriestroms in die vorher stromfreie Leitung gebildetwerden, während die erstere Stellung der Schraube s demArbeiten mit Ruhestrom entspricht, bei welchem die Zeichen durchUnterbrechungen der für gewöhnlich vom Stromdurchflossenen Leitung entstehen. Der Hebel H4 trägt in seinemhakenförmig gestalteten Ende die Achse des vom Laufwerk indrehender Bewegung erhaltenen Farbrädchens O3, welches mitseinem untern Rand in die Öffnung des Farbgefäßes Ftaucht. Durch die Führungswalzen O1O2 wird der Papierstreifenüber r3x1 t oberhalb des Farbrädchensvorübergeführt,

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Telegraph (Relais, Morse- und Estienneschrift).

um über die Platte P nach links abzulaufen. T1 ist dieFedertrommel des Laufwerkes mit der Handhabe G zum Aufziehen unddem Kontrollstern C zur Begrenzung der Federspannung.

Zum Schließen und Öffnen des Stroms dient die in Fig.7 auf Tafel II abgebildete Taste, ein um die Achse q in demStänder L drehbarer Messinghebel B mit zwei Kontakten R und T,von denen R im Zustand der Ruhe durch die Wirkung der Spiralfeder Fgegen die Schiene s3 gepreßt wird, während beim Druckenauf den Knopf O die leitende Verbindung zwischen R und s3aufgehoben, dagegen zwischen T und s1 hergestellt wird. Ob Stromvorhanden ist, erkennt man an dem Galvanoskop (Fig. 8, Tafel II),dessen Zeiger n an einem zwischen Drahtumwindungen in senkrechterEbene drehbar aufgehängten Winkelmagnet befestigt ist und jenach der Richtung des Stroms nach rechts oder linksausschlägt. Als Schutzmittel gegen Beschädigungen derApparate durch den Blitz (s. Blitzableiter) dient derPlattenblitzableiter (Fig. 9, Tafel II). Die mit den Leitungen undden Apparaten verbundenen Messingplatten P1P2 haben Querreifeln undsind innerhalb des Rahmens R mit dem abnehmbaren, auf derUnterseite mit Längsreifeln versehenen Deckel d so angeordnet,daß sie für gewöhnlich sowohl untereinander als vonRahmen und Deckel isoliert bleiben, aber im Bedarfsfall mittels desStöpsels s gegenseitig und mit dem Deckel leitend verbundenwerden können. Letzterer steht über den Rahmen und dieKlemmschraube k mit der Erde in Verbindung; etwanige aus derLeitung kommende Blitzschläge vermögende geringeEntfernung zwischen Leitungs- und Deckplatte leicht zuüberspringen und werden von dort unschädlich zur Erdeabgeleitet.

Die Verbindung der beschriebenen Apparate untereinander und mitder Batterie ergibt sich aus den Stromläufen (Textfig. Ifür Arbeitsstrom und Textfigur II für Ruhestrom), inwelchen T die Taste, A den Schreibapparat, G das Galvanoskop, B denBlitzableiter, L B die Linienbatterie, E den zur Erde und L den zurLeitung führenden Draht bezeichnen.

Wo die Stärke des ankommenden Stroms zur Ingangsetzung derSchreibapparate nicht ausreicht, schaltet man in die Leitung einRelais. Dasselbe besteht aus einem Elektromagnet mit leichtbeweglichem Ankerhebel, welcher durch die anziehende Kraft desStroms an eine Kontaktschraube gelegt wird und dadurch eineOrtsbatterie schließt, deren Strom dann den Schreibapparat inBewegung setzt. Relais mit besonders lautem Anschlag dienen unterdem Namen Klopfer auch zum Aufnehmen von Telegrammen nach demGehör. In den sehr empfindlichen polarisierten Relais sind dieEisenkerne der Elektromagnetrollen auf Stahlmagneten befestigt unddadurch dauernd magnetisiert.

Das durch internationale Vereinbarungen festgesetzteMorsealphabet besteht aus Punkten und Strichen in nachstehenderGruppierung: [siehe Grafik]

Die wagerechten Elementarzeichen erscheinen auf demPapierstreifen sehr gestreckt, was die Leichtigkeit des Ablesensbeeinträchtigt; auch nimmt die Darstellung der Striche durchlängern Tastendruck eine größere Zeit in Anspruchund vermindert die Leistungsfähigkeit der Apparate. DerApparat von Estienne, welcher in neuerer Zeit von der deutschenReichstelegraphenverwaltung vielfach verwendet wird, stellt dieStriche und Halbstriche senkrecht zur Längsrichtung desPapierstreifens und benutzt zur Erzeugung derselben je einen Stromvon gleicher Dauer, aber entgegengesetzter Richtung. Annachstehendem Wort (Berlin) in Morse- und in Estienneschrift kannder Unterschied erkannt werden: [siehe Grafik]

Der Estienne-Apparat besitzt an Stelle des Schreibrädchenszwei Schreibfedern, welche die Farbe durch Kapillarwirkung aus demFarbebehälter entnehmen

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Telegraph (Wheatstones automatischer Apparat, Hughes'Typendrucktelegraph).

und auf den Streifen übertragen. Sie werden durch diebeiden Zinken eines gabelförmigen Hebels in Bewegung gesetzt,der sich unter dem Einfluß der Stromwirkungen nach rechtsoder links anlegt. Die Schreibfläche der einen Feder istdoppelt so breit als diejenige der andern; erstere dient zurDarstellung der Striche, letztere zur Erzeugung der Punkte. DieGabelwelle trägt auf der Rückseite des Apparats eineZunge aus weichem Eisen, deren oberes Ende zwischen die Polschuheeines Elektromagnets ragt, während das untere Ende durch denbeweglichen Polschuh eines unterhalb des Apparatgehäusesgelagerten Stahlmagnets eine magnetische Polarisation erhält,so daß Ströme verschiedener Richtung die Zunge inentgegengesetztem Sinn ablenken. Zum Betrieb des Apparats dienenWechselströme, deren Entsendung mittels einer Doppeltasteerfolgt.

Eine ausgiebigere Benutzung der Telegraphenleitungen wird auchdurch die automatische Telegraphie erreicht. Sieüberträgt die Abtelegraphierung der Zeichen einermechanischen Vorrichtung, die bei vollkommnerRegelmäßigkeit der Schrift eine beträchtlichgrößere Geschwindigkeit zu erreichen gestattet, als diesder menschlichen Hand möglich ist. Wheatstone, dessenautomatischer Apparat in England mit großem Erfolg verwendetwird, benutzt zum Geben einen gelochten Papierstreifen und zumEmpfangen einen schnell laufenden polarisierten Farbschreiben. DasLochen des Streifens geschieht unabhängig von der eigentlichenAbtelegraphierung an besondern Stanzapparater. Der vorbereiteteStreifen durchläuft sodann den Geber, dessen Thätigkeiter mittels zweier vertikal stehender Nadeln reguliert, die aufKontakthebel wirken und jedesmal in Thätigkeit treten, sobaldein ausgestanztes Loch dem Nadelende den Durchgang gestattet. DerApparat arbeitet mit Wechselströmen, wobei jedemElementarzeichen zwei entgegengesetzt gerichtete Ströme vongleicher Dauer entsprechen, von denen der eine den Schreibhebel desEmpfängers wider den Papierstreifen legt, der andre dieZurückführung bewirkt. Außer Wheatstone haben nochBain, Siemens, Little u. a. automatische Telegraphenkonstruiert.

Nächst dem Morse-Apparat findet im Betrieb dereuropäischen Telegraphenverwaltungen der Typendrucktelegraphvon Hughes (Fig. 10, Tafel I) die ausgedehnteste Verwendung. SeinMechanismus ist weniger einfach, aber seine Leistungsfähigkeitbedeutend größer als diejenige des Morse-Apparats, vorwelchem er außerdem den Vorzug besitzt, daß dieTelegramme in gewöhnlicher Druckschrift ankommen, mithinfür jedermann ohne Übersetzung lesbar sind. An derVorderseite des Tisches befindet sich die Klaviatur, bestehend aus28 Tasten, welche mit den Buchstaben, Ziffern undInterpunktionszeichen beschrieben sind und beim Niederdrückendie Verbindung zwischen Batterie und Leitung herstellen; dahinter,zwischen den aufrecht stehenden Apparatwangen, ist das mit einemGewicht von 60kg bewegte Laufwerk, verbunden mit einerBremsvorrichtung und der in einem gußeisernenAnsatzstück des Apparattisches gelagerten Regulierlamelle,angeordnet; links neben dem Laufwerk das Elektromagnetsystem, undan der Vorderwand des Apparats sieht man die Druckvorrichtung mitdem Typenrad, wozu noch die auf der rechten Seite befestigtePapierrolle gehört. Die Vorrichtung auf der linken hinternEcke der Tischplatte ist ein Umschalter, welcher die Richtung desTelegraphierstroms beliebig zu wechseln gestattet. Vgl. Sack, DerDrucktelegraph Hughes (2. Aufl., Wien 1884).

Das Elektromagnetsystem des Hughes-Apparats (Fig. 11 der TafelII) besteht aus einem kräftigen Stahlmagnet in Hufeisenform,auf dessen Pole zwei von Elektromagnetrollen E umgebene hohle Kernevon weichem Eisen so aufgesetzt sind, daß dieselben dieVerlängerung der Pole bilden und an ihren obern, mitPolschuhen versehenen Enden selber entgegengesetzte Magnetpolebesitzen. Den Polschuhen gegenüber und im Ruhezustand aufdiesen aufliegend, befindet sich der flache Eisenanker E1E2,welcher zwischen zwei Messingständern T um die Zapfenschraubens leicht drehbar eingelagert und mit zwei nach unten reichendenStahlfedern ee versehen ist, die sich gegen die Stellschrauben b1b2 anlegen. Unter Mitwirkung dieser Federn erfolgt das Abschnellendes Ankers, sobald ein Strom von solcher Richtung den Elektromagnetdurchfließt, daß dessen Polarität dadurchgeschwächt wird. Der Anker stößt bei seinemAbfallen gegen den Hebel einer Sperrvorrichtung, löst dieseaus und bewirkt dadurch die Verkuppelung der Druckvorrichtung mitdem Laufwerk und den Abdruck desjenigen Zeichens, welches sich indiesem Moment an der untersten Stelle des Typenrades befindet. Weilnun die anziehende Kraft des Magnets nicht ausreicht, um denabgeschnellten Anker unter Überwindung der durch dieSpannfedern ausgeübten Gegenkraft wieder auf die Polschuhezurückzuführen, so überträgt Hughes dieseArbeit der Mechanik des Apparats, indem er durch ein auf derDruckachse befestigtes Exzenter F1 den rechtsseitigen Arm desAuslösehebels G wieder emporheben und dadurch den Anker aufdie Polschuhe niederdrücken läßt, die ihn dann biszum nächsten Stromimpuls festhalten. Gleichzeitig wirdwährend dieses Vorganges die Kuppelung selbstthätigwieder aufgehoben, die Druckachse bleibt stillstehen, und derAuslösehebel nimmt, nachdem er den Ankerzurückgeführt hat, seine alte Stellung wieder ein.

Die Druckachse bildet die vordere Verlängerung derSchwungradwelle. Letztere trägt auf ihrem freien Ende ein mitfeinen, schief geschnittenen Zähnen versehenes Sperrrad z undeinen Zapfen, auf welchen die Druckachse mit ihrem hintern,entsprechend ausgehöhlten Ende aufgeschoben ist. Auf demhintern Ende der Druckachse ist das zweiarmige Querstück FFbefestigt, welches einerseits die drehbare Sperrklinke n,anderseits die gegen die Sperrklinke drückende Feder fträgt. Ein Ansatzstück F2 legt sich im Ruhestand gegenden Anschlag G2 des Auslösehebels G, während ein an derSperrklinke angebrachter kegelförmiger Ansatz auf einem an demWinkel p befestigten prismatischen Stahlstück m, der sogen.schiefen Ebene, ruht. Senkt sich der rechte Arm desAuslösehebels G, so gleitet der kegelförmige Ansatz derSperrklinke von der schiefen Ebene herunter, die Sperrklinkegelangt dadurch zum Eingriff in die Zähne des Sperrrades, unddie Verkuppelung der Druckachse mit der an der Bewegung desLaufwerkes beständig teilnehmenden Schwungradachse tritt ein.Nach Vollendung einer Umdrehung trifft indessen der Sperrkegel vonrechts her wieder auf den prismatischen Ansatz m, steigt andemselben in die Höhe u. hebt dadurch den Sperrkamm aus denZähnen des Sperrrades; die Verkuppelung wird mithin jedesmalselbstthätig wieder aufgehoben. Die Druckachse c (Fig. 12,Tafel I) ist an ihrem vordern, außerhalb desÄpparatgehäuses L1 befindlichen, in dem Messingwinkel Jgelagerten Teil mit mehreren verschiedenartig geformten Nasenversehen, welche die Druckvorrichtung in Thätigkeit setzen.Das Typenrad A trägt auf seiner Peripherie die Buchstaben,Ziffern und Satzzeichen in erhabener Gravierung;

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Telegraph (Hughes' Typendrucktelegraph).

es sitzt mit noch zwei andern Rädern, dem in der Figursichtbaren Korrektionsrad B und dem sogen. Friktionsrad, aufderselben Achse, jedoch so, daß nur das Friktionsrad an derBewegung des Laufwerkes teilnimmt, während die auf einerBuchse befestigten vordern Räder sich vollständig frei umdie Achse bewegen und an deren Umdrehungen nur dann sichbeteiligen, wenn sie mit dem Friktionsrad durch eine ähnlicheEinrückvorrichtung, wie sie zur Verkuppelung derSchwungradwelle mit der Druckachse dient, verbunden werden.

An dem mit 28 scharfen Zähnen versehenen Korrektionsrad B(Fig. 13, Tafel I) befindet sich der mit dem Typenrad durch einebesondere Buchse verbundene Figurenwechsel. Letzterer besteht ausdem zweiarmigen Hebel hh1, dessen Arm h innerhalb eines rundenAusschnitts der Stahlscheibe w spielt. Je nachdem der eine oder derandre Vorsprung dieser Scheibe eine Zahnlücke bedeckt, nimmtder Hebel und damit das Typenrad eine um ein Feld der Zeichenfolgeverschobene Stellung ein. Da nun auf dem Umfang des TypenradesBuchstaben und Ziffern, bez. Satzzeichen miteinander abwechseln,erfolgt in dem einen Fall der Abdruck vom Buchstaben, im andern vonZiffern und Satzzeichen. Das Umlegen des Wechselhebels bewirkt einDaumen der Druckachse c, welcher bei jeder Umdrehung in eineZahnlücke des Korrektionsrades trifft und dessen Stellung inder Weise berichtigt, daß er durch den auf die abgerundetenZähne desselben ausgeübten Druck das Korrektionsrad undmit ihm das Typenrad etwas vorschiebt, wenn eszurückgeblieben, und zurückdrückt, wenn esvorangeeilt war. Die Lücken unter den Vorsprüngen desWechselhebels entsprechen zwei freien Feldern des Typenrades,welche zur Herstellung der Zwischenräume dienen. ImRuhezustand liegt der Korrektionsdaumen auf der an dem EbonitwinkelT1 (Fig. 12) befestigten isolierten Feder und stellt dadurch eineleitende Verbindung zwischen dem Körper des Apparats und demElektromagnet her.

Der Abdruck der Zeichen geht in der Weise vor sich, daßdas Papierband wider die in voller Drehung begriffene Typenscheibegeschleudert wird und von den mit Druckerschwärze befeuchtetenTypen diejenige abdrückt, welche in dem betreffendenAugenblick an der tiefsten Stelle des Rades sich befindet. DiesesEmporschnellen des über die Druckrolle D2 (Fig. 12)geführten Papierbandes bewirkt ein Daumen der Druckachse,welcher gegen die obere Nase des um S drehbaren Druckhebels D1trifft; gleichzeitig findet ein Fortrücken des Papierstreifensum eine Typenbreite statt, indem durch einen andern Ansatz derDruckachse der Hebel K1K2 und mit ihm der Arm K4niedergedrückt wird, wobei dessen hakenförmiger Ansatz indie Zähne eines mit der Druckrolle verbundenen Sperrradeseingreift und hierdurch die Druckrolle dreht.

Der dreiarmige Einstellhebel U1U2U3 dient dazu, dasKorrektionsrad und das Typenrad außer Verbindung mit demLaufwerk zu bringen und in der Ruhelage festzuhalten. Ein auf denKnopf o des horizontalen Hebelarms U1 ausgeübter Druck bringtzunächst den als Träger von o dienenden Stift inBerührung mit der darunter befindlichen, an demEbonitstück e befestigten Blattfeder, welche über t2T2unmittelbar mit der Leitung in Verbindung steht; erst wennhierdurch der Elektromagnet ausgeschaltet ist, folgt der Hebel demDruck nach unten und bewirkt durch einen Ansatz des Arms U2,welcher die Blattfeder a mit ihrem Stahlansatz v in den Bereicheines an der Sperrklinke des Korrektionsrades angebrachten Stiftesbringt, die Aufhebung der Verbindung zwischen dem Korrektions- undTypenrad und dem Laufwerk. Die Auslösung des Einstellhebelsund Einlösung der Verkuppelung mit dem Sperrrad erfolgt durchAnschlagen eines Ansatzstiftes der Druckachse wider dasverlängerte Ende von U2.

Die Stromgebung beim Hughes-Apparat erfolgt mittels einerKlaviatur von 28 Tasten, die in zwei Reihen übereinanderangeordnet sind (Fig. 10); die obere Reihe ist schwarz, die untereweiß. Alle Tasten, mit Ausnahme der ersten und fünftenweißen, von links anfangend, sind mit je einem Buchstaben undeinem Ziffer-, bez. Satzzeichen versehen. Die weißen Tastendienen zur Herstellung der Zwischenräume; sie entsprechen denNasen des Wechselhebels und werden deshalb auch angeschlagen, wennvon Buchstaben auf Ziffern oder umgekehrt übergegangen werdensoll. Die Tastenhebel T (Fig. 14 der Tafel II) haben ihrenDrehpunkt in Achsen, welche an der untern Fläche einer starkenGußeisenplatte P1 befestigt sind; auf dieser Platte ruhtmittels des flantschartigen Ansatzes R die Stiftbüchse P,welche an ihrem untern Rand J mit senkrechten Einschnitten versehenist. Beim Niederdrücken einer Taste hebt das durch einenEinschnitt in die Stiftbüchse eingreifende freie Ende desTastenhebels T einen darüber ruhenden Kontaktstift S mitseinem obern hakenförmigen Ende längs der schrägenFläche des konischen Ringes k aus der Stiftscheibe N undbringt ihn in den Weg des um eine senkrechte, innerhalb derStahlhülse b gelagerte Achse w über der Stiftscheibekreisenden Schlittens, welchem durch konische Verzahnung mit derTypenradachse gleiche Winkelbewegung mit dem Typenrad erteilt wird.Beim Loslassen der Taste wird der Stift durch die Feder f in seineRuhelage zurückgezogen.

Auf die Schlittenachse w (Fig. 15 der Tafel II) ist eineStahlbuchse B mit vorspringenden Rändern aufgeschoben. An derAchse unwandelbar befestigt, befindet sich das gabelförmigausgeschnittene Messingstück G, dessen mittlerer vorragenderTeil an seinem untern Ende ein geschweiftes Stahlstück R1, diesogen. Streichschiene, trägt. Die beiden äußernArme dienen als Achslager für den beweglichen Teil g1,dessennach außen liegendes Mittelstück den abwärtsgekehrten, abgeschrägten Stahlstreifen e, die Lippe,enthält. Das andre Ende des beweglichen Teils bildet einenWinkelhebel, welcher mit einem seitlich angebrachten Stahlstift aauf dem weitern Rande der Buchse B ruht und diese bei aufsteigenderBewegung der Lippe e abwärts drückt. An der linken Seiteder vordern Apparatwange unterhalb der Achse des Auslösehebelsist der Messingwinkel P1 angeschraubt; er bildet das Lager fürden zweiarmigen Kontakthebel HH1. Rechts trägt dieser Hebeleinen seitlich angebrachten Stahlstift, welcher unter den obernvorspringenden Rand der Hülse greift, so daß beim Auf-und Niedergang derselben die an dem linken Hebelarm angebrachteBlattfeder F1 abwechselnd die Kontaktschrauben c1 und c2berührt, von denen jene mit der Batterie, diese mit der Erdeverbunden ist, während der Hebel selber über denKörper des Apparats und die Elektromagnetrollen mit derLeitung in Verbindung steht. Jedesmal, wenn der Schlitten einengehobenen Kontaktstift passiert, wird mithin durch das Niedergehender Buchse B und des Hebelarms H1 ein Strom in die Leitung gesandt,der sowohl auf dem gebenden als auf dem empfangenden Amte dieApparate zum Ansprechen bringt und den Abdruck des betreffendenBuchstabens bewirkt. Die Umlaufgeschwindigkeit des Schlittensbeträgt 100-120 Umdrehungen in der Minute.

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Telegraph (Multiplexapparate, Doppel- u. Gegensprechen; Land- u.Seeleitungen).

Bei allen bis jetzt beschriebenen Telegraphenapparaten bleibtzur Trennung der einzelnen Buchstaben oder Schriftzeichen dieLeitung eine Zeitlang unbenutzt. In der Multiplex- oderVielfachtelegraphie werden diese notwendigen Pausen ausgefülltmit der Schriftbildung auf einem zweiten, dritten etc. Apparat,wobei die Leitung nacheinander mit sämtlichen Apparaten inVerbindung tritt. Allen Vielfachapparaten gemeinsam ist dieEinrichtung einer kreisförmigen Verteilerscheibe ausisolierendem Material, auf welcher je nach Anzahl der Apparate einegrößere oder geringere Menge metallischer Sektorenbefestigt sind, die mit den einzelnen Apparatsätzen inVerbindung stehen. Über diesen Sektoren schleift einemetallische Feder, an welcher die Leitung liegt; letztere nimmt beijeder Umdrehung einmal aus jedem Apparatsatz die entsprechendvorbereiteten Telegraphierströme auf und führt sie aufdem andern Amt über eine gleichlaufende Verteilereinrichtungdem betreffenden Empfangsapparat zu.

Der vierfache T. von Meyer ist auf die Übermittelung vonMorsezeichen berechnet, die an vier Klaviaturen mit je acht Tastenvorbereitet werden. Der Verteiler enthält 50 voneinanderisolierte Lamellen verschiedener Breite, von denen 32 mit denTasten der Klaviaturen verbunden sind, während dieübrigen teils mit der Erde in Verbindung stehen und dienötigen Zwischenräume bewirken, teils für dieHerstellung des Synchronismus benutzt werden. Die Schriftbildungerfolgt senkrecht zur Längsrichtung des Papierstreifens inpolarisierten Empfangsapparaten.

Während Meyer und Baudot bei ihrem sechsfachenTypendruckapparat die Leitung jedesmal für eine Zeit an einApparatpaar legen, welche zur Erzeugung eines telegraphischenZeichens ausreicht, läßt Delany die Wechsel so raschaufeinander folgen, daß die Nachwirkung in denElektromagneten sozusagen die stromlosen Pausenüberbrückt und jeder Apparat ohne Rücksicht auf dieandern arbeitet. Eine schwingende Stimmgabel vermittelt dieStromsendung durch den Elektromagnet eines phonischen Rades, dessenAchse eine über der Verteilerscheibe schleifende Kontaktfederträgt. Je nach der Anzahl der einzuschaltenden Apparate sinddie Kontaktplatten der Verteilerscheibe untereinander zu Gruppenvereinigt, so daß jeder Apparat in der Sekunde gleich oft mitder Leitung in Verbindung tritt. Erfolgt diese Verbindunghäufig genug, z. B. 30 mal in der Sekunde, so wirkt diesbezüglich des Telegraphierens ebenso, als ob die Leitungbeständig am Apparat läge. Die Delanysche Einrichtungkann teils mit Morse, teils mit Typendruckapparaten betriebenwerden und vermag angeblich bis zu 72 Telegrammen gleichzeitig zubefördern.

Den gleichen Zweck einer bessern Ausnutzung derTelegraphenleitungen hat man auch zu erreichen gesucht durch dasDoppelsprechen (gleichzeitige Beförderung zweier Telegrammeauf demselben Draht in gleicher Richtung) und das Gegensprechen(gleichzeitige Beförderung in entgegengesetzter Richtung). Bisjetzt hat sich nur das Gegensprechen bleibenden Eingang erringenkönnen. Die erste diesem Zweck entsprechende Schaltung wurde1853 von Gintl vorgeschlagen; ihm folgten Frischen, Siemens u.Halske, Edlund, Maron u. a. In neuerer Zeit sind einfache Methodenvon Gattino, Fuchs und Canter angegeben worden. Fuchs, dessenSchaltung in Fig. 16 (Tafel I) schematisch dargestellt ist,schaltet eine mit einem Hilfshebel a versehene Taste zwischen diebeiden Elektromagnetrollen mm des Schreibapparats, so daß derabgehende Strom nur die eine, der ankommende aber beide Rollendurchläuft: bei entsprechender Regulierrung bleibt daher derApparat des gebenden Amtes in Ruhe, während derEmpfangsapparat anspricht. Drücken beide Ämtergleichzeitig Taste, so geben die mit entgegengesetzten Polen anLeitung liegenden Batterien einen doppelt so starken Strom, der diemagnetisierende Wirkung der einen Rolle entsprechend verstärktund auf beiden Ämtern das Ansprechen der Apparateherbeiführt, wobei jeder Apparat dem Batteriestrom des andernAmtes gehorcht.

In der Schaltung von Canter (Fig. 17, Tafel I) sind die beidenElektromagnetrollen mm des Farbschreibers ebenfalls getrennt, unddie Taste, hier eine gewöhnliche, liegt zwischen ihnen;außerdem ist zwischen Mittelschiene und Ruheschiene der Tasteein Rheostat R angebracht, in welchen so viel Widerstandeingeschaltet wird, daß beim Niederdrücken der Taste dereigne Apparat nicht anspricht und die magnetisierende Kraft imEmpfangsapparat die gleiche bleibt, ob nur auf einer oder aufbeiden Seiten gearbeitet wird. Die Batterien liegen mit gleichenPolen an der Leitung. In oberirdischen Leitungen bis zu 350 kmLänge sind mit diesen Schaltungen befriedigende Resultateerzielt worden; auf größere Entfernungen und inKabelleitungen wird ihre Verwendung durch das Auftreten derLadungserscheinungen erschwert.

Als Elektrizitätsquellen werden in der Telegraphievorzugsweise galvanische Elemente (s. Galvanische Batterie)benutzt; doch beginnt man neuerdings auch die Dynamomaschinen alsStromerzeuger für telegraphische Zwecke nutzbar zu machen.

Zum Bau der oberirdischen Telegraphenlinien bedient man sichimprägnierter Stangen von 7-10 m Länge und 12-15 cmZopfstärke, an welche Isolationsvorrichtungen von Porzellanauf eisernen Stützen festgeschraubt werden. Die deutscheReichstelegraphenverwaltung verwendet die von Chauvin angegebeneDoppelglocke (Fig. 18, Tafel I) auf hakenförmigerSchraubenstütze. Zur Herstellung der Leitungen wird in derRegel verzinkter Eisendraht von 2,5-5 mm Durchmesser benutzt; inneuerer Zeit kommt auch Bronze zur Verwendung. Die unterirdischenLinien bestehen aus Kupferdrähten oder Kupferlitzen, die mitGuttapercha isoliert sind; gewöhnlich werden 4 oder 7 solcherAdern zu einem Kabel verseilt und mit einer Schutzhülle vonverzinkten Eisendrähten umgeben. Die in derReichstelegraphenverwaltung gebräuchlichen Querschnitte sindaus Fig. 19 (Tafel I), zu ersehen. Für die Überschreitungvon Gewässern gibt man den Kabeln eine zweite Schutzhüllevon stärkern Drähten und schließt sieaußerdem in verzinkte gußeiserne Gelenkmuffen ein.Unterirdische Leitungen sind weniger Beschädigungenausgesetzt, erfordern aber vorzügliche Isolation undbedeutende Anlagekosten, während ihre Benutzbarkeit auflängern Strecken durch die den Kabeln anhaftendenLadungserscheinungen eine gewisse Einschränkung erfährt.Schon bei Entstehung der elektrischen Telegraphie angewendet, habendieselben erst seit 1876 eine größere Verbreitungerlangt, nachdem die deutsche Reichstelegraphenverwaltung mit derAnlage ihres ausgedehnten unterirdischen Liniennetzes bahnbrechendvorangegangen war. 1886 besaß Deutschland 5648 km, Frankreich1661 km, Großbritannien 1146 km und Rußland 289 kmunterirdische Linien.

Ungleich rascher und kräftiger haben sich dieunterseeischen Verbindungen entwickelt. Die großen Seekabelsind ähnlich konstruiert wie die Landkabel, enthalten aberwegen der unvermeidlichen Induktion nur Einen Leiter. 1851 wurdedas erste brauchbare

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Telegraph (Haustelegraphie, pneumatischer T.;Volkswirtschaftliches, Gesetzgebung).

Seekabel zwischen Dover und Calais ausgelegt, 1866 die ersteKabelverbindung zwischen Europa u. Amerika hergestellt. 1886dienten bereits 12 Kabel dem telegraphischen Verkehr beiderWeltteile: 8 davon gehen aus von Großbritannien und Irland, 2von Frankreich nach Nordamerika; 2 Kabel endlich verbinden Portugalmit Südamerika. 1887 betrug die Gesamtlänge derbestehenden unterseeischen Kabel 113,565 Seemeilen, darunter103,396 Seemeilen im Besitz von Privatgesellschaften und nur 10,169unter staatlicher Verwaltung.

Besondere Gestaltung erfährt die Telegraphie fürbestimmte Zwecke, namentlich im Eisenbahnwesen, in der Feuerwehrund im Haus. Die Benutzung im Haus beschränkt sich meist aufdie Anlage von Läutwerken (s. d.), welche mit Tableauanzeigerverbunden werden, um dort, wo das Läutwerk ertönt, denAufgabeort des Signals zu erkennen. Diese Vorrichtungen gestaltensich zu Diebssicherungen, wenn das Läutwerk bei unbefugterÖffnung eines Fensters oder einer Thür in Thätigkeittritt. Man bringt hier Kontakte an, die am Tag bei offenerThür, aufgezogenem Rollladen etc. geschlossen sind, dann abernicht auf das Läutwerk wirken, weil noch an einer andernStelle durch eine Einstellvorrichtung der Strom unterbrochen ist.Werden nun abends Thüren und Fenster geschlossen (die Kontaktegeöffnet), so schließt man bei der Einstellvorrichtungden Strom, und das Läutwerk schlägt an, sobald nun eineThür oder ein Fenster geöffnet wird; das Tableau zeigtden Angriffspunkt. Derartige Vorrichtungen können auch zuandern Zwecken benutzt werden: sie melden an einer entferntenStelle, wenn im Dampfkessel der Wasserstand zu niedrig steht, wennim Gewächshaus oder in der Trockenkammer eine bestimmteTemperatur erreicht ist etc. Für manche dieser Zwecke wird dieelektrische durch pneumatische Telegraphie ersetzt. Diese benutztdünne, starkwandige Bleiröhren, welche von einem Ort zumandern eine vollkommen luftdichte Leitung herstellen. Am Aufgabeortist in diese ein hohler Gummiball eingeschaltet, der beimZusammendrücken die in ihm enthaltene Luft durch das Bleirohrin eine aus ebenen Wänden gebildete Gummikapsel am andern Endeder Leitung treibt und dieselbe aufbläst. DieseVolumveränderung der Kapsel kann leicht benutzt werden, um einsichtbares oder, wie bei der pneumatischen Klingel, einhörbares Zeichen zu geben. Vorteilhafte Anwendung findet diepneumatische Verbindung zur Verbindung von Uhren mit einerNormaluhr (vgl. Uhr).

Volkswirtschaftliches. Gesetzgebung und Verwaltung.

Für die finanzielle Behandlung des Telegraphen kommtwesentlich in Betracht, daß der T. nur von einzelnen Klassen,nicht, wie Post und Eisenbahn, von der Gesamtheit aller benutztwird. Zur Zeit haben an dem Telegrammverkehr etwa teil: dieRegierungs- und Staatstelegramme mit 12 Proz., dieHandelstelegramme mit 52, die Börsentelegramme mit 13, dieZeitungstelegramme mit 8 und die Familientelegramme mit 15 Proz. InEuropa entfällt gegenwärtig nur auf 3 Einw. einjährlich abgesandtes Telegramm; mindestens drei Viertel derBevölkerung stehen dem Telegrammverkehr ganz fern, und es istdaher zu fordern, daß die Kosten der Telegraphie durch denTarif vollständig gedeckt und Zuschüsse aus Staatsmittelnausgeschlossen sind.

Die Telegraphie wurde von vornherein durch die meisten Staatenin öffentliche Verwaltungen genommen; außer Nordamerikabefinden sich nur noch in wenigen andern überseeischenLändern die dem öffentlichen Verkehr dienendenTelegraphen in Privathänden. Großbritannien, der einzigeeuropäische Staat, wo der Telegraphenbetrieb inPrivathänden länger das Feld behauptete, sah sich 1868veranlaßt, ungeachtet der Abneigung gegen jede Artstaatlicher Einmischung, welcher in dem englischen Volkscharakterliegt, die Telegraphen in Staatsverwaltung zu übernehmen. DieEntschädigung, welche England damals für die noch dazuunzulänglichen Anlagen der vormaligen Privatgesellschaftenzahlen mußte, betrug erheblich mehr als der Aufwand, welchendas ganze übrige Europa bis dahin für den Telegraphenbauverwendet hatte. Die großen überseeischenKabelverbindungen sind mit wenigen Ausnahmen im Betrieb vonPrivatgesellschaften. Hier begünstigt den Privatbetrieb derUmstand, daß ein einzelner Staat völkerrechtlich nichtbefugt ist, Telegraphenverbindungen zwischen zwei durch das Meergetrennten Ländern für sich allein zu monopolisieren,ferner, daß das mit den Kabelverbindungen verknüpfteungewöhnlich hohe Risiko die Bedeutung des spekulativenMoments erhöht und die Privatthätigkeit besser an dieStelle der Thätigkeit der öffentlichen Gewalten tretenläßt.

Die Gesetzgebung hat die Regalität der Telegraphen inFrankreich, Österreich, Großbritannien, Italien, derSchweiz, Niederlande, Portugal, Serbien, Rumänien,Griechenland, Britisch- und Niederländisch-Indienfestgestellt, wobei Eingriffe in das staatliche Alleinbetriebsrechtmeist mit Strafe gegen diejenigen, welche einen Telegraphen ohneKonzession anlegen, bedroht sind. In Deutschland gründet sichdas Telegraphenregal auf Art. 48 der Reichsverfassung, wonach dasTelegraphenwesen für das gesamte Gebiet des Deutschen Reichsals einheitliche Staatsverkehrsanstalt einzurichten ist. Einekodifizierte Gesetzgebung wie die der Post besteht für diedeutsche Telegraphie nicht; vielmehr ist die Regelung desVerhältnisses zum Publikum verfassungsmäßig derreglementären Anordnung vorbehalten. Diese Anordnungen sinddurch die Telegraphenordnung vom 13. Aug. 1880 erlassen.

Die Fernsprechanlagen werden in Deutschland ebenfalls als unterdas Telegraphenregal fallend betrachtet, und es werden nach §28 der Telegraphenordnung die Bedingungen für derartigeAnlagen vom Reichspostamt festgesetzt. Die Berechtigung vonBehörden und Privatpersonen zum Betrieb von Telegraphen istneuerdings in Deutschland im Verordnungsweg dahin festgestelltworden, daß ohne Kontrolle der Telegraphenverwaltungzugelassen werden können: a) den Landesbehörden dieAnlage von Telegraphen zu Zwecken, welche nicht unter das Ressortder Telegraphenverwaltung fallen, solange die Anlagen nicht alsVerkehrsanstalten gebraucht werden; b) Privatpersonen die Anlagevon Telegraphen innerhalb der eignen Gebäude undGrundstücke, vorausgesetzt, daß der Besitzer innerhalbseiner Grenzen bleibt und mit der Anlage fremde Grundstückesowie öffentliche Wege und Straßen nichtüberschreitet.

Das Telegraphenfreiheitswesen (Gebührenbefreiung fürReichsdiensttelegramme etc.) ist durch kaiserliche Verordnung vom2. Juni 1877 geregelt. Durch Gesetz sind in Bezug auf dasTelegraphenwesen nur hinsichtlich der Sicherung deröffentlichen Telegraphenanlagen Bestimmungen in den § 317bis 320 des Reichsstrafgesetzbuchs getroffen, wonach dievorsätzliche Beschädigung der Telegraphenanstalten mitGefängnis von 1 Monat bis 3 Jahren und die fahrlässigeStörung des Betriebes mit Ge-

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Telegraph (Verwaltung und Betrieb).

fängnis bis zu 1 Jahr oder mit Geldbuße bis 900 Mk.bedroht ist.

Die Haftpflicht der Telegraphenverwaltung für dieBeförderung von Telegrammen richtet sich nach deninternationalen Verträgen und nach der Gesetzgebung dereinzelnen Staaten. In Art. 2 und 3 des internationalenTelegraphenvertrags von St. Petersburg vom 10. (22.) Juni 1875haben die Telegraphenverwaltungen erklärt, in Bezug auf deninternationalen Telegraphendienst keine Verantwortung zuübernehmen. In gleicher Weise haben auch die einzelnen Staatendie Garantie für Telegramme teils durch Gesetz, wie inFrankreich, Niederlande, Belgien und der Schweiz, teils durchVerordnung abgelehnt. Die deutsche Telegraphenordnung vom 13. Aug.1880 bestimmt in § 24 über die Gewährleistung,daß die Telegraphenverwaltung für die richtigeÜberkunft der Telegramme oder deren Zustellung innerhalbbestimmter Frist nicht garantiert und Nachteile, welche durchVerlust, Verstümmelung oder Verspätung der Telegrammeentstehen, nicht vertritt. Die entrichtete Gebühr wird jedocherstattet: a) für Telegramme, welche durch Schuld desTelegraphenbetriebs gar nicht oder mit bedeutender Verzögerungin die Hände des Empfängers gelangt sind, b) fürverglichene Telegramme, welche infolge Verstummelung nachweislichihren Zweck nicht haben erfüllen können. Diezivilrechtliche Haftbarkeit, welche den Telegraphenbeamten nach denallgemein rechtlichen Grundsätzen für dolus und culpaobliegt, wird durch die vorstehenden Bestimmungen nichtberührt. Die Verwaltung und der Betrieb der Telegraphie istgegenwärtig in allen größern Staaten, inDeutschland seit 1876, mit der Postverwaltung vereinigt (s. Post,S. 275), und besonders in Deutschland wurden erhebliche Erfolgedurch diese Vereinigung erzielt. Nicht nur wurde derGeschäftsbetrieb der Telegraphenanstalten durchgehendreorganisiert, sondern es trat auch eine durchgreifendeVervollkommnung der technischen Telegraphenbetriebseinrichtungenein, für deren Ausbildung bei der Finanznot der frühernselbständigen Telegraphenverwaltungen nicht immer dieerforderlichen Mittel zu Gebote gestanden hatten. In dieserBeziehung ist namentlich hervorzuheben: die Anlage unterirdischerTelegraphenlinien; die frühzeitige Einführung desFernsprechwesens; die Steigerung des Schnellverkehrs innerhalb derReichshauptstadt durch Anlage einer Rohrposteinrichtung, seinerZeit der ersten Anlage dieser Art, welche zugleich dentelegrafischen und den brieflichen Verkehr vermittelt; endlich dieFörderung der Anlage neuer internationalerTelegraphenverbindungen und die Vermehrung der unterseeischenKabelverbindungen etc. Weiteres über dieTelegraphengebühren, die internationalen Abkürzungen imTelegraphenverkehr etc. s. Telegramm. Die gegenwärtigeEntwickelung des Telegraphenwesens in Europa zeigt die nachfolgendeTabelle:

Übersicht des Telegraphenverkehrs der Länder Europasim Jahr 1887.

Länder | Staatstelegraphen | Eisenbahn- undPrivattelegraphen | Staatstelegraphenanstalten | Eisenbahn- undPrivattelegraphenanstalten | Eine Telegraphenanstalt entfälltauf | Beförderte Telegramme (in- und ausländische) | Auf100 Einw. entfallen aufgelief. Telegramme

| Linien Kilom. _ Leitungen Kilom. | Linien Kilom. _ LeitungenKilom. | | |QKilo- _ Einwohner | |

Belgien ........ 6596 2649 4206 89197 31854 3902 11226 3171432006 24328 1153 5132 70224 822 65 165 11071 109 267 3919 31,6 91,736,0 6418 4585 3126 4631470 525071 1346315 21750348 54,8 22,5 37,338,0

Bulgarien (1885) ....

Dänemark .......

Deutschland ......

Frankreich (1887/88) . . . 101654 324919 16390 115984 5945 343056,4 4151 37435585 80,3

Griechenland (1886) .... 5520 6618 1378 1378 166 7 367,7 12068845707 34,5

Großbritannien und Irland. 48659 260679 ...- 27149 52081602 46,5 5447 55 182 775 140,2

Italien ........ 30932 401 338 86757 718 338 2334 81 26787 6902192 30 15 1637 ^ 77,4 35,4 628.9 7561 2922 19067 8796264 8584326,7 27,0

Luxemburg. ......

Montenegro (1885) ....

Niederlande ...... 4903 7494 25706 2790 17234 13987 69510 55682797 1583 14142 483 7589 2531 35241 585 358 149 1635 79 299 1791724 25 50.2 970,1 89,3 491,3 6775 6049 6593 12847 3734065 968833 7195 146 314234 58,2 37,8 22,9 14,9

Norwegen .......

Österreich (1886) .....

Bosnien, Herzegowina (1886)

Portugal ....... 5137 11948 ^ - 274 1 335,4 16548 91956014,2

Rumänien (1886) .... 5245 9880 2402 5518 122 195 521,015899 1225857 26,4

Rußland (1886) ..... 107571 8345 7060 2843 17853 20403321304 17102 4035 43446 30645 3844 991 431 8252 62891 12484 5723 86l20629 1694 179 1115 68 542 1836 765 178 46 340 6293,5 458,7 32,0427,0 574,9 28765 5016 2190 16936 18970 10290791 1242374 3331155485398 2481420 9,^ 17,0 85,3 22,5 14,8

Schweden .......

Schweiz ........

Serbien (1886) .....

Spanien (1886) .....

Türkei, europäische (1882) . 23388 41688 ..^... ......443 21 565,5 14294 1133286 17,^

Ungarn ........ 17633 45381 1479 23794 702 930 197,5 96446196830 17,5

[Litteratur.] Rother, Der Telegraphenbau (4. Aufl., Berl. 1876);Ludewig, Der Bau von Telegraphenlinien (2. Aufl., Leipz. 1870);Derselbe, Der Reichstelegraphist (4. Aufl., Dresd. 1877); Zetzsche(Galle), Katechismus der elektrischen Telegraphie (6. Aufl., das.1883); Derselbe, Handbuch der elektrischen Telegraphie (Berl.1877-87, Bd. 1-4); Derselbe, Die Kopiertelegraphen,Typendrucktelegraphen und Doppeltelegraphie (Leipz. 1865);Derselbe, Die Entwickelung der automatischen Telegraphie (Berl.1875); Weidenbach, Kompendium der elektrischen Telegraphie (2.Ausg., Wiesb. 1881); Grawinkel, Die Telegraphentechnik (Berl.1876); Merling, Die Telegraphentechnik (Hannov. 1879); Canter, Dertechnische Telegraphendienst (3. Aufl., Bresl. 1886); Schellen, Derelektromagnetische T. (6. Aufl. von Kareis, Braunschw. 1882-88);Derselbe, Das atlantische Kabel (das. 1867); Calgary u. Teufelhart,Der elektromagnetische T. (Wien 1886); "Beschreibung der in derReichstelegraphenverwaltung gebräuchlichen Apparate" (Berl.1888); Wünschendorff, Traité detélégraphie sous-marine (Par. 1888; Sack,Verkehrstelegraphie (Wien 1883; v. Weber, Das Telegraphen- undSignalwesen der

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Telegraphenanstalten - Telegraphenschulen.

Eisenbahnen (Weim. 1867); Schmitt, Das Signalwesen derEisenbahnen (Prag 1878); Kohlfürst, Die elektrischenEinrichtungen der Eisenbahnen und das Signalwesen (Wien 1883);Zetzsche, Geschichte der elektrischen Telegraphie (Bd. 1 deserwähnten Handbuchs Berl. 1876); Derselbe, Kurzer Abrißder Geschichte der elektrischen Telegraphie (das. 1874);Telegraphenbauordnung (Wien 1876); Dambach, DasTelegraphenstrafrecht (das. 1871); Ludewig, Die Telegraphie instaats- und privatrechtlicher Beziehung (Leipz.1872); Meili, DasTelegraphenrecht (2. Aufl., Zürich 1873); Fischer, DieTelegraphie und das Völkerrecht (Leipz. 1876); Schöttle,Der T. in administrativer und finanzieller Beziehung (Stuttg.1883); Über die Militärtelegraphie s. d., überHaustelegraphie s. Läutewerke, elektrische.

Telegraphenanstalten, die für die Wahrnehmung desöffentlichen Telegraphendienstes bestimmten Betriebsstellen,sind jetzt meist mit den Postanstalten (s. d.) vereinigt und, wiedie Postämter, der Oberpostdirektion des Bezirksuntergeordnet.

Telegraphenbeamte. Für den Eintritt in den Beamtendienstder Telegraphie sind im allgemeinen dieselben Bedingungen wiefür den Postdienst zu erfüllen (s. Postbeamte); inDeutschland ist jedoch der Eintritt in die ausschließlichfür den technischen Telegraphendienst bestimmtenBeamtenstellen in weiterm Umfang als bei der Post denversorgungsberechtigten Militärpersonen vorbehalten.

Telegraphenkongresse, internationale Vereinigungen vonVertretern der Telegraphenverwaltungen im Interesse derFortentwickelung der internationalen Telegrapheneinrichtungen. Demdurch den Deutsch-österreichischen Telegraphenverein,begründet 25. Juli 1850, gegebenen Beispiel folgten bald dieromanischen Staaten, von denen 1852 Frankreich, Belgien, dieSchweiz und Sardinien einen besondern Verein bildeten, und nachdemdie beiden Vereinsgruppen durch Konferenzen zu Brüssel undFriedrichshafen 1858 eine gegenseitige Annäherung erstrebthatten, traten sie 1865 in Paris zu einem ersten internationalenTelegraphenkongreß zusammen, durch welchen der internationaleTelegraphenverkehr in einem für ganz Europa gültigenVertrag seine Regelung erhielt. Als Einheit des Tarifs nahm er dasTelegramm von 20 Worten (Zwanzigworttarif) an. Die Gebührenvon einem Land zu dem andern wurden im allgemeinen gleich gemacht,und nur bei Ländern von ausgedehntem Flächenraum wurdenmehrere Tarifzonen gebildet. Der zweite internationaleTelegraphenkongreß zu Wien 1868 vereinigte die asiatischenVerwaltungen mit der europäischen Vereinsgruppe. Er schuf dasinternationale Büreau in Bern als Zentralorgan, welches dieauf die internationale Telegraphie bezüglichen Nachrichten zusammeln, die Arbeit der periodischen Konferenzen vorzubereiten hatund durch Herausgabe des "Journal télégraphique" auchdie Wissenschaft fördert. Auf dem dritten Kongreß zu Rom1872 kam man überein, die großenPrivatkabelgesellschaften zu den Kongressen zuzulassen, ohne ihnenjedoch Stimmrecht einzuräumen. Der vierte Kongreß, 1875zu St. Petersburg, teilte das internationale Vertragsinstrument inzwei Urkunden, von welchen die erstere, welche sich mitunveränderlichen Rechtsverhältnissen der Verwaltungenuntereinander und dem Publikum gegenüber befaßt, von dendiplomatischen Vertretern der Staatsregierungen unterzeichnetwurde, während der Abschluß der zweiten, welche diereglementären Bestimmungen betraf, nur von den technischenDelegierten erfolgte. Der St. Petersburger Vertrag ist noch heutein Gültigkeit; die folgenden Kongresse haben sich nur mitAbänderung der Ausführungsbestimmungen (Reglement) zudiesem Vertrag befaßt. Auf dem fünften Kongreß,London 1879, vereinbarte man das in Deutschland von Stephan insLeben gerufene Worttarifsystem, und auf dem sechsten Kongreß,Berlin 1885, wurde von Stephan der Antrag auf Schaffung einesEinheitstarifs, wenigstens für den europäischen Verkehr,eingebracht. Dieser Antrag fand zwar nicht allgemeine Annahme, dochbeschloß der Kongreß weitere Vereinfachungen desTarifs, um die spätere Einführung eines Einheitstarifsvorzubereiten. Nach den Bestimmungen des Berliner Vertrags bildetsich der internationale Tarif aus einer Gebühr für dasWort, welche der Staat des Aufgabegebiets und der Staat desBestimmungsgegebiets (Terminaltaxen) und die etwa zwischen demAufgabe- und Bestimmungsgebiet liegenden Staaten (Transittaxen)jeder für sich erhebt. Die Terminaltaxen und die Transittaxensind für jeden Staat einheitlich festgestellt. DieTerminaltaxe wurde einheitlich auf 10 Cent., die Transittaxe auf 8Cent. für jedes Wort mit der Ermäßigung auf6¡½ u. 4 Cent. für kleinere Staaten festgesetzt.Dem internationalen Telegraphenverein gehören zur Zeit an:Australien (Neuseeland, Neusüdwales, Südaustralien,Tasmania, Victoria), Belgien, Bosnien-Herzegowina, Brasilien,Britisch-Indien, Bulgarien, Kap der Guten Hoffnung, Dänemark,Deutschland, Ägypten, Frankreich (zugleich für Algerien,Tunis, Kotschinchina u. Senegal), Griechenland,Großbritannien nebst Gibraltar und Malta, Italien, Japan,Luxemburg, Montenegro, Natal, Niederlande (zugleich fürNiederländisch-Indien), Norwegen, Österreich-Ungarn,Persien, Portugal, Rumänien, Rußland, Schweden, Schweiz,Serbien, Siam, Spanien und Türkei. Außerdem allegrößern Kabelgesellschaften. Im Oktober 1882 trat inParis eine Konferenz zusammen, deren Arbeiten zum Abschlußeiner Konvention vom 14. März 1884 über den Schutz derunterseeischen Kabel führte, welcher 28 Staaten beigetretensind.

Telegraphenschulen, Anstalten zurwissenschaftlich-technischen Ausbildung von Telegraphenbeamten. DieTelegraphenschule in Berlin ist aus einer 1859 von derpreußischen Telegraphenverwaltung errichteten Fachschulehervorgegangen, welche den Zweck hatte, sämtliche Beamte derTelegraphie, nachdem sie bei einem Telegraphenamt die notwendigenVorkenntnisse und Fertigkeiten sich angeeignet hatten, für denDienst theoretisch und praktisch auszubilden. Infolge der auf demwissenschaftlichen Gebiet der Telegraphie errungenen Fortschritteübertrug die Telegraphenverwaltung die für den lokalenTelegraphenbetriebsdienst erforderliche theoretische und praktischeAusbildung der Beamten den Oberpostdirektionen und ließ zumBesuch der Telegraphenschule nur eine beschränkte Anzahlsolcher Beamten zu, welche eine genügende wissenschaftlicheVorbildung besitzen und nach ihrem dienstlichen Verhalten zu derErwartung berechtigen, daß sie den auf einen höhernBildungsgrad berechneten Vorträgen mit Nutzen folgen und sichspäter nach Ablegung der höhernTelegraphenverwaltungsprüfung für die höhern Stellender Verwaltung eignen. 1879 wurde die Telegraphenschule in Berlinzu dem Rang einer technischen Hochschule erhoben. Der Kursus istsechsmonatlich und währt vom 1. Okt. bis 1. April.Jährlich werden zum Besuch der Schule etwa 40 Beamteeinberufen. Eine ähnliche Anstalt besteht in Paris.

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Telegraphentruppen - Telemeter.

Telegraphentruppen dienen zum Bau wie zur Zerstörungvon Telegraphenanlagen im Krieg. Deutschland und Frankreichbesitzen im Frieden keine T., s. Militärtelegraphie. Englandhat im Frieden 1 Telegraphenbataillon in 2 Divisionen, von denendie eine stets kriegsbereit vollzählig und ausgerüstet,die andre von der Staatstelegraphenverwaltung beschäftigt ist.Italien hat 3 Telegraphenabteilungen von je 2 Kompanien zum 3.Genieregiment gehörig; Österreich besitzt 1 Eisenbahn-und Telegraphenregiment von 2 Bataillonen zu 4 Kompanien;Rußland besitzt 17 Kriegs- (Feld-) Telegraphenparke, welcheden Sappeurbrigaden unterstellt sind. Belgien, die Niederlande,Rumänien, Schweden, Spanien etc. haben im Frieden 1Telegraphenkompanie.

Telegraphisches Sehen. Bald nach der Erfindung des Telephonshaben viele Physiker versucht, dem Auge auf elektrischem Wegentfernte Bilder sichtbar zu machen. Die Eigenschaft des Sehens,unter wechselnder Beleuchtung seinen Widerstand zu verändern,schien zur Lösung dieser weitern Aufgabe ein geeignetes Mittelan die Hand zugeben. Das Telektroskop von Senlecq d'Ardres (1877)und der Telephotograph von Shelford Bidwell (1881) sind Apparate,welche diesem Gedankengang ihre Entstehung verdanken, aber nichtleisten, was ihr Name verspricht (s. Telephotographie). Nipkow inSchöneberg machte einen Vorschlag zu einem elektrischenTeleskop, welcher auf der Beobachtung beruht, daß Rußin intermittierender Bestrahlung tönt. Unter Zuhilfenahmeeines Mikrophons sollen die Schwingungen von berußterDrahtgaze in elektrische umgewandelt und auf der Empfangsstelledurch ein Telephon geleitet werden, dessen polierte Membran einenauffallenden Lichtstrahl in entsprechende Schwingungen versetzt unddadurch im Auge des Beobachters den Eindruck des übermitteltenBildes erzeugt. Den Synchronismus der Apparate will Nipkow durchAnwendung des phonischen Rades erzielen.

Teleki, 1) Joseph, Graf, ungar. Staatsmann undHistoriker, aus der protestantischen siebenbürgischen FamilieT. von Szék, geb. 24. Okt. 1790 zu Pest, studierte inGöttingen, trat, nachdem er den Westen Europas bereist hatte,als Sekretär der ungarischen Statthaltern 1818 in denStaatsdienst und war zuletzt (1842-48) Gouverneur vonSiebenbürgen. Er erwarb sich große Verdienste um dieGründung und Organisierung der ungarischen Akademie derWissenschaften, deren Präsident er viele Jahre hindurch war.Außer mehreren kleinen Abhandlungen schrieb er als seinHauptwerk: "A Hunyadiak kora Magyarországban" ("DasZeitalter der Hunyades in Ungarn"), ein nach Quellen bearbeitetesWerk, von dem 1852-55 fünf Bände wie von der dazugehörenden Urkundensammlung drei Bände erschienen sind.T. starb 16. Febr. 1855.

2) Wladislaw, Graf, ungar. Patriot, geb. 11. Febr. 1811 zu Pest,studierte die Rechte und Staatswifsenschaften, ward 1839 Mitglieddes siebenbürgischen Landtags, trat 1843 als Magnat in dieMagnatentafel des ungarischen Reichstags und stellte sich mit andie Spitze der Opposition. Im September 1848 ward er vomungarischen Ministerium nach Paris gesandt, um dort die ungarischenInteressen zu vertreten, und, da er nach der Niederwerfung derungarischen Insurrektion im Namen Ungarns gegen die MaßregelnÖsterreichs protestierte, in contumaciam verurteilt und ineffigie gehenkt, Er lebte seitdem abwechselnd in Paris und Genf undwirkte nach Ausbruch des italienischen Kriegs 1859 zu Turin imInteresse der ungarischen Nationalpartei. Im Dezember 1860 ward erzu Dresden verhaftet und nach Wien ausgeliefert, dort aberbegnadigt. Im April 1861 in den ungarischen Reichstag gewählt,hielt er sich zur Linken, geriet aber bei seiner politischenRichtung mit dem bei seiner Begnadigung gegebenen Versprechen inKonflikt und erschoß sich in Verzweiflung darüber 8. Mai1861 in Pest. T. hinterließ auch eine Tragödie: "Akegyencz" ("Der Günstling").

Telelog (griech., "Fernsprecher"), ein von Ackermannfür die Mitteilung beobachteter Treffergebnisse beimSchießen der Artillerie erfundener elektrischer Telegraph,besteht aus einer Drahtleitung, einer Batterie MeidingerscherElemente und einem Apparat zur Zeichengebung durch einfache unddreifache Glockenschläge, die als Elementarzeichen zu einemAlphabet gruppiert sind. Vgl. Ackermann, Der T. (Rastatt 1877).

Telemachos, im griech. Mythus Sohn des Odysseus und derPenelope, war bei der Abreise des Vaters zum Trojanischen Kriegnoch ein Kind. Herangewachsen, erhielt er von Athene den Rat, beiNestor in Pylos und Menelaos in Sparta Erkundigungen über denVater einzuziehen; am letztern Ort erfuhr er, daß derselbenoch lebe. Nach Hause zurückgekehrt, traf er bei dem SauhirtenEumäos seinen von Athene in einen Bettler verwandelten Vater.Dieser entdeckte sich ihm, und T. stand hierauf dem Vater bei derTötung der Freier bei. Seine spätere Geschichte wirdverschieden erzählt (vgl. Telegonos). Die Schicksale des T.behandelt der berühmte Roman von Fénelon: "Lesaventures de Télémaque".

Telemann, Georg Philipp, Komponist, geb. 14. März1681 zu Magdeburg, bezog zum Studium der Rechte 1700 dieUniversität Leipzig, widmete sich aber hier der Musik mitsolchem Erfolg, daß er schon vier Jahre später dieOrganistenstelle an der Neuen Kirche und die Leitung desstudentischen Gesangvereins Collegium musicum übernehmenkonnte. In der Folge wirkte er als Kapellmeister erst in Sorau (ander Kapelle des Grafen Promnitz), dann in Eisenach, endlich von1712 an in Frankfurt a. M. Von hier wurde er 1721 alsstädtischer Musikdirektor nach Hamburg berufen, wo er 25. Juli1767 starb. T. stand als ebenso fleißiger wie gewandterKomponist und als Mann von reicher wissenschaftlicher Bildung beiseinen Zeitgenossen in höchstem Ansehen. Als er die ihm 1722angetragene Stellung eines Thomaskantors in Leipzig ausschlug, warder dortige Rat sehr enttäuscht, auch dann noch, als J. S.Bach für dies Amt gewonnen war. Die Hoffnungen, welche Hamburgauf ihn gesetzt, konnte er nur teilweise erfüllen, sofern manerwartet hatte, er werde die am Anfang des Jahrhundertsblühende nationale Oper von ihrem inzwischen eingetretenenNiedergang wieder emporheben, was ihm nicht gelingen sollte. Vonseinen fast unzählbaren Werken (darunter 44 Passionsmusikenund an 40 Opern) hat nicht ein einziges ihren Schöpfer zuüberleben vermocht.

Telemarken, Landschaft, s. Thelemarken.

Telemeteorograph (griech.), s. Meteorograph.

Telemeter (griech., "Fernmesser"), eine von C. L. Clarkein New York erfundene Vorrichtung, um die Ablenkungen einesManometers, Wasserstandszeigers etc. telegraphisch auf einenentfernten Zeigerapparat zu übertragen. Der Geber ist mit demEmpfänger durch drei Leitungen verbunden; erstererenthält den Zeiger des Meßinstruments, der sich zwischenzwei mit ihm um dieselbe Achse mittels eines Sperrradesverschiebbaren Kontaktfedern bewegt und, je

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Telemssen - Telesio.

nachdem er sich links oder rechts anlegt, in der einen oderandern von zwei Leitungen den Stromweg der am Empfangsortaufgestellten Batterie schließt. In jedem dieser Stromwegeliegen auf der gebenden Seite zwei Elektromagnete, auf derEmpfangsstelle ein dritter, welche beim Stromschlußnacheinander in Wirksamkeit treten. Der erste stellt einen Nebenwegzu dem unsichern Zeigerkontakt her und erhöht dadurch dieSicherheit des Ansprechens; der andre schiebt das Sperrrad desGebers um einen Zahn vorwärts, wodurch die Kontaktfedern demZeiger nachgedreht werden, bis dieser wieder frei zwischen beidenspielt; der Elektromagnet auf der Empfangsstelle endlich bewirkt,ebenfalls durch Einwirkung aus ein Sperrrad, daß der Zeigerdes Empfangsapparats eine gleiche Ablenkung erfährt. Infolgeder Bewegung beider Sperrräder wird ein neuer Stromweg durchdie dritte Leitung und den dritten Elektromagnet desEmpfangsapparats geschlossen, dessen Anker beim Anziehendemnächst die Batterieverbindung unterbricht und alleElektromagnete in die Ruhelage zurückführt, so daßbei einem neuen Kontakt des Zeigers nach der einen oder andernSeite das Spiel sich wiederholen kann. Die Telemeterapparateverlangen eine sorgfältige Einstellung, sind aber dann gegenzufällige Erschütterungen unempfindlich. Vgl.Distanzmesser.

Telemssen, Stadt, s. Tlemsen.

Teleologie (v. griech. telos, Ziel, Zweck), "Lehre vonden Zwecken", diejenige Vorstellungsart der Dinge, d. h. der Naturund der sozialen Welt, der zufolge die einzelnen Erscheinungen,Existenzen und Vorgänge auf die in ihnen enthaltenen oder dochvorausgesetzten zweckmäßigen Beziehungen hin betrachtetwerden. Dieselbe wird neuerlich in dem Maß, als die exaktenWissenschaften emporkamen, für unfruchtbar, ja dem Fortschrittdes Wissens hinderlich angesehen. Spinoza (s. d.) bezeichnete dieZwecke, die man in der Natur angetroffen haben wollte, alsmenschliche Hineindichtungen; Bacon (s. d. 3) nannte dieZweckbetrachtung im Gegensatz zu der Erforschung der wirkendenUrsachen eine gottgeweihte Jungfrau, die nichts gebärenkönne. Noch Kant richtete einen Abschnitt seiner "Kritik derUrteilskraft" gegen die Gültigkeit der Zweckvorstellungen.Neuerdings hat man in Anknüpfung an Aristoteles, in dessenPhilosophie die den Naturdingen innewohnenden Zwecke einegroße Rolle spielen, die Wiederherstellung einer Art von T.insofern versucht, als in gewissen Naturerscheinungen, wie imInstinkt (s. d.) und Trieb (s. d.), Zwecke, die von keinemBewußtsein begleitet und also nicht als eigentliche Absichtengedacht werden (immanente Zwecke), anzutreten sein sollen. In dersogen. natürlichen Religion hat die T. sowohl bei denenglischen Deiften als in der deutschen Aufklärungsphilosophiedes Reimarus (s. d.) eine Rolle gespielt; aus der Naturwissenschaftist sie seit Darwin (s. d.), der an die Stelle des Kanons: Es istzweckmäßig, darum ist es, den umgekehrten setzte: Esist, darum ist es zweckmäßig, so gut wieverschwunden.

Teleorman, Kreis in der Großen Walachei, an derDonau, benannt nach dem Fluß T.; HauptstadtTurnu-Magurele.

Teleosaurier, krokodilähnliche Reptilien derJuraperiode.

Teleostei (Knochenfische), Ordnung der Fische (s.d., S.298).

Telepathie (griech., "Fernfühlung,Fernegefühl"), neuerdings in Aufnahme gekommene Bezeichnungfür das angebliche Vermögen einzelner Personen,räumlich oder zeitlich entfernte Vorgänge zu empfinden.Vgl. Gedankenlesen und Zweites Gesicht.

Telephon (griech.), s. Fernsprecher.

Telephorus, s. Schneewürmer.

Telephos, im griech. Mythus ein Arkadier, Sohn desHerakles und der Auge, einer Priesterin der Athene, ward von seinerMutter ausgesetzt, aber von einer Hirschkuh gesäugt und vondem König Korythos erzogen. Beim König Teuthras vonMysien fand er später die Mutter und ward Schwiegersohn undNachfolger des Königs. Als auf dem Zuge gegen Troja dieHellenen Mysien angriffen, besiegte sie T., ward aber dabei vonAchilleus verwundet. Da die Wunde nicht heilen will und das Orakelverkündet, daß sie nur der heilen könne, der siegeschlagen habe, wendet er sich nach Argos, wohin die Griechendurch Sturm zurückverschlagen sind, flüchtet aufKlytämnestras Rat mit dem aus der Wiege geraubten Orestes, demkleinen Sohn des Agamemnon, auf den Hausaltar und droht, das Kindzu töten, wenn ihm keine Hilfe würde, worauf Achilleusmit dem Rost oder den Spänen seiner Lanze die Wunde heilt. VomOrakel als Führer nach Troja bezeichnet, zeigt T. den Griechenden Weg dorthin, weigert sich aber, als Gemahl der Astyoche, einerSchwester des Priamos, an dem Krieg selbst teilzunehmen. T. wurdein Pergamon und besonders von den Königen aus dem Haus desAttalos als Heros verehrt. Auf den in Pergamon jüngstausgegrabenen Reliefs des Zeusaltars ist seine Geschichtedargestellt. Vgl. O. Jahn, T. und Troilos (Kiel 1841 u. Bonn 1859);Pilling, Quomodo Telephi fabulam veteres tractaverint (Halle1886).

Telephotographie, die Reproduktion von Bildern durch denelektrischen Strom in der Ferne. Zuerst 1847 von Bakewell versucht,hat die Ausführung dieser Idee durch Bidwell 1881 praktischeGestaltung erhalten. In den Schließungskreis zweiergalvanischer Batterien, die einander entgegenwirken, ist an dereinen Station eine lichtempfindliche Selenzelle, an der andernStation eine mit befeuchtetem Jodkaliumpapier bedeckteMessingplatte eingeschaltet, aus welcher ein Messingstift schleift.Der Widerstand im Schließungskreis wird durch Rheostate soreguliert, daß kein Strom durchfließt, wenn dieSelenzelle nicht beleuchtet ist. Durch Uhrwerke wird dieMessingplatte mit dem Jodkaliumpapier an dem Stift und ganzentsprechend eine durchsichtige Glasplatte mit dunkeln Zeichnungenan der Selenzelle vorbei bewegt. Geht eine helle Stelle derGlasplatte an der Selenzelle vorbei, so wird unter der Einwirkungdes Lichts ihr Widerstand kleiner, ein der Lichtwirkungentsprechender Strom geht von der Messingspitze, welche alspositive Elektrode dient, durch das Jodkaliumpapier und bringtdurch Abscheidung von Jod eine dunkle Färbung hervor; manerhält also eine negative Kopie der Zeichnung, welche diehellen Stellen des Originals dunkel zeigt.

Telerpeton, s. Eidechsen.

Telesio, Bernardino, ital. Philosoph, geb. 1508 zuCosenza in Kalabrien, gest. 1588 daselbst, nachdem er zu Padua, Romund Neapel gelehrt und an letzterm Orte die noch heute bestehendeAccademia Telesiana der Naturforscher zur Verdrängung derAristotelischen Physik gegründet hatte, hat sich als Gegnerdes Aristoteles und Begründer einer neuen, angeblich aufErfahrung gestützten Naturphilosophie bekannt gemacht. Inderselben führt er (nach Art der griechischenNaturphilosophen) die gesamte Erscheinungswelt auf dreiHauptprinzipien, ein leidendes und körperliches (Materie) undzwei thätige unkörperliche (Wärme und

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Teleskop - Tell.

Kälte), zurück, von welchen das erste, welchesbeweglich ist, den Himmel und die Gestirne, die letztern, welcheunbeweglich sind, die Erde und deren Bewohner, der Kampf zwischenbeiden aber den Ursprung und das Leben aller Dinge, der seelenlosenwie der beseelten, den Menschen inbegriffen, bestimmt. SeineHauptschrift: "De natura", erschien unvollständig Rom 1568,vollständig Neapel 1586, seine übrigen Werke Venedig1590. Vgl. Rixner und Fieber, Leben berühmter Physiker, Heft 3(Sulzb. 1821); Fiorentino, Bernardino T. (Flor. 1872-74, 2Bde.).

Teleskop (griech., "Fernschauer"), s. v. w. Fernrohr,besonders katoptrisches; s. Fernrohr.

Telesphoros (griech., "Vollender"), in der griech.Mythologie der Gott der Genesung, gewöhnlicher Begleiter desAsklepios, neben dem er als kleiner, in einen Mantel gehüllterKnabe erscheint.

Tel est notre plaisir (franz.), "das ist unser Wille","so beliebt es uns", vor der Revolution der gewöhnlicheSchluß in Reskripten und Befehlen der Könige vonFrankreich an ihre Beamten.

Telëuten (Tulungut, weiße Kalmücken, auchKumanelinzen), mongolischer, aber türkisierter,ackerbautreibender Volksstamm im sibir. Gouvernement Tomsk, an derBeja und den Telezker Seen.

Teleutosporen (griech.), eine Art Sporen bei den Pilzen(s. Pilze, S. 66, und Rostpilze).

Telford, Thomas, Ingenieur, geb. 9. Aug. 1757 zu Eskdale(Dumfriesshire), erlernte das Maurerhandwerk, ging 1781 nachEdinburg, 1782 nach London, wo er unter Chambers und Adams weitereStudien machte. Hier lernte er zugleich die Anlagen der Docks undWerften kennen, welche 1787 unter seiner Leitung vollendet wurden.1793 wandte er sich dem Bau von Brücken zu, unter welchen diegewölbten Brücken über den Severn bei Montfort undBewdley sowie über den Dee bei Tongueland und diegußeiserne Brücke von Buildwas hervorzuheben sind. Beidem Bau des Ellesmerekanals (mit den bemerkenswertenAquädukten im Chirkthal und von Pont y Cyssylte) 1793konstruierte T. zuerst gußeiserne Schleusenthore und dannganze Schleusen aus Gußeisen. Noch bedeutender war der T.übertragene Bau des 1823 für die Schiffahrteröffneten Kaledonischen Kanals (s. d.). Auch derMacclesfieldkanal und Birmingham-Liverpool-Junctionkanal sind WerkeTelfords. Unter seinen Hafenbauten sind die von Aberdeen und Dundeedie bedeutendsten. Unter den auswärtigen AufträgenTelfords ist der Plan des zur Verbindung des Wenersees mit derOstsee bestimmten Götakanals in Schweden hervorzuheben. Dasbedeutendste Werk Telfords ist die 1819-26 erbautegroßartige, zur Verbindung der Insel Anglesea mit demFestland von Carnarvon bestimmte Kettenbrücke über dieMenaistraße bei Bangor. Nach demselben System ist die zurgleichen Zeit von ihm ausgeführte Conwaybrücke erbaut. T.starb 1831.

Telfs, Dorf in Tirol, Bezirkshauptmannschaft Innsbruck,in weiter Ebene des Oberinnthals an der Arlbergbahn gelegen, hateine hübsche Pfarrkirche mit Freskomalerei, einBezirksgericht, Franziskanerkloster, Bierbrauerei,Baumwollspinnerei, Tuch- und mechanische Leinweberei und (1880)2261 Einw.

Telgte, Stadt im preuß. Regierungsbezirk undLandkreis Münster, an der Ems, zwischen ausgedehnten Heiden,56 m ü. M., hat eine kath. Kirche mit wunderthätigemMarienbild, eine Privatirrenanstalt (Rochushospiz), Wollspinnereiund Wollwarenfabrikation, Bierbrauerei, Mahl-, Walk-, Öl- undSägemühlen und (1885) 2271 Einw. T. ist seit 1238Stadt.

Telinga, ein zu den Drawida (s. d.) gehörigerVolksstamm in Ostindien, dessen Sprache das Telugu (s. d.), vonältern Reisenden auch Gentoo ("Heidensprache") genannt,ist.

Teliosádik (v. griech. telos, "Vollendung"), dasvollkommenste Zahlensystem, nämlich das duodezimale mit derGrundzahl 12, dessen Verbreitung und gesetzliche EinführungJoh. Friedrich Werneburg (geb. 1777 zu Eisenach, gest. 1851 alsProfessor in Jena) in seiner gleichnamigen Schrift (Leipz. 1800)"jedem redlichen Mann, ja jeder gebildeten, vernünftigenRegierung zur Pflicht" gemacht hat.

Tell, das (arab.), das fruchtbare, den Getreidebaugestattende Land am Atlas in Nordwestafrika, im Gegensatz zu derunfruchtbaren Sahara. Das T. hat von Marokko bis Biskra in Algerieneine fast durchgehends gleiche Breite von etwa 190 km.

Tell, Wilhelm, der besonders durch Schillers Dichtungverherrlichte Held der Schweizersage, angeblich ein Landmann ausBürglen im Kanton Uri, Schwiegersohn Walther Fürsts vonUri. Als er 18. Nov. 1307 dem vom Landvogt Geßler zu Altorfals Zeichen der österreichischen Hoheit aufgesteckten Hute diebefohlene Reverenz nicht erwies, gebot ihm der Vogt alsberühmtem Armbrustschützen, einen Apfel von dem Hauptseines Söhnleins zu schießen. Auf die Drohung, das Kindmüsse sonst mit ihm sterben, that T. den Schuß und trafden Apfel. Als er aber auf die Frage nach dem Zweck des zweitenPfeils, den er zu sich gesteckt hatte, antwortete, daßderselbe, wenn er sein Kind getroffen, für den Vogt bestimmtgewesen, befahl dieser, ihn gefesselt auf seine Burg nachKüßnacht überzuführen. Auf demVierwaldstätter See aber brachte ein Sturm das Fahrzeug inGefahr, und T. ward seiner Fesseln entledigt, um dasselbe zulenken. Geschickt wußte er das Schiff gegen das Ufer, wo derAxenberg sich erhebt, zu treiben, sprang dort vom Bord auf einehervorragende Felsplatte, welche noch jetzt die Tellsplatteheißt, eilte darauf über das Gebirge nachKüßnacht zu, erwartete den Vogt in einem Hohlweg, HohleGasse genannt, und erschoß ihn aus sicherm Versteck mit derArmbrust. Von Tells weitern Lebensschicksalen wird nur nochberichtet, daß er 1315 in der Schlacht bei Morgarten mitgefochten und 1354 in dem Schächenbach beim Versuch derRettung eines Kindes den Tod gefunden habe. Nachdem schon derFreiburger Guillimann 1607, dann die Baseler Christian und IsaakIselin, der Berner Pfarrer Freudenberger 1752 sowie Voltaire("Annales de l'Empire") die Geschichte Tells als Fabel bezeichnethatten, ist in neuerer Zeit durch die Forschungen Kopps (s. d.) u.a. in unzweifelhafter Weise aufgezeigt worden, daß dieselbe,wie überhaupt die gewöhnliche Tradition von der Befreiungder Waldstätte, einerseits im Widerspruch mit der urkundlichbeglaubigten Geschichte (s. Schweiz, S. 757) steht, und daßsie anderseits in keinen zeitgenössischen oder der Zeitnäher stehenden Quellen mit irgend einer Silbe erwähntwird. Erst gegen Ende des 15. Jahrh. taucht die Tellsage auf undzwar in zwei Versionen. Die eine, repräsentiert durch ein um1470 entstandenes Volkslied, die 1482-88 geschriebene Chronik desLuzerners Melchior Ruß, ein 1512 in Uri verfaßtesVolksschauspiel u. a., erblickt in T. den Haupturheber derBefreiung und Stifter des Bundes; die andre, die zuerst in dem um1470 geschriebenen anonymen "Weißen Buch" zu Sarnen, dann inder 1507 gedruckten Chronik des Luzerners Etterlin erscheint, gibtTells Geschichte nur als zufällige Episode und schreibt dieVerschwörung

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Tell el Kebir - Tellereisen.

vornehmlich den Stauffacher zu. Erst Tschudi (s. d.) hat diebeiden Traditionen zu der stehend gewordenen Gesamtsageverknüpft, die dann im Lauf der Jahrhunderte noch mancherleiZusätze bekam und durch J. v. Müller und SchillerGemeingut geworden ist. Die sogen. Tellskapellen auf derTellsplatte, in Bürglen, in der Hohlen Gasse stammensämtlich erst aus dem 16. Jahrh. und sind zum Teilnachweislich zu Ehren von Kirchenheiligen gestiftet worden. In Uriließ sich keine Familie T. ermitteln; die Erkenntnisse derUrnerlandsgemeinden von 1387 und 1388, welche Tells Existenzbezeugen sollten, sowie die den Namen "Tello" und "Täll"enthaltenden Totenregister und Jahrzeitbücher von Schaddorfund Attinghausen sind als Erdichtungen und Fälschungennachgewiesen. Die Sage vom Apfelschuß ist ein uralterindogermanischer Mythus, welcher in anderm Gewand auch in derpersischen, dänischen, norwegischen und isländischenHeldensage, in welch letzterer der Held Eigil genannt wird, vondessen Sohn, König Orentel, T. vielleicht den Namen erhaltenhat, vorkommt und in der Schweiz von den Chronisten des 15. Jahrh.zur Ausschmückung der Befreiungssage verwendet worden ist.Vgl. Häusser, Die Sage vom T. (Heidelb. 1840); Huber, DieWaldstätte (mit einem Anhang über die geschichtlicheBedeutung des Wilhelm T., Innsbr. 1861); Liebenau, Die Tellsage(Aarau 1864); W. Vischer, Die Sage von der Befreiung derWaldstädte (Leipz. 1867); Rilliet, Der Ursprung der SchweizerEidgenossenschaft (deutsch, 2. Aufl., Aarau 1873);Hungerbühler, Étude critique sur les traditionsrelatives aux origines de la Confédération suisse(Genf 1869); Meyer v. Knonau, Die Sage von der Befreiung derWaldstätte (Basel 1873); Rochholz, T. und Geßler in Sageund Geschichte (Heilbr. 1876); Derselbe, Die Aargauer Geßlerin Urkunden (das. 1877).

Tell el Kebir (Gasassin), ägypt. Dorf, an derEisenbahn von Ismailia nach Zagazig und amSüßwasserkanal, bei dem die Engländer unterWolseley 13. Sept. 1882 das Heer Arabi Paschas vernichteten.

Teller kommen bei den german. Völkern schon in denältesten Zeiten vor und zwar aus Thon wie aus Metall undHolz; doch wurden anfangs die Speisen darin bloß aufgetragen,worauf jeder Tischgenosse sein Stück Fleisch auf eineBrotschnitte gelegt erhielt, das er mit dem Messer dannzerkleinerte. Erst im 12. Jahrh. fing man an, den Gästen nochbesondere T. vorzusetzen und zwar anfänglich je einen fürzwei Tischgenossen; dieselben waren bei den Wohlhabenden von Zinnoder von Silber, im übrigen von gleicher Form wie dieunsern.

Teller, Wilhelm Abraham, protest. Theolog, geb. 9. Jan.1734 zu Leipzig, ward 1755 Katechet an der Peterskirche daselbst,1761 Professor der Theologie und Generalsuperintendent inHelmstädt, 1767 Oberkonsistorialrat und Propst an derPeterskirche zu Berlin, als welcher er auch unter dem MinisteriumWöllner die unerschütterliche Säule desRationalismus bildete. Seit 1786 Mitglied der Akademie, starb er 9.Dez. 1804. Von seinen Schriften sind hervorzuheben: das "Lehrbuchdes christlichen Glaubens" (Halle 1764) und das "Wörterbuchdes Neuen Testaments" (Berl. 1772, 6. Aufl. 1805).

Tellereisen (Tritteisen), Fangeisen, an welchem einrundliches, tellerförmiges, in einem Kranz b b (Fig. 1)befestigtes Brett (Teller c) die Bügel a auseinanderhält, indem es zwischen dieselben mittels der Stellhakeneingeklemmt wird. Sobald das Wild auf den Teller tritt, wird dieserheruntergedrückt, und zugleich schlagen die Bügel durchdie Triebkraft einer mit ihnen in Verbindung stehenden Feder dzusammen. Das Wild wird dadurch an dem den Tellerniederdrückenden Lauf gefaßt und dieser zwischen denBügeln festgeklemmt. Der Anker an der Kette e hindert dasEntkommen des gefangenen Wildes. Man hat auch Eisen, an welchen dervon Eisenblech gefertigte Teller in der Mitte getrennt, durchbewegliche Scharniere zusammengehalten wird (Eisen mit gebrochenemTeller), so daß beim Auftreten dieser in der Mitte nach untenzusammenklappt und dadurch das Zuschlagen der Bügel bewirkt.Man verwendet die T. zum Fang von Wölfen, Dachsen,Füchsen, Ottern, Mardern und kleinem Raubzeug sowie vonRaubvögeln und fertigt sie dazu in sehr verschiedenerGröße. Man legt die T. entweder auf den Wechsel desWildes, auf den Eingang zum Bau, auf den Absprung des Marders undden Ausstieg des Fischotters (s. d.) gut verdeckt in die Erdegebettet und braucht dann keine Kirrbrocken. Andernfalls

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Tellerrot - Tellur.

legt man, nachdem das Wild dadurch vorher angekirrt ist, solcheaus und bindet den Fangbrocken auf den Teller, lockt auch durcheine Schleppe (s. d.) das Raubtier an den Fangplatz. FürMarder bindet man ein Ei auf den Teller oder hängt einen Vogeldarüber. Um Raubvögel zu fangen, hat der Teller einekonische Form und wird auf einem in Feld- oder Wiesenstückeeingeschlagenen Pfahl befestigt (Fig. 2 u. 3), weil sich dieselbenzur Beobachtung der Umgegend gern hierauf niederzulassen(aufzuhacken) pflegen. Bei Frostwetter ist der Fang unsicher, weilder Teller festfriert und die Bügel am Losschlagen hindert.Oft beißen sich auch die gefangenen Tiere, wenn der Knochendurchgeschlagen ist, den Lauf ab und entkommen. Vgl. v. d. Bosch,Fang des einheimischen Raubzeugs (Berl. 1879).

Tellerrot (Tassenrot), s. Safflor.

Tellerschnecke, s. Lungenschnecken und Planorbismultiformis.

Tellez (spr. telljeds), Gabriel, genannt Tirso de Molina,berühmter span. Dramatiker, von dessen Lebensumständennur wenig bekannt ist. Er war um 1585 zu Madrid geboren, trat nochvor 1613 in den Orden der Barmherzigen Brüder zu Toledo undbekleidete nach und nach die wichtigsten Stellen in demselben. 1645wurde er Prior des Klosters Soria und soll als solcher 1648gestorben sein. T. gehört zu den größtendramatischen Dichtern Spaniens und nimmt seinen Platz unmittelbarneben Lope und Calderon ein. Seine Stücke sind teilsSchauspiele (Comedias), teils Zwischenspiele und Autossacramentales (im ganzen ursprünglich gegen 300, von denenjedoch nur der kleinste Teil erhalten ist); sie zeichnen sich durchungemeine Originalität und Mannigfaltigkeit der Erfindung,Kühnheit des Plans, meisterhafte Charakterzeichnung undhochpoetische Diktion aus. Besonders hervorragend ist T. in seinenLustspielen, von denen mehrere sich bis auf den heutigen Tag aufder spanischen Bühne erhalten haben. Zu denvorzüglichsten derselben gehören: "Don Gil de las calzasverdes" (deutsch in Dohrns "Spanischen Dramen", Bd. 1, Berl. 1841),"La celosa de si misma", "La villana de Vallecas". "No hay peorsordo que el que no quiere oir", "Marta la piadosa" (deutsch inRapps "Spanischem Theater", Bd. 5, Hildburgh. 1870), die genialeFarce "El amor medico" u. a. Von den ernstern Stücken sindbesonders das hochtragische "Escarmientos para el cuerdo", dasgroßartige "La prudencia en la mujer", dasmystisch-asketische Drama "El condenado por desconfiado" und der"Burlador de Sevilla o el convidado de piedra" (franz. bearbeitetvon Molière; deutsch bei Dohrn, Bd. 1, und bei Rapp, Bd. 5),als die erste dramatische Bearbeitung der Don Juan-Sage,hervorzuheben. Eine erste (jetzt sehr seltene) Sammlung von T.'Stücken erschien in 5 Bänden Madrid und Tortosa 1631-36;andre sind einzeln gedruckt und mehrere noch handschriftlichvorhanden. Eine neuere Ausgabe der "Comedias" besorgte Hartzenbusch(Madr. 1839-42, 12 Bde.; Auswahl in der "Biblioteca de autoresespañoles", Bd. 5, das. 1850). Die "Autos" von T. findensich in der unter seinem wahren Namen herausgegebenen Mischsammlung"Deleytar a provechando" (Madr. 1635; das. 1775, 2 Bde.).

Tellkampf, Johann Ludwig, Nationalökonom, geb. 28.Jan. 1808 zu Bückeburg, studierte in Göttingen, woselbster sich 1835 als Dozent niederließ, ging 1838 infolge desUmsturzes der hannöverschen Verfassung nach Amerika undbekleidete hier bis 1846 die Professur der Staatswissenschaftenerst am Union College, dann am Columbia College in New York undschrieb außer verschiedenen handelspolitischen Abhandlungeneine Schrift: "Über die Besserungsgefängnisse inNordamerika und England" (Berl. 1844). Im Auftrag derpreußischen Regierung, welche ihn schon zu einer Beratungüber Gefängnisreform hinzugezogen hatte, studierte er1846 das Gefängniswesen in England, Frankreich und Nordamerikaund wurde in demselben Jahr zum Professor der Nationalökonomiein Breslau ernannt. 1848 gehörte T. demVerfassungsausschuß des Frankfurter Parlaments an, 1849-51war er Mitglied der preußischen Zweiten Kammer, seit 1855 aufPräsentation der Universität Breslau Mitglied despreußischen Herrenhauses, wo er zur liberalen Minoritätgehörte. Im Reichstag, dem er seit 1871 angehörte,zählte er zur national-liberalen Fraktion. Er starb 15. Febr.1876. Von seinen zahlreichen Schriften sind zu nennen:"Beiträge zur Nationalökonomie und Handelspolitik"(Leipz. 1851-53, 2 Hefte); "Der Norddeutsche Bund und dieVerfassung des Deutschen Reichs" (Berl. 1866); "Die Prinzipien desGeld- und Bankwesens" (das. 1867); "Essays on law reform,commercial policy, banks, penitentiaries etc." (Lond. 1857; 2.Aufl., Berl. 1875); "Selbstverwaltung und Reform der Gemeinde- undKreisordnungen in Preußen und Selfgovernment in England undNordamerika" (das. 1872). Mit Bergius übersetzte erMacCullochs "Geld u. Banken" (Lpz. 1859).

Tellskapelle, eine der Lokalitäten, die mit derUrgeschichte der vier schweizerischen Waldstätte in Verbindunggebracht sind. Hierher versetzt nämlich die Tradition jenenMoment, wo der von dem Landvogt Geßler gebundene Tell, alsder Sturm alle Schiffsleute verzagen ließ, seiner Bande loswurde, das Fahrzeug sicher nach einem Felsvorsprung hinleitete und,mit seiner Armbrust bewaffnet, dem Schiff entsprang (1307). DieKapelle wurde 1880 von neuem erbaut und von Stückelberg mitFresken geschmückt. Der Ort ist eine der Dampfschiffstationendes Vierwaldstätter Sees. Eine zweite T. befindet sich inBürglen neben dem Hotel "Wilhelm Tell", eine dritte in derHohlen Gasse, zwischen Arth und Küßnacht.

Tellur Te, chemisch einfacher Körper, findet sich ingeringen Mengen gediegen bei Valathna in Siebenbürgen,gewöhnlich mit Metallen verbunden, z. B. mit Gold alsSchrifttellur, mit Silber als Weißtellur, mit Wismut undSchwefel als Tetradymit und mit Blei, Antimon und Schwefel alsBlättererz. Einige dieser Mineralien werden auf Silber undGold verhüttet. Zur Gewinnung des Tellurs zieht man Tellurgoldoder Tellursilber mit warmer Salzsäure aus, behandelt denRückstand mit Königswasser, fällt aus der klarenLösung das Gold durch Eisenvitriol und nach dem Filtrieren dasT. durch schweflige Säure. Es ist silberweiß,glänzend, blätterig-kristallinisch, spröde, Atomgew.127,7, spez. Gew. 6,24, schmilzt so leicht wie Antimon, istflüchtig, verbrennt an der Luft zu farblosem,kristallinischem, wenig in Wasser löslichemTellurigsäureanhydrid TeO2 unter Verbreitung eineseigentümlichen, schwach säuerlichen Geruchs, löstsich mit roter Farbe in heißer Kalilauge zu Tellurkalium undtellurigsaurem Kali, scheidet sich aber beim Erkalten derLösung wieder vollständig aus, wird von konzentrierterSchwefelsäure und Salpetersäure zu farbloser, erdiger,scharf metallisch schmeckender telluriger Säure H2TeO3 und vonschmelzendem Salpeter zu farbloser, kristallinischer, metallischschmeckender Tellursäure H2TeO4 oxydiert. Es verbindet sichdirekt mit den Haloiden, mit Schwefel und vielen Metallen, istzweiwertig und in

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Tellurblei - Temes.

seinem chemischen Verhalten dem Schwefel und Selen ähnlich.Das gediegene T. wurde von den alten Metallurgen Aurum paradoxum,Metallum problematicum genannt, Klaproth erkannte es 1798 als neuesElement, und Berzelius studierte es 1832 genauer, stellte es aberzu den Metallen.

Tellurblei (Altait), seltenes, regulärkristallisierendes, zinnweißes Mineral aus der Ordnung dereinfachen Sulfuride, besteht aus Blei und Tellur PbTe mit 38,21Tellur und etwas Silber, findet sich am Altai, in Kalifornien,Colorado und Chile.

Tellurisch (lat.), was sich auf die Erde (tellus)bezieht, von dieser abstammt; daher tellurische Einflüsse,Einwirkung der Erde auf den menschlichen Körper alsKrankheitsursache etc.

Tellurismus (lat.), s. Magnetische Kuren.

Tellurit (Tellurocker), Mineral, natürlichvorkommendes Anhydrid der tellurigen Säure, TeO2,äußerst selten mit gediegenem Tellur in Quarz aufeinigen siebenbürgischen Gruben, auch mit andern Tellurerzenin Colorado vorkommend.

Tellurium (lat.), Maschine zur Versinnlichung der bei dertäglichen Rotation und dem jährlichen Umlauf der Erde umdie Sonne eintretenden Erscheinungen, besonders des durch denParallelismus der Erdachse bedingten Wechsels der Jahreszeiten.Vgl. Wittsack, Das T. (2. Aufl., Berl. 1875).

Tellus ("Erde"), die italische Gottheit dermütterlichen Erde, daher auch oft T. mater genannt, entsprichtder griech. Gäa (s. d.). Man rief sie bei Erdbeben an (wiedenn ihr Tempel in Rom, am Abhang des vornehmen Quartiers derCarinen gelegen, 268 v. Chr. infolge eines Erdbebens im Kriegegelobt worden war), bei feierlichen Eiden zusammen mit demHimmelsgott Jupiter, als das allgemeine Grab der Dinge neben denManen. Wie die griechische Demeter, galt sie auch als Göttinder Ordnung der Ehe, insbesondere aber verehrte man sie vielfach inVerbindung mit Ceres als Göttin der Erdfruchtbarkeit. Sogalten ihr die im Januar am Beschluß der Winteraussaat vomPontifex an zwei aufeinander folgenden Markttagen angesetzteSaatfeier (feriae sem*ntivae) und die gleichzeitig auf dem Landgefeierten Paganalien, bei denen ihr mit Ceres ein trächtigesSchwein geopfert wurde, ferner das am 15. April für dieFruchtbarkeit des Jahrs teils auf dem Kapitol, teils in den 30Kurien, teils außerhalb der Stadt unter Beteiligung derPontifices und der Vestalinnen begangene Fest der Fordicidien oderHordicidien, bei denen ihr trächtige Kühe (fordae)geopfert wurden; die Asche der ungebornen Kälber verwahrtendie Vestalinnen bis zum Feste der Palilien (s. Pales), an welchemsie als Reinigungsmittel verwendet wurde. Neben der weiblichenGottheit verehrte man auch einen Gott Tellumo. Vgl. Stark, DeTellure dea (Jena 1848).

Telmann, Konrad, Pseudonym, s. Zitelmann.

Telmessos (Telmissos), im Altertum Hafenstadt an derWestküste von Lykien, nahe der Grenze von Karien, als Sitz vonWahrsagern berühmt. Ruinen beim heutigen Makri (s. Tafel"Baukunst II", Fig. 14).

Telpherage (spr. téllferidsch, Telpher), vonFleeming Jenkin erfundene elektrische Eisenbahn, bei welcher dieWagen wie bei der Seilbahn an Stahldrahtseilen hängend sichfortbewegen. Die zwei Seile sind an jeder Tragsäule übersKreuz stromleitend miteinander verbunden. Die Säulen stehen je20 m voneinander entfernt, und jeder Zug besteht aus Lokomotive undzehn Kasten im Gesamtgewicht von 570 und mit einer Tragkraft von1400 kg. Eine Versuchsbahn wurde 1883 zu Weston bei Hitchin inEngland gebaut, eine größere Anlage 1885 zu Glynde inder Grafschaft Sussex.

Tel-pos (Töll-pos), Berg des nördlichen sogen.Wüsten Urals im russ. Gouvernement Wologda, gipfelt in zweiPiks (1687 und 1640 m hoch). Auf der höchsten Terrassebefindet sich ein See, aus dem ein breiter Bachhinabstürzt.

Telschi (lit. Telszei), Kreisstadt im litauisch-russ.Gouvernement Kowno, am See Mastis, hat 2 Synagogen, einegriechisch-russ. Kirche, eine Adelsschule, eine hebräischeKreisschule, Handel mit Getreide und Leinsaat und (1886) 11,393Einw.

Teltow, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Potsdam,mit Berlin durch eine Dampfstraßenbahn verbunden, hat eineevang. Kirche, berühmten Rübenbau (Teltower Rüben)und (1885) 2667 Einw. T. wird zuerst 1232 urkundlich erwähnt.Der Kreis T. hat Berlin zur Kreisstadt.

Teltower Rübe, s. Raps.

Teltsch, Stadt in der mähr. BezirkshauptmannschaftDatschitz, nahe am Ursprung der Thaya, hat ein Bezirksgericht, einaltes Schloß, eine gotische Dekanats- und 5 andre Kirchen,eine Landesoberrealschule, eine Dampfmühle,Schneidemühle, Spiritusbrennerei, Tuchmacherei, Flachsbau und(1880) 5116 Einw.

Telugu, Sprache des zu den Drawida (s. d.) gehörigenVolkes der Telinga in Ostindien, an der Ostküste des Dekhanvon Orissa südwärts bis beinahe Madras von ca. 20 Mill.Menschen gesprochen. Die eigentümliche Teluguschrift ist ausdem alten Sanskritalphabet abgeleitet, und die mindestens bis ins12. Jahrh. v. Chr. zurückreichende, nicht unbedeutende, abernoch wenig gekannte Litteratur besteht ebenfalls zumeist inÜbersetzungen von und Kommentaren zu bekannten Sanskritwerken.Bearbeitet wurde das T. am besten durch Brown ("T. grammar", Madras1858; "T. dictionary", das. 1852-53, 2 Bde.); neuere Grammatikenlieferten Arden (Lond. 1873) und Morris (das. 1889).

Telut, Insel, s. Jaluit.

Telyu, die cymbrische Harfe, s. Harfe.

Tem., bei naturwissenschaftl. Namen Abkürzungfür J. E. Temminck, geb. 1778, gest. 1858 in Leiden(Vögel, Säugetiere).

Temascaltepec, Stadt im mexikan. Staat Mexiko, 30 kmsüdwestlich von Toluca, in tiefem Thal, hat Webereigroßer Baumwolltücher, verlassene Bergwerke und (1880)10,267 Einw. (im Munizipium).

Tembek, eine in Persien erzeugte Sorte Tabak, welche nuraus der Wasserpfeife geraucht wird.

Tembuland, Dependenz des brit. Kaplandes, an derSüdostküste zwischen den Flüssen Bashee und Umtata,10,502 qkm (191 QM.) groß mit (1885) 122,638 Einw., worunter8320 Weiße.

Temen, Getreidemaß, s. Ueba.

Temenos (griech.), geweihter Tempelbezirk.

Temes (spr. témesch, bei den Alten Tibiscus),Fluß in Ungarn, entspringt im Banater Gebirge, fließtmeist durch ein enges Gebirgsthal, tritt bei Lugos in dieungarische Tiefebene, fließt hier in einem großen,gegen S. geöffneten Bogen in südwestlicher Richtung undmündet bei Pancsova in die Donau. Ihr Lauf beträgt 430km. Anfangs wird sie bloß zum Holzflößen, vonTomaschevatz an auch zur Schiffahrt benutzt. Sie nimmt links dieBogonicz und Berzava, rechts die Bistra und Bega auf und speist denBegakanal. - Das ungar. Komitat T. längs der Maros undTheiß grenzt im W. an das Komitat Torontál,

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Temesvar - Tempe.

im N. an Arad, im O. an Krassó-Szörény und imS. an Serbien, umfaßt 7136 qkm (129,6 QM.) mit (1881) 396,045Einw. (meist Rumänen und Serben), ist fast durchaus eben, wirdan der Nordgrenze von der Maros, im Innern von der Berzava, der T.,dem Krassó und der Nera, an der Südgrenze von der Donaubewässert, hat viele Sümpfe, ein heißes, teilweiseungesundes Klima, aber sehr fruchtbaren Boden. Getreide und Obstwerden in Fülle gewonnen. Vieh-, Seidenraupen- und Bienenzuchtblühen. Das Komitat wird von den Bahnlinien Arad-Bazias undSzegedin-Orsova durchschnitten. Sitz desselben ist Temesvár.Hervorragend ist die Mühlenindustrie (259 Mühlen miteiner Jahresproduktion von 1,644,000 metr. Ztr. Mehl).

Temesvár (spr. témeschwar), königlicheFreistadt und Festung im ungar. Komitat Temes und Knotenpunkt derÖsterreichisch-Ungarischen Staatsbahnlinien Wien-Orsova undT.-Bazias sowie der Arad-Temesvárer Bahn, liegt am Begakanalin sumpfiger Gegend, besteht aus der von breiten Glacis- undParkanlagen (Stadtpark und Scudierpark) umgebenen Festung (innereStadt) und vier Vorstädten. Die Stadt T., welche 13 Kirchen, 4Klöster und 3 Synagogen besitzt, hat hübscheStraßen, große Plätze und schöneöffentliche und Privatbauten, viele Kasernen und elektrischeBeleuchtung. Nennenswert sind die beiden Kathedralen sowie dasKomitatshaus am Losonczyplatz (daselbst steht eineMariensäule), das alte Schloß Joh. Hunyadys (jetztZeughaus), ferner das Rathaus und die Militärgebäude amPrinz Eugen-Platz, wo sich eine 1852 zur Erinnerung an dieVerteidigung Temesvárs errichtete 20 m hohe gotischeSpitzsäule (von Max) erhebt, das Dikasterialgebäude, dasTheater, die neue Synagoge und die Staatsoberrealschule etc. DieEinwohner (1881: 33,694) sind Deutsche, Rumänen, Serben undUngarn und betreiben lebhaften Handel und zahlreiche Gewerbe. T.hat eine bedeutende Fabrikindustrie: 1 königlicheTabaksfabrik, 3 Dampfmühlen (darunter die Elisabeth- undPannoniamühle mit 200,000 und 100,000 metr. Ztr.Jahresproduktion), 4 große Spiritusfabriken und -Raffinerien,ein großes Brauhaus; ferner Fabriken für Tuch, Papier,Leder, Wolle, Soda, Öl etc., eine Dampfsäge- und vieleWassermühlen am Begakanal; endlich besitzt T. einObergymnasium, eine Oberreal- und eine höhereMädchenschule, eine Handelsschule, mehrere Spitäler, 2Waisenhäuser, eine Handels- und Gewerbekammer, eine Filialeder Österreichisch-Ungarischen Bank, ein südungarischesMuseum und einen Tramway, welcher den Verkehr zwischen der Festungund den Vorstädten vermittelt. T. ist Sitz des Komitats, desCsanáder römisch-katholischen und einesgriechisch-orientalischen (serbisch-rumänischen) Bischofs,eines General- und Festungskommandos, eines Gerichtshofs, einerFinanzdirektion und sonstiger Behörden. - T. ist das Zambarader Römer. Unter der Avarenherrschaft hieß es Beguey;unter der ungarischen war es Sitz eigner Grafen und unter demungarischen König Karl Robert eine so blühende Stadt,daß derselbe 1316 fein Hoflager hierher verlegte. 1443erbaute Hunyady das Schloß; 1552 ward T. von den Türkenerobert, 1716 durch den Prinzen Eugen vom türkischen Jochbefreit. Damals wurde die jetzige Festung angelegt, die alte Stadtgrößtenteils niedergerissen und nach einem neuen Planwieder aufgebaut. 1781 ward T. zur königlichen Freistadterhoben. 1849 ward es vom ungarischen General Grafen Vecsey seit25. April belagert, aber durch den Sieg Haynaus über Bem undDembinski (9. Aug.) entsetzt. Vgl. Preyer, Monographie derköniglichen Freistadt T. (Temesv. 1853).

Temir-Chan Schura, Gebietsstadt im Gebiet Daghestan derruss. Statthalterschast Kaukasien, 466 m ü. M., in ungesunderGegend, stark befestigt, mit (1879) 4650 Einw.; von alters herberühmt durch seine ausgezeichneten Dolche und Säbel.

Temme, Jodocus Donatus Hubertus, deutscherRechtsgelehrter und belletristischer Schriststeller, geb. 22. Okt.1798 zu Lette in Westfalen, studierte zu Münster undGöttingen die Rechte, besuchte dann als Erzieher eines Prinzenvon Bentheim-Tecklenburg noch Heidelberg, Bonn, Marburg, bekleideteseit 1832 verschiedene richterliche Ämter, ward 1839 Direktordes Stadt- und Landgerichts zu Berlin, 1844 nach Tilsit versetztund wurde 1848 Oberlandesgerichtsdirektor zu Münster. Ersaß in der preußischen wie in der deutschenNationalversammlung auf der äußersten Linken und ward1849 wegen selner Teilnahme an den Stuttgarter Beschlüssen ineinen Hochverratsprozeß verwickelt, zwar nach neunmonatlicherHaft vom Schwurgericht freigesprochen, aber im Disziplinarweg 1851aus dem Staatsdienst entlassen. Vgl. "Die Prozesse gegen J. T."(Braunschw. 1851). Von 1851 bis 1852 redigierte er die "NeueOderzeitung" in Breslau, 1852 folgte er einem Ruf als Professor desKriminalrechts nach Zürich, wo er 14. Nov. 1881 starb. Vonseinen juristischen Werken sind hervorzuheben: "Lehrbuch despreußischen Zivilrechts" (2. Aufl., Leipz. 1846, 2 Bde.);"Lehrbuch des preußischen Strafrechts" (Beri. 1853); "Archivfür die strafrechtlichen Entscheidungen der oberstenGerichtshöfe Deutschlands" (Erlang. 1854-59, 6 Bde.);"Lehrbuch des schweizerischen Strafrechts" (Aarau 1855); "Lehrbuchdes gemeinen deutschen Strafrechts" (Stuttg. 1876). Daneben trat ermit Glück als Novellist auf und entwickelte besonders im Fachder Kriminalnovelle eine ungewöhnliche Produktivität.Vgl. seine "Erinnerungen" (hrsg. von Born, Leipz. 1882).

Temne (Timmene), Negerstamm in Westafrika, amRokellefluß in Sierra Leone. Die Sprache der T., grammatischdargestellt von Schlenker (Lond. 1864), ist nahe verwandt mit derdes benachbarten kleinen Stammes der Bullom (grammatisch undlexikalisch bearbeitet von Nyländer, das. 1814); nach Bleekund Lepsius steht sie auch zu dem großensüdafrikanischen Bantusprachstamm (s. Bantu) inBeziehungen.

Temnikow, Kreisstadt im russ. Gouvernement Tambow, an derMokscha, hat 8 griechisch-russ. Kirchen, Gußeisen- u.Fayencefabriken u. (1885) 7107 Einw.

Tempe ("die Einschnitte"), von den alten Dichternvielfach gefeiertes, 100-2000 Schritt breites, etwa 10 km langes,vom Peneios durchströmtes Felsenthal mit üppigerVegetation zwischen dem Ossa und dem Olympos in Thessalien. Wo derPeneios das Gebirge durchbricht, rücken die Berge sehr nahezusammen; weiterhin öffnet sich stellenweise das Thal, sodaß der Fluß in Windungen sanft hindurchströmt;aber in der Nähe des Meers bilden die Felsen eine enge, wildeSchlucht, um dann ganz am Meer wieder auseinander zu treten. DieStraße, zum Teil in den Felsen gehauen, liegt am rechtenUfer. Das Thal war einer der wichtigsten PässeNordgriechenlands. Philipp von Makedonien ließ am EingangKastelle errichten, die nach ihm verfielen, von den Römernaber wiederhergestellt wurden. Noch jetzt sind Trümmer einesKastells auf dem rechten Peneiosufer vorhanden. Im Passe selbststand ein hochheiliger Altar des Apollon, unweit des Meers einsolcher des Poseidon Peträos, als dessen Werk die Thalspaltean-

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Tempel (kunstgeschichtlich).

gesehen wurde. Vgl. Kriegk, Das thessalische T. (Leipz.1835).

Tempel (v. lat. templum), bei den Völkern desAltertums ein der Gottheit geweihter Bezirk, dann das auf demselbenstehende Gebäude, zur Aufnahme der Götterbilder, desAltars und der Priester, aber nur selten des Volkes bestimmt. ImInnern des eigentlichen Tempelhauses oder der Zelle (cella) standdie Bildsäule oder das Bild der Gottheit, welcher der T.gewidmet war, auf einem Postament an der dem Einganggegenüberliegenden Mauer, vor ihm ein entweder runder oderviereckiger Opfer- und Betaltar. Die Decke bestand aus Holz, seltenaus Stein und war gewöhnlich eben, später bisweilen auchgewölbt. Der Fußboden war anfangs aus Steinplatten,später aus Mosaik hergestellt. Die Säulen des Portikusschmückte man oft mit erbeuteten feindlichen Schilden. Stufenhatten die griechischen T. in der Regel, und zwar liefen sie stetsringsherum. Der dadurch geschaffene Stufenunterbau hießKrepidoma. Der Platz um den T., soweit er der Gottheit geweiht war,hieß Peribolus. Mit einer Mauer umgeben, enthielt erAltäre, Statuen, Monumente aller Art. Über die T. deralten Ägypter s.Baukunst, S. 482, und über die der Inders. Höhlentempel. Die Hebräer besaßen nur eineneinzigen T., den berühmten T. zu Jerusalem, ihrNationalheiligtum. Der erste T. (Salomonischer T.), von Salomo seit990 v. Chr. auf dem Berg Moria mit Hilfe phönikischer Meistererrichtet, war ein steinernes Gebäude von 60 Ellen Länge,20 Ellen Breite und 30 Ellen Höhe, an drei Seiten mitSeitenzimmern umgeben, welche, in drei Stockwerkenübereinander, zur Bewahrung der Schätze undGerätschaften des Tempels dienten, an der vordern Seite abermit einer 10 Ellen breiten Vorhalle geziert, welche von zweiehernen Säulen, Jachin und Boas ("Festigkeit undStärke"), getragen wurde. Das Innere enthielt einen 40 Ellenlangen Vorderraum, das Heilige, worin die goldenen Leuchter, derSchaubrottisch und der Räucheraltar standen, und einen durcheinen Vorhang davon geschiedenen Hinterraum von 20 EllenLänge, das Allerheiligste, mit der Bundeslade. BeideRäume waren an den Wänden, das Allerheiligste (Adyton)auch am Boden und an der Decke mit Holzwerk getäfelt.Letzteres war nur dem Hohenpriester, das Heilige nur den Priesternzugänglich. Das Tempelgebäude war von einem innern Vorhofder Priester mit dem Brandopferaltar, dem Reinigungsbecken undandern Gerätschaften umgeben und dieser durchSäulengänge mit ehernen Thoren von dem für das Volkbestimmten und von einer Mauer umschlossenen äußernVorhof geschieden. Nachdem er 586 durch Nebukadnezar zerstörtworden war, erhob sich an seiner Stelle nach der Rückkehr derJuden aus der Babylonischen Gefangenschaft der zweite, nachSerubabel gekannte T., der wahrscheinlich wie auf der Stätte,so auch nach dem Plan des ersten errichtet und 516 vollendet wurde,diesem aber an Größe und Pracht nachstand. DurchAntiochos Epiphanes 169 entweiht, ward er von Judas Makkabäuswiederhergestellt und befestigt. Unter Herodes d. Gr. begann seit21 v. Chr. eine gänzliche Umgestaltung des Tempels ingroßartigerm Maßstab im griechischen Stil (daherHerodianischer T.). Dieser Tempelbau war nach Josephus eine Stadielang und eine Stadie breit. Im jüdisch-römischen Krieg,70 n. Chr., war der T. die letzte Schutzwehr der Juden. Seit 644steht auf der Tempelstätte eine Moschee. Die Aufzeichnungenüber den Salomonischen Tempelbau finden sich, außereinzelnen Notizen bei Jeremias 52 und im 2. Buch der Könige25, im 1. Buch der Könige, Kap. 5-7, und 2. Chron., Kap. 2-4.Vgl. Vogué, Le temple de Jérusalem (Par. 1864,Prachtwerk), außerdem die Schriften über denSalomonischen T. von Keil (Dorp. 1839), Bähr (Karlsr. 1848),Rosen (Gotha 1866), Fergusson (Lond. 1878), Spieß (Berl.1881), Wolff (Graz 1887). - Die höchste künstlerischeAusbildung erfuhr der Tempelbau durch die Griechen, welche, von dereinfachsten Form ausgehend, allmählich zu einer Anzahl vonTypen gelangten, die nicht nur für die Römermaßgebend gewesen sind, sondern auch auf die Baukunst derneuern Zeit Einfluß geübt haben. Man unterschied dieeinzelnen Gattungen der T. entweder nach der Anordnung derSäulenstellungen vor und hinter der Tempelfronte oder an denSeiten des Tempels oder

[siehe Graphik] [siehe Graphik] [siehe Graphik]

1. Antentempel. 2. Prostylos. 3. Ampyiprostylos.

[siehe Graphik] [siehe Graphik] [siehe Graphik]

4. Peripteros. 5. Dipteros. 6. Pseudodipteros.

nach der Zahl der Säulen an der Tempelfronte (vgl. auchBaukunst, S. 486). Die erstere Einteilung ist die geläufigere.Man unterschied demnach: 1) T. in antis (Antentempel), bei welchenzwischen den über den Haupteingang zur Cella vorgeschobenenSeitenmauern (antae) des Tempels zwei Säulen standen. Diedadurch gewonnene Vorhalle hieß Pronaos. Um die Cella auchvon hinten zugänglich zu machen, wurde die Rückseite desTempels später mit einer gleichen Anlage (Opisthodomos,Hinterhaus) versehen (Fig. 1). 2) Prostylos hieß der T., wenndie Stirnseiten der Seitenmauern bis zur Eingangsthür derCella zurücktraten und die Vorhalle des Tempels allein durchSäulen getragen wurde (Fig. 2). 3) Der Amphiprostylosentsteht, wenn diese Säulenstellung sich am Hinterhaus desTempels wiederholt (Fig. 3). 4) Der Peripteros ist die Erweiterungdes Amphiprostylos durch eine Säulenhalle, welche um alle vierSeiten des Tempels als freier Umgang herumgeführt wird. Es istdie edelste Form des griechischen Tempelbaues, dessen klassischesBeispiel der Parthenon ist (Fig. 4). Eine römische Abart istder Pseudoperipteros, bei welchem die Säulen in Form vonHalbsäulen und Pilastern den Seitenwänden angefügtwaren und das Gebälk tru-

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Tempel - Tempelherren

gen, im wesentlichen also nur einen dekorativen Zweck hatten. 5)Der Dipteros entsteht, wenn um den T. eine doppelteSäulenstellung herumgeführt wird, also an der Vorder- undRückseite vier Reihen von Säulen stehen (Fig. 5). DerPseudodipteros (Fig. 6) unterscheidet sich von dem Dipterosdadurch, daß die innere Säulenstellung fehlt, aber derZwischenraum zwischen der äußern Säulenstellung undder Cellawand der gleiche geblieben ist. Je nach der Zahl derSäulen an der Vorderseite, welche immer eine gerade war,unterscheidet man: Naos (T.) tetra-, hexa-, okta-, deka- unddodekastylos (d. h. 4-, 6-, 8-, 10- und 12säulige T.). Einebesondere Abart der T. waren die Rundtempel, welche bisweilen auchvon Säulen umgeben waren und dann Monopteros hießen.Vgl. Nissen, Das Templum (Berl. 1869).

Tempel, 1) Abraham van den, holländ. Maler, geborenum 1622 zu Leeuwarden, war ein Schüler von Joris van Schootenin Leiden und daselbst bis 1660 thätig und starb 1672 inAmsterdam. Er hat Bildnisse und Porträtgruppen von vornehmerAufsassung, aber konventioneller Detailbehandlung gemalt.Gemälde von ihm befinden sich zu Amsterdam, im Haag, inBerlin, Kassel u. a. O.

2) Ernst Wilhelm Leberecht, Astronom, geb. 4. Dez. 1821 zuNiederkunnersdorf in der Oberlausitz, ließ sich alsLithograph in Venedig nieder und begann 1859 sich mitastronomischen Beobachtungen zu beschäftigen, wandte sich dann1860 nach Marseiile, wo er kurze Zeit an der Sternwarte, dann aberals Lithograph thätig war; 1870 als Deutscher vertrieben, ginger nach Italien, wo er anfangs an der Sternwarte in Mailandbeschäftigt war, 1875 aber Observator an der Sternwarte zuArcetri bei Florenz wurde; hier starb er 16. März 1889. T. hatsich namentlich durch zahlreiche Kometen- undPlanetoiden-Entdeckungen und Beobachtung der Nebelflecke bekanntgemacht.

Tempelburg, Stadt im preuß. RegierungsbezirkKöslin, Kreis Neustettin, zwischen Zeppliner und Dratzigseeund an der Linie Ruhnow-Konitz der Preußischen Staatsbahn,hat eine evangelische und eine kath. Kirche, ein Amtsgericht,Zündholz- und Dachpappenfabrikation, eineDampfsägemühle, Bierbrauerei und (1885) 4510 Einw. DieStadt ward um 1291 von den Tempelrittern gegründet und kam1668 von Polen an Brandenburg.

Tempeldiener, s. Hierodusen.

Tempelgesellschaft, eine 1854 in Württembergentstandene, 1861 aus der Kirche ausgetretene religiöse Sekte,welche sich seit 1868 in Palästina angesiedelt und die drei ander syrischen Küste gelegenen "Tempelkolonien" Haifa, Jafa undSarona samt einer vierten in Jerusalem gegründet hat. Die Zahlder dort lebenden deutschen Templer belief sich 1878 etwa auf 850,1884 auf 1300; 1886 waren 362 Mitglieder in Haifa, 203 zu Jafa, 256zu Sarona. Die Gemeinden sind gut organisiert und besitzen inJerusalem eine höhere Schule, in Jafa ein Töchterinstitutund ein Krankenhaus; ihre Glieder haben sich in Bezug auf dieBodenkultur als tüchtige Kolonisten bewährt und auch umWeg- und Straßenbau verdient gemacht. Haupt der T. war bis zuseinem Tod Christoph Hoffmann (s. d. 10), der 1878 den Zentralsitzder T. nach Jerusalem verlegte. Vgl. dessen Schriften: "Occidentund Orient. Eine kulturgeschichtliche Betrachtung vom Standpunktder Tempelgemeinden in Palästina" (Stuttg. 1875) und "Mein Wegnach Jerusalem" (das. 1881-85, 2 Bde.). Nachdem er inchristologische Ketzereien verfallen war, sagte sich 1876 derReichs-Bruderbund zu Haifa unter Hardegg von dem Haupttempel los.Hardegg starb 1879, Hoffmann 8. Dez. 1885. Sein Nachfolger ist Chr.Paulus geworden. Ein Mitglied der Gemeinde zu Haifa, G. Schumacher,ist seit 1885 als türkischer Beamter für Straßen-und Brückenbau thätig.

Tempelherren (Templer, Tempelbrüder, Milites templi,Templarii), geistlicher Ritterorden, entstand zur Zeit derKreuzzüge in Palästina, indem 1119 neun französischeRitter, an ihrer Spitze Hugo von Payens und Gottfried von St.-Omer,zu einer Gesellschaft zusammentraten, um zur Ehre dersüßen Mutter Gottes Mönchtum und Rittertummiteinander zu verbinden und am Grab des Heilands sich zugleich demkeuschen und andächtigen Leben sowie der tapfern Beschirmungdes Heiligen Landes und der Geleitung der Waller durch diegefährlichen und unsichern Gegenden zu widmen. Sie erhieltenvom König Balduin II. einen Teil seiner auf dem Platz desehemaligen Salomonischen Tempels erbauten Residenz und zurBeherbergung armer Pilger von den Kanonikern des Heiligen Grabesmehrere Gebäude in der Nähe und nannten sich daher T.oder Templer. Ihre Kleidung bestand in einem weißen leinenenMantel mit einem achteckigen blutroten Kreuz und in einemweißen leinenen Gürtel; ihr Ordenssiegel zeigte denTempel, später zwei Reiter (einen Templer und einen hilflosenPilger) auf Einem Pferd. Papst Honorius II. erteilte dem Orden 1127die Bestätigung. Bernhard von Clairvaux entwarf 1128 in Troyesdie erste Ordensregel, welche den spätern Ordensstatuten (72Artikel) zu Grunde lag, und schrieb eine Schrift zum Lob des Ordens("Liber de lande[statt laude] novae militiae admilites templi").Auf einer Reise in das Abendland bewirkte Hugo von Payens denEintritt vieler Ritter in den Orden und die Schenkung reicherBesitzungen. Während sich der aristokratische Teil des Ordensdem Kampf gegen die Ungläubigen widmete, beschäftigtesich eine Anzahl von Brüdern mit dem religiösen Dienst,andre mit dem Pilgerschutz und der Pilgerpflege; aber erst bei derRevision der Statuten in der Mitte des 13. Jahrh. wurden dieOrdensmitglieder förmlich in Ritter, Priester und dienendeBrüder (Waffenknechte und Hausleute) eingeteilt. An der Spitzedes Ordens stand der Großmeister (magister Templariorum), derfürstlichen Rang hatte, unter ihm die Großprioren,welche den Provinzen vorstanden, dann die Baillifs, Prioren undKomture. Der Großmeister hatte zur Seite das Generalkapiteloder an dessen Stelle den Konvent zu Jerusalem und durfte nur mitdessen Zustimmung über Krieg und Frieden, Käufe undVeräußerungen etc. beschließen. In den Provinzendes Ordens hatten die Vorsteher der einzelnen Landschaftenähnliche Kapitel zur Seite. Der Orden der T. entsprach ammeisten dem Ideal des Rittertums und genoß deswegen besondersdie Gunst der Großen, weshalb er sich rasch vermehrte unddurch Schenkungen großen Besitz und Vorrechte erwarb. Um 1260zählte er an 20,000 Ritter und besaß 9000 Komtureien,Balleien, Tempelhöfe etc. mit liegendem Besitz, der zehntfreiwar. Unter den Nachfolgern Hugos von Payens (gest. 1136) in derGroßmeisterwürde sind hervorzuheben: Bernhard vonTremelay, der 1153 bei einem Angriff auf Askalon fiel; Odo deSaint-Amand (gest. 1179), der viel für die Erweiterung derMacht des Ordens that; Wilhelm von Beaujeu, unter dem Akka, dasletzte Bollwerk der Christen in Palästina, im Mai 1291 in dieHände der Sarazenen fiel, und Gaudini, unter dem sich derOrden nach Cypern zurückzog. Schon im 12. Jahrh. waren Klagenüber Anmaßlichkeit, Treulosigkeit und

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Tempellhof - Tempeltey.

Ausschweifungen der T. laut geworden. Bibere templariter (saufenwie ein Templer) wurde fast sprichwörtlich gebraucht. OhneRücksicht auf die allgemeinen Interessen verfolgten sie ausHabgier und Herrschsucht eine nicht selten verderblicheSonderpolitik. Oft standen sie mit den Sarazenen im geheimen Bunde,den Kaiser Friedrich II. wollten sie auf seinem Kreuzzug andieselben verraten; mit den Johannitern lebten sie inbeständigem, oft blutigem Streit, und von den Bischöfenwurden sie, weil deren Aufsicht seit 1162 vom Papst entzogen, ohnedies gehaßt. Dazu waren die Fürsten schon lange auf dleMacht des Ordens eifersüchtig. Der Orden gab auch dem Neid undder Mißgunst aufs neue Nahrung, als er den Kampf gegen dieUngläubigen aufgab und 1306 unter dem Großmeister Jakobvon Molay nach Paris übersiedelte, um sich anscheinendmüßigem Wohlleben zu ergeben. Hiermit gab er sich in dieGewalt Philipps IV. von Frankreich, der nach den Schätzen desOrdens lüstern und wegen der Haltung desselben in seinemStreit mit Bonifacius VIII. und wegen seiner Unabhängigkeitgegen ihn erbittert war. Auf Grund der Aussagen zweierverdächtiger Männer erhob er gegen die T. die Anklagewegen Verleugnung Christi, Verehrung des Götzenbildes Baphomet(s. d.), Verspottung des Abendmahls, unnatürlicher Wollustetc., - Beschuldigungen, welche durch manche Umstände, durchfrivole Äußerungen mancher Templer, durch frühereAnklagen seitens der Päpste, so 1208 Innocenz' III. u. a.,unterstützt werden, aber durch unwiderlegliche Zeugnisse nochnicht bewiesen sind. Namentlich ist die Behauptung von einerförmlichen ketzerischen Geheimlehre der T. (vgl. Prutz,Geheimlehre und Geheimstatuten des Tempelherrenordens, Berl. 1879),wonach sie an einen Doppelgott, den wahren himmlischen und denandern, der die Freuden der Welt erteile, geglaubt und letztern imBild eines aus edlem Metall geformten Menschenkopfs verehrthätten, keineswegs unbestritten. Am 13. Okt. 1307 wurden dieT. in Frankreich mit ihrem Großmeister verhaftet.Gleichzeitig begann die Einziehung ihrer Güter. Manerpreßte von den Rittern durch die Folter Geständnisse,die dann als unverwerfliche Beweise der Strafbarkeit allerMitglieder angesehen wurden. Nicht bloß die Reichsversammlungin Tours, auch Papst Clemens V. erklärte die Anklage gegen dieT. für begründet und befahl 12. Aug. 1308 überalldas gerichtliche Einschreiten gegen sie. Der Prozeß dauertebis 5. Juni 1311, worauf dann das Konzil von Vienne das Urteilfällen sollte, aber zu fällen sich weigerte. Noch vor demSchluß der Akten ließ Philipp 54 Ritter verbrennen (12.Mai 1310), denen die Folter kein Geständnis abgezwungen hatte.Papst Clemens V. hob den Orden durch eine Bulle vom 22. März1312 auf, ohne jedoch ein Verdammungsurteil zu wagen. DerGroßmeister wurde mit dem 80jährigen GroßpriorGuido von der Normandie und mehreren andern Rittern auf einer Inselder Seine zu Paris 18. März 1313 auf des Königs Befehl,weil er die auf der Folter erzwungenen Geständnisseöffentlich zurückgenommen, bei langsamem Feuer verbrannt.Die Güter der T. wurden in Frankreich, in Kastilien und einemTeil von England von der Krone eingezogen, in Aragonien undPortugal aber dem Orden von Calatrava, in Deutschland denJohannitern und Deutschen Rittern überwiesen. In Portugalbestand der Orden unter dem Namen Christusorden, in Schottlandunter dem Namen Ritter von der Distel fort. In der Mitte des 18.Jahrh. bemühten sich die Jesniten, das auftauchendeFreimaurerwesen mit dem alten Templerorden in Verbindung zubringen, um den Bund in katholisch-hierarchischem Sinn zu lenken.So entstand der neue Templerorden in Frankreich, dessenHaupttendenzen die Bewahrung des ritterlichen Geistes und dasBekenntnis eines aufgeklärten, in der Zeitphilosophiewurzelnden Deismus waren, und dem die ersten Personen des Hofs undder Pariser Gesellschaft beitraten. Nachdem derselbe währendder Revolution sich aufgelöst hatte, sammelte in den letztenJahren das Direktorium seine Trümmer wieder, und man suchtenun dem Bund eine politische Richtung zu geben. Napoleon I.begünstigte ihn als ein Adelsinstitut. Die Restauration sahden aufgeklärte Tendenzen verfolgenden Bund zwar mitargwöhnischen Augen an, doch bestand derselbe fort. DiePhilhellenenvereine fanden in ihm eifrige Teilnehmer. Nach derJulirevolution trat der Bund sogar in Paris wieder öffentlichhervor und zwar mit kommunistischen Tendenzen, und seine Mitgliedernannten sich Chrétiens catholiques primitifs. SeineGeheimlehre war in einem "Johannisevangelium" zusammengefaßt.Der Orden erlosch 1837. Vgl. Wilcke, Geschichte des Ordens der T.(2. Ausg., Halle 1860, 2 Bde.); Michelet, Procès desTempliers (Par. 1841-51, 2 Bde.); Havemann, Geschichte des Ausgangsdes Tempelherrenordens (Stuttg. 1846); Merzdorf, Geheimstatuten desOrdens der T. (Halle 1877); Schottmüller, Der Untergang desTemplerordens (Berl. 1887, 2 Bde.); Prutz, Entwickelung undUntergang des Tempelherrenordens (das. 1888).

Tempelhof, Dorf im preuß. Regierungsbezirk Potsdam,Kreis Teltow, südlich bei Berlin, an der Berliner Ringbahn undmit Berlin durch eine Pferdebahn verbunden, hat eine evang. Kirche,ein Garnisonlazarett, das Elisabeth-Kinderhospital, eineGardetrainkaserne, ein Proviantamt, Elfenbeinbleicherei und (1885)3522 Einw. Nördlich dabei das Tempelhofer Feld,Übungsplatz der Berliner Garnison. T. kam 1318 aus dem Besitzdes Templerordens in den der Johanniter; seit 1435 gehörte eslängere Zeit den Städten Berlin-Kölln.

Tempelkolonien, s. Tempelgesellschaft.

Tempeln, sehr einfaches Hasardspiel mit Karte, vom Pharoim Grund nur durch Weglassung der Lappe, Paroli etc. unterschieden.13 durch Kreidestriche bezeichnete Felder (für Zwei bis As)nehmen die Einsätze auf, und der Bankier zieht die Karte abwie beim Pharo. Links gewinnt die Bank, rechts verliert sie.

Tempeltey, Eduard, Dichter, geb. 13. Okt. 1832 zu Berlin,studierte daselbst Philologie und Geschichte, war dann längereZeit bei der "Nationalzeitung" beschäftigt und lebt seit 1861am Hof des Herzogs Ernst von Koburg-Gotha, der ihn zunächstprovisorisch mit der Leitung des Theaters betraute und 1871definitiv zum Hoftheater-Intendanten ernannte. Seine beiden Dramen:"Klytämnestra" (Berl. 1857) und "Hie Welf - hie Waiblingen"(Leipz. 1859), erregten ihrer Zeit großes Aufsehen wegen derklassischen Formvollendung und verrieten ein bedeutendesdramatisches Talent; 1882 folgte ein Drama: "Cromwell", dasebenfalls seinen Weg über die großen deutschenBühnen nahm. Außerdem veröffentlichte er einenLiederkranz: "Mariengarn" (5. Aufl., Leipz. 1866), worin dasLiebesleben in seinen verschiedenen Phasen mit tiefer Empfindungund in makelloser Form geschildert wird, und eine kleine Schrift:"Th. Storms Dichtungen" (Kiel 1867). T. war inzwischen zum GeheimenKabinettsrat ernannt worden und erhielt 1887 das Prädikat"Präsident".

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Tempera - Temple.

Tempera (ital.), eigentlich jede Flüssigkeit, mitwelcher der Maler die trocknen Farben vermischt, um sie mittels desPinsels auftragen zu können; dann insbesondere eine imMittelalter gebräuchliche Art der Malerei (Temperamalerei),wobei die Farben mit verdünntem Eigelb und Leim von gekochtenPergamentschnitzeln vermischt wurden (peinture en détrempe).Seit Cimabue verdrängte die T. in Italien die altbyzantinischeManier. In Deutschland malte man mit einer verwandten Technik, bisdie von den van Eycks verbesserte Ölmalerei dieselbe im Laufdes 15. Jahrh. verdrängte. In Italien hielt sich die T.teilweise bis um 1500, wo die Ölmalerei auch hier vollkommendurchdrang.

Temperament (lat.), ursprünglich ein gewisserspezifischer Wärmegrad (Temperatur) des Körpers. Manglaubte früher, daß dieser spezifische Wärmegradabhängig sei von der Mischung der Säfte, und stelltedaher so viel Temperamente auf, als man Kardinalsäfte desKörpers (rotes Arterienblut, schwarze Galle, gelbe Galle oderder Schleim und Lymphe) annahm. Je nach dem Vorherrschen des einenoder andern Safts im Körper hat der Mensch ein sanguinisches,melancholisches, cholerisches oder lymphatisches (phlegmatisches)T. Das sanguinische T. hieß auch das warme, dasmelancholische das kalte, das cholerische das trockne, dasphlegmatische auch das feuchte T. Obgleich sich dieser Ideengangkeineswegs auf positive Thatsachen gründen läßt undals eine zusammenhängende Reihe von Irrtümern erscheint,so hat sich doch das Wort T. in der Umgangssprache erhalten, weilman das Bedürfnis fühlte, für gewisse Zuständeund Erscheinungen am Körper, deren Wesen und innereBedingungen nicht klar vor uns liegen (wie für andreunbestimmte Begriffe), ein einfaches Wort zur Hand zu haben. Diewissenschaftliche Medizin macht in Deutschland wenigstens keinenGebrauch mehr von dem Wort und dem Begriff T., wohl aber geschiehtdies noch in Frankreich. Um so mehr findet das Wort T. von seitender Laien Verwendung, und man versteht darunter einen gewissen Teilder Konstitution, nämlich die Stimmung und die Weise derThätigkeitsäußerung des Gehirns. Man hat dieTemperamente folgendermaßen charakterisiert. Dassanguinische, warme T. ist mit Körperfülle, weicher,zarter Haut, angenehmer frischer Gesichtsfarbe, starkerFüllung der Blutgefäße verbunden. Diekörperlichen wie geistigen Funktionen sind leicht anzuregen;die Individuen von sanguinischem T. sind reizbar und empfindlich,meist heiter und fröhlich, aber veränderlich in ihrerStimmung. Das melancholische oder sentimentale T. istgekennzeichnet durch festen, straffen Körperbau,größere oder geringere Magerkeit, durch dicke, trockne,kühle Haut, die mit dunkeln Haaren besetzt ist. In allenBewegungen und Handlungen zeigt sich eine gewisse Langsamkeit, dieaber von großer Ausdauer begleitet ist. Die melancholischenIndividuen sind ernst, mehr zu trüber Stimmung geneigt,verfallen verhältnismäßig oft inGeisteskrankheiten. Das cholerische oder trockne T. steht zwischendem sanguinischen und melancholischen gleichsam in der Mitte. Eszeichnet sich durch einen leichtern und beweglichernKörperbau, durch weniger braune und behaarte Haut und einelebhaftere Gesichtsfarbe aus, als diese dem melancholischen T.zukommen. Die cholerischen Individuen sind beweglich, erhaltenleicht ein wildes Aussehen, sind zum Zorn geneigt, zeigen dabeiStärke und Nachhaltigkeit der Erregungen,Leidenschaftlichkeit. Die Kennzeichen des phlegmatischen, feuchtenTemperaments sind: ein schlaffer, weicher Körperbau, weiche,weiße Haut, die wenig Haare zeigt, blondes Kopfhaar,hervorstehende Augen, gleichgültige Gesichtszüge; diegeistigen und körperlichen Funktionen gehen träge vonstatten, geringe und langsame Reaktion gegen geistige Erregungen,geringe Empfindlichkeit gegen eigne und fremde Leiden; diephlegmatischen Individuen neigen zu Fettbildung. Man hat dieseTemperamente auch untereinander kombiniert zu einemmelancholisch-phlegmatischen etc. T., womit der Willkür in derAnwendung dieses ohnehin unbestimmten Begriffs vollkommene Freiheitgegeben wurde. Auch ein nervöses T. hat man aufgestellt,welches sich durch Muskelschwäche und großeNervenreizbarkeit kennzeichnen soll. Man hat auch versucht, denverschiedenen Temperamenten einen Einfluß auf die Entstehunggewisser Krankheiten zuzuschreiben.

Temperantia (sc. remedia, lat.), mildernde Arzneimittel,s. Einhüllende Mittel.

Temperánzgesellschaften (engl. temperancesocieties), s. Mäßigkeitsvereine.

Temperatur (lat.), der dem Gesühl und durch dasThermometer (s. d.) sich kundgebende Erwärmungszustand einesKörpers; kritische T., s. Gase, S. 930; mittlere T., s.Lufttemperatur. - In der Musik heißt T. die von der absolutenakustischen Reinheit abweichende Stimmung der zwölfHalbtöne einer Oktave, welche es ermöglicht, von jedembeliebigen Ton als Grundton auszugehen. Es wird dies erreicht,indem man unter Beibehaltung der Reinheit der Oktave dieübrigen Töne etwas oberhalb oder unterhalb der von derreinen Stimmung geforderten Höhe "schweben" läßt.Die T. heißt gleichschwebend, wenn alle Intervalle durch dieganze Tonleiter einander gleich, ungleichschwebend, wenn sievoneinander verschieden angenommen werden.

Temperatursinn, s. Tastsinn.

Temperguß, s. v. w. hämmerbaresGußeisen.

Temperieren (lat.), mäßigen, mildern.

Tempern, s. v. w. Adoucieren.

Tempésta (ital.), Sturm, Seesturm (auch alsGemälde); tempestoso, stürmisch, ungestüm.

Tempesta, Maler, s. Molyn 2).

Tempête (franz., spr. tangpäht, "Sturm"),gesellschaftlicher Tanz, an dem viele Paare teilnehmen. DieAufstellung geschieht in Reihen zu je zwei Paaren, die sich an diemittlern wie an die gegenüberstehenden Paare nach beidenSeiten anschließen. Die mittlern vier Paare beginnen den Tanzmit Rond, Chassé, Croisé, Balancé undähnlichen Touren, die dann nach beiden Seiten der Reihe nachwiederholt werden. Die ziemlich lebhafte Melodie steht imZweivierteltakt und besteht aus mehreren Reprisen von achtTakten.

Tempieren, den Zünder für Hohlgeschosse aufeine bestimmte Brennzeit stellen; s. Zündung.

Tempio Pausania, Kreishauptstadt in der ital. ProvinzSassari (Sardinien), am Nordabhang des Limbaragebirges, bildet mitAmpurias ein Bistum, hat ein Gymnasium, eine technische Schule, einSeminar und (1881) 5452 Einw.

Tempi passati! (ital.), vergangene Zeiten!

Temple, 1) (le Temple, spr. tangpl) ehemals Ordenshausder Tempelherren in Paris, in der RevolutionszeitStaatsgefängnis, in welchem auch Ludwig XVI. und seine Familieim Winter 1792/93 bis zur Hinrichtung (21. Jan.) gefangen gehaltenwurde. Unter Napoleon III. ward der T. abgebrochen und an dessenStelle ein 7500 qm großes Square mit Trödlerhallenanlegt. Vgl. Curzon, La maison du T. (Par. 1888). - 2) (spr.tempel) ehemaliges Ordens-

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Temple - Tenasserim.

haus der Tempelherren in London, welches 1346 denRechtsgelehrten überlassen wurde, seither die wichtigste dersogen. Inns of Court; s. London, S. 900.

Temple (spt. tempel), 1) Sir William, engl. Staatsmannund Schriftsteller, geb. 1628 zu London, studierte in Cambridge,ward nach der Restauration 1660 Mitglied der irischen Konvention,1661 des irischen Parlaments und 1662 zu einem der königlichenKommissare desselben ernannt. Seit 1665 englischer Resident inBrüssel, schloß er 1668 im Haag mit Holland und Schwedendie Trivelallianz und vermittelte dann den Aachener Frieden (2. Mai1668) zwischen Frankreich und Spanien, worauf er zum ordentlichenGesandten im Haag ernannt wurde. 1671 entlassen, lebte er mehrereJahre zurückgezogen auf seinem Gut Sheen bei Richmond inSurrey, ging 1673 abermals als Gesandter nach dem Haag und vertratEngland auf dem Friedenskongreß von Nimwegen. 1679 kehrte ernach England zurück und trat in den von Karl II. nach TemplesEntwurf organisierten Geheimen Rat sowie für dieUniversität Cambridge ins Parlament, zog sich aber, mit derköniglichen Politik unzufrieden, 1682 nach Sheen zurückund starb 27. Jan. 1699. Seine durch Form und Inhaltausgezeichneten "Works" erschienen London 1814 in 4 Bänden.Swift gab seine "Memoirs" (Lond. 1709, 2 Bde.) und "Letters" (das.1702, 2 Bde.) heraus. Sein Leben beschrieben Luden (in "KleineAufsätze", Bd. 2, Götting. 1808) und Courtenay (Lond.1836, 2 Bde.). Vgl. Emerton, Sir W. T. und die Tripelallianz (Berl.1877).

2) Launcelot, Pseudonym, s. Armstrong 1).

Templeisen, die Ritter des Grals (s. d.).

Templemore (spr. templmóhr), Stadt in der irischenGrafschaft Tipperary, am Suir lieblich gelegen, mit (l881) 2800Einw.

Templer, s. v. w. Tempelherren; auch die Mitglieder derTempelgesellschaft (s. d.).

Templin, Kreisstadt im preuß. RegierungsbezirkPotsdam, zwischen mehreren Seen, die durch den 13,5 km langenTempliner Kanal mit der Havel in schiffbarer Verbindung stehen, undan der Linie Löwenberg-T. der Preußischen Staatsbahn, 67m ü. M., hat 2 evang. Kirchen, eine Stadtmauer aus Feldsteinenund 3 Stadtthore aus dem Mittelalter, ein Amtsgericht, einDampfhammerwerk mit Fabrik für landwirtschaftliche Maschinen,Schiffahrt und (1885) 4028 meist evang. Einwohner.

Tempo (ital., "Zeit"), Zeitmaß, die Bestimmung,welche im einzelnen Fall die absolute Geltung der Notenwerteregelt. Vor dem 17. Jahrh. waren die Mittel, ein verschiedenes T.zu fordern, sehr beschränkt; die Noten hatten aber damals eineziemlich bestimmte mittlere Geltung, den "integer valor" (s. d.),der sich aber doch im Lauf der Jahrhunderte sehr verschob, sodaß man heute bei Übertragungen von Musikwerken des 16.Jahrh. die Werte wenigstens auf die Hälfte, bei denen des14.-15. Jahrh. auf den vierten Teil und bei noch ältern aufden achten Teil reduzieren muß, wenn man ein ungefährrichtiges Bild gewinnen will. Um 1600 kamen die noch heuteüblichen Bestimmungen Allegro, Adagio, Andante auf, denen sichbald Presto und die Unterarten: Allegretto, Andantino, Prestissimozugesellten. Da sich im Gebrauch dieser Bezeichnungen vielfachWillkür einschlich, so sann man gegen das Ende des 18. Jahrh.auf feste, unwandelbare Bestimmungen und gelangte zur Erfindung desTaktmessers (s. d.). Vielfach sind heute auch Tempobezeichnungenbeliebt, die auf Tonstücke von bestimmtem Charakter derBewegungsart hinweisen, so T. di marcia (Marschtempo = Andante), T.di minuetto (Menuetttempo, etwa = Allegretto), T. di valsa(Walzertempo = Allegro moderato) u. s. f. Über die kleinenModifikationen des T., welche der musikalische Ausdruck bedingt(agogische Schattierungen), s. Agoge.

Temporal (lat.), zeitlich; weltlich; auf die Schläfebezüglich, z. B. arteria temporales, Schläfenschlagader,muscullis temporalis, Schläfenmuskel, etc.

Temporalien (Bona temporalia, "weltliche Vorteile"), allemit der Verwaltung eines bestimmten kirchlichen Amtes verbundenenEinkünfte an Geld, Naturalien und sonstigen Gefällen, diemateriellen Rechte im Gegensatz zu den mit dem Kirchenamtverbundenen geistlichen Befugnissen (Spiritualien). DieBeschlagnahme dieser Einkünfte seitens der Staatsgewaltheißt Temporaliensperre.

Tempora mutantur et nos mutamur in illis (lat.), dieZeiten ändern sich, und wir verändern uns in oder mitihnen.

Temporär (lat.), zeitweilig, vorübergehend.

Temporäre Sterne, s. Fixsterne, S. 324.

Temporal (franz.), zeitlich, weltlich.

Temporisieren (lat.), sich nach den Zeitumständenrichten; in Erwerbung eines günstigen Zeitpunktes etwashinhalten.

Temps, le (spr. tang, "die Zeit"), eine der angesehenstenPariser Zeitungen, 1861 begründet, hielt sich unter NapoleonIII. zur gemäßigten Opposition und vertritt jetzt dengemäßigten Republikanismus.

Tempus (lat., Plur. tempora), Zeit; in der Grammatik derAusdruck der Zeitbeziehung am Verbum oder in konkreter Bedeutungeine Gruppe von Verbalformen, die je ein bestimmtesZeitverhältnis ausdrücken. S. Verbum.

Temrjuk, Kreisstadt im kubanischen Gebiet in Kaukasien,am Nordufer der Halbinsel Taman und an dem den Liman Achtanisow mitder Bucht von T. verbindenden Kanal, mit (1883) 10,496 Einw. 6 kmvon der Stadt wird der temrjuksche Mineralschlamm aus fünfGruppen kleiner Krater in Zwischenräumen von ½-¼Minute in großen Massen ausgeworfen, dessen Gebrauch inBädern bei Rheumatismen, Skrofeln u. a. sich sehr heilsamerwiesen hat.

Temuco, Departement der chilen. Provinz Cantion, 4600 qkmgroß mit (1885) l6,111 Einw. Die gleichnamige Hauptstadt hat3000 Einw.

Temulénz (lat.), Trunkenheit.

Temurdschi, s. Dschengis-Chan.

Tenaille (franz., spr. -náj, "Zange"), einFestungswerk, dessen Linien abwechselnd ein- und ausspringendeWinkel bilden. Über die Tenaillensysteme von Landsberg undMontalembert s. Festung, S. 182. T. ist auch s. v. w. Grabenschere(s. d.).

Tenakel (lat.), "Halter", Blatthalter der Schriftsetzer;auch Vorrichtung zur Befestigung von Seihtüchern,Filtrierbeuteln etc.

Tenancingo, Stadt im mexikan. Staat Mexiko, südlichvon Toiuca, 1840 m ü. M., in reizender, fruchtbarer Gegend, woWeizen neben Zuckerrohr gedeiht, hat Weberei von wollenenTüchern (Panos) und (1880) 15,906 Einw. (im Munizivium).

Tenant (engl., spr. ténnänt), Pachter oderMieter; T.-at-will ("aus freiem Willen"), Mieter, dem nach Beliebendes Eigentümers geendigt werden kann (wogegen der lease-holderauf die abgemachte Reihe von Jahren im Besitz nicht zu störenist, solange er die bedungene Pacht oder Miete zahlt).

Tenasserim (Tanengthari), Regierungsbezirk derbritisch-ind. Provinz Birma, im südlichstem Teil

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Tenazität - Teneramente.

derselben an der Küste gelegen, 121,026 qkm (1280 QM.)groß mit (1881) 825,741 Einw. (meist Buddhisten). Das Landwird durch 1500 m hohe Gebirge von Siam geschieden, ist sonstfruchtbar, wohlbewässert und zum Reisbau trefflich geeignet.Der Hauptfluß T. ist für große Boote 53 kmaufwärts bis zu der früher bedeutenden, jetzt zu einemelenden Dorf herabgesunkenen Stadt T. schiffbar.

Tenazität (lat.), Zähigkeit (vgl. Dehnbarkeit),hartnäckiges Festhalten an etwas.

Tenbrink-Feuerung, s. Dampfkessel, S. 451, undLokomotive, S. 885.

Tenby (spr. tennbi), beliebtes Seebad in Pembrokeshire(Südwales), mit Ruinen eines normännischen Schlosses,Ausfuhr von Fischen, Austern und Geflügel und (1881) 4750Einw.

Tence (spr. tangs), Stadt im franz. DepartementOberloire, Arrondissem*nt Yssingeaux, am Lignon, mit Hengstedepot,Fabrikation von Papier, Hüten, Seide, Blonden und Spitzen und(1881) 1520 Einw.

Tencin (spr. tangssang), Claudine AlexandrineGuérin, Marquise de, franz. Schriftstellerin, geb. 1681 zuGrenoble, entfloh 1714 aus dem Kloster nach Paris, gewann dortdurch ihre Schönheit und ihren Geist mächtige Freunde,mischte sich in Staats-und Liebesintrigen, ging nacheinander mitd'Argenson, Bolingbroke, dem Regenten, dem Kardinal Dubois u. a.intime Verbindungen ein und wußte dieselben geschickt zuihrem und ihres Bruders (des Kardinals Pierre Guérin de T.,gest. 1758; vgl. über ihn die biographische Schrift vonAudouy, Lyon 1881) Vorteil zu benutzen. Eins ihrer illegitimenKinder, das sie aussetzen ließ, war der berühmted'Alembert. Eine bedeutende Rolle spielte sie in den Streitigkeitender Jansenisten, deren heftige Gegnerin sie war. Später (1726)mußte sie auf einige Zeit in die Bastille wandern, als sicheiner ihrer Liebhaber in ihrer Wohnung erschossen hatte. Seitdemführte sie ein unanstößiges Leben und machte ihrenSalon zum Mittelpunkt der eleganten und gebildeten Gesellschaft.Sie starb 4. Dez. 1749. Ihre Romane, besonders "Mémoires ducomte de Comminges" (1735, 1885) und "Le siége de Calais"(1739), tragen ganz das Gepräge des 18. Jahrh. und gleichenauffallend denen der Mad. de Lafayette, mit deren Schriften dieihrigen auch zusammen herausgegeben wurden (Par. 1786, 8 Bde.;1825, 5 Bde.; 1864). Die "Correspondance" mit ihrem Bruder erschienParis 1790, 2 Bde.; die "Lettres au duc de Richelieu" daselbst1806. Vgl. Barthélemy, Mémoires secrets de Madame deT. (Grenoble 1790).

Tendelti, Name eines Teichs, an welchem Fascher, dieHauptstadt von Dar Fur, liegt, und nach welchem diese Stadt selbstbisher auf den Karten bezeichnet wurde. Der Ort liegt 2000 Inü. M., am Wadi el Ko, war früher Sitz desägyptischen Gouverneurs und hat 8000 Einw., welche lebhaftenHandel mit Wadai und Kordofan treiben. Bis 1874 war T. Hauptstadtdes selbständigen Reichs Dar Fur, wurde damals von denÄgyptern erobert, die in neuester Zeit aber den Anhängerndes Mahdi weichen mußten. Die letztern sollen Dar Fur wiederan die Anhänger der Snussisekte von Kufra verloren haben.

Tendénz (lat.), Streben in bestimmter Absicht oderRichtung, auf einen bestimmten Zweck hin; daher Tendenzdichtungen,solche, die nicht bloß auf die eigentlich poetische Wirkungberechnet sind, sondern noch andre (politische, religiöseetc.) Interessen verfolgen; tendenziös, bestimmten Zweckengemäß.

Tender (engl.), das einem größern Schiff oderGeschwader zur Überbringung von Befehlen etc. beigegebeneBegleitschiff; dann der der Lokomotive angehängte Vorratswagenfür Kohlen und Wasser.

Tendo (lat.), Sehne, z. B. T. Achillis.Achillessehne.

Tendovaginitis (lat.-griech.),Sehnenscheidenentzündung.

Tendre (franz., spr. tangdr), zart, empfindlich; alsSubstantiv s. v. w. Vorliebe, zärtliche Schwäche füretwas; Tendresse, Zärtlichkeit, zärtliche Zuneigung.

Tendrons (franz., spr. tangdróng), in derKochkunst die Brustknorpel vom Kalb und Lamm.

Tenê (Tenneh), Fluß, s. Faleme.

Tenebrae (lat., "Finsternis"), s. Finstermetten.

Tenebrio, Mehlkäfer.

Tenebrionen (Schwarzkäfer, Melasoma Latr.,Tenebrionidae Leach), Käferfamilie aus der Gruppe derHeteromeren, düster, gewöhnlich ganz schwarzgefärbte Käfer mit fünfgliederigen Tarsen an denVorder- und Mittel- und viergliederigen an den Hinterbeinen,kurzem, kräftigem Oberkiefer, quer gestellten, vornausgebuchteten Augen, elf-, selten zehngliederigen Fühlern,sehr häufig verkümmerten Hinterflügeln und dannverwachsenen Flügeldecken. Die sehr übereinstimmendgeformten Larven sind langgestreckt, schmal, etwasniedergedrückt, ganz hornig, mit sechs fünfgliederigenBeinen, viergliederigen Fühlern, einer Lade am Unterkiefer undam letzten Hinterleibssegment meist mit zwei Hornfortsätzenversehen. Viele T. sondern aus ihren Körperbedeckungen einSekret ab, welches sie wie bereift oder behaucht erscheinenläßt; auch entwickeln die meisten einen starkenwiderlichen Geruch. Die metallisch oder lichter gefärbtenArten sind am Tag an Pflanzen zu treffen; die dunkeln sind meistlichtscheu, träge und halten sich am Tag an dunkeln Orten auf.Man unterscheidet gegen 400 Gattungen, deren Artenzahl derjenigender Laufkäfer fast gleichkommt. Die sehr artenreiche GattungBlaps Fab. umfaßt zahlreiche, besonders in Südeuropa undNordasien heimische, große Käfer mit länglichemKörper, ohne Flügel, die Männchen mitzapfenförmig ausgezogenen Flügeldecken. Der gemeineTrauerkäfer (Totenkäfer, Blaps mortisaga L., s. Tafel"Käfer"), 20-25 mm lang, mattschwarz, fein und zerstreutpunktiert, mit fast quadratischem Halsschild, hinter der Mitteschwach erweiterten, lang geschwänzten und undeutlichgestreiften Flügeldecken, ist häufig in Häusern,besonders in Kellern, und nährt sich von allerlei Unrat. Zuderselben Familie gehört der Mehlkäfer (s. d.).

Tenedos, griech. Insel im Ägeischen Meer, an derKüste der alten Landschaft Troas, war berühmt im Altertumwegen der Rolle, welche sie im Trojanischen Krieg spielte, sowiedurch ihre Töpferwaren und ihren Wein. Sie stand abwechselndunter der Herrschaft der Perser, Athener und Römer. JetztTenedo oder Bosdscha Ada genannt, gehört sie zumtürkischen Wilajet Dschesair und bildet den Schlüssel zuder Dardanellenstraße. Die Insel ist 13 km lang, 3-6 km breitund ziemlich gebirgig, liefert trefflichen Muskatwein undrötlichen Marmor und hat gegen 7000 Einw. Die Stadt Tenedo,auf der Nordostküste, ist Sitz eines Kaimakams und einesgriechischen Bischofs, hat einen Hafen, eine Citadelle und 2000Einw. (drei Viertel Griechen). Am 21. März 1807 erfochten hierdie Russen unter Siniavin über Seid Ali Pascha und 10. Nov.1822 die Ipsarioten Kanaris und Kyriakos einen Seesieg überden Kapudan-Pascha.

Teneramente (ital.), zart.

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Tenerani - Teniers.

Tenerani, Pietro, ital. Bildhauer, geb. 11. Nov. 1789 zuTorano bei Carrara, bildete sich in Rom bei Canova und späterbei Thorwaldsen, der ihm die Hauptfiguren des Grabmals des PrinzenEugen zur Ausführung übertrug. Schon Teneranis ersteWerke: Psyche mit der Büchse der Pandora, dann Amor, der Venuseinen Dorn ausziehend, erwarben ihm zahlreiche Aufträge. Erward zum Professor der Akademie von San Luca ernannt, an welcherAnstalt er bis zu seinem Tod mit größtem Erfolg wirkte.1860 wurde er Generaldirektor der römischen Museen undGalerien. Er starb 14. Dez. 1869. T. schuf eine große Zahlvon Gruppen, Einzelstatuen und Porträtbüsten, Werke, diesich alle durch Schönheit und Weichheit der Form undvortreffliche, gewöhnlich nur allzu glatte Ausführungauszeichnen. Ein von ihm modellierter Christus am Kreuz ward 1823für die Kirche San Stefano zu Pisa in Silber getrieben. Seinevorzüglichsten Werke sind das 1842 vollendete Marmorrelief derKreuzabnahme in der Kapelle Torlonia im Lateran, das Relieffür das Grabmal der Herzogin von Lante und das christlicheLiebespaar, den Märtyrertod erleidend.

Teneriffa (Tenerife), die größte, reichste undbevölkertste der Kanarischen Inseln, an der NordküsteAfrikas zwischen Canaria, Gomera und Palma gelegen, 2026 qkm (41,4QM.) groß mit (1877) 105,052 Einw. Die Küsten, fast ohneBuchten, fallen steil zum Meer ab und bilden viele Vorgebirge. DerBoden ist, außer im NO., trefflich bewässert undäußerst fruchtbar. Den Strand schmücken Dattel- u.Kokospalmen, höher hinauf wachsen Bananen, Drachenbäumeund Pisang; die Abhänge der Höhen sind mit Rebenbepflanzt, welche den vorzüglichen Kanariensekt liefern. Imsüdlichen Teil der Insel erhebt sich in gewaltigerGroßartigkeit der berühmte Pik von T. (Pico de Teyde) zu3715 m Höhe, so daß er zuzeiten auf 300 km Entfernunggesehen wird. Ein Ausbruch dieses Vulkans von der Spitze aus istnicht bekannt, wiewohl ein Krater vorhanden ist; dagegen haben seit1385 wiederholte Ausbrüche an den Seiten stattgefunden, vonwelchen der vom 5. Mai 1706 die Stadt Guarachico zerstörte.Der letzte Ausbruch ereignete sich 1798. Am Fuß zeigt derBerg eine reiche Vegetation, höher hinauf nur Gestrüppeund Pfriemkräuter und ganz oben nur Lava, Bimsstein undvulkanische Asche. In seinem obern Teil enthält er die sogen.Eishöhle (Cueva del yelo) und Spalten (narizes), aus denenheiße Dämpfe hervordringen. Die Spitze bildet der aufeinem Felsenwall sich ungefähr noch um 300 m erhebende Piton(Pan de azucar, "Zuckerhut"), der vom November bis April eineSchneedecke trägt. Die Besteigung des Bergs geschiehtgewöhnlich von Orotava (s. d.) aus, tn dessen Nähe auchder berühmte ungeheure Drachenbaum stand, dessen Alter von A.v. Humboldt auf 6000 Jahre geschätzt ward. Das Klima von T.ist mild und gesund. Hauptstadt ist Santa Cruz. Vgl. Schacht,Madeira und Tenerife mit ihrer Vegetation (Berl. 1859); Fritsch undReiß, Geologische Beschreibung der Insel Tenerife (Winterthur1868); Stone, Tenerife and its six satellites (Lond. 1887, 2 Bde.),und die Litteratur bei Art. Kanarische Inseln.

Tenes (Tennes), Sohn des Kyknos (s. d.).

Tenésmus (griech.), s. Stuhlzwang.

Teng ("Korb"), in Birma Getreidemaß, enthältvon geschältem Reis 26,49 kg; als Raummaß ungefähr8 alte englische Weingallons.

Tenga, Münze in Mittelasien, à 40-44 Pul =0,567-0,60 Mk. Vgl. Tilla.

Teniers (spr. tenjeh), 1) David, der ältere,niederländ. Maler, geb. 1582 zu Antwerpen, war Schülerseines ältern Bruders, Julian, bildete sich dann in Rom bei A.Elsheimer weiter und wurde 1606 als Freimeister in die Lukasgildezu Antwerpen aufgenommen, wo er 29. Juli 1649 starb. Nachdem eranfangs große Kirchenbilder von trockner Färbung gemalt,wandte er sich später der Landschaft, dem phantastischen undbäuerlichen Genre zu, demselben Gebiet, welches seinberühmterer Sohn behandelte. Die Bilder des Vatersunterscheiden sich von denen des Sohns durch eine härtere undtrocknere Behandlung und spitzigere Pinselführung bei mindergeistvoller Charakteristik. Hervorzuheben sind: der Auszug derHexen (im Museum zu Douai), die zechenden Bauern vor derDorfschenke (in der Galerie zu Darmstadt), die Versuchung des heil.Antonius (in den Galerien zu Berlin und Schwerin), achtLandschaften mit biblischer und mythologischer Staffa*ge (in derkaiserlichen Galerie zu Wien) und eine Berglandschaft mit einemSchloß (im Museum zu Braunschweig).

2) David, der jüngere, Sohn des vorigen, Maler, geboren imDezember 1610 zu Antwerpen, war anfangs Schüler seines Vatersund bildete sich dann unter den Einflüssen von Rubens undBrouwer weiter. 1633 wurde er in die Lukasgilde zu Antwerpenaufgenommen und um 1650 als Hofmaler nach Brüssel berufen, woer 25. April 1690 starb. T. ist der fruchtbarste dervlämischen Bauernmaler, der sich jedoch von seinenKunstgenossen durch eine maßvollere, minder derbe undausgelassene Auffassung der bäuerlichen Vergnügungenunterschied. Seine Bilder sind durch gemütlichen Humor, einereiche, wohldurchdachte Komposition, eine leuchtende, frische,bisweilen an das Bunte streifende Färbung, durch geistreicheCharakteristik und frische Lebendigkeit der Darstellungausgezeichnet. Außer Bauerntänzen, Dorfkirmessen,Schlägereien und Wirtshausszenen malte er genrehaftaufgefaßte Szenen aus der Bibel, phantastische Szenen, wiedie Versuchung des heil. Antonius, Alchimisten in ihrenLaboratorien, Wachtstuben mit Soldaten, das Thun und Treiben derMenschen parodierende Tierstücke (Affen, Katzen etc.),Landschaften mit Figuren u. dgl. m. Anfangs in einemkräftigen, bräunlichen Ton malend, eignete er sich inseiner besten Zeit einen warmen Goldton an, an dessen Stelle seitetwa 1650 ein feiner Silberton trat. Er hat etwa 800 Bilderhinterlassen, von denen wir zur Charakteristik seines Stoffsgebietsdie folgenden hervorheben: ein Alchimist, die Puffspieler, derKünstler mit seiner Familie, Versuchung des heil. Antonius,vlämische Kirmes und die Marter der Reichen im Fegefeuer (imBerliner Museum), die Kirmes im Halbmond, die Rauchgesellschaft,die Würfler, die Befreiung Petri aus dem Gefängnis undder Zahnarzt (in der Galerie zu Dresden), die Bauernküche (inden Uffizien zu Florenz), eine Wachtstube, eineSchützengesellschaft vor dem Rathaus zu Antwerpen, dasWirtshaus zum Engel, ein Raucher und ein Hochzeitsmahl (in derEremitage zu St. Petersburg), die Tricktrackspieler, dieBelustigung im Wirtshanshof, zwölf Bilder aus Tassos"Befreitem Jerusalem" und Affen- und Katzenszenen (im Museum zuMadrid), der verlorne Sohn unter den Dirnen, die Verleugnung Petri,die Reiherjagd des Erzherzogs Leopold Wilhelm und der Raucher (imLouvre zu Paris), der Tanz in der Wirtsstube und eineBauernhochzeit (in der Münchener Pinakothek), eineRäuberszene, das Brüsseler Vogelschießen undAbrahams Dankopfer (in der kaiserlichen Galerie zu Wien), dleAusstellung Christi

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Teniet - Tenngler.

und zwei feierliche Einzüge der Erzherzogin Isabella (inder Kasseler Galerie). T. war Direktor der Gemäldegalerie desErzherzogs Leopold Wilhelm, die 1657 nach Wien kam, und hatmehrfach das Innere derselben mit getreuer Nachbildung des Stilsder einzelnen Bilder gemalt (Darstellungen dieser Art inBrüssel, München und Wien). Er hat auch radiert. - SeinBruder Abraham T. (1629-70) hat Bauern-und Tierszenen inähnlicher Art gemalt.

Teniet (arab.), s. v. w. Übergang, Paß.

Tenimberinseln, zur niederländ. ResidentschaftAmboina gehörende Inselgruppe des Indischen Archipels,zwischen den Kleinen Sundainseln und Neuguinea, enthält alsHauptbestandteil die große bergige und waldige InselTimorlaut ("Nordost"), die durch die Egeronstraße in eineNord- und eine Südhälfte getrennt wird und vonzahlreichen kleinen Inseln (Larat, Vordate, Malu etc.) umgeben ist.Das Areal beträgt 5782 qkm (105 QM.) mit 25,000 Einw.

Tenkitten, Dorf im preuß. RegierungsbezirkKönigsberg, Kreis Fischhausen, an der Ostsee, hat (1885) 78Einw. und ist bekannt durch den Märtyrertod des BischofsAdalbert von Prag 997. Zum Gedächtnis ist daselbst ein 8 mhohes Kreuz errichtet.

Tenkterer (Tenchterer), german. Völkerschaft, dieauf dem rechten Rheinufer zwischen Lahn und Wipper wohnte. Siewaren berühmt als ausgezeichnete Reiter. Sie vereinigten sich59 v. Chr. mit den Usipetern, gewannen Sitze am Niederrhein imGebiet der Menapier, überschritten im Winter 56-55 den Rhein,wurden aber 55 in der Nähe von Nimwegen von Cäsar fastvernichtet. 69-70 n. Chr. nahmen die T. am Aufstand des ClaudiusCivilis teil.

Tenn., Abkürzung für Tennessee (Staat).

Tennantit, s. v. w. Arsenfahlerz, s. Fahlerz.

Tenne, s. Scheune.

Tenneberg, Amtsgericht, s. Waltershausen.

Tennemann, Wilhelm Gottlieb, Geschichtschreiber derPhilosophie, geb. 7. Dez. 1761 zu Kleinbrembach bei Weimar,studierte in Erfurt und Jena Kantsche Philosophie, habilitiertesich 1788 an letzterer Universität, folgte 1804 einem Ruf nachMarburg, wo er 30. Sept. 1819 starb. Sein Hauptwerk ist die nichtganz vollendete (in Kants Geist abgefaßte, bis auf Thomasiusreichende) "Geschichte der Philosophie" (Leipz. 1798-1819, 11Bde.), woraus der "Grundriß der Geschichte der Philosophie"(das. 1812; 5. Aufl. von Wendt, 1828) ein Auszug ist.

Tennessee (spr. -ssih), Fluß in den VereinigtenStaaten von Nordamerika, entspringt als Holston in den IronMountains von Westvirginia, nimmt den von den Black Mountains inNordcarolina kommenden Frenchroad River auf, tritt unterhalbChattanooga vom Staate Tennessee nach Alabama über undmündet schließlich, einen weiten Bogen durch Tennesseenach N. beschreibend, bei Paducah (in Kentucky) in den Ohio.Dampfer befahren ihn 440 km aufwärts bis Florence in Alabama,wo er die Stromschnelle der Muscle Shells bildet. Oberhalb ist ernoch 500 km weit schiffbar. Sein gesamter Lauf ist 1600 kmlang.

Tennessee (spr. -ssih, abgekürzt Tenn.), einer derVereinigten Staaten von Nordamerika, grenzt gegen N. an Kentuckyund Virginia, gegen O. an Nordcarolina, gegen S. an Georgia,Alabama und Mississippi, gegen W. an Arkansas und Missouri. DerOsten von T. ist ein Gebirgsland, gebildet von Parallelzügender Appalachischen Gebirge, die im Clingman's Dome (2080 m)kulminieren, und zwischen welchen sich die teilweise sehrfruchtbaren Thäler des obern Tennessee und seinerNebenflüsse ausdehnen. Das mittlere T. ist wellenförmigund vorzüglich zum Ackerbau geeignet, der westliche Teil fastdurchgehend eben, mit ausgedehnten Strecken Alluviallandes, aufwelchem Baumwolle und Tabak gut gedeihen. Der Mississippi bildetdie Westgrenze, und der bedeutendste Fluß des Staats ist derihm indes nur teilweise angehörende Tennessee; er sowie derCumberland münden in den Ohio. Das Klima istverhältnismäßig sehr mild und angenehm. T. hat einAreal von 108,905 qkm (1977,8 QM.) mit (1880) 1,542,329 Einw.,worunter 103,151 Farbige. Die öffentlichen Schulen wurden 1886von 383,507 Kindern besucht; 27 Proz. der über zehn Jahrealten Weißen und 71 Proz. der Neger können nicht lesen.An höhern Bildungsanstalten bestehen 18 Universitäten undColleges. Die Landwirtschaft beschäftigt 66, die Industrie nur8 Proz. der Bevölkerung. 3,440,000 Hektar waren 1880landwirtschaftlich verwertet. Neben Mais, Weizen, Hafer, Batatenund Kartoffeln baut man namentlich Tabak (1880: 29 Mill. Pfd.) undBaumwolle (33,621 Ballen). An Vieh zählte man 1880: 266,000Pferde, 173,000 Maultiere, 783,000 Rinder, 673,000 Schafe und2,160,000 Schweine. Der Bergbau befaßt sich mitFörderung von Steinkohlen (1886: 1,700,000 Ton.), Eisenerz(199,166 T. Roheisen), Zinkerz (1880: 3699 T.), Bleierz (60 T.),Kupfer (1370 Ztr.) und Gold (1998 Doll.). Die 4326 gewerblichenAnstalten beschäftigten 1880: 22,446 Arbeiter. Am wichtigstensind die Getreidemühlen, Sägemühlen, Eisen- undStahlwerke (3077 Arbeiter), Wagenbauwerkstätten,Gießereien u. Lederfabriken. Auch die Baumrvoll- undWollefabrikation (zusammen 1480 Arbeiter) fängt an vonBedeutung zu werden. An Eisenbahnen hat der Staat 1887: 4520 km.Die gegenwärtige Verfassung ist die 26. März 1870angenommene, nach welcher alle männlichen, über 21 Jahrealten Einwohner, ohne Unterschied der Farbe, das Stimmrecht haben.Die General Assembly besteht aus einem Senat von 33 und einemRepräsentantenhaus von 66 Mitgliedern, welche alle zwei Jahreneu gewählt werden. Die fünf Richter des Obergerichtssowohl als die Richter der Kreisgerichte werden vom Volk auf achtJahre gewählt. Die Finanzen waren bis zum Ausbruch desBürgerkriegs in gutem Zustand, aber infolge desselben und derdarauf eingetretenen Anarchie war die Staatsschuld 1874 auf 24Mill. Doll. angewachsen. Man fundierte dieselbe 1883 auf dieHälfte, so daß dieselbe 1888 nur 18 Mill. Doll. betrug,und hat überhaupt erfolgreiche Anstrengungen gemacht,geordnete Zustände herbeizuführen. Die politischeHauptstadt ist Nashville. - Das Gebiet des Staats T. warursprünglich in den 1664 von Karl II. für Nordcarolinaerteilten Freibrief mit eingeschlossen, doch fanden bis 1757 keineAnsiedelungen jenseit der Alleghanies statt. 1790 trat Nordcarolinadas Gebiet an die Bundesregierung ab, welche eineTerritorialregierung daselbst errichtete. 1796 wurde T. als Staatin die Union aufgenommen. Nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs1862 erklärte sich T. nur vorübergehend und teilweisefür die konföderierten Staaten, war aber 1862 und 1863mehrfach der Schauplatz blutiger Kämpfe. Vgl. Phelan, Historyof T. (Boston 1888).

Tenngler, Ulrich, deutscher Jurist, geboren um die Mittedes 15. Jahrh. zu Haidenheim bei Nördlingen, bekleidete1479-83 das Amt eines Stadtschreibers zu Nördlingen und wardann bis zu seinem 1510 oder 1511 erfolgten Tod Landvogt inHöchstädt. Er versaßte den sogen. "Layenspiegel"(Augsb. 1509 u. öfter, seit 1516 häufig mit dem vonSeba-

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Tennis - Tenorino.

stian Brant herausgegebenen "Klagspiegel" gedruckt), einesystematische Realencyklopädie der populären Jurisprudenzfür die Praxis, welche länger als ein halbes Jahrhundertdie deutsche Rechtsprechung beherrschte und am nachhaltigstenfür die Einbürgerung der fremden Rechte gewirkt hat.

Tennis, Ballspiel, s. Lawn Tennis.

Tennstedt, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Erfurt,Kreis Langensalza, hat eine evang. Kirche, ein Amtsgericht, einSchwefelbad, eine Papierfabrik, eine Dampfbierbrauerei und (1885)2952 evang. Einwohner. Vgl. Roßbach, Das Schwefelbad T. (Erf.1880).

Tennyson (spr. tennis'n), Alfred, engl. Dichter, geb. 6.Aug. 1809 zu Somerby in Lincolnshire als der Sohn einesGeistlichen, studierte zu Cambridge und gab bereits 1827 anonym mitseinem Bruder Charles die "Poems of two brothers", dann 1830 dieSammlung "Poems, chiefly lyrical" heraus, die aber wenig Beifallfand, obschon in Einzelheiten, wie in "Mariana, recollections ofthe Arabian nights" und "Claribel", poetischer Genius nicht zuverkennen war. Auch ein zweiter Band Gedichte (1833) erfuhr von derKritik ziemlich unfreundliche Behandlung. Erst mit den zweiBänden "Poems", die 1842 erschienen, viele Auflagen erlebtenund zum Teil Überarbeirungen früherer Poesien, zum TeilNeues enthielten, hatte T. Erfolg, und verschiedene darunter, wie"Morte d'Arthur", "Godiva" (deutsch von Feldmann, 2. Aufl., Hamb.1872), "The May Queen", "The gardener's daughter", gehören zuden schönsten Schöpfungen Tennysons. Insbesondere ist"Locksley Hall" (deutsch von Freiligrath) durch Tiefe undGroßartigkeit ausgezeichnet. Tennysons nächstes Werk:"The princess, a medley" (1847), das reizende lyrische Bestandteilehat, erzählt von einem Prinzen und einer Prinzessin, die nachdem Willen der Eltern einander heiraten sollen, ohne sich gesehenzu haben, und ist halb realistisch, halb phantastisch gehalten.1850 gab er einen Band Gedichte unter dem Titel: "In memoriam"(deutsch von Waldmüller, 4. Aufl. 1879) heraus, welche, demAndenken an einen verstorbenen Freund (Arthur Hallam, den Sohn desHistorikers) gewidmet, das Seelenleben des Dichters und dieWeichheit seines Gemüts entfalten. Neuen Beifall erwarb derinzwischen (1851) zum Poet laureate ernannte Dichter mit der "Odeon the death of the duke of Wellington" (1852), der Dichtung"Maude" (1855, darin die gewaltige "Charge of the light brigade"),namentlich aber mit den "Idylls of the king" (1858; deutsch vonFeldmann, 2. Aufl., Hamb. 1872), einem auf den sagenhaftenBritenkönig Arthur bezüglichen Romanzencyklus, der eineErgänzung fand durch die Bände: "The Holy Grail" (1869),"Tristam and Iseult" (1871), "Gareth and Lynette" und "The lasttournament" (1872), welch letztere aber in der Lesewelt nicht mehrden Anteil erweckten, dessen die frühern Stücke sicherfreuten. Diese in fünffüßigen Jambengeschriebenen Idylle bilden ein großes Ganze. Zwischen dasErscheinen der Arthur-Idyllen fallen die Dichtungen: "Enoch Arden"(1864) und "The Window, or the songs of the Wren" (1870).Später versuchte er sich auch im Drama mit "Queen Mary" (1875)und "Harold" (1876; deutsch vom Grafen Wickenburg, Hamb. 1880),"The Falcon" (1879), "The Cup" (1881), "The promise of May" (1882)und "Beckett" (1884). Weitere Veröffentlichungen Tennysonssind: "The lover's tale" (1879), worin er auf Jugenderzeugnissezurückgreift, um sich unberechtigter Publikation durch Drittezu erwehren; "Ballads and other poems" (1880); die poetischeErzählung "Tiresias" (1885) und "Locksley Hall, sixty yearsafter" (1886; deutsch, Gotha 1888). Tennysons poetische Richtungist vorwiegend kontemplativ, weniger aufs Erhabene gerichtet;meisterhaft sind seine Schilderungen des Natur- und Seelenlebens.Die Universität Cambridge hat T., der seit 1869 auf einemLandsitz in der Nähe von Petersfield in Hampshire lebt, durchAufstellung seiner Büste in der Bibliothek der Trinity Hallgeehrt, Oxford durch Verleihung des Doktorgrades; 1884 wurde er vonder Königin als Baron T. von Altworth zum Peer ernannt. Seinegesammelten Werke: "Poetical works", erschienen zuletzt 1886 in 10Bänden, die "Dramatic works" 1887 in 4 Bänden.Ausgewählte Dichtungen von T. in deutscher Übersetzunggaben Freiligrath (in "Englische Gedichte aus neuerer Zeit",Stuttg. 1846), Hertzberg (Dess. 1854) und Strodtmann (Hildburgh.1867) heraus. Letztere Ausgabe enthält auch das ungemeinbeliebte Gedicht "Enoch Arden", welches außerdem noch von R.Waldmüller (30. Aufl., Hamb. 1888) u. a. übersetzt ward.Vgl. Wace, Alfred T. (Lond. 1881).

Tenor (lat.), der ununterbrochene Lauf einer Sache;Haltung, Inhalt (eines Aktenstücks, eines Gesetzes etc.). Unotenore, in einem fort.

Tenor (ital. Tenore, franz. Taille), die hoheMannerstimme, die sich jedoch von der tiefern (dem Baß) nichtwie der Sopran vom Alt durch das Überwiegen eines hohenRegisters über ein tiefes unterscheidet; die sogen. Kopfstimmekommt bei Männerstimmen nur ausnahmsweise und als Surrogat zurVerwendung, die eigentlichen vollen Töne desMännergesangs vom tiefsten Baß bis zum höchsten T.werden durch dieselbe Funktion der Stimmbänder erzeugt wie diesogen. Brusttöne der Frauenstimmen (vgl. Register). Manunterscheidet zwei Hauptgattuugen von Tenorstimmen, sogen. lyrischeund Heldentenöre. Der Heldentenor entspricht etwa demMezzosopran, d. h. er hat nur einen mäßigen Umfang (vomklein c-b'), zeichnet sich durch eine kräftige Mittellage undein baritonartiges Timbre aus; der lyrische T. hat ein vielhelleres, fast an den Sopran gemahnendes Timbre und in der Regeleine kraftlosere Tiefe, dafür aber nach der Höhe einenausgiebigern Umfang (c'', cis''). - T. heißt auch der Part inVokal-und Instrumentalkompositionen, welcher für dieTenorstimme bestimmt ist, resp. ihr der Höhenlage nachentspricht; auch Instrumente, welche diesen Umfang haben,heißen Tenorinstrumente, so die Tenorposaune, das Tenorhorn,früher die Tenorviola etc. - Der Name T. (eigentlich s. v. w.fortlaufender Faden) wurde zuerst im 12. Jahrh., als der Diskantusaufkam, der dem Gregorianischen Gesang entnommenen Hauptmelodiebeigelegt, gegen welche eine höhere diskantierte (abweichendsang); so wurde T. der Name der normalen Mittelstimme und Diskantusder der hohen Gegenstimme. Später gesellte sich alsStütze (basis) der Baß und als weitere Füllstimmeder contratenor (Gegentenor), welcher auch alta vox, altus (hoheStimme) genannt wurde, während der Diskant dann zum supremus,soprano (der "höchste") wurde.

Tenorhorn (ital. Corno cromatico), tubaartigesMessinginstrument mit dem Umfang vom großen As bis zumzweigestrichenen c, hauptsächlich bei Militärmusikgebräuchlich.

Tenorino (ital., "kleiner Tenor"), Bezeichnung derfacettierenden Tenore (spanischen Falsettisten), welche vorZulassung der Kastraten (s. d.) die Knabenftimmen in derSixtinischen Kapelle und anderweit vertraten. Später nannteman sie im Gegenssatz

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Tenorist - Teplitz.

zu den auf widernatürliche Weise konservierten Sopranistenund Altisten Alti naturali (vgl. Alt).

Tenorist, Tenorsänger (s. Tenor).

Tenorit, s. v. w. Schwarzkupfererz, s.Kupferschwärze.

Tenorschlüssel, der c'-Schlüssel auf dervierten Linie, welche dadurch Sitz des c' wird:

[Siehe Graphik]

gleich:

[Siehe Graphik]

Tenos, Insel, s. Tinos.

Tenotomie (griech.), Sehnendurchschneidung (s. d.).

Tension (lat.), Spannung der Gase und Dämpfe.

Tentacuiites, s. Schnecken, S. 573.

Tentakeln (Fühlfäden), s. Fühler.

Tentakulitenschiefer, s. Silurische Formation.

Tentamen (lat.), s. v. w. Examen, jedoch gewöhnlicheine nur vorläufige, minder eingehende Prüfung, die alssolche hier und da dem eigentlichen Examen vorausgeschickt zuwerden pflegt.

Tente d'abri (franz., spr. tangt dabrih, "Schutzzelt"),das im franz. Heer bisher gebräuchliche Lagerzelt für 2Mann, 1878 für Europa abgeschafft.

Tenthredinidae, Familie aus der Ordnung derHautflügler, s. Blattwespen.

Tentyris, alte ägypt. Stadt, s. Dendrah.

Tenue (franz., spr. t'nüh), Haltung, Führung;Kleidung; en (grande) t., im Paradeanzug, in Gala; petite t.,Dienst-, Interimsuniform.

Tenuirostres, s. Dünnschnäbler.

Tenuis (lat.), alte Bezeichnung der tonlosen Konsonantenp, t, k. Vgl. Media.

Tennität (lat.), Dünnheit;Geringfügigkeit.

Tenuta (ital.), Landgut, Gehöft.

Tenuto (ital., abgek. ten., "ausgehalten"), musikalischeVortragsbezeichnung besonders in Verbindung mit einem dynamischenZeichen, z. B. f ten., in gleicher Stärke ausgehalten (nichtdiminuendo), gilt stets nur für einen Ton oder Akkord.

Tenzone (ital.), Wett- oder Streitgesang; bei denProvençalen eine Art poetischer Witzspiele (s.Provençalische Sprache und Litteratur, S. 425). Vgl. Zenker,Die provenzalische T. (Leipz. 1888).

Teokalli, die Tempelbauten der alten Mexikaner, s.Amerikanische Altertümer, S. 482.

Teong, Längenmaß in Birma, = 0,485 m.

Teos, im Altertum ionische Stadt an der Küste vonLydien in Kleinasien, nordwestlich von Ephesos, mit berühmtemDionysostempel, war Geburtsort des Anakreon (des "teischenSängers") und trieb bedeutenden Handel bis nach Ägypten.Ruinen beim heutigen Sighadschik.

Teotihuacan (San Juan de T.), Indianerortschaft, 50 kmnordöstlich von Mexiko, mit zwei 55 m hohen und zahlreichenkleinern Opferpyramiden und (1880) 4028 Einw. (im Munizipium).

Tepe (türk.), Spitze, Anhöhe.

Tepejilote, s. Chamaedorea.

Tepekermen, Berg auf der Halbinsel Krim, unweitBaktschisarai, erhebt sich in Gestalt eines einzeln stehendenKegels, auf dessen kahlem Gipfel Überreste alter Bauwertesichtbar und etwas niedriger auf einer nach N. gerichtetenBöschung einige Reihen Höhlen sind, zu denen der Zugangsehr schwierig ist. In einer derselben hat man viele Knochen, ineiner andern Spuren einer Kirche entdeckt.

Tepeleni, heruntergekommenes Städtchen im türk.Wilajet Janina, links an der Viosa unterhalb Argyrokastrons,bekannt als Geburtsort und Lieblingsaufenthalt Ali Paschas vonJanina, dessen dortiger prächtiger Palast heute in Ruinenliegt, mit 600 Einw.

Tephrite, Eruptivgesteine, in welchen die eisenfreienthonerdereichen Mineralien aus Plagioktas und Leucit oder Nephelinbestehen, welchen sich vorwiegend Augit zugesellt.

Tepic, Stadt im mexikan. Staat Jalisco, 50 km von SanBlas, 880 m ü. M., in fruchtbarem Thal, wo Kaffee, Zuckerrohrund Baumwolle gedeihen, hat (1880) 24,788 Einw. (im Munizipium),die von den 56 in der Nähe liegenden Bergwerken abhängen.T. ist Sitz eines deutschen Konsuls.

Tepidarium (lat.), in den altrömischen Bäderndas Zimmer für lauwarme Bäder (s. Bad, S. 222); auchRäumlichkeit mit lauer Temperatur (5-9° R.), besondersfür Gewächse (s. Gewächshäuser).

Tepl, Stadt in Böhmen, am gleichnamigen Fluß,welcher unweit südlich entspringt und unterhalb Karlsbad indie Eger mündet, ist Sitz einer Bezirkshauptmannschaft undeines Bezirksgerichts, hat eine Dechanteikirche, Bierbrauerei und(1880) 2733 Einw. Dabei das 1l93 gegründete reichePrämonstratenserstift T. mit Kirche, Bibliothek (60,000Bände), Archiv und theologischer Lehranstalt.

Teplitz (Töplitz), 1) Stadt und berühmterKurort im nördlichen Böhmen, in dem reizenden, zwischendem Erzgebirge und dem böhmischen Mittelgebirge sichausbreitenden Bielathal 230 m ü. M. gelegen, Station derEisenbahnen Aussig-T.-Komotau und Dux-Bodenbach, ist Sitz einerBezirkshauptmannschaft, eines Bezirksgerichts, Hauptzoll- undRevierbergamtes, hat ein Schloß des Fürsten Clary mitschönem Park, eine Dechanteikirche, eine evang. Kirche (1862erbaut), einen israelitischen Tempel (1882), ein Realgymnasium,eine Handelsschule, eine Fachzeichenschule für Keramik, einschönes Stadttheater (seit 1874), einen Gewerbeverein, eineSparkasse (Einlagen 5 Mill. Gulden), eine Filiale derÖfterreichisch-Ungarischen Bank, ein österreichisches,ein sächsisches und preußischesMilitärbadeinstitut, 3 Spitäler und (1880) 14,841, mitdem angrenzenden Badeort Schönau 16,750 Einw. In neuerer Zeithat sich die Stadt, begünstigt durch die in der Umgegendbefindlichen reichen Braunkohlenlager (1887 wurden imRevierbergamtsbezirk T. 23,9 Mill. metr. Ztr. Kohlengefördert), zu einem bedeutenden Industrie- und Handelsplatzemporgeschwungen. Es bestehen hier insbesondere Fabriken fürWirkwaren, Knöpfe, Baumwoll- und Gummiwaren, chemischeProdukte, Glas, Siderolith, Töpferwaren, Spiritus, Mehl,Bretter, Möbel, ein Walzwerk mit Bessemerhütte, eineMaschinenbauwerkstätte und eine Gasanstalt. Diegegenwärtig benutzten Heilquellen von T.-Schönau (dieStadtbadquellen, nämlich die Urquelle und die Frauenbadquelle,48° C., die Steinbadquelle 34,6°, die Stephansquelle 36,75,die Sandbadquelle 32,5° und die Wiesenquelle 32,7° in T.,die Schlangenbadquelle 39° und die Neubadquelle 44,75° C.in Schönau) führen meist alkalisch-salinisches Wasser,mit nur geringen festen Bestandteilen, vorzugsweise kohlensauremNatron, vermischt. 10,000 Volumteile der Urquelle enthalten 1110Teile halb gebundene, 34 wirklich freie Kohlensäure, 51Stickstoff, 18 Sauerstoff, 4,144 kohlensaures Natron, 0,630Chlornatrium, 0,018 phosphorsaures Natron, 0,228 schwefelsauresKali, 0,175 Teile Kieselsäure etc. Das Wasser ist farblos undhat einen matten Geschmack. Die Quellen werden fastausschließlich zum Baden gebraucht und zwar vorzugsweisegegen chronischen Rheumatismus, Gicht, Lähmungen, beiskrofulösen Anschwellungen und Geschwüren, Neuralgien,beginnenden Rückenmarksleiden, namentlich aber bei denNachkrankheiten aus Schuß- und Hiebwunden, nachKnochenbrüchen ("Bad der Krieger").

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Teppichbeete - Teppiche.

Die Urquelle dient auch zur Trinkkur. Von den Quellen werden 10Badehäuser gespeist. Die Frequenz von T.-Schönau beliefsich 1887 auf 7351 Kurgäste nebst 19,224 Passanten. DerBadegesellschaft dienen als Versammlungs- und Vergnügungsorte:der in der Mitte der Stadt gelegene Kurgarten, in welchem sich dasneue Stadttheater, die Trinkhallen, der Kursalon und daspalastartige Kaiserbad befinden; der Garten und Park desfürstlich Claryschen Schlosses; die 264 m hoheKönigshöhe mit dem Schießhaus, der Schlackenburgund dem Denkmal König Friedrich Wilhelms III.; das Belvedere;der Seumepark mit dem Grabmal Joh. Gottfr. Seumes (gest. 1810); derKaiserpark; die Payer-und Humboldtanlagen; der 392 m hoheSchloßberg mit Schloßruinen; der Turner und PropstauerPark etc. In der Nähe Eichwald, inmitten prächtigerWaldungen, in neuerer Zeit als Sommeraufenthalt und klimatischerKurort vielbesucht, mit Kaltwasserheilanstalt, Porzellan- undSiderolithfabrik. - Die Quellen von T. sollen der Sage nach 762entdeckt worden sein, waren aber zweifellos viel früherbekannt. Urkundlich wird der Stadt erst im 12., der Bäder im16. Jahrh. gedacht. Um 1630 gehörten Stadt und Schloßdem Herrn v. Kinsky, der in Wallensteins Sturz verwickelt ward.Darauf belieh der Kaiser Ferdinand II. den GeneralfeldmarschallGrafen von Aldringer damit, und als 1634 der Mannesstamm diesesGeschlechts erlosch, kamen Stadt und Schloß an die Clarys. ImSeptember und Oktober 1813 war T. das Hauptquartier der dreialliierten Monarchen. Im September 1835 hatten die Monarchen vonÖsterreich, Rußland und Preußen, im Herbst 1849der Kaiser von Österreich, die Könige von Preußenund Sachsen und 25. Juli 1860 der Kaiser von Österreich undder Prinz-Regent von Preußen eine Zusammenkunft in T. 1862wurde das 1100jährige Jubelfest der Thermen gefeiert und dabeiein Denkmal enthüllt. Durch eine Katastrophe in denbenachbarten Kohlenwerken von Ossegg (10. Febr. 1879), welche dasThermalwasser dorthin abführte, war die Fortexistenz von T.als Badeort in Frage gestellt. Doch wurde das Verhängnisglücklich abgewendet und die Quellen in kurzer Zeit (3.März) an ihren alten Austrittsöffnungen wieder zu Tagegefördert. Vgl. Friedenthal, Der Kurort T.-Schönau,topographisch und medizinisch dargestellt (Wien 1877); Herold,Studien über die Bäder zu T. (das. 1886); Delhaes, DerBadeort T.-Schönau (3. Aufl., Prag 1886); Lustig, Karlsbad undT., balneo-therapeutisch (2. Aufl., Wien 1886); Hallwich, T., einedeutschböhmische Stadtgeschichte (Leipz. 1886).

2) Ungar. Badeort, s. Trentschin.

Teppichbeete, s. Blumenbeete.

Teppiche, meist gemusterte Gewebe, welche seit demAltertum zum Bekleiden der Wände (die spätern Tapeten),zum Bedecken der Fußböden, Polster etc. dienen. Diesevielseitige Verwendung finden die T. gegenwärtig nur noch imOrient, während sie in Europa fast ausschließlich zumBedecken der Fußböden benutzt werden. Man unterscheidetorientalische T., welche auf rahmenartigen Vorrichtungen durchHandarbeit, und europäische, welche auf Webstühlenangefertigt werden. Orientalische T. liefern Indien, Persien, dieTürkei, aber auch der Kaukasus, Siebenbürgen, Kroatien,Slawonien und Rumänien. Sie zeichnen sich durch vortrefflicheArbeit und besonders durch das Muster aus, welches auf dem Prinzipder Flächendekoration beruht, die Perspektive und dienaturalistische Nachahmung vegetabilischer und animalischerKörper beiseite läßt und aus zierlichen Ornamentenin harmonischer Färbung besteht. Die orientalischen T. sindgeflochten oder geknüpft. Erstere, nach einerfranzösischen Nachahmung gobelinartige genannt, bilden einglattes Gewebe, dessen Kette aus Leinen- oder Baumwollgarn durcheinen dicht angeschlagenen wollenen Schuß vollständigbedeckt wird, so daß ein ripsartiger Stoff entsteht. DerSchuß wird indes nicht auf die ganze Breite des Stoffeseingetragen, sondern nur an den Stellen, wo er wirken soll, mit derKette verbunden. Die geknüpften, plüschartigen T. werdenauf baumwollener, leinener oder wollener Kette durch dasEinknüpfen von Flormaschen hergestellt, die man jede einzelndurch die Breite des Teppichs einlegt. Nach Vollendung des Teppichswird der Flor desselben mit einfachen Handscheren egalisiert. DasMaterial des Flors ist Schafwolle, für feinere T. auchZiegenhaare und Seide. Die schönsten orientalischen T. sinddie persischen (s. Tafel "Ornamente IV", Fig. 11, und Tafel"Weberei", Fig. 16) und von diesen wieder die von Farahan in derProvinz Arak; sie enthalten auf 1 m Breite 400-500 Flormaschen. Dieindischen (s. Tafel "Weberei", Fig. 22) haben einen ansehnlichhöhern Flor und 300-350 Maschen auf 1 m, für deneuropäischen Handel sind aber bei weitem wichtiger dieungleich billigern türkischen T., von denen die Smyrnaer mit120-200 Maschen am geschätztesten sind; sie besitzen stetseine wollene Kette, während die der persischen und indischenaus Baumwolle besteht. Die orientalischen T., und namentlich diegeknüpften Smyrnateppiche, werden mit gutem Erfolg in Europa,speziell in Deutschland (Schmiedeberg seit 1856, Kottbus, Wurzen,Springe, Linden etc.) und Wien, nachgeahmt und zwar unter Anwendungderselben Methode. Man arbeitet aber mit Kette aus Leinengarn undGrundschuß aus Jute, erreicht eine große technischeVollkommenheit und versteht auch die Muster und Farben so getreunachzubilden, daß ein großer Unterschied zwischenechten und nachgeahmten Smyrnateppichen nicht mehr besteht.Nachahmungen der orientalischen geflochtenen T. sind die Gobelins(s. Tapeten). Die eigentlichen europäischen T. werden aufmechanischen Webstühlen, die bessern auf der Jacquardmaschinehergestellt. Die glatten T. bilden in Europa wie im Orientgewöhnlich die geringere Sorte; man verfertigt sie aus Kuh-oder Ziegenhaar, ordinärem Streichgarn oder Jute und benutztsie als Laufteppiche zum Bedecken von Treppen, Fluren etc. Hierhergehören auch die Kidderminsterteppiche aus Doppelgewebe,wollener oder baumwollener Kette und viel stärkerm wollenenSchuß; das Muster erzeugt sich rechts und links in gleicherWeise. Die Plüschteppiche haben entweder einen ungeschnittenenFlor, welcher kleine, geschlossene Noppen bildet (BrüsselerT.), oder einen aufgeschnittenen Flor, der eine samtartigeOberfläche bildet (Velours-, Tournai-, Wilton-,Axminsterteppiche). Die Herstellung ist im wesentlichen die derPlüsche und Samte. Das Muster wird meist mit derJacquardmaschine hervorgebracht, und je nachdem es mehr oderweniger Farben enthält, zieht man zwischen je zwei leinenenGrundfäden mehr oder weniger Polfäden in jedes Riet einund unterscheidet nach der Zahl derselben die T. als drei-, vier-,fünf- etc. chörige oder teilige. Billigere T. erzielt mandurch Aufdrucken des Musters, indem man entweder das gewebte Stuckbedruckt, oder das Muster der Polkette vor der Verarbeitungappliziert. Das letztere Verfahren liefert eine sehr gute Ware,welche die im Stück bedruckten

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Teptjären - Terceira.

T. weit übertrifft. Die Ornamentation der T. ahmt entwederdie orientalische Sitte nach (besonders die Jacquardteppiche), odersie bedeckt die ganze Fläche mit Blumen, Tieren, Architekturetc. (besonders bedruckte T.). Das erste Prinzip hat sich als dasfür T. ästhetisch angemessenste immer mehr Bahngebrochen, so daß der Naturalismus in Deutschland, Englandund Österreich nur noch die billige Ware beherrscht. InFrankreich ist dagegen das naturalistische Dessin in denextravagantesten Formen noch vorherrschend. Gegenwärtig werdenin England, Österreich und Deutschland orientalische T. allerArt nachgebildet. In Deutschland, welches frühergrößtenteils Kettendruckteppiche lieferte, werden auchT. in Brüsseler und Axminsterart fabriziert (Berlin). Vgl.Lessing, Alt-orientalische Teppichmuster (Berl. 1877).

Teptjären, eine aus flüchtigen Wolgasinnen undTschuwaschen hervorgegangene, jetzt ganz tatarisierteVölkerschaft im europäischen Rußland, unter denBaschkiren in den Gouvernements Orenburg und Ufa lebend, 126,000Köpfe stark.

Ter, Fluß in der span. Provinz Gerona, entspringtauf den Ostpyrenäen und mündet unterhalb Torroella in dasMittelländische Meer; 155 km lang.

Teramo, ital. Provinz in der Landschaft der Abruzzen,grenzt im N. an die Provinz Ascoli-Piceno, im W. an Aquila, im S.an Chieti und im O. an das Adriatische Meer und hat einenFlächenraum von 3325, nach Strelbitsky nur 2875 qkm (52,22QM.) mit (1881) 254,806 Einw. Die Provinz enthält an derwestlichen Grenze den Hauptzug der Abruzzen mit dem Gran Sassod'Italia und wird vom Tronto, Tordino, Vomano, Piomba und Pescarabewässert. Erwerbszweige sind Getreide- (1887: 545,028 hlMais, 522,751 hl Weizen), Wein- (483,891 l.l) und Ölbau(34,852 hl Öl), Seidenzucht, Seefischerei und etwas Industrie.Längs der Küste zieht die Eisenbahn Ancona-Brindisi hin.Die Provinz zerfällt in die zwei Kreise Penne und T. - DieHauptstadt T., am Tordino und an der Eisenbahn Giulanova-T., hateine Kathedrale aus dem 14. Jahrh., ein bischöflichesKollegium, Seidenspinnerei, Fabriken für Strohhüte,Leder, Thonwaren, Möbel etc. und (1881) 8634 Einw., ist Sitzder Präfektur, eines Zivil- und Korrektionstribunals, einerFinanzintendanz, eines Bistums und einer Handelskammer. T. giltfür das alte Interamna (Reste von Thermen, eines Theatersetc.).

Teras, s. Gallwespen.

Teratolith (Eisensteinmark, sächsische Wundererde),Mineral, kommt in derben, bläulichen und grauen, matten undundurchsichtigen Massen vor, Härte 2,5-3, spez. Gew. 2,5,besteht im wesentlichen aus wasserhaltigem Eisenaluminiumsilikatund stellt ein Zersetzungsprodukt des sogen. Porzellanjaspis, einesdurch Kohlenbrände umgewandelten Schieferthons, dar, dessenPflanzenabdrücke bisweilen noch erkennbar sind. T. findet sichin der Steinkohle von Zwickau und in der Braunkohle von Zittau undwurde früher medizinisch benutzt.

Teratologie (griech.), die Lehre von denMißbildungen der Pflanzen und Tiere; s. Mißbildung.

Teratom (griech.), eine Balggeschwulst, welche durchabnorme fötale Entwickelung entsteht und ganze Organe oderOrganteile, Haare, Knorpel, Muskelfasern, Epithelien etc.einschließt.

Teratoskopie (griech.), s. Zeichendeuter.

Terbene, s. Kamphene und Ätherische Öle.

Terborch (früher Terburg genannt), Gerard,niederländ. Maler, geboren um 1617 zu Zwolle, war Schülerseines Vaters Gerard (1584-1662), von dem sich nur Handzeichnungenerhalten haben, ging 1632 nach Amsterdam und von da nach Haarlem,wo er zu P. Molyn dem ältern in die Lehre trat, aber mehr vonFrans und Dirk Hals beeinflußt wurde, was sich sowohl inseinen Bildnissen als in seinen eleganten Sittenbildern zeigt. 1635trat er in die Lukasgilde zu Haarlem ein, ging aber noch indemselben Jahr nach England und von da nach Italien.Zurückgekehrt, hielt er sich eine Zeitlang in Amsterdam auf,wo er von Rembrandt Einflüsse erhielt, und 1646 ging er nachMünster, wo er als Porträtmaler während derFriedensverhandlungen thätig war und unter anderm dasberühmte Bild des Friedenskongresses mit 60 Bildnissen (jetztin der Nationalgalerie zu London) malte. Von da ging er nachMadrid, wo er sich ein Jahr aufhielt und seinen Stil durch dasStudium des Velazquez vervollkommte. 1650 war er wieder in Hollandund ließ sich 1654 in Deventer nieder, wo er späterBürgermeister wurde und 8. Dez. 1681 starb. T. ist dergeistvollste holländische Sittenmaler, welcher psychologischeFeinheit der Charakteristik mit vornehmer, anmutiger Darstellungund glänzender koloristischer Behandlung der Stoffe verbandund seinen Genrebildern aus den Kreisen des höhernBürgerstandes gern einen novellistischen Inhalt gab. SeineHauptwerke dieser Gattung sind: die väterliche Ermahnung (imReichsmuseum zu Amsterdam, ein zweites Exemplar in Berlin), dieKonsultation (im Museum zu Berlin), die Lautenspielerin und derbrieflesende Offizier mit dem Trompeter (in der Dresdener Galerie),die Depesche (im Museum des Haag), die Lautenspielerin und dasmusizierende Paar (in der Galerie zu Kassel), die Musikstunde (inder Nationalgalerie zu London), der Leseunterricht, die Musikstundeund der Offizier und das Mädchen (im Louvre zu Paris), derBote vom Lande, der Liebesantrag, das Glas Limonade und das Konzert(in der Eremitage zu St. Petersburg) und dieÄpfelschälerin (in der kaiserlichen Galerle zu Wien).Ausgezeichnete Bildnisse von T. besitzen die Galerien in Amsterdam,Berlin und im Haag. T. hat auch zahlreiche Handzeichnungenhinterlassen. Vgl. Bode, Studien zur Geschichte derholländischen Malerei (Braunschw. 1883); Mons, G. T. en zijnefamilie (in der Zeitschrift "Oud Holland" 1886); Lemcke in Dohmes"Kunst und Künstler", Bd. 2; Michel, G. Terburg et sa famille(Par. 1888).

Terburg, Maler, s. Terborch.

Terceira (spr. tersse-ira), Insel, s. Azoren.

Terceira (spr. tersse-ira), Antonio José de Souza,Herzog von, Graf von Villaflor, portug. Marschall, geb. 10.März 1792 zu Lissabon, stieg im Kriege gegen Napoleon I. biszum Stabsoffizier, ging 1817 nach Brasilien, wo er Gouverneur derProvinz Pará, dann der von Bahia ward, kehrte 1821 mitKönig Johann VI. nach Europa zurück und ward 1826 von derRegentin Isabella zum Marescal de Campo ernannt und gegen denParteigänger Dom Miguels, Marquis de Chaves, gesendet. Erschlug denselben und ward hierauf zum Obergeneral der Nordarmee undGouverneur der Provinz Alemtejo erhoben. Als 1828 Dom Miguel dieRegentschaft übernahm, mußte sich T. als eifrigerChartist vor dem Pöbel auf ein englisches Kriegsschiffflüchten und ging nach London. Dort bereitete er dieExpedition nach Terceira vor, bemächtigte sich im Juni 1829dieser Insel, 1830 auch der übrigen Azoren, ward von Dom Pedromit dem Oberbefehl der dort gesammelten Truppen betraut und landeteim Juli 1832 in Porto. Am 20. Juni 1833 erhielt er den Oberbefehlüber die Expedition

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Tercerones - Terentius.

nach Algarve und ward zum Herzog von T. ernannt. Er schlug imJuli das miguelistische Heer bei Almada und besetzte 24. d. M.Lissabon. Im März 1834 von Dom Pedro mit dem Oberbefehl inPorto betraut, reinigte er die nördlichen Provinzenvöllig von den Miguelisten und wurde im April 1836 an dieSpitze des Ministeriums berufen, mußte aber bald denAbsolutisten weichen. Erst 1842 und 1843 nach Herstellung derCharte trat er wieder ans Ruder, ohne sich indes lange behaupten zukönnen. Mit Saldanha leitete er im Oktober 1846 dieKonterrevolution im monarchischen Sinn, ward aber bei dem Versuch,Porto zu beruhigen, von den Insurgenten gefangen genommen und erstim Juni 1847 wieder freigegeben. Im März 1850 ward er zumKommandanten der 1. Armeedivision in Lissabon und im März 1859wieder zum Präsidenten des Kabinetts ernannt, starb aber schon26. April 1860.

Tercerones (span.), Ankömmlinge von einemEuropäer und einer Mulattin.

Terdschuman (Terguman, daraus entstanden Dragoman),Dolmetsch, Übersetzer; Diwanterdschumani, der offizielleÜbersetzer der Hohen Pforte, ehedem ein ausschließlichchristliches Amt und zugleich Titel der Hospodare der Moldau undWalachei; T.-efendi, der Dolmetsch des Sultans während desEmpfangs europäischer Gesandten; T.-odasi,Übersetzungsbüreau der Hohen Pforte. Vgl. Dolmetsch.

Tereben, chem. Verbindung, entsteht bei Vermischung vonTerpentinöl mit konzentrierter Schwefelsäure undwiederholter Destillation, bildet ein schwach gelbliches Öl,siedet bei 156°, riecht thymianähnlich und dient alsdesinsizierendes und antiseptisches Mittel.

Terebinthe, s. v. w. Terpentinpistacie, s. Pistacia.

Terebinthineen (Terebinthaceen, Anakardiaceen,Balsamgewächse), dikotyle, etwa 450 Arten umfassende,hauptsächlich in der Tropenzone einheimische, aber auch inSüdeuropa vertretene Pflanzenfamilie aus der Ordnung derTerebinthinen, Milchsaft führende Bäume undSträucher mit wechselständigen, ungeteilten oderhandförmig dreizähligen oder unpaarig gefiederten,nebenblattlosen Blättern und meist durch Fehlschlageneingeschlechtigen, ein- oder zweihäusigen, seltenerzwitterigen, regelmäßigen, meist kleinen undunansehnlichen Blüten, welche end- oder achselständigeRispen oder Ähren bilden und einen variabeln Bau besitzen. AlsGrundtypus ist eine fünf- oder vierzählige Blüte mitdoppeltem Staubblattkreis und reduzierter Zahl derFruchtblätter (meist drei) anzusehen, von denengewöhnlich nur eins den Ovarteil ausbildet. ZwischenStaubblättern und Karpiden befindet sich ein ring- oderbecherförmiger Diskus; letztere sind stets eineiig. Vgl.Marchand, Révision du groupe des Anacardiacées (Par.1869). - Eine Reihe von Arten aus den Gattungen Pistacia L., RhusL., Anacardites Sap. u. a. kommen fossil in Tertiärschichtenvor. Offizielle Anwendung finden die Blätter des Giftsumachs(Rhus Toxicodendron) aus Nordamerika, das Harz (Mastix) der auf dengriechischen Inseln einheimischen Pistacia Lentiscus und die durchihre eigentümliche Gestalt bekannten Früchte dertropischen Anacardium occidentale und orientale, die sogen.Elefantenläuse. Gegessen werden die Früchte dersüdeuropäischen und im Orient wachsenden Pistacia vera.Die Rinde der südeuropäischen Rhus coriaria findet in derGerberei Anwendung. Die nahe verwandten Burseraceen unterscheidensich von den T. hauptsächlich durch zwei hängende,anatrope Eichen in jedem Fach und durch die meist gefalteten undgerollten Kotyledonen. Die ungefähr 150 Arten sind ebenfallsin den Tropen einheimisch und zeichnen sich durch ein balsamischesHarz aus.

Terebinthinen, Ordnung im natürlichen Pflanzensystemunter den Dikotyledonen, Choripetalen, charakterisiert durch meistzwei Staubgefäßkreise und einen zwischen Fruchtknotenund Staubgefäßen stehenden Blütendiskus,umfaßt die Familien der Terebinthaceen, Burseraceen,Rutaceen, Diosmeen, Zygophyllaceen und Simarubaceen.

Terebrateln (Terebratula Cuv.), Brachiopodengattung,welche schon in der devonischen Formation vorkommt, dann aber ganzeSchichten des Muschelkalks bildet, am zahlreichsten in derJuragruppe erscheint und auch jetzt noch in den Meeren vertretenist (s. Tafeln "Triasformation I" und "Juraformation I"). Vgl.Krötensteine und Brachiopoden.

Teredo. Bohrwurm, s. Bohrmuscheln.

Terek, Fluß in der russ. StatthalterschaftKaukasien, bildet sich unweit des Kasbek aus den Gletschern derBerge Sûrchu-Barsom, Siwera-uta und Silpa-Choch,durchströmt in nordwestlicher Richtung die Kabarda und wendetsich bei Jekaterinograd, wo er die Ebene erreicht, plötzlichostwärts, später nordostwärts, spaltet sich beiKisljar, ein großes, bis 110 km breites sumpfiges Deltabildend, in drei Hauptarme und mündet nach 480 km langem Laufin das Kaspische Meer. Der südlichste dieser Arme, Neuer T.genannt, fällt in die Agranbucht. Schiffbar ist der T.nirgends. An seinen Ufern, von Mosdok an aufwärts, haben dieRussen eine Reihe kleiner Festungen angelegt, die sogen. TerekscheLinie, deren Hauptpunkt Wladika*wkas bildet, und die bis Darielreichen, dem Hauptpaß über den mittlern Kaukasus nachTiflis.

Terekgebiet (Terscher Landstrich), Gebiet in der russ.Statthalterschaft Kaukasien, am Nordabhang des Kaukasus unddurchflossen vom Ter, nach welchem es den Namen führt, 60,988qkm (1108 QM.) groß mit (1883) 678,110 Einw., von denen dieeingebornen Tschetschenzen, Kabardiner, Ossetinen, Kumüken densüdlichen gebirgigen, die Russen (meist Kosaken) aber dennördlichen flachen Teil bewohnen. Hauptort ist Wladika*wkas,wohin von Rostow die Eisenbahn führt.

Terentianus Maurus, lat. Grammatiker, aus Afrikagebürtig, lebte wahrscheinlich zu Ende des 3. Jahrh. n. Chr.und ist Verfasser eines in vielfachen Versmaßenabgefaßten Lehrgedichts: "De literis, syllabis, metris", dasbei den Alten in hohem Ansehen stand. Ausgaben von Lachmann (Berl.1836) und Keil ("Grammatici latini", Bd. 6, Leipz. 1874).

Terentius, Publius, mit dem Beinamen Afer ("Afrikaner"),röm. Lustspieldichter, geb. 185 v. Chr. angeblich zu Karthago,kam in früher Jugend als Sklave in das Haus des römischenSenators Terentius Lucanus, welcher ihm eine sorgfältigeErziehung geben ließ und später die Freiheit schenkte.T. ward der Lieblingsdichter der höhern Stände und Freundder bedeutendsten Männer seiner Zeit, namentlich desjüngern Scipio Africanus. Auf einer Reise nach Griechenlandstarb er 159. Wir besitzen von T. sechs Lustspiele, von denen viernach Menander, zwei nach Apollodor gearbeitet sind: "Andria" (hrsg.von Klotz, Leipz. 1865; von Spengel, 2. Ausg., Berl. 1889),"Eunuchus", "Heautontimorumenos" (hrsg. von Wagner, das. 1872),"Phormio" (hrsg. von Dziatzko, 2. Aufl., Leipz. 1885), "Hecyra","Adelphi" (hrsg. von Spengel, Berl. 1879, und Dziatzko, Leipz.1881). Vor Plautus zeichnet sich T. durch kunstgerechtere Anlage,feinere Charakteristik und Eleganz der Form

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Terentius Barro - Terminrechnung.

aus, steht ihm aber an Kraft und Witz nach, wie er auch hinterder Lebensfrische seines Vorbildes Menander zurückblieb. Inder Sprache wußte er, der geborne Afrikaner, so den seinenUmgangston zu treffen, daß seine Neider behaupteten, seinehohen Gönner wären ihm bei der Arbeit behilflich gewesen.Seine bis ins Mittelalter vielgelesenen Stücke wurden von denGrammatikern mehrfach kommentiert (s. Donatus 1) und neben Vergilam häufigsten als Fundgrube für grammatische Beispielebenutzt. Gesamtausgaben besorgten Bentley (Cambr. 1726, Amsterdam1727; zuletzt wiederholt von Vollbehr, Kiel 1846), Westerhov (Haag1726, 2 Bde.), Fleckeisen (Leipz. 1857), Umpfenbach (kritischeHauptausgabe, Berl. 1870), Dziatzko (Leipz. 1884). Die ältesteÜbersetzung erschien 1499 zu Straßburg: "T. derhochgelahrte Poet. Zu tütsch transferiert nach dem Text undnach der Gloss" (mit Holzschnitten). Neuere Übertragungenlieferten: Benfey (Stuttg. 1837 u. 1854), Jakob (Berl. 1845),Herbst (2. Aufl., das. 1888) und Donner (Stuttg. 1864, 2 Bde.).Vgl. Francke, T. und die lateinische Schulkomödie inDeutschland (Weim. 1877); Conradt, Die metrische Komposition derKomödien des T. (Berl. 1876).

Terentius Varro, s. Varro.

Tereus, nach griech. Mythus König von Daulis, Gemahlder Prokne und Schwager der Philomela, die von ihm geschändetward (s. Philomela), wurde schließlich in einen Wiedehopf(oder Habicht) verwandelt.

Tergeste, Stadt, s. Trieft.

Tergiversieren (lat.), Ausflüchte, Winkelzügemachen; eine Sache hinausziehen.

Terglou (Triglaw), Gebirgsstock im nördlichen Teilder Julischen Alpen (s. d.), mit der höchsten der dreizuckerhutartigen Spitzen bis zu 2865 m emporsteigend. Von ihmfließen die Gewässer drei Flüssen zu: der Drau(Gailitz), Isonzo und Save; er teilt auch drei Sprach- undVölkergebiete: Deutsche, Slawen, Italiener. Erstiegen wurde erzuerst 1778 vom Arzt Willonitzer, seitdem insbesondere 1822 vonHauptmann Bosio behufs Vermessungsarbeiten. Gegenwärtig istdie Besteigung durch einen verbesserten Weg und eineUnterkunftshütte erleichtert.

Tergnier (spr. ternjeh), Dorf imfranz. Departement Aisne,Arrondissem*nt Laon, wichtiger Knotenpunkt der Nordbahn (LinieParis-Jeumont mit Abzweigungen nach Amiens und Laon), mitEisenbahnwerkstätten, Zuckerfabrik und (1881) 3536 Einw.

Terlan, Dorf in Südtirol, BezirkshauptmannschaftBozen, an der Etsch und der Bozen-Meraner Bahn, mit gotischerrestaurierter Kirche, berühmtem Weinbau und (1880) 1315 Einw.In der Nähe die Ruinen der Burg Maultasch.

Terlizzi, Stadt in der ital. Provinz. Bari, KreisBarletta, 12 km vom Adriatischen Meer, mit Ringmauern und Kastell,Wein- und starkem Mandelbau und (1881) 20,442 Einw.

Terme (franz.), Grenzstein; viereckiger schlankerPfeiler, der oben oft in eine Büste ausläuft; auch s. v.w. Ausdruck, Kunstwort (terminus). Hermes, Termite.

Termin (v. lat. terminus "Grenze", Tagfahrt), Zeitpunkt,zu welchem eine bestimmte Handlung, namentlich eine Rechtshandlung,vorgenommen werden muß, im Gegensatz zur Frist, binnenwelcher dies zu geschehen hat. Die Folgen der Versäumnis einesTermins, welche den Ungehorsamen (contumax) treffen, richten sichnach dem in der Ladung angedrohten Rechtsnachteil.

Terminaliia L., Gattung aus der Familie der Kombretaceen,Bäume und Sträucher mit wechsel-, selten fastgegenständigen Blättern, kleinen, meist grünen oderweißen Blüten in lockern Ähren, selten inKöpfchen, und eiförmiger, kantig zusammengedrückteroder zwei- bis fünfflügeliger Steinfrucht. 80-90 Arten.T. Catappa L., in Ostindien, dort und in Westindien kultiviert,liefert Samen, die wie Mandeln benutzt werden. T. Chebula Retz(Myrobalanus Chebula Gärtn., s. Tafel "Gerbmaterialienliefernde Pflanzen"), in Ostindien, liefert diegerbsäurehaltigen Myrobalanen (s. d.). Auch die Früchtevon T. citrina Roxb., T. belerica Roxb. und andern Arten kommen alsMyrobalanen in den Handel.

Terminalien (lat.), s. Terminus.

Terminei (lat.), abgegrenzter Bezirk.

Termingeschäft, Terminkauf, s. v. w.Lieferungsgeschäft und Lieferungskauf (s. diese Artikel).

Terminieren (lat.), begrenzen, festsetzen; alsBettelmönch Gaben sammelnd umherziehen. Terminismus, s. v. w.Determinismus.

Termini Imerese, Kreishauptstadt in der ital. ProvinzPalermo (Sizilien), in herrlicher Lage an der Mündung des SanLionardo (auch Fiume T.) ins Tyrrhenische Meer und an der EisenbahnPalermo-Girgenti, hat eine Hauptkirche im Renaissancestil, einTribunal, Hauptzollamt, Gymnasium, Lyceum, eine technische Schule,Bibliothek und (1881) 22,733 Einw.. die sich besonders mitThunfisch- und Sardellenfang, Handel (Ausfuhr von Schwefel,Fischen, Gemüsen, getrockneten Früchten) und Schiffahrtbeschäftigen. Vom Hafen von T. liefen 1886: 552 Schiffe mit21,805 Ton. aus. An Stelle des 1860 geschleiften Kastells wurde einGarten angelegt. Ostwärts im untern Stadtgebiet liegen starkbesuchte Bäder (die antiken Thermae Himerenses), welche reicheMengen an kohlensaurem und schwefelsaurem Kalk, Chlormagnesium undKochsalz nebst freiem Schwefelwasserstosfgas bei einer Temperaturvon 44° C. enthalten und gegen Rheumatismus, Hautkrankheitenund Nervenleiden benutzt werden. Von der alten Stadt sind nochReste eines Amphitheaters, eines Aquädukts u. a.vorhanden.

Terministischer Streit, Streit über die Ausdehnungder von Gott dem Sünder gestatteten Gnadenzeit, hervorgerufen1698 durch die vom Diakonus Böse in Sorau aufgestellte und vonLeipziger Professoren unterstützte Behauptung, daß diegöttliche Gnade jedem Menschen zu seiner Bekehrung nur bis zueinem gewissen Termin offen stehe, während die Wittenbergerund Rostocker Theologen eine Bekehrung auch noch im Todeskampffür möglich hielten. Vgl. Hesse, Der terministischeStreit (Gießen 1877).

Terminologie (lat. -griech.), Inbegriff dersämtlichen in einer Wissenschaft, einer Kunst, einem Handwerketc. gebrauchten Fach- oder Kunstausdrücke (termini technici);auch die Lehre von solchen Kunstausdrücken und ihreErklärung.

Terminrechnung (Termin-Reduktionsrechnung), dieBerechnung eines gemeinschaftlichen mittlern Zahlungsterminsfür mehrere zu verschiedenen Zeiten fälligeunverzinsliche Kapitalien. Die gewöhnliche Regel, nach der manim kaufmännischen Verkehr, wo es sich um kurze Terminehandelt, stets rechnet, besteht darin, daß man jedes Kapitalmit seiner Verfallzeit multipliziert, die Summe aller Produktebildet und sie mit der Summe der Kapitalien dividiert. Sind also1200 Mk. in einem Jahr, 800 Mk. in 2 Jahren, 1500 Mk. in 4 Jahrenund 2500 Mk. in 5 Jahren zahlbar, so hat man 1200.1 + 800.2 +1500.4

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Terminus - Termiten.

+ 2500.5 = 21,300, und der mittlere Zahlungstermin für dieGesamtsumme von 6000 Mk. ist daher x = 21300/6000 = 3 11/20 Jahreoder 3 Jahre 6 Monate 18 Tage. Dieses durch Einfachheit sichauszeichnende Verfahren wird oft mit Unrecht für falscherklärt; es findet seine vollständige Rechtfertigungdarin, daß bei Anwendung desselben der Gläubiger, wenner jedes Kapital am Tag des Empfangs verzinslich anlegt, zuletzt anKapital und Zinsen dieselbe Summe in der Hand hat, wobei esgleichgültig ist, ob die ursprünglichen Termineinnegehalten werden, oder ob die ganze Summe auf einmal gezahltwird.

Terminns (lat.), Grenz- oder Markstein; sodann der Gott,unter dessen Obhut die Grenze gestellt war, daher Beschützerdes Eigentums, dem alle Grenzsteine heilig waren, weshalb dasSetzen derselben stets unter religiösen Zeremonien geschah.König Numa stiftete ihm zu Ehren ein besonderes Fest, dieTerminalien, welche 23. Febr., als dem Ende des altrömischenJahrs, gefeiert wurden. In dem Jupitertempel auf dem römischenKapitol befand sich ein ihm geweihter Grenzstein, der beim Bau desTempels nicht hatte weichen wollen. Später ist T. auch Beiwortdes Jupiter. Die Darstellungen des T. auf römischen Denarensind stets in Form von Hermen gehalten. In der Sprache der Logikerist T. s. v. w. Begriff (s. Schluß); in England Bezeichnungder großen Zentralbahnhöfe (s. v. w. Endstation).

Terminus technicus (lat.), s. v. w. Kunstausdruck.

Termiten (Unglückshafte, weiße Ameisen,Termitina Burm.), Insektenfamilie aus der Ordnung derFalschnetzflügler, gesellig lebende Insekten mitlänglichem, oberseits mehr abgeflachtem, unterseitsgewölbtem Körper, freiem, nach unten gerichtetem Kopf,runden Augen, keinen oder zwei Nebenaugen, kurzen,perlschnurartigen Fühlern, aufgetriebenem Kopfschild,kräftigen Mundteilen, schlanken, kräftigen Beinen mitviergliederigen Tarsen und, sofern sie geflügelt sind, mitvier gleich großen, langen und hinfälligen Flügeln.Neben den fortpflanzungsfähigen, geflügelten Individuenexistieren zwei Formen geschlechtsloser, ungeflügelter, mitverkümmerten männlichen oder weiblichenGeschlechtsorganen, nämlich Soldaten, mit großem,quadratischem Kopf und langen, kräftigen Mandibeln, undArbeiter, mit kleinem, rundlichem Kopf, verborgenen Mandibeln undwenig entwickeltem Mittelleib. Die Arbeiter besorgen den Aufbau dergemeinsamen Behausung und die Pflege der Brut, den Soldaten liegtdie Verteidigung der Kolonie ob, den an Individuenzahl weitzurückstehenden geflügelten T. aber die Erhaltung derArt. Die Termitenkönigin ist ein seiner Flügelentledigtes, befruchtetes Weibchen, dessen Hinterleib durch dieAnschwellung der eine ungemein große Anzahl von Eiernenthaltenden Eierstöcke eine enorme Ausdehnung erhalten hat.Ob sich in jeder Kolonie nur eine solche Königin nebstzugehörigem Männchen (König) in einer besondersgeräumigen Zelle tief im Mittelpunkt des Baues vorfindet, oderob deren mehrere zugleich vorhanden sind, ist noch nicht sicherermittelt. Jedenfalls hat das sparsame Vorkommen befruchteterIndividuen nur in äußern Umständen seinen Grund,indem die große Mehrzahl nach vollzogener Begattung denVögeln etc. zum Opfer fällt. Die Eier sind walzig,bisweilen gekrümmt, an den Enden abgerundet und von ungleicherGröße. Die Larven sind anfangs stark behaart, habenundeutliche Augen, kürzere Fühler und verwandeln sichdurch mehrere Häutungen in die vollkommenen Insekten. Zu derZeit, wo sich die geschlechtlichen Individuen in einer Kolonieentwickelt haben, gerät die ganze Bevölkerung ingroße Unruhe, und die geflügelten Männchen undWeibchen verlassen den Haufen, um sich in der Luft zu begatten undgleich darauf ihre Flügel nahe der Wurzel abzubrechen. DieBauten der T. sind sehr verschieden; sie werden entweder inBaumstämmen oder am Erdboden selbst angelegt, im letztern Fallhäufig in Form von Hügeln, die in Afrika eine Höhevon 5 m und am Fuß einen Umfang von 19 m erreichen. Diesegroßen Bauten bestehen hauptsächlich aus Thon undbesitzen große Festigkeit; sie enthalten zahlreiche Zellenund Gänge, von denen erstere als Wiegen für die Brut,letztere zur Kommunikation zwischen allen Teilen des Baues dienen.Oft stehen viele Hügel durch ein System überwölbterStraßen miteinander in Verbindung und bildengewissermaßen eine einzige Kolonie. Andre Arten leben im Sandunter der Erdoberfläche und bauender röhrenartigeGänge, umgeben Wurzeln oder Äste im Boden miterhärtendem Material und weilen in diesen Röhren, bis dasHolz aufgezehrt ist. Wieder andre Arten nagen Gänge in dasHolz der Bäume, kleiden die Wandungen mit Kot aus, und soentstehen, indem die Gänge immer näher aneinanderrücken und das Holz zuletzt völlig aufgezehrt wird,Bauten, die in ihrem Gefüge an einen Schwamm erinnern undzuletzt auch außerhalb des Baumes fortgeführt werden.Viele Arten sind ein Schrecknis der heißen Länder; siedringen scharenweise in die menschlichen Wohnungen undzerstören namentlich Holzwerk, indem sie dasselbe im Innernvöllig zerfressen, die äußere Oberfläche aberverschonen, so daß scheinbar unversehrte Gegenstände beigeringer Erschütterung zusammenbrechen. Die T. führenihre Arbeiten nur nachts aus und unternehmen auch weiteWanderungen; ihre ärgsten Feinde sind die Ameisen, dieförmlich gegen sie zu Felde ziehen. Man kennt etwa 80 lebendeArten in allen heißern Ländern, bis 40° nördl.und südl. Br., in Frankreich bis Rochelle (s. unten),besonders zahlreich vertreten in Afrika und Amerika. Fossile Artenfinden sich schon in der Kohlenformation, am häufigsten aberim Bernstein und im Tertiär. Die kriegerische Termite (Termesbellicosus Smeathm., T. fatale L.), 1,8 cm lang, 6,5-8,0 cm breit,ist dunkelbraun, mit heller geringelten Fühlern, am Mund, anden Beinen und am Bauch rostgelb, mit gelblichen, undurchsichtigenFlügeln, im größten Teil des tropischen Afrikaheimisch, baut hohe, unebene, mit vielen Hervorragungen verseheneErdhügel, die sich allmählich abrunden und mit dichterVegetation bedecken. Die Umgebung der Hügel besteht in einemThonwall von 15-47 cm Stärke und enthält Zellen,Höhlungen und Wege. Die schreckliche Termite (T. dirus Klug.,s. Tafel "Falschnetzflügler") lebt in Brasilien inErdlöchern und unter Steinen von den Wurzeln verfaulenderBäume. Die lichtscheue Termite (T. lucifugus Rossi), 9 mmlang, 20 mm breit, ist schwarz, am Mund, an der Schienenspitze undden Tarsen gelblich, mit gerunzelten, rauchigen, schwärzlichgerandeten Flügeln, findet sich überall inSüdeuropa, ist in Frankreich bis Rochefort und Rochellevorgedrungen und hat in letzterer Stadt an den Holzpfählen,auf welchen diese erbaut ist, arge Verwüstungen angerichtet.Manche T. werden in den heißen Ländern von denEingebornen gegessen. Vgl. Hagen, Monographie der T. ("Linnaeaentomologica". Bd. 10, 12, 14); Lespés, Recherches surl'organisation et les moeurs du Termite lucifuge ("Annales dessciences naturelles", Serie 4, Bd. 5).

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Termoli - Terpentin.

Termoli, Flecken in der ital. Provinz Campobasso, KreisLarino, am Adriatischen Meer und an der Eisenbahn Ancona-Foggia,von welcher hier die Linie über Campobasso nach Beneventabzweigt, ist Bischofsitz, hat ein Kastell (von 1247), eine im 16.Jahrh. gebaute Kathedrale, einen Hafen und (1881) 3963 Einw.

Termonde, Stadt, s. Dendermonde.

Ternate, eine Insel der Molukken, an der Westküstevon Dschilolo, hat einen 1675 m hohen Vulkan, reiche Vegetation und9000 Einw. und bildet mit Teilen von Celebes, den Suluinseln, demNordteil der Molukken (Dschilolo) u. a. die niederländischeResidentschaft T. mit einem Areal von 238,956 qkm (4339,7 QM.) mit(1885) 109,947 Einw., worunter 308 Europäer und 465 Chinesen.Zur Residentschaft gehören außer dem eigentlichenRegierungsgebiet die abhängigen Reiche T., Tidore (wozu auchdie Westhälfte von Neuguinea) und Batjan. Die Stadt T., mit6000 Einw., ist Sitz des niederländischen Residenten, hateinen prächtigen Dalem oder Palast des Sultans und daneben dasFort Oranien.

Ternaux (spr. -noh), Guillaume Louis, Baron,Industrieller, geb. 8. Okt. 1763 zu Sedan, erlernte bei seinemVater die Handlung und übernahm 1778 dessen Geschäft.Nach dem Ausbruch der Revolution mußte er 1793 fliehen; dochkehrte er schon unter dem Direktorium zurück, ging nach Parisund begründete nach und nach über das ganze Land, jaselbst im Ausland, Fabriken, machte mehrere wichtige Erfindungen inder Mechanik und führte die Spinnmaschinen und zur Erzeugungbessern Rohstoffs sächsische Widder und Kaschmirziegen inFrankreich ein. Auch die Weberei suchte er zu heben undbegründete die Fertigung der feinern Shawls. Nach der erstenRestauration wandte er sich den Bourbonen zu und ging daher 1815während der Hundert Tage mit Ludwig XVIII. nach Gent. Nach derzweiten Restauration ward er mehrfach von der Regierungausgezeichnet und zu Rate gezogen, doch schloß er sich 1827in der Kammer völlig der Opposition an und beteiligte sichauch an der Julirevolution. Er starb 2. April 1833 in St.-Ouen.

Terne (Ternion, lat.), Zusammenstellung je dreier Dingeaus einer größern Anzahl, insbesondere beim Lottospieljede Zusammenstellung von drei bestimmten Nummern unter denvorhandenen 90.

Terneuzen, Stadt, s. Neuzen.

Terni, Kreishauptstadt in der ital. Provinz Perugia(Umbrien), zwischen zwei Armen der Nera, an der EisenbahnRom-Foligno, in welche hier die Bahn CastellammareAdriatico-Aquila-T. einmündet, ist Sitz eines Bischofs undeines Handelsgerichts, hat eine Kathedrale (1653 von Berninierbaut), eine Kirche, San Francesco, mit schönem gotischenGlockenturm, ein Theater, ein Lyceum, Gymnasium, Institut fürMechanik und Konstruktionslehre, Orangen-, Oliven-undMaulbeerkultur, Tuch- und Lederindustrie, große,neueingerichtete Eisenwerke (vorwiegend für maritime undEisenbahnzwecke) und (1881) 9415 Einw. - T. ist das alte InteramnaUmbrica, angeblich die Vaterstadt des Geschichtschreibers Tacitus,und enthält von der antiken Stadt noch Ruinen einesAmphitheaters, eines Sonnentempels etc. In der Nähe derberühmte Wasserfall des Velino (s. d.). Bei T. wurden 27. Nov.1798 die Neapolitaner von den Franzosen geschlagen.

Ternströmiaceen, dikotyle, etwa 260 Artenumfassende, im tropischen Amerika und dem südlichen Asieneinheimische Pflanzenfamilie ausder Ordnung der Cistifloren,Bäume und Sträucher mit wecselständigen, oft an denZweigspitzen in Büscheln stehenden, einfachen, gewöhnlichlederartigen, immergrünen, meist durchscheinend punktierten,fiedernervigen Blättern mit am Grund artikuliertem Blattstielund meist fehlenden Nebenblättern und mit zwitterigen,bisweilen durch Fehlschlagen eingeschlechtigen,regelmäßigen Blüten. Der bisweilen spiraliggeordnete und unbestimmtzählige Kelch ist in andernFällen fünfzählig, die freien Blumenblätterwechseln meist mit den Kelchblättern ab, die zahlreichenStaubgesäße stehen in mehreren Kreisen oder in fünfaus einer gemeinsamen Anlage hervorgehenden Bündeln beisammen.Die 2-5 Fruchtblätter verwachsen stets und tragen imInnenwinkel zwei Samenknospen. Die Frucht bildet sich zu einerwand- oder fachspaltigen Kapsel oder beerenartigen Steinfrucht aus.Vgl. Choisy, Mémoire sur les Ternstroemiacées("Mémoires de la Société physique", Bd. 14,Genf). Mehrere Arten der Gattungen Ternstroemia Mut.. Freziera Sw.u. a. kommen fossil in Tertiärschichten vor. Manche T. werdenals Heilmittel angewendet; die Gattung Thea L. zeichnet sich durchden Gehalt an Kaffein aus. Beliebte Schmuckpflanzen sind diejapanischen Kamelien (Camellia-Arten).

Terpándros (Terpander), griech. Musiker undLyriker aus Antissa auf Lesbos, ist der Schöpfer derklassischen Musik der Griechen und damit Begründer dergriechischen Lyrik, indem er zuerst den alten choralartigenGesängen zu Ehren des Apollon, den sogen. Nomen, durchregelmäßige Gliederung eine künstlerischeAusbildung gab und statt der bisherigen viersaitigen Kithara diesiebensaitige erfand. Nach Sparta zur Schlichtung innererZwistigkeiten auf Geheiß des delphischen Orakels berufen,ordnete er das dorische Musikwesen und siegte 676 v. Chr. in demersten musischen Wettkampf am Feste der Karneen, ebenso zwischen672 und 648 viermal hintereinander bei den Pythischen Spielen. Vonseinen Dichtungen sind nur wenige Verse erhalten (bei Bergk,"Poetae lyrici graecl", abgedruckt).

Terpentin (Terebinthina), balsamartige Masse, welchedurch Einschnitte aus den Stämmen von Nadelhölzerngewonnen wird (s. Fichtenharz). Der gemeine T. wird aus Pinusmaritima Lamb., P. laricio Poir., P. silvestris L., Abies excelsaLam. und A. pectinata Dec. sowie aus mehreren amerikanischen Artengewonnen. Die Ausbeute ist sehr verschieden. Man rechnet z. B. inÖsterreich auf den Stamm jährlich 2 kg T., währendman in Westfrankreich etwa 3,6 kg erhält und starken Fichten,besonders alleinstehenden, auf deren Erhaltung es nicht weiterabgesehen ist, in einem Jahr bis 40 kg T. abgewinnen kann. Dergemeine T. bildet eine mehr oder weniger klare,gelblichweiße, honigdicke, stark klebende Masse, reagiertsauer, riecht nach Terpentinöl, ist löslich in Alkohol,Äther, ätherischen Ölen und in nichtüberschüssiger Kalilauge, enthält 15-30 Proz.Terpentinöl, Harz, Harzsäuren (Pinarsäure,Pininsäure, Sylvinsäure, Abietinsäure), wenigAmeisensäure und Bernsteinsäure. Im frischen T. findetsich Abietinsäureanhydrid; dies nimmt aber Wasser auf, und esscheiden sich wetzsteinähnliche Kristalle vonAbietinsäure aus, durch welche der T. trübe undkrümelig wird. Im Handel unterscheidet man: deutschen T. vonkaum bitterm Geschmack; ihm ähnlichen französischen T.,welcher weniger Terpentinöl enthält; Straßburger T.von der Weißtanne, welcher bald hell und klar wird,zitronenartig riecht, sehr bitter schmeckt und 35 Proz.Terpentinöl enthält; amerikanischen T.,weißlichgelb, zäh, von kräftigem Geruch, sehrscharf bitterm Geschmack und geringem Terpen-

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Terpentinbaum - Terrain.

tinölgehalt. Der venezianische T. von der Lärche(Larixeuropaea Dec.) wird in Südtirol aus dem Kernholz durchBohrlöcher gewonnen, welche man zu Ende des Winters anlegt,verstopft und erst im Herbst wieder öffnet, um denangesammelten T. abzuzapfen. Dieser T. ist gelblich bisbräunlich, fast klar, zähflüssig und scheidet nichtKristalle aus. Kanadabalsam von Abies balsamaea Marsh, A. FraseriPursh und A. canadensis Mich., in Nordamerika aus Blasen in derRinde dieser Bäume gewonnen, ist vollkommen klar, hellgelb,riecht angenehm aromatisch, schmeckt bitter, mischt sich mitabsolutem Alkohol, enthält 24 Proz. ätherisches Öl,scheidet keine Kristalle aus und wird hauptsächlich zurDarstellung mikroskopischer Präparate benutzt. Unter T.verstand man im Altertum den Harzsaft der Pistacia Terebinthus, underst später wurde der Name auf den Saft der Koniferenübertragen, den man auch schon im Altertum benutzte. T. gibtbeim Kochen mit Wasser Terpentinöl und hinterläßtein Harz (gekochten T., Glaspech), bei Destillation ohne WasserKolophonium. Man benutzt ihn zur Darstellung von Terpentinöl,Salben, Pflastern, Firnissen, Lacken, Siegellack, Kitt. Vgl.Winkelmann, Die Terpentin- und Fichtenharzindustrie (Berl.1880).

Terpentinbaum, s. v. w. Pistacia.

Terpentingallen (Carobbe), s. Pistacia.

Terpentinhydrat, s. Terpentinöl.

Terpentinkiefer, s. Kiefer, S. 714.

Terpentinöl (Terpentinspiritus), ätherischesÖl, findet sich in allen Teilen der Nadelhölzer aus denGattungen Pinus, Picea, Abies, Larix, wird durch Destillation ausdem Terpentin dieser Bäume gewonnen und zeigt je nach derAbstammung gewisse Abweichungen in den Eigenschaften, besonders dasdirekt durch Destillation der Pflanzenteile mit Wasser gewonneneÖl (Fichtennadelöl, Templinöl etc.), unterscheidetsich nicht unwesentlich von dem aus Terpentin gewonnenen. Das roheÖl ist dünnflüssig, farblos oder gelblich, klar,löst sich in 8-10 Teilen Alkohol, verharzt leicht an der Luftunter Bildung von Ameisensäure und Essigsäure und wirddickflüssig. Zur Reinigung wird es am besten mit Dampf unterZusatz von etwas Ätzkalk rektifiziert (Terpentinspiritus). Esist dann farblos, dünnflüssig, riecht stark, schmecktbrennend, spez. Gew. 0,86-0,89, löst sich in 10-12 Teilen90proz. Alkohol, mischt sich mit Äther, siedet bei152-160°; es löst Schwefel, Phosphor, Harz, Kautschuk undmanche andre Körper, absorbiert Sauerstoff, verwandelt ihnteilweise in Ozon und verharzt allmählich (unter Bildung vonAmeisensäure). T. besteht aus einem Kohlenwasserstoff C10H16.Bei längerm Stehen mit Wasser bildet es den Terpentinkampfer(Terpinhydrat, Terpentinhydrat) C10H16. 2H2O+H2O, welcher sich infarb- und geruchlosen, leicht löslichen Kristallenausscheidet. Dieser schmeckt aromatisch, löst sich in 200Teilen Wasser, in 6 Teilen Alkohol und wird als harntreibendes,expektorierendes Mittel und gegen Neuralgien benutzt. Mit trocknemChlorwasserstoff bildet T. salzsaures T. (künstlichen Kampfer)C10H17Cl in farblosen Kristallen, welche kampferartig riechen undschmecken, in Alkohol und Äther löslich sind und bei115° schmelzen. Öxydierende Substanzen verwandeln T. inAmeisensäure, Essigsäure, Oxalsäure etc. T. erzeugtauf der Haut bei längerer Einwirkung Schmerz, Rötung,Geschwulst und Bläschen; innerlich wirkt es ingrößern Gaben giftig, auch beim Einatmen derDämpfe; man benutzt es bei Neuralgien, Diphtheritis,Lungengangräne, Gallensteinkolik, gegen Würmer, beiGonorrhöe, Blasenkatarrh, Typhus etc., äußerlichals reizendes, kräftigendes Mittel, in der Technik zu Lacken,Firnissen, Anstrichfarben, zum Bleichen des Elfenbeins, früherauch als Leuchtmaterial. - Künstliches T., s. Erdöl, S.767.

Terpentinspiritus s. Terpentinöl. Terpentinhydrat [s.Terpentinöl.]

Terpsichore (die "Tanzfrohe"), eine der neun Musen, späterbesonders die Muse der Tanzkunst und des Chorgesanges; führtein Bildwerken eine große Leier und in der Rechten dasPlektron. Vgl. Musen (mit Abbildung).

Terra (lat.), Erde, Land; T. incognita. unbekanntes Land;T. firma, Festland; T. di Siena, Sienaerde (s. Bolus); T. foliatatartari, essigsaures Kali; T. foliata tartari crystallisata,essigsaures Natron; T.inebriata, glasierte Thonwaren in der Art derRobbia-Arbeiten; T. japonica, s. Katechu; T. lemnia, Siegelerde (s.Bolus); T. ponderosa, Schwererde, Baryt; T. sigillata, s. Bolus; T.tripolitana Tripel; T. umbria, schwarze Kreide.

Terracina (spr. -tschina), Stadt in der ital. ProvinzRom, Kreis Velletri, am gleichnamigen Golf des Tyrrhenischen Meers,früher wichtiger Punkt an der Straße von Rom nachNeapel, ist Sitz eines Bischofs, hat eine Kathedrale (an der Stelleeines antiken Tempels), Ruinen eines Palastes des GotenkönigsTheoderich, einen Hafen, von welchem 1886: 446 beladene Schiffe mit15,509 Ton. ausliefen, Fischerei, Handel (Ausfuhr von Holzkohle)und (1881) 6294 Einw. T. ist das alte volskische Anxur an der ViaAppia und hat noch mehrere römische Altertümer. DieUmgegend ist wegen ungesunder Luft berüchtigt.

Terra cotta (ital.), s. Terrakotten.

Terra di Lavoro, ital. Provinz, s. Caserta.

Terra di Siena, hellbraune Farbe, in der Malereivorzugsweise zu Lasuren verwendet.

Terra d'Otranto, ital. Provinz, s. Lecce.

Terra firma (lat.), festes Land, im Gegensatz zu denInseln; insbesondere Bezeichnung aller aus dem Festland Italiensder Herrschaft der Venezianer unterworfenen Landschaften,nämlich: das Herzogtum Venedig, die venezianische Lombardei,die Treviser Mark, das Herzogtum Friaul und Istrien. Auchhieß so (span. Tierra firma) das nördlicheKüstenland Südamerikas (das spätere Kolumbien) undim engern Sinn die Landenge von Panama.

Terrafirmaholz, s. Rotholz.

Terrain (franz., spr. -ráng, Gelände), eineStrecke Land von bestimmter Bodenbeschaffenheit, Gestaltung,Bebauung und Bewachsung, besonders als Schauplatz kriegerischerThätigkeit. Einzelne im T. vorhandene, in sich abgegrenzte undhervorragende Teile, wie Dörfer, Gärten, Waldungen etc.,nennt man Terraingegenstände. Längere Strecken, derenBeschaffenheit die Gangbarkeit unterbricht, wie Wasserläufe,Einsenkungen, Höhenzüge etc., bilden Abschnitte im T. Wogrößere Flüsse oder Ströme, Gebirgsketten,Sumpf- und Moorgebiete u. dgl. solche Abschnitte trennen, nennt manletztere auch besondere Kriegstheater. Offen heißt ein T.ohne die Übersicht hindernde Terraingegenstände imGegensatz zum bedeckten T., in welchem Bewachsung und Anbau dieÜbersicht hindern. Durchschnitten oder koupiert heißtdas T. im Gegensatz zum reinen, wenn Wasserläufe, Gärten,Hecken, Mauere etc. die Bewegung hemmen. Über die Darstellungdes Terrains auf Karten etc. s. Planzeichnen. Die Terrainlehre, d.h. die wissenschaftliche Beurteilung des Terrains nach seinerBenutzbarkeit für die Verwendung der

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Terra incognita - Terrakotten.

Truppen im Krieg, bearbeiteten theoretisch: Pönitz (2.Aufl., Adorf 1855), O'Etzel (4. Aufl., Berl. 1862), Koeler (das.1865), v. Böhn (Potsd. 1868), v. Waldstätten (3. Aufl.,Wien 1872), Frobenius (Berl. 1876, 2 Bde.), v. Rüdgisch (Metz1874), Streffleur (Wien 1876), Ulrich (Münch. 1888) u. a. Inder Geologie ist T. meist gleichbedeutend mit "Formation", z. B. T.houiller, f. v. w. Steinkohlenformation; T. salifere, s. v. w.Salzgebirge (Trias formation).

Terra incognita (lat.), unbekanntes Land.

Terrainkurorte, s. Klimatische Kurorte, S. 846.

Terrainwinkel, der Winkel zwischen einer wagerechten undeiner vom Geschützstand nach dem Fußpunkt des Zielsgedachten Linie. Liegt das Ziel höher als derGeschützstand, so ist der T. positiv, andernfalls negativ.Beim Richten mit dem Quadranten muß der erstere vomErhöhungswinkel abgezogen, der negative diesem zugerechnetwerden; s. Elevation.

Terrakotten (v. ital. terra cotta. "gebrannte Erde",hierzu Tafel "Antike Terrakotten"), jetzt allgemeiner Name füralle künstlerisch ausgestatteten Produkte der Töpfer undThonbildner wie der Bildhauer überhaupt, die sich mitKleinplastik beschäftigen. Die Technik des Formens in Thon ausfreier Hand, vermittelst der Hohlform oder auf der Drehscheibe isturalt und war schon bei den Ägyptern, dann auch bei denBabyloniern und Assyrern hoch entwickelt. Mit bemalten undglasierten Thonfliesen sind am Nil ebenso wie am Tigris und EuphratWände und Fußboden der Wohnungen belegt worden. Abererst in Griechenland wird die Technik aufs höchste verfeinert,die Form geadelt und mit jener Farbenpracht geschmückt, welcheder klassischen Kunst in allen ihren Äußerungen eigenwar. Die Aufgaben der Keramik in dieser Zeit sind doppelter Art,sie arbeitet teils im Dienste der Architektur und Tischlerei, teilsschafft sie selbständige Gebilde: Gefäße oderFiguren der verschiedensten Größe, Gestalt undBestimmung. Der erstgenannten Gattung gehören diekastenartigen, bunt bemalten und hart gebrannten Thonplatten an,welche in ältester Zeit (7. u. 6. Jahrh. v. Chr.) inGriechenland zur Verkleidung der Gesimsbalken an Tempeln,Schatzhäusern etc. verwendet worden sind, und deren sich einegroße Anzahl in Olympia, in Sizilien und an der von Griechenbewohnten unteritalischen Küste vorgefunden haben. Sie warenin Olympia mit Nägeln auf die steinernen (ursprünglichaus Holz gefertigten) Geisonblöcke befestigt und dienten demgeringern Material (poros), das sie bedeckten, als Schutz undSchmuck zugleich (vgl. Fig. 1 u. 3, T. von Olympia und Selinus, unddie Schrift von Dörpfeld u. a.: "Über die Verwendung vonT. am Geison und Dach griechischer Bauwerke", Berl. 1881). Auchspäterhin, als dieser Gebrauch abgekommen, erhielt sich dieAnwendung von T. als Dachstirnziegel (Fig. 10) und Wasserspeier(Fig. 2), und beliebt wurde zumal in römischer Zeit dieVerzierung von Wandflächen mit thönernen, bunt bemaltenRelieffriesen, deren viele in kampanischen Gräbern zumVorschein gekommen sind. Hauptsammlungen der letztern im BritischenMuseum (London), im Louvre (Paris) und im vatikanischen Museum(Rom). Vgl. Combe, Description of the collection of ancientterracottas in the British Museum (Lond. 1810; Campana, Opere inplastica (Rom 1842). Auch zur Verkleidung hölzernerGeräte benutzte man frühzeitig Thonreliefs, an denen derHintergrund ausgeschnitten wurde, und deren Befestigung mitNägeln die im Thon ausgesparten Löcher bezeugen. Eine auszahlreichen Beispielen bekannte Klasse derselben bilden die nachdem Hauptfundort (Insel Melos) so genannten melischen Reliefs (Fig.11). Auch Vasen pflegte man etwa seit dem 4. Jahrh. v. Chr. mitbemalten Reliefs an Stelle der einfachern Gemälde zuschmücken. Besondere Formen und Dekorationsweisen bilden sichin Athen, Etrurien (schwarze Reliefvasen, vasi di Bucchero) undUnteritalien (Fig. 4 u. 5) aus, während in der Kaiserzeitzumeist nur einfarbig rote, mit aus Hohlformen eingepreßtenReliefs verzierte Thonvasen (Fabriken von Cales etc.) gefertigtwerden (ein Beispiel gibt Fig. 6). Die höchsten Leistungendieser Technik erreichte man in der Koroplastik, in der Herstellungkleiner Rundfiguren, die in der Form gepreßt, gebrannt, dannmit Pfeifenthon überzogen, aus freier Hand nachmodelliert undin zarten Farbentönen bemalt wurden. Manche scheinen alsSpielzeug, als Zimmerschmuck gedient zu haben. Die Mehrzahl wurdefür Zwecke des Kultus und des Totendienstes geschaffen. Eswaren Weihgeschenke an die Götter und Toten, daher sievorzugsweise in Gräbern gefunden werden. Einaltertümliches Sitzbild der Athene aus einem attischen Grabzeigt Fig. 9. Der Blütezeit griechischer Kunst abergehören die anmutigen Terrakottafiguren an, die inerstaunlichen Mengen neuerdings bei Tanagra in Böotien, inMyrrhina, Ephesos und andern Orten Kleinasiens, auch in Tarent(Unteritalien) ausgegraben worden sind. Der Farbenschmuck ist meistbei der Auffindung bereits zerstört, recht gut aber z. B. aneiner Figur der früher dem Grafen Pourtalès-Gorgierangehörenden Sammlung (Fig. 7) erhalten. Die Gegenständesind meist dem Alltagsleben entlehnt, schöne Mädchen zumAusgehen angekleidet, mit dem Hut auf dem Kopf, allerleiHandwerker, spielende Knaben, seltener Darstellungen aus dem Kreisder Aphrodite und des Eros. Rundfiguren dieser Art wurden dann auchgern an Vasen angebracht (Fig. 8). In römischer Zeit fertigteman sogar lebensgroße Figuren aus Thon, fürGiebelkompositionen oder als Grabdenkmäler. Die Renaissancebrachte diese Technik wieder zu neuer Blüte und stellte selbstPorträtbüsten gern in Terrakotta her (Beispiele imBerliner Museum); vor allem aber erlangte die Schule der Robbiadurch ihre in heitern Farben prangenden, glasierten Einzelreliefs(meist Madonnenbilder) hohen Ruf (vgl. Keramik und Thonwaren). Auchin der Architektur der Renaissance, besonders in dernorditalienischen (lombardischen), gelangte die Terrakotta zumSchmuck der äußern und Hoffassaden in reichornamentierten Gesimsen und Kranzgesimsen, Archivolten,Fensterumrahmungen, Pilasterfüllungen, Friesen, Medaillons undsonstigen Zieraten zur Verwendung. Zu unsrer Zeit hat die Baukunstzum Schmuck der Fassaden von Backsteinrohbauten noch ausgedehnternGebrauch von der Terrakotta gemacht, indem auch einzelnearchitektonische Glieder, wie Kapitäler, Konsolen u. dgl., nuraus Terrakotta hergestellt werden, ferner ganze Friese,Eckakroterien, Figuren und Gruppen zur Bekrönung vonGebäuden, für Fontänen etc., wobei die Färbungdes Thons meist in Übereinstimmung mit der Farbe der fürdie Fassade gewählten Backsteine (gelb oder rot inverschiedenen Nuancen) gehalten wird. Bei rein ornamentalen T.kommt auch ein- und mehrfarbige Glasur, selbst Vergoldung zurAnwendung. Der Backsteinbau mit Terrakottenverzierung blüht ammeisten in den an Werksteinen armen Gegenden, besonders inNorddeutschland. Fabriken, welche sich mit Anfertigung vonOrnamenten und Kunstgegenständen in Terrakottabeschäftigen, gibt es in Charlottenburg

ANTIKE TERRAKOTTEN.

Zum Artikel »Terracotta«

1. Sima und Geisonverkleidung vom Schatzhaus der Geloer inOlympia.

2. Wasserspeier aus Pompeji.

3. Sima vom Tempel C in Selinus.

7. Griechische Thonfigur der Sammlung Pourtales.

5. Unteritalische Vase.

4. Kampanische Reliefvase.

6. Römische gepreßte Terrakotte (Hermes).

11. Tänzerin mit Klappern (melische Relieffigur).

10. Etruskische Stirnziegel (Juno Caprotina).

8. Weinkrug aus Athen (geflügelter dionysischer Eros)

9. Thronende Athene (archaisch).

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Terralithwaren - Terrasse.

bei Berlin (March), Greppin bei Bitterfeld, Lauban, Ullersdorf,Tschauschwitz, Siegersdorf und Hansdorf, sämtlich inSchlesien. Vgl. d'Agincourt, Recueil de fragments de sculptureantique en terre cotte (Par. 1814); Panofka, T. desköniglichen Museums in Berlin (Berl. 1842); Gruner, Theterra-cotta architecture of North-Italy (Lond. 1867); Birch,History of ancient pottery (2. Aufl., das. 1873); Kekulé,Griechische Thonfiguren aus Tanagra (Stuttg. 1878); Derselbe, Dieantiken T. (mit v. Rohden, das. 1880-84, 2 Bde.); "Griechische T.aus Tanagra und Ephesos im Berliner Museum" (Berl. 1878);Fröhner, Terres cuites d'Asie Mineure (Par. 1879).

Terralithwaren, s. Siderolithwaren.

Terramaren (v. ital. terra di mare. "Meereserde,angeschwemmtes Land"), in Parma, Modena und Reggio, vorwiegend inder Ebene zwischen Po und Apennin, hügelartige Erhebungen von5 m und mehr Höhe und 60-70 m Durchmesser, hervorgegangen auspfahlbauähnlichen Konstruktionen, die man in sumpfigem Terrainoder inmitten eines künstlich gegrabenen Bassinsaufführte. Der Unrat und die Küchenabfälle wuchsenunter der Balkendecke allmählich an und bildeten den Kern desHügels, auf dem die Menschen wohnen blieben, indem sie nur vonZeit zu Zeit ihre Wohnungen in ein etwas höheres Niveauverlegten. Bisweilen liegen die T. auf natürlichenHügeln; auch fehlt bisweilen das Pfahlwerk. Einige T. sindwohl schon in der "neolithischen Zeit" bewohnt gewesen; dieMehrzahl derselben enthält jedoch primitiveBronzegegenstände, namentlich Haus- und Ackergeräte undSchmuckgegenstände, seltener Waffen. Die bemerkenswerteÜbereinstimmung zwischen den Fundgegenständen und derKonstruktion der schweizerischen Pfahlbauten und der T. hat zu derAnnahme geführt, daß die Besiedler der T. sowie dieBewohner der Pfahlbauten Piemonts, der Lombardei und Venetiens vonNorden her über die Alpen gekommen seien. Helbig ("DieItaliker in der Poebene", Leipz. 1879) glaubt, daß die T. wiedie Pfahlbauten an den oberitalienischen Seen von den Italikernherrühren und die ersten Niederlassungen dieses Volkesbilden.

Terranova, 1) (T. di Sicilia) Kreishauptstadt in derital. Provinz Caltanissetta (Sizilien), am MittelländischenMeer, in welches nahe östlich der Fluß T. mündet,mit Gymnasium, mehreren Kirchen, Resten von Befestigungen, einemHafen, in welchem 1886: 752 Schiffe mit 50,259 Ton. einliefen,Handel (Einfuhr von Steinkohlen und Getreide, Ausfuhr von Getreide,Bohnen, Baumwolle, Baumwollsamen, Schwefel, Wein, Orangen),Thunfisch- und Sardellenfang und (1881) 16,440 Einw. T. ist Sitzeines deutschen Konsuls. Es wurde von Kaiser Friedrich II. nahe ander Stelle des alten Gela erbaut, von welchem in letzterer Zeiteinige Ausgrabungen gemacht wurden. - 2) (T. Pausania) Stadt in derital. Provinz Sassari (Insel Sardinien), Kreis Tempio, amgleichnamigen Golf und der Eisenbahn Chilivani-Golfo degli Arancigelegen, einst eine bedeutende Römerstadt, hat einen Hafen,aus welchem 1886: 421 Schiffe mit 105,355 Ton. ausliefen (Ausfuhrvon Holzkohle, Kork, Käse), und (1881) 2671 Einw.

Terrarium (lat.), Vorrichtung zur Pflege und Zucht vonLandtieren, entsprechend den für Wassertiere bestimmtenAquarien. Je nach dem speziellen Zweck, der mit den Terrarienverfolgt wird, erhalten dieselben sehr verschiedene Einrichtung.Die einfachsten Terrarien sind größere Kisten, die miteinem mit Drahtgaze bespannten Rahmen verschlossen werden. Zurbessern Beobachtung der Tiere ersetzt man eine oder mehrereWände der Kiste durch Glasscheiben, auch wird der Bodenvorteilhaft mit Zinkblech benagelt, auf welches man nach demAnstreichen handhoch Erde schüttet. Aus dieser einfachstenVorrichtung sind sehr luxuriöse Apparate hervorgegangen,welche namentlich dann am Platz sind, wenn man zur Pflegetropischer Tiere einer Heizeinrichtung bedarf. Man heizt mitPetroleum- oder Gasflamme oder sehr vorteilhaft mit Grude, dielangsam und gleichmäßig verbrennt und ungemein billigist. Die Heizung geschieht vom Boden aus, erfordertsorgfältige Regulierung, Überwachung der Luftfeuchtigkeitim T. und gute Ventilation. Je nach den zu pflegenden Tieren istdas T. verschieden einzurichten. Eidechsen und viele Schlangenbrauchen trocknen Sand und trockne Schlupfwinkel, die Amphibiendagegen feuchtes Moos und größere Wasserbecken; fastimmer erweist es sich vorteilhaft, im T. Pflanzen zu kultivieren,deren Auswahl sich nach der Temperatur und Feuchtigkeit, welche dieTiere fordern, richten muß. Für kleinere Tiere und zurAufzucht der Jungen benutzt man Glasglocken, die, wenn eserforderlich ist, durch Einstellen in ein Wasserbad geheizt werden.In solchen oder ähnlichen kleinen Behältern kann man auchReptilieneier ausbrüten. Zur Aufzucht von Amphibien dienenAquarien, bis die Tiere das Wasser verlassen. In Häusern mitstarken Mauern kann man Fensternischen mit Doppelfenstern alsTerrarien einrichten und hier wie überhaupt Pflanzenkultur mitTierpflege erfolgreich verbinden. Der Raum zwischen Doppelfensternist auch leicht zu heizen, wenn man über dem Fensterbretteinen zweiten Boden (am besten starkes, mehrfach gestütztesBlech) und in dem abgegrenzten Raum die Flamme anbringt. Will mansich auf die Zucht heimischer Reptilien und Amphibienbeschränken, dann thut man gut, die Tiere in Winterschlaffallen zu lassen, da die Fütterung im Winter umständlichund teuer ist. Die Einrichtung größerer Terrarien istdurchaus von den Verhältnissen abhängig. Im Freien hatman den für das T. bestimmten Raum mit einer etwa 1 m hohenMauer umgeben und diese mit einem breiten, etwas abwärtsgeneigten Zinkblech bedeckt, um das Entschlüpfen der Tieresicher zu vermeiden. In der Mitte des Raums wird aus Steinen einFelsen errichtet, welcher hinlänglich Schlupfwinkel darbietet,auch passend bepflanzt und mit Geäst für die kletterndenTiere versehen wird. Der Boden muß ausreichende Abwechselungbieten, mit Sand, Moos, Steinen, Rasen bedeckt sein, auch istfür Wasserbehälter zu sorgen und, falls Gelegenheitvorhanden ist, kann man fließendes Wasser, auch wohl einenSpringbrunnen, anbringen. Unter Umständen ist ein solches T.auch durch radiale Wände zu teilen, selbstverständlichaber eignet es sich nur für Tiere, welche gegen die Witterungkeines andern Schutzes bedürfen, als wie sie der Felsen, dasMoos oder der Erdboden darbieten. Für Säugetieremüssen ausreichende Vorkehrungen gegen das Entweichengetroffen werden, meist wird man das T. mit einem Oberbau ausDrahtgeflecht versehen müssen, und für grabende Tiere istder Boden 1,5 m tief auszuheben, die Grube vollständig mitMauerwerk auszukleiden und dann wieder mit Erde zu füllen.Vgl. Fischer, Das T. (Frankf. a. M. 1884); Dammer, Der Naturfreund,Bd. 1 (Stuttg. 1885); Lachmann, Das T. (Magdeb. 1888).

Terrasse (franz.), wagerecht abgeplatteteErderhöhung oder Erdstufe; insbesondere im Land- und GartenbauBezeichnung für die treppenförmigen Absätze zurKultivierung von Bergabhängen. Jede T. bil-

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Terrassierte Werke - Tersteegen.

det eine breite und hohe Stufe, welche sich in horizontalerRichtung über den ganzen Abhang ausdehnt. Die obere Seite derStufe ist eine nur wenig nach vorn geneigte Fläche, dievordere Seite (Dossierung) eine nicht ganz senkrecht absteigendeWand, welche, wenn sie nicht aus natürlichem Fels besteht,durch eine Vormauer oder Rasenverkleidung verwahrt werdenmuß. Auch ein plattes Dach an einem Haus oder Turm(Plattform) wird oft als T. bezeichnet. Über dengeographischen Begriff T. vgl. Thäler u. Hochgestade.

Terrassierte Werke, terrassenförmig angelegteBefestigungen, wie sie hauptsächlich bei Bergbefestigungenvorkommen.

Terrasson (spr. -ssóng), Stadt im franz.Departement Dordogne, Arrondissem*nt Sarlat, an derVézère und der EisenbahnPérigueux-Figeac-Toulouse, mit Lehrerinnenbildungsanstalt,Kohlengruben, Stahlwarenfabrikation, Wollspinnerei und (1881) 2711Einw.

Terrazzo (ital.), Söller, Terrasse; auch Estrich, inwelchen kleine bunte Steine eingewalzt sind, so daß einemosaikartige Wirkung entsteht.

Terre Haute (spr. tär oht), Stadt nahe derWestgrenze des nordamerikan. Staats Indiana, Grafschaft Vigo, amschiffbaren Wabash und am Wabash- und Eriekanal gelegen, hat breiteund gerade, von Bäumen beschattete Straßen, einenGerichtshof, ein Stadthaus, ein Lehrerseminar, eine kath.Töchterschule, lebhaften Handel (mit Schweinefleisch,Steinkohlen etc.) und (1880) 26,042 Einw.

Terremoto (span.), Erdbeben.

Terre-Noire (spr. tär-noáhr), Dorf im franz.Departement Loire, Arrondissem*nt St.-Etienne, an der EisenbahnLyon-St. Etienne, zum Teil auf einem Hügel erbaut, welchen ein1200 m langer Tunnel durchzieht, hat reiche Kohlengruben (Beckenvon St.-Etienne), großartige Eisenwerke (dasBessemerverfahren wurde hier in Frankreich zuerst angewendet) und(1886) 2792 (Gemeinde 6489) Einw.

Terres fortes (spr. tär fórt), s.Bordeauxweine.

Terresin, Mischung von Kohlenteer, Kalk und Schwefel,dient als Asphaltsurrogat.

Terréstrisch (lat.), auf die Erde bezüglich,irdisch.

Terreur (franz., spr. -ör, "Schrecken"), s.Terrorismus; la T. blanche, "der weiße Schrecken", dieReaktion nach 1815 (Anspielung auf die weiße Fahne derBourbonen).

Terribel (lat.), schrecklich.

Terrine (franz.), "irdene" Suppenschüssel, welche imvorigen Jahrhundert dem Tafelgeschirr zugefügt wurde,später meist aus Porzellan, bisweilen auch aus Silbergefertigt; auch thönerne Deckelbüchsen fürGänseleber- und Geflügelpasteten. Hauptfabrikationsortfür letztere ist Saargemünd.

Territion (lat.), früher die Bedrohung einesAngeschuldigten mit der Tortur (s. d.) durch Vorzeigen derFolterwerkzeuge, wodurch der Inquirent das Geständnis zuerzwingen suchte.

Territorial (lat.), ein Territorium (s. d.) betreffend,damit verbunden.

Territorialarmee, in Frankreich s. v. w. Landwehr.

Territorialdivisionen, in Belgien bis 1875 die dreigroßen Bezirke für die militärische Verwaltung.Territorialhoheit, die Gesamtheit der Befugnisse, welche derStaatsgewalt in Bezug auf das Staatsgebiet zukommen; imfrühern Deutschen Reich s. v. w. Landeshoheit im Gegensatz zuder Reichshoheit.

Territorialprinzip (lat.), Rechtsgrundsatz, wonach derErwerb eines Territoriums den Erwerb der Souveränität insich schließt; auch der Grundsatz, wonach die in einembestimmten Land Wohnenden unter der Gesetzgebung dieses Landesstehen und die dort vorgenommenen Rechtshandlungen, ebenso wie diedort begangenen Verbrechen, nach den Landesgesetzen beurteiltwerden.

Territorialretrakt, s. Landlosung.

Territorialsytem, diejenige kirchenrechtliche Theorie,nach welcher der höchste Episkopat des Landesherrn einAusfluß der Landeshoheit sein soll. Das T. beruht auf demGrundsatz: Cujus regio, ejus religio, d. h. wem im Lande diehöchste Gewalt zusteht, dem gebührt auch die Regierungdes Kirchenwesens. Es entstand als Übertreibung desEpiskopalsystems (s. d.) und fand infolge des WestfälischenFriedens oft eine drückende Anwendung. Konsequent verfolgt,führt es zum Cäsareopapat (Cäsareopapie) oderweltlichen Papsttum und ward in dieser Weise besonders von Hobbesin den Schriften: "De cive" und "Leviathan" entwickelt. Einewissenschaftliche Begründung erhielt das T. in Deutschlanddurch Pufendorf in der Schrift "De habitu religionis ad vitamcivilem" (Brem. 1687). Im Gegensatz dazu stellte Chr. Matth. Pfaffdas Kollegialsystem (s. d.) auf. Vgl. Kirchenpolitik, S. 765. - T.heißt auch ein Wehrsystem, nach welchem sich dieHeeresorganisation an die Landeseinteilung anschließt, woalso die einzelnen Truppenteile sich aus den Wehrpflichtigenbestimmter Landesbezirke ergänzen, gewisse Landwehr- oderLandsturmformationen aufstellen. Die Anfänge eines solchenSystems bildet die Kantonverfassung (s. d.) Preußens. In denheutigen Heeresverfassungen der meisten Länder kommt das T. ineiner oder der andern Form zum Ausdruck.

Territorium (lat.), Gebiet, im Mittelalter Amtsbezirkeines mit Verwaltung der kaiserlichen Hoheitsrechte betrautenVasallen; dann, nachdem dergleichen Beamte zu Landesherrengeworden, s. v. w. Landesgebiet im Gegensatz zum Reichsgebiet. Inder nordamerikanischen Union versteht man unter T. (engl.territory) ein durch den Kongreß abgegrenztes Gebiet, welchesdurch einen vom Präsidenten ernannten Gouverneur verwaltetwird. Die gegenwärtig vorhandenen zehn Territorien (Alaska,Arizona, Dakota, Idaho, Indianerterritorium, Montana, Neumexiko,Utah, Washington und Wyoming) gehören nicht zu denselbständigen Staaten der Union. Sie entsenden zu demKongreß einen Abgeordneten, der jedoch nicht stimmberechtigtist.

Terrorismus (lat.), Schreckenssystem,Schreckensherrschaft. Berüchtigt ist besonders derfranzösische T. (la Terreur) zur Zeit der ersten Revolution(vom Mai 1793 bis 27. Juli 1794); die damaligen Gewalthaberhießen Terroristen, Schreckensmänner. Vgl. Ternaux,Histoire de la Terreur (Par. 1862 bis 1867, 8 Bde.). Terrorisieren,in Schrecken setzen, eine Schreckensherrschaft ausüben.

Tersane-Nasir (türk.), Arsenaldirektor.

Ter-Schelling, niederländ. Insel in der Nordsee, vordem Eingang des Zuidersees, etwa 100 qkm groß mit dreiDörfern und (1887) 3685 Einw. T. ist Sitz eines deutschenKonsuls.

Tersteegen, Gerhard, Liederdichter und asketischerSchriststeller, geb. 25. Nov. 1697 zu Mörs, lebte alsBandmacher in Mülheim a. d. R., bis er sich seit 1728ausschließlich der religiösen Schriftstellerei und demPredigeramt in frommen Konventikeln widmete, und starb 3. April1769 daselbst. Von seinen Schriften sind hervorzuheben:"Geistliches Blumengärtlein" (neueste Ausg., Stuttg. 1884);"Brosamen" (Soling. 1773); "Gebete" (neue Aufl., Mülheim 1853)und seine "Briefe" (Soling. 1773-75, 2 Bde.).

Tertiärformation I.

Crassatella ponderosa (Art. Muscheln), äußereSeite.

Cancer macrocheilus. (Art. Krallen.)

Crassatella ponderosa, innere Seite.

Nummulites, Horizontaldurchschnitt der Schale. (Art.Nummuliten.)

von oben

von unten

Sciltella striata. (Art. Echinoideen.)

Nummulites nummularia, von oben.

Nummulites, von der Seite.

Limnaeus pyramidalis. (Art. Schlammschnecke.)

Rhombus minimus. (Art. Fische.)

Cerithium hexagonum. (Art. Schnecken.)

von der Seite

von vorn

Planorbis discus. (Art. Lungenschnecken.)

Zähne von Notidanus primigenius. (Art. Selachier.)

Turbinolia sulcata. (Art. Korallen.)

Kauplatte von Myliobatus punctatus. (Art. Selachier.)

Zahn von Carcharodon heterodon. (Art. Selachier.)

Tertiärformation II.

Schädel von Rhinoceros incisivus. (Art. Huftiere.)

Zeuglodon macrospondylus, restauriert. Verkleinerung 1/100.(Art. Wale.)

Anoplotherium commune, restauriert. (Art. Huftiere.)

Backenzahn von Mastodon australis. (Art. Mastodon undRüsseltiere.)

Unterkiefer von Dryopithecus Fontani; natürlicheGröße, a zerbrochener Eckzahn. (Art. Affen.)

Skelett des Megatherium Cuvieri. (Art. Megatherium undZahnlücker.)

Platte mit einem Abdruck von Andrias Scheuchzeri. Kopf,Vorderfüße und Rückenwirbelsäule sinderhalten. (Art. Andrias.)

Mylodon robustus, restauriert. (Art. Megatherium undZahnlücker.)

Kopf des Dinotherium giganteum, sehr stark verkleinert. (Art.Dinotherium und Rüsseltiere.)

Backenzahn von Dinotherium giganteum, von der Krone aus gesehen,sehr stark verkleinert.

Glyptodon clavipes. (Art. Zahnlücker.)

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Tersus - Tertiärformation.

Am bekanntesten wurde er als Dichter pietistisch gefärbter,aber gemütvoller und durch wahre Frömmigkeitausgezeichneter Kirchenlieder ("Jauchzet ihr Himmel, frohlocket ihrenglischen Chöre", "Siegesfürst und Ehrenkönig","Nun sich der Tag geendet " etc.). Eine Sammlung seiner Schriftenerschien Stuttgart 1844-45, 8 Bde. Sein Leben beschrieben Kerlen(2. Aufl., Mülh. 1853) und Stursberg (das. 1869).

Tersûs, Stadt, s. Tarsos.

Terteln, Kartenspiel, s. Tatteln.

Tertia (lat.), die dritte Schulklasse; Tertianer,Schüler derselben. In der Buchdruckerkunst heißt T. eineSchriftgattung von 16 typographischen Punkten Kegelstärke (s.Schriftarten).

Tertian (lat.), dreitägig; Tertianfieber, Fieber,das jeden dritten Tag eintritt (s. Wechselfieber).

Tertiär (lat.), die dritte Stelle in einerReihenfolge einnehmend; so heißt in der Heilkunde die drittePeriode der Syphilis mit schweren Erkrankungen der Haut, Knochenund Eingeweide tertiäre Syphilis; als Substantivum (das T.)auch s.v. w. Tertiärformation (s. d.).

Tertiärbahnen, Eisenbahnen dritter Ordnung zumTransport von Kohlen, Erzen etc. in Bergwerken, Fabrikanlagen etc.,welche auf geneigten Strecken meist mittels Seil oder Kettebetrieben werden.

Tertiärformation (hierzu Tafeln"Tertiärformation I u. II"), in der Geologie Schichtenfolge,jünger als die Kreidebildungen und älter als dasDiluvium. Der Name ist im Gegensatz zu "primär" und"sekundär" als Bezeichnungen der ältern Formationengewählt, Ausdrücke, welche jetzt fast ganz außerGebrauch gekommen sind, während speziell tertiärallgemein üblich geblieben ist. Zusammen mit dem jüngernDiluvium (Quartär) und dem noch jüngern Alluvium(Rezent), die wohl auch als Posttertiär zusammengefaßtwerden, bildet das Tertiär die känozoischeFormationsgruppe im Gegensatz zu der mesozoischen undpaläozoischen. Charakteristisch für dieTertiärbildungen ist der große Einfluß, den dieHerausbildung der Klimazonenunterschiede auf die Beschaffenheit derdamaligen Tier- und Pflanzenwelt ausgeübt hat, währendsolche klimatische Sonderungen in den ihr an Alter vorausgehendenFormationen nur eben nachweisbar sind. Eigentümlich ist fernerdas Zurücktreten oder vollkommene Verschwinden vielertierischer und pflanzlicher Formen, welche noch dem mesozoischenZeitalter einen fremdartigen, von unsrer heutigen Schöpfungwesentlich verschiedenen Charakter aufprägten, während imTertiär Pflanzen und Tiere teils neu auftreten, teils zudominieren beginnen, welche den uns umgebenden näherstehen.Weiter bietet das Tertiär vorzüglich in seinenjüngern Abteilungen besondere Lagerungsverhältnisse dar:die meisten Vorkommnisse sind auf einzelne, voneinander isolierteBecken beschränkt, und nur von ältermTertiärmaterial finden sich zusammenhängende, überweite Strecken ununterbrochen verbreitete Ablagerungen. In denisolierten Becken wechseln Schichten, in denen Meeresformenaufgehäuft sind, mit solchen, die brackische Formen oderSüßwasser- und Landorganismen führen, oft inmehrfacher Folge. Einige dieser Eigentümlichkeiten der T.,namentlich die zuletzt erwähnten, erschweren dieParallelisierung und Etagierung der Schichten sehr bedeutend. Einenoch jetzt in ihren Grundzügen beibehaltene Einteilung derTertiärschichten rührt von Lyell (1832) her und beruhtauf Verhältniszahlen zwischen ausgestorbenen und noch lebendenMollusken, welche zuerst von Deshayes berechnet worden waren.Derselbe hatte gefunden, daß in den ältesten Schichtender T. etwa 97 Proz. aller Mollusken Arten angehören, welchesich in unsrer heutigen Schöpfung nicht mehr vorfinden,daß dieser Prozentsatz für die mittlere T. auf etwa 81sinkt und in den jüngsten Schichten nur noch 48 beträgt,so daß in diesen die Mehrzahl der Versteinerungen sich denArten der Jetztwelt unterordnen läßt. Lyell fixiertediese drei Stufen als Eocän, Miocän und Pliocän.Neuere Untersuchungen haben zwar diese Zahlen wesentlichkorrigiert, im allgemeinen aber doch die Zunahme noch lebenderFormen in den jüngern Schichten bestätigt; ja, bei derVereinzelung vieler tertiärer Ablagerungen bildet diesesprozentige Verhältnis zwischen noch lebenden und schonausgestorbenen Arten oft die einzige Unterlage für dierelative Altersbestimmung. Dagegen hat sich der Sprung vomEocän zum Miocän als zu groß, dem Intervallzwischen Miocän und Pliocän nicht gleichwertigherausgestellt, weshalb Beyrich (1854) zwischen Eocän undMiocän noch Oligocän einschob. Eine ursprünglich vonMayer herrührende, von andern mannigfaltig geänderteEinteilung der Tertiärschichten unterscheidet zwölfStufen, die nach hervorragenden Lokalitäten ihres Vorkommensbenannt werden, und von denen die Soissonische, Londoner, Pariserund Bartonische dem Eocän, die Ligurische, Tongrische undAquitanische dem Oligocän, die Mainzer (auch Langhische Stufegenannt), Helvetische und Tortonische dem Miocän und endlichdie Piacentische (Messinische) und Astische Stufe dem Pliocänzuzurechnen sein würden. Mayers Originalbezeichnungen sindfranzösisch, z. B. Tongrien, Mayencien, Helvetien etc. Mayerselbst aber trennt die T. in nur zwei Abteilungen: dasAlttertiär (Paläogen) und das Neutertiär (Neogen),von denen das erstere Eocän und Oligocän, das letztereMiocän und Pliocän umfaßt. Die "Übersicht dergeologischen Formationen" (s. Geologische Formation) gibt einenKatalog aller wichtigen Tertiärablagerungen, während imfolgenden nur einige in geographischer Anordnung besprochen werdensollen.

Zu den ältesten Bildungen der T. gehören die unterstenSchichten des Paris-Londoner Beckens, welches schon währendder Eocänperiode einer wiederholten Aussüßungunterlag, was sich in dem Wechsel der Versteinerungen deutlichausspricht. Oft genannt werden die Pariser Grobkalke (Calcairegrossier), reich an Tierresten, von denen die Tafel I Korallen(Turbinolia sulcata), Fischzähne (Carcharodon heterodon),Schnecken (Cerithium hexagonum) und Zweischaler (Crassatellaponderosa) darstellt. Etwas älter ist der Londonthon (Londonclay), welchem die abgebildete Kauplatte eines Rochens (Myliobatuspunctatus, s. Tafel I) entstammt, noch älter die Tanetthoneund -Sande, jünger die plastischen Thone von Barton undBembridge, aus denen als Repräsentanten vonSüßwasserschnecken Lymnaeus pyramidalis und Planorbisdiscus abgebildet sind (s. Tafel I). Die jüngern Schichten desBeckens fallen dem Oligocän zu, so namentlich die Gipse desMontmartre (Paläotherienschichten), an dessen reiche Reste(Palaeotherium, Anoplotherium commune, s. Tafel II) sich dieberühmten Untersuchungen Cuviers anknüpften, sowie derSandstein von Fontainebleau. An der Grenze zwischen Oligocänund Miocän stehen die Süßwasserkalke von La Beauce,und ungefähr gleichalterig sind die Indusienkalke derAuvergne, mit Phryganeenhülsen (Indusien), die aus kleinenzusammengekitteten Konchylien bestehen, durchspickte

602

Tertiärformation (die wichtigstenTertiärablagerungen).

Kalke. Noch jünger sind die Faluns der Touraine und derBretagne, muschelreiche Sande und Mergel, aus denen Tafel I einenSeestern (Scutella striata) abbildet. In England sindaußerdem pliocäne Schichten vertreten, der sogen. Crag,der sich in mehrere Etagen gliedern läßt. Eine reinmarine Facies des Untertertiärs ist die Nummulitenformation.Wenn auch für diese die früher vorausgesetzteGleichartigkeit nicht besteht, die betreffenden Gesteine vielmehrverschiedenen Altersstufen untergeordnet werden müssen, sosind doch die Altersunterschiede dieser aus Kalksteinen,Sandsteinen und Schiefern bestehenden überaus mächtigenAblagerungen gering: es entsprechen die ältesten etwa demPariser Grobkalk, die jüngsten der untern Abteilung desÖligocäns. Kalksteine und Sandsteine sind mitunterüberreich an großen Foraminiferen (Nummuliten, s. TafelI u. beistehende Textfigur);

[siehe Graphik]

Nummulitenkalk.

die Schiefer (Flysch, s. übrigens auch Kreideformation)führen Fucus-Arten. Wesentlich unterscheidet sich die Bildungvon dem in abgeschlossenen Becken auftretenden Tertiär durchdie an ältere Formationen erinnernde Mannhaftigkeit derEntwickelung nach vertikaler Mächtigkeit und horizontalerErstreckung. In den Ländern am Mittelmeer beginnend,beteiligen sich Nummulitengesteine an der Zusammensetzung derPyrenäen, Alpen, Apenninen und Karpathen, durchziehenKleinasien, sind im Himalaja vertreten und von den Sundainseln,China und Japan bekannt. In verschiedenen Niveaus führen siefischreiche Schichten, so in einem tiefern, am Monte Bolca inNorditalien (s. Rhombus minimus, Tafel I), mit denen auch dieBasalttuffe von Ronca fast gleichalterig sind, in einem höhernein schwarzes, den alten Thonschiefer vollkommen gleichendesGestein, den Fischschiefer von Glarus (Glarner Schiefer), in nochhöherm Niveau (Ungarn) solche mit Meletta crenata. In mehrerender genannten Gebirge, den Pyrenäen, Alpen und dem Himalaja,steigen die Nummulitengesteine bis zu sehr bedeutendenMeereshöhen (im Himalaja bis über 5000 m) hinauf, einBeweis, daß die Hebung dieser Gebirge erst in einerspätern Periode als in der des Alttertiärs erfolgt seinmuß. Daß die mit den Sammelnamen "Wiener Sandstein" (inden Südalpen Macigno) und "Karpathensandstein" bezeichnetenSchichten ebenso wie der Flysch nur teilweise hierher gehören,teilweise aber zur Kreideformation, wurde dort erwähnt. Aneinzelnen Stellen, namentlich in Bayern, werden dieNummulitengesteine glaukonitisch und eisenführend, sodaß sie als Eisenerze gefördert werden (Sonthofen,Kressenberg); an andern Orten in den Alpen (Häring, Reit imWinkel) finden sich kohleführende Schichten. Ungefährgleichalterig, teils oligocän, teils miocän, sind diebesonders für Württemberg und die Schweiz wichtigenBohnerze, welche kleine Becken oder Ausfüllungen vonschlotähnlichen Vertiefungen in Jurakalken bilden, denen siewegen dieser lokalen Verknüpfung lange beigezählt wurden,während ihre Reste (Säugetierknochen und Zähne) sieder T. zuweisen. Molasse ist kein streng geologischer Begriff,sondern eher ein petrographischer und bezeichnet meist feinere,lockere Sandsteine, besonders typisch in der Schweiz, aber auch inOberschwaben entwickelt. Die Annahme einer Molassenformation hatnach genauern paläontologischen Untersuchungen weichenmüssen; es gehören diese Bildungen verschiedenen Stufendes obern Oligocäns und des Miocäns an und bergen teilsmeerische, teils Süßwasserformen. Aus der Meeresmolassebildet die Tafel I den Haifischzahn, Notidanus primigenius, ab. Derobern Süßwassermolasse, dem mittlern Miocän, werdenauch die Kalke von Öningen in Oberbaden zugerechnet, welcheeinen ganz außerordentlichen Reichtum an pflanzlichen undtierischen Formen enthalten, unter den letztern jenenRiesensalamander (Andrias Scheuchzeri, s. Tafel II), den Scheuchzer1732 als hom*o diluvii testis beschrieb. Auch Nagelfluh ist einpetrographischer Begriff: die mit diesem Namen belegten polygenenKonglomerate gehören teils zum obern Oligocän, teils zumMiocän. Die Schichten, welche im W. Deutschlands das MainzerBecken auf beiden Seiten des Rheins, mainaufwärts bisAschaffenburg, nördlich zwischen Taunus und Vogelsberg bisgegen Gießen, bilden, sind teils Oligocän, teilsMiocän. Zu ersterm zählen unter anderm die Meeressande,unter deren Resten namentlich die einer Seekuh (Halianassa)bemerkenswert sind, die Septarien- oder Rupelthone, dieLandschneckenkalke, die Cerithienschichten und Cyrenenmergel. DemMiocän werden Kalke, oft ganz erfüllt mit einer kleinenSchnecke (Litorinella), und Sandsteine mit Pflanzenabdrücken,sogen. Blättersandsteine (z. B. von Münzenberg inHessen), beigerechnet und als jüngste Etage die EppelsheimerSande (Dinotheriensande), welche viele Säugetierreste, unterihnen Rhinoceros (s. Tafel II) und Dinotherium (s. Tafel II),enthalten. Von dem großen Wiener Becken sind höchstensdie ältesten Schichten dem Oligocän beizuzählen; dasGros der Bildung gehört dem Miocän, bis zu derjüngsten Stufe hinauf, an. Lokale Benennungen sind, von untennach oben geordnet: der Leithakalk (Nulliporenkalk), ein fast nuraus Versteinerungen bestehender Kalk, der Tegel, ein kalkhaltigerThon, beide wohl parallele Facies einer und derselbenBildungsperiode, Cerithienschichten, Kongerienschichten, obererTegel, Belvedereschichten. Gleichalterig sind die wichtigenSteinsalzablagerungen in Galizien (Wieliczka, Bochnia) und inSiebenbürgen (Kalusz), von denen Wieliczka jährlich gegen1½ Mill. Ztr. Steinsalz liefert. In Norddeutschland sindzahlreiche Tertiärbildungen bekannt, durch Bedeckung seitensjüngerer Schichten in eine große Anzahl kleiner Beckengeteilt und meist dem Oligocän angehörig. Als technischwichtiges Produkt führen diese Schichten Braunkohlen, unterdenen die der Rhön, der Wetterau und des Niederrheinsjünger als die Ostdeutschlands und als die Bernsteinführenden Schichten des Samlandes sind. Zwischen diesenkohleführenden Schichten sind marine Niveaus entwickelt, wiedie Sande von Egeln, die Sande der Kasseler Gegend, die Kiese vonMeck-

603

Tertiärformation (Pflanzen- u. Tierformen, vulkanischeThätigkeit der Tertiärzeit).

lenburg mit den Sternberger Kuchen (versteinerungsreicheKonkretionen). Italien besitzt außer den oben erwähntenalttertiären Gesteinen auch weit jüngere, die alsSubapenninenformation zusammengefaßt werden. Sie sind bis zumehreren Hunderten von Metern mächtig und reich an Arten,welche fast ausnahmslos mit noch lebenden mittelmeerischen odertropischen identisch sind. Tafel I gibt einen Taschenkrebs (Cancermacrocheilus) aus diesen Schichten. Auch jenseit des Ozeans, inNordamerika, sind zahlreiche Tertiärbildungen bekannt, welchereiche Funde, namentlich an höhern Tieren, geliefert haben. InGrönland treten Braunkohlen auf, welche einenRückschluß auf das damals herrschende Klima gestatten.Die Kalktuff- und Lehmschichten aber, welche in riesigenAblagerungen die Pampas am La Plata-Strom in Südamerikabilden, und von deren Riesenformen Tafel II einige Abbildungen(Glyptodon, Megatherium, Mylodon) gibt, werden jetzt nicht mehr wiefrüher dem Jungtertiär, sondern dem Diluvium (s. d.)zugerechnet.

Unter den Pflanzenformen, zunächst des Alttertiärs,spielen besonders die Koniferen (Taxites, Taxoxylon,Cupressinoxylon, Sequoia) eine hervorragende Rolle alskohlebildende Pflanzen, von denen auch der Bernstein geliefertwurde, der sich aber meist fern von den erzeugenden Pinus-Arten aufsekundärer Lagerstätte in glaukonitischen Sandenvorfindet. Die Thone, Sandsteine und Schiefer führen Reste vonChondrites-Arten (in meerischen Schichten), Palmen, Pandanen,Seerosen, Feigen, immergrünen Eichen, Lorbeer,Sandelbäumen, Myrten und Proteaceen, während dieSagobäume ganz zurücktreten. Die sämtlichen Pflanzendes Alttertiärs tragen einen tropischen Charakter an sich, wiedenn auch die Land- und Süßwasserkonchylien ihrenächsten Verwandten unter den heutigen Arten von Ostasien,Polynesien und Indien haben. Auch nach den Pflanzenformen desNeogens, unter welchen 119 Arten Monokotyledonen und gegen 500Arten Dikotyledonen gezählt werden, berechnet O. Heer fürdie verschiedenen Fundorte eine gegen 9° C. höhereMitteltemperatur während der Neogenzeit, als heute andenselben Orten herrscht. Er nimmt an:

Mitteltemperatur zur

frühern Miocänzeit spätern Miocänzeit

in Oberitalien .... 22° 20°

in der Schweiz .... 20½° 18½°

bei Danzig .... 16° -

in Schlesien .... - 15°

in Nordisland .... 9° -

Unter den Tierformen der T. sind die Molluskenordnungen schonganz in dem für die Jetztwelt bestehenden Verhältnisvertreten. Zweischaler und Schnecken überwiegen; Brachiopodenund namentlich Cephalopoden, noch in der Kreide ingroßartigem Formenreichtum entwickelt, treten vollkommenzurück. Gleiches Schicksal teilen die Krinoideen, dieMeeressaurier und Flugsaurier. Weitaus das meiste Interesse unterden tertiären Tierformen erregen die Säugetiere, teilsweil sie im Gegensatz zu der in ältern Formationen alleinvertretenen Ordnung der Beuteltiere viel mannigfaltigere Typenaufweisen, teils weil sie gewisse in der heutigen Schöpfungnur lückenhaft entwickelte Ordnungen ergänzen. Schon imAlttertiär treten Wale auf, so das aus Alabama stammende, 15 mlange Zeuglodon (Tafel II), besonders aber Mischlingstypen zwischenden Wiederkäuern und Dickhäutern, wie Palaeotherium undAnoplotherium (Tafel II). Daneben kommen vereinzeltFledermäuse, Raubtiere, Nager, Insektenfresser und Affen vor,während Funde in Nordamerika die abenteuerlichen Gestalten desLoxolophodon und Dinoceras geliefert haben, sechsfach gehörnteTierkolosse, welche gewisse Merkmale des Tapirs, des Rhinozeros unddes Elefanten in sich vereinigen. Für das Neogen sind vorallen die Mastodonten (Tafel II), Elefanten mit vierStoßzähnen und eigentümlichen, nichtblätterig, sondern zitzenförmig gebauten Zähnen,charakteristisch, daneben Dinotherium (Tafel II), ein riesigesRüsseltier mit abwärts laufenden Stoßzähnen,in der übrigen Bezahnung an den Tapir erinnernd. Ferner tretengehörnte und ungehörnte Rhinozerosarten, Giraffen,Antilopen, Hunde, Raubtiere sowie einige Affen auf, von denenDryopithecus (Tafel II) ein besonderes Interesse erregt, weil seineBezahnung der des Menschen so nahe steht, daß einzelneaufgefundene Zähne lange Zeit für menschliche gehaltenwurden. Endlich birgt das Jungtertiär in Anchitherium undHipparion Stammformen unsers Pferdes.

Die Produkte der vulkanischen Thätigkeit während derTertiärperiode sind Basalte, Andesite, Trachyte undPhonolithe, meist mit Laven historischen Ursprungs petrographischvollkommen übereinstimmend. Ihre als Tuffe ausgebreitetenZertrümmerungsprodukte sind durch Wechsellagerung mannigfaltigmit rein sedimentärem Material verknüpft und führenoft als einen greifbaren Beweis gleichzeitiger Bildungtertiäre Petrefakten. Im schroffen Gegensatz zu der Seltenheitvulkanischen Materials, welches gleichaltrig mit Kreide-, Jura- undTriasgesteinen ist, sind die Eruptivgesteine tertiären Altersäußerst zahlreich. In Deutschland gehören hierherdie isolierten Basalt- und Phonolithkuppen des Hegaues, die Basalteder Alb, die Tuffe und Bomben im Ries, die vulkanischen Gesteinedes Kaiserstuhlgebirges, die Umgebungen des Laacher Sees, die derEifel, des Siebengebirges, Westerwaldes, Vogelgebirges,Habichtwaldes und Meißners, der Rhön, die isoliertenPartien im Thüringer Wald, Fichtelgebirge, Erzgebirge undRiesengebirge. Gleichalterig sind ferner die nordböhmischen,ungarischen und siebenbürgischen Territorien vulkanischenMaterials. Hierzu gesellen sich weiter die Gebiete inZentralfrankreich, in Norditalien, in Schottland, Irland, auf denShetlandinseln, den Färöern und Island. Auch imSüden Europas begann die heute noch andauernde vulkanischeThätigkeit schon während der Tertiärzeit. Gleichzahlreiche Belege für die großartige Entwickelung derVulkane in der T. wären auch aus außereuropäischenLändern beizubringen.

Vgl. Beyrich, Über den Zusammenhang der norddeutschenTertiärbildungen (Berl. 1856); v. Ettingshausen, DieTertiärflora der österreichischen Monarchie (Wien 1851);die Schriften von Heer: "Flora tertiaria Helvetiae" (Zürich1854-58), "Urwelt der Schweiz" (2. Aufl., das. 1878), "Überdas Klima und die Vegetationsverhältnisse desTertiärlands" (Winterthur 1860) und "Flora fossilis arctica"(Zürich u. Winterthur 1868-75, 3 Bde.); Hörnes u.Reuß, Die fossilen Mollusken des Tertiärbeckens von Wien(Wien 1851-71, 2 Bde.); v. Könen, Über dieParallelisierung des norddeutschen, englischen undfranzösischen Oligocäns (Berl. 1876); Sandberger,Untersuchungen über das Mainzer Tertiärbecken (Wiesbad.1853); Derselbe, Die Konchylien des Mainzer Tertiärbeckens(das. 1863); Lepsius, Das Mainzer Becken (Darmst. 1883);Sueß, Der Boden der Stadt Wien (Wien 1862); Fuchs,Erläuterungen zur geologischen Karte der Umgebung Wiens (das.1873); Derselbe, Übersicht der jüngern Ter-

604

Tertiarier - Terz.

tiärbildungen des Wiener Beckens etc. (Berl. 1877); Karrer,Geologie der Franz Joseph-Hochquellenwasserleitung (Wien 1877).

Tertiarier und Tertiarierinnen (lat. Tertius ordo depoenitentia), Laien, die an dem Verdienst eines Ordens Anteilhaben, aber in der Welt bleiben. Dergleichen Orden (Bußorden,dritte Orden) führen sich zurück auf den heil.Franziskus, welcher, als 1221 ganze Scharen von Männern undFrauen Aufnahme in Klöster verlangten, einen Orden vonHalbmönchen und Halbnonnen schuf und demselben eine Regel in20 Kapiteln gab, nach welcher sie durch Vermeidung vonleichtsinnigen Eiden, Zänkerei, des Besuchs von Schauspielen,üppigen Lebens etc. den Klosterleuten im Leben ähnlichwerden könnten, ohne ihre Verbindungen mit der Welt zuverlassen. Ihre Kleidung war meist ein aschgrauer Rock, mit einemStrick umgürtet, die der Schwestern ein weißer Schleier.Selbst Kaiser Karl IV. und König Ludwig IX. von Frankreichsowie viele andre fürstliche Personen gehörten dem Ordenan. Zu Ende des 13. Jahrh. legten eine Anzahl von Tertiariern dieOrdensgelübde ab und wurden Religiosen, wodurch dieregulierten T. (regulierter Bußorden) entstanden. Dieselbenteilten sich mit der Zeit in eine Menge von Korporationen. Auchverschiedene Orden der regulierten Klosterfrauen vom Bußordentauchten auf, in Deutschland Elisabetherinnen genannt. Von ihnen zuunterscheiden sind die Hospitalbrüder und Hospitalschwesternvom dritten Orden des heil. Franziskus.

Tertiärsystem, s. v. w. Tertiärformation.

Tertiawechsel, s. Wechsel.

Tertie (lat.), der jetzt nur noch seltengebräuchliche 60. Teil einer Sekunde bei der Winkel- undZeiteinteilung, im ersten Fall durch drei der Zahl oben beigesetzteStriche bezeichnet, z. B. 4° 9' 25'' 10''' = 4 Grad 9 Minuten25 Sekunden 10 Tertien.

Tertiogenitur (lat.), Abfindung, welche dem Drittgebornenoder dessen Linie nach der Bestimmung mancher fürstlichenHausgesetze gewährt wird, meist ein Vermögenskomplex,früher auch zuweilen eine Entschädigung an Land undLeuten, wie dies z. B. in dem habsburgischen Haus der Fall gewesenist, dessen Primogenitur die österreichische Monarchie,während die Sekundogenitur Toscana, die T. Modena war.

Tertium comparationis (lat., "das Dritte derVergleichung"), der Vergleichungspunkt, das, worin zwei verglicheneDinge übereinstimmen.

Tertium non datur (lat., "ein Drittes gibt es nicht"),Formel zur Bezeichnung, daß zwei Urteile einanderkontradiktorisch entgegenstehen, ein dritter Fall also außerden beiden angegebenen nicht möglich ist.

Tertius gaudet (lat.), "der Dritte freut sich"(nämlich wenn zwei sich streiten); vollständiger: Duobuslitigantibus tertius gaudet.

Tertulia (span.), gesellige Zusammenkunft, besondersAbendgesellschaft, in welcher man sich durch Konversation,Gesellschaftsspiele, bisweilen wohl auch mit Tanzenunterhält.

Tertullianus, Quintus Septimius Florens, lat.Kirchenvater, geboren um 160 zu Karthago, war daselbst alsRechtsgelehrter und Rhetor thätig und trat erst um 185 zumChristentum über. Er war ein Mann von strenger Denkungsart,heftigem Charakter und reicher, oft wilder Phantasie und ward durchseine ganze Gemütsrichtung der Richtung der Montanisten (s.d.) zugeführt. Er starb um 230. Seine Schriften,apologetischen ("Apologeticum, Ad gentes" u. a.), moralischen unddisziplinarischen Inhalts, reich an Gedanken, aber vielfach dunkelund in dem rauhen afrikanischen Stil abgefaßt, wurdenneuerdings von Leopold (Leipz. 1839-41, 4 Bde.) und Öhler(das. 1853, 3 Bde.) herausgegeben und von Kellner (Köln 1882,2 Bde.) übersetzt. Vgl. Böhringer, Tertullianus (Stuttg.1873); Hauck, Tertullians Leben und Schriften (Erlang. 1877);Bonwetsch, Die Schriften Tertullians nach der Zeit ihrer Abfassunguntersucht (Bonn 1878); Ludwig, Tertullians Ethik (Leipz.1885).

Teruel, span. Provinz, den südlichen Teil derLandschaft Aragonien umfassend, grenzt im N. an die ProvinzSaragossa, im O. an Tarragona und Castellon, im S. an Valencia undCuenca, im W. an Guadalajara und hat einen Flächenraum von14,818 qkm (269,1 QM.). Das Land ist meist gebirgig und wird vonzahlreichen zum iberischen Gebirgssystem gehörigenBerggruppen, wie Sierra de Cucalon, Sierra de San Just (1513 m),Sierra de Gudar (1770 m), Sierra de Albarracin (mit Cerro SanFelipe, 1800 m, und Muela de San Juan, 1610 m), Sierra deJavalambre (2002 m), durchzogen. Die Flußthäler bildenfruchtbare Ebenen, der Nordosten gehört dagegen zur iberischenSteppe. Die Gewässer der Provinz fließen zumgrößern Teil dem Ebro zu, darunter Jiloca(Nebenfluß des Jalon), Martin, Guadalope. Außerdementspringen hier der Tajo und die KüstenflüsseGuadalaviar mit Alfambra und der Mijares. Die Bevölkerung istspärlich, (1878) 242,165 Seelen (nur 16 pro QKilometer, 1886auf 250,000 Seelen geschätzt). Der Boden ist wenig kultiviertund großenteils Weideland, liefert aber immerhin vielGetreide, dann Öl, Hanf, Flachs, etwas Obst und Wein.Abgesehen vom Westen, wo sich Wald vorfindet, ist das Land baumarm.Andre Produkte sind: Seide, Wolle (als Ergebnis der starkbetriebenen Schafzucht), dann, als Ertrag des bis jetzt sehrschwach betriebenen Bergbaues: Braunkohlen, Blei- und Eisenerz,Schwefel und Salz. Auch Mineralquellen sind vorhanden. Industrie,Handel und Verkehr sind unbedeutend. Die Provinz umfaßt zehnGerichtsbezirke (darunter Albarracin, Alcañiz, Hijar undMontalban). - Die gleichnamige Hauptstadt, auf steilem Hügelam Guadalaviar gelegen, altertümlich und wirr gebaut, hat 7Kirchen (darunter die schöne gotische Kathedrale), einen im17. Jahrh. erbauten, aus zwei übereinander stehendenBogenreihen bestehenden Aquädukt (Los Arcos), einPriesterseminar, Speditionshandel und (1886) 8861 Einw. Es ist Sitzdes Gouverneurs und eines Bischofs. T. hieß im AltertumTurdeto und ist keltiberischen Ursprungs.

Ter-Vere, Stadt, s. Vere.

Tervueren (spr -vuh-er'n), Marktflecken in der belg.Provinz. Brabant, Arrondissem*nt Löwen, an der EisenbahnBrüssel- T., mit (1888) 2674 Einw., war früherSommerresidenz der Herzöge von Brabant, hat ein schönes,dem König zur Verfügung gestelltes Schloß mit Park,welches unter der holländischen Regierung dem Prinzen vonOranien gehörte und seit 1867 zeitweilig von der KaiserinCharlotte, Witwe des Kaisers Maximilian von Mexiko (Schwester desKönigs der Belgier), bewohnt wurde.

Terz (lat. Tertia), in der Musik die dritte Stufe indiatonischer Folge. Dieselbe kann sein: groß (a), klein (b),vermindert (c) oder übermäßig (d). [Siehe Graphik]Von hervorragender Bedeutung für das elementare Studium derHarmonielehre ist die große T., denn sie ist wie die Quinte(s. d.) eins der den Dur- und Mollakkord konstituierendenGrundinter-

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Terzerol - Tessin.

valle. Wie schon Zarlino, Tartini und in neuerer Zeit besondersM. Hauptmann betonten, hat der Mollakkord nicht eine kleine T.(diese hat er nur im Generalbaß), sondern wie der Durakkordeine große T., aber von oben, da der ganze Mollakkord vonoben herunter zu denken ist: e

c

a.

T. ist auch Name einer Hilfsstimme in der Orgel. Auch einer derGrundhiebe der Fechtkunst (s. d.) heißt T.

Terzerol (ital.), kleine Pistole (s. d.), Taschenpistolemit Perkussionsschloß.

Terzeronen (span.), s. Farbige.

Terzett (ital.), ein Tonstück für dreikonzertierende Stimmen, insbesondere Singstimmen, während einsolches für Instrumente Trio genannt wird.

Terzine (ital.), ursprünglich ital. Strophe, ausdrei Versen von fünf- oder sechsfüßigen Jambenbestehend, mit gekreuzten Reimen, so daß stets der erste unddritte Vers jeder folgenden Strophe mit dem zweiten dervorhergehenden reimen, während der letzte Vers des Gedichtesals überschüssiger Vers mit dem zweiten Vers der letztenStrophe reimt und so einen metrischen Abschlußherbeiführt (Schema: aba, bcb, cdc, dec[?], efe etc.).Angeblich von Dante erfunden, dessen "Divina Commedia" in dieserStrophenform abgefaßt ist, wurde die T. seit Ende des 18.Jahrh. auch von deutschen Dichtern, z. B. von A. W. Schlegel,Rückert, Chamisso, Heyse u. a., mit Meisterschaft behandelt.Vgl. Schuchardt, Ritornell und T. (Halle 1875).

Terzka (Terzky, eigentlich Treka), Adam Erdmann, Graf,kaiserl. General, ein böhmischer Edelmann, diente im HeerWallensteins, dessen Schwager er durch die Heirat mit derGräfin Maximiliane Harrach (also nicht der SchwesterWallensteins wie in Schillers "Wallenstein") war, genoß alsunbedingt ergebener Anhänger Wallensteins dessen Vertrauen undzeichnete sich mit seinem Regiment in der Schlacht bei Lützenaus. Er und Ilow beredeten hauptsächlich im Januar 1634 dieWallensteinschen Obersten zum Revers von Pilsen und zu der zweitenVerbriefung ihrer Treue den 20. Febr. Er ward deshalb von demkaiserlichen Pardon ausgenommen und 25. Febr. 1634 in Eger, wohiner Wallenstein begleitet hatte, nebst Ilow und Kinsky beimAbendessen nach verzweifeltem Widerstand ermordet.

Terzquartakkord (Terzquartsextakkord), Umkehrung desSeptimenakkords mit in den Baß gelegter Quinte (ghdf:dfgh).Vgl. Septimenakkord.

Terztöne, s. Quinttöne.

Tesanj (spr. -schanj), Bezirksstadt in Bosnien, KreisBanjaluka, liegt malerisch in einer Schlucht an beiden Ufern derRaduska, hat 5 Moscheen, auf steilem Kegel eine Ruine derehemaligen Residenz der Bane der Landschaft Usora, deren HauptstadtT. war, (1885) 5807 Einw. (meist Mohammedaner), lebhaften Obst- undGetreidehandel und ein Bezirksgericht.

Teschen, Fürstentum im österreich. HerzogtumSchlesien, besteht aus dem größten Teil des frühernTeschener Kreises, welcher im J. 1849 in die jetzigenBezirkshauptmannschaften T., Bielitz und Friedeck aufgelöstward (s. Karte "Böhmen, Mähren und Schlesien"),gehörte ursprünglich den oberschlesischen Herzögenvon Oppeln, wurde zufolge der Teilung dieses Herzogtums 1282selbständig als piastisches Fürstentum und stand seit1298 unter böhmischer Oberhoheit. Als 1625 der Mannesstamm derHerzöge von T. erlosch, verblieb das Fürstentum bei derKrone Böhmen, bis Kaiser Karl VI. dasselbe 1722 dem HerzogLeopold Joseph Karl von Lothringen übergab, dem sein SohnFranz Stephan, nachmaliger Kaiser Franz I., 1729 im Besitz folgte.Nach diesem besaß dasselbe seit 1766 unter dem Titel einesHerzogs von Sachsen-T. der mit der Tochter Maria Theresias, MariaChristina, vermählte Prinz Albert von Sachsen, der es beiseinem Tod 1822 an den Erzherzog Karl vererbte, von dem es andessen ältesten Sohn, Albrecht, überging. - Diegleichnamige Stadt (poln. Cieszyn), an der Olsa und amKreuzungspunkt der Kaschau-Oderberger Eisenbahn und derNordbahnlinie Kojetein-Bielitz, hat eine Dechanteikirche, einverfallenes Bergschloß und (1880) mit den sechsVorstädten 13,004 Einw., welche Fabrikation von Möbeln,Wagen, Bautischlerei, Flachsspinnerei und -Weberei, Bierbrauerei,Branntweinbrennerei und lebhaften Handel betreiben. T. ist Sitzeiner Bezirkshauptmannschaft, eines Kreisgerichts, eines Zollamtesund eines katholischen Generalvikariats mit bischöflicherJurisdiktion, hat ein Obergymnasium, eine Oberrealschule, eineLehrerbildungsanstalt, ein adliges Konvikt, evangelisches Alumneum,ein Museum, eine Sparkasse und ein Theater. Historischmerkwürdig ist die Stadt durch den hier 13. Mai 1779 zwischenMaria Theresia und Friedrich II. abgeschlossenen Frieden, welcherdem bayrischen Erbfolgekrieg ein Ende machte. Vgl. Biermann,Geschichte des Herzogtums T. (Tesch. 1863); Peter, T.,historisch-topographisches Bild (das. 1878); Derselbe, Geschichteder Stadt T. (das. 1888).

Tesching, Zimmergewehr von so kleinem Kaliber, daßdie Gase eines stark geladenen Zündhütchens genügen,das erbsengroße Geschoß auf 10-20 m durch einmäßig starkes Brett zu treiben; angeblich nach der StadtTeschen benannt.

Teskere (arab.), Billet, Note, Paß,Schuldverschreibung und andre ähnliche Schriftstücke;auch Sammlung von Biographien von Heiligen und Dichtern. T.-dschi,Notar des Großwesirs und des Hohen Rats.

Tessellarisch (lat.), würfelig, gewürfelt.

Tessera (lat.), Tafel, Stein zum Stimmen in denVersammlungen; Parole; auch Würfel zum Spielen.

Tesserales Kristallsystem, s. Kristall, S. 230.

Tesseralkies, s. v. w. Arsenikkobaltkies.

Tessin (ital. Ticino, lat. Ticinus), ein Alpenfluß,der in Oberitalien den Po erreicht, auf Schweizerboden 70 km lang,hat seine größere Quelle an der Nufenen, die kleinereauf dem St. Gotthardpaß, die sich beide (die erstere das ValBedretto, die andre das Val Tremola durchrauschend) bei Airolo(1170 m) vereinigen, strömt dann als kräftiger Bergstromdurch Livinen (Valle Leventina), durchbricht die wilde Felsschluchtdes Dazio Grande (763 m), eine der wildschönsten Partien imAlpenrevier, und betritt bei Biasca, wo ihm der Brennozufließt (287 m), das offenere und flachere Thalgeländeder Riviera. Von nun an langsamer fließend, zerspaltet ersich in viele Arme und legt Massen von Geschiebe ab. Nach Aufnahmeder Moësa (232 m) neigt sich das Thal noch weniger, ist sehrbreit und wenig höher als das Flußbett, so daßÜberschwemmungen und Versumpfungen eintreten. Bei Magadinomündet der T. in den Lago Maggiore (197 m), den er bei SestoCalende, schon auf italienischem Gebiet, als schiffbarer Flußwieder verläßt. In südöstlicher Richtungfließt der T. weiter an Pavia vorüber und mündetunterhalb dieser Stadt in den Po. Der T. richtet im Frühjahr,besonders in seinem obern Lauf, durch sein Austreten oft bedeutendeVerheerungen an. Bei Sesto Calende zweigt ein Kanal nach Mailandab.

606

Tessin (Kanton).

Tessin (Ticino), der südlichste Kanton der Schweiz,im N. von Wallis, Uri und Graubünden, im O. vonGraubünden und Italien, im S. und W. von Italien begrenzt, hateine Fläche von 2818 qkm (51,2 QM.). Er umfaßt diegroße Masse des obern Tessingebiets, d. h. einenförmlichen Fächer alpiner und voralpiner Thäler,welche sich gegen den Lago Maggiore, meist in südlicherRichtung, dem Fluß T. zu, öffnen. Soweit das Hochgebirgereicht, pflegt man die Tessiner Alpen als Ausstrahlungen des St.Gotthard (s. d.) zu betrachten und der Gotthardgruppe beizuordnen.Es ist dies zunächst ein Zug, der von dem Knotenpunkteinerseits zum Ofenhorn (3270 m), anderseits zum Vorderrhein ziehtund hier in die Graubündner Alpen übergeht. Da erhebensich unter andern die zentralen Massen des Scopi (3201 m), desCamotsch (Cima Camadra 3203 m) und insbesondere die Adulagruppe mitdem 3398 m hohen Rheinwaldhorn, der höchsten Erhebung desKantons, von wo ein langer Kamm nach S., bis zur Mündung derMoësa, zieht. Dieser großartigen äußernUmwallung in Halbkreisform entspricht, durch das Thal des Tessindavon getrennt, eine innere, von den Schneehäuptern desBasodine (3276 m) und Pizzo Forno (2909 m) flankierte. Jenseit dertiefen Furche des Tessinthals und des Lago Maggiore erreicht dasGebirge nur noch voralpinen Charakter in den Zentralmassen desMonte Tamaro (1961 m), des Camoghe (2226 m) und des Monte Generoso(1695 m); die Thäler nehmen mildere Formen an und leitenallmählich in die lombardischen Ebenen über. EineStraße, welche den Monte Ceneri (553 m) überschreitet,jetzt eine zum Netz des Gotthardunternehmens gehörige Bahn,mit 1,673 km langem Tunnel (1880/81 gebohrt), verbindet diehochalpinen Landschaften (Sopraceneri) mit dem voralpinen Gebiet(Sottoceneri). Der Hauptfluß des Landes ist der Tessin (s.d.), dessen Thal sich in die drei Stufen: Val Bedretto, ValleLeventina und Riviera gliedert. Ihm geht links das von Lukmanierund Greina herabsteigende, vom Brenno durchflossene Valle Blegnozu; zwei andre hochalpine, dem Tessinthal parallele Thälermünden rechts zum Lago Maggiore: das Val Verzasca und beiLocarno Valle Maggia, zu oberst Val Lavizzara genannt. Im Gegensatzzu diesen ernst und eng umrahmten Alpenthälern steht dervoralpine Sottoceneri. Hier lagert der Luganer See, dem der Agnozufließt und die klare Tresa entströmt, um in den LagoMaggiore zu münden. Dieser orographischen Gestaltungentspricht die klimatische Mannigfaltigkeit, so daßBellinzona eine durchschnittliche Jahrestemperatur von 12,6° C.hat, während im St. Gotthard-Hospiz (2100 m) das Jahresmittel-0,6° beträgt. Der Kanton zählt (1888) 127,274 (1880:130,777) Einw., durchweg italienischer Nationalität.Entsprechend ihrer Bodenbeschaffenheit bringen die alpinenThäler des Sopraceneri wenig Getreide hervor, während derSottoceneri und die untere Stufe des Sopraceneri sehr ergiebigsind. Hier gibt es meist zwei Ernten, und neben allerlei Obstgedeihen Feigen, Pfirsiche und Walnüsse, Kastanien und Olivensowie Wein und Tabak. Die Waldungen sind meist in derschonungslosesten Weise ausgeholzt worden; die früher sehrstarke Holzausfuhr hat daher beinahe ganz aufgehört. Auch inder Rinderzucht findet sich nichts Bedeutendes; die Tiere sindklein und von geringer Rasse. Ein großes Heer von Ziegen undkleinen, unansehnlichen Schafen zeugt kaum für einewirtschaftliche Entwickelung. Im Sottoceneri hält man vieleEsel. Auch Seiden- und Schneckenzucht wird betrieben. Um Locarnofindet sich Gneis, um Mendrisio Kalkstein und Marmor, und im ValLavizzara wird Lavezstein (zu Geschirren) vielfach angewendet. Dieeinheimischen Gewerbszweige, etwa die Geschirrdrechselei von ValLavizzara und die Strohflechterei von Val Onsernone abgerechnet,häufen sich im Sottoceneri, namentlich um Lugano, woLeinweberei, Gerberei, Ziegelei, Töpferei, Papierfabrikationu. a. blühen. Den meisten Gewerbfleiß aber zeigen dieTessiner in der Fremde, wo sie in den mannigfachsten Handwerken undArbeiten thätig sind. In neuerer Zeit wendet sich dieAuswanderung auch überseeischen Ländern,hauptsächlich den La Plata-Staaten, zu. Von seinenschweizerischen Nachbarn, den Kantonen Wallis, Uri undGraubünden, durch wilde Gebirge geschieden, ist das Land vonN. her schwer zugänglich; hohe und beschwerliche Bergpfade,wie die Nufenen (2441 m) und Greina (2360 m) sowie der zum Comerseehinüberleitende Paß von Sant Jorio (1956 m), haben keineBedeutung als Verkehrsrouten erlangt, und erst seit kurzem ist der1917 m hohe Lukmanier gebahnt, dessen neue Straße 1877 demVerkehr übergeben wurde. Dagegen war der St. Gotthard (2114 m)seit dem 12. Jahrh. mehr und mehr zu einem wichtigen Überganggeworden und bekam 1820-24 eine großartige Kunststraße;ziemlich zu derselben Zeit wurde auch der Bernhardin (2063 m)gebahnt. Seit 15. Okt. 1869 kam das Unternehmen der Gotthardbahn(s. d.) zur Ausführung. Die tessinischen ThalbahnenBiasca-Bellinzona-Locarno sowie Lugano-Chiasso wurden bereits 1874dem Betrieb übergeben; dann folgte die LinieBellinzona-Lugano-Chlasso (-Como), welche den Monte Ceneripassiert. Einstweilen ist die Dampfschiffahrt auf dem LagoMaggiore, in minderm Grade diejenige auf dem Luganer See vonWichtigkeit; auf ersterm kursieren 11, auf letzterm 3 Dampfer. Dieinländische Handelstätigkeit ist nicht bedeutend; einvorübergehendes Leben bringen die herbstlichen Viehmärktevon Airolo, Faido, Biasca und namentlich von Lugano, demindustriellsten Ort und ersten Handelsplatz des T. In Bellinzonaund Lugano arbeiten die zwei tessinischen Zettelbanken; Locarno hateine Hypothekenbank. Zur Hebung der sehr vernachlässigtenVolksbildung ist in neuerer Zeit manches geschehen. Auch im T. istder Primarunterricht jetzt obligatorisch. Ein Lehrerseminarfür beide Geschlechter besteht erst seit 1874 (in Pollegio).Neben einigen Progymnasien ist das Lyceum in Lugano diehöchste Lehranstalt des Kantons. Die öffentlichenBibliotheken enthalten nur 30,000 Bände. Seit längererZeit sind die kirchlichen Verhältnisse in einer Umbildungbegriffen. Der Kanton T. gehörte früher teils zum BistumComo, teils zum Erzbistum Mailand; am 22. Juli 1859 hat dieBundesversammlung die Abtrennung vom auswärtigen Verbandausgesprochen, und durch Staatsvertrag ist diese Ablösungökonomisch geregelt. Die kirchliche Seite jedoch blieb langestreitig, da der Papst die Errichtung eines besondern Bistums T.wünschte, die Eidgenossenschaft dagegen den Anschluß aneins der schon bestehenden schweizerischen Bistümer verlangte.Erst 1888 wurde der Streit durch einen Vergleich mit der Kuriebeigelegt (s. unten, Geschichte). Die Verfassung datiert vom 4.Juli 1830 und erfuhr wiederholt partielle Revisionen (die letzte10. Febr. 1883). T. stand bis dahin noch durchaus auf dem Boden derRepräsentativdemokratie; dann aber wurde das fakultativeReferendum eingeführt, nämlich sofern 5000 Bürgerdie Abstimmung verlangen, und zwar

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Tessin - Testakte.

unterliegen dieser Abstimmung Gesetze und allgemein verbindlicheBeschlüsse nicht dringlicher Natur. Die gesetzgebendeBehörde ist der Große Rat, der auf je vier Jahre durchdas Volk erwählt wird. Die Exekutive übt ein Staatsratvon fünf Mitgliedern, die der Große Rat auf je vierJahre erwählt. Die höchste richterliche Gewalt ist einemObergericht übergeben, das ebenfalls durch den GroßenRat auf vier Jahre ernannt wird. In den acht Bezirken des Kantonsist die Exekutive durch einen Commissario der Regierung vertreten;jeder Bezirk hat sein Bezirksgericht, die Gemeinden je eineMunicipalität mit einem Sindaco an der Spitze. DieStaatsrechnung für 1886 zeigt an Einnahmen 2,368,121, anAusgaben 1,974,388 Frank. Die verzinsliche Staatsschuld belief sicham 1. Jan. 1887 auf 8,584,957 Fr., die unverzinsliche auf 767,003Fr. Der Sitz der Regierung wechselte bisher von sechs zu sechsJahren zwischen den Städten Lugano, Locarno und Bellinzona;seit 1881 ist infolge eines Volksbeschlusses Bellinzona dieständige Hauptstadt des Kantons geworden.

[Geschichte.] Das Gebiet des Kantons T., ursprünglichgrößtenteils zum Herzogtum Mailand gehörig, wurdevon den Eidgenossen im 15. und 16. Jahrh. teils durch Eroberung,teils durch Schenkung erworben. Das Thal Leventina (Livinen)gehörte den Urnern (seit 1440) und erfreute sich ausgedehnterFreiheiten, die ihm erst 1755 infolge eines Aufstandes entrissenwurden. Bellenz, Riviera und Bollenz (Blegnothal), von Ludwig XII.für die Hilfeleistung bei der Eroberung Mailands 1503abgetreten, waren "gemeine" Vogteien von Uri, Schwyz und Nidwalden,Lugano, Locarno, Mendrisio und Maggiathal, ein Geschenk MaximilianSforzas für Mailands Befreiung (1512), dagegen solchesämtlicher eidgenössischer Orte ohne Appenzell. DieVerwaltung dieser italienischen Vogteien war ein Schandfleck deralten Eidgenossenschaft, und das Land fiel einer trostlosenVerwilderung anheim; dennoch zog es 1798 vor, bei der HelvetischenRepublik zu verbleiben, die ihm Gleichberechtigung mit denehemaligen Herren brachte, statt sich dem Wunsch Bonapartesgemäß der Cisalpinischen Republik anzuschließen.Die Mediationsakte schuf daraus 1803 den heutigen Kanton T. miteiner Repräsentativverfassung, die 1814 in aristokratischemSinn modifiziert wurde. Im T. begann noch vor der Julirevolution inFrankreich mit einer unter der Führung des nachmaligenBundesrats Franscini ins Werk gesetzten Verfassungsrevision vom 30.Juni 1830 die liberale Bewegung in der Schweiz. Die innereGeschichte des Kantons blieb jedoch immer eine leidenschaftlichbewegte infolge des Gegensatzes zwischen den Klerikalen, welche inden nördlich vom Monte Ceneri gelegenen Alpenthälern(Sopraceneri), und den Liberalen, die im südlichen Landesteil(Sottoceneri) die entschiedene Mehrheit besaßen. Am 6. Dez.1839 stürzten die Liberalen eine sie mit Verfolgungenbedrohende ultramontane Regierung mit Gewalt, während einähnlicher Versuch der Ultramontanen 1841 mit der Hinrichtungihres Führers Nessi endete. Nachdem die Liberalen ihrÜbergewicht im Großen Rat und im Staatsrat dazu benutzthatten, die Klöster aufzuheben oder doch in derNovizenaufnahme zu beschränken, die Geistlichen von der Schuleauszuschließen und den kirchlichen Verband mit denBistümern Como und Mailand seitens des Staats zu lösen(1858), entbrannte 1870 über der Frage, ob Bellinzona oderLugano alleinige Hauptstadt des Kantons sein sollte, aufs neue einleidenschaftlicher Parteikampf zwischen den Sopra- u.Sottocenerinern. Der Gegensatz verschärfte sich, als 1875 dieUltramontanen die Mehrheit im Großen Rat erhielten. Diesergeriet nunmehr in Konflikt mit dem liberalen Staatsrat überein neues Wahlgesetz. Die Aufregung stieg darüber so hoch,daß es 22. Okt. 1876 in Stabio zu einem blutigenZusammenstoß zwischen Klerikalen und Liberalen kam. Doch wardunter Vermittelung eines eidgenössischen Kommissars einVergleich geschlossen und Neuwahlen für den Großen Ratau 21. Jan. 1877 anberaumt, bei denen die Klerikalen definitiv denSieg errangen. Durch ein Verfassungsgesetz vom 10. März 1878wurde der bisherige Wechsel des Regierungssitzes zwischen Locarno,Lugano und Bellinzona aufgehoben und letzteres zur alleinigenHauptstadt erklärt. Neuen Stoff zur Entflammung derParteileidenschaften gab die nunmehr ausschließlich ausKlerikalen bestellte Regierung durch die rücksichtsloseEntfernung aller liberalen Lehrer und Beamten,Wiederbevölkerung der Klöster etc.; durch den Versuchaber, den Prozeß wegen der Vorgänge in Stabio zurVernichtung des Obersten Mola, eines Führers der Liberalen, zubenutzen, obschon dessen Unschuld klar zu Tage lag, brachte sie dieganze Schweiz in Aufregung, die sich erst wieder legte, als die inihrer Mehrheit klerikale Jury den Prozeß durch eineallgemeine Freisprechung endigte (14. Mai 1880). Im J. 1883 wurdedurch eine Verfassungsrevision das Referendum eingeführt und1886 das Kirchengesetz in ultramontanem Sinn umgeändert,wogegen der Papst durch Verträge mit der Eidgenossenschaft(1884 und 1888) in den formellen Anschluß des T. an dasBistum Basel willigte, unter der Bedingung, daß ein von derKurie im Einverständnis mit dem Bischof aus der tessinischenGeistlichkeit zu ernennender apostolischer Administrator in Luganodie bischöfliche Gewalt im Kanton ausübe. Aus Anlaßder Neuwahlen für den Großen Rat (3. März 1889) kames zu einem so heftigen Streit zwischen den Konservativen und denLiberalen, welche die erstern gesetzwidriger Streichungen vonLiberalen in den Wahllisten beschuldigten, daß dieBundesbehörde einschreiten mußte. Gewählt wurden 75Konservative und 37 Liberale. Vgl. Franscini, Der Kanton T.historisch, geographisch und statistisch (deutsch, St. Gallen1835); Osenbrüggen, Der Gotthard und das T. (Basel 1877);"Bolletino storico della Svizzera italiana" (Bellinz. 1879ff.);Motta, Bibliografia storica ticinese (Zür.).

Tessin, Stadt im GroßherzogtumMecklenburg-Schwerin, Herzogtum Güstrow, an der Recknitz, hatein Amtsgericht und (1885) 2462 Einw.

Test, eine mit Äscher, Mergel oder Knochenmehl(Testasche) ausgeschlagene kleine eiserne Schale, in welcher dasBlicksilber fein gebrannt wird, wobei die Testasche die gebildetengeschmolzenen Metalloxyde einsaugt. Das Erhitzen der Schalegeschieht vor dem Gebläse, in einem Muffel- oder einemFlammofen.

Testa (lat.), in der Botanik s. v. w. Samenschale (s.Same, S. 253).

Testaccio (spr. -áttscho), Hügel amSüdwestende Roms, nahe dem Tiber, s. Rom, S. 905.

Testakte (v. engl. test. Probe), ein Gesetz, welches dasenglische Parlament 1673 von Karl II. erzwang, und nach welchemjeder öffentliche Beamte außer dem Supremateid,betreffend die oberste Kirchengewalt der Krone, noch einenbesondern Schwur (Testeid) leisten mußte, daß er nichtan die Transsubstantiation, d. h. an die Umwandlung von Brot undWein in den wahrhaftigen Leib und in das Blut Christi nachkatholischer Lehre, glaube. Dadurch wurden die Katholiken nicht nurvon allen Staatsämtern,

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Testament (juristisch).

sondern auch vom Sitz im Parlament ausgeschlossen, bis dieParlamentsakte vom 13. April 1829 T. und Testeid aufhob.

Testament (lat.), im weitern Sinn s. v. w. letzter Wille,letztwillige Verfügung (Disposition), Verfügung von Todeswegen überhaupt, d. h. die einseitige Verfügung, welchejemand von Todes wegen über sein Vermögen trifft, imGegensatz zur zweiseitigen oder vertragsmäßigen; imengern und eigentlichen Sinn und im Gegensatz zur Schenkung auf denTodesfall und zum Kodizill (s. d.) eine letztwillige Disposition,welche eine eigentliche Erbeinsetzung enthält. Derjenige,welcher ein T. errichtet, wird Testierer (testator, testatrix), derim T. Bedachte Honorierter genannt. Jedes T. setzt zurGültigkeit die Fähigkeit des Erblassers, ein T. zuerrichten (Testierfähigkeit, testamenti factio activa), fernerdie Fähigkeit des eingesetzten Erben, aus einem letzten Willenetwas zu erwerben (Bedenkfähigkeit), und endlichregelmäßig die Beobachtung der gesetzlichvorgeschriebenen Form der Testamentserrichtung voraus. DieTestierfähigkeit ist ein Ausfluß der persönlichenHandlungsfähigkeit überhaupt; sie steht also jedemGeschäftsfähigen zu und ist ebendeshalb nur Kindern undden wegen Geisteskrankheit entmündigten Personenvollständig entzogen. Die in ihrerGeschäftsfähigkeit nur beschränkten Personen, wieMinderjährige, können nach dem Entwurf eines deutschenbürgerlichen Gesetzbuchs (§ 1912), solange sie das 16.Lebensjahr nicht zurückgelegt haben, kein T. errichten, auchnicht mit Einwilligung ihres gesetzlichen Vertreters. Nach diesemZeitpunkt können sie aber auch ohne diese Einwilligungtestieren. Was die Bedenkfähigkeit anbetrifft, so sindverschiedene Unfähigkeitsgründe des römischen Rechtsheutzutage unpraktisch; nur in Ansehung juristischer Personen istdie Erbfähigkeit auf den Fiskus, die Gemeinden, Kirchen undmilden Stiftungen und auf diejenigen juristischen Personenbeschränkt, welchen dieselbe ausdrücklich beigelegtworden ist. Nach dem Entwurf eines deutschen bürgerlichenGesetzbuchs (§ 1759) kann jede juristische Person als Erbeeingesetzt oder mit einem Vermächtnis bedacht werden. Der Formnach werden die Testamente in Privattestamente und öffentlicheTestamente eingeteilt. Die Form des römisch-rechtlichenPrivattestaments war die Errichtung desselben unter Zuziehung vonsieben Solennitätszeugen, in deren gleichzeitigem Beisein dieTestamentserrichtung ohne erhebliche Unterbrechung zu vollenden war(unitas actus, loci et temporis). Die Errichtung des Testamentskonnte auf diese Weise mündlich oder schriftlich geschehen.War der Testator des Schreibens unkundig, so bedurfte es zurUnterschrift an seiner Statt der Zuziehung eines achten Zeugen.Unter Umständen kann jedoch nach gemeinem Recht von diesenFormen ganz oder teilweise abgesehen werden (privilegiertes T.). Sokann es zur Zeit einer ansteckenden Krankheit nachgelassen werden,daß die Zeugen nicht gleichzeitig versammelt, sondern einzelnund getrennt das Erforderliche vornehmen (testamentum pestistempore conditum); bei einem auf dem Land errichteten T.genügt im Notfall die Zuziehung von nur fünf Zeugen(testamentum ruri conditum); Verfügungen zu gunsten der Kircheoder milder Stiftungen können ganz formlos errichtet werden(testamentum ad pias causas), wofern sie nur durch zwei Zeugenbewiesen werden können. Trifft der Testator im T. nur fürseine Kinder und Kindeskinder Verfügungen, so genügt einschriftlicher, datierter Aufsatz, in welchem die Namen derDeszendenten und ihre Erbteile mit Worten, nicht mit Zahlen,angegeben sind (testamentum parentis inter liberos). Besondersprivilegiert ist endlich das Soldatentestament, welches nachrömischem Recht, wenn es im Feld errichtet wird, keinerFörmlichkeit bedarf, wofern nur der Wille des Testatorsgewiß ist. Gegenwärtig sind in Deutschland nach demReichsmilitärgesetz vom 2. Mai 1874 (§ 44)militärische letztwillige Verfügungen gültig, wennsie in Kriegszeiten oder während eines Belagerungszustandeserrichtet, vom Testator eigenhändig geschrieben undunterschrieben oder von demselben wenigstens eigenhändigunterschrieben und von zwei Zeugen, einem Auditeur oder Offizier,mit unterzeichnet sind, oder wenn von einem Auditeur oder Offizierunter Zuziehung zweier Zeugen oder noch eines Auditeurs oderOffiziers über die mündliche Erklärung des Testatorseine schriftliche Verhandlung aufgenommen und diese dem Testatorvorgelesen sowie von dem Auditeur oder Offizier und den Zeugen odervon den zugezogenen Auditeuren oder Offizieren unterschriebenworden ist. Solche privilegierte militärische Verfügungenverlieren aber ihre Gültigkeit mit dem Ablauf eines Jahrs vondem Tag ab, an welchem der Truppenteil, zu dem der Testatorgehört, demobil gemacht ist oder der Testator aufgehörthat, zu dem mobilen Truppenteil zu gehören, oder alsKriegsgefangener oder als Geisel aus der Gewalt des Feindesentlassen ist. Dem Privattestament steht das heutzutage die Regelbildende ösfentliche T. gegenüber, welches nachrömischem Rechte durch die Mitwirkung des Regenten, welcherdas ihm vom Testator überreichte schriftliche T. entgegennahm(testamentum principi oblatum), errichtet wurde. Inzwischen ist andessen Stelle das gerichtliche oder notarielle T. (testamentumpublicum) getreten, sei es, daß der Testator seinen Willen zugerichtlichem oder notariellem Protokoll erklärt (testamentumapud acta conditum), sei es, daß er das schriftlichabgefaßte T. dem Gericht, Notar und im Ausland auch einemKonsul zur Verwahrung und zur Eröffnung (Apertur) nach desTestators Tod übergibt (testamentum judici oblatum). Dasversiegelt übergebene T. wird auch mystisches T. genannt.Wesentlich ist nach gemeinem Recht bei jedem T. die Einsetzungeines oder mehrerer Erben; auch kann eine eventuelle Erbeinsetzung(Einsetzung eines Nacherben) für den Fall ausgesprochenwerden, daß der in erster Linie Eingesetzte (Vorerbe) nichtErbe werden würde (s. Substitution). Nach dem Entwurf einesdeutschen bürgerlichen Gesetzbuchs soll jedoch eineeigentliche Erbeinsetzung zur Gültigkeit des Testamentskünftighin nicht mehr erforderlich sein. Es kann vielmehr auchnur ein Vermächtnis in dem T. enthalten sein. Der Entwurf(§ 1911 ff.) kennt ferner außer dem gerichtlichen odernotariellen (konsularischen) T. das Soldatentestament sowie das inbesonders eiligen Fällen vor dem Vorsteher der Gemeinde unterZuziehung von zwei Zeugen errichtete T. Befindet sich ferner derTestator in einer Ortschaft, einer Straße oder einemGebäude, welche infolge einer Krankheit oder sonstigeraußerordentlicher Umstände abgesperrt sind, so kann,abgesehen von der Errichtung des Testaments vor demGemeindevorstand, dieselbe auch durch mündliche Erklärungvor drei Zeugen oder durch eine von dem Erblasser unter Angabe desOrtes und des Tages der Errichtung eigenhändig geschriebeneund unterschriebene Erklärung erfolgen. Auf die letztere Weiseoder vor drei Zeugen kann man auch auf hoher See testieren. Dasbisherige gemeine Recht kennt ferner

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Testament - Tête-à-tête.

ein gemeinschaftliches T. (testamentum simultaneum). Bei diesemgemeinschaftlichen T., welches namentlich bei Ehegatten vorkommt,sind zwei oder mehrere Testamente formell miteinander verbunden.Gewöhnlich setzen hier die gemeinschaftlichen Testierenden(Kontestatoren) sich oder Dritte gegenseitig zu Erben ein(wechselseitiges, reziprokes T.), und ein solches T. wird dann imZweifel als ein korrespektives angesehen, d. h. der Bestand dereinen letztwilligen Disposition erscheint als abhängig von demder andern; namentlich gilt hier der Widerruf des einen zugleichauch als solcher des andern Testators. Der Entwurf des deutschenbürgerlichen Gesetzbuchs (§ 1913) erklärt jedochgemeinschaftliche Testamente für unzulässig. Dem Prinzipnach besteht völlige Testierfreiheit, d. h. der Testator kannüber seinen Nachlaß frei verfügen; ein Satz,welcher nur zu gunsten der sogen. Noterben, d. h. der nächstenBlutsverwandten und des Ehegatten, eine Ausnahme erleidet, welchenwenigstens der sogen. Pflichtteil zukommen muß. Nur wenn eingesetzlicher Enterbungsgrund vorliegt, kann ein solcher Noterbe vonder Erbfolge gänzlich und zwar durch ausdrücklicheEnterbung ausgeschlossen werden (s. Pflichtteil). Endlich kann auchnach deutschem Recht über Stamm-, Lehns- undFideikommißgüter sowie über das Vermögen,welches nach dem ehelichen Güterrecht dem überlebendenEhegatten oder den Kindern verbleiben muß, nicht oder dochnur in beschränkter Weise letztwillig verfügt werden.Vgl. Eichhorn, Das T. Musterbuch für letztwilligeVerfügungen nach dem allgemeinen Landrecht etc. (Berl.1885).

Testament, Altes und Neues, s. Bibel.

Testamentarisch (lat.), letztwillig, ein Testament (s.d.) betreffend, einem solchen gemäß.

Testamentsvollstrecker (Testamentsexekutoren,Treuhänder, Salmannen, Testamentarier, Manufideles), die vondem Erblasser bei Errichtung des letzten Willens mit derVollstreckung des letztern und mit der Regulierung des Nachlassesbetrauten Personen. Je nachdem ihnen diese im ganzen oder nur inAnsehung einzelner Rechtsgeschäfte übertragen ist, wirdzwischen Universal- und Spezialexekutoren unterschieden. Auch istes dem Erblasser nach dem Entwurf eines deutschen Zivilgesetzbuchsunbenommen, für den Fall der Behinderung oder des Hinwegfallseines Testamentsvollstreckers eventuell einen anderweiten T. zuerenennen[sic!].

Testat (lat.), Zeugnis. Testato, mit Hinterlassung einesTestaments (sterben.)

Testator (Testierer, lat.), derjenige, welcher einTestament errichtet; s. Testament.

Teste de Buch, La (spr. test d'bük), Stadt im franz.Departement Gironde, Arrondisfement Bordeaux, an derSüdküste des Bassins von Arcachon des AtlantischenOzeans, durch eine Zweigbahn mit der Bahnlinie Bordeaux-Bayonneverbunden, hat Seebäder, welche von den Bordelesen starkbesucht werden, bedeutende Austernparke, Seefischerei und (1886)5235 Einw. Das umliegende Dünenland (Le Buch genannt) ist mitausgedehnten Beständen von Kiefern (welche Harz in den Handelliefern) und Eichen bedeckt.

Testeid, s. Testakte.

Testes (Testiculi, lat.), Hoden.

Testieren (lat.), bezeugen; ein Testament errichten.

Testierfreiheit, s. Erbrecht und Pflichtteil.

Testifikation (lat.), Beweis durch Zeugen; testifizieren,durch Zeugen nachweisen.

Testikel (lat.), Hode (s. d.).

Testimoninm (lat.), Zeugnis. T. integritatis.Ledigkeitszeugnis; T. maturitatis, Zeugnis der Reife, welches nachbestandenem Abiturientenexamen ausgestellt wird; T. morum,Sittenzeugnis; T. paupertatis, Armutszeugnis (s. d.).

Teston (spr. testóng oder tätóng),altfranz. Silbermünze im Wert von 10-15 Sous.

Testudo (lat.), Schildkröte; im altrömischenHeer eine taktische Stellung der Soldaten zum Schutz gegenWurfgeschosse und besonders zum Angriff gegen eine befestigteStadt, wobei die ganze Heeresabteilung die Schilde über dieKöpfe hielt (vgl. Abbild.);

[siehe Grafik]

Schilddach (Testudo). Relief der Antoninssäule in Rom.

s. auch Aries. Bei den Römern auch s. v. w. Lyra (s. d.),im 15.-17. Jahrh. s. v. w. Laute (s. d.).

Têt (spr. tä oder tät. Teta),Küstenfluß im franz. Departement Ostpyrenäen,entspringt hoch in den Pyrenäen, fließt in vorherrschendnordöstlicher Richtung und fällt nach 125 km langem Laufbei Ste.-Marie de la Salenque in das Mittelländische Meer.

Tetanie (Tetanus intermittens, Tetanille), eineKrankheit, welche vorzugsweise bei Kindern und jugendlichenIndividuen nach Erkältungen und akuten Krankheiten vorkommt.Dieselbe äußert sich in anfallsweise auftretendentonischen Krämpfen, welche meist in den Fingern beginnen undsich sodann auf den Arm und die untern Extremitäten, meistsymmetrisch forterstrecken. In der Regel werden vornehmlich dieBeugemuskeln befallen, wodurch die Extremitäten währenddes Anfalls in starrer Beugung der verschiedenen Gelenke fixiertwerden. Die Anfälle dauern in manchen Fällen nurminuten-, in andern stunden- und sogar tagelang. DasBewußtsein ist während des Anfalls völlig intakt,die Schmerzen mäßig. In den freien Zwischenräumensind die Nerven abnorm leicht erregbar und die Krämpfejederzeit durch Druck auf die größern Arterien undNerven der Extremitäten künstlich hervorzurufen. DieKrankheit dauert meist einige Wochen und endet fast stets inGenesung. Die Behandlung besteht in elektrischen undnervenberuhigenden Kuren.

Tetanus (griech.), s. Starrkrampf.

Tetaratasprudel, in Neuseeland, s. Geiser, S. 26, undBand 7, S. 1025.

Tetartin, s. Albit.

Tetartoëdrie (griech.), s. Kristall, S. 232.

Tête (franz.), Kopf; im Militärwesen dieSpitze, der vorderste Teil eines Truppenkörpers.

Tête-à-tête (franz., "Kopf an Kopf"),vertrauliche Zusammenkunft, Gespräch unter vier Augen.

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Tetens - Tetrarch.

Tetens, Johann Nikolaus, Philosoph, geb. 1736 zuTetenbühl im Holsteinischen, von 1776 bis 1789 Professor derPhilosophie zu Kiel, hat sich durch seine in Geist und Sprache dervorkritischen Popularphilosophie verfaßten "PhilosophischenVersuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung"(Leipz. 1776, 2 Bde.) verdient gemacht. Er starb 1807 inKopenhagen. Vgl. Harms, Die Psychologie des Joh. Nik. T. (Berl.1878).

Teterow, Stadt im GroßherzogtumMecklenburg-Schwerin, Herzogtum Güstrow, am gleichnamigen See,Knotenpunkt der Linie Lübeck-Mecklenburgisch-PreußischeGrenze der Mecklenburgischen Friedrich Franz-Bahn und der EisenbahnGnoien-T., hat eine alte, renovierte gotische Kirche, ein neuesKrankenhaus, 2 gotische Stadtthore, ein Amtsgericht,Eisengießerei und Maschinenfabrikation, eine Dampfmolkerei,eine Zuckerfabrik, 2 Sägemühlen und (1885) 5991 fast nurevang. Einwohner.

Tethys, in der griech. Mythologie Tochter des Uranos undder Gäa, eine Titanide, Gemahlin des Okeanos, Mutter derOkeaniden und der Stromgötter (nicht zu verwechseln mitThetis).

Tetjuschi, Kreisstadt im russ. Gouvernement Kasan, an derWolga, mit (1885) 3934 Einw., die sich hauptsächlich mitFischerei beschäftigen.

Tetrachloräthylen etc., s. Kohlenstoffchloride.

Tetrachord (griech.), eine Skala oder Folge von vierTönen, s. Griechische Musik, S. 729.

Tetradymit, Mineral aus der Ordnung der Metalle,kristallisiert rhomboedrisch, häufig in Zwillingen undVierlingen (woher der Name), kommt aber auch derb vor, istzinnweiß bis stahlgrau, nur auf frischer Spaltungsflächestark glänzend, Härte 1-2, spez. Gew. 7,4-7,5, bestehtaus Tellur, Schwefel und Wismut Bi2Te2S, scheint aber mit andernTellurwismuten nur Eine Spezies zu bilden, deren Tellur- undWismutgehalt schwankt, während Schwefel (und Selen)unwesentlich sind. T. findet sich bei Schemnitz in Ungarn, inVirginia, Nordcarolina, Montana, etwas abweichend zusammengesetzteTellurwismute bei Deutsch-Pilsen in Ungarn, San José inBrasilien, Cumberland in England.

Tetradynama stamina (griech.-lat.), viermächtigeStaubgefäße, in Zwitterblüten mit 6Staubgefäßen, von denen 4 länger als die beidenübrigen sind; Pflanzen mit solchen Blüten bilden die 15.Klasse des Linneschen Systems, Tetradynamia.

Tetraëder (griech., "Vierflächner"), im weiternSinn jede dreiseitige Pyramide; im engern Sinn eine von vierkongruenten gleichseitigen Dreiecken begrenzte Pyramide mit viergleichen dreiseitigen Ecken und vier gleichlangen Kanten, einer derfünf regulären Körper (s. Körper); in letztermSinn tritt das T. in der Kristallographie als hemiedrische Form des(regulären) Oktaeders auf.

Tetraëdrit, s. Fahlerz.

Tetraëdrometrie (griech.), eigentlich dieErmittelung der fehlenden Stücke einer dreiseitigen Pyramide(eines Tetraeders im weitern Sinn) aus sechs gegebenenStücken; neuerdings die Lehre von den Eckenfunktionen, durchwelche dreiseitige Ecken für die Rechnung in ähnlicherWeise repräsentiert werden wie Winkel durch ihretrigonometrischen Funktionen. Vgl. Junghann, Tetraedrometrie (Gotha1863, 2 Tle.).

Tetragon (griech.), s. Viereck.

Tetragonales Kristallsystem, s. v. w. quadratischesKristallsystem, s. Kristall, S. 230.

Tetragonia L., Gattung aus der Familie der Aizoaceen,Kräuter oder Halbsträucher, welche meist an denKüsten auf der südlichen Halbkugel wachsen, mitwechselständigen, gestielten, fleischigen Blättern undachselständigen, gestielten Blüten. T. expansa Murr.(neuseeländischer Spinat), ein einjähriges, 1 m hohes,ästiges Kraut mit eirund-rautenförmigen Blättern,gelblichgrünen Blüten und vierhörnigen, fast[sic!]sitzenden Früchten, wächst auf Neuseeland, Australien,den Norfolkinseln, Südamerika und Japan und wird allgemein alsGemüse benutzt. Es wird seit 1772 auch in Europakultiviert.

Tetragonolobus Rivin. (Spargelerbse, Flügelerbse),Gattung aus der Familie der Papilionaceen, einjährige undausdauernde Kräuter mit einzeln oder zu zweien in denBlattwinkeln stehenden Blüten und vierkantigen,geflügelten Hülsen. Nur vier Arten. T. purpureusMönch. (Spargelklee, englische Erbse), Sommergewächs mitKleeblättern, fast rhombischen Blättchen, ähnlichenNebenblättern, dunkel blutroten oder dunkelgelben Blütenund 5 cm langen, mehrsamigen Hülsen; wächst inSüdeuropa und wird seit dem 18. Jahrh. der Hülsen undSamen halber kultiviert, die ein feines Gemüse liefern.

Tetragynus (griech.), vierweibige Blüten mit vierGriffeln; daher Tetragynia, im Linnéschen System diePflanzengattungen mit vierweibigen Blüten.

Tetrakishexaëder (Pyramidenwürfel),24-flächige Kristallgestalt des tesseralen Systems, s.Kristall, S. 230.

Tetraktys (griech.), in der Zahlenlehre der Pythagoreerdie Zahl 10, insofern dieselbe die Summe der vier erstennatürlichen Zahlen (1+2+3+4) und als Zahl der Weltkörpersowie der Paare ursprünglicher Gegensätze an sich und inkosmologischer wie logischer Beziehung der Ausdruck derVollkommenhelt ist.

Tetralogie (griech.), s. Trilogie.

Tetrameter (griech., lat. Octonarius), ein aus vierDoppelfüßen (Dipodien) bestehender Vers, kommt introchäischem, iambischem und anapästischem Rhythmus vorund zwar sowohl katalektisch als akatalektisch, je nachdem derletzte Fuß um eine Silbe verkürzt oder vollständigist. Der iambische katalektische T. findet sich besonders bei dengriechischen Lyrikern und Komikern, der trochäische T. bei dengriechischen Dramatikern, den lateinischen Komikern, um einefeierliche Bewegung hervorzubringen, in der altspanischen Romanze,auch in Gedichten Platens (z. B. "Das Grab im Busento"). Deranapästische (mit einzelnen Spondeen vermischte) T. wurde vonPlaten und Prutz, nach dem Vorbild des Aristophanes, für dieChorstrophen ihrer satirischen Komödien angewendet (s.Anapäst). - T. heißt auch ein Feldmeßinstrument,s. Meßkette.

Tetrandrus (griech.), viermännige Blüten mitvier gleichlangen Staubgefäßen; davon Tetrandria, vierteKlasse des Linnéschen Systems, Gewächse mit viergleichlangen Staubfäden enthaltend.

Tetranychus, s. Milben, S. 607.

Tetrao, Auerhuhn; Tetraonidae (Waldhühner), Familieaus der Ordnung der Hühnervögel (s. d.); Tetraoninae,Unterfamilie, die eigentlichen Waldhühner umfassend.

Tetrapolitanische Konfession (Confessio tetrapolitatia),s. Augsburgische Konfession.

Tetrarch (griech.), in asiat. Staaten, z. B. Galatien,ein Vierfürst, d. h. einer der vier Beherrscher des Landes;auch in Judäa kamen dergleichen vor, wenn auch nicht imstriktesten Sinn, z. B. Herodes. Tetrarchie, Herrschaft,Würde, Bezirk eines Vierfürsten; s. auch Phalanx.

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Tetrasporen - Teucrium.

Tetrasporen, eine Art Sporen bei den Florideen (s. Algen,S. 346).

Tetrax, Zwergtrappe.

Tetrodon, Kugelfisch.

Tetronerythrin, roter Farbstoff, welcher im Tierreichweit verbreitet ist, findet sich in den roten Flecken am Kopfmancher Vögel und kann daraus mit Chloroform ausgezogenwerden. Er löst sich auch in Alkohol, Äther undSchwefelkohlenstoff, wird durch Chlorwasser und Licht entfärbtund durch Vitriolöl indigoblau, dann schwarz gefärbt. T.ist einer der wichtigsten Farbstoffe der Schwämme, findet sichin fast allen Klassen der wirbellosen Tiere und auch in denFischen. Er entspricht dem Blutrot der höhern Tiere und dientkraft seiner großen Affinität zum Sauerstoff derHautatmung. Er tritt daher überall dort in großer Mengeauf, wo bedeutende Mengen Sauerstoff durch die Gewebe aufgenommenwerden sollen, und man trifft ihn an Hautteilen, die inunmittelbarer Berührung mit Wasser stehen, an denAtmungsorganen wie in den Kiemen der sitzenden Anneliden, inMuskeln und ähnlichen Organen wie in dem muskelartigenFuß der Muscheltiere. Sitzende Tiere sind reicher an T. alsfrei sich bewegende, weil letztere ohnehin genügend mitsauerstoffhaltigem Wasser in Berührung kommen.

Tetschen, Stadt im nördlichen Böhmen, an derMündung der Pulsnitz (Polzen) in die Elbe, Station derÖsterreichischen Nordwestbahn und der BöhmischenNordbahn, durch Ketten- und Eisenbahnbrücke mit Bodenbach (s.d.) am andern Elbufer verbunden, ist Sitz einerBezirkshauptmannschaft und eines Bezirksgerichts, hat ein 1668 vomGrafen Maximilian Thun erbautes Schloß (auf 45 m hohemFelsen), mit schönem Park und Gewächshäusern, 2Kirchen, eine Handelsschule, Fachschule für Thonindustrie,eine Schifferschule, eine bedeutende Sparkasse (Einlagen 6 Mill.Guld.), Baumwollspinnerei, Fabriken für ätherischeÖle, Papier und Knöpfe, Bierbrauerei, Kunstmühle,Gasanstalt, bedeutenden Handel und (1880) 5330 Einw. T. istzugleich Station der Elbdampfschiffahrt und besuchter klimatischerKurort. Schöne Partien in der reizenden Umgebung sind dernordwestlich liegende Schneeberg (694 m), die höchste Erhebungdes nordböhmischen Sandsteingebirges, mit prachtvollerAussicht, und Tyssaer Wände, wild zerklüfteteSandsteinbildungen, dann die nördlich an der Elbe beginnendeSächsische Schweiz (s. d.). Im Pulsnitzthal zwischen T. undBensen ist ein Hauptsitz der böhmischen Baumwollindustrie.

Tettenborn, Friedrich Karl, Freiherr von, berühmterReitergeneral im Freiheitskrieg, geb. 19. Febr. 1778 zu Tettenbornin der damals badischen Grafschaft Sponheim, trat 1794 inösterreichische Militärdienste und stieg schnell zumRittmeister auf. In der Schlacht bei Wagram erwarb er sich denMajorsrang. Nach dem Wiener Frieden begleitete er den FürstenSchwarzenberg nach Paris. Bei dem Ausbruch des russischen Kriegs1812 trat er als Oberstleutnant in russische Dienste. An der Spitzedes Kutusowschen Vortrabs rückte er zuerst wieder in Moskauein, verfolgte an der Spitze der leichten Reiterei die Franzosenbis an die Beresina, nahm dann Wilna, überschritt den Niemen,drängte Macdonald durch Ostpreußen zurück undbesetzte Königsberg. Zum Obersten ernannt, ging er daraufüber die Weichsel und Oder und rückte, nachdem er sich inLandsberg mit dem General Tschernischew vereinigt hatte, in Berlinein. Von da ward er nach Hamburg entsendet, das er 18. März1813 besetzte, nachdem er Morand bei Bergedorf auf das linkeElbufer zurückgeworfen hatte; doch mußte er die Stadt30. Mai dem anrückenden Davout überlassen. Darauf fochter unter Wallmoden gegen Davout und gegen Pecheux, nach dessenNiederlage er 15. Okt. Bremen nahm. Im Januar 1814 ward erbeauftragt, mit einem Korps leichter Reiterei in Frankreich dieVerbindung zwischen den einzelnen Heeren der Alliiertenherzustellen. Nach dem Frieden zog er sich auf seine Güterzurück, und 1818 trat er aus den russischen Diensten inbadische über. Er brachte hier die Territorialdifferenzenzwischen Baden und Bayern in Ordnung, war bei Gründung derVerfassung thätig und ging 1819 als Gesandter nach Wien, wo er9. Dez. 1845 starb. Vgl. Varnhagen von Ense, Geschichte derKriegszüge des Generals T. (Stuttg. 1814).

Tettnang, Oberamtsstadt im württemb. Donaukreis, 7km vom Bodensee, an der Linie Bretten-Friedrichshafen derWürttembergischen Staatsbahn, 465 m ü. M., hat eineevangelische und eine kath. Kirche, ein Schloß, einAmtsgericht, Hopfen- und Obstbau, Käse- und Malzfabrikation,Dampfsägemühlen u. (1885) 2267 Einw. T. war ehemalsHauptort der Grafschaft Montfort-T., kam 1783 an Österreich,1803 an Bayern und 1810 an Württemberg.

Tetnan (Tetawîn), Stadt auf der Nordküste vonMarokko, links am Martil, 6 km vom Meer, hat eine Citadelle, istvon hohen Bastionen umgeben und schließt mit besonderer Mauerdas weit sauberere Viertel der Juden ein, welche dengrößten Teil des Handels in Händen haben und einDrittel der Bevölkerung (ca. 22,000) ausmachen. Die Einfuhrbetrug 1887: 1,232,875, die Ausfuhr 324,950 Frank. Die Einfahrt inden Fluß verteidigt ein Fort; 1887 liefen 143 Schiffe von2716 Ton. ein. Die Stadt wurde mehrmals von den Spaniern genommen;4. Febr. 1860 siegten dieselben unter O'Donnell, der den TitelHerzog von T. erhielt, hier über die Marokkaner.

Tetzel, s. Tezel.

Teu, chines. Getreidemaß, s. Hwo.

Teubner, Benedictus Gotthelf, Buchhändler, geb. 16.Juni 1784 zu Großkraußnigk in der Niederlausitz, wardBuchdrucker, erwarb 1811 die Weinedelsche Buchdruckerei zu Leipzig,welche er schon seit 1806 geleitet hatte, und die er durch Energieund Geschick zu einer der bedeutendsten Deutschlands erweiterte.Daneben gründete er 1832 auch in Dresden eine noch jetztbestehende Druckerei. Zu dem Ruf der Firma hat namentlich auch dieEntwickelung beigetragen, welche das 1824 in Verbindung mit derDruckerei gegründete Verlagsgeschäft genommen, das seitJahren auf dem Gebiet der Philologie und des höhernUnterrichtswesens in Deutschland die erste Stelle behauptet, undvon dessen Unternehmungen die "Bibliotheca scriptorum graecorum etromanorum Teubneriana" die bekannteste ist. T. starb 21. Jan. 1856in Leipzig und hinterließ das Geschäft seinenSchwiegersöhnen Adolf Roßbach u. Albin Ackermann.

Teucer, griech. Heros, s. Teukros.

Teuchern, Stadt im preuß. RegierungsbezirkMerseburg, Kreis Weißenfels, an der Rippach und der LinieWeißenfels-Gera der Preußischen Staatsbahn, hat eineevang. Kirche, ein Amtsgericht, Braunkohlengruben, Solaröl-,Maschinenöl- und Paraffinfabrikation, Brennerei,Dampfdrechslerei, 9 Ziegeleien und (1885) 4644 fast nur evang.Einwohner.

Teucrium L. (Gamander), Gattung aus der Familie derLabiaten, Kräuter, Halbsträucher oder Sträucher vonsehr verschiedenem Habitus, mit meist einzelnen, selten zu mehrerenachselständigen Blüten. Etwa 100 Arten, weit zerstreut,viele in den Mittel-

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Teuerdank - Teufel.

meerländern. T. marum L. (Marum verum L., Katzen-, Marum-oder Mastixkraut), 30-60 cm hoch, strauchartig, in Südeuropaund Vorderasien, hat kleine, eirunde, ganzrandige, am Rand etwaszurückgerollte, unterseits weißlich-filzige Blätterund rosenrote, an den Enden der Äste lockere Trauben bildendeBlüten. Der Strauch riecht aromatisch kampferartig undschmeckt bitter und scharf gewürzhaft. Das Kraut lockt dieKatzen an; es wurde früher arzneilich benutzt. T. Scordium L.(Knoblauchgamander, Skordienkraut), ausdauernd, mit sitzenden,länglich lanzettlichen, grob gesägten Blättern undpurpurnen Blüten, wächst im gemäßigten Europaund Asien auf Sumpfwiesen, riecht stark nach Knoblauch und wurdeschon von Hippokrates arzneilich benutzt. T. Chamaedrys L.,ausdauernd, buschig, immergrün, mit kleinen, gestielten,länglichen, eingeschnitten gekerbten Blättern undpurpurnen Blüten in beblätterter Traube, wächst inMitteldeutschland auf Kalkhügeln und wird wie die erstere Artals Zierpflanze kultiviert.

Teuerdank (Theuerdank), s. Pfinzing.

Teuerung, s. Teurung.

Teufe, im Bergbau s. v. w. Tiefe; daher Seigerteufe,senkrechte Tiefe; flache T., Abstand zwischen zwei untereinanderliegenden Punkten auf einer flachen schiefen Ebene; Teufkarte, s.v. w. Profil; ewige T., die unbeschränkte Ausdehnung einerBergbauberechtigung in die Tiefe.

Teufel (griech. Diabolos, "Verleumder"; hebr. Satan, s.v. w. Widersacher), das personifizierte Prinzip des Bösen. Derstete Wechsel von schaffenden und zerstörendenNaturkräften spiegelt sich in den meisten Religionen alsGegensatz göttlich-wohlthätiger zu finster-unheilvollenWesen, und in demselben Maß, als die Furcht vorherrschenderFaktor in einer Religion ist, wendet sich sogar gerade den letzternein gewisser Kult zu. Am ausgebildetsten tritt ein solcherDualismus bei den Parsen (s. d.) auf. Von da drang die Lehre voneinem persönlichen Haupte des Reichs des Bösen in dasJudentum ein, und erst jetzt wurde der Satan, welcher im Buch Hiobnoch als ein übelwollender, aber Gott untergeordneter und inseinem Dienst handelnder Unglücksengel erscheint, zumeigentlichen T., neben welchem in den palästinischenApokryphen, z. B. im Buch Tobias, noch andre Dämonenerscheinen als Plagegeister der Menschen. Dieselbedämonologische Vorstellungswelt ist in voller Stärke dannauch in die neutestamentlichen Schriften übergegangen, wieschon die große Rolle beweist, welche die "Besessenen" (s.d.) in den Evangelien spielen. Wenn dann auch noch in denspätern Lehrschriften des Neuen Testaments Christus als Siegererscheint über den "Fürsten dieser Welt", d. h. den mitlandesüblichen Ausdrücken auch Beelzebub (s. d.) oderBeelzebul, eine Form des Baal, und Belial oder Beliar("Nichtsnutzigkeit") genannten Satan, so steht hier die mitHölle und T. sich befassende Vorstellung allerdingszunächst im Dienste der Vertiefung der religiösen Ideenund Motive. Der Glaube an die Überwindung des Teufels durchChristus trug dazu bei, der Lehre vom Messias einen sittlichenGehalt zu geben und alle Energie der sittlichen Kräfte in denGläubigen zum Kampf wider die Gewalt des Argen ins Feld zurufen. Aber auch, als die sittliche Begeisterung abgekühltwar, erhielt sich die Vorstellung vom T., welcher seither in derchristlichen Dogmatik den persönlichen Repräsentanten derSünde bildet, den schlauen und gewaltigen Feind desgöttlichen Reichs, den allezeit geschäftigen Veranlasserböser Lüste und unfrommer Gedanken in den Gläubigen.Im Gegensatz zu den Schutzengeln und guten Geistern galten in deralten Kirche die Dämonen als geschaffene, aber freiwilligabgefallene Geister, welche die Heidenwelt beherrschen, Objekte desheidnischen Kultus sind, Christenverfolgungen veranlassen und dieAusbreitung der Kirche hindern. Ihr Haupt Lucifer (s. d.) hat sichgleich nach der Schöpfung von Gott losgesagt, sei es aus Neid,sei es aus Hochmut; seine endliche Bekehrung, welche einzelneLehrer in Aussicht stellten (s. Apokatastase), wurde schon vonIrenäus und seit Augustin von der ganzen Rechtgläubigkeitgeleugnet. Dagegen war man der Ansicht, daß infolge des SiegsChristi über Tod und Hölle Gebet, Taufwasser,Kreuzeszeichen u. dgl. hinreichen, den T. zu bändigen, undschon Gregor I. meinte, er sei eigentlich ein dummes Tier, welchessich in seinen eignen Schlingen fange. Eine schreckhaftere Gestaltgewann er wieder im Mittelalter. Besonders im germanischenVolksglauben spielte er von jeher eine große Rolle, teilsallerdings auch humoristisch im Märchen, meistens aberschauerlich im Glauben an Hexerei und Zauberei. Die Theologen undJuristen, welche seit dem 15. Jahrh. die Theorie und Praxis derHexenprozesse (s. d.) kultivierten, haben auch die genauereNaturgeschichte des Teufels festgestellt. Selbst die Reformationhat den ganzen Teufelsglauben als unentbehrlichen Artikel mit inden Kauf genommen, Luther voran, welcher sein Leben lang wider den"altbösen Feind" zu Felde lag. Erschüttert wurde dieseLehre erst im Zusammenhang mit den Hexenprozessen, und infolge derkritischen Richtung, welche in der zweiten Hälfte des 18.Jahrh. die protestantische Theologie erfaßte, fingen selbstdie offenbarungsgläubigen Theologen an, die Lehre vom Satan zumildern, während die Rationalisten ihn ganz aus demchristlichen Glauben verwiesen, indem sie die biblischenÄußerungen auf Akkommodation zurückführten.Die neuere Orthodoxie dagegen hat sich des Teufels wieder mitVorliebe angenommen, Vilmar ihn sogar gesehen, und im Volksglaubenspielt derselbe noch immer eine große Rolle; selbst dieMeinung, daß man durch Zaubersprüche den T. und seineGeister herbeirufen und unter gewissen Bedingungen sich dienstbarmachen könne (Teufelsbeschwörung), steht noch vielfach inBlüte. Vorgestellt wird er nach altväterlicher Weiseschwarz und behaart, mit Bocks- oder Pferdefüßen,Krallen, Hörnern, einem Kuhschwanz, häßlichemGesicht und langer Habichtsnase und bei seinem Verschwinden einenargen Gestank hinterlassend. Überdies hat er im Volksglaubennoch viel von dem Wesen, den Gestalten und den Namen der altenGottheiten beibehalten, und die meisten Sagen, welche vom T.handeln, sind auf die ehemaligen Götter zu beziehen. Daherspukt der T. hauptsächlich an Stätten, die im Heidentumheilig waren, heischt dieselben Opfer, welche einst die Götterempfingen, erscheint häufig als grüner Jäger oder inTiergestalt. Mitunter sind auch Züge von den Riesen auf ihnübergegangen, und deshalb werden nicht nur uralte Bauten,Fußspuren in Felsen und Pflanzen nach ihm benannt, sondernauch viele Sagen von ihm erzählt, in denen er, wie einst dieRiesen von Helden, von Menschen überlistet wird. Die Kunstpflegt den T. allegorisch, namentlich unter den biblischen Bilderneiner Schlange oder eines Drachen, darzustellen. Vgl. Roskoff,Geschichte des Teufels (Leipz. 1869, 2 Bde.); Albers, Die Lehre vomT. (Straßb. 1878); Conway, Demonology and devillore (Lond.1878, 2 Bde.); Brown, Personality and

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Teufelsabbiß - Teutoburger Wald.

history of Satan (das. 1887); Wessely, Die Gestalten des Todesund des Teufels in der darstellenden Kunst (Leipz. 1875).

Teufelsabbiß, s. Scabiosa.

Teufelsaltäre, s. Gräber,prähistorische.

Teufelsauge, Pflanze, s. v. w. Adonis autumnalis.

Teufelsblatt, s. Urtica.

Teufelsbolzen, s. v. w. Schwanzmeise, s. Meisen.

Teufelsbrücke, die berühmte über dieReuß führende Brücke der St. Gotthardstraßeim schweizer. Kanton Uri, 30 m über dem Fluß, welcher,das Ursernthal verlassend, tosend in die Tiefe stürzt, wurde1830 etwa 6 m über der im Mittelalter erbauten alten T., derenÜberreste 1888 eingestürzt sind, neu erbaut und hat einenBogen von 8 m Weite. Etwas höher hinauf ist das Urner Loch (s.Reuß). Eine zweite T. führt hoch über die wildeSihlschlucht bei Einsiedeln (s. Etzel).

Teufelsdreck, s. Asa foetida.

Teufelsei, s. Phallus.

Teufelsfinger, s. Belemniten.

Teufelsfluch, s. Hypericum.

Teufelsgraben, s. Befestigung, prähistorische.

Teufelskammern, s. Gräber, prähistorische.

Teufelskanzeln, Felspartien oder sonstige Punkte imGebirge, welche vermutlich in vorgeschichtlicher Zeit heidnischeKultusstätten waren. Als nach Einführung des Christentumsder heidnische Kultus an solchen Stätten noch heimlichfortgesetzt wurde, brachte der Volksaberglaube dieselben mit demTeufel in Verbindung.

Teufelskirsche, s. Atropa.

Teufelskirschenwurzel, s. Bryonia.

Teufelsklaue, volkstümliche Bezeichnung desunterirdischen Stockes mancher Farne.

Teufelsküchen, s. Gräber,prähistorische.

Teufelsmauer, s. Blankenburg 1).

Teufelsmühlen, s. Granit.

Teufelsschloß, s. Kaiser Franz Joseph-Fjord.

Teufelszwirn, s. Cuscuta und Lycium.

Teuffel, Wilhelm, namhafter Philolog, geb. 27. Sept. 1820zu Ludwigsburg, studierte 1838-42 im evangelisch-theologischenSeminar zu Tübingen, wurde 1844 Privatdozent daselbst, 1847Hilfslehrer am Obergymnasium zu Stuttgart, 1849außerordentlicher, 1857 ordentlicher Professor derklassischen Philologie in Tübingen und starb daselbst 8.März 1878. T. hat sich vornehmlich als Literarhistoriker einenNamen gemacht. Seine "Geschichte der römischen Litteratur"(Leipz. 1870; 4. Aufl. von Schwabe, 1881) ist für denPhilologen unentbehrlich. Seine litterarhistorischen Monographiensind zum größten Teil gesammelt in "Studien undCharakteristiken zur griechischen und römischen sowie zurdeutschen Litteraturgeschichte" (Leipz. 1871, Nachträge 1877;2. Aufl., das. 1889). Auch hat er für die von Paulybegründete "Realencyklopädie der klassischenAltertumswissenschaft", die er seit 1846 vom 4. Band an mit seinemKollegen Walz redigierte, zahlreiche Artikel geliefert. Einevollständige Geschichte der griechischen Litteratur im Vereinmit mehreren Gelehrten zu bearbeiten, wurde er durch den Todverhindert. Außerdem sind zu nennen seine Ausgaben vonÄschylos' "Persern" (2. Aufl., Leipz. 1875) und Aristophanes'"Wolken" (mit lat. Anmerkungen, das. 1856, 2. Bearb. 1863; mitdeutschen Anmerkungen, das. 1867) und ein Kommentar zum zweitenBuch der Satiren des Horaz in der Kirchnerschen Ausgabe (Bd. 2,das. 1857). Aus seinem Nachlaß erschienen "LateinischeStilübungen" (Freiburg 1887). Vgl. S. Teuffel, W. T.(Tüb. 1889).

Teukros (Teucer), im griech. Mythus: 1) Sohn desFlußgottes Skamandros und der Nymphe Idäa, ersterKönig von Troas, daher der Name Teukrer für Trojaner; -2) Sohn des Telamon und der Hesione, aus Salamis, Halbbruder desAias, war der beste Bogenschütze unter den Griechen vor Troja,erhielt später die Herrschaft von Cypern.

Teupitz, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Potsdam,Kreis Teltow, an einem See, hat eine evang. Kirche, Überresteeines alten Schlosses (auf einer Insel im See) und (1885) 593 Einw.T. war bis 1718 im Besitz der Familie Schenk von Landsberg.

Teurung, der Zustand ungewöhnlicher Preishöhe,namentlich wichtiger Lebensmittel. Bei mangelhaft entwickeltemVerkehrswesen bildet die T. einen wichtigen Gegenstand derStaatsfürsorge oder der Teurungspolitik, deren Aufgabe dahinging, die Entstehung von Teurungen zu verhüten oder dieWirkung von solchen zu mildern, so durch Ausfuhrerschwerungen,durch Förderung der Einfuhr, Verbot des Verkaufs auf dem Halm,Enteignung von privaten Vorräten, Zwang, Vorräte zuhalten (z. B. der Bäcker in Paris bis 1863) etc. Bei derheutigen Ausbildung des Verkehrswesens, welches eine rasche undvollständigere örtliche Ausgleichung von Mangel undÜberfluß erleichtert, hat die Teurungspolitik mehr denCharakter einer außerordentlichen Fürsorge inNotfällen angenommen. Weiteres in den Artikeln Getreidehandel,S. 266, und Hungersnot. Vgl. Roscher, über Kornteurungen (3.Aufl., Stuttg. 1852).

Teurungszulagen wurden früher in mehreren LändernBeamten in Fällen der Teurung (s. d.) gewährt, heutebei richtiger Bemessung der Besoldung (s. d.) nicht mehr amPlatz.

Teuschnitz, Bezirksamtsstadt im bayr. RegierungsbezirkOberfranken, im Frankenwald, hat ein Schloß mit schönemGarten, Flachsbau und (1885) 969 Einw.

Teut, s. v. w. Tuisco, s. Mannus.

Teutoburg, die von den Cheruskern auf dem Teutberg (derheutzutage mit dem Arminiusdenkmal geschmückten Grotenburg)angelegte nationale Feste, welcher wahrscheinlich der von Tacitus("Annales" I, 60) erwähnte Saltus Teutoburgiensis und somitvermutlich auch der Teutoburger Wald seinen Namen verdankt.Dieselbe bot gegenüber dem von den Römern an derMündung der Alme in die Lippe angelegten Waffenplatz Alisofür die kriegerischen Operationen der Germanen einenStützpunkt und gestattete, die durch das Gebirgeführenden Pässe zu überwachen. Die Befestigungenbestanden aus einem vom Fuß des Bergs auf dessen sanfterAbdachung aufsteigenden geradlinigen Steinwall und zwei ebenfallsdurch Steinwälle gebildeten Schanzen, welche in spätererZeit als großer und kleiner Hünenring bezeichnet wurden.Die jetzt zum großen Teil zerstörte großeWalllinie, welche einen Verteidigungsabschnitt zwischen demFuß des Bergs und der untern Schanze bildete, besteht aussenkrecht oder der Länge nach dicht nebeneinandereingetriebenen, zum Teil mannshohen Steinblöcken mitdarüber gelegten kleinern, doch immer ansehnlichenSteinstücken. Von dem vor der Walllinie befindlichen Grabensowie von der obern und untern Schanze sind deutliche Spurenerhalten. Vgl. Peucker, Das deutsche Kriegswesen der Urzeiten, 2.Teil, S. 376 ff. (Berl. 1860).

Teutoburger Wald, Waldgebirge in Nordwestdeutschland,schließt sich in der Gegend seines höchsten Punktes, desVölmerstod (468 m), an die Egge (s. d.) und erstreckt sich ineiner Länge von 115 km bei der geringen Breite von 2-5 km vonSO. nach

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Teutona - Texas.

NW., durchzieht unter dem Namen Lippescher Wald densüdwestlichen Teil des Fürstentums Lippe, unter dem NamenOsning die Kreise Bielefeld und Halle des preußischenRegierungsbezirks Minden, ferner die Kreise Melle und Iburg desRegierungsbezirks Osnabrück und den Kreis Tecklenburg desRegierungsbezirks Münster und endigt in geringer Höhe imHuxberg bei Bevergern an der Eisenbahnlinie Osnabrück- Rheineund an den großen Mooren der nordwestdeutschen Tiefebene.Meist besteht das Gebirge aus einem einzigen Kamm, doch erscheinenauch mehrere Nebenzüge, besonders in dem mittlern Teil. TiefeEinschnitte, vom Volk Dören (Thüren) genannt,unterbrechen den Hauptkamm an vielen Stellen, z. B. dieDörenschlucht in Lippe, die Thäler von Bielefeld, Halle,Borgholzhausen, Iburg, Tecklenburg etc. In solchen Thälernwird das Gebirge mehrfach von Eisenbahnen durchschnitten, so vonden Linien Hannover-Hamm und Wanne-Bremen. Die wichtigstenHöhen sind außer dem Völmerstod (s. oben): derBarnacken (451 m), die Externsteine (s. d.), die Grotenburg (s. d.)mit dem Hermannsdenkmal und der Hermannsberg (366 m) in Lippe, dieHünenburg (334 m) bei Bielefeld, der Knüllberg beiBorgholzhausen (311 m) und der Dörenberg bei Iburg (363 m).Das Gebirge ist meist mit schönen Laubwaldungen bedeckt undbesteht vorzüglich aus den Gesteinen der Kreideformation,denen nördlich und östlich auch die Gesteine der Jura-(Schieferthon der Wälderformation bei Iburg) undTriasformation (Muschelkalk in Lippe) vorgelagert sind. Auf deröstlichen und nördlichen Seite des Gebirges breitet sichein meist recht fruchtbares Hügelland aus, während dieentgegengesetzte Seite von den Sand- und Sumpfstrichen der Senne,besonders im Quellgebiet der Lippe und Ems, begleitet wird. Vgl.Löbker, Wanderungen durch den T. (Münst. 1878);Reisehandbücher von Thorbecke (6. Aufl., Detm. 1889) undFricke (Bielef. 1884).

Der Name T. wird zuerst bei Tacitus genannt u. in die Nähevon Ems und Lippe verlegt; welches Gebirge aber Tacitus gemeinthat, und wo daher der Schauplatz der Schlacht im T., in welcherArminius an der Spitze der Germanen 9.-11. Sept. im Jahr 9 n. Chr.die drei Legionen des Varus vernichtete, zu suchen ist, bildet eineviel umstrittene und noch heute nicht entschiedene Frage.Gewöhnlich wird als Ort des Kampfes der Teil des Osningangenommen, welcher von den beiden Pässen eingeschlossen ist,die von der Lippe bei Neuhaus und Lippspringe durch dieDörenschlucht und unter dem Falkenberg hin durch das Gebirgeführen. Mommsen (s. unten) verlegt ihn nach der Venne an derHuntequelle nördlich von Osnabrück. Vgl. Clostermeier, WoHermann den Varus schlug (Lemgo 1822); Giefers, De Alisone dequecladis Varianae loco (Kref. 1844); Middendorf, Über die Gegendder Varusschlacht (Münst. 1868); Dederich, Kritik derQuellenberichte über die Varianische Niederlage im T. (Paderb.1868); Esselen, Das römische Kastell Aliso und Ort derNiederlage des römischen Heers unter Q. Varus (Hamm 1878);Hülsenbeck, Die Gegend der Varusschlacht (Paderb. 1878);Mommsen, Die Örtlichkeit der Varusschlacht (Berl. 1885);Veltman, Funde von Römermünzen im freien Germanien unddie Örtlichkeit der Varusschlacht (Osnabr. 1886); Neubourg,Die Örtlichkeit der Varusschlacht (Detm. 1887); Höfer,Die Varusschlacht, ihr Verlauf und ihr Schauplatz (Leipz. 1888);Knoke, Die Kriegszüge des Germanicus in Deutschland (Berl.1887, Nachtrag 1888).

Teutona, Waffe, s. Keule.

Teutonen (Teutoni, Teutones), ein durch seine Teilnahmeam Zug der Cimbern berühmt gewordenes Volk in Germanien,dessen Wohnsitze an der Küste der Ostsee in Jütland undden dänischen Inseln zu suchen sind. Sie wurden 102 v. Chr.bei Aquä Sextiä vernichtet. Ein Teil des Volkes blieb imNorden zurück; ihr Name Teutonovarier hat sich im Namen derLandschaft Ditmarschen erhalten. S. Cimbern und Teutonen.

Teutsch, Georg Daniel, Bischof der SiebenbürgerSachsen, geb. 12. Dez. 1817 zu Schäßburg, studierte inWien und Berlin Theologie und Geschichte ward 1842 Lehrer und 1850Rektor des Gymnasiums in Schäßburg, 1863 Pfarrer zuAgnethlen und 1867 Superintendent oder Bischof der evangelischenLandeskirche Augsburger Bekenntnisses in Siebenbürgen undwohnt in Hermannstadt. 1848 und 1863-64 war er Mitglied desSiebenbürger Landtags, 1864 bis 1865 des österreichischenReichsrats und 1867 des ungarischen Reichstags; seit 1885 ist erMitglied des ungarischen Oberhauses. Er förderte daskirchliche und geistige Leben der Siebenbürger Sachsen mitEifer und Erfolg, ist Präses des Vereins fürsiebenbürgische Landeskunde und schrieb eine "Geschichte derSiebenbürger Sachsen" (2. Aufl., Leipz. 1874; 2 Bde.). Auchist er Mitherausgeber des "Urkundenbuchs der evangel. Landeskirchein Siebenbürgen".

Tevere, ital. Name des Tiber.

Teverone, Fluß, s. Anio.

Tewfik (eigentlich Taufik) Pascha, Mehemed, Chedive vonÄgypten, geb. 1852, ältester Sohn Ismail Paschas, erhielteine ziemlich gute Erziehung und ward 1866 vom Sultan alsThronfolger anerkannt. Seit 1873 mit der Prinzessin Eminehvermählt (einen Harem hielt sich T. nie), lebte er meist inZurückgezogenheit auf seinem Landgut bei Heliopolis. Erst 1879trat er in die Öffentlichkeit, als ihn Ismail im März d.J. nach der Entlassung Nubars an die Spitze des Ministeriumsstellte. Da er sich aber den Wünschen seines Vaters nichtwillfährig genug erwies, mußte er nach vier Wochenwieder von seinem Posten zurücktreten. Am 8. Aug. d. J.ernannte ihn der Sultan an Stelle seines abgesetzten Vaters zumChedive; er entzog ihm anfangs durch Aufhebung des Fermans von 1873wesentliche Regierungsrechte, gab sie ihm aber auf Verlangen derWestmächte später wieder zurück. T. hatte die ernsteAbsicht, die Mißbräuche und Schäden in derVerwaltung des Landes zu beseitigen, gab aber, um die finanziellenVerpflichtungen Ägyptens zu regeln, den von England undFrankreich gesandten Kontrolleuren zu viel Macht, so daß dierücksichtslose Ausbeutung des Volkes zu gunsten der fremdenGläubiger 1881 Militäraufstände verursachte. T.zeigte sich dem Haupte der Nationalpartei, Arabi Pascha,gegenüber schwach und energielos, so daß er 1882 alleMacht an diesen verlor und erst durch die englische Intervention inseine Herrschaft wieder eingesetzt werden mußte. Er istseitdem ganz von England abhängig.

Tewkesbury (spr. tjuhksberi). Stadt in Gloucestershire(England), am Zusammenfluß des Avon und des Severn, hat einenormännische Abteikirche, Fabrikation von Stiefeln,Strumpfwaren, Nägeln, Leder etc., eine schöne Markthalleund (1881) 5100 Einw. 1 km südlich davon die "blutige Wiese",wo 1471 die letzte Schlacht im Krieg der Rosen stattfand.

Texas (abgekürzt Tex.), der südwestlichste undgrößte Staat der nordamerikan. Union, grenzt im O. anLouisiana und Arkansas, im N. an das Indianerterritorium undNeumexiko, im W. und S. an Me-

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Texas (geographisch-statistisch, Geschichte).

xiko und den Golf von Mexiko. Das Land zerfällt seinerOberflächenbeschaffenheit nach in drei verschiedeneAbteilungen. Von der Küste aus, die fast ihrer ganzenLänge nach von Haffen eingefaßt ist, erstreckt sich50-100 km landeinwärts ein Flachland, das zum Teil sehrfruchtbar und für den Anbau von Baumwolle, Zuckerrohr undstellenweise auch Reis vorzüglich geeignet ist. Hinterdemselben erhebt sich ein wellenförmiges hügeliges Land,welches, bis 320 km breit, den ganzen Nordosten des Staatsumfaßt, großenteils von Prärien bedeckt und zumAnbau sehr geeignet und in seinen Thälern dicht bewaldet ist.Der ganze nordwestliche Teil des Staatsgebiets endlich ist Berg-und Hochland und besteht zum Teil aus einem 1300 m hohenwüsten Sandsteinplateau (Llano estacado oder Staked Plain). AnFlüssen ist T. reich, wenn auch die meisten nur währendeines Teils des Jahrs schiffbar sind. Der Red River scheidet es vondem Indianergebiet, der Sabine von Louisiana und der Rio Grande vonMexiko. Ganz innerhalb des Staatsgebiets liegen Trinity, Brazos,Colorado, Guadalupe, San Antonio und Nueces. Das Klima gilt imVergleich zu den übrigen südlichen Staaten der Unionfür gesund. Nur in der Küstenniederung fordernintermittierende Fieber neben dem gelben Fieber fast jährlichzahlreiche Opfer. Am untern Rio Grande ist die Jahrestemperatur23,2°, im Norden, bei Fort Worth nur 17,5° C.; dort betrugder Unterschied zwischen dem kältesten und dem wärmstenMonat nur 13,2, hier aber 21,9°. Kalte Nordwinde (Northers)wehen manchmal zwischen November und Januar, während dieKüste im September von Orkanen heimgesucht wird. Mit demSüden der Union und deren mittlern Staaten unter einer Breiteliegend, bietet das Land in seiner Vegetation alle Produkte dar,welche jene Staaten auszeichnen, und ist auch hinreichend mit denverschiedensten Holzarten zu allen Zwecken der Landwirtschaftsowohl als der Industrie versehen. Die Tierwelt von T. gleicht derdes benachbarten Louisiana und Arkansas. Büffel, verwildertePferde (Mustangs) durchziehen noch herdenweise die Steppen. InBezug auf Mineralien ist T. eins der reichsten Länder derWelt. Nicht nur Steinkohlen und Eisen kommen in ungeheuern Mengenvor, sondern auch Kupfer, Silber, Gold, Blei etc., dazu Edelsteine,Töpfererde, Salz u.a. Diese Bodenschätze liegen jedochfast noch unberührt. T. hat ein Areal von 681,842 qkm(12,843,3 QM.) mit (1880) 1,591,749 Einw., einschließlich von393,384 Farbigen und 35,347 Deutschen, aber ohne einige tausendherumstreifende Indianer (1870 erst 818,899 Einw.). Dieöffentlichen Schulen wurden 1886 von 261,021 Kindern besucht,doch sind noch immer 15 Proz. der über 10 Jahre altenWeißen und 75 Proz. der Schwarzen des Schreibens unkundig. Anhöhern Bildungsanstalten besitzt der Staat 6 Colleges. Von derBevölkerung beschäftigen sich 69 Proz. mit Landwirtschaftund 6 Proz. mit Industrie. Angebaut werden neben Mais, Hafer,Gerste und Bataten namentlich Baumwolle (1880: 805,284 Ballen),Zucker und Tabak. Alle unsre Obstsorten gedeihen, und im Südenauch Feigen. Für die Viehzucht bietet das Innere des Staatsgroße Vorteile. 1889 zählte man 940,000 Pferde undMaultiere, 4,084,000 Rinder, 2,413,000 Schafe und 1,950,000Schweine. Die Fischereien hingegen (1880 von 600 Personenbetrieben) sind unbedeutend. Der Bergbau fördert Gold (1886:147,000 Dollar), Silber (80,000 Doll.), Steinkohlen (125,000 Ton.)und Eisen. Die Industrie (1880: 2996 Anstalten mit 12,159Arbeitern) beschränkt sich fast nur auf Mahlen von Korn unddie Zurichtung von Bauholz. T. hat (1887) 9810 km Eisenbahnen undbesitzt 252 eigne Schiffe von 8621 Ton. Gehalt. Unter denHäfen ist Galveston der bedeutendste. Die jetzige Verfassungwurde im November 1869 angenommen. Die gesetzgebende Gewalt liegtin den Händen eines Senats von 31 und einesRepräsentantenhauses von 109 Mitgliedern, welche auf zweiJahre gewählt werden. Die obersten Staatsbeamten werdengleichfalls vom Volk gewählt, und der Gouverneur bleibt zweiJahre im Amte. Die richterliche Gewalt ist einem Obergericht und 34Kreisgerichten übertragen; sämtliche Richter erwähltdas Volk. Die Finanzen sind in gutem Zustand. Die Staatsschuldbetrug 1887: 4,237,730 Doll. Eingeteilt wird T. in 78 Counties.Politische Hauptstadt ist Austin. S. Karte "Vereinigte Staaten,westliche Hälfte".

Geschichte. T. gehörte früher zu Mexiko und zwar zurProvinz Tamaulipas. Schon während des mexikanischenUnabhängigkeitskampfes sammelten sich hier viele Abenteureraus den Vereinigten Staaten an. Nachdem der nordamerikanischeOberst Austin 1823 die Stadt San Felipe de Austin gegründethatte, fanden sich immer mehr Ansiedler aus dem Norden ein, dieihre Absicht, das Land für die Union zu gewinnen, nichtverhehlten. 1835 erklärten sich die Texaner im Vertrauen aufden Beistand der herrschenden Partei in den Vereinigten Staaten,welche eine Vermehrung der Sklavenstaaten wünschte, fürunabhängig und ernannten den General Houston zumGeneralissimus. Ein mexikanisches Heer unter Santa Anna drang zwarim Januar 1836 in T. ein und besetzte die Hauptstadt San Felipe deAustin, ward aber 21. April unweit des Jacintoflusses von denTexanern unter Houston geschlagen. Mehrere andre Expeditionen derMexikaner in den folgenden Jahren scheiterten ebenfalls, und um1840 stand T. als völlig konsolidierte Republik da. Frankreichund England erkannten dieselbe 23. Nov. 1839 und 14. Nov. 1841 an;in T. selbst aber verlangte die Mehrzahl Anschluß an dieVereinigten Staaten, welcher vom Kongreß 1. März 1845angenommen wurde. Die förmliche Aufnahme in den Staatenbunderfolgte 29. Dez. 1845. Hierüber entbrannte 1846 ein Kriegzwischen Nordamerika und Mexiko, der am 2. Febr. 1848 mit demFriedensvertrag von Guadalupe Hidalgo endete; in diesem entsagteMexiko allen seinen Ansprüchen auf T. und das Gebiet zwischenRio Grande und Nueces, doch schlug die Unionsregierung durchBeschluß vom 7. Sept. 1850 einen Teil dieser Länder zuNeumexiko, welches inzwischen als eignes Territorium in die Uniongetreten war, und T. erhielt hierfür eine Entschädigungvon 10 Mill. Doll. 1844 hatte sich zu Mainz ein deutscherAdelsverein zu dem Zweck gebildet, den nach T. auswanderndenDeutschen Hilfe und Schutz zu gewähren. Noch in demselben Jahrwurden 150 Familien nach T. befördert und in einer Kolonie,Neubraunfels, vereinigt. Infolge örtlicher Schwierigkeiten undGeldmangels geriet aber die Sache bald ins Stocken. Der Prinz vonSolms-Braunfels, der Leiter der Angelegenheit, verließ dasLand, und an seine Stelle trat ein Preuße, v. Meuselbach,welcher im Herbst 1845 den Indianern einen nördlich von jenerKolonie gelegenen bedeutenden Landstrich abkaufte, wo späterFriedrichsburg angelegt ward. Zwar kam jetzt ein neuer Zug vonmehreren tausend Auswanderern an; doch gerieten dieselben ausMangel an Mitteln sowie durch die ungeeignete Lokalität, denmexikanischen Krieg und Krankheiten bald in eine sehrmißliche Lage. Nur Neubraunfels und Friedrichsburg kamenetwas empor.

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Texcoco - Thaarup.

1847 verabschiedete der Mainzer Verein alle seine Beamten undAgenten in T. und überließ seinen dortigen Grundbesitzdem Advokaten Martin aus Freiberg, womit die ganze Sache ihr Endeerreichte. Kein besseres Schicksal als die deutschen Einwandererhatten die 1848 unter Führung des französischenKommunisten Cabet (s. d.) hier angelangten Ikarier. T. standwährend des amerikanischen Bürgerkriegs sehr entschiedenzur Sezession, kam indes in seinen mittlern und westlichen Teileninfolge der Wegnahme des Forts Esperanza am Eingang derMatagordabai durch den Unionsgeneral Banks in die Gewalt desNordens. T. widerstrebte nebst Mississippi und Virginia amlängsten der Annahme des sogen. konstitutionellen Amendementsund ward daher erst später rekonstituiert. Vgl. Römer,Texas (Bonn 1849); Olmstedt, Wanderungen durch T. (deutsch, 3.Aufl., Leipz. 1872); Eickhoff, In der neuen Heimat (Geschichtlichesüber die deutsche Einwanderung, New York 1884); Burkes,Texas-Almanack; Baker, History of T. (New York 1873); H. Bancroft,History of the Pacific States. Bd. 10 (San Francisco 1884).

Texcoco (Tezcuco, spr. techkoko), Stadt im mexikan. StaatMexiko, am gleichnamigen, 240 qkm großen Salzsee, hat eineGlashütte, Trümmer alter Paläste sowie einesgroßartigen Aquädukts und (1880) 15,626 Einw. T. warunter dem Namen Acolhuacan Hauptsitz der Kultur der Azteken. DerSee (2275 m ü. M.) wird immer seichter. Vgl. Mexiko, S.568.

Texel, niederländ. Insel in der Nordsee, vor demEingang des Zuidersees gelegen, durch das Marsdiep vom Festlandgetrennt, 187 qkm (3,4 QM.) groß, an der Ost- undSüdseite durch Deiche, im übrigen durch Dünen gegendas Meer geschützt, hat schönes Weideland, zweiHäfen, ein Fort (Oude Schans) zur Verteidigung des Marsdiepund 6342 Einw. Haupterwerbszweig ist Schafzucht (etwa 34,000Stück), welche außer feiner Wolle (70-100,000 kg) denberühmten grünen Texeler Schafkäse liefert, danebenAckerbau, Fischfang und Schiffahrt. T. ist Sitz eines deutschenKonsulats.

Texier (spr. tekssieh), 1) Charles Felix Marie,Architekt, Archäolog und Geolog, geb. 29. Aug. 1802 zuVersailles, bereiste im Auftrag der französischen Regierungseit 1834 mehrere Jahre lang Kleinasien und zwar in einzelnenTeilen als erster Europäer, war 1834 in Phrygien, Kappadokienund Lykaonien, 1835 an der West- und Südküste und zog1836 von Tarsos mitten durch die Halbinsel nach Trapezunt. 1838-40forschte er sodann mit La Guiche und Labourdonnaye in Armenien,Kurdistan und Persien und 1842 wieder an der WestküsteKleinasiens. Zeitweise Sekretär der GeographischenGesellschaft in Paris, wurde er 1855 Mitglied der Akademie undstarb 1871. Er schrieb: "Description de l'Asie Mineure" (Paris1839-49, 3 Bde.); "L'Arménie, la Perse et laMésopotamie" (das. 1840-52, 2 Bde.) u. a.

2) Edmond, franz. Publizist, geb. 1816 zu Rambouillet(Seine-et-Oise), studierte in Paris und veröffentlichtebereits in seinem 19. Jahr in Gemeinschaft mit Ménard eineSammlung von Gedichten unter dem Titel: "En avant" (1835). Dann mitLeidenschaft sich auf die Journalistik werfend, lieferte erBeiträge in die beliebtesten Tagesblätter, hattespäter hervorragenden Anteil am "Siècle" undübernahm 1860 die Redaktion der "Illustration". Eine seinergelungensten und ergötzlichsten Schriften ist die Humoreske"La physiologié du poète" (1841), welche unter demPseudonym Sylvius erschien. Bemerkenswert sind ferner: "Biographiedes journalistes" (1850); "Lettres sur l'Angleterre" (1851);"Critiques et récits littéraires" (1852); "Tableau deParis" (1853, 2 Bde.); "Les hommes de la guerre d'Orient" (1854);"Paris, capitale du monde" (1867); "Le journal et les journalistes"(1867); die im Verein mit Le Senne geschriebenen Romane: "MadameFrusquin" (1878), "Mémoires de la Cendrillon"(preisgekrönt, 1879), "La dame du lac" (1880) u. a. T. starb20. Okt. 1887 in Paris.

Text (lat. textus), eigentlich Gewebe, Geflecht; in derLitteratur der eigentliche Inhalt eines Buches, im Gegensatz zu demin den Noten (Anmerkungen) enthaltenen; manchmal auch s. v. w.Schriftwerk überhaupt, wenn dasselbe in einer fremden Spracheabgefaßt ist; in der Homiletik Stelle der Heiligen Schrift,welche der Predigt (s. d.) zu Grunde gelegt zu werden pflegt; inder Musik die einem Gesangstück zu Grunde liegenden Worte; inder Buchdruckerkunst Name einer größern Schriftgattungvon 20 typographischen Punkten Kegelstärke (s.Schriftarten).

Textil (lat.), auf Weberei bezüglich; daherTextilindustrie, Gesamtbezeichnung der Arbeiten, welche zurErzeugung der Stoffe dienen, wie sie als Handelsware üblichsind und Spinnerei, Weberei, Näherei und Stickerei mitEinschluß der Appretur, Bleicherei etc. umfassen.Textilpflanzen, Spinnfasern (s. d.) liefernde Pflanzen.

Textor, Vogel, s. v. w. Viehweber, s.Webervögel.

Textularia, s. Rhizopoden.

Textur (lat.), Gewebe, Gefüge, Anordnung.

Textus receptus (lat.), s. Bibel, S. 882.

Tezcuco, Stadt und See, s. Texcoco.

Tezel, Johann, berüchtigter Ablaßkrämer,geboren um 1455 zu Leipzig, trat 1489 in den Dominikanerorden undtrieb sodann 15 Jahre lang den Ablaßhandel auf dieunverschämteste Weise. Zu Innsbruck wegen Ehebruch zum Todmittels Ersäufens verurteilt, ward er auf Verwenden desErzbischofs Albrecht von Mainz wieder auf freien Fuß gesetzt.Er holte sich in Rom Ablaß und ward sogar zum apostolischenKommissar ernannt. Jetzt nahm er als Unterkommissar des ErzbischofsAlbrecht von Mainz seinen Ablaßhandel besonders in Sachsenwieder auf und hielt eine reiche Ernte, bis Luther 31. Okt. 1517 inseinen Thesen gegen dies Unwesen auftrat. T. wurde hierauf 1518 zuFrankfurt a. O. Doktor der Theologie und starb im August 1519 inLeipzig an der Pest. Sein Leben beschrieben Hofmann (Leipz. 1844),Körner (Frankenb. 1880); katholischerseits: Gröne ("T.und Luther", 2. Aufl., Soest 1860) und Hermann (2. Aufl., Frankf.1883). Vgl. Kayser, Geschichtsquellen über T. (Annab.1877).

Th, th, in sprachwissenschaftlicher Hinsicht, s. "T".

Th, in der Chemie Zeichen für Thorium.

Thaarup, Thomas, dän. Dichter, geb. 21. Aug. 1749 zuKopenhagen, war von 1794 an eine Zeitlang Mitglied derTheaterdirektion und starb als Privatgelehrter 11. Juli 1821 aufdem Gut Smidstrup unfern Hirschholm. T. ist namentlich alsVerfasser der kleinen dramatischen Idylle: "Høstgildet"("Das Erntefest") und "Peders Bryllup" ("Peters Hochzeit") bekannt,die durch ihren einfachen heimischen Ton und ihre anmutigen,stimmungsvollen Gesänge ungemein ansprachen; besonders dieseletztern erfreuten sich der weitesten Verbreitung und sind zum TeilVolkslieder geworden. Seine Schriften gab Rahbek ("Efterladtepoetiske Skrifter", Kopenh. 1822), eine Auswahl seiner Gedichte mitBiographie Nygaard (das. 1878) heraus.

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Thabur - Thaleia.

Thabur (türk.), s. Tabor.

Thackeray (spr. thäckere), 1) William Makepeace,berühmter engl. Romandichter, geb. 12. Aug. 1811 zu Kalkuttaals Sohn eines Beamten der Ostindischen Kompanie, ward im CharterHouse zu London erzogen, studierte in Cambridge, bereiste denKontinent, wo er sich unter anderm in Weimar aufhielt (1830-31),und widmete sich nach pekuniären Verlusten derSchriftstellerei. Unter dem Namen Michael Angelo Titmarsh undGeorge Fitzboodle, Esq., lieferte er zunächst Beiträge zu"Fraser's Magazine", unter denen besonders die Erzählungen:"Barry Lyndon" und "The adventures of an Irish fortune-hunter"Beachtung verdienen. Als Titmarsh veröffentlichte er fernerdie von ihm selbst illustrierten Werke: "The Paris sketch-book"(1840), "The chronicle of the Drum "(1841), "The Irish sketch-book"(1843) sowie die Reisebeschreibung "Notes of a journey fromCornhill to Grand Cairo" (1846). Doch erst "Vanity Fair" (1847),seine originellste Schöpfung, machte ihn berühmt: hierzeigt er sich als vollendeten Satiriker und bedeutendenNovellisten. Es folgten: "Our street" (1848); "Dr. Birch and hisyoung friends" (1849); "Pendennis" (1849-1850), im Plan "VanityFair" nicht ebenbürtig, doch gleich ausgezeichnet durch Humorund Charakterzeichnung, und "The Kickleburys on the Rhine" (1851).Um diese Zeit begann er, erst in England, dann in Schottland undAmerika, öffentliche Vorlesungen zu halten, zunächstüber "The English humourists of the eighteenth century",sodann über "The four Georges". Seinem Studium der Humoristenentsproß der Roman "Esmond" (1852), eine der bestenSchilderungen der Zeit der Königin Anna; besonders wertvollsind: "The Newcomes" (1855), worin der Ernst und die HerzlichkeitThackerays ganz besonders hervortreten, und "The Virginians"(1857), ein Seitenstück zu "Esmond". 1860 übernahm er dieHerausgabe des "Cornhill Magazine", zu dem er die Erzählungen:"The adventures of Philip", "Lovell the widower" und eine kleinemonatliche Skizze, die "Round-about papers", lieferte. T. starb 24.Dez. 1863. Gesammelt erschienen seine Werke zuletzt 1887 in 24Bänden, in illustrierter Prachtausgabe London 1879 ff., seinBriefwechsel 1887. Vgl. Hannay, Memoir of T. (Edinb. 1864);Trollope, T. (Lond. 1879; deutsch von Katscher, Leipz. 1880);Conrad, W. M. Thackeray (Berl. 1887).

2) Anna Isabella, Tochter des vorigen, ebenfallsSchriftstellerin, s. Ritchie.

Thaddädl, stehende komische Figur in alten WienerVolksdramen, Seitenstück zum Kasperle u. dgl. Hauptvertreterderselben war der Komiker Anton Hasenhut (gest. 1841).

Thaddäus, s. Judas 2).

Thag (Thug), in Ostindien Hindubanden, die es sich zumGeschäft machen, als Pilger u. dgl. Vertrauen bei Reisendenoder in Gehöften zu erwecken und die Leute dann durch Gift zubetäuben, ja selbst zu ermorden, um sich ihrer Habe zubemächtigen. Seit 1831 ergriff die britische Regierung vonIndien ernste Maßregeln gegen das Unwesen, so daß esnur noch in vereinzelten Fällen auftritt.

Thai, die Bewohner von Siam, s. Schan.

Thaïs, berühmte griech. Hetäre, aus Athengebürtig, folgte Alexander d. Gr. auf seinem Zuge gegenPersien und soll bei einem Gastmahl den berauschten Geliebten zurVerbrennung der Stadt Persepolis veranlaßt haben. Späterwurde sie eine der Frauen des Ptolemäos Lagi.

Thal, s. Thäler.

Thal, Dorf in Sachsen-Gotha, im Thüringer Wald,unweit des Erbstroms und an der Eisenbahn Wutha-Ruhla, hat eineevang. Kirche, ein Amtsgericht, eine Burgruine (Scharfenberg) und430 Einw.; T. ist eine beliebte Sommerfrische. Vgl. Lion, Bad T.(Eisenach 1887).

Thalamifloren ("Bodenblütige"), einegrößere Abteilung im Pflanzensystem De Candolles,begreift alle diejenigen Polypetalen, deren Kron- undStaubblätter dem Blütenboden (thalamus) eingefügtsind.

Thalamos, im altgriech. Haus das eheliche Schlafgemach;auch s. v. w. Braut- oder Ehebett; in der Botanik s. v. w.Fruchtboden.

Thalassa (Thalatta, griech.), das Meer.

Thalassidroma, s. Sturmvogel.

Thalberg, Sigismund, Klavierspieler und Komponist, geb.7. Jan. 1812 zu Genf als natürlicher Sohn des 1854verstorbenen Fürsten Dietrichstein-Proskau-Leslie, bildetesich in Wien unter Sechter und Hummel in der Komposition und imKlavierspiel aus, begab sich 1830 auf Konzertreisen, ward 1834 zumösterreichischen Kammervirtuosen ernannt, bereiste seit 1855als Konzertspieler wiederholt England und Amerika und zog sich 1858auf eine Villa bei Neapel zurück, wo er, mit Unterbrechungeiner 1862-63 unternommenen Kunstreise nach Paris, London undBrasilien, bis zu seinem Tod 27. April 1871 der Ruhe genoß.T. verdankt seine außerordeutlichen Erfolge als Virtuosevornehmlich der von ihm eingeführten Behandlungsweise desKlaviers, welche sich von der seiner Vorgänger im wesentlichendadurch unterscheidet, daß hier die frühere Trennung vonMelodie und Passagenwerk aufgehoben ist und das letztere alsBegleitung der Melodie auftritt, meist in Form von Arpeggien, diein ihren mannigfaltigen Umstellungen das melodische Motiv umranken,ohne es zu ersticken; vielmehr bestand Thalbergs Hauptstärkegerade darin, daß er durch gesangreichen Vortrag undgeschickte Benutzung des Pedals die Melodie in einer Weise belebte,wie es außer Liszt noch keinem Klavierspieler gelungen war.Dieser ihm eigentümliche Stil gelangt auch in seinenzahlreichen Klavierkompositionen zur Geltung, weshalb dieselbeneinen höhern Kunstwert nicht beanspruchen können. Auchals Opernkomponist hat sich T. noch in den 50er Jahren zweimal indie Öffentlichkeit gewagt, beide Male jedoch ohnenennenswerten Erfolg.

Thälchen, in der Botanik, s. Umbelliferen.

Thale, Dorf im preuß. Regierungsbezirk Magdeburg,Kreis Aschersleben, an der Bode und der Linie Magdeburg-T. derPreußischen Staatsbahn, 175 m ü. M., hat eine evang.Kirche, eine Oberförsterei, ein großesEisenhüttenwerk (Blechhütte) mit Maschinenfabrik,Fabrikation emaillierter Kochgeschirre, eine Zementfabrik, eineDampfziegelei, Bierhrauerei und (1885) 4498 Einw. Dabei dasHubertusbad mit jod- und bromhaltigen Kochsalzquellen und dasBodethal, die großartigste Partie des Harzes, mit demHexentanzplatz und der Roßtrappe (s. d.) sowie eineBlödsinnigenanstalt (Kreuzhülfe) und ein Asyl fürEpileptische (Gnadenthal).

Thale, Adalbert vom, Pseudonym, s. Decker 3).

Thaleia (Thalia, die "Blühende"), 1) eine der neunMusen, später besonders als Muse des Lustspiels betrachtet;wird auf antiken Denkmälern dargestellt mit kürzermUntergewand und Mantel, in der erhobenen Linken die komische Maske,in der gesenkten Rechten ein pedum (Krummstab) haltend. Vgl. Musen(mit Abbildung). Jetzt wird T. gewöhnlich als

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Thaler - Thäler.

Beschützerin des Theaters im allgemeinen genannt. - 2) Eineder drei Grazien oder Chariten (s. d.).

Thaler, eine größere Silbermünze, wie siezuerst in Joachimsthal in Böhmen (Joachimsthaler) von denHerren v. Schlik seit 1518 mit ihrem Wappen, dem böhmischenLöwen, und dem Bilde des heil. Joachim geschlagen wurde.Später verstand man unter T. alle groben Silbermünzen,welche mehr als 1 Lot wogen. Dieselben kamen unter verschiedenenNebenbezeichnungen vor, als Kronenthaler, Laubthaler, Speziesthaleretc. (s. d.). Der auch nach der Einführung derReichswährung in Deutschland noch umlaufende T., welcher bisEnde 1871 die Geldeinheit von beinahe ganz Norddeutschland bildete,in 30 Groschen geteilt und auch in Süddeutschland geprägtwurde, wo er den Wert von 1¾ Gulden hatte (im allgemeinenReichsthaler genannt, abgekürzt Rthlr.), enthält nach demMünzgesetz von 1857: 16,666 g fein Silber und wird 3 Mark Goldgleich gerechnet. Auch in Dänemark und Schweden wurde bis Ende1874 nach Reichsthalern gerechnet (s. Rigsdaler und Riksdaler).

Thäler, verschieden gestaltete Einsenkungen derGebirge und Durchfurchungen der Plateaus. Ist die Entfernung derbegrenzenden Gesteinswände, der Gehänge (welche alsrechtes und linkes im Sinn eines mit dem Gesicht dem Thalausgangzugekehrten Beobachters unterschieden werden), eine geringe, undist der Winkel, unter welchem die Gehänge ansteigen, eingroßer, dem rechten sich nähernder, so entstehenSchluchten, Gründe, Klammen, Canons (s. d.). Die beidenGehänge laufen häufig selbst bei gewundenen Thälerneinander parallel, so daß ein ausspringender Teil des einenGehänges (Thalsp*rn) einem einspringenden des andern(Thalwinkel) entspricht. Nähern sich die beiden Gehänge,so entstehen Thalengen; verlaufen sie annähernd in einerKreislinie, so entstehen Thalweitungen (Bassins, Becken, Zirkusund, wenn die Gehänge steil abfallen, Thalkessel). Derallgemeine Lauf der Gebirgsthäler steht entweder ungefährsenkrecht zur allgemeinen Erstreckung des Gebirgskammes(Querthäler, T. erster Ordnung), oder es laufen die T. etwaparallel zu dem Hauptkamm des Gebirges (Längsthäler, T.zweiter Ordnung). T., deren allgemeine Erstreckung eine zwischendiesen beiden vermittelnde Richtung einhält, hat manDiagonalthäler genannt. - Ein bei der Bildung der T. nie ganzfehlendes, mitunter allein wirkendes Agens ist der erodierendeEinfluß des strömenden Wassers. Denkt man sich einenzunächst vollkommen unverritzten Bergabhang, an welchem Wasserherabströmt, so wird im Anfang dort das Wasser am energischtenangreifen, wo die einzelnen dünnen Wasserstränge zu einemmächtigern Bergstrom zusammentreten. Bei fortgesetzterThätigkeit wird sich bald ein oberer und unterer Teil desWasserlaufs unterscheiden lassen. Im obern, dem Berggebiet,schäumt der Bergstrom auf stark geneigter Thalsohle dahin,zertrümmert das ihm entgegenstehende Gesteinsmaterial undführt es hinweg. In dem untern Teil, dem Thalgebiet, wird derin weniger geneigtem Terrain zum Fluß verlangsamte Bergstromeinen Teil des im Oberlauf aufgewühlten Materials wiederabsetzen, seine erodierende Thätigkeit im wesentlichen nur beiHochwasser und nur im Sinn der Erweiterung, nicht der Vertiefungdes Thals äußern. In solchen breiten Thälernläßt sich neben dem im eignen Material eingewühltenFlußbett ein Inundationsgebiet, von Terrassen (Hochufern)begrenzt, unterscheiden, das Produkt gelegentlicher Hochwasser. Jelänger die erodierende Thätigkeit anhält, destogrößere Strecken wird die Ausbildung des Thalgebietsannehmen, desto weiter nach rückwärts, dem Kamm desGebirges näher, wird der Oberlauf mit seiner starken Neigungder Thalsohle sich eingraben. Im obersten Wasserlauf, nahe dem Kammdes Gebirges, ist ein weiter Thalkessel, oft mit steilen, fastsenkrechten Felswänden, vorhanden (in den Pyrenäen Oulesgeheißen), über welche sich bei zur Bildunggünstiger Gesteinsbeschaffenheit Wasserfälle in die Tiefestürzen. Der Ausgang aus dem Kessel ist gewöhnlich starkverengert, schluchtartig, und erst nach abwärts erweitert sichdann die Thalbildung in der Region des nicht mehr stürmischen,sondern ruhigen Wasserlaufs. Werden in der gechilderten Weise aufden zwei einander entgegengesetzten Abhängen eines Gebirges T.ausgewaschen, so wird das letzte Stadium in einer teilweisenAbtragung des Gebirgskammes bestehen. Statt eines steilen Randes,der die beiden auseinander strahlenden T. trennt, wird ein kleinesPlateau, tiefer gelegen als der Kamm des Gebirges (Paß),dieselben vielmehr verbinden. Ganz ähnlich wie diegeschilderte Bildung der Gebirgsthäler verläuft derProzeß bei dem Einsenken der T. in die Plateaus. Abweichungenkönnen zunächst durch Verschiedenheiten in den zudurchbrechenden Gesteinen begründet sein. Wällehärtern Materials werden hemmend einwirken, das Thal sperrenund zu Thalerweiterungen dadurch Veranlassung geben, daß sichdas Wasser hinter ihnen seeartig ausbreitet, bis der Wall durchnagtist und der Fluß in Stromschnellen den vorher sperrenden Walldurcheilt. Werden ferner weiche, der Erosion leichtzugängliche Gesteine durch eine härtere Bank bedeckt, sowird dort eine Thalschwelle mit Wasserfällen entstehen, wo dieweichern Gesteine zuerst verritzt werden. Durch Unterwaschung wirddas härtere Material stückweise abbrechen und nachsinken,die Thalschwelle ruckweise nach dem Oberlauf zu weiter und weiterzurückreichen. Ein oft citiertes Beispiel für solcheVerhältnisse bietet der Niagara dar. Der Erosion kann aberauch der Weg durch Dislozierung der Gesteinsschichtenvorgeschrieben sein, so daß am fertigen Gebirgsthal zwar dieErweiterung und endgültige Gestaltung auf Rechnung der Erosionfallen, die erste Anlage und Richtung aber in dem allgemeinen Baudes Gebirges begründet sind. Querthäler sind häufigerweiterte Querspalten des Gebirges (Klusen, Klausen);Längsthäler laufen mitunter die Grenze zwischen zweierleiSchichten entlang, die gegen den Kamm des Gebirges zu ansteigen. Eszeigen diese letztern (Scheidethäler, isoklinale T., Komben)an den beiden Gehängen verschiedenes Gestein und nur auf demeinen Abhang einen steilen Absturz, während der Sinn desEinfallens der Schichten rechts und links der gleiche ist.Längsthäler können ferner in der Richtung derSattellinie des Sattels eines Schichtensystems (s. Schichtung)verlaufen, dessen oberste Schichten bei der Dislozierung zerrissenwurden. Solche Gewölbthäler (Hebungsthäler,antiklinale T.) werden an beiden Gehängen einerlei Folge derGesteine erkennen lassen, deren Schichten von der Thallinie ausnach beiden Seiten einfallen. Muldenthäler(Senkungsthäler, synklinale T.) verlaufen der Muldenlinieeiner Mulde (s. Schichtung) entlang; hier werden dieGesteinsschichten der Gehänge nach der Thallinie zueinschießen. Ferner kann die zwischen zwei ungefährparallel verlaufenden Lavaströmen entstehende Einsenkung(interkolliner Raum) eine Thalbildung

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Thalerhumpen - Thallochlor.

veranlassen. Besondere Thalformen zeigen auch einzeln stehendeBerge vulkanischen Ursprungs. Nach Erlöschen der vulkanischenThätigkeit senkt sich häufig an der Stelle des zentralenKegels ein tiefes Kesselthal (Caldera, Caldeira) ein, von welchemaus mitunter ein den Ringwall durchbrechendes Hauptthal nachaußen führt, und gleichzeitig wird auch deräußere Mantel von radial ausstrahlenden Rillen(Barrancos) durchfurcht werden (vgl. Vulkane). Der Form nach stehender Calderabildung nahe die hinsichtlich der Entstehungsweise nochstreitigen Maare (s. Vulkane) als Einsenkungen in vulkanischePlateaus oder doch in der Nähe vulkanisch gebildeterLokalitäten, und ganz ähnliche T., in Plateaus reinsedimentärer Gesteine eingesenkt, liefern Unterwaschungen unddie von ihnen veranlaßten Erdfälle.

Thalerhumpen, s. Münzbecher.

Thales, griech. Philosoph und Stifter der ionischenSchule, geboren um 640 v. Chr. zu Milet in Kleinasien, Zeitgenossedes Solon, Sprößling einer phönikischen Familie,unternahm in seinen reifern Jahren Reisen nach Kreta,Phönikien, Ägypten und lebte auch eine Zeitlang an demHof des Königs Krösos. In Ägypten soll er dieHöhe der Pyramiden berechnet und den Unterricht der Priesterdes Landes genossen haben. Sein Tod wird in das erste Jahr der 58.Olympiade (543) gesetzt. Indem er das Seiende auf einmöglichst einfaches Prinzip zurückzuführen und ausdiesem die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen abzuleiten suchte,stellte er das Wasser als Grundprinzip aller Dinge auf, aus welchemalles entstanden sei und fortwährend entstehe, sowie allesauch wieder in dasselbe zurückkehre. Aus der Verdichtung undVerdünnung jenes Grundstoffes leitete er, wie es scheint, dieVeränderung der Dinge ab. Seine Lehren wurden erst vonspätern Philosophen, namentlich von Aristoteles,aufgezeichnet, desgleichen eine Menge Gnomen oder Sentenzen, dieman ihm zuschrieb, wie das berühmte "Erkenne dich selbst", unddie ihm eine Stelle unter den sogen. sieben Weisen Griechenlandserwarben. Er soll auch dem Krösos mechanische Hilfsmittel zurAbdämmung des Halys an die Hand gegeben und das Jahr auf 365Tage bestimmt haben. Die ihm beigelegte Vorausbestimmung derSonnenfinsternis vom Jahr 585 wurde von Martin ("Revuearchéologique" 1864) als unhistorisch dargethan. Als seinevorzüglichsten Schüler werden Anaximander, Anaximenes undPherekydes genannt.

Thalfahrt, Fahrt zu Thal, die Fahrt der Schiffestromabwärts, im Gegensatz zur Bergfahrt (s. d.).

Thalheim, Dorf in der sächs. KreishauptmannschaftZwickau, Amtshauptmannschaft Chemnitz, an der Zwönitz und derLinie Chemnitz-Adorf der Sächfischen Staatsbahn, hat eineevang. Kirche, ein Rittergut mit Schloß, eineOberförsterei, Baumwoll-, Flachs- und Streichgarnspinnerei und(1885) 4428 Einw.

Thalia, Muse, s. Thaleia.

Thalia dealbata, s. Wasserpflanzen.

Thalleiochin, s. Chinin.

Thallin (Tetrahydroparachinanisol) C10H13NO3 entsteht beiBehandlung des Methyläthers des Paraoxybenzchinolins mit Zinnund Salzsäure, bildet dicke rhombische Prismen, schmilzt bei42-43° und siedet bei 283°. Schwefelsaures T., eingelblichweißes kristallinisches Pulver, welches in Wasserlöslich ist und bitter schmeckt, wird als antipyretischesMittel benutzt. Auch das weinsaure Salz findet Anwendung.

Thallium Tl, Metall, findet sich mit Kupfer, Silber undSelen im Crookesit (16-18,5 Proz.) und Berzelianit, in geringerMenge in manchen Schwefel- und Kupferkiesen, Zinkblende, imLepidolith und im Glimmer von Zinnwald, im Badesalz von Nauheim,Orb, Dürrenberg, im Braunstein etc. Es geht beim Röstender Kiese in den Flugstaub und in den Bleikammerschlamm (welcher z.B. bei Verarbeitung von Meggener Kiesen 3,5 Proz. T. enthält),auch in die Schwefelsäure und aus dieser bei der Darstellungvon Salzsäure in letztere über; ebenso findet es sich imSchwefel aus Meggener und spanischen Kiesen, im Schwefel vonLipari, im käuflichen Wismut etc. Aus Rammelsberger Kiesengewonnene Lauge, welche auf der Juliushütte bei Goslarversiedet wird, ist reich an T. Zur Gewinnung von T. kocht manBleikammerschlamm wiederholt unter Zusatz von etwasSchwefelsäure mit Dampf aus, koliert, setzt Salzsäure zu,wäscht das abgeschiedene Thalliumchlorür aus, verdampftes mit konzentrierter Schwefelsäure zur Trockne, löst dasschwefelsaure Thalliumoxydul in Wasser und fällt abermalsThalliumchlorür, verwandelt dies wieder in Sulfat, behandeltdie Lösung desselben mit Schwefelwasserstoff, um Arsen zufällen, digeriert sie dann mit Zink, wäscht dasausgeschiedene T. mit Wasser, preßt und schmelzt es in einemTiegel, in welchen Leuchtgas geleitet wird. T. ist kristallinisch,fast zinnweiß, stark glänzend, viel weicher und wenigerfest als Blei, gibt auf Papier einen bläulichen Strich, derdurch Oxydation bald verschwindet, ist dehnbar, spez. Gew. 11,8,Atomgewicht 203,6, schmilzt bei 290°, destilliert imWasserstoffstrom, oxydiert sich schnell an der Luft, wird daher ambesten in aufgekochter Zinkvitriollösung aufbewahrt, undentwickelt beim Erhitzen violetten Dampf und eigentümlichenGeruch. Das verrostete Metall wird im Wasser durch Lösung desOxyds wieder blank, und fein verteiltes T. löst sichallmählich in Wasser beim Zutritt der Luft. T. löst sichleicht in verdünnter Schwefelsäure undSalpetersäure, schwer in Salzsäure, verbindet sich direktmit Chlor, Brom, Jod und Schwefel, fällt viele Metalle ausihren Lösungen und färbt die Flamme schön grün.In vieler Hinsicht gleicht es dem Kalium, in andrer dem Blei; seineVerbindungen sind giftig. Mit Sauerstoff bildet es schwarzbraunesThalliumoxydul Tl2O, welches sich in Wasser zu ThalliumhydroxydulTlOH löst. Dies bildet gelbe Kristalle, ist leichtlöslich in Wasser und Alkohol; die farblose Lösungreagiert alkalisch, schmeckt laugenartig, wirkt ätzend,absorbiert begierig Kohlensäure. Es bildet mit Säurenmeist lösliche Salze, aus denen Salzsäure sehr schwerlösliches weißes Thalliumchlorür TlCl fällt,welches am Licht violett wird, leicht schmilzt und zu einerhornartigen Masse erstarrt. Mit kohlensaurem Thalliumoxydulbereitetes Glas ist härter und schwerer als Kaliflintglas undbricht das Licht stärker als alle andern Glassorten.Thalliumoxyd Tl2O3 ist braun, unlöslich in Wasser undAlkalien, gibt leicht Sauerstoff ab. Das Thalliumhydroxyd TlO2Hentsteht bei Einwirkung von Ozon auf Thalliumhydroxydul, ist braun,unlöslich in Wasser, gibt mit Säuren die wenigbeständigen, meist kristallisierbaren farblosen Oxydsalze. Manbenutzt T. zur Darstellung optischer Gläser und mitThalliumhydroxydul imprägniertes Papier (Thalliumpapier) alsReagens auf Ozon. T. wurde 1861 von Crookes entdeckt.

Thallo, Göttin, s. Horen.

Thallochlor (Flechtengrün), der grüne Farbstoffder Flechten.

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Thallophyten - Thapsia.

Thallophyten (griech.), s. Thallus und Kryptogamen.

Thallus (griech., Thallom, Laub, Lager), allePflanzenkörper, an denen diejenigen Gliederungen,Wachstumsgesetze und innerer Bau, welche die Begriffe Stengel,Wurzel und Blatt bedingen, nicht wahrzunehmen sind; gilt daherfür alle Pilze, Flechten und Algen, welche darum Thallophytengenannt werden (vgl. Kryptogamen).

Thalsperre, ein Damm von sehr widerstandsfähigerBauart, quer über den Lauf eines Wildbachs angelegt, zurZurückhaltung des Geschiebes und Ausfüllung tiefeingeschnittener Rinnen (Runsen). Zur Verbauung der Wildbächedient zumeist eine größere Anzahl von Thalsperren inangemessenem Abstand voneinander. Dieselben verhindern dasVerwildern des Gebirgsbaches in der Thalebene durchZurückhalten der Geschiebsmassen, müssen aber, wenn siediese Aufgabe sicher erfüllen sollen, bei allen in denFluß einmündenden Wildbächen angelegt werden. Handin Hand damit ist häufig eine Aufforstung kahler Hänge zubewerkstelligen. Vgl. v. Seckendorff, Verbauung der Wildbächeetc. (Wien 1884).

Thalstern, s. Astrantia.

Thalysia (griech.), Erstlingsopfer von Feldfrüchten,Erntefeier (vgl. Demeter, S. 660); Thalysianismus nennt Baltzer die"natürliche Lebensweise" der Vegetarier (s. d.).

Thame (spr. thehm), Marktstadt in Oxfordshire (England),18 km westlich von Oxford, am schiffbaren Fluß T., der beiDorchester in die Themse mündet, hat (1881) 3267 Einw.

Thames (spr. temms'), 1) Fluß, s. Themse. - 2)Fluß im nordamerikan. Staat Connecticut, entsteht durchVereinigung von Quinnebaug und Yadkin und ergießt sich nacheinem Laufe von 110 km bei New London in den Long Island Sound.Für Seeschiffe ist er 22 km aufwärts bis Norwichschiffbar.

Thamiatis, altägypt. Stadt, s. Damiette.

Thamsbrück, Stadt im preuß. RegierungsbezirkErfurt, Kreis Langensalza, an der Unstrut, hat eine evang. Kirche,eine Handelsmühle und (1885) 999 Einw.

Thamyris (Thamyras), im griech. Mythus ein thrakischerSänger, Sohn des Philammon und der Nymphe Argiope, wurde, weiler sich vermaß, die Musen im Gesang zu überwinden, vondiesen des Augenlichts und der Gabe des Gesanges beraubt. Vgl. A.Michaelis, T. und Sappho (Leipz. 1865).

Than (angelsächs. thên, althochd. degan,schott. than, thayne), bei den Angelsachsen Titel der dieGefolgschaft eines Fürsten bildenden Dienstmannen, späters. v. w. Baron; im alten Schottland Titel der vornehmstenHäuptlinge, die mit den Clans oder Unterhäuptlingen denhohen Adel bildeten. Die Thans waren Stammesälteste und dieGewaltträger des Königs. Nachmals trat der englischeTitel Earl (s. d.) an die Stelle des schottischen Thans.

Than, Moritz, ungar. Maler, geb. 1828 zu Alt-Becse imBacser Komitat (Südungarn), studierte zuerst die Rechte,wandte sich dann der Malerei zu, nahm an den Kämpfen des Jahrs1849 teil und setzte seine Studien an der Wiener Akademie,später bei Rahl fort. Nach einer Reise durch Deutschland undBelgien malte er 1856 zu Paris die Schlacht bei Mohacs. Er lebtehierauf, mit der Ausführung mehrerer Bilder für den BaronSina (Odysseus und Nausikaa, Odysseus und Penthesilea)beschäftigt, drei Jahre in Rom und erhielt 1859 den Auftragzur Ausführung eines die Wiedervereinigung desKönigssohns mit der Zauberhelene darstellenden Wandbildes imRedoutensaal zu Pest, wo er sich dauernd niederließ. Er schufseitdem eine größere Reihe von Altargemälden,Bildnissen (darunter das des Kaisers von Österreich fürden großen Saal des neuen Bibliothekgebäudes) undHistorienbildern (Angelika und Medor, Liebe der Fata Morgana) sowiemit Lotz Wandgemälde und einen Fries (aus der GeschichteUngarns) im Treppenhaus des Nationalmuseums zu Pest.

Thanatos (griech., bei den Römern Mors),Personifikation des Todes, Bruder des Hypnos (s. d.), Sohn derNacht. Vgl. Robert, Thanatos (Berl. 1879).

Thane, ind. Stadt, s. Tanna 1).

Thanet, Isle of (spr. eil of thännet), Name desnordöstlichsten Teils der engl. Grafschaft Kent, welcher bisetwa 1500 durch einen Meeresarm, den Wantsome, vom Festlandgetrennt war. Er ist 106 qkm groß, und in ihm liegen dieSeebadeorte Margate und Ramsgate; auf der Nordostspitze steht einLeuchtturm.

Thang (Tsang), siames. Getreidemaß, = 20 Kanang (s.d.).

Thank God Harbonr (spr. harber), s. Polarisbai.

Thankmar (Dankmar), Sohn des deutschen KönigsHeinrich I. aus seiner ersten, von der Kirche fürungültig erklärten Ehe mit Hatheburg, verband sich, alssein Halbbruder, König Otto d. Gr., die Nordmark, welche T.beanspruchte, dem Markgrafen Gero gegeben hatte, mit dem Herzog derFranken, Eberhard, eroberte die Burg Belcke (Badliki) an der Ruhrund die Feste Eresburg, wurde in letzterer von Otto belagert undbei der Erstürmung im Juli 938 in der Kirche, wohin er sichgeflüchtet, erschlagen.

Thanksgiving-day (engl., spr. thänksgiwwing-de,"Danksagungstag"), der Nationalfeiertag in den VereinigtenStaatenvon Nordamerika, durch Gottesdienst in allen Kirchengesetzlich gefeiert. Das Datum wird alljährlich vomPräsidenten besonders festgesetzt (gewöhnlich EndeNovember).

Thann, Kreisstadt im deutschen Bezirk Oberelsaß, amAustritt der Thur aus den Vogesen und an der EisenbahnMülhausen-Wesserling, 350 m ü. M., hat die katholischeprächtige gotische St. Theobaldkirche mit durchbrochenem Turmund eine evang. Kirche, ein Progymnasium, 2 Waisenhäuser, einAmtsgericht, eine Oberförsterei, Baumwoll- undFlorettspinnerei, Fabrikation von Baumwollwaren, Kattun,Seidenzeug, Chemikalien, Maschinen, Dampfkesseln, Feilen,Bürsten etc., Bleicherei, Färberei, Bierbrauerei,vortrefflichen Weinbau (am Rangen), Weinhandel und (1885) 7462meist kath. Einwohner. Über der Stadt die Ruinen derEngelburg. T. war schon 995 vorhanden und kam 1324 an das HausHabsburg. 1632 eroberten es die Schweden; 15. Okt. 1638 gewanndaselbst Herzog Bernhard von Weimar einen Sieg über den Herzogvon Lothringen; 1674 nahmen es die Kaiserlichen, 1675 die Franzosenunter Turenne, welche die Engelburg sprengten.

Thannhausen, Flecken im bayr. Regierungsbezirk Schwaben,Bezirksamt Krumbach, an der Großen Mindel, hat eine kath.Kirche, ein Schloß, ein neues Rathaus und (1885) 1624 Einw.;T. bildet eine Standesherrschaft des Grafen Stadion.

Thapsakos (später Amphipolis), im Altertumberühmte Handelsstadt in Syrien, an der untersten Furt desEuphrat gelegen, angeblich nördlichste Grenze des ReichsSalomos. Hier gingen der jüngere Kyros, Alexander d. Gr. u. a.über den Strom. Jetzt Ruinen El Hammâm.

Thapsia L. (Böskraut), Gattung aus der Familie derUmbelliferen, perennierende Kräuter mit fiederigzusammengesetzten untern und auf den schei-

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Thapsus - Thatbestand.

denförmigen Blattstiel reduzierten obern Blättern,großer, zusammengesetzter Blütendolde mit wenigen oderkeinen Hüllblättchen und vom Rücken herzusammengedrückten Früchten. Die vier Arten wachsen inden Mittelmeerländern und gelten meist als heilkräftig,so besonders T. garganica L., in Südeuropa und Algerien,dessen purgierend wirkende Wurzel früher offizinell war, undT. Silphium Viv. in Nordafrika, welches als die Stammpflanze desSilphium (s. d.) betrachtet worden ist.

Thápsus, im Altertum feste Stadt auf derKüste des karthagischen Afrika (Byzakion), berühmt durchden Sieg, den hier Cäsar 6. April 46 v. Chr. über diePompejaner gewann. Ruinen bei Ed Dimas.

Thaer, 1) Albrecht, Landwirt, geb. 14. Mai 1752 zu Celle,studierte seit 1771 in Göttingen Medizin und Philosophie, wardann in seiner Vaterstadt als Arzt thätig, bebaute danebeneinen kleinen Grundbesitz und widmete sich baldausschließlich der Landwirtschaft. Durch die von ihmgegründete landwirtschaftliche Lehranstalt in Celle sowiedurch die "Einleitung zur Kenntnis der englischen Landwirtschaft"(Hannov. 1795-1806, 3 Bde.; 3. Aufl. 1816) und die "Annalen derniedersächsischen Landwirtschaft" (Gött. 1799-1804, 3Bde.) erlangte er großen Ruf; auf Reisen in Norddeutschlandstudierte er die deutsche Landwirtschaft, und die Ausgabe vonBergens Werk über Viehzucht (1800), die Abbildungen undBeschreibungen nützlicher Ackergerätschaften (1803-1806),die Übersetzung von Bells "Versuch über den Ackerbau"(1804) bereiteten sodann seine Übersiedelung nachPreußen vor, wohin ihn der König berufen hatte. Erkaufte das Gut Möglin und errichtete hier 1806 die erstehöhere landwirtschaftliche Lehranstalt, welche als solcheepochemachend war. Sein Werk "Grundsätze der rationellenLandwirtschaft" (Berl. 1809-10, 4 Bde.; 6. Aufl. 1868; neue Ausg.von Krafft, Thiel u. a., das. 1880) ward in fast alleeuropäischen Sprachen übersetzt. 1807 zum Staatsraternannt, hatte er an den agrarischen Gesetzen zur Regulierung derbäuerlichen Verhältnisse bedeutenden Anteil. 1810 wurdeer Professor der Landwirtschaft an der Universität zu Berlinund vortragender Rat im Ministerium des Innern. Nachdem er imfolgenden Jahr die berühmt gewordene MöglinerSchäferei gegründet, erhielt er 1815 die Stelle einesGeneralintendanten der königlichen Stammschäfereien. 1818legte er seine Profefsur nieder und widmete sich nun wieder seinemInstitut in Möglin, welches 1824 zu einer königlichenAkademie des Landbaues erhoben ward. Er starb 26. Okt. 1828 inMöglin. T. hat zuerst in Deutschland die Resultate derNaturwissenschaften auf die Agrikultur angewandt und gilt alsBegründer der rationellen Landwirtschaft in Deutschland; erentwickelte die Begriffe von Roh- und Reinertrag, begründetedie Landwirtschaftslehre, förderte die Wechselwirtschaft undden Kartoffelbau und bemühte sich erfolgreich um die Freiheitdes landwirtschaftlichen Gewerbslebens. In den letzten Dezennienseines Lebens war er vor allem Tierzüchter, dann speziellSchafzüchter. Seine Werke über die Erzeugung und Zuchthochfeiner Wolle und hochedler Schafe, sein Leipziger Wollkonventwaren für die deutsche Nationalwirtschaft vongrößter Bedeutung. 1850 wurde ihm ein Denkmal vonRietschel in Leipzig, 1860 ein solches von Rauch in Berlin und 1873ein drittes in Celle errichtet. Vgl. Körte, Albr. T. (Leipz.1839).

2) Konrad Wilhelm Albrecht, Enkel des vorigen, Landwirt, geb. 6.Aug. 1828 auf Lüdersdorf bei Wriezen a. O., studierte 1846 inHeidelberg Staatswissenschaft, dann in Möglin und Berlin,erlernte die Landwirtschaft in England und Schottland undübernahm in der Heimat die Verwaltung zweier Güter.1859-61 lehrte er an der Akademie zu Möglin, habilitierte sichdarauf zu Berlin und erhielt daselbst 1866 eineaußerordentliche, 1871 in Gießen eine ordentlicheProfessur. Er schrieb: "System der Landwirtschaft" (Berl. 1877);"Die Wirtschafsdirektion des Landguts" (2. Aufl., das. 1879); "Diealtägyptische Landwirtschaft" (das. 1881); "Dielandwirtschaftlichen Unkräuter" (das. 1881, mit 24Tafeln).

Tharant (Tharandt), Stadt in der sächs. Kreis-undAmtshauptmannschaft Dresden, an der Wilden Weißeritz und derLinie Dresden-Chemnitz der Sächsischen Staatsbahn, 212 mü. M., hat eine evang. Kirche, eine berühmteForstakademie (1811 von Cotta gegründet, seit 1816königliche Anstalt, 1887: 136 Studierende) mit reichenSammlungen, ein Amtsgericht, ein salinisch-eisenhaltiges Mineralbadund (1885) 2511 Einw. Dabei die Ruine des Schlosses T. und amBergabhang das neue Schloß des Grafen Suminski. Vgl.Fritzsche, Tharant (Dresd. 1867).

Thargelien, das Hauptfest des Apollon in Athen, amsiebenten Tag des danach benannten Monats Thargelion (Mai-Juni),dem Tag der Geburt des Gottes, begangen. Nach seinerursprünglichen Bedeutung bezog es sich auf das Reifen derFeldfrüchte, deren Erstlinge dem Apollon nebst der Artemis undden Horen in Prozession dargebracht wurden. Zugleich war es einSühnfest, an dem man durch ein eigentümlichesBußopfer die Stadt von aller Schuld reinigte, damit nicht dererzürnte Gott durch ausdörrende Hitze die Ernte vernichteund die Menschen mit Seuchen heimsuche. Ursprünglich bestanddas Opfer in zwei des Todes schuldigen Menschen, Mann und Weib, dieunter seltsamen Zeremonien am Ufer geopfert wurden; späterscheint man sich damit begnügt zu haben, die Opfer von einerHöhe ins Meer zu stürzen, unten aber aufzufangen undwieder ans Land zu schaffen. Auch festliche Aufzüge undWettrennen von Männern und Knaben fanden statt.

Tharrhaleus, s. Flüevogel.

Thasos, nördlichste Insel des griech. Archipelagus,hat 435 qkm (7,9 QM.) mit 5200 Einw., fast ausschließlichGriechen. Die Insel ist vulkanischen Ursprungs, hat meist steileKüsten und hohe, bewaldete Berge (Hypsaria 1045 m) sowie vieleÜberreste des griechischen Altertums. Hauptort ist Panagia(Kastro), auf der Nordküste. Hauptprodukte sind Honig undÖl. - Ionische Griechen besetzten die von Thrakern undPhönikern bewohnte, damals durch ihren Goldreichtumberühmte Insel von Paros aus vor 700 v. Chr.; in denPerserkriegen litt dieselbe schwer, ebenso 463, als die Athenerunter Kimon die Stadt T. (auf der Nordküste) nach langerBelagerung eroberten. Später wechselte ihr Besitz zwischenAthen und Sparta; unter den Römern war sie frei, wurde 1462türkisch, kam später in den Privatbesitz desVizekönigs Mehemed Ali von Ägypten und wird seitdem voneinem ägyptischen Gouverneur verwaltet.

Thassilo, s. Tassilo.

Thatbericht, s. Species facti.

Thatbestand (Corpus oder Materiale delicti), imStrafrecht der Inbegriff derjenigen Merkmale, welche den Begriffeiner strafbaren Handlung ausmachen. Der Begriff eines Verbrechensfaßt die Merkmale desselben zusammen, während der T. dieMerkmale, aus denen die "That besteht", einzeln aufführt.Subjektiver T., die innere That, das Willensmoment, objektiver T.,die äußern tatsächlichen Merkmale,

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Thaeter - Thäyingen.

welche zu dem Begriff des Verbrechens gehören; allgemeinerT., die Merkmale eines Verbrechens überhaupt, besonderer T.,die Merkmale einer einzelnen Verbrechensart. Vgl. Cohn, DieGrundsätze über den T. der Verbrechen (Bresl. 1889).

Thaeter, Julius, Kupferstecher, geb. 7. Jan. 1804 zuDresden, kam 1818 auf die Akademie daselbst, war dann unter hartenEntbehrungen in Nürnberg, Berlin und München thätig,wo er bei Amsler arbeitete, wurde 1841 Lehrer an der Kunstschule inWeimar, 1846 Lehrer an der Akademie zu Dresden und 1849 alsProfessor der Kupferstecherkunst nach München berufen, wo er14. Nov. 1870 starb. Er hat besonders den sogen. Kartonstichgeübt und mit Vorliebe nach Meistern der neuklassischendeutschen Kunst gestochen. Seine Hauptblätter sind: derSpaziergang nach Cornelius (1823); die Umrisse zu Faust nachSchwind (1830); die Hunnenschlacht nach Kaulbach (1837); die Parzenund die Überfahrt Charons nach Carstens; Barbarossa in Mailandund Venedig und Rudolf von Habsburg, den Landfrieden wahrend, nachSchnorr; die Entwürfe zum Campo santo in Berlin und dieapokalyptischen Reiter nach Cornelius (1849); der babylonischeTurmbau nach Kaulbach; Elisabeths Werke der Barmherzigkeit undAschenbrödel nach Schwind (1858). Vgl. A. Thaeter, Julius T.,Lebensbild (Frankf. a. M. 1887).

Thatfrage (Schuldfrage), bei einem Verbrechen die Frage,ob der Angeschuldigte der ihm zur Last gelegten Handlung schuldigsei oder nicht; im Gegensatz zur sogen. Rechtsfrage, d. h. derFrage, unter welche Bestimmung des Strafgesetzbuchs die That zusubsumieren und wie sie zu bestrafen sei. Zur Beantwortung der T.werden bei schwereren Verbrechen Geschworne zugezogen.Übrigens spricht man auch bei Privatrechtsstreitigkeiten vonder T. (Quaestio facti) im Gegensatz zur Rechtsfrage (Quaestiojuris), indem man unter der erstern die tatsächlicheFeststellung eines Rechtsverhältnisses, unter der letzternaber die Frage versteht, welche Rechtsgrundsätze auf jenesVerhältnis Anwendung finden.

Thatsache, im allgemeinen das Resultat jedes Geschehens,also jede Begebenheit, sei sie bloß in den Naturgesetzenbegründet oder durch die Willensbestimmung des Menschenherbeigeführt. Im Rechtswesen versteht man unter T. allesGeschehene als Grundlage juristischer Wirksamkeit, sei es,daß es sich um den Erwerb oder um den Verlust oder um dieVeränderung eines Rechts handelt.

Thatteilung, s. Grundteilung.

Thau, s. Tau.

Thau (spr. toh., Etang de T., Stagnum Tauri), diegrößte der Küstenlagunen von Languedoc, im franz.Departement Herault, hat eine Länge von 20, eine Breite von5-8 km und eine Oberfläche von ca. 8000 Hektar und ist vomMittelländischen Meer nur durch eine schmale Landzungegetrennt, auf welcher die Eisenbahn von Bordeaux über Cettenach Marseille hinzieht, und an deren breitester Stelle, amFuß eines 180 m hohen Bergrückens, Cette liegt. DasWasser ist von geringer Tiefe, salzig, tiefblau und sehrfischreich. Der Kanal von Cette setzt den T. mit dem Meer inVerbindung, während ihn der im SW. einmündende Canal duMidi und der von NO. her zugeleitete Canal des Etangs mit demsüdfranzösischen Kanalnetz in Zusammenhang bringen.

Thaumalea, s. Fasan, S. 61.

Thaumas, nach griech. Mythus Sohn des Pontos und derGäa, Gemahl der Okeanide Elektra, Vater der Harpyien und derIris.

Thaumatologie (griech.), Lehre von den Wundern.

Thaumatrop (griech.), von Paris 1827 erfundener Apparat,welcher gleich dem Phänakistoskop auf der Nachdauer der dieNetzhaut treffenden Lichteindrücke beruht. Wird einekreisförmige Pappscheibe um ihren Durchmesser gedreht, sodaß man schnell hintereinander beide Seiten erblickt, soverschmelzen die auf letztern vorhandenen Zeichnungen zu einemeinzigen Bild. Zeigt z. B. die eine Seite einen Vogel, die zweiteeinen Käfig, so erblickt man beim Rotieren der Scheibe denVogel im Käfig.

Thaumatúrg (griech.), Wunderthäter (daherBeiname mehrerer Heiligen, namentlich der griechischen Kirche),auch s. v. w. Gaukler.

Thausing, Moritz, Kunstschriftsteller, geb. 3. Juni 1838auf Schloß Tschischkowitz bei Leitmeritz in Böhmen,studierte an den Universitäten Prag, Wien und MünchenGeschichte und germanische Philologie und war anfangs auf diesenGebieten schriftstellerisch thätig, bis er sich, nachdem er1868 Vorsteher der Kupferstich- und Handzeichnungensammlung desErzherzogs Albrecht (Albertina) in Wien geworden, derKunstwissenschaft zuwendete. 1873 wurde er Professor derKunstgeschichte an der Wiener Universität. Er starb durcheigne Hand 14. Aug. 1884 in Leitmeritz. T. gab heraus: "DürersBriefe, Tagebücher und Reime" (Wien 1872); "Dürer,Geschichte seines Lebens und seiner Kunst" (2. Aufl., Leipz. 1884,2 Bde.); "Le livre d'esquisses de J. J. Callot" (Wien 1881);"Wiener Kunstbriefe" (Leipz. 1884).

Thaya, Fluß in Österreich, entsteht aus zweiFlüssen, der Mährischen und der Deutschen T., von denenerstere nordöstlich von Teltsch in Mähren, letztere beiSchweiggers in Niederösterreich entspringt und sich mit jenerbei Raabs vereinigt, nimmt die Jaispitz, Pulkau und Iglawa auf undfällt bei Hohenau in die March; 282 km lang und sehrfischreich.

Thayer (spr. theh'r), Alexander Wheelock, amerikan.Schriftsteller, insbesondere als Biograph Beethovens hochverdient,geb. 22. Okt. 1817 zu South Natick (Massachusetts), studierteRechtswissenschaft an der Harvard University zu Cambridge, trat,nachdem er daselbst promoviert hatte, in den Staatsdienst, war1860-64 bei der amerikanischen Gesandtschaft in Wien angestellt undlebte seitdem als Konsul der Vereinigten Staaten in Triest. Seit1882 widmet er sich ausschließlich litterarischen Studien.Schon frühzeitig hatte er den Plan einer erschöpfendenBiographie Beethovens gefaßt und zur Ausführungdesselben wiederholt (1849-51, 1854-56, 1858 ff.) Studienreisennach Deutschland unternommen, wo er durch seine Nachforschungen einüberaus reiches Material zusammenbrachte. Das Werk erschienzunächst in deutscher Übersetzung (von H. Deiters): "L.van Beethovens Leben" (Berl. 1876-79, 3 Bde.), und entwirft unterBeiseitelassung aller musikalischen Analyse und Charakteristik vondem Lebensgang und menschlichen Charakter des Meisters ein Bild,das an Vollständigkeit, Treue und psychologischemVerständnis jeden frühern Versuch auf diesem Gebiet weithinter sich läßt. T. veröffentlichteaußerdem: "Signor Masoni and other papers of the late J.Brown", eine Sammlung musikalischer Novellen (Berl. 1862);"Chronologisches Verzeichnis der Werke L. van Beethovens" (das.1865); "Ein kritischer Beitrag zur Beethoven-Litteratur" (das.1877) u. a.

Thäyingen (Thayngen), Dorf im schweizer. KantonSchaffhausen, an der Bahnlinie Konstanz-Schaffhausen, mit Weinbauund (1888) 1185 Einw. über die dort gemachten Höhlenfundes. Randen.

623

Thb. - Theater.

Thb., auch Thgb., Thnb., bei botan. Namen Abkürzungfür K. P. Thunberg (s. d.).

Theagenes, Tyrann von Megaris, stürzte um 625 v.Chr. mit Hilfe des Volkes die dorische Oligarchie und machte sichzum Alleinherrscher, unterstützte 612 den Versuch des AthenersKylon, seines Schwiegersohns, in Athen die Tyrannis zu errichten,versah Megara mit einer Wasserleitung, beförderte Handel undGewerbe, ward indes um 580 vertrieben.

Theano, von Kreta gebürtig, Tochter der Pythonax,erst Schülerin, dann Gattin des Pythagoras, gilt für dieVerfasserin mehrerer Briefe (über Kindererziehung, Hauswesenetc.) und Sittensprüche, die aber wahrscheinlich einerspätern Zeit angehören.

Theanthropophilen, s. Theophilanthropen.

Theanthropos (griech., "Gottmensch"), dogmatischeBezeichnung Christi, s. Christologie.

Theater (griech., hierzu Tafel "Theaterbau"),Schaubühne, Schauspielhaus. Das eigentliche Vaterland desTheaters ist das alte Hellas mit seinen Kolonien. Dasaltgriechische T. (s. den Grundriß und Tafel "Baukunst IV",Fig. 11) war nicht allein für dramatische Aufführungenbestimmt, sondern auch Schauplatz für alle zum Kultus desDionysos gehörigen Feierlichkeiten und bestand aus dreiHauptabteilungen: 1) aus dem Zuschauerraum (Theatron im engernSinn), welcher die in immer weitern Halbkreisen nach hintenübereinander sich erhebenden Sitzreihen enthielt, durch einenoder zwei breite, ebenfalls konzentrische Gänge (Diazoma) inStockwerke sowie durch Treppengänge in einzelnekeilförmige Abschnitte (Kerkis) abgeteilt war; 2) aus derOrchestra, dem mittlern, für den Chor bestimmten Raum mit dererhöhten Thymele, dem Standort des Chorführers, und 3)aus dem mit Statuen geschmückten Bühnengebäude(Skene), das mit seinen zwei nach dem Zuschauerraum hervortretendenFlügeln (Paraskenion) den eigentlichen Spiel- und Sprechraum(Proskenion) umschloß und die zur Aufbewahrung des ganzenTheaterapparats nötigen Räume sowie die Ankleidezimmerder Schauspieler enthielt. Der unter dem Proskenion gelegene Raum,welcher dem Zuschauerraum gegenüber die tiefer liegendeOrchestra und die höher liegende Bühne abschloß,hieß das Hyposkenion. Das ganze Gebäude war ohneBedachung, höchstens bedachte man den obersten, denZuschauerraum umgebenden Gang, welcher dann eine Säulenhallebildete, und die von zwei nach der Orchestra hin vorspringenden, imGrundriß rechteckigen Flügeln flankierte Bühne, undmit dem Zuschauerraum gewöhnlich an einen Hügelangelehnt, aus dessen Gestein die Sitzreihen der Zuschauerherausgearbeitet waren. Das T. in Athen (340-328 v. Chr. erbaut)faßte gegen 30,000, das zu Megalopolis 40,000 Personen.Daß bei den Griechen auch Szenerie, Maschinerie undDekoration schon eine gewisse Ausbildung erlangt hatten, stehtaußer Zweifel; das Kostüm war zum Teil durch festeRegeln bestimmt. Äschylos führte in die Tragödie denhohen Kothurn und die Maske (s. d.) ein, welch letztere auchermöglichte, daß Frauenrollen ohne Störung derIllusion von Männern gegeben werden konnten. Der Kampfpreisfür den tragischen Dichter bestand in einem Epheukranz,für den komischen in einem Schlauch mit süßem Wein.Das Eintrittsgeld betrug in Athen für die drei Spieltage eineDrachme. Vgl. Chor und Schauspielkunst.

In Rom entstanden feststehende Theatergebäude erst gegendas Ende der Republik. Wie das griechische, bestand auch dasrömische aus drei Teilen: dem Zuschauerraum, der Orchestra undder Bühne, nur daß die Orchestra (weil der Chor mit aufder Bühne auftrat) zu bevorzugten Sitzplätzen verwendetwurde; man nannte den Raum das Podium, den Sprechplatz derSchauspieler Pulpitum. Eigentümlich war der römischenBühne ein Vorhang (aulaeum), womit sie vor Beginn des Spielsgeschlossen war. Der Zutritt zu den Theatern in Rom warunentgeltlich; doch mußte jeder beim Eintritt eine Marke(tessera) aufweisen, auf welcher sein Sitz

[siehe Graphik]

Grundriß eines griechischen Theaters.

bezeichnet war. Die Ausrichtung der Theaterspiele warStaatssache; auch hier wurden weibliche Rollen bis in dieKaiserzeit von Knaben und Männern gespielt. Außer dem T.des Pompejus waren das T. des Corn. Balbus und das des Marcellus,welches 22,000 Menschen faßte, die vorzüglichsten. Vgl.Strack, Das altgriechische Theatergebäude (Potsd. 1843, 9Tafeln); Wieseler, Theatergebäude und Denkmäler desBühnenwesens bei den Griechen und Römern (Götting.1851, mit 14 Tafeln); Schönborn, Die Skene der Hellenen(Leipz. 1858); Arnold, Das altrömische Theatergebäude(das. 1873); A. Müller, Griechische Bühnenaltertümer(Freiburg 1886); Öhmichen, Griechischer Theaterbau (Berl.1886); Opitz, Das Theaterwesen der Griechen und Römer (Leipz.1889).

Dem Mittelalter waren eigentliche Theatergebäude ganzfremd. Die dramatischen Aufführungen standen im Dienste derKirche, welche die bauliche Anlage ihrer Gotteshäuser nach demBeispiel der antiken T. dem Zweck der heiligen Festspieleanbequemte. Charakteristisch ist hierbei die dreiteilige,über- und

624

Theater (moderner Theaterbau).

hintereinander sich erhebende Emporbühne, deren Anordnungauch beibehalten wurde, als mit der zunehmenden Verweltlichung dieüberdies allzu personenreichen Kirchenspiele ins Freie, aufKirchhöfe, Märkte etc., verwiesen wurden (s. Mysterien,S. 956 f.), wo besondere Gerüste hierfür erbaut wurden.Die weltlichen Spiele waren auf Schulsäle, Scheunen("Stadeln"), unbedeckte Hofräume mit Gerüsten und Emporen("Brücken", "Zinnen"), mit Teppichen umhangene Räume,später auf schlichte "Spielhäuser" angewiesen, derenerstes 1550 in Nürnberg durch die Meistersingerzunft errichtetwurde. Letztere vervollkommten sich erst mit demÜberhandnehmen des Luxus bei den Hofhaltungen in der zweitenHälfte des 17. Jahrh., besonders nach dem Vorbild deritalienischen Operntheater, deren Grundformen noch heute gelten.Die ersten Opernhäuser in Deutschland erhielten, abgesehen vonden Residenzen, Nürnberg, Augsburg, Hamburg und Leipzig(1667-93).

Der moderne Theaterbau.

Auch im modernen T. wird der Zuschauerraum wie im antikenhalbrund oder hufeisenförmig, nach hinten zu etwas aufsteigenderbaut. Den Boden desselben nimmt das Parterre (in seinem mitreservierten Plätzen versehenen vordern Teil Parkett genannt)ein; an der tiefsten Stelle des Zuschauerraums, zwischen Parkettund der Bühne, hat sich die antike Orchestra in den schmalen,lang gedehnten Raum für das Musikchor verwandelt, auf welchesauch der alte Name (eigentlich "Tanzplatt") übergegangen ist(s. Orchester). Bei den neuesten Theaterbauten wird, nach der IdeeRichard Wagners und Sempers (Wagnertheater in Baireuth mitamphitheatralisch aufsteigenden Sitzreihen), das Orchester, um dieIllusion weniger zu stören, versenkt und so angeordnet,daß mindestens das in dem Parkett und Parterre befindlichePublikum die ausführenden Musiker nicht sieht. Durch dieHerstellung eines vertieften Orchesters wird nicht nur der Eindruckder von unsichtbaren Musikern herrührenden Musik, sondern auchdie perspektivische Wirkung der scheinbar näher gerücktenund deshalb größer erscheinenden Darsteller undDarstellungsgegenstände wesentlich erhöht. Der Umfang desParterre wird von übereinander errichteten Logenreihen odervon Balkonen, welche alsdann für die Logen nur den Raum amOrchester übriglassen, umschlossen; der oberste Balkonheißt Galerie. Die erhöhte Bühne, d. h. der Ort, wodie Schauspieler agieren, wird von dem Orchester- und Zuschauerraumdurch mehrere Vorhänge geschieden, welche beigrößern Theatern, z. B. in Dresden, in einem Haupt- undeinem Zwischenaktsvorhang, einem Vorhang für Szenenwechsel undeinem zur Lokalisierung der Feuersgefahr bestimmten eisernenVorhang bestehen. Letzterer ist aus Trägerwellenblechkonstruiert, durch Gegengewichte ausbalanciert und mittelsKurbelwinden beweglich. Vor dem Vorhang befindet sich die Rampeoder das Gestell, an welchem die vordere Beleuchtung der Bühneangebracht ist; in der Mitte der Rampe befindet sich derSouffleurkasten. Vom Proszenium, dem vordersten Teil derBühne, aus steigt der Boden der Bühne (Podium) nachhinten zu ein wenig aufwärts. Die Szene oder der Ort, wo dieHandlung spielt, wird durch die Dekorationen, nämlich eineHinterwand und Seitenwände, begrenzt. Die Hinterwand(Hintergardine) muß an verschiedenen Stellen herabgelassenwerden können, da es nötig ist, die Bühne baldkürzer, bald länger (tiefer) zu machen. DieSeitenwände der Bühne werden durch Kulissen dargestellt.Sie bestehen aus Leinwand, auf Rahmen gespannt, gehen durch dasPodium hindurch und ruhen unterhalb desselben auf einem kleinenWagen oder einer Walze, so daß leicht mit demselben Zug dieneuen Kulissen vor, die nicht mehr nötigen zurückgezogenwerden können. In neuester Zeit hat man, besonders fürdas Konversationsstück, vielfach versucht, "geschlossene"Dekorationen, sogen. Panoramatheater, einzuführen, d. h.Kulissen, welche mittels Klappen sich aneinander anschließen(Klappkulissen) und wirkliche Seitenwände bilden, sowie auchdie Deckendekoration aus dem Ganzen zu arbeiten. Die zurnähern Bestimmung der Szene nötigen Stücke, wieHäuser, Mauern, Bäume, Felsen u. dgl., heißenVersetzstücke und werden vermittelst sogen. Freiwagen, derenMaschinerie unter dem Podium hingeht, von den Seitenhervorgeschoben. Den Luftraum oder die obere Decke der Bühnebilden die Soffiten, d. h. quer über die Bühne gehendeLeinwandstreifen, die das Bühnenbild nach oben begrenzen. Jenachdem die Soffiten bemalt sind, heißen sie Luft-, Wald-,Zimmersoffiten etc. Die gesamte Maschinerie des modernen Theaterswird in die obere und die untere geteilt. Die obere umfaßtalle Zug- und Hängewerke nebst den dazu gehörigen Leinen,Zügen, Walzen, Schnürböden, Galerien etc. sowie denganzen Apparat, mittels dessen auf der Bühne Personen undGegenstände durch die Luft bewegt werden, d. h. das Flugwerk.Die untere Maschinerie besteht aus den Versenkungen(geräuschlos auf- und niedergehenden Bodenausschnitten),Kanälen, Freifahrten, Wagen u. dgl. und dient teils zurBewegung der Kulissen, teils zum Emporheben aus der Erdeaufsteigender Erscheinungen. Die notwendigen Vorrichtungen zumFlugwerk, zu dem Aufziehen des Vorhangs, zum Dekorationswechsel,zur Herablassung der Soffiten befinden sich auf einem besondernBoden über der Bühne, dem Schnürboden, dessenFußboden durchbrochen ist. Auf einem andern obern Boden, demFeuerboden, sind für Feuersgefahr die zur Löschungnötigen Reservoirs befindlich. Die Bühne wird meist in5-8 perspektivisch geordnete Abteilungen zerlegt, deren jede einegroße Versenkung, drei durchgehende Freifahrten und einedurchgehende Klappe hat. Die Beleuchtung wird meist in jeder Bahnmittels zwei Ober- und zwei Seitenlichter sowie durch Versetz-,Transparent- und Extralampen bewirkt. Hierzu kommt die vordere,durch die Proszeniumslampen bewirkte, regulierbare Beleuchtung derBühne. Zu beiden Seiten der Hauptbühne befinden sichProbesäle, Garderoben und Ankleidezimmer. Die denZuschauerraum enthaltende Abteilung des Hauses versieht manaußer mit den Treppenanlagen mit Restaurationsräumen,Büffetten u. Foyers. Hierzu kommen die Vestibüle,Korridore und Unterfahrten sowie bei Hof- und Residenztheatern indem Zuschauerraum die Anordnung der Hoflogen und die damit inVerbindung zu bringenden Salons und sonstigen Appartements. Nichtselten wird die Anlage besonderer Konzertsäle und Säle zukleinern theatralischen Aufführungen gefordert.

Die Anordnung des Äußern bestand früher in derHerstellung eines mehr oder minder regelmäßigenrechteckigen Gebäudes, in welches man denhufeisenförmigen Zuschauerraum einschaltete, erfolgt aber beineuern Ausführungen häufig im engen Abschluß an dieForm des Innenbaues und stellt alsdann von der Seite desZuschauerraums einen mehr oder minder vollständigen Rundbaudar. Anordnungen dieser Art zeigen unter andern das Mainzer, dasDresdener

Theaterbau.

1 Auffahrt

2 Terasse

3 Magazine

4 Rundgang um das Vestibül (5)

6 Rundgang um das Foyer (7)

8 Große Garderobe

9 Terrasse

10 Haupttreppe

11 Foyer für III. Rang

12 Ventilationskanäle u. Heizraum

13 Garderobe für Parterre

14 Saal zur Königsloge

15 Vorsaal für III. Rang

16 Königsloge

17 Parterreloge

18 Mischraum

19 Zuschauerräume: Parkett, Parterre, Loge im I. und II.Stock, III. Rang, Amphitheater

20 Ventilationsschacht

21 Bühne mit Asphaleia-Einrichtung

22 Versenkung

23 Schnürboden

24 Ventilationsschacht für die Bühne

25 Akkumulatoren 26 Hinterbühne

27 Ballett-Probesaal

28 Malersaal

Längenschnitt des königl. ungarischen Opernhauses inBudapest. (Maßstab 1:500).

Grundriß des Parterregeschosses. (Maßstab1:1040.)

Grundriß des Hochparterres (Bühnenhöhe).(Maßstab 1:1040.)

[Artikel Theater.]

Zur Tafel 'Theaterbau': Das neue königliche Opernhaus inBudapest.

Zu den Eigentümlichkeiten des beim Opernhaus zu Budapest(Architekt Nik. v. Ybl) teilweise in Anwendung gekommenen sogen.Asphaleia-Systems gehört der um den hufeisenförmigenZuschauerraum geführte, zu Lüftungszwecken dienende sog.Ventilationsring, an welchen sich in den einzelnen Stockwerken dasVestibül, die Foyers, Treppenhäuser, Garderoben u.Büffette nebst den beiden seitwärts angebrachten,gedeckten Unterfahrten u. zwar durchweg in einer Weiseanschließen, welche die Sicherheit und Bequemlichkeit derTheaterbesucher vollkommen wahrt. Zur Verbesserung der Akustik,Lüftung und freien Aussicht der Galeriebesucher ist dereiserne Plafond muschelartig gewölbt, aus zwei Böden,wovon der untere zwecks Aufsaugung schlechter oder Zuführungfrischer Luft siebförmig durchlöchert ist,zusammengesetzt und ruht nicht auf der Galeriebrüstung,sondern auf dem Ventilationsring, wodurch auch die Galeriebesuchereinen freien Ausblick auf die Bühne genießen. Mit denHauptneuerungen ist die Bühne ausgestattet, welche (das Podiumausgenommen) mit Ausschluß von Holz konstruiert ist. DasPodium ist seiner Breite nach in mehrere Podienstreifen, sogen.Gassen (s. den Grundriß der Bühne auf der folgendenSeite), zerlegt, wovon jeder für sich oder mit den andern umje 2,5 m gesenkt oder um je 4,5 m gehoben werden kann. DieseBewegung wird, wie der nebenstehende Querschnitt zeigt, durchhydraulische Pressen bewirkt, deren Stempel zugleich dieTräger jener Gassen unterstützen, und durch dasÖffnen und Schließen eines Hahns erzielt, welcher denZufluß des unter einem bestimmten Druck stehenden Wassers zumPreßcylinder regelt. Jede Gasse enthält wieder dreinebeneinander befindliche Versenkungen, welche ebenfalls aufhydraulischen Pressen ruhen und in ähnlicher Weise um 5 mgesenkt oder um 6,5 m gehoben werden können. Mit Hilfe dieserhydraulisch zu bewegenden Versenkungen lassen sich Terrassen,Serpentinen, Brücken, Balkone, ja bei abwechselndemÖffnen und Schließen der Wasserhähne selbstSchaukelbewegungen des Podiums oder seiner Teile hervorbringen.Zwischen den einzelnen Gassen sowie an beiden Seiten der Bühnesind Klappen angebracht, durch welche man nicht nur ganzeDekorationen, sondern auch ganze Zimmer bis zu einer Höhe von8 m heben kann. Bei dem Schnürboden werden dieSoffitenzüge durch lange Züge ersetzt und hierbei nurDrahtseile verwandt. Alle Züge können ebenso wie dieVersenkungen

Querschnitt durch die Bühne in der Richtung einerKulissengasse, 1:285.

*

Zur Tafel 'Theaterbau': Das neue königliche Opernhaus inBudapest.

hydraulisch von unten bewegt werden, wodurch dasgefährliche Betreten des Schnürbodens und derSoffitenbrücken wegfällt. Dafür ist in jeder Gasseein Flugapparat eingeschaltet, welcher nicht bloß an jedenPunkt derselben gelenkt, sondern auch in beliebigen Lagen bewegtwerden kann. Der Abschluß des Zuschauer- und Bühnenraumswird durch einen ebenfalls hydraulisch bewegten Blechvorhanggeschlossen. Die vielfach störende Rampenbeleuchtung ist durcheine seitliche Beleuchtung durch elektrisches Licht ersetzt, zuwelchem Zweck in der Mauer der Proszeniumsöffnung eine nurgegen die Bühne hin offene Hohlkehle angebracht ist, welchedie Lampen aufnimmt. Die schwierig zu handhabenden, oft durch ihreungleiche Beleuchtung störenden Luftsoffiten sind durch einensogen. Horizont, ein mit Wolken bemaltes, senkrechtherabhängendes Dekorationsstück, welches die ganzeBühne umgibt und sich hinreichend hoch, im Budapester Theater19 m, über das Podium erhebt, ersetzt. Der auf der Tafeldargestellte Längenschnitt des königlich ungarischenOpernhauses in Budapest gibt ein anschauliches Bild dieser ganzenEinrichtung, deren einzelne Teile mit fortlaufenden Zahlenbezeichnet und demgemäß mit den ihrem Zweckentsprechenden Benennungen versehen sind. Zu erwähnen istnoch, daß der Zuschauerraum, wie die beiden Grundrissezeigen, hufeisenförmig angelegt, und daß das Proszeniumin Gestalt eines Triumphbogens zwischen Bühne undZuschauerraum eingeschaltet ist. Der Orchesterraum ist vertieft undmit einer zierlichen Eisenguirlande eingefaßt. In den mit 18bezeichneten Mischraum treiben zwei große, von einem Gasmotorbewegte Ventilatoren die frische Luft ein, von wo dieselbe,entsprechend vorgewärmt, durch gemauerte Kanäle in denZuschauerraum gelangt. Die schlechte Luft wird durch denKronleuchterschacht (20) und zahlreiche andreLuftabzugsschlöte entfernt. Die Effektbeleuchtung derBühne wird durch elektrisches Licht bewirkt, wobei vier durchzwei zwölfpferdige Gasmaschinen bewegte Dynamomaschinen zurVerfügung stehen. Die Beleuchtung des Hauses wird ausökonomischen Gründen durch Gas bewirkt. ZwischenZuschauerraum und Bühne befindet sich der eiserne Vorhang,während die letztere mit einem eisernen Dachstuhlüberdeckt ist. Die Bewegung des ganzen Bühnenapparats,welchen der Längenschnitt unter 21, 22 u. 23 sowie derQuerschnitt durch die Bühne deutlich darstellt, geht von einerzwölfpferdigen Gasmaschine aus, welche die von einem unter demZuschauerraum befindlichen Brunnen gespeiste Wasserpumpe inThätigkeit setzt. Der Urheber der Maschineneinrichtung desAsphaleia-Systems ist der Wiener Ingenieur Robert Gwinner, nachdessen Plänen seitdem diese Bühneneinrichtung unterandern beim Landestheater zu Prag, den neuerbauten Theatern inHalle a. S., Göggingen bei Augsburg, dem Drurylane-Theater inLondon, dem großen Theater zu Chicago etc. Anwendung gefundenhat.

Grundriß der Bühne mit Asphaleia-Einrichtung (Nr. 21,22 des Längenschnitts).

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Theaterbilletsteuer - Theatre-Francais.

und das Berliner Viktoria-T. Sowohl der die Vorder- undHinterbühne einschließende Gebäudeteil als auch diefür die verschiedenen Säle, Foyers, Treppen undKorridoranlagen erforderlichen Anbauten erhalten dann aus demgleichen Grund rechteckige Begrenzung, wodurch die Form der neuernT. eine mit mehr oder minder großem Geschick ausgebildetekombinierte, aus Rechteck- und Rundbau bestehende wird. Diemerkwürdigste, zwar sehr reiche, aber etwas gezwungeneKombination dieser Art zeigt die von Garnier erbaute GroßeOper in Paris, während diejenige des Dresdener Theaters demInnern genau angepaßt und natürlich ist. DieBekrönung der einzelnen Teile und ihre äußereVerzierung wird meist durch Figuren oder Figurengruppenunterstützt.

Die Stilformen des Hauptinnenraums bewegen sich bei den neuernTheatern fast durchweg, je nach dem Grad ihres Reichtums, in einerfrühern oder spätern Epoche des Renaissancestils, wobeidie figürliche Skulptur eine mehr oder minder hervorragendeRolle spielt. Karyatiden, Atlanten an den Proszeniumslogen,schwebende Figuren in den Gewölbzwickeln der Decke (wie an derPariser Oper), Statuen und Medaillons von Musen und Musengruppen,bedeutenden Ton- und Dramendichtern etc. bilden die Motive. DieDekorationsmalereien entfalten sich vorwiegend an dem Plafond. Alsein Hauptschmuck des Zuschauerraums tritt endlich außer denübrigen Arm- und Wandlampen der Kronleuchter hervor, dessenLampen sich in zwei und mehr (an der Pariser Oper in vier) Etagenvon ungleichen Durchmessern aufbauen und sowohl durch Ausziehen undNiederlassen als auch durch die Regulierung der Gasflammen einenmehr oder minder hellen Lichteffekt erzeugen können. Die inder Nähe des Plafonds aufgehängten sogen. Sonnenbrennerdienen zugleich zur Beförderung der Ventilation desInnenraums, welche bisweilen, z. B. beim Dresdener Theater, nochdurch einen besondern, auf dem Dachstuhl ruhenden Ventilatorunterstützt wird. Zu den schon in der Bauanlage getroffenenVorsichtsmaßregeln zur Abwendung der Feuersgefahr(Löschanstalten, ausreichende Ausgänge, zahlreichefeuersichere Treppen, nach außen sich öffnende Zwischen-und Außenthüren, Vorplätze, zur Abführung desRauches dienende Ventilationseinrichtungen etc.) kamen in neuererZeit als bedeutungsvoll hinzu: die Aufführung einer solidenBrandmauer zwischen Bühne und Zuschauerraum in Verbindung mitdem in der Proszeniumsöffnung angebrachten hydraulischbewegbaren Metallvorhang (s. oben) zur raschen Isolierung beiderRäume bei Ausbruch eines Brandes; Ersatz der Gasbeleuchtungdurch elektrische Beleuchtung in allen Teilen des Theaters; Schutzaller Theaterrequisiten und des Holzwerks auf der Bühne gegenrasche Entzündbarkeit mittels chemischer Imprägnierungmit unbrennbaren Stoffen. Der am 8. Dez. 1881 ausgebrocheneverhängnisvolle Brand des Wiener Ringtheaters führteindessen zu der Einsicht, daß der technische Teil desTheaterwesens den Anforderungen, welche die Richtung der heutigenKunst an denselben stellt, überhaupt nicht mehr gewachsen seiund einer durchgreifenden Umgestaltung bedürfe. DieserEinsicht verdankt ein Entwurf nach dem System "Asphaleia" zu einemnicht nur feuersichern, sondern auch technisch zeitgemäßumgestalteten T. seine Entstehung, welcher bei dem 1885eröffneten königlichen Opernhaus in Budapest seine erste,bereits bewährte Anwendung gefunden hat und seitdem auchanderwärts nachgeahmt worden ist. Weiteres darüber s. inder Textbeilage zur beifolgenden Tafel.

Die schönsten Theatergebäude in Deutschland findensich zu München, Berlin (Schauspielhaus, Opernhaus, Viktoria-und Wallnertheater), Wien (Opernhaus, Hofburgtheater, s. Tafel"Wiener Bauwerke", und das T. an der Wien), Hannover, Dresden,Leipzig, Magdeburg, Köln, Bremen, Karlsruhe, Braunschweig,Halle, Darmstadt, Frankfurt a. M., Prag, Budapest. DasWagnertheater in Baireuth wurde bereits oben erwähnt. InFrankreich zeichnen sich aus dasThéâtre-Français, die neue Große Oper unddas Châtelettheater in Paris, die T. von Lyon, Marseille undBordeaux; in Italien die T. San Carlo in Neapel, della Scala inMailand und Fenice in Venedig. Das größte T. inRußland ist das zu Petersburg (durchaus von Stein und Eisenbis auf das Podium und den Maschinenboden). Londonsgrößte T. sind das Drurylane- und dasCoventgardentheater. Die größten der modernen T. fassen3-7000 Zuschauer (della Scala 7000, San Carlo 7500, das T. inChicago, gegenwärtig das größte der Welt, hat 8000Sitzplätze). Vgl. aus der neuern Litteratur Gosset,Traité de la construction des théâtres (Par.1885); Garnier, Le nouvel Opera de Paris (das. 1876-81); "Das neueOpernhaus in Wien" (Wien 1879); Gwinner, Das neue königlicheOpernhaus in Budapest (das. 1885); Staude, Das Stadttheater zuHalle (Halle 1886); Fölsch, Theaterbrände und die zu derVerhütung derselben erforderlichen Schutzmaßregeln(Hamb. 1878); Gilardone, Handbuch des Theaterlösch- undRettungswesens (Straßb. 1882-84, 3 Bde.). über dieGeschichte des Theaters im weitern Sinn vgl. Schauspielkunst. -Anatomisches T. (Anatomie), das Gebäude, in welchem Anatomiegelehrt und ausgeübt wird, besonders der Hörsaal mitamphitheatralisch erhöhten Plätzen.

Theaterbilletsteuer, eine Aufwandsteuer auf denTheaterbesuch, in Frankreich als Zwecksteuer fürWohlthätigkeitsanstalten von größern Städtenim Betrag von 10 Proz. des Eintrittsgeldes erhoben.

Theatiner, Orden regulierter Chorherren, gestiftet 1524in Rom von Joh. Pet. Caraffa, nachmaligem Papst Paul IV., damalsBischof von Theate oder Chieti (daher auch Chietiner, Quietiner,Pauliner), in Verbindung mit Cajetan da Thiene (daher Kajetaner),bestätigt von Paul III. 1540 und Pius V. 1568, vornehmlich ausAdligen bestehend, eine Pflanzschule des höhern Klerus. Dienoch jetzt verfolgte Tendenz des Ordens geht auf Erweckung einesreinen apostolischen Geistes mittels Predigt und Gottesdienstes.Die T. legen die drei Mönchsgelübde auf Augustins Regelab und verpflichten sich außerdem zum Predigen gegen Heidenund Ketzer, zur Seelsorge, zur Pflege der Kranken. Späterverbreitete sich der Orden auch über Frankreich, Spanien,Polen und hatte Missionen in Asien. Spätere Päpste, UrbanVIII. und Clemens IX., vereinigten mit ihm zwei von UrsulaBenincasa 1583 und 1610 gestiftete Kongregationen vonTheatinerinnen.

Theatralisch (griech.), das Theater betreffend;bühnenmäßig; affektiert.

Théâtre-Français (auchComedie-Française genannt), das erste Pariser Theater inlitterarischer Beziehung, ist eine Schöpfung Ludwigs XIV.Durch Kabinettsbefehl von 21. Okt. 1680 vereinigte er die Truppedes Hôtel de Bourgogne und die Molièresche, welchenach dem Tod ihres Meisters (1673) aus ihrem Saal im Palais-Royalhatte weichen müssen, zu einer Truppe, um, wie es in demBefehl hieß, den Schauspielern die Möglichkeit zugewähren, sich

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Theatrum europaeum - Theben.

immer mehr zu vervollkommnen. Er gab ihr das Privilegium,Tragödien und Komödien aufzuführen, und bewilligteeine jährliche Unterstützung von 12,000 Frank; die Anzahlder Schauspieler wurde fest bestimmt, die Verwaltung geregelt. Sowar durch die Vereinigung des Repertoires von Corneille und Racinemit dem Molières die klassische Bühne Frankreichsgeschaffen; die Schauspieler nannten sich Comédiensordinaires du roi. 1689 baute sich die Truppe einen eignen Saal inder Straße Fosses Saint-Germain (nachmals Straße del'Ancienne Comédie) und nannte sich von der Zeit anThéâtre de la Comédie-Française; indemselben blieb das Theater bis zum Jahr 1770. In der erstenHälfte dieser Periode machte es nur schlechte Geschäfteund vermochte die Konkurrenz der Markttheater (Marionetten,Akrobaten, Bänkelsänger etc.) nur mit polizeilicher Hilfezu überwinden; die Zeit von 1740 aber, wo Voltaires Dramen dieBühne beherrschten, bis 1780 ist die glänzendste Epocheseiner Geschichte. Eine große Anzahl ausgezeichneterSchauspieler fand sich damals zusammen, von denen wir hier nennen:Grandval, Lekain, Bellecourt, Préville, Molé, Monvel,Brizard, Dugazon, die Damen Dumesnil, Clairon, Dangeville undContat. Im J. 1770 siedelte das Theater in die Tuilerien über,zwölf Jahre später in einen neuerbauten Saal, wo sichjetzt das Odéon befindet. Hier fand auch 1784 dieberühmte erste Vorstellung von "Figaros Hochzeit" statt. DieRevolution spielte dem T. übel mit; den Versuch, dieantirepublikanischen Stücke Layas aufzuführen,mußten Schauspieler und Dichter mit Gefängnisbüßen; erst nach und nach wurden sie befreit. Zur Ruheaber kam das T. erst 1803, als es wieder in den Saal desPalais-Royal einziehen durfte, in dem schon Molière gewirkthatte. Hier ist es seit der Zeit geblieben; der jährlicheZuschuß wurde auf 100,000 Frank erhöht. Eine festeOrganisation erhielt es durch Napoleons pomphaftes Dekret vom 15.Okt. 1812 aus Moskau, das ergänzt und im einzelnen modifiziertwurde durch die Dekrete vom April 1850 und November 1859. Hiernachuntersteht die Verwaltung einem Komitee von sechs Mitgliedern,unter der Direktion eines vom Staat bestellten Beamten (seit 1833;seit 1885 J. Claretie); dieses hat nicht nur die finanziellenAngelegenheiten zu besorgen und die Sociétaires (festangestellten Mitglieder im Gegensatz zu den Pensionnaires) zuernennen, sondern wirkt auch als Lesekomitee und hat überAnnahme und Zurückweisung der eingereichten Stücke zuentscheiden. Der Zuschuß ist auf 240,000 Frank erhöhtworden. - In dieser ganzen Zeit war dieComédie-Française arm an hervorragenden Talenten;abgesehen von Talma, der 1784 zuerst auftrat, und RachelFélix, die ihr von 1838 bis 1855 angehörte, sind Sterneerster Größe auf der klassischen Bühne nicht zuverzeichnen. Dafür aber ist sie, besonders seit der Mittedieses Jahrhunderts, durch ein mustergültiges Zusammenspielausgezeichnet, durch das in Verbindung mit der sorgfältigenAusstattung, einem unermüdlichen Studium und liebevollerAchtung vor der Überlieferung die glänzendsten Erfolgeerzielt wurden. Diese Vorzüge kommen besonders derWiederaufführung der Werke der großen französischenKlassiker zu gute; eine würdige und künstlerischschöne Darstellung derselben zu bieten, hat das T. immer alswichtigste Aufgabe betrachtet, eine Aufgabe, der die romantischePeriode, welche mit der berühmten Theaterschlacht vom 25.Febr. 1830 zum Siege gelangte, es nur vorübergehend zuentfremden vermochte. Dafür hat auch die 200jährigeJubelfeier der Gründung des T. im J. 1880 einenvollgültigen Beweis geliefert. Vgl. Lucas, Histoire du T. (2.Aufl. 1863, 3 Bde.); Despois, Le T. sous Louis XIV (Par. 1886);Chabrol, Histoire et description du Palais-Royal et du T. (das.1884).

Theatrum europaeum, eine Chronik der Zeitereignisse,welche seit etwa 1616 zu Frankfurt a. M. in Bänden erschienund Vorläuferin der später entstandenen Zeitungen war.Sie ging später in den Besitz der Kupferstecher- undKunsthändlerfamilie Merian (s. d.) über, deren Mitgliedersie mit Kupferstichen versahen. Seit 1700 führte die Redaktionder Laubacher Pastor Schneider, welcher dem T. einen neuenAufschwung gab. Doch ging es 1718 zum Teil durch dieVerschwendungssucht des Generals und Architekten Eosander v. Goetheein, welcher die Erbin des Merianschen Verlags geheiratet hatte. Esumfaßt 21 Bände.

Theba (hebr.), s. Arche.

Thebain C12H21NO3, Alkaloid des Opiums, bildet farb- undgeruchlose Kristalle, schmeckt scharf, metallisch zusammenziehend,ist leicht löslich in Alkohol und Äther, kaum in Wasser,reagiert stark alkalisch, bildet mit Säuren kristallisierbareSalze, ist sehr giftig und erregt Starrkrampf.

Thebaïs, im Altertum Name von Oberägypten, nachder Hauptstadt Theben (s. d. 1).

Thebaïsche Region, nach der Legende eine vom KaiserMaximianus 300 n. Chr. aus der ägyptischen Landschaft Thebaisgegen die Christen in Gallien gesandte Legion, welche wegenDienstverweigerung erst zweimal dezimiert, dann mit ihremFührer Mauritius zu St.-Maurice in Wallis niedergemetzelt undunter dem Namen der 10,000 Ritter (22. Juni) in das Martyrologiumaufgenommen ward.

Theben, 1) die alte Hauptstadt Oberägyptens, am Nil,die "hundertthorige Stadt", der einstige Mittelpunkt desPharaonenreichs, heute nur ein ausgedehntes Ruinenfeld zu beidenSeiten des Nils. Der hieroglyphische Name der Stadt war Ape (mitdem Artikel T'Ape), woraus das griechische Thebae entstanden ist.Die unter den Ptolemäern eingeführte Benennung Diospolisist eine Übersetzung des altägyptischen Pe-Amun ("Hausdes Ammon"). Die Gründung Thebens ist in Dunkel gehüllt.In die Geschichte tritt die Stadt erst mit der 11. Dynastie (2850v. Chr.) ein, welche von Manetho eine thebaische genannt wird, undderen Gräber dort entdeckt wurden. Nach der Vertreibung derHyksos und mit der Herstellung der unter ihnen zerstörtenTempel, also unter der 18. Dynastie (1706), begannen die herrlichenBauten zu entstehen, welche, im Lauf der folgenden elf Jahrhunderteverschönert, vergrößert und vermehrt, die Stadt zumWunder der Alten Welt erhoben haben. 527 wurde ihr durch Kambysesder erste Stoß versetzt; die Verwüstung undPlünderung durch die Perser war derart, daß T. niewieder sich zu altem Glanz erheben konnte. Die Verlegung derResidenz unter den letzten Dynastien nach den Städten desDeltas und der Aufschwung Alexandrias unter den Ptolemäernentzogen ihr die Lebenskraft. 84 endlich brachte ihr dieEmpörung gegen Ptolemäos Soter II. Lathyros denUntergang. Erbittert durch ihren dreijährigen Widerstand,verheerte sie der siegreiche König mit Feuer und Schwert, sodaß Strabon hier nur einige ärmliche Ortschaften um dievier Haupttempel gruppiert fand. Das Gebiet von T. nehmengegenwärtig vier Dörfer: Luksor, Medinet Habu, Karnak undKurnah, ein, mit den noch erhaltenen großartigen Ruinen deralten Stadt

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Theben - Thecosmilia.

2) (Thebae) die größte Stadt in der griech.Landschaft Böotien, auf den Vorhöhen des Teumessos, wirdschon von Homer als die Stadt der sieben Thore (Thebe Heptapylos)genannt und war in der historischen Zeit der wichtigste Ort desBöotischen Bundes. T. lag in quellenreicher, hügeligerGegend über dem südlichen Rande der aonischen Ebene undhatte eine etwa 15 km lange Ringmauer. Die Stadt oder zunächstdie Burg Kadmeia wurde der Sage nach von Kadmos gegründet,nachdem er den Drachen getötet, der das Land verödete.Jedenfalls ließen sich bei T. phönikische Einwanderernieder, welchen dann griechische aus Kleinasien folgten, was dieSage von Amphion beweist, der durch seine Leier die Steineherbeilockte. Zu dem Geschlecht der Kadmeionen gehörte auchder Sohn des Laios, Ödipus (s. d.), der die Regierung seinenSöhnen Eteokles und Polyneikes mit der Bestimmungübergab, daß jeder allemal ein Jahr regieren sollte.Eteokles brach den Vertrag und veranlaßte dadurch denberühmten Zug der Sieben gegen T. (s. Sieben gegen Theben),dem 20 Jahre später der Zug der Epigonen, d. h. der Söhnejener Sieben, folgte, welcher mit der Niederlage der Thebaner beiGlisas und der Zerstörung des alten T. endete. T. gehörtezum Böotischen Bund (s. Böotien) und ward bald Sitz derBöotarchen und somit Hauptstadt des Bundes. 728 v. Chr.erhielt die Stadt von dem Bakchiaden Philolaos aus Korinth neueGesetze. Auf Athens wachsende Macht eifersüchtig und überden Abfall Platääs vom Böotischen Bund erbittert,begann es 507 einen Krieg gegen Athen, wurde aber besiegt. In denPerserkriegen stand T. mit Orchomenos auf der Seite der Perser underlitt mit diesen die Niederlage bei Platää 479, woraufdie Häupter der persischen Partei hingerichtet wurden. ThebensAnsehen hatte infolgedessen so gelitten, daß Athen durchErrichtung demokratischer Verfassungen in den böotischenStädten Thebens Einfluß wiederholt zu brechen undBöotien seiner eignen Hegemonie zu unterwerfen suchte. Nachdemdurch den Sieg bei Önophyta 456 Böotien (außer T.)für den Athenischen Bund gewonnen worden war, schlugen die ausBöotien Verbannten im Verein mit den Orchomeniern einathenisches Heer unter Tolmides 447 bei Koroneia, wodurchBöotien sich vom Athenischen Bund wieder losriß.Zugleich wurde die aristokratische Verfassung in T.wiederhergestellt. Im Peloponnesischen Kriege gehörte T. zuden erbittertsten Feinden Athens und versuchte 431 vergeblich,Platää zu erobern; erst 427 gelang ihm dieZerstörung dieser Stadt. 410 schloß es einen neuen Bundmit Sparta. Als nach dem Sturz der Demokratie in Athen die 30Tyrannen eine Schreckensherrschaft daselbst führten, sammeltensich besonders in T. die athenischen Flüchtlinge und besetztenvon hier aus 403 unter Thrasybulos die kleine Grenzfeste Phyle undspäter den Piräeus. Infolge dieses Umstandes und zugleichaus Eifersucht auf die wachsende Macht Spartas nahm T. wieder einedemokratische Verfassung an. Auch begann es 395 in Verbindung mitKorinth und Argos offenen Krieg, den Korinthischen (s. d.), gegenSparta, ward aber 394 bei Koroneia geschlagen. Beim Ausbruch desolynthischen Kriegs (382) besetzte der spartanische FeldherrPhöbidas durch einen Handstreich die Burg von T., stellte dieHerrschaft der Aristokratie wieder her und schickte dieHäupter der demokratischen Partei in die Verbannung. Aberschon 379 kehrte Pelopidas (s. d.) mit den übrigenFlüchtlingen nach T. zurück, stürzte dieAristokraten und erzwang mit Hilfe eines athenischen Heers dieRäumung der Burg. T. schloß hierauf ein Bündnis mitAthen, Pelopidas u. Epameinondas (s. d.) aber traten an die Spitzedes Staats. Zwei Einfälle der Lakedämonier wies T. mitHilfe der Athener ab, ja es unterwarf sich auch die übrigenböotischen Städte. Als die Thebaner 371 den allgemeinenFrieden nicht annahmen, weil die Spartaner die Auflösung desBöotischen Bundes forderten, begann der thebanische Krieg, inwelchem T. durch des Epameinondas Sieg bei Leuktra (371) dieHegemonie errang. Es stürzte auch Spartas Macht auf demPeloponnes, indem Epameinondas den Arkadischen Bund stiftete unddie Unabhängigkeit Messeniens wiederherstellte; ja, es strebtesogar nach einer Seeherrschaft. Jetzt glaubte selbst Athen, ThebensÜbermacht fürchten zu müssen, und trat auf SpartasSeite über, und nach des Epameinondas Sieg und Tod beiMantineia (362) sank Thebens Macht wiederum, welche nur durch dasGenie seiner beiden größten Staatsmänner so hochgestiegen war. Neid und Haß trieben T. an, Phokis, das sichihm nicht unterwerfen wollte, durch das Amphiktyonengericht wegenVerletzung des delphischen Tempelgebiets zu einer hohen Geldstrafeverurteilen und sich zum Vollstrecker bestellen zu lassen.Hierdurch erregte es den zweiten Heiligen Krieg (355-346), in demes jedoch unterlag, worauf es Philipp von Makedonien zu Hilfe riefund ihm Gelegenheit gab, sich in Hellas festzusetzen. Erst nachdemdie Amphiktyonen 339 den Lokrern von Amphissa den zweiten HeiligenKrieg erklärt und Philipp herbeigerufen hatten, ihr Urteilgegen die Lokrer zu vollstrecken, und dieser Elateia besetzte,griffen die Athener und Thebaner zu den Waffen gegen jenen, erlagenaber in der Schlacht bei Chäroneia 338. T. mußte daraufmakedonische Besatzung in die Kadmeia aufnehmen. Nach Philipps Tod(336) empörte sich T. gegen Alexander (335) auf die falscheNachricht von dessen Tod. Schon nach zwölf Tagen stand dieservor der Stadt und zerstörte sie nach dem Beschluß deskorinthischen Synedrions; 6000 Thebaner fielen, 30,000 wurden alsSklaven verkauft. Erst 315 wurde T. von Kassandros mit Hilfe derAthener wieder aufgebaut und stand nun unter makedonischerHerrschaft. Im achäischen Krieg 146 schloß es sich derKriegserklärung der Achäer an die Römer an; nachVerlust der Schlachten bei Skarpheia und Leukopetra flohen aber dieEinwohner Thebens nach dem Peloponnes, und T. verödeteseitdem. Pausanias fand nur noch die Burg und einige Tempel vor. Im2. Jahrh. n. Chr. war die untere Stadt schon gänzlichverschwunden. In neuerer Zeit hat man den Kabirentempelausgegraben. Aus Thebens Gebiet stammte Pindar. An Stelle derphönikischen Burg Kadmeia erhob sich Thivä (s. d.).

Theben (ungar. Dévény), Markt undDampfschiffstation im ungar. Komitat Preßburg, an derMündung der March in die Donau und am Fuß des 513 mhohen Thebner Kogels, mit dem die Kleinen Karpathen amDonaudurchbruch (der Porta Hungarica) dem Leithagebirgegegenüber beginnen, hat (1881) 1655 meist deutsche Einwohner,die bedeutenden Handel mit Gemüse treiben. In der NabeT.-Neudorf, Station der Wien-Preßburger Bahnlinie, an derMarch, über welche eine Brücke nach dem kaiserlichenJagdschloß Schloßhof führt, mit 1711 meist slowak.Einwohnern.

Theca (lat., "Büchse"), die Frucht der Moose (s. d.,S. 790); das Antherenfach der Staubgefäße (s. d.): beiPilzen der Sporenschlauch (s. d.).

Thecosmilia, s. Korallen.

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Thé dansant - Thee.

Thé dansant (franz., spr. dangssang), einTanzfest, wobei Thee gereicht wird; ein kleiner Ball.

Thedinghausen, Flecken im Herzogtum Braunschweig, KreisBraunschweig, Exklave in der preuß. Provinz Hannover,südöstlich von Bremen, aus den Orten Bürgerei, Hagenu. Westerwisch bestehend, hat eine evang. Kirche, ein Amtsgericht,Vieh- und Pferdehandel und (1885) 1697 Einw.

Thee (Theestrauch, Thea L.), Gattung aus der Familie derTernströmiaceen, immergrüne Sträucher oder kleineBäume mit abwechselnden, lederigen oder krautigen,glänzenden, meist gesägten, einfachen Blättern,achselständigen, einzeln oder in Büscheln stehenden,weißen oder rosenroten Blüten und holzigen,dreifächerigen, dreisamigen Kapseln. Die wenigen Arten dieserGattung sind im obern Indien, in China und Japan heimisch. Diewichtigste Art der auf Ostasien beschränkten Gattung (mitwelcher oft die Gattung Camellia vereinigt wird), T. chinensisSims., ein 1-3, selbst 10 m hoher Strauch mit kahlen oderseidighaarigen Zweigen und Blattstielen, lanzettlichen, verkehrteilanzettlichen oder länglich-eiförmigen, spitzen, seltenstumpfen, gesägten, kahlen und glänzenden Blättern,ziemlich großen, weißen, rosa angehauchten,wohlriechenden Blüten, braunen, dreikantigen Kapseln undkirschkerngroßen, glänzend braunen Samen mit gelbemNabel, variiert ungemein und hat im Lauf einer mehr alstausendjährigen Kultur zahlreiche Spielarten ergeben, welcheziemlich konstant sind (man unterscheidet T. viridis L. [s. Tafel"Genußmittelpflanzen"], mit langen, breit lanzettlichen, T.Bohea L., mit kürzern, mehr verkehrt eirunden, und T. strictaHayne, mit schmälern Blättern als die vorige und straffaufrechten Ästen), und von denen die breitblätterige T.assamica Lindl., welche in Assam einen hohen Baum bildet,vielleicht die Stammpflanze ist. Genau kennt man das Vaterland desThees nicht, doch ist dasselbe wahrscheinlich in Oberassam zusuchen. Durch die Kultur ist der Theestrauch bis 40°nördl. Br. verbreitet, namentlich in China und Japan, auch inKotschinchina, Korea, Indien, Java, Sumatra und in Amerika. DerTheestrauch wird in China vorwiegend zwischen dem 25. und 31.°nördl. Br., besonders in den Provinzen Kuangtung, f*ckian,Kiangsi, Tschikiang und Nganhui, gewöhnlich auf densüdlichen Abhängen der Hügel kultiviert, wohlniemals aber in eignen, ihm allein gewidmeten Anlagen, sondernentweder in zerstreuten Büschen oder in Reihen zwischen denFeldern, nicht selten zwischen den Reisfeldern auf den mehr oderweniger hohen Dämmen. Man pflanzt den T. durch Samen fort,versetzt die etwa einjährigen Sämlinge in Reihen, 1,25 mvoneinander entfernt, stutzt die Pflanze im dritten Jahr auf etwa60 cm und sammelt die neuentwickelten Blätter vom April bisSeptember. Die kaum aus den Knospen sich entwickelnden, seidenartigglänzenden, weißlichen Blättchen heißen nachder Zubereitung Theeblüten. Im siebenten Jahr schneidet manden Strauch nahe am Boden ab, damit die Stümpfe neueSchößlinge und zarte Blätter treiben. Diegeernteten Blätter läßt man an der Luft auf Mattenwelken, knetet sie dann mit nackten Füßen in Kübelnzu einer Kugel und erhitzt sie unter beständigem Mischen aufeinem seichten Bambusgeflecht über Kohlenfeuer, rollt sie,indem man die flach aufgelegten Hände im Kreisherumführt, und trocknet sie an der Luft. Dann folgt dasSieben, Sichten, Mischen und Auslesen, worauf man die Blätternoch einmal erhitzt, um alle während der Bearbeitungaufgenommene Feuchtigkeit zu beseitigen. Das Verfahren weichtübrigens in verschiedenen Gegenden sehr voneinander ab, unddie auf eine oder die andre Weise provisorisch zubereitetenBlätter werden von den Agenten der Theehändler angekauftund in den größern Handelsplätzen weiterbearbeitet. Man erhitzt sie unter beständigem Mischen aufeisernen Pfannen über Aschenglut viermal abwechselnd mitAuslegen des erhitzten Thees an die Sonne oder in einen luftigenRaum, rollt dabei die Blätter noch besser ein, röstet sieund parfümiert sie für den europäischen Geschmackmit den Blüten von Camellia sasaqua, Aglaia odorata, Gardeniaflorida, Olea fragrans, Jasminium Sambac und paniculatum,Orangenblüten etc. Abgesehen von dem Einfluß derBeschaffenheit der ältern oder jüngern Blätter aufdie Qualität des Thees verdanken die verschiedenenHandelssorten ihren Ursprung ausschließlich einerverschiedenen Zubereitungsweise, und der schwarze und grüne T.können von derselben Pflanze gewonnen werden, wenn man dieBlätter so schnell trocknet, daß sie ihre Farbebehalten, oder so langsam, daß der Blattsaft einerGärung unterliegt. Den grünen T. bereitet man in derProvinz Hupei aus den im Anfang der Saison gewonnenen feinhaarigenKuppen der jüngsten Zweige. Der beste schwarze T., welchervier Fünftel der Gesamtausfuhr nach England ausmacht, kommtaus dem Distrikt Kienningfu in der Provinz f*ckian, von denberühmten Boheahügeln, und führt im Handelunzählige Namen, welche hauptsächlich auf dieLokalitäten, wo derselbe wächst, oder auf dieEigentümer des Grundstücks sich beziehen. Der bestegrüne T. kommt aus Huangho und Santotschu und soll um so mehran Güte abnehmen, aus je weiter nördlich von Kantongelegenen Distrikten er auf den Markt gebracht wird. In Japan bautman den T. von 33-36° nördl. Br., und die bedeutendstenTheedistrikte befinden sich nordöstlich und östlich vonOasaka in den Provinzen Yamasiro und Ise sowie südlich vomFusijama. Man pflanzt die Sträucher um die Felder meistzwischen Maulbeerbäumen; doch soll es auch eigne, vomTheestrauch allein eingenommene Pflanzungen geben. Die Kultur istähnlich der chinesischen. Die Blätter werden sofort ineisernen Pfannen über Kohlenfeuer unter fortwährendemMischen mit den Händen etwa 40 Minuten gewärmt, dann aufMatten ausgebreitet, mit den Händen gerollt und getrocknet.Alle diese Operationen werden mehrmals wiederholt. Man behandeltdie Blätter aber auch auf Sieben zunächst mit Wasserdampfund trocknet sie, nachdem sie braun geworden, auf einer Matte. Diegetrockneten Blätter werden auf einem Rahmen mit Papierbodenoder in eisernen Pfannen über Kohlenfeuer erhitzt undschließlich gerollt. Das Produkt ist ein grüner,starker, im ganzen aber geringerer T. als der chinesische. Manunterscheidet die Sorten hauptsächlich nach ihrerQualität und nicht, wie in China, nach der Provenienz. Derjapanische T. geht meist nach Nordamerika. Die TheegärtenIndiens befinden sich in den Distrikten Assam, Dakka (Kachar,Silhet) und Dardschiling der Provinz Bengalen und in demKangradistrikt des Pandschab. Die Pflanzungen auf den Nilgiri(Präsidentschaft Madras) sowie jene in den Nordwestprovinzenund in Britisch-Birma sind von geringerer Bedeutung. Die Kultur istim wesentlichen dieselbe wie in China, und man produziert auch hierzum weitaus größten Teil schwarze Thees, indem man dieBlätter eine Woche welken läßt, zufaustgroßen Kugeln zusammenknetet und rollt und dann zweiStunden unter feuchten Tüchern einer

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Thee (Physiologisches, Bereitung, Handelssorten).

Gärung überläßt, wobei sich dieBlätter braun färben. Nun erhitzt man die wiederisolierten Blätter unter fleißigem Umrühren etwadrei Minuten in eisernen Pfannen, rollt sie von neuem, setzt sie indünner Schicht einige Stunden der Luft aus und erhitzt siedann, mit Matten bedeckt, etwa 24 Stunden, wobei sich das herrlicheAroma entwickelt. Zuletzt folgt das Auslesen und Sortieren. Nachder Qualität unterscheidet man Orange-Flowery-Pekoe,Flowery-Pekoe, Pekoe, Broken-Pekoe, Pekoe-Dust, Pekoe-Souchong,Souchong, Broken-Tea, Kongoe, Dust. Der indische T. zeichnet sichdurch Stärke und durchdringendes Aroma aus und eignet sichdeshalb vortrefflich zur Mischung mit schwächeren chinesischenT. Die Sorten führen dieselben Bezeichnungen wie diechinesischen. Der größte Teil geht nach England. Deranfangs sehr schlechte Javathee hat sich durch Verbesserungen inKultur und Zubereitung sehr gehoben; er ist herber und stärkerals Chinathee, ohne den Assamthee an Wohlgeschmack zu erreichen.Die in Amerika unternommenen Versuche der Theekultur in Brasilienund den Südstaaten der Union haben bis jetzt wenigBedeutung.

[Physiologisches. Bereitung.] Die Theeblätter enthaltenKaffein (Thein), Gerbsäure, Boheasäure, Gallussäure,Oxalsäure, Quercitrin, ätherisches Öl,Eiweißstoff (wahrscheinlich Legumin) etc. Der Kaffeingehaltschwankt zwischen 0,8 und 5 oder 6,2 Proz., beträgt imDurchschnitt 2 Proz., kann aber durchaus nicht als Wertmesser desThees gelten, da bei den grünen Sorten die wohlfeilern anKaffein reicher sind als die im Handel höher geschätzten,während beim schwarzen T. das Umgekehrte stattfindet. Dergrüne T. ist reicher an Gerbsäure als der schwarze, beidessen Bereitung ein Teil derselben, wie es scheint durch denGärungsprozeß, zerstört wird. Schwarzer T.enthält durchschnittlich 10 Proz. Gerbsäure, und dieAbweichungen nach oben und unten überschreiten nicht 1,5 Proz.In den Aufguß gehen etwa 29-45 Proz. löslicher Stoffeüber. Unter den mineralischen Bestandteilen des Thees ist Kalivorherrschend, welches auch größtenteils in den Auszugübergeht, während Kalk, Magnesia, Phosphorsäure inden extrahierten Blättern bleiben. Auffallend ist, daßder Auszug trotz der Gerbsäure Eisen enthält. Diewirksamen Bestandteile des Thees sind das Kaffein und dasätherische Öl, während die Gerbsäure,wenigstens bei nicht übermäßigem Genuß, kaumin Frage kommt; einen Nahrungswert besitzt der T. nicht. Eräußert seinen erregenden Einfluß auf dasNervensystem, zumal auf das Gehirn, indem er wach erhält. DieKraft, erhaltene Eindrücke zu verarbeiten, wird durch denGenuß von T. gesteigert; man wird zu sinnigem Nachdenkengestimmt, und trotz einer gröern Lebhaftigkeit derDenkbewegungen läßt sich die Ausmerksamkeit von einembestimmten Gegenstand fesseln. Es findet sich ein Gefühl vonWohlbehagen und Munterkeit ein, und die produktive Thätigkeitdes Gehirns gewinnt einen Schwung, der bei der größernSammlung und der bestimmter begrenzten Aufmerksamkeit nicht leichtin Gedankenjagd ausartet. Wird der T. im Übermaßgetrunken, so stellt sich erhöhte Reizung des Nervensystemsein, die sich durch Schlaflosigkeit, allgemeines Gefühl derUnruhe und Zittern der Glieder auszeichnet. Es können selbstkrampfhafte Zufälle, erschwertes Atmen, ein Gefühl vonAngst in der Präkordialgegend entstehen. Da dasätherische Öl des Thees, in größerer Mengegenossen, narkotisch wirkt, so erklärt sich daraus dieEingenommenheit des Kopfes, die sich nachübermäßigem Theetrinken anfangs als Schwindel, dannals Betäubung zu erkennen gibt. Diese nachteiligen Wirkungenhat der grüne T. in viel stärkerm Maß als derschwarze. Der Chinese und Japaner trinkt den Aufguß desTheeblattes ohne jede Beimengung; in Europa setzt man dem T. wohlallgemein Zucker zu, häufig genießt man ihn auch mitMilch und verdeckt das Aroma oft vollständig durch Vanille,Rum etc. Asiatische Völker bereiten den T. auch mit Salz,Milch, Butter, Mehl sowie mit Betel, Soda, Gewürzen, und hierund da werden auch die erschöpften Blätter gegessen. ZurBereitung des Thees (einen Theelöffel voll T. auf die Personund einen auf die Kanne) spült man die (metallene) Kanne mitheißem Wasser aus, schüttet den T. hinein, gießtwenig kochendes Wasser hinzu, füllt nach 3 Minuten die Kannemit siedendem Wasser und läßt noch 5 Minuten ziehen.Nach einer andern beliebten Methode übergießt man den T.nur mit 1/5-¼ des erforderlichen siedenden Wassers,läßt 5 Minuten ziehen, gießt dann ab undfüllt nun die Tasse, indem man etwa ¼ Extrakt und¾ heißes Wasser hineingießt. Die Hauptsachebleibt immer, daß man gutes reines Wasser in einemGefäß erhitzt, welches niemals zu andern Zwecken benutztwird.

[Handelssorten.] Die bei uns gebräuchlichsten Handelssortendes chinesischen schwarzen Thees sind: Pekoe ("Milchhaar"), diefeinste Sorte, besteht aus zarten, jungen, schwarzbraunenBlättern, die besonders gegen die Spitze zu mit weißem,seidenartigem Filz (Blüte) bedeckt sind. Der Aufguß isthell, goldgelb. Kongoe (d. h. T., auf welchen Arbeit verwendetwurde), auch Kamp-hu genannt, kurze, dünne,schwärzlichgraue Blätter, liefert einen hellenAufguß von angenehmem Geruch; diese Sorte bildet zwei Drittelder gesamten englischen Einfuhr. Souchong (kleine Sorte),bräunliche, etwas ins Violette spielende, großeBlätter von Melonengeruch, gibt einen klaren, duftendenAufguß von süßlichem Geschmack. Diese Sorte bildetnamentlich den Karawanenthee, welcher auf dem Landweg nachRußland importiert ward und bei diesem Transport viel wenigerleidet als der T., welcher den Seeweg nimmt. Gegenwärtig hatdie Absendung von Theekarawanen fast ganz aufgehört, und wasvon Nishnij Nowgorod unter dem Namen Karawanenthee versandt wird,hat meist vorher den Weg über London und Königsbergdorthin genommen. Pouchong, breite, lange, stark gedrehteBlätter mit vielen Blattstielen, gibt einengrüngelblichen Aufguß von ambraartigem Geruch.Kaperthee, Kaper-Kongoe, die geringste schwarze Theesorte, wegenihrer Ähnlichkeit mit Kapern so genannt, bildet einen sehrbedeutenden Teil der europäischen Einfuhr. Von grünem T.unterscheidet man: Imperial- oder Kaiserthee (Kugelthee),kugelförmig zusammengerollte Blätter,großkörnig, bläulichgrün; Gunpowder(Schießpulver, Perlthee), kleinkugelig, dunkler; Haysan,seitlich zusammengerollte Blätter, grün, insBläuliche fallend; Younghaysan, Tonkay und Haysanchin. Eineeigentümliche Ware ist der Ziegelthee (Backsteinthee), welcheraus Theeblättern und -Stengeln, Abfällen aller Art vonder Bereitung des Thees dargestellt wird, indem man dieselbendämpft, zusammenpreßt, dabei in Form von Ziegeln bringtund trocknet. Dieser nur in China bereitete T. dient denNomadenvölkern Rußlands, den Kalmücken, Kirgisen,Baschkiren etc., als gewöhnliches und sehr beliebtesNahrungsmittel, welches mit Milch und Hammelfett gekocht wird. InNordasien gelten diese Ziegel auch als Handelsmünze.

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Thee, mongolischer - Thefillin.

Der T. unterliegt manchen Verfälschungen, besonders inKanton (daher die Handelsbezeichnung Canton made im Gegensatz zuCountry), aber auch in Europa. Sehr gebräuchlich ist dieFärbung des grünen Thees mit Berliner Blau, Indigo,Kurkuma und das Bestäuben (Glasieren) mit Gips; in Englandverfälscht man den T. mit Blättern von Schlehdorn, Ulme,Esche, Weidenröschen etc.; auch wird sehr häufig schoneinmal benutzter T. mit Katechu etc. wieder aufgefrischt. Bis zuBeginn der 70er Jahre lieferte China fast ausschließlich T.für den Weltmarkt, dann begann Japan sich zu beteiligen, undbald nachher trat Ostindien mit so bedeutenden Quantitätenauf, daß die monopolistische Stellung Chinas wesentlichgeschwächt ist. China exportierte 1885: 1,618,404 Pikulsschwarzen, 214,693 grünen T., 280,112 Ziegelthee und 15,505Staubthee, im ganzen 2,128,714 Pikuls = 128,7 Mill. kg im Wert von173 Mill. Mk. Dazu kommt die chinesische Theeausfuhr nach Sibirienund nach der Mongolei, so daß sich die Gesamtausfuhr für1885 auf 138,7 Mill. kg berechnet. Man nimmt an, daß dieAusfuhr etwa ein Drittel der Produktion beträgt.Außerdem lieferten für den Weltmarkt: Britisch-Ostindien31,2, Japan 16 (?), Java und Madura 2,4 (?), Ceylon und andreGebiete 1,8 Mill. kg. Der Gesamtexport beträgt 190,1 Mill. kggegen 120 im J. 1872. Der Theeverbrauch beträgt in einem Jahrpro Kopf der Bevölkerung in:

Austral. Kolonien 3,47 kg Portugal . . 0,05 kg

Großbritannien 2,16 - Schweiz . . . 0,05 -

Kanada . . . 1,67 - Norwegen . . 0,o4 -

Vereinigte Staate. 0,59 - Deutschland . 0,03 -

Niederlande 0,48 - Schweden . . 0,01 -

Dänemark . . 0,17 - Österreich . . 0,01 -

Europ. Rußland 0,17 - Belgien . . . 0,01 -

[Kulturgeschichtliches.] Der Gebrauch des Thees ist in Chinasehr alt. Ein buddhistischer Heiliger soll im frommen Eifer dasGelübde gethan haben, sich des Schlafs zu enthalten. Da ihnderselbe endlich doch überwältigte, so schnitt er zurSühne seine Augenlider ab und warf sie auf die Erde; aus ihnenerwuchs die schlasverscheuchende Theestaude. Dieser Heilige lebteangeblich im 6. Jahrh. Doch ist bekannt, daß der T. schonfrüher medizinisch benutzt wurde. Am Ende des 8. Jahrh. warderselbe in China schon besteuert, und um diese Zeit habenchinesische Bonzen den Strauch nach Japan verpflanzt, wo er baldebenso wie in China verbreitet wurde. Hier trinkt man ihnallgemein, wenn auch der Ärmere sich mit Surrogaten behilft,die auf dem Feld wild wachsen. Wie es scheint, hat der Mangel angutem Trinkwasser die Sitte des Theetrinkens sehr befördert;doch hat der T. jedenfalls auch in seiner Eigenschaft alsnarkotisches Genußmittel sich zahlreiche Freunde erworben. InAsien verbreitete sich die Sitte des Theetrinkens im 15. Jahrh.;die Araber, welche seit dem 9. Jahrh. mit China Handel trieben,beschrieben den T. unter dem Namen Scha, entsprechend demchinesischen Namen Tscha, welcher in f*ckian Tiä (daher T.)lautet. Europa erhielt die erste Nachricht vom T. 1559 durch diePortugiesen und Holländer, Maffei erwähnt ihn 1588 inseiner "Historia indica", und 1610 brachten die Holländer inBantam von chinesischen Kaufleuten erstandenen T. auf den Markt.1635 soll T. zuerst nach Paris gekommen sein; drei Jahrespäter erhielt ihn Rußland auf dem Landweg, indemrussische Gesandte ihn als Geschenk für den Zaren mitbrachten.1650 wurde der T. in England bekannt, und zehn Jahre spätertrank man ihn als kostbares Getränk in LondonerKaffeehäusern. 1665 brachte Lord Arlington den ersten T.direkt aus Ostindien, während die frühern Sendungen durchHolländer und andre Vermittler geschehen waren. Die Sitte desTheetrinkens machte indes zunächst langsame Fortschritte,zumal bald viele Feinde derselben auftraten, welche den Genußdes Thees wie den des Kaffee bekämpften. Dagegen rühmtenwieder andre (Molinari 1672, Albinus 1684, Pechlin 1684, Blankaart1686, Blegna 1697) den T. auf das lebhafteste, und besondersBontekoe, welcher Leibarzt des Kurfürsten von Brandenburg war,veröffentlichte 1667 eine Lobrede auf den T. voll argerÜbertreibungen. Er machte den T. zuerst in Deutschlandbekannt. Solange der T. Monopol einzelner Kompanien war und hochbesteuert wurde, blieb der Verbrauch beschränkt. Noch 1820erhielten Europa und Nordamerika nur 32 Mill. Pfd., wovon dreiViertel auf England entfielen. Seitdem hat sich durch Verminderungder Zölle und Aufhebung des Monopols der Ostindischen Kompanieder Verbrauch ungemein vergrößert. Wirklich zurVolkssitte ist das Theetrinken aber nur bei Holländern undEngländern geworden, durch welche es auch nach den Kolonienverpflanzt wurde. Sonst ist der Theekonsum nur noch inRußland, Skandinavien und den Küstengegenden desmittlern Europa von Bedeutung, in den übrigen Ländern hatdie Sitte nur in den Städten und den höhern Schichten derBevölkerung Eingang gefunden. 1825 entdeckte Bruce dieTheepflanze in Assam, und zehn Jahre später wurden die erstenRegierungspflanzungen gegründet und diese 1839 an die AssamTea Company abgetreten. 1851 betrug der indische Export nur 262,839Pfd., seit 1861 aber nahm derselbe einen rapiden Aufschwung. AufJava datiert die Theekultur seit 1825, und elf Jahre späterkam der erste Javathee nach Amsterdam. In Brasilien begann man 1812mit dem Theebau, ohne indes besonders gute Resultate zu erzielen;die Versuche in Nordamerika begannen etwa 1848 in Südcarolinaund Tennessee. In Europa wurde die erste Theestaude 1658 vonJonquet in Paris gepflanzt, in Südeuropa hält sie imFreien aus, und in Hohenheim bei Stuttgart überstand sie sogarden harten Winter von 1784. In Frankreich, Portugal, Kleinasien,auf St. Helena, Bourton und am Kap ist der Theebau ohnewesentlichen Erfolg versucht worden. Vgl. Jacobson, Handbuch derTheekultur (in holländ. Sprache, Batav. 1844); Bruce, Reporton the manufacture of teas (Lond. 1849); Ball, Cultivation andmanufacture of tea in China (das. 1848); Fries, Darstellung derTheekultur und des Theehandels in China (Wien 1878); Money,Cultivation and manufacture of tea (4. Aufl., Lond. 1888);Schwarzkopf, Der T., Bestandteile etc. (Halle 1881); Feistmantel,Die Theekultur in Britisch-Ostindien (Prag 1888).

Thee, mongolischer, s. Saxifraga.

Thee von New Jersey, Ceanothus.

Theebaum, weißer, s. Melaleuca.

Theeheide, s. Gaultheria.

Theekraut, mexikanisches, s. Chenopodium.

Theemaschine, s. Samowar.

Theer, s. Teer.

Thefillin (hebr., Gebetriemen, griech. Phylakterien, nachLuthers Übersetzung, Matth. 23,5, "Denkzettel"), bei den JudenPergamentstreifen, mit Bibelsprüchen (5. Mos. 6,4-9; 11,13-21;2. Mos. 13,1-16) beschrieben, die, in zwei würfelförmigeKapseln gelegt, beim werktägigen Morgengebet an die Stirn undan den linken Arm dem Herzen gegenüber mit ledernen Riemengebunden werden, um anzudeuten, daß man Gedanken und Herz aufGott

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Theïn - Thekla.

richten müsse. Eine Mißdeutung desursprünglichen Sinnes war es, wenn man sie für Amulettehielt (daher griechisch Phylakterien).

Theïn, s. v. w. Kaffein.

Theiner, Augustin, gelehrter kathol. Kanonist, geb. 11.April 1804 zu Breslau, studierte daselbst Theologie, dannPhilosophie und die Rechte, gab mit seinem Bruder Anton (s. unten)eine oppositionelle Schrift: "Die Einführung der erzwungenenEhelosigkeit bei den christlichen Geistlichen" (Altenb. 1828, 2Bde.; 2. Ausg. 1845), heraus, unternahm seit 1830 einewissenschaftliche Reise nach Wien, London und Paris und ging 1833nach Rom, wo er für den Ultramontanismus gewonnen ward. Seit1855 war er Präfekt des vatikanischen Archivs. Nichtbloß hat er des Baronius "Annales ecclesiastici" neuherausgegeben (Bar le Duc 1864 ff.) und fortgesetzt (Rom 1856-57, 3Bde.), sondern daneben auch eine große Anzahlselbständiger Schriften verfaßt, namentlichkirchenrechtlichen und kirchengeschichtlichen Inhalts, z. B.: "Dieneuesten Zustände der katholischen Kirche in Polen undRußland" (Augsb. 1841); "Geschichte der Zurückkehr derregierenden Häuser von Braunschweig und Sachsen in denSchoß der katholischen Kirche" (Einsiedeln 1843); "DieStaatskirche Rußlands im Jahr 1839" (anonym, Schaffh. 1844);"Zustände der katholischen Kirche in Schlesien von 1740 bis1758" (Regensb. 1852, 2 Bde.); "Über Ivos vermeintiichesDekret" (Mainz 1852); "Geschichte des Pontifikats Clemens' XIV."(Leipz. u. Par. 1853, 2 Bde.); "Documents inédits relatifsaux affaires religieuses de la France" (Par. 1858, 2 Bde.);"Monumenta vetera historica Hungariam sacram illustrantia" (Rom1859-60, 2 Bde.; "Vetera monumenta Poloniae et Lithuaniaegentiumque finitimarum historiam illustrantia" (das. 1860-64, 4Bde.); "Codex diplomaticus dominii temporalis S. Sedis" (das.1861-62, 3 Bde.); "Vetera monumenta Slavorum meridionaliumhistoriam illustrantia" (Bd. 1, das. 1863); "Vetera monumentaHibernorum et Scotorum historiam illustrantia" (das. 1864); "Lasouveraineté temporelle du Saint-Siège, jugéepar les conciles généraux de Lyon, en 1245, deConstance, en 1414" (Bar le Duc 1867). Diese Urkundenwerke wurdenin einer von ihm eigens eingerichteten Offizin im Vatikan gedruckt.Während des vatikanischen Konzils wurde T. gemaßregeltund ihm das Archivariat abgenommen, weil er beschuldigt war,verschiedene Aktenstücke den deutsch-österreichischenOppositionsbischöfen in die Hand gespielt zu haben. Dereigentliche Thäter war Friedrich in München. Währendletzterer in Theiners Auftrag anfing, die von diesem in dervatikanischen Bibliothek vorbereiteten "Acta genuina conciliiTridentini" (Agram u. Leipz. 1874, 2 Bde.) herauszugeben, starb T.10. Aug. 1874. Vgl. Gisiger, Vater T. und die Jesuiten (Mannh.1875). - Sein älterer Bruder, Joh. Anton, geb. 1799 zuBreslau, war seit 1824 außerordentlicher Professor desKirchenrechts daselbst; die in dem mit seinem Brudergemeinschaftlich herausgegebenen Buch über den Cölibathervortretende liberale Tendenz sowie seine Teilnahme an dendamaligen Reformbestrebungen des Klerus bewogen die Regierung, ihmdie Vorlesungen über Kirchenrecht zu untersagen; er wurdedaher 1830 Pfarrer, trat 1845 zum Deutschkatholizismus überund starb 1860 als Sekretär der Universitätsbibliothek inBreslau. Er schrieb unter anderm: "Das Seligkeitsdogma derkatholischen Kirche" (Bresl. 1847).

Theiothermin, s. Baregin.

Theïsmus (griech.), im Gegensatz zum Atheismusallgemeine Bezeichnung für jegliche Art von Gottesglauben;insbesondere in neuerer Zeit die Lehre von einem persönlichen,über die Welt ebenso erhabenen wie lebendig ihr nahen und siedurchweg bedingenden Gott, im Gegensatz nicht bloß zumPantheismus (s. d.), sondern auch zum Deismus (s. d.).

Theiß (ungar. Tisza, lat. als GrenzflußDaciens Tissus, Tisia oder Pathissus), der größteNebenfluß der Donau, der zweitgrößte FlußUngarns und der fischreichste Europas, entsteht im Komitat Marmarosauf den Waldkarpathen aus der Vereinigung der Schwarzen undWeißen T., fließt anfangs südlich durch engeGebirgspässe und wendet sich nach Aufnahme des Vissó,der Iza, des Taraczko, Talabor und Nagyág west- undnordwestwärts über Sziget nach Huszt. Bis hierher ist dieT. rein und schnell fließend, in der Ebene aber schleichendund schlammig. Nachdem sie sodann rechts die Borsova, links dieThur und die Szamos aufgenommen, fließt sie von Csapüber Tokay bis Szolnok gegen SW., dort wendet sie sichsüdwärts, welche Richtung sie, Csongrád undSzegedin berührend, bis zur Mündung in die Donau(unterhalb Neusatz), mit der sie in einer durchschnittlichenEntfernung von 90 km parallel läuft, beibehält. Die Ufersind meist flach und infolge der häufigenÜberschwemmungen sumpfig. Ihre Breite beträgt 160-320 m.Schiffbar wird sie bei Sziget, für größereFahrzeuge an der Hernádmündung, für Dampfboote,welche früher bis Tokay verkehrten, erst bei Szolnok, von woan sie ebenso große Lasten wie die Donau trägt. DerBácser oder Franzenskanal verbindet sie mit der Donau, derBegakanal mit der Temes. Seit längerer Zeit hat man neben derTheißregulierung auch die Trockenlegung der Ufermorästeund die Sicherung des Ufergebiets vor Überschwemmung begonnen,durch die unvollständige Durchführung aber anderseits dietiefern Gegenden geschädigt. Der Lauf der T. beträgt mitden Krümmungen 1308 km, der direkte Abstand von der Quelle nur467 km; ihr Gebiet umfaßt 146,500 qkm (2660 QM.). Der Laufist des sehr geringen Gefälles halber ziemlich träge; vonNamény bis zur Mündung sinkt der Wasserspiegel nur um40 m. Überschwemmungen der doppelt schnellern Donau stauen dieT. weit aufwärts. Nebenflüsse derselben sind rechts:Taraczko, Talabor, Nagyág, Borsova, Bodrog, Sajó(Hernád), Eger, Zagyva; links: Vissó, Iza, Szamos,Körös, Maros, Bega. Vgl. Hieronymi, DieTheißregulierung (Budapest 1888).

Theißblüte, s. Eintagsfliegen.

Theißholz (ungar. Tiszolcz), Markt im ungar.Komitat Gömör und Station der Ungarischen Staatsbahn, mit(1881) 3511 slowakischen und ungar. Einwohnern, Schafzucht,Käsebereitung, Eisensteinbergbau, bedeutendem Eisenwerk(Produktion 130,000 metr. Ztr.), Papierfabrik und einemSauerbrunnen.

Thekaspore (griech.), s. Sporen und Pilze, S. 66.

Thekla, die heilige, nach der Legende eine vornehmeJungfrau aus Ikonion, die vom Apostel Paulus zum Christentumbekehrt ward und ihm nach Antiochia folgte. Da sie das Gelübdeeines ehelosen Lebens gethan, hatte sie von seiten ihrer Familieund ihres Bräutigams heftige Verfolgungen zu erdulden undwurde endlich, von letzterm als Christin denunziert, im Zirkus denwinden Tieren vorgeworfen, von diesen aber, wie ein späteresMal von den Flammen, denen man sie preisgab, verschont. NachPaulus' Tod lebte sie bis ins hohe Alter in einer Höhle beiSeleukia. Ihr Tag ist der 23. September. T. ist die

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Thekodonten - Themistokles.

Heldin eines christlichen Romans aus dem 2. Jahrh., betitelt:"Die Akten des Paulus und der T.", der im wesentlichen nocherhalten ist und von Tischendors in den "Acta apostolorumapocrypha" (Leipz. 1851) herausgegeben wurde. Eine poetischeNachbildung der Legende verdankt man P. Heyse. Vgl. Schlau, DieAkten des Paulus und der T., und die ältere Theklalegende(Leipz. 1877); Lipsius, Die apokryphen Apostelgeschichten, Bd. 2(Braunschw. 1884-86).

Thekodonten, s. Reptilien, S. 738.

Thelemarken, Landschaft im norweg. Stift Christianssand(Amt Bratsberg), wird von einer Gebirgsmasse ausgefüllt, dieim Gausta (1884 m) ihren höchsten Gipfel hat. Die Gegend istreich an großen Seen, die ihr Wasser größtenteilsdem Norsjö abgeben, der wieder durch die 10 km lange Skienselvseinen Abfluß zum Meer hat. Am Gausta ist dasgroßartige Westfjorddal mit dem Wasserfall Rjukanbemerkenswert. Vornehmlich das nördliche T. wird seinerNaturschönheiten halber viel von Touristen besucht. DieBewohner sind ein kräftiger Schlag, rauh und keck, abergutmütig und höflich; sie haben in ihren Sitten noch vielOriginelles. Ihre Tracht besteht aus einer kurzen, grauen,grün besetzten Jacke, einem grauen, kurzen Beinkleid undSchuhschnallen; dazu tragen sie langes Haar und stets ein Messer ander Hüfte. In den hohen Teilen des Landes herrscht Armut, aberüberall findet sich eine gewisse Bildung. Zu dengrößern Gehöften gehört ein sogen. Staatshaus(Stue), das für die Gäste bestimmt tst, während derBesitzer in seinem Vorratshaus (Stolpebod, Stabur) wohnt, das aufschlanken geschnitzten Säulen ruht und ungeheure Eß- undKleiderschränke enthält. Der Wohlstand wird durch dieZahl der Pelz- und Wolldecken bestimmt. Ein andres Haus ist Schlaf-und Wohnstätte der Familie, und darüber sind die Kammernfür das Gesinde. Abgesondert steht auch das Feuerhaus oder dieKüche.

Thema (griech.), das Gesetzte, Aufgestellte; daher in derRhetorik der einer jeden stilistischen Darstellung zu Grundeliegende Hauptgedanke; in der Musik derjenige Gedanke (Satz) ineinem Tonstück, der dem ganzen Stück oder doch einergrößern Abteilung desselben zu Grunde gelegt ist, daherals Hauptgedanke am meisten wiederholt und in der Art weiterausgeführt ist, daß er in den verschiedensten Wendungenund Veränderungen und in verschiedenen Tonarten wiederkehrt.Bei den kontrapunktischen Formen (Fuge etc.) wird das T. auchSubjekt genannt. Vgl. Kompositionslehre und Fuge.

Themar, Stadt im sachsenmeining. Kreis Hildburghausen, ander Werra, Knotenpunkt der Linien Eisenach-Lichtenfels undT.-Schleusingen der Werraeisenbahn, hat eine evang. Kirche, eineRingmauer mit Türmen, ein Amtsgericht, Holzhandel, 2Dampfziegeleien, eine Dampfmahlmühle, Korbwarenfabrikation und(1885) 1694 Einw. Dabei die Ruine Osterburg und das Nadelöhr,ein Felsenriff, welches die Werra durchbrochen hat.

Themis, in der griech. Mythologie eine der Titaniden,Tochter des Uranos und der Gäa, war eine Zeitlang Inhaberindes delphischen Orakels, überließ dasselbe aber demApollon, als Zeus sie zu seiner zweiten Gemahlin erhob. Sie gebardemselben die Horen und die Mören (Parzen). In weitererAusbildung erscheint sie als Personifikation der gesetzlichenOrdnung. Dargestellt wird sie auf Münzen mit Füllhorn undWage, auch als Göttin der Gerechtigkeit, entsprechend derJustitia. Vgl. Ahrens, Über die Göttin T. (Hannov. 1862u. 1864).

Themistios, mit dem Beinamen Euphrades ("Wohlredner"),peripatetischer Philosoph und Rhetor aus Paphlagonien, lehrte inNikomedia, späterhin in Konstantinopel, wo er 355 Senator, 362Stadtpräfekt und, obgleich Heide, von Kaiser Theodosius zumErzieher seines Sohns Arcadius bestellt wurde; starb zwischen 387und 390. Außer einem Kommentar zu einigen Schriften desAristoteles (hrsg. von Spengel, Leipz. 1866; von Wallies in den"Commentaria in Aristotelem graeca" der Berliner Akademie, Bd. 23,Berl. 1884) besitzen wir von ihm 33 Reden, die unter andern Dindorf(das. 1874) herausgab.

Themisto, nach griech. Mythus Tochter desLapithenkönigs Hypseus und dritte Gemahlin des Athamas (s.d.), tötete aus Versehen ihre eignen Kinder und dann, nachdemsie ihren Irrtum erkannt, sich selbst.

Themistokles, berühmter athenischer Feldherr undStaatsmann, geboren um 527 v. Chr. zu Athen, Sohn des Neokles ausdem altattischen Stamm der Lykomiden, aber einer fremden(thrakischen oder karischen) Mutter, weswegen er nichtvollbürtig war, zeigte schon als Knabe hellen Verstand,treffende Urteilskraft, großes Selbstbewußtsein undhochstrebenden Geist, aber auch ein leidenschaftliches, trotzigesGemüt. Er erlangte durch seine geistige überlegenheit undKühnheit bald Einfluß bei der Bürgerschaft und warbemüht, sie für die Schaffung einer herrschenden Seemachtzu gewinnen. 493 zum Archonten erwählt, bewirkte er die Anlagedes neuen Hafens im Piräeus, ermutigte 490 die Athener zumWiderstand gegen die persische Übermacht und kämpfte alseiner der zehn Strategen in der Schlacht bei Marathon. Da er aberdie Rückkehr der Perser mit verstärkter Macht voraussah,welcher die Athener nur mit einer Flotte erfolgreich entgegentretenkönnten, so bewirkte er den Beschluß, die Einkünfteder Silberbergwerke von Laurion zur Erbauung von 100 neuen Schiffenzu verwenden, und setzte das Gesetz durch, daß die Flotteeinen jährlichen Zuwachs von 20 neuen Trieren erhalten sollte.Da Aristeides diese Beschlüsse für verderblich ansah undihrer Ausführung entgegenwirkte, wurde er 483 auf T.' Betriebdurch den Ostrakismos verbannt, und nun hatte T. allein dieHerrschaft in Athen und benutzte sie zur Vermehrung derSeerüstungen, so daß bald 200 Trieren fertig waren. Ander Spitze derselben nahm er an den Kämpfen von 480 (s.Perserkriege) teil, und ihm war es zu danken, daß diegriechische Flotte bei Artemision aushielt und die erstenKämpfe wagte; er bewog die Athener, ihre ganze Existenz derneuen Flotte anzuvertrauen, und führte endlich durch Ausdauerund List den Kampf bei Salamis herbei, der mit dem glänzendenSieg der Griechen endete. Hierauf zwang er die Kykladen zurUnterwerfung und zur Zahlung ansehnlicher Bußgelder.Mißgunst und Eifersucht bewirkten, daß T. nicht nur dengebührenden ersten Siegespreis nicht erhielt, sondern auchfür 479 nicht zum Feldherrn ernannt wurde. Athen wurde hierauf478 unter seiner Leitung wieder aufgebaut und befestigt. DenEinspruch Spartas gegen den Bau von Mauern beseitigte er durchList, zog sich aber dadurch dessen Haß zu. Auch derPiräeus wurde von neuem in großem Maßstabbefestigt, der Hafenbau vollendet und durch Beförderung derEinwanderung die junge Stadt bevölkert. Trotzdem verlor T.bald sein Ansehen und seinen Einfluß, weil er nicht frei vonEitelkeit, willkürlicher Gewalttätigkeit undBestechlichkeit war und deshalb von Aristeides verdunkelt wurde; daer diesem entgegenwirkte und das gute

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Themse - Thenenet.

Einvernehmen mit Sparta störte, wurde er 471 durch dasScherbengericht verbannt. Er begab sich nach Argos, mußteaber, als seine Feinde, die Spartaner, ihn der Teilnahme amHochverrat des Pausanias beschuldigten und in Athen seineVerurteilung und Verfolgung durchsetzten, 466 von da flüchten.Er ging nun über Kerkyra zu dem Molosserkönig Admetosund, als die Spartaner auch von diesem seine Auslieferungverlangten, 465 über Ephesos nach Susa zu dem PerserkönigArtaxerxes, der ihm die Einkünfte dreier Städieüberwies: Magnesia zum Brot, Lampsakos zum Wein, Myus fürdie Zukost. In Magnesia lebte T. längere Zeit als persischerSatrap in fürstlichem Prunk. Als er gerade nach Ausbruch desägyptischen Aufstandes eine persische Flotte gegen seineHeimat führen sollte, starb er plötzlich (um 460),vielleicht freiwillig durch Gift. Seine Freunde brachten seineGebeine heimlich nach Attika und setzten sie beim VorgebirgeAlkimos bei. Zu Magnesia zeigte man nachmals sein Grabmal und aufdem Markte daselbst seine Bildsäule. Die Briefe, welche wirunter seinem Namen besitzen, sind unecht, wie Bentley("Abhandlungen", deutsch von Ribbeck, Leipz. 1867) nachgewiesenhat. Sein Leben beschrieben Cornelius Nepos und Plutarch. Vgl.Finck, De Themistoclis Neoclis etc. aetate (Götting. 1849);Bauer, Themistokles (Merseb. 1881).

Themse (engl. Thames, franz. Tamise, im Altertum Tamesisoder Tamesa), der wichtigste Fluß Englands, entspringt alsChurn in den Cotswoldhügeln im S. von Cheltenham, wird durchden der Quelle Thames Head (115 m ü. M.) entströmendenBach verstärkt und vereinigt sich nach einem Laufe von 32 kmoberhalb Cricklade mit dem aus W. kommenden kleinernQuellfluß, der eigentlichen T. oder Isis. Der Flußstießt nun östlich an Lechdale vorbei, wo er fürBoote schiffbar wird, nimmt bei Oxford den von N. kommendenCherwell auf, verstärkt sich weiter unterhalb durch Thame (beiDorchester), Kennet (bei Reading), Loddon, Colne, Wey, Mole undBrent sowie unterhalb London durch Lea (s. d.), Ravensbourne,Darent und Medway (s. d.), berührt außer den obengenannten Orten noch Maidenhead (am malerischten Teil des Flusses),Windsor, Kingston und unterhalb London Greenwich, Woolwich,Gravesend und Sheerneß und fällt unterhalb letztererStadt in die Nordsee. Mitten in ihrer 7 km breiten Mündung,bei der "Nore" genannten Sandbank, liegt ein weltberühmtesLeuchtschiff. Das Flußgebiet der T. umfaßt 15,371 qkm(279 QM.) und gehört 14 Grafschaften an. Die direkteEntfernung der Mündung des Flusses von der Quelle beträgt201 km, der Stromlauf 346 km. Der unterhalb der Londonbrückegelegene Teil des Flusses, der eigentliche Hafen Londons,heißt Pool, aber gesetzlich erstreckt sich der Hafen bis zueiner Linie, welche man sich vom Nord Foreland bis zum Harwich Nazegezogen denkt. Die Breite des Flusses beträgt bei Gravesendnoch 731 m, bei der Londonbrücke 244 m. Die Tiefe bis dahinist nirgends unter 3,6 m. Die Flut steigt alle 12 Stunden 4-6 msenkrechter Höhe mit einer Schnelligkeit von 3-5 km auf dieStunde, so daß Schiffe bis zu 800 Ton. in die Catherinedocksdicht bei der Londonbrücke einlaufen können. Die Flutmacht sich bis Teddington, 29 km oberhalb der Londonbrücke,bemerkbar, wo die erste Schleuse ihrem weitern Fortschreiten einZiel setzt. Nur selten bildet sich Eis im Fluß; wohl aberüberschwemmt derselbe häufig seine Ufer, die unterhalbLondon meilenweit durch Deiche geschützt sind, da die dortigenMarschen bei hoher Flut 1 m unter dem Wasserspiegel liegen. InBeziehung auf den Handel ist die T. einer der wichtigstenFlüsse der Welt, indem an ihren Ufern London, diegrößte Handelsstadt der Welt, liegt. Ihre Wichtigkeitwird erhöht durch zahlreiche Kanäle, welche die T. mitfast allen Teilen Englands verbinden. Die wichtigsten unter ihnensind: der Thames- und Severnkanal, welcher Lechdale an der obern T.mit dem Severn und der englischen Westküste verbindet; derOxfordkanal, der von Oxford ins mittlere England führt; derWilts- und Berkskanal; der Grand Junctionkanal (s. d.), mitmehreren Zweigen, welcher London mit dem innern England verbindet.Gegen feindliche Angriffe ist die übrigens wegen derSandbänke sehr schwierige Themseeinfahrt durch in neuesterZeit sehr verstärkte Befestigungen geschützt. An derMündung des Medway in die T. liegt Sheerneß, den Zugangzum Kriegshafen Chatham versperrend. Weiter oberhalb verteidigenvier große Forts (bei Cliffe Creek, Coalhouse Point, ShorneCreek und Tilburn) den Zugang zu Gravesend. Vgl. "The royal riverT." (Lond. 1886).

Themsetunnel, ein Tunnel, welcher 2,1 km unterhalb derLondonbrücke unter der Themse weg führt und dieVerbindung zwischen den beiden Ufern herzustellen bezweckt, ohnedoch dem Schiffsverkehr auf dem Fluß hinderlich zu sein. Die1798 (von R. Dodd) und 1805-1808 gemachten Versuche schlugen fehl,und erst Marc Isambard Brunel (s. d.) gelang es, durch Erfindungdes Teredobohrers das Werk 1825 mit Aussicht auf Erfolg wieder inAngriff zu nehmen. Durch mehrere Unglücksfälleunterbrochen, wurde dasselbe 25. März 1843 von Page vollendet.Der Tunnel ist 361,8 m lang, 4,27 m breit, 5,18 m hoch, und seinBoden liegt 24,34 m unter dem Straßenniveau. Der Bau kosteteüber 9 Mill. Mk. 1869 ging derselbe in den Besitz einerEisenbahngesellschaft über, welche eine Verbindungsbahndurchgeführt hat. Weiter oberhalb liegt ein 1869-70 erbauterzweiter T. (Tower subway), 405 m lang und nur für denPersonenverkehr bestimmt. Ein dritter Tunnel soll jetzt weiterunterhalb gebaut werden.

Thenar, Daumenballen.

Thénard (spr. -ár), Louis Jacques,Chemiker, geb. 4. Mai 1774 zu Louptière im Departement Aube,studierte zu Paris, ward Professor der Chemie am Collège deFrance, später an der polytechnischen Schule und an derUniversität und 1833 Pair von Frankreich. 1840 legte er seineProfessur nieder und starb 20. Juni 1857 in Paris. ThénardsUntersuchungen, welche sich über fast alle Teile der Chemieerstreckten, waren zum Teil epochemachend für seine Zeit.Namentlich lieferte er in Gemeinschaft mit Gay-Lussac eine Reiheder wichtigsten Arbeiten. So entdeckten sie das Bor, dieAlkalisuperoxyde und das Baryumsuperoxyd, stellten zuerst dieAlkalimetalle ohne Anwendung einer galvanischen Batterie dar undbildeten die Elementaranalyse aus. T. entdeckte auch dasWasserstoffsuperoxyd und das Kobaltblau sowie eine neue Methode derBleiweißfabrikation, vervollkommte die Ölraffinerie etc.Seine Hauptschriften sind: "Traité de chimieélémentaire théorique et pratique" (6. Aufl.,Par. 1836, 5 Bde.; deutsch, Leipz. 1825-30, 7 Bde.) und "Recherchesphysico-chimiques" (mit Gay-Lussac, Par. 1811, 2 Bde.).

Thenardit, natürlich vorkommendes Glaubersalz(schwefelsaures Natron).

Thénardsblau, s. Kobaltblau.

Thenenet, ägypt. Göttin, Begleiterin des GottesMonth, eine Form der Hathor.

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Theobroma - Theodolit

Theobroma, s. Kakaobaum.

Theobromin C7H8N4O2, Alkaloid, findet sich zu 1,5 Proz.in den Kakaobohnen und wird dargestellt, indem man entöltenKakao anhaltend mit Wasser und wenig Schwefelsäure kocht, dieklare Abkochung mit Bleioxyd neutralisiert, filtriert, das Filtratgären läßt, kocht, mit Soda neutralisiert und dassich ausscheidende T. durch wiederholtes Lösen inSalpetersäure und Fällen mit Ammoniak reinigt. T. bildetein farb- und geruchloses, kristallinisches Pulver, schmecktbitter, ist wenig löslich in Wasser, kaum in Alkohol undAther, leicht in Ammoniak, sublimiert bei 290°, reagiertneutral, bildet leicht kristallisierbare, unbeständige Salzeund gibt in ammoniakalischer Lösung mit salpetersauremSilberoxyd einen Niederschlag von Theobrominsilber, welches mitJodmethyl Jodsilber und Kaffein (Methyltheobromin) bildet. T. wirktwie Kaffein, aber viel schwächer.

Theodat (Deodat), König der Ostgoten, letztermännlicher Sprößling des Königsgeschlechts derAmaler, Graf von Tuscien, ward von Amalasuntha nach ihres SohnsAthalarich Tod (534) zum Mitherrscher erkoren, obwohl er wegenseiner Habsucht und Gewaltthätigkeit allgemein verhaßtwar und schon in verräterischer Verbindung mit dem Hofe vonKonstantinopel stand, ließ, gereizt durch AmalasunthasVerachtung, diese 535 im Bad ermorden, benahm sich, unkriegerischund zu gelehrter Spielerei neigend, als Belisar das Ostgotenreichangriff, feig und kriechend demütig, erbot sich sogar, seinReich an Justinian abzutreten, und ward 536 von einem überseine Feigheit ergrimmten Goten ermordet. Vgl. O. Abel, T.,König der Ostgoten (Stuttg. 1855).

Theodéktes, griech. Redner und tragischer Dichter,aus Phaselis in Lykien, trug achtmal den Sieg davon, so 351 v. Chr.mit seiner Tragödie "Mausolos" in dem tragischen Wettstreit,welchen die Königin Artemisia zu Ehren ihres verstorbenenGemahls Mausolos veranstaltet hatte. Von seinen Tragödien sindnur unbedeutende Bruchstücke übrig (abgedruckt bei Nauck,"Tragicorum graecorum fragmenta", Leipz. 1856). Vgl. Märcker,De Theodectis vita et scriptis (Bresl. 1835).

Theodelinde, Königin der Langobarden, Tochter desBayernherzogs Garibald, ward 589 mit dem langobardischen KönigAuthari, der unerkannt um sie warb, vermählt, reichte nachdessen Tod (590) dem Herzog Agilulf von Turin die Hand undverschaffte ihm dadurch die Krone, übte unter ihm und ihremSohn Adelwald (615-624) großen Einfluß auf dieRegierung aus und vermittelte namentlich den Frieden zwischen denarianischen Langobarden und der römisch-katholischen Kirche.Sie erbaute die Kathedrale in Monza, wo fortan die Eiserne Kroneaufbewahrt wurde.

Theoderich (got. Thiudareiks, "Volksherrscher",Theodorich, Theuderich, später Dietrich), Name zweierwestgotischer Könige: 1) T. I., 419-451, Nachfolger Wallias,wählte Tolosa zum Herrschersitz, besiegte 439 denrömischen Feldherrn Litorius, verband sich 451 mit Aetiusgegen die Hunnen und fiel, tapfer kämpfend, in der Schlachtbei Catalaunum.

2) T. II., 453-466, Sohn des vorigen, ermordete seinenältern Bruder, König Thorismund, regierte kräftigund focht siegreich, ward 466 von Eurich ermordet.

3) T. der Große, König der Ostgoten, geb. 454, Sohndes Amalers Theodemir, kam 462 als Geisel an den byzantinischenHof, an dem er zehn Jahre verweilte, nahm dann an seines VatersKämpfen teil, ward nach dessen Tod 475 König der Ostgotenund stand im Bund mit dem oströmischen Kaiser Zenon, der ihnmit Ehren und Würden Überhäufte und ihm dieErlaubnis erteilte, Italien für den Kaiser wiederzuerobern.488 zog er über die Ostalpen, schlug Odoaker 489 am Isonzo undbei Verona, 490 an der Adda, zwang ihn 493 in Ravenna zurÜbergabe und tötete ihn mit eigner Hand. Er nannte sichnun, obwohl er die Oberhoheit des byzantinischen Kaisersanerkannte, König von Italien und begründete dasostgotische Reich. Er erweiterte und sicherte dessen Grenzen nachaußen, erwarb Sizilien, die Alpenlande und die Provence,suchte den Frieden unter den germanischen Reichen aufrecht zuerhalten und ward von denselben als mächtiger Schiedsrichterhoch geachtet. Im Innern stellte er ebenfalls eine vortrefflicheStaatsordnung her. Seinen Goten wies er ein Dritteil desGrundbesitzes an und übertrug ihnen den bewaffneten Schutz desReichs; für die Italiker ließ er die römischeVerfassung, Gerichtsordnung und Gesetzgebung bestehen und suchtedieselben überhaupt durch Milde und Gerechtigkeit fürsich zu gewinnen, begünstigte den Ackerbau, errichteteGetreidemagazine, um der Teurung vorzubeugen, und schmücktedie größern Städie des Landes mit Kirchen,Palästen, Bädern, Wasserleitungen etc., wovon noch jetztÜberbleibsel vorhanden sind. Kurz, Italien begann unter seinerRegierung nach jahrhundertelanger innerer Zerrüttung undAnfeindung von außen sich aller Segnungen des Friedens wiederzu erfreuen. Dennoch gelang es ihm nicht, die Goten mit denRömern zu verschmelzen und die Abneigung des orthodoxen Klerusgegen die Herrschaft der arianischen Ketzer zu überwinden. DieRänke desselben verleiteten ihn 524 zur Hinrichtung derhochgeachteten Senatoren Boethius und Symmachus. Er starb 26. Aug.526, ohne einen Sohn zu hinterlassen, daher das Reich auf seinenzehnjährigen Enkel Athalarich, den Sohn seiner TochterAmalasuntha, überging. Auch in der Sage und im Lied lebte T.als Dietrich von Bern (s. d.) fort, und im deutschen Heldenbuch wieim Nibelungenlied wird er als einer der hervorragendsten Heldengefeiert. Vgl. Dahn, Könige der Germanen, Bd. 3 (Würzb.1866); Deltuf, Théodoric, roi des Ostrogothes (Par. 1869);Martin, T. der Große bis zur Eroberung Italiens (Freiburg1889).

Auch Name zweier fränkischer Könige aus dem Geschlechtder Merowinger: 4) T. I., außerehelicher Sohn Chlodwigs,folgte diesem 511 im Osten des Frankenreichs (Austrasien) mit derHauptstadt Reims, eroberte 530 das Thüringer Reich, dessenletzten König, Hermanfried, er hinterlistig tötete; starb534. - 5) T. II., Sohn Childeberts, erbte von diesem 596Burgundien, entriß seinem Bruder Theodebert 612 Austrasien,starb aber 613 in Metz.

Theodicee (griech., "Gottesrechtfertigung"), derreligionsphilosophische Versuch des Erweises, daß dasVorhandensein des Übels und des Bösen vereinbar sei miteiner weisen, gütigen und gerechten Vorsehung. Für dieälteste T. gilt gewöhnlich das Buch Hiob; aber Begriffund Aufgabe derselben stehen erst fest seit Leibniz' Schrift "Essaide théodicée sur la bonté de Dieu, laliberté de l'homme et l'origine du mal" (Amsterd. 1712).Vgl. Optimismus.

Theodolít (griech.), ein hauptsächlich zugeodätischen Zwecken, aber auch in der Astronomie benutztesWinkelmeßinstrument, besteht aus zwei geteilten Kreisen, vondenen der eine horizontal, der andre vertikal steht. DerHorizontalkreis ist in fester Verbindung mit dem massivendreifüßigen Gestell und kann

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Theodor - Theodora

mit Hilfe von Stellschrauben und einer Libelle genau horizontaleingestellt werden. In dem Kreis liegt ein zweiter, um einevertikale Achse drehbarer Kreis (Alhidadenkreis), welcher mitseinem Rand genau an den Horizontalkreis anschließt und anden Enden eines Durchmessers zwei Nonien zur Zählung der Gradeträgt. Senkrecht darauf steht ein fester Träger fürein Fernrohr mit Fadenkreuz, welches um eine mit demHorizontalkreis parallele Achse drehbar ist, und dessen Visierlinievon der Alhidadenachse geschnitten wird und auf der Drehachse desFernrohrs senkrecht steht. Fest verbunden mit der Drehachse desFernrohrs steht der Vertikalkreis, welcher alle Bewegungen desFernrohrs mitmacht. Zur Messung derselben dienen zwei feststehendeNonien, welche an dem Ende eines mit dem Horizontalkreis parallelenDurchmessers liegen. Nebenbestandteile sind die Klemm- undMikrometerschrauben für die grobe und feine Drehung desVertikal- und Alhidadenkreises und die Lupen zum Ablesen. Vondiesem einfachen T. unterscheidet sich der Repetitionstheodolit(MultipliKations-, Repetitionskreis) dadurch, daß er beieinmaliger Aufstellung und zweimaliger Ablesung ein beliebiggroßes Vielfache eines gegebenen Winkels zu messen gestattet,aus dem man durch Division leicht den einfachen Winkel finden kann.Man vermindert in dieser Weise den Einfluß derBeobachtungsfehler auf den gemessenen Winkel. Statt desHängekompasses, welcher nur eine geringe Genauigkeit der damitaufgenommenen Winkel gewährt, wendet man die Grubentheodolitean, welche sich von den andern nur dadurch unterscheiden, daßsie in der Regel mit einer Bussole umgeben sind. Über denmagnetischen T. s. Magnetometer. Kleine Theodolite mitdistanzmessendem Fernrohr, mit Bussole und Vertikalkreis werden alsTachymeter (Schnellmesser, daher Tachymetrie), Tacheometer,Tachygraphometer in der praktischen Geometrie zum Feldmessen undAbstecken heutzutage vielfach gebraucht. Vgl. Jordan, Handbuch derVermessungskunde (2. Aufl., Stuttg. 1878). Ein ähnlichesInstrument ist der Katersche Kreis. Große Theodolite mitVertikalkreisen genauester Konstruktion werden allgemeinUniversalinstrumente genannt. Offizinen zu deren Verfertigung:Breithaupt in Kassel, Ertel in München, Repsold in Hamburg,Kern in Aarau, Starke in Wien. Das Urbild des Theodolits ist dasvon Regiomontan im 15. Jahrh. erfundene Astrolabium, einKreisbogen, in dessen Zentrum behufs Horizontalwinkelmessung eineAlhidade (Zeiger, Radrus) sich drehte, über deren Endpunkteman mittels Diopter visierte, dann an der feststehendenGradeinteilung den Winkel ablas. Die Alhidade wurde später zumAlhidadenkreis erweitert, auf welchem sich ein Kippfernrohr mittelsBocks oder Säule erhob; dieses erhielt dann noch zurVertikalmessung den Vertikal- oder Höhenkreis. Das Ganze aufStativ befestigt, bildete nun den T.

Theodor (griech., "Gottesgabe" oder "Gottgeweihter"), 1)König von Corsica, s. Neuhof.

2) (Theodoros) König von Abessinien, eigentlich Kasa,geboren um 1820 im Land Quara als Sohn des dortigen StatthaltersHailu Marjam und einer Mutter niederer Abkunft, führte denTitel Ledsch (Prinz), ward in einem Kloster erzogen, widmete sichaber dem Kriegerstand, suchte sich an der Spitze einerRäuberbande im Kampf gegen Moslims und Heiden Ruhm und Machtzu erwerben, erhielt 1847 vom König von Gondar, Ras Ali, dieHerrschaft über ein großes Gebiet, stürzte daraufRas Ali durch den Sieg bei Aischal (1853) und ließ sich,nachdem er auch den König Ubieh von Tigré seinerHerrschaft beraubt hatte, 11. Febr. 1855 von dem Abuna Selama inder Kirche von Deresgeh Marjam unter dem Namen T. zum Königder Könige (Negus Negesti) von Äthiopien salben undkrönen. Er eroberte darauf auch noch das Land der Wollo Gallaund Schoa, mußte aber unaufhörlich gegen Aufständein diesen Ländern kampfen, welche seine Kraft aufrieben unddie Durchführung seiner Reformabsichten vereitelten. Dazukamen Streitigkeiten mit der mächtigen Geistlichkeit und mitEngland, das T. durch Nichtachtung beleidigte. Obwohl T. eigentlichdanach strebte, die europäische Zivilisation in seinem Landeinzuführen, wurde sein Zorn durch Anmaßung undTaktlosigkeiten der europäischen Konsuln und Missionäreso gereizt, daß er 1864 alle Europäer ins Gefängniswarf. Im unaufhörlichen Kampf mit Rebellen und der Ungunst desAuslandes waren seine Willkür und Grausamkeiten gewachsen. Alser 1866 den englischen Gesandten Rossam, der eineVerständigung versuchte, gefangen nahm und seine Auslieferungverweigerte, landeten die Engländer Ende 1867 bei Massaua unddrangen, von den Rebellen unterstützt, bis zur BergfesteMagdala vor, wo T. sie erwartete. Nach einer Niederlage seinesHeers bot er Frieden an, als aber die Engländer forderten, ersolle sich als Gefangener stellen, erschoß er sich selbst(14. April 1868). Sein Sohn Alemajehu wurde nach England gebracht,starb hier aber bald. Vgl. Acton, The Abyssinian expedition and thelife and reign of king T. (Lond. 1868).

Theodor Laskaris, Name zweier griech. Kaiser vonNikäa. 1) T. I., Schwiegersohn des oströmischen KaisersAlexios III., flüchtete 1204 nach der Einnahme Konstantinopelsdurch die Kreuzfahrer nach Kleinasien und gründete hier dasgriechische Kaiserreich von Nikäa, welches er in tapfernKämpfen gegen Lateiner und Seldschukken glücklichbehauptete. Er starb 1222.

2) T. II., Enkel des vorigen, Sohn des Kaisers Johann Vatatzes,folgte demselben 1254 auf dem Thron, kämpfte glücklichgegen die Bulgaren und den abtrünnigen Despoten von Epirus,starb aber schon 1258.

Theodora, 1) Gemahlin des oströmischen KaisersJustinian I., Tochter eines Zirkusbeamten, Acacius von Cypern, warfrüher Schauspielerin, Tänzerin und Hetäre, dann dieGeliebte und endlich die Gemahlin des Justinianus. Als derselbe 527den byzantinischen Thron bestieg, erhielt auch sie die Krönungvom Patriarchen und die Würde als Mitherrscherin. Sieübte eine bedeutende Gewalt über den Kaiser und gabvielfache Beweise von Klugheit und Mut, aber auch von Hochmut,Herrschsucht und rachsüchtiger Grausamkeit. Bei dem 532 inKonstantinopel ausgebrochenen Nika-Aufstand rettete sie ihrenGemahl, welcher den Mut verloren hatte und fliehen wollte, durchunerschrockenes Auftreten. Ihre vertraute Freundin war diesittenlose Gemahlin Belisars, Antonina, weswegen sie Belisarbegünstigte. Durch äußere Frömmigkeit undkirchliche Rechtgläubigkeit, durch Spenden und Stiftungen anKirchen, Klöster und Spitäler suchte sie ihrenfrühern Lebenswandel zu sühnen. Sie starb, 40 Jahre alt,548 an einer schrecklichen Krankheit. Prokopios hat in der"Geheimgeschichte" ("Anecdota") ein abschreckendes Bild ihrerSittenlosigkeit gegeben, welches die neuere Kritik aber als einsehr übertriebenes erkannt hat. Vgl. Debidour,L'impératrice T. (Par. 1885).

2) Gemahlin des oströmischen Kaisers Theophilos, nachdessen Tod 842 Regentin für ihren unmündigen Sohn MichaelIII. Schon bei Lebzeiten ihres bilder-

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Theodoretus - Theodotion.

feindlichen Gemahls heimlich dem Bilderdienst zugewandt, stelltesie nach ihrer Thronbesteigung denselben wieder her, entsetzte denwiderstrebenden Patriarchen Johannes und erhob Methodios an seineStelle. Sie wurde 856 auf Veranstalten ihres Bruders Bardas vonihrem Sohn in ein Kloster geschickt, später aber aus demselbenwieder entlassen und überlebte noch den Tod Michaels(867).

3) Tochter des oströmischen Kaisers Konstantin VIII., wurde1042 nach dem Sturz Michaels V. mit ihrer Schwester Zoe auf denKaiserthron erhoben, führte dann nach dem Tode der letzternund des dritten Gemahls derselben, Konstantin VII. Monomachos, 1054bis 1056 allein die Regierung. Mit ihr erlosch die von Basilius I.begründete makedonische Dynastie.

4) Römerin, Gemahlin des Konsuls Theophylactus, schön,klug und ehrgeizig, aber sittenlos, Mutter der Marozia und derjüngern Theodora, stand mit diesen an der Spitze derpatrizischen Partei und beherrschte mehrere Jahre Rom und denpäpstlichen Stuhl, auf den sie 914 Johann X., ihrenfrühern Geliebten, erhob.

Theodoretus, Kirchenhistoriker, geboren zu Antiochia,ward 420 Bischof in Cyrus am Euphrat, als Vertreter derantiochenischen Schule in den nestorianischen und eutychianischenStreitigkeiten zwar auf der sogen. Räubersynode in ein Klosterverbannt, vom Konzil zu Chalcedon aber als rechtgläubiganerkannt und starb 457. Seine Schriften wurden von Schulze undNösselt (Halle 1769, 5 Bde.) herausgegeben, die wichtigstedarunter, die "Historia ecclesiastica", welche die Zeit von 322 bis428 umfaßt, von Gaisford (Oxf. 1854). Vgl. Binder,Études sur Théodorète (Genf 1844); Bertram,Theodoreti doctrina christologica (Hildesh. 1883).

Theodorus von Mopsuëstia, griech. Kirchenvater, ausAntiochia gebürtlg, war anfänglich Mönch, seit 393Bischof von Mopsuestia in Kilikien, wo er 428 starb. Er war dererste Exeget seiner Zeit, zugleich der unbefangenste im ganzenkirchlichen Altertum. In der morgenländischen Kirche ward erals Anhänger des Pelagianismus sowie des Nestorianismus aufdem fünften ökumenischen Konzil als Ketzer verdammt. Diesyrischen Fragmente seiner Schriften gab Sachau (Leipz. 1869)heraus, die exegetischen Schriften Fritzsche (Zürich 1847) undSwete (Cambridge 1880 bis 1882, 2 Bde.). Vgl. Kihn, T. und Junilius(Freiburg 1880).

Theodosia, Stadt, s. Feodosia.

Theodosianus Codex (lat.), vom Kaiser Theodosiusveranstaltete und 438 als Gesetzbuch in 16 Büchern publizierteSammlung von Gesetzen, welche die Verordnungen von Konstantins d.Gr. Zeit bis auf die seinige umfassen. Gute ältere Ausgabensind die von Gothofredus (Leid. 1665) und Ritter (Leipz. 1736-45),die besten neuern lieferten Hänel (Bonn 1837-42) undKrüger (Berl. 1880).

Theodosius, 1) T. I., der Große, röm. Kaiser,geb. 346 n. Chr., war der Sohn des aus Spanien stammenden FlaviusT., der unter Valentinian I. in Britannien und Afrika dem Reich alsFeldherr bedeutende Dienste geleistet hatte, aber 376 in Ungnadefiel und hingerichtet wurde. Der Sohn hatte sich schon beiLebzeiten seines Vaters ebenfalls als Feldherr ausgezeichnet, zogsich aber nach dessen Hinrichtung auf sein Landgut in Spanienzurück, wo er in völliger Verborgenheit sich ganz denGeschäften der Landwirtschaft widmete. Als aber die Goten dieDonau überschritten und 378 in der Schlacht bei Adrianopel denKaiser des Ostens, Valens, geschlagen und getötet und fast dasganze Heer desselben vernichtet hatten, wurde er 379 von Gratianus(s. d.), dem Kaiser des Westens, berufen, um als Kaiser des Ostensdas Reich gegen die eindringenden Feinde zu verteidigen. Er brachtedie Goten teils durch glückliche Unternehmungen, teils durchUnterhandlungen dahin, daß sie sich 382 unterwarfen, woraufer ihnen feste Wohnsitze in Thrakien und Dacien anwies und einenTeil derselben in sein Heer ausnahm. Außer gegenauswärtige Feinde hatte er aber auch gegen innere Krieg zuführen. Als Maximus (s. d. 3), welcher bereits Gratiangestürzt hatte, auch Valentinian H. bedrohte, zog er 388 gegenMaximus und brachte ihm bei Siscia eine völlige Niederlagebei, und 394 unternahm er den Krieg gegen Arbogastes (s. d.),welcher, nachdem wahrscheinlich auf sein Anstiften Valentinian II.ermordet worden, Eugenius als Kaiser des Westens eingesetzt hatte;auch dieser wurde bei Aquileja völlig geschlagen und fand balddarauf den Tod. Auf diese Art wurde das ganze Reich zum letztenmalunter der Herrschaft Eines Kaisers vereinigt. Im Innern war T.besonders bemüht, die Arianer zu unterdrücken und demHeidentum ein Ende zu machen, weshalb er 381 auf dem Konzil zuKonstantinopel das Nicäische Glaubensbekenntnis fürallein gültig erklären ließ und 392 durch ein Ediktden heidnischen Kultus völlig verbot. Als er 390 die StadtThessalonich wegen eines Aufstandes durch ein grauenhaftes Blutbadzüchtigte, mußte er sich vor Bischof Ambrosius vonMailand einer Kirchenbuße unterwerfen. Er starb 17. Jan. 395in Mailand. Nach seinem Tod wurde das Reich unter seine beidenSöhne Arcadius und Honorius geteilt, die er schon bei seinenLebzeiten zu Mitkaisern ernannt hatte. Vgl. Güldenpenning undIfland, Kaiser T. d. Gr. (Halle 1878).

2) T. II., der jüngere, Sohn des Arcadius und der Eudoxia,Kaiser des oströmischen Reichs, geb. 401, folgte seinem Vater408 und stand bis 414 unter Vormundschaft des PräfektenAnthemius, worauf seine Schwester Pulcheria für ihn bis anseinen Tod die Herrschaft führte; er selbst verbrachte seineZeit mit Jagen und andern nutzlosen Beschäftigungen.Während seiner Herrschaft wurde ein Krieg mit Persiengeführt, welcher 422 durch einen nicht unrühmlichenFrieden beendigt ward; dagegen wurde das Reich seit 441 durch dieEinfälle der Hunnen unter Attila schwer heimgesucht, denen 447ein großer Strich Landes südlich der Donau abgetretenund, außer einer Summe von 6000 Pfd. Goldes, einjährlicher Tribut bewilligt werden mußte. An dentheologischen Streitigketten nahm T. eifrig teil. In dem Streitüber die natürliche Geburt Christi erklärte er sichunter Pulcherias Einfluß für die Lehre Cyrillus' undschickte den Patriarchen Nestorius in die Verbannung; späterwurde er für die Lehre des Entyches gewonnen und gerietdarüber in ein Zerwürfnis mit Pulcheria, welche 449 aufkurze Zeit vom Hof entfernt wurde. Noch ist zu bemerken, daßunter ihm 438 der Codex Theodosianus (s. d.), eine Sammlung derkaiserlichen Edikte von Konstantin d. Gr. bis auf die Gegenwart,veröffentlicht wurde. T. verheiratete sich 421 mit Athenais(s. d.), die nach der Taufe den Namen Eudotia erhielt, sich aber441 von ihm trennte. Er starb 450. Vgl. Güldenpenning,Geschichte des oströmischen Reichs unter den Kaisern Arcadiusund T. (Halle 1885).

Theodotion, Kirchenschriftsteller des 2. Jahrh.,über dessen Person und Heimat Widersprechendes berichtet wird,lieferte gleich seinem Zeitgenossen Aquila (s. d. 1) einegriechische Übersetzung des Al-

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Theodulie - Theologie.

ten Testaments, welche von Origenes in die "Hexapla" (s. d.)aufgenommen wurde.

Theodulie (griech.), Gottesdienst.

Theognis, griech. Elegiker, zwischen 540 und 470 v. Chr.,wurde als Anhänger der Aristokratie aus seiner VaterstadtMegara vertrieben und kehrte erst in spätern Jahren in dieHeimat zurück. Aus den Überresten seiner Elegien ersiehtman, daß dieselben mit seinen politischen Erlebnissen ininnigstem Zusammenhang standen. Den Untergang derselben hat ihraußerordentlicher Reichtum an Sentenzen herbeigeführt,die man schon frühzeitig auszog und zusammenstellte, um siefür den Jugendunterricht zu verwerten, wie dies namentlich inAthen geschah. Wir besitzen unter dem Namen des T. eine planlose,oft nach bloßen Stichwortern geordnete Sammlung von allerleidistichischen Sprüchen und Ermahnungen in 1389 Versen, unterdenen sich auch manches dem Dichter nicht Gehörige findet.Ausgaben besorgten Bekker (Berl. 1827), Welcker (Frankf. 1826),Orelli (Zürich 1840), Bergk (in "Poetae lyrici graeci"),Ziegler (2. Ausg., Tübing. 1880) und Sitzler (Heidelb. 1880);Übersetzungen liegen vor von Weber (Bonn 1834) und Binder(Stuttg. 1860).

Theognosie (griech.), Gotteserkenntnis.

Theogonie (griech.), die Lehre von der Abstammung derGötter, wie sie in mehreren alten Dichtungen der Griechenniedergelegt war. Erhalten hat sich davon nur die T. desHesiod.

Theok, Längenmaß, s. Thuok.

Theokratie (griech.), "Gottesherrschaft", Staatswesen,bei welchem die Gottheit selbst als oberster Regent gedacht ist;zunächst eine dem Josephus (gegen Apion, 2,16) entlehnteBezeichnung des Mosaismus, sofern hier der im Gesetz und durch denMund der Richter, Priester und Propheten sich kundgebende WilleGottes die oberste Norm für das Gemeinwesen war. ÄhnlicheVorstellungen sind übrigens dem antiken Staatswesenüberhaupt eigentümlich, und ihre großartigsteVerwirklichung fand die Idee eines "Gottesstaats" in dermittelalterlichen Kirche.

Theokritos, der Schöpfer und Hauptvertreter derbukolischen Poesie der Griechen, aus Syrakus oder Kosgebürtig, blühte um 270 v. Chr. und lebte teils inAlexandria, teils zu Syrakus. Unter seinem Namen besitzen wiraußer einer Anzahl von Epigrammen 32 größereGedichte, sogen. Idylle. Die meisten derselben haben einedramatische Form und sind teils künstlerische Nachahmungen desWechselgesangs der sizilischen Hirten, teils stellen sie Szenen desgemeinen Lebens dar, während andre mythologischeErzählungen enthalten, noch andre rein lyrischer Natur sind.Schon bei den Alten standen sie wegen des echten Dichtergeistes,der lebendigen und doch prunklosen Darstellung der Natur in hohemAnsehen. Wie die Form, ist auch die Sprache meist die epische,letztere jedoch zur Erhöhung des volkstümlichen Eindrucksin höchst kunstvoller Weise mit Formen des auf Sizilienheimischen dorischen Dialekts gemischt. Ausgaben von Valckenaer(mit Bion und Moschos, Leid. 1779, 1810), Meineke (ebenso, zuletztBerl. 1856), Ahrens (ebenso, Leipz. 1855-59, 2 Bde.; Textausg.,das. 1856), Ziegler (2. Aufl., Tübing. 1867), Fritzsche(3.Aufl., Leipz. 1881); Übersetzungen von Voß (2.Aufl.,Tübing. 1815), Eberz (Frankf. 1858), F. Rückert (im"Nachlaß", Leipz. 1867), Mörike und Notter (2. Aufl.,Berl. 1882). Ein "Lexicon Theocriteum" bearbeitete Rumpel (Leipz.1879).

Theolatrie (griech.), Gottesdienst.

Theologia deutsch, s. Deutsche Theologia.

Theologie (griech.), bei den Griechen die Lehre von denGöttern und göttlichen Dingen. Daher nannten die Griechendenjenigen einen Theologos, welcher über das Wesen und dieGeschichte der Götter Auskunft zu erteilen vermochte. Soführen diesen Namen der Syrer Pherekydes und der KreterEpimenides. Die alte Kirche nannte Theologen die Verteidiger derGottheit des Logos, wie den vierten Evangelisten und Gregor vonNazianz. Erst die Scholastik versteht unter T. den Komplex derchristlichen Lehre, und so spricht man noch heute im Unterschiedvon der gesamten Religionswissenschaft von T. im Sinn einerpositiven Wissenschaft, welche einer bestimmten geschichtlichenReligion gilt. Insonderheit ist die christliche T. dieFakultätswissenschaft der Diener der Kirche, wie dieJurisprudenz diejenige der Staatsdiener. Daraus ergibt sich teilsder wesentliche Unterschied der T. von dem Begriff der Religion (s.d.), teils ihr nahes Verhältnis zur Philosophie (s.Religionsphilosophie). Fast jedes philosophische System ist auf dieT. angewendet worden, und in langen Perioden der Geschichte bildetedie T. den alles bedingenden Hintergrund für die Geschichteder Philosophie. Formell ist man seit Schleiermacher ziemlichallgemein darin einverstanden, daß in der T. eine Reihe vonDisziplinen, welche der Sache nach in die Gebiete der Geschichte,der Philosophie und der Philologie gehören, im Interesse derKirchenleitung in eine, jeder dieser Disziplinen an sich fremde,Association versetzt wurde. Da es sonach bloß ein praktischerGesichtspunkt ist, welcher als zusammenhaltende Klammer fürdie sonst mannigfach divergierenden Beschäftigungen der"theologischen Fakultät" dient, würde an sich nichts imWeg stehen, ihre einzelnen Elemente in die ihnen natürlicheVerbindung zurücktreten zu lassen, wofern nicht ein leider oftallzu wenig erkanntes Interesse des Staats selbst es erheischte,die Kirche durch eine von ihm, nicht von ihr zu besetzendetheologische Fakultät in dem lebendigen und befruchtendenZusammenhang mit dem sich entwickelnden wissenschaftlichen,künstlerischen und politischen Bewußtsein der Zeit zuerhalten oder, wo dieser Zusammenhang verloren gegangen ist, ihnwiederherzustellen. Im übrigen unterscheidet manherkömmlicherweise innerhalb der T. als christlicher (bez.auch jüdischer) Religionswissenschaft die Hauptgebiete derhistorischen, systematischen und praktischen T. Die historische T.hat zum Gegenstand den Ursprung, den weitern Fortgang und diegegenwärtige Lage der Kirche und zerfällt daher wieder indie exegetische, kirchenhistorische und statistische T. Unter dererstern begreift man alles das, was auf das Bibelstudium oder aufdie Erklärung der Heiligen Schrift Alten und Neuen TestamentsBezug hat. Sie umfaßt außer der eigentlichen Exegeseauch die dazu nötigen Hilfswissenschaften. Diese sind: diebiblische Philologie, die Einleitungswissenschaft oder Isagogik unddie Hermeneutik. An die Quellen der Offenbarung reiht sich derInhalt derselben als eigentliche biblische Geschichte undArchäologie und als biblische Glaubens- und Sittenlehre(biblische T.) und wieder an die biblische Geschichte speziell diehistorische T. an, welche die Geschichte der Kirche seit ihrerEntstehung im nachapostolischen Zeitalter bis auf die neueste Zeitfortsetzt. Einige Zweige der Kirchengeschichte sind besondersbearbeitet worden, so: die Dogmengeschichte, die Symbolik, diePatristik, die kirchliche Archäologie, die Geschichte desKultus und der Kirchenverfassung, oft auch der christ-

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Theomantie - Theophano.

lichen Kunst und Sitte in den ersten Jahrhunderten, dieDarstellung des christlichen Lebens in den verschiedenenZeitaltern, die Missionsgeschichte und die Ketzergeschichte. Diekirchliche Statistik endlich ist die Darstellung desgegenwärtigen Zustandes der äußern und innern Lageder Kirche in den verschiedenen christlichen Ländern. Unterder systematischen T. begreift man die wissenschaftlicheDarstellung der christlichen Lehre, sowohl nach dem Glauben alsnach dem ihm entsprechenden sittlichen Leben. Die Dogmatik (s. d.)oder Glaubenslehre bildet eigentlich den Mittelpunkt der T., indemin ihr die Resultate der exegetischen und historischen T. zu einemgeordneten Ganzen verbunden werden. Als besondere Bestandteilegehören ihr an: die Apologetik, die Polemik und derenGegensatz, die Irenik. Die christliche Moral oder Sittenlehre hattefrüher als besondere Disziplinen neben sich die Kasuistik unddie Asketik. Die praktische T. würde, falls sich die obenangeregte Auseinandersetzung der theologischen mit derphilosophischen Fakultät vollziehen ließe, ganzaußerhalb der Universitätsstudien fallen und Sachekirchlicher Seminare werden, sofern sie die Theorie vonKirchenleitung und Kirchendienst darstellt. Auch sie umfaßtmehrere besondere Disziplinen, namentlich die Katechetik, Liturgik,Homiletik, Pastoraltheorie und unter Umständen dasKirchenrecht; wir verweisen auf die betreffenden Artikel.

Theologische Encyklopädie heißt diejenige Disziplin,welche den gesamten Organismus der theologischen Wissenschaftendarzustellen und in denselben einzuführen hat. Die neuestenWerke sind: Hofmann, Encyklopädie der T. (hrsg. von Bestmann,Nördling. 1879; Hagenbach, Encyklopädie und Methodologieder theologischen Wissenschaften (11. Aufl., hrsg. von Kautzsch,Leipz. 1884); Rothe, Theologische Encyklopädie (hrsg. vonRuppelius, Wittenb. 1880); Räbiger, Theologik oderEncyklopädie der T. (Leipz. 1880); Zöckler u. a.,Handbuch der theologischen Wissenschaften (3. Aufl., Nördling.1889 ff., 4 Bde.). Lexikalische Hilfsmittel: Herzogs"Realencyklopädie für protestantische T. und Kirche" (2.Aufl., Leipz. 1876-88, 18 Bde.); Holtzmann und Zöpffel,Lexikon für T. und Kirchenwesen (2. Aufl., Braunschw. 1888);Meusels "Kirchliches Handlexikon" (Lpz. 1885 ff.); Zellers"Theologisches Handwörterbuch" (Kalw 1889 ff.);katholischerseits: Wetzer und Weltes umfangreiches "Kirchenlexikon"(2. Aufl. von Hergenröther und Kaulen, Freiburg 1880 ff.) undSchäflers "Handlexikon der katholischen T." (Regensb. 1880-88,3 Bde.).

In den ersten Jahrhunderten war die T. wesentlich Exegese,zuerst des Alten, dann auch des Neuen Testaments; in dieserBeziehung unterschieden sich namentlich die Alexandrinische (s. d.)und die Antiochenische Schule (s. d.). Seit dem 3. und noch mehrseit dem 4. Jahrh. trat die Dogmatik in den Mittelpunkt der T.,während zugleich durch den herrschenden Gebrauch, auf KonzilenGlaubensgesetze aufzustellen, die Freiheit der theologischenForschung gehemmt wurde. Später trat die Macht der Päpstean die Stelle der Konzile. Nachdem so das Dogma durch dieHierarchie festgestellt war, fand die scholastische T. (s.Scholastiker) ihre Aufgabe in der Durchbildung des Lehrbegriffs imeinzelnen, namentlich aber in dem Nachweis seines innernZusammenhanges und in der philosophischen Begründung derKirchenlehre. Erst gegen Ende des 14. Jahrh. beginnt einedurchgreifende, auf das Wesen des Christentums zurückgehendeReformation der T. mit Wiclef, die durch Huß, aber auch durchseine Gegner, die nominalistischen Theologen Frankreichs,fortgesetzt, durch die Reformatoren vollendet und praktisch insWerk gesetzt wurde. Von diesem Zeitpunkt an durchläuft dietheologische Wissenschaft, als die Schöpferin einer neuenKirche, neue Phasen. Die Reformation brachte der evangelischen T.zunächst Freiheit der Forschung dadurch, daß sie dieHerrschaft und die Macht der bloßen Autorität überdie Geister brach und die Heilige Schrift als alleinigeErkenntnisquelle hinstellte. Im Gegensatz gegen die neue Fessel,als welche nun der Schriftbuchstabe in der zu einer zweitenScholastik erstarrten protestantischen T. des 17. Jahrh. auftrat,regte sich mit Erfolg das teils philosophisch fortgeschrittenere,teils historisch geschultere Bewußtsein des 18. Jahrh.,während das 19., besonders in Schleiermacher, mit derphilosophischen und historischen Unbefangenheit auch wieder einetiefere Würdigung des Wesens der Religion und der Interessender Kirche zu verbinden wußte. Gleichwohl ließen dierestaurativen Tendenzen, welche zeitweilig im Staate, dauernd inder Kirche die Herrschaft gewannen, es kaum zur Bildung einereigentlich freien, die Grundlage und Methode der übrigenWissenschaften teilenden T. kommen. Vgl. Holtzmann, ÜberFortschritte und Rückschritte der T. unsers Jahrhunderts(Straßb. 1878); Dorner, Geschichte der protestantischen T.(Münch. 1867); Werner, Geschichte der katholischen T. (2.Aufl., das. 1889).

Theomantie (griech.), im Altertum die Wahrsagungzukünftiger Dinge durch göttliche Eingebung, die weder aneinen bestimmten Ort noch an eine bestimmte Zeit geknüpft war,meist bei Privatangelegenheiten stattfand und sich vom Orakel (s.d.) ebenso wie von der Weissagung aus Opfern unterschied.

Theon, 1) T. von Smyrna, griech. Philosoph um die Mittedes 2. Jahrh. n. Chr., verfaßte ein für die Kenntnis deraltgriechischen Arithmetik wichtiges Werk über die zumVerständnis des Platon nötigen mathematischen,musikalischen und astronomischen Sätze (hrsg. von Hiller,Leipz. 1878).

2) T. von Alexandria, griech. Mathematiker und Astronom, gegenEnde des 4. Jahrh. n. Chr. in Alexandria lebend, Vater der Hypatia(s. d.), schrieb unter anderm Kommentare zu Eukleides undPtolemäos. Seine Schriften gab Halma (Par. 1821-23, 2 Bde.)mit französischer Übersetzung heraus.

3) Älios, aus Alexandria, griech. Rhetor des 5. Jahrh. n.Chr., ist Verfasser einer trefflichen Anleitung, sogenannter"Progymnasmata" (hrsg. von Finckh, Stuttg. 1834, und in den"Rhetores graeci" von Walz und von Spengel).

Theophanes, mit dem Beinamen Isauricus oder Confessor,byzantin. Geschichtschreiber, geb. 758 zu Konstantinopel,bekleidete daselbst mehrere Hofämter, ward dann Vorstehereines Klosters in Bithynien, aber als Bilderverehrer von Kaiser LeoIII. verbannt und starb 817 in Samothrake. Er verfaßte eine"Chronographia" (hrsg. von Classen und Becker, Bonn 1839-41, 2Bde.; von Boor, Leipz. 1883-85, 2 Bde.).

Theophanie (griech., "Gotteserscheinung"), in derchristlichen Kirche s. v. w. Epiphania (s. d.).

Theophano (Theophania), Kaiserin, Tochter desoström. Kaisers Romanos II. und der berüchtigtenTheophano, welche 963 Romanos und 969 ihren zweiten Gemahl,Nikephoros Phokas, ermorden ließ, geb. 960, ward 972 mit demjungen Kaiser Otto II. in Rom vermählt. Sie war eine Frau vonhoher Schönheit, starkem Geist und feiner Bildung,erlangte

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Theophilanthropen - Theorie.

bald nach der Thronbesteigung ihres Gemahls (973) großenEinfluß auf denselben, dem sie 980 den spätern KaiserOtto III. gebar, begleitete ihn 981 nach Italien und kehrte nachOttos II. Tod 984 nach Deutschland zurück. AlsVormünderin ihres jungen Sohns und Reichsregentin anerkannt,führte sie die Regierung mit Kraft und Umsicht und erzog ihrenSohn in griechischer Bildung, starb aber schon 15. Juni 991 inNimwegen. Vgl. Moltmann, Theophano (Schwerin 1878).

Theophilanthropen (Theanthropophilen, griech., "Gottes-und Menschenfreunde"), deistische Religionsgesellschaft inFrankreich, welche sich 1796 in Paris zur Erhaltung der Religionbildete und vom Direktorium zehn Pfarrkirchen in Pariseingeräumt erhielt, aber schon 1802 erlosch. Vgl.Grégoire, Geschichte des Theophilanthropismus (deutsch,Hannov. 1806).

Theophilos, 1) oström. Kaiser, Sohn Michaels II.,schon von diesem zum Mitkaiser erhoben, bestieg nach dem Todedesselben im Oktober 829 den Thron. Er war ein talentvoller,hochgebildeter Fürst, welcher strenge Gerechtigkeit übte,die Wissenschaften und Künste förderte, die Hauptstadtmit prächtigen Bauten schmückte und ihre Festungswerkeverstärkte. Er war ein eifriger Bilderfeind und verfolgte dieVerehrer derselben, namentlich die halsstarrigen Mönche. Erkämpfte tapfer gegen die Araber, erlitt aber mehrereNiederlagen und konnte nicht verhindern, daß 838 der KalifMutassim auf einem großen Heereszug seine Heimatstadt Amorionin Phrygien eroberte und zerstörte. Er starb 20. Jan. 842 undhinterließ die Regierung seinem unmündigen Sohn MichaelIII. unter der Vormundschaft seiner Gemahlin Theodora.

2) Ein Heidenchrist, seit 168 Bischof von Antiochia, wo er 180und 181 die drei Bücher an den Autolykos schrieb, eineApologie des Christentums (hrsg. von Otto im "Corpus apologetarum",Bd. 8, Jena 1861).

3) Nach der Legende Bistumsverweser zu Adana in Kilikien,verschrieb sich, infolge von Verleumdungen seines Amtes entsetzt,dem Teufel und ward hieraus restituiert. Von Gewissensbissengefoltert, wandte er sich später an die heilige Jungfrau,erhielt von dieser die verhängnisvolle Handschrift zurückund starb drei Tage darauf. Diese schon im 10. Jahrh. vorhandeneLegende, eine Vorläuferin der Faustsage, ward bis in das 16.Jahrh. herab dichterisch behandelt. Bearbeitungen wurdenherausgegeben unter andern von Blommaert (eine niederländischemetrische des 14. Jahrh., Gent 1836); von Pfeiffer (Stuttg. 1846)aus den Marienlegenden des Verfassers des alten Passionals; vonEttmüller (Quedlinb. 1849); von Hoffmann von Fallersleben(Hannov. 1853) nach dramatischer Bearbeitung in niederdeutscherSprache aus dem 14. und 15. Jahrh.; von W. Meyer ("Radewins Gedichtüber T.", Münch. 1873). Vgl. Sommer, De Theophili cumdiabolo foedere (Berl. 1844); Wedde, T., das Faustdrama desdeutschen Mittelalters (Hamb. 1888).

Theophrastos, griech. Philosoph, geb. 390 v. Chr. zuEresos auf der Insel Lesbos, war in Athen erst Schüler desPlaton, dann des Aristoteles und ward von diesem zum Erben seinerBibliothek und zu seinem Nachfolger in der Leitung derperipatetischen Schule ernannt. Er starb in Athen, 85, nach andern106 Jahre alt. In seinen Reden zeigte T. so viel Würde undAnmut, daß Aristoteles seinen eigentlichen Namen Tyrtamos inT., d. h. göttlicher Redner, umgewandelt haben soll. T. istder Verfasser von etwa 200 Schriften dialektischen, metaphysischen,moralischen und physikalischen Inhalts, von denen einigenaturhistorische und philosophische, zum Teil Fragmente ausgrößern Werken, erhalten sind. Die bekanntesten sind:"Ethici characteres" (hrsg. von Foß, Leipz. 1858, undPetersen, das. 1859; deutsch von Schnitzer, Stuttg. 1858; vonBinder, das. 1864; vgl. La Bruyère) und die "Naturgeschichteder Gewächse" (hrsg. von Schneider, Leipz. 1818-21, 5 Bde.;deutsch von Sprengel, Altona 1822, 2 Bde.). Eine Gesamtausgabe desnoch Vorhandenen von seinen Schriften besorgte Wimmer (Leipz.1854-62, 3 Bde., und Par. 1866, 1 Bd.). Zur Entwickelung derPhilosophie scheint T. nicht viel beigetragen, sondern dieAristotelische Philosophie nur fortgepflanzt und erläutertsowie durch Zusätze zur Logik und Politik erweitert zu haben.Vgl. Kirchner, Die botanischen Schriften des T. (Leipz. 1874).

Theophylaktos, Erzbischof von Achrida in der Bulgarei,gest. 1107, hat katenenartige Kommentare zum größtenTeil des Neuen Testaments verfaßt; im Streit mit derabendländischen Kirche nahm er eine versöhnliche Stellungein. Auch hinterließ er eine Schrift überPrinzenerziehung und 130 Briefe. Seine Werke erschienen Venedig1754-63, 4 Bde.

Theopneustie (griech.), s. v. w. Inspiration (s. d.).

Theopompos, 1) griech. Historiker, von Chios,Schüler des Isokrates, lebte im 4. Jahrh. v. Chr. und starb,aus Chios verbannt, in Ägypten. Er schrieb eine "Hellenika"betitelte Fortsetzung von des Thukydides Geschichtswerk bis zurSeeschlacht bei Knidos (394 v. Chr.) und "Philippika", eineallgemeine Geschichte seiner Zeit von Ol. 105, 1 (360 v. Chr.) an.Herausgegeben sind die Fragmente derselben von Wichers (Leid.1829), Theiß (Nordh. 1837) und Müller in den"Historicorum graecorum fragmenta" (Bd. 1, Par. 1841). Vgl. Pflugk,De Theopompi vita et scriptis (Berl. 1827).

2) Griech. Komödiendichter, ein jüngerer Zeitgenossedes Aristophanes, dichtete noch um 370 v. Chr. Von seinen 24Dramen, von denen die spätern den Übergang von der altenzur mittlern Komödie anbahnten, sind nur geringeBruchstücke erhalten (gesammelt in Meinekes "Fragmentacomicorum graecorum", Bd. 2, Berl. 1840). Vgl. Bünger,Theopompea (Straßb. 1874).

Theorbe (ital. Tiorba, Tuorba), ein veraltetes, im16.-18. Jahrh. sehr angesehenes, zur Familie der Lautegehöriges Saiteninstrument. Vgl. Laute.

Theorem (griech.), s. v. w. Lehrsatz (s. d.).

Theorie (griech.), eigentlich das Betrachten, Beschauen,vorzugsweise aber das geistige Anschauen und Untersuchen, diedaraus hervorgehende wissenschaftliche Erkenntnis und Entwickelungder einzelnen Erscheinungen einer Wissenschaft in ihrem innernZusammenhang. Jeder Kreis von Gedankenobjekten hat demnach seinebesondere T., welche darauf hinausläuft, aus allgemeinenGesetzen, welche nicht erfahren, sondern denkend gefunden werden,die Mannigfaltigkeit der auf irgend eine Weise erkanntenEinzelheiten in ihrem Kausalnexus zu begreifen. Jede auf Erfahrunggegründete Wissenschaft kommt von selbst, je mehr der innereZusammenhang klarer vor die Augen tritt, zu Theorien, welche umsovollkommener aufgestellt werden können, je mehr die Masse derErscheinungen Anhaltspunkte für die wissenschaftlicheUntersuchung darbietet. Bei der Endlichkeit des menschlichenGeistes behalten alle Theorien ihre Mängel; die beste wird diesein, welche am einfachsten und ungezwungensten die Ergebnisse derErfahrung aus einem oder einigen Grundprinzipien herzuleiten im

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Theorikon - Therapie.

stande ist. Im gemeinen Leben pflegt man unter T. im Gegensatzzur Praxis die bloße Erkenntnis einer Wissenschaft ohneRücksicht auf Anwendung derselben zu besondern Zwecken zuverstehen (danach theoretisch, s. v. w. der T. angehörig,wissenschaftlich). In dieser Beziehung behauptet man oft, daßetwas in der T. wahr, für die Praxis aber unbrauchbar sei,welche Behauptung insofern gegründet sein kann, als dieGedanken nach des Dichters Wort "leicht bei einander wohnen", dieSachen aber, deren die That zur Verkörperung des Gedankensbedarf, "sich hart im Raume stoßen". - Bei den Griechenhießen Theorien insbesondere auch die Festgesandtschaften,welche von den einzelnen Staaten zu den großen Nationalfestensowie zu den Festen befreundeter Staaten geschickt wurden, um sichoffiziell an der Feier zu beteiligen. Diese Festgesandtschaftenwaren Ehrengäste des betreffenden Staats.

Theorikon (griech.), bei den alten Athenern dasTheatergeld, eine seit Perikles aus der Staatskasse an dieärmern Bürger gezahlte Spende von zwei Obolen (25Pfennig), um ihnen den Theaterbesuch zu ermöglichen; 338 v.Chr., kurz vor der Schlacht bei Chäroneia, abgeschafft.

Theosophie (griech.), die tiefere Erkenntnis Gottes undgöttlicher Dinge; dann im Unterschied von der Theologie undPhilosophie das angeblich höhere Wissen von Gott und Welt,welches der Mystik (s. d.) infolge unmittelbarer Anschauung undgöttlicher Erleuchtung zu teil werden soll. T. ist daher einGesamtname für alle mystischen Systeme, insonderheit auch derauf den Neuplatonismus zurückgehenden pantheistischen. Derneuern Zeit gehören an: Jakob Böhme, V. Weigel,Swedenborg, Ötinger, Saint-Martin, F. v. Baader.

Theotókos (griech., russ. Bogoroditza),"Gottgebärerin", d. h. Maria, die Mutter Jesu, eineBezeichnung, welche die Griechisch-Gläubigen sehr lieben.

Theoxenien (griech.), Götterbewirtung, ein im altenGriechenland in manchen Gegenden gefeiertes Fest, an welchem nebender Hauptgottheit des Lokalkultus auch alle übrigenGötter gleichsam als Gäste derselben gefeiert wurden.Eine solche Feier fand namentlich zu Delphi in dem danach benanntenMonat Theoxenios (August) im Namen des Apollon statt. Über dieArt derselben ist näheres nicht bekannt.

Thera, Insel, s. Santorin.

Theramenes, Athener, Adoptivsohn Hagnons, fein gebildet,klug und beredt, aber charakterlos, gehörte anfangs zurgemäßigten Partei der Oligarchen und nahm 411 v. Chr. amUmsturz der Solonischen Verfassung, dann aber, zur Volksparteiübergehend, an ihrer Herstellung teil. Er kämpfte darausbei Kyzikos, vor Byzanz und bei den Arginusen mit; da er sich aberzurückgesetzt und seinen Ehrgeiz nicht befriedigt fand, soging er wieder zur volksfeindlichen Partei über und betriebdie Verurteilung der sechs Feldherren, welche bei den Arginusengesiegt, wegen der Versäumnis der Aufsammlung der Leichen,welche eigentlich ihm selbst zur Last fiel. Nachdem er 405 bis 404durch seine langwierigen Verhandlungen mit Lysandros die Athener aneiner mutigen Verteidigung ihrer Stadt gehindert und sie zumschimpflichen Frieden gezwungen hatte, erreichte er das Ziel seinerHerrschsucht, indem er zu einem der 30 Tyrannen ernannt wurde. Daer die Grausamkeiten seiner Genossen nicht billigte und demgewalttätigen Kritias sich widersetzte, ward er 403 von diesemzum Tod verurteilt und mußte den Giftbecher leeren. Vgl.Pöhlig, Der Athener T. (Leipz. 1877).

Therapeuten (griech., "Diener", nämlich Gottes), einOrden von Asketen, welche, den Essäern ähnlich, am SeeMöris bei Alexandria lebten. Übrigens kennen wir siebloß aus einer etwas zweifelhaften Schrift: "De vitacontemplativa", welche bislang Philo zugeschrieben wurde, jetztaber als Machwerk christlich-asketischen Ursprungs erkannt ist, undihre historische Existenz steht keineswegs ganz fest. Vgl. Lucius,Die T. (Straßb. 1879).

Therapie (griech., "Dienst, Pflege", Heilkunst),derjenige Teil der Medizin, welcher den eigentlichen Endzweck desmedizinischen Wissens bildet, die Lehre von der Behandlung derKrankheiten. Die Mutter der T. ist die Erfahrung, und so findetsich in den Uranfängen der medizinischen Kunst noch vorHippokrates oder irgend einer ausgebildeten Lehre die empirischeBehandlung vor, welche bis auf unsre Tage ihr gutes Recht geltendmacht und nicht selten Aufgaben löst, die für die exakteForschung noch auf lange Zeit ein Buch mit sieben Siegeln sind. Sohat vor mehreren Jahrhunderten die Erfahrung gelehrt, daß dasEinimpfen von Kuhpockenlymphe einen Schutz gegen die wahren Pockengewährt; seitdem sind dank der durchgreifenden Einführungder Impfung die Blatterepidemien aus den Kulturländern fastverschwunden, und noch immer sucht man nach der Ursache, aufwelcher dieser geheimnisvolle Schutz beruht. Seit langem ist diegeradezu spezifische Wirkung des Quecksilbers gegen die Syphilisoder des Chinins gegen das Wechselfieber bekannt, jeder Arzt wendetdiese Mittel empirisch an, aber niemand kann Auskunft geben, aufwelche Weise diese Wirkung zu stande kommt. Neben derErfahrungstherapie hat es zu allen Zeiten eine rationelleBehandlung gegeben. Diese Ratio nun ist so wechselvoll gewesen wiedie vielfachen Systeme und Schulen der Medizin (s. d.) selbst,welche im Lauf der Jahrtausende aufeinander gefolgt sind, undrationelle T. bedeutet darum nichts allgemein Feststehendes,sondern nur ein auf dem Grund irgend welcher gerade herrschendenLehre aufgebautes Heilverfahren. Es ist z. B. rationell, wenn maneinen Nierenkranken, dessen Harnabsonderung stockt, in heißeDecken hüllt, damit die im Blut sich anhäufendenschädlichen Stoffe auf einem andern Weg durch denSchweiß, aus dem Körper entfernt werden. Diese T. beruhtauf einer Reihe von wissenschaftlich begründetenVorstellungen, bei denen der Arzt zielbewußt handelt,während er beim Wechselfieber vorläufig das "Warum"seiner T. noch nicht kennt. - Radikalkur ist eine solche T., beiwelcher das Übel gleichsam mit der Wurzel (radix) ausgerissenwerden kann, z. B. eine erfolgreiche Bandwurmkur, dieDurchschneidung verkürzter Sehnen, das Ausziehen einesschmerzenden Zahns etc. Ist eine solche gründliche T. nichtmöglich, etwa weil das Organ nicht zugänglich ist, somuß sich die T. beschränken, die drohendsten oderlästigsten Symptome, z. B. den Schmerz durchBetäubungsmittel, zu bekämpfen (symptomatische T.). Liegteine Krankheit vor, bei welcher erfahrungsgemäß eingünstiger Ausgang zu erwarten ist, wie bei Masern, leichtenFällen von Lungenentzündung bei kräftigen Personen,so muß sich der Arzt abwartend verhalten und nur jederzeitaufmerksam sein, daß nicht etwanige neue Übelhinzutreten; man spricht dann wohl von exspektativer T., die abereben nur eine Beobachtung ist. Dies sind dann die Fälle, beidenen die Homöopathie, die Naturheilung und andre Systeme ihreTriumphe feiern, da sich eben die Prozesse durch kein Mittel inihrem Ablauf beschleunigen lassen. Das Vorbeugen

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Theremin - Thermen.

durch Schutzmaßregeln, welche die Entstehung oderVerbreitung einer Krankheit hemmen, heißt Prophylaxis. EineT. ohne eine gründliche Kenntnis der Pathologie ist wederwissenschaftlich denkbar noch vor dem Gewissen eines ehrlichenMenschen zu verantworten. Es gibt deswegen kein Lehrbuch der T.,das nicht gleichzeitig ein solches der Pathologie wäre, wohlaber Lehrbücher der Pathologie, welche nicht von T. handeln.Vgl. Billroth, Allgemeine chirurgische Pathologie und T. (14.Aufl., Berl. 1889); die Handbücher der allgemeinen Pathologieund T. von Lebert (2. Aufl., Tübing. 1875) und F. v. Niemeyer(11. Aufl., das. 1881, 2 Bde.); Petersen, Hauptmomente in dergeschichtlichen Entwickelung der medizinischen T. (Kopenh.1877).

Theremin, Ludwig Friedrich Franz, protest. Kanzelredner,geb. 19. März 1780 zu Gramzow in der Ukermark, wurde 1810 zumPrediger der französischen Gemeinde in Berlin, 1814 zum Hof-und Domprediger und 1824 zum Oberkonsistorialrat und vortragendenRat im Ministerium des Kultus, 1834 zum WirklichenOberkonsistorialrat ernannt und bekleidete seit 1839 zugleich eineProfessur an der Berliner Universität. Er starb 26. Sept.1846. Außer "Predigten" (Berl. 1829-41, 9 Bde.) u.Erbauungsschriften, wie die "Abendstunden" (6. Aufl., Frankf.1869), die sich besonders durch klassische Form auszeichnen,veröffentlichte er: "Die Beredsamkeit, eine Tugend" (Berl.1814; neue Ausg., Gotha 1889) und "Demosthenes und Massillon, einBeitrag zur Geschichte der Beredsamkeit" (Berl. 1845). Vgl. Nebe,Zur Geschichte der Predigt, Bd. 3 (Wiesb. 1878).

Therese, Schriftstellername, s. Bacheracht.

Therese von Jesu, Heilige, geb. 1515 zu Avila inAltkastilien, wo sie 1535 in ein Karmeliterkloster trat. Siestellte in den von ihr reformierten Klöstern der unbeschuhtenKarmeliterinnen den Orden in seiner ursprünglichen Reinheitwieder her und hatte schwere Verfolgungen von seiten der Karmeliterder laxen Observanz auszustehen, die selbst gegen sie einenKetzerprozeß anstrengten. Sie starb 1582 im Kloster zu Albade Liste in Altkastilien und ward 1622 kanonisiert. Ihre bei denkatholischen Mystikern in hohem Ansehen stehendenErbauungsbücher (die berühmtesten: "Selbstbiographie","Seelenburg" u. a.), in denen sie in Visionen und ekstatischenZuständen schwelgt, wurden in fast alle europäischenSprachen übersetzt, ins Deutsche von Schwab (3. Aufl.,Regensb. 1870, 5 Bde.) und L. Clarus (2. Aufl., das. 1866-1868, 5Bde.). Ihre Briefe ("Cartas de Santa Teresa de Jesus") erschienenin 4 Bänden (Madr. 1793; deutsch in den genannten Ausgaben).Vgl. Pösl, Das Leben der heil. T. (2. Aufl., Regensb. 1856);Hofele, Die heilige T. (das. 1882); Pingsmann, Santa Teresa deJesus (Köln 1886).

Theresienorden, bayr. Damenorden, gestiftet 12. Dez. 1827von der Königin Therese von Bayern als Auszeichnung undUnterstützung für zwölf unvermögende adligeunverheiratete Damen, die jährlich 516 Mk. beziehen. Auchandre adlige Damen können ihn erhalten, heißen aberEhrendamen und genießen keine Einkünfte. Die Dekorationist ein hellblau emailliertes, mit der Krone gedecktes Kreuz, indessen Mittelschild auf dem Avers ein T, vom Rautenkranz, auf demRevers 1827, von der Devise: "Unser Erdenleben sei Glaube an dasEwige" umgeben, sich befinden. Das Band ist weiß mithimmelblauen Rändern.

Theresienstadt, Stadt und Festung in der böhm.Bezirkshauptmannschaft Lettmeritz, an der Eger, unweit ihrerMündung in die Elbe, Station der ÖsterreichischenStaatseisenbahn, mit Lederfabrik, Bierbrauerei, Mühlen und(1880) mit Einschluß ron 4325 Mann Militär 7014 Einw.Der Fluß kann durch Schleusen, die durch eine Citadellegedeckt sind, zu Inundationen benutzt werden. T. wurde 1780 vonJoseph II. angelegt und zu Ehren seiner Mutter benannt.

Theresiopel, ungar. Stadt, s. Maria-Theresiopel.

Therezina, Hauptstadt der brasil. Provinz Piauhy, amParnahyba, 250 km oberhalb dessen Mündung,regelmäßig angelegt, aber ohne hervorragendeöffentliche Gebäude, mit Gewerbeschule, Lyceum und 6000Einw., die lebhaften Handel treiben, den die kleinen, denFluß befahrenden Dampfschiffe vermitteln.

Theriak (griech.), altes Universalarzneimittel in Formeiner Latwerge, angeblich vom Leibarzt Kaiser Neros, Andromachus,erfunden, ist aus 70 Stoffen zusammengesetzt und wurde bis in dieneuere Zeit in den Apotheken Venedigs, Hollands, Frankreichs mitgewissen Feierlichkeiten und unter Aufsicht von Magistratspersonengefertigt. Jetzt wird es nur noch bei Tierkrankheiten benutzt. Nachder "Pharmacopoea germanica Ed. I." bereitet man T. aus 1 TeilOpium, 3 Teilen spanischem Wein, 6 Teilen Angelikawurzel, 4 TeilenRad. Serpentariae, 2 Teilen Baldrianwurzel, 2 Teilen Meerzwiebel, 2Teilen Zitwerwurzel, 2 Teilen Zimt, 1 Teil Kardamom, 1 Teil Myrrhe,1 Teil Eisenvitriol und 72 Teilen gereinigtem Honig.

Theriakwurz, s. Valeriana.

Theriodónten, s. Reptilien, S. 738.

Thermä, Name mehrerer alter Orte mit warmen Quellen.Am bekanntesten sind: Thermae Himerenses, an der Nordküste vonSizilien, westlich von Himera, dessen Einwohner es nach derZerstörung ihrer Stadt gründeten, seit Ende des erstenPunischen Kriegs im Besitz der Römer; heute Termini. Einzweites T. (Thermae Selinuntinae) lag an der Südwestküstevon Sizilien bei Selinus; heute Sciacca.

Thermäischer Meerbusen, im Altertum Name des Golfsvon Saloniki (in ältester Zeit Thermä).

Thermästhesiometer (griech.), Vorrichtung zurPrüfung des Temperatursinns, beruht im wesentlichen auf derApplizierung eines erwärmten, resp. abgekühltenThermometers.

Thermen (griech.), "warme Quellen", d. h. solche, welcheeine höhere Temperatur besitzen als die mittlereJahrestemperatur der Orte, an denen sie auftreten. Sie sind einebesondere Art der Mineralquellen (s. d.), eben durch dieseerhöhte Temperatur charakterisiert, wogegen ihr Gehalt angelösten Mineralbestandteilen oft ein auffallend geringer ist.Nach der am meisten verbreiteten Ansicht verdanken sie ihre hoheTemperierung der Erdwärme, indem sie aus bedeutenden Tiefen,in denen die Gesteine eine hohe, sich den Wässern mitteilendeTemperatur besitzen, emporsteigen (vgl. Erde, S. 746). - Bei denRömern führten diesen Namen (thermae) zum Unterschied vonden gewöhnlichen Bädern (balnea) die unter Augustus vonAgrippa eingeführten öffentlichen Anstalten, welche dieEinrichtung der griechischen Gymnasien (Ringplatz, offene undbedeckte Säulenhallen, Konversatsonszimmer, Räumefür den Unterricht und die verschiedenen Übungen,namentlich auch für das Ballspiel, allgemeines Badebassin u.a.) mit warmen Bädern verbanden. Die umfangreichsten undprächtigsten Anlagen dieser Art befanden sich in Rom und sindzum Teil noch in Trümmern vorhanden, insbesondere die desCaracalla (Rekonstruktion s. Tafel "Baukunst VI", Fig. 11); derErhaltung nach nehmen die wichtigste Stelle ein die beiden T. vonPompeji (den Plan der einen s. Bad, S. 222, Fig. 2).

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd.

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Thermia - Thermochemie.

Vgl. "Le terme dei Romani" (Zeichnungen von Palladio, hrsg. vonScamozzi, Vicenza 1785); Canina, L'architettura romana, Bd. 1;Overbeck, Pompeji (4. Aufl., Leipz. 1884); Marquardt, Privatlebenoer Römer, Bd. 1 (2. Aufl., das. 1886).

Thermia (das alte Kythnos), griech. Insel imÄgelschen Meer, zu den Kykladen gehörig, 76 qkm (1,38QM.) groß, gebirgig, aber wohl angebaut, mit (1879) 2923Einw., die vorliegend Seeleute oder Weinbauer sind. Die HauptstadtKythnos, im Zentrum der Insel, ist Sitz eines griechischenBischofs, hat einen Hafen und (1879) 1523 Einw. An derNordostküste befinden sich mehrere hauptsächlichsalzsaure Soda und Magnesia enthaltende Quellen von 40-55° C.,von denen die Insel ihren modernen Namen hat.

Thermidor (auch Fervidor, franz., "Hitzemonat"), derelfte Monat im franz. Revolutionskalender, vom 19. Juli bis 17.Aug. Merkwürdig ist der 9. T. des Jahrs II (27. Juli 1794), anwelchem Robespierre gestürzt ward, dessen Gegner sich deshalbThermidoristen nannten.

Thermik (griech.), Lehre von der Wärme (s. d.).

Thermische Anomalie, s. Isanomalen.

Thermobarograph, s. Meteorograph.

Thermobarometer, s. Barothermometer.

Thermo-cautère (griech.-franz., spr.-kotähr), s. v. w. Paquelinscher Brennapparat.

Thermochemie (griech.), die Lehre von den durch chemischeProzesse bedingten Wärmeerscheinungen. Die neuere Physik lehrtbekanntlich, daß der Wärmezustand eines Körpersbedingt werde durch die Art der Bewegung der kleinstenMassenteilchen, der Moleküle. Je schneller sich diese Teilchenbewegen, je größer ihre lebendige Kraft ist, um sowärmer erscheint uns der Körper, dem sie angehören;je geringer dagegen die Geschwindigkeit der Moleküle ist, umso weniger Wärme wird der Körper zu enthalten scheinen.Mithin muß, wenn durch irgendwelche äußereEinwirkung oder innere Veränderung die Bewegung derMoleküle in einem beliebigen Massensystem geändert wird,auch der Wärmezustand dieses Systems eine Veränderungerleiden. Wenn sich zwei isolierte Gasatome, die sich vollkommenunabhängig voneinander bewegen, zu einem Molekülvereinen, so werden bedeutende Bewegungsgrößenzerstört, da die früher frei beweglichen Atome durch diechemische Verbindung gezwungen sind, sich innerhalb bestimmterGrenzen zu bewegen. Der scheinbare Wärmeinhalt des Systemswird also nach der Vereinigung der beiden Atome ein geringerersein, es wird während der Vereinigung Wärme nachaußen abgegeben. Mithin wird bei der chemischen Vereinigungzweier Atome stets Wärme frei. Zur Trennung der chemischvereinten Atome ist die Anziehungskraft zu überwinden, welchedie Atome zwingt, sich innerhalb bestimmter Grenzen zu bewegen; denAtomen ist eine so lebhafte Bewegung mitzuteilen, daß siesich voneinander losreißen, sich unabhängig voneinanderbewegen können. Es wird also bei der Zersetzung einerchemischen Verbindung Wärme von außen zugeführtwerden müssen, es wird Wärme gebunden werden und zwargenau so viel, wie bei der Entstehung der betreffenden Verbindungfrei geworden war. Da nun aber bei der Entstehung einer chemischenVerbindung um so mehr Wärme frei wird, je größerdie durch die Affinität zerstörten oder richtiger inWärme verwandelten Bewegungsgrößen derElementaratome oder nähern Bestandteile der fraglichenVerbindung waren, so gibt die frei werdende Wärmemenge einrelatives Maß der bei der Entstehung der fraglichenVerbindung sich betätigenden Verwandtschaftskräfte ab,vorausgesetzt, daß nicht anderweitige physikalische oderchemische Vorgänge, welche sich neben der eigentlichenReaktion abspielen, von Wärmeerscheinungen begleitet sind. Dasletztere ist nun gewöhnlich der Fall, so daß diethermochemischen Daten nur mit Vorsicht als Maß für diechemischen Verwandtschaftskräfte zu benutzen sind. Wenn beider Vereinigung von Wasserstoff und Chlor zu gasförmigerChlorwasserstoffsäure 22 Kal. entwickelt werden, so ist dieseWärmeentwickelung nicht durch die bei der Vereinigung derbeiden Gase in Frage kommende Affinität allein bedingt,sondern es kommen noch andre Faktoren in Betracht. Der Prozeßist nicht: H+Cl==HCl, sondern: H2+Cl==2HCl, d. h. es müssenerst die Wasserstoff- und die Chlormoleküle in die diskretenAtome zerlegt werden, ehe die letztern sich zu Chlorwasserstoffvereinigen können. Die oben angeführteWärmetönung gibt also die Bildungswärme desChlorwasserstoffs, vermindert um die Zersetzungswärme derWasserstoff- und der Chlormoleküle. Aus dem Umstand, daßjede Wärmetönung, wie sie durch die direkte Beobachtunggegeben wird, als eine Differenz angesehen werden muß, ergibtsich auch die Erklärung für die sonstschwerverständliche Thatsache, daß viele Verbindungenunter Wärmeabsorption entstehen. Nichtsdestoweniger haben diethermochemischen Daten als relatives Maß der bei einemchemischen Prozeß zum Ausgleich kommenden Affinitätenihren hohen Wert. Man darf eben nur auf solche Prozessebezügliche Zahlen direkt miteinander vergleichen, welcheanalog verlaufen und Produkte von analoger Konstitution liefern, sodaß man eine annähernde Gleichheit der sekundärenWärmeerscheinungen annehmen kann. Die letztern werden sichdann bei der Differenzierung aufheben.

Es gibt eine Reihe wichtiger chemischer Prozesse, deren Verlaufteils wegen der Langsamkeit der Reaktion, teils wegen der geringenBeständigkeit der dabei entstehenden Produkte und ausähnlichen Gründen keiner genauen thermischen Untersuchungunterzogen werden kann. Will man nun dennoch einen Aufschlußüber die durch derartige Prozesse bedingtenWärmeerscheinungen erhalten, so muß man mittelsRechnungsoperationen aus anderweitigen Versuchsdatenerschließen, was die direkte Beobachtung nicht ergeben kann.Die Handhabe für diese Rechnungen bietet der sogen. zweiteHauptsatz der T., welcher aussagt, daß, wenn ein Systemeinfacher oder zusammengesetzter Körper unter bestimmtenäußern Umständen und Bedingungen chemische und, wiewir gleich hinzusetzen können, physikalischeVeränderungen erleidet, die dabei auftretendeWärmeabsorption oder Emission allein von dem Anfangszustandund dem Endzustand des Systems abhängig ist und dieselbebleibt, welches immer die Beschaffenheit und die Aufeinanderfolgeder Zwischenzustände sei. Es geht daraus hervor, daß,wenn ein System von zwei verschiedenen Anfangszuständen zudemselben Endzustand oder von einem und demselben Anfangszustand zuzwei verschiedenen Endzuständen übergeführt wird,die Differenz der diesen beiden Prozessen entsprechendenWärmetönungen diejenige Wärmetönung ergibt,welche dem übergang des Systems aus dem einen Anfangs-, bez.Endzustand in den andern entspricht. Die Affinitätskräfteberuhen auf der Zerstörung von Bewegungsgrößen oderrichtiger auf ihrer Verwandlung in Wärme. Jedes bewegteMassensystem strebt aber dem Zustand des stabilen Gleichgewichtszu, und das Gleichgewicht ist am stabilsten, wenn das System dengrößtmöglichen Verlust an lebendiger Kraft er-

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Thermochrose - Thermoelektrizität.

litten hat. Mithin ist stets die wahrscheinlichste Reaktion,vorausgesetzt, daß nur die Affinitätskräfte denVerlauf derselben bedingen, diejenige, bei welcher die Atome dengrößten Verlust an lebendiger Kraft erleiden, beiwelcher also die größte Wärmemenge entwickelt wird.Dies Prinzip der größten Arbeit, das am meistenbestreitbare und auch bestrittene Prinzip der T., ist nur eineerste Annäherung, welche man unter Vernachlässigung allersekundären Kräfte erhält, und welche ihren Wert nurso lange bewahren kann, als diese Vernachlässigung statthaftist. Unter dieser Voraussetzung hat das Prinzip für dieBeurteilung der Wahrscheinlichkeit einer Reaktion seinengroßen Wert. Ein Problem, an dessen Lösung man oftgezweifelt hat, ist das, was eintritt, wenn man eine Säure aufdas Salz einer andern Säure einwirken läßt. Bringtman z. B. Natriumsulfat und Salpetersäure zusammen, sokönnten folgende Reaktionen eintreten: die Salpetersäurekönnte die Schwefelsäure vollkommen verdrängen, sodaß in der Lösung schließlich nur Natriumnitratund freie Schwefelsäure vorhanden wären. Es könnteaber auch eine nur teilweise Verdrängung derSchwefelsäure eintreten, so daß wir eine Mischung vonNatriumnitrat und Natriumsulfat, von freier Salpetersäure undfreier Schwefelsäure in der Endlösung anzunehmenhätten. Die Schwefelsäure würde sich dann allerWahrscheinlichkeit nach mit dem Natriumsulfat zu Natriumbisulfatvereinigen. Die T. hat die vollkommene Sicherheit dafürverschafft, daß die zuletzt erwähnte Teilung imSchoß der Lösung vor sich geht. Die T. liefert alsonicht allein die Mittel, um die Affinitätskräfte einergenauen relativen Messung zu unterziehen, sie gibt zugleichAufschluß über die Wirkungen dieser Kräfte inFällen, wo alle rein chemischen Methoden bisher versagt haben.Sie gibt die Handhabe, um über die Möglichkeit, in vielenFällen sogar über die Wahrscheinlichkeit des Verlaufseines chemischen Prozesses von vornherein zu entscheiden, underöffnet der theoretischen chemischen Forschung dadurch ganzneue Bahnen. Vgl. Berthelot, Méchanique chimique (Par. 1879,2 Bde.); Thomsen, Thermochemische Untersuchungen (Leipz. 1882-1886,4 Bde.); Naumann, Lehr- und Handbuch der T. (Braunschw. 1882);Jahn, Grundsätze der T. (Wien 1882); Horstmann, TheoretischeChemie einschließlich der T. (Braunschw. 1885); Ditte,Anorganische Chemie, gegründet auf die T. (deutsch vonBöttger, Berl. 1886).

Thermochrose (griech., Wärmefärbung), s.Wärmestrahlung.

Thermoelektrizität (griech.), durch Wärmehervorgerufene Elektrizität. Lötet man einen Bügel mn (Fig. 1) von Kupfer an einen Wismutstab o p und erwärmt dieeine Lötstelle, so zeigt eine innerhalb des Bügels aufeiner Spitze schwebende Magnetnadel a durch ihre Ablenkung,daß ein elektrischer Strom entstanden ist, welcher an dererwärmten Lötstelle vom Wismut zum Kupfer übergeht.Wird die Lötstelle unter die Temperatur der umgebenden Luftabgekühlt, so entsteht ein thermoelektrischer Strom vonentgegengesetzter Richtung. Verbindet man einen Antimonstab mit demKupferbügel, so geht der Strom an der erwärmtenLötstelle vom Kupfer zum Antimon. Einen solchen aus zweiMetallen, welche an zwei Stellen miteinander verlötet sind,gebildeten Bogen nennt man ein geschlossenes thermoelektrischesElement (Thermoelement). Zwei Metallstäbchen, welchebloß am einen Ende zusammengelötet sind, währenddie freien Enden Leitungsdrähte tragen, bilden ein offenesthermoelektrisches Element (Fig. 2), das zu einem geschlossenenwird, wenn man die Drahtenden miteinander in leitende Verbindungbringt. Die verschiedenen Metalle lassen sich in eine Reihe(thermoelektrische Spannungsreihe) derart ordnen, daß, wennman aus zwei derselben ein Element bildet und die Lötstelleerwärmt, der positive Strom von dem in der Reihe höherstehenden Metall zu dem tiefer stehenden übergeht; diese Reiheist: Wismut, Quecksilber, Platin, Gold, Kupfer, Zinn, Blei, Zink,Silber, Eisen, Antimon. Einige Schwefel- und Arsenmetalle sowieeinige Oxyde, z. B. Kupferkies, Arsenikkies, Bleiglanz, Pyrolusitetc., stehen noch über dem Wismut, eine Legierung aus 2 TeilenAntimon mit 1 Teil Zinn noch unter dem Antimon. Zur Konstruktionmöglichst wirksamer Thermoelemente wählt man zweiMetalle, welche in der Spannungsreihe weit voneinander entferntstehen, z. B. Wismut und Antimon. Die Wirkung wird verstärkt,wenn man mehrere Elemente nach Art der Voltaschen Säule zueiner thermoelektrischen Säule (Thermosäule, Fig. 3)verbindet; mehrere Stäbchenschichten, deren Zwischenräumemit einer isolierenden Substanz ausgegossen sind, werden, zu einemBündel vereinigt, in eine Fassung p (Fig. 4) gebracht, sodaß ihre Endstäbchen mit den Stiften x und y inleitender Berührung stehen. Eine solche Thermosäule inVerbindung mit einem Galvanometer (Multiplikator) wirdThermomultiplikator genannt und bildet ein sehr empfindlichesMittel zum Nachweis und zur Messung der strahlenden Wärme.Marcus hat eine größere Thermosäule konstruiert,worin einerseits eine Legierung aus 10 Teilen Kupfer, 6 Teilen Zinkund 6 Teilen Nickel, an-

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Thermograph - Thermometer.

derseits eine solche aus 12 Teilen Antimon, 5 Teilen Zinn und 1Teil Wismut angewandt wird. Die eine Reihe der Lötstellen wirddurch Flammen erwärmt, die andre durch Wasser oder Eisgekühlt. 30 Elemente dieser Art erzeugen einen Elektromagnetvon 75 kg Tragkraft. Weit günstigere Resultate gibt dieThermosäule von Noë, deren 20 Elemente sternförmigangeordnet sind, von der Mitte aus durch einen Bunsenschen Brennererwärmt werden und durch Vermittelung kupferner Blechspiralendie Wärme an die Luft abgeben. Ebenfalls auf Luftkühlungeingerichtet ist die Clamondsche Thermosäule; auch sie wirdvon einem cylindrischen Hohlraum aus geheizt, um welchen dieElemente in übereinander geschichteten Kränzen aufgebautsind. Vier solche Säulen zu je 400 Elementen, welche zusammenpro Stunde 3,2 cbm Gas verzehren, ersetzen 50 Bunsenelemente undkönnen demnach elektrisches Kohlenlicht erzeugen. Leitet mandurch ein Thermoelement einen galvanischen Strom, so bringtderselbe an der Lötstelle eine Temperaturveränderunghervor, welche derjenigen entgegengesetzt ist, die einenThermostrom von gleicher Richtung erzeugen würde. Geht z. B.der galvanische Strom vom Antimon zum Wismut, so erwärmt sichdie Lötstelle; sie kühlt sich dagegen ab, wenn der Stromvom Wismut zum Antimon übergeht (Peltiers Phänomen).

Thermograph (griech.), s. Registrierapparate.

Thermographie (griech.), graphische Darstellung derSchwankungen der Körpertemperatur bei fieberhaftenKrankheiten; auch ein dem Naturselbstdruck (s. d.) ähnlichesVerfahren mechanischer Vervielfältigung, von Abate in Neapelerfunden, das aber nur geringe Verbreitung gefunden hat.

Thermohypsometer (griech.), s. Barothermometer.

Thermolyse (griech.), s. v. w. Dissociation.

Thermometer (griech., Wärmemesser), Instrument zurBestimmung der Temperatur. Bei den gewöhnlichen Thermometernmißt man die durch das Fallen und Steigen der Temperaturveranlaßten Volumveränderungen einer in einemGefäß mit Kapillarrohr eingeschlossenenFlüssigkeit, besonders des Quecksilbers. Das Gefäßist am besten cylindrisch, weil es bei dieser Form imVerhältnis zu der von ihm aufgenommenen Quecksilbermenge derUmgebung eine größere Oberfläche darbietet. Jegrößer die Kapazität des Gefäßes imVerhältnis zum Querschnitt des Kapillarrohrs ist, destomerklicher wird das Steigen oder Sinken des Quecksilbers beigleicher Änderung der Temperatur sein. Das Rohr desThermometers muß überall gleiche innere Weite haben, sodaß ein Quecksilberfaden an allen Stellen desselben gleicheLänge behält. Bei der Anfertigung des Thermometers wirddie Luft vollständig aus dem Instrument entfernt. Der Raumüber dem Quecksilber muß absolut luftleer sein, sodaß letzteres das Rohr beim Umkehren des Instruments bis indie äußerste Kuppe füllt. Das fertige T. wird inschmelzendes Eis getaucht und der Stand des Quecksilbers bestimmt.So erhält man den Gefrierpunkt. Zur Bestimmung desSiedepunktes hängt man das T. in einer Röhre auf, durchwelche der Dampf von kochendem destillierten Wasser strömt,und markiert den Stand des Quecksilbers. Durch den Druck deräußern Luft auf das luftleere Instrument wird dasGefäß des letztern etwas zufammengepreßt unddadurch die Skala etwas verrückt. Es ist deshalb derGefrierpunkt nach längerer Zeit wiederholt zu bestimmen. DenRaum zwischen Gefrier- und Siedepunkt teilt Reaumur in 80, Celsiusin 100 Teile oder Grade. Auf den Fahrenheitschen Thermometern istder Eispunkt mit 32, der Siedepunkt mit 212 bezeichnet, der 0-Punktliegt also 3.2° F. unter dem Eispunkt. Die Grade über demGefrierpunkt werden durch das Zeichen +, die unter dem Gefrierpunktdurch - bezeichnet. Um die Angaben einer der verschiedenen Skalenin eine andre zu übertragen, dienen folgende Formeln:

t° C. = 8/10 t° R. oder 9/5 t + 32° F.,

t° R. = 10/8 t° C. oder 9/4 t + 32° F.,

t° F. = 5/9 (t -32)° C. oder 4/9 (t - 32)° R.

Vergleichnng der Thermometerskalen.

C. R. F. C. R. F.

-40 -32 -40 35 28 95

-35 -28 -31 40 32 104

-30 -24 -22 45 36 113

-25 -20 -13 50 40 122

-20 -16 - 4 55 44 131

-15 -12 5 60 48 140

-10 - 8 14 65 52 149

- 5 - 4 23 70 56 158

0 0 32 75 60 167

5 4 41 80 64 176

10 8 50 85 68 185

15 12 59 90 72 194

20 16 68 95 76 203

25 20 77 100 80 212

30 24 86

Bei Siedepunktbestimmungen ist immer der Barometerstand zuberücksichtigen, weil das Sieden einer Flüssigkeit vondem auf ihr lastenden Druck abhängig ist. DieThermometerskalen beziehen sich stets auf normalen Barometerstandvon 760 mm. Über den Siedepunkt des Wassers hinaus trägtman die Skala empirisch auf und kann sie bis fast zum Siedepunktdes Quecksilbers ausdehnen. Bei -40° gefriert das Quecksilber,und man bedient sich daher zur Messung

Fig. 1. Rutherfords Maximum- und Minimumthermometer.

niedriger Temperaturen des Alkoholthermometers, welches ebensowie das Quecksilberthermometer angefertigt und nach einem solchengraduiert wird. Rutherfords Maximum- und Minimumthermometer(Thermometrograph, Fig. 1) gibt die höchste und die niedrigsteTemperatur an, welche in einer gewissen Zeit geherrscht hat. Esbesteht aus einem Weingeist- und einem Quecksilberthermometer,deren Röhren horizontal liegen. In der Röhre desQuecksilberthermometers schiebt das Quecksilber einen feinenStahlcylinder vor sich her, läßt ihn aber liegen, wennes sich bei fallender Temperatur zusammenzieht. ImWeingeistthermometer befindet sich ein feines Glasstäbchen,welches aus

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Thermometer (zu verschiedenen Zwecken).

dem Weingeist nicht herauszufallen vermag; es folgt dem beimSinken der Temperatur sich zusammenziehenden Weingeist, bleibt aberliegen, wenn der Weingeist sich wieder ausdehnt. Das SixscheMaximum- und Minimumthermometer (Fig. 2) besteht aus einerheberförmig gebogenen Röhre n o p, deren unterer TeilQuecksilber enthält. Das Gefäß d und der linkeSchenkel sind bis auf das Quecksilber mit Weingeist gefüllt;im rechten Schenkel, der mit dem Gefäß q endigt,befindet sich über dem Quecksilber ebenfalls Weingeist. JederSchenkel der Röhre enthält in seinem mit Weingeistgefüllten Teil einen Stahlstift a und b, von denen derletztere bei steigender Temperatur, der erstere bei fallenderTemperatur durch das Quecksilber hinaufgeschoben und beimRückgang des Quecksilbers stehen gelassen wird. Der Stift agibt also das Minimum, der Stift b das Maximum der Temperatur seitder letzten Einstellung an. Die Einstellung wird durch einenkleinen von außen an die Röhre gehaltenen Magnetbewirkt, durch welchen man die beiden Stifte wieder bis zu denQuecksilberkuppen herabzieht. Das Six-T. ist namentlich zum Messender Temperatur der Meerestiefen sehr geeignet. Zur Messung dermenschlichen Blutwärme gebrauchen die Ärzte ein kleinesMaximumthermometer, das sogen. Fieberthermometer (Fig. 3,natürliche Größe), von dessen Quecksilbersäuledas obere Stück durch eine ganz kleine Luftblase von demübrigen Queck-Silber abgetrennt ist. Beim Steigen wird derabgetrennte Faden vorgeschoben und bleibt bei der Abkühlung ander erreichten Stelle stehen. Durch Schwingen des Thermometersmuß vor jeder neuen Beobachtung der abgetrennte Faden wiederbis zum übrigen Quecksilber zurückgeführt werden,wobei eine doppelte Umbiegung der Röhre eine völligeVereinigung mit diesem verhindert. Beim Gebrauch steckt man dasGefäß des Thermometers in die Achselhöhle oder inden After des Kranken und wartet 10 Minuten bis zur Ablesung. DieEinteilung gestattet, Zehntelgrade abzulesen, und braucht nur imBereich der vorkommenden Bluttemperaturen ausgeführt zu sein.Das Geothermometer zum Messen der Temperatur in Bohrlöchernist ein Ausflußthermometer, es besitzt ein großescylindrisches Gefäß, welches mittels Korks zwischen zweidurch Schrauben verbundene Metallplatten eingeklemmt ist; dieRöhre ist oben offen u. so kurz, daß der Endpunkt derSkala noch unter der zu messenden Temperatur liegt. Füllt mannun das Rohr vollständig mit Quecksilber u.überläßt das Instrument einige Zeit neben einemgewöhnlichen T. sich selbst, so kann man die Temperatur,welche es anzeigt, als T notieren; senkt man es dann ins Bohrloch,so dehnt sich das Quecksilber aus, und ein Teil desselbenfließt aus. Nach dem Versuch zeigt das Geothermometer t1°und ein gewöhnliches T. daneben t°, wobei t1 kleiner istals t. Die Temperatur im Bohrloch ist dann x=t-t1+T. Fürwissenschaftliche Zwecke wendet man das Luftthermometer (s.Ausdehnung, S. 110) an, bei welchem die Ausdehnung oderDruckzunahme eines bestimmten Volumens Luft gemessen wird. DiesesInstrument gibt zwischen 0 und 100° dieselben Grade an wie dasQuecksilberthermometer, über 100° hinaus gibt dagegenletzteres stets höhere Temperaturen an. Das Quecksilber dehntsich nämlich von 0-100° gleichförmig, von 100° anaber in einem stärkern Verhältnis aus. Nur die Ausdehnungder Luft ist der absorbierten Wärmemenge stets proportional,und deshalb muß man auch, wenn es sich um genaue Bestimmunghöherer Temperaturen handelt, stets das Luftthermometeranwenden. Die Benutzung desselben ist aber umständlich, da mandie Temperatur nicht direkt ablesen, sondern jedesmal durch einenmehr oder minder umständlichen Versuch ermitteln muß.Das Metallthermometer von Breguet (Fig. 4) ist einspiralförmig gewundenes, 1-2 mm breites Band, das aus Silber,Gold u. Platin besteht. Drei Streifchen dieser Metalle sind soaufeinander gelötet, daß sich das Gold in der Mittezwischen dem stärker ausdehnbaren Silber u. dem wenigerausdehnbaren Platin befindet, und dann zu einem sehr dünnenBand ausgewalzt. Das eine Ende der Spirale A ist an einem Stativbefestigt, das andre B trägt einen Zeiger cd, der übereiner Kreisteilung schwebt. Beim Wechsel der Temperatur windet sichdie Spirale auf oder zu und bewegt so den Zeiger, dessen Angabennach einem guten Quecksilberthermometer reguliert werden. DasInstrument ist äußerst empfindlich. Bei dem abgebildetenMetallthermometer hängt ein an der Nadel cd befestigtesStäbchen in das Quecksilbergefäß H H herab, welchesmit dem Messingbügel N N A nur durch das Spiralband inleitender Verbindung steht. Wird nun dasQuecksilbergefäß mit dem einen, der Messingbügelmit dem andern Pol eines galvanischen Stromerzeugers verbunden, sogeht der Strom durch das Spiralband, welches sich infolgedessenerwärmt, und die Nadel dreht sich um eine der Stärke desStroms entsprechende Anzahl von Graden. Das Quadrantenthermometer(Fig. 5) enthält ein innen aus

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Thermometer (Tiefsee -T.).

Kupfer, außen aus Platin bestehendes, kreisförmiggebogenes Band fgh, dessen eines Ende f befestigt ist, währenddas andre t t mittels eines Hebelwerks boa durch den gezahntenBogen cd einen Zeiger z z in Bewegung setzt, sobald sich das Bandmehr streckt oder biegt. Bei abnehmender Temperatur bewirkt dieSpiralfeder s s eine Drehung in entgegengesetzter Richtung. Aufdemselben Prinzip beruht das Metall-Maximum- und Minimumthermometervon Herrmann und Pfister (Fig. 6). Das eine Ende der Spirale s s,welche aus zwei Metallstreifen, außen Stahl, innen Messing,zusammengelötet ist, ist an einen festen Metallzapfen aangeschraubt, das andere Ende b ist frei. Steigt die Temperatur, sodehnt sich das Messing stärker aus als der Stahl, die Spiraleöffnet sich etwas, ihr freies Ende geht nach links u. schiebtden leicht beweglichen Zeiger cd mittels des Stifts p vor sich her;beim Erkalten schließt sich die Spirale wieder mehr, ihrfreies Ende bewegt sich nach rechts, läßt den Zeiger cdauf der erreichten Maximaltemperatur stehen und schiebt nun denZeiger fg mittels des Stifts q nach rechts, wo derselbe beierneuter Erwärmung stehen bleibt und das Temperaturminimumanzeigt. Die bogenförmige Skala wird durch Vergleichung miteinem Quecksilberthermometer graduiert. Solche Spiralen eignen sichsehr gut zur Konstruktion selbstregistrierender T. (s.Registrierapparate, S. 664).

Das Tiefseethermometer von Negretti und Zambra ist eingewöhnliches Quecksilberthermometer mit cylindrischemGefäß, dessen Hals verengert und auf besondere Weisezusammengezogen ist (Fig. 7 u. 8). Jenseit dieser Verengerung istdas Thermometerrohr mehr ausgebogen und bildet eine kleine Buchtzur Aufnahme von Quecksilber. Das Ende der alsdann geradeverlaufenden Röhre bildet ein Reservoir für das aus demcylindrischen Gefäß abfließende Quecksilber. Wirdder Apparat zunächst so gehalten, daß diesGefäß sich unten befindet, so füllt das Quecksilberdie ganze Röhre bis zu einem Raum in dem Reservoir am Endederselben, welcher für die Ausdehnung des Quecksilbersgenügt, sobald die Temperatur steigt. Kommt nun aber durcheine plötzliche Umkehrung des Apparats das cylindrischeGefäß nach oben, so zerreißt das Quecksilber beider Verengerung des Halses, u. der abgerissene Teil desQuecksilbers fließt die Röhre hinab und füllt dasReservoir u. einen Teil der Röhre oberhalb desselben,entsprechend der jedesmaligen Temperatur zur Zeit der Umkehrung;die Röhre ist deshalb von dem Reservoir aus nach oben in Gradeeingeteilt und bildet die Thermometerskala. Um das Instrument zurBeobachtung vorzubereiten, muß das cylindrischeGefäß nach unten gebracht werden und so lange in dieserLage verharren, bis es bei seinem Herablassen in das Wasser dieTemperatur seiner Umgebung angenommen hat (Fig. 7). Will man nunfür irgend eine Tiefe des Meers, eines Sees oder eines Flussesdie Temperatur bestimmen, so muß man das T. umkehren, sodaß das cylindrische Gefäß nach oben kommt (Fig.8), und es in dieser Lage halten, bis die Ablesung nach demHeraufholen des Thermometers gemacht ist. Die Menge desQuecksilbers in dem untern graduierten Teil der Röhre istnämlich so gering, daß sie von einer Änderung derTemperatur während des Heraufholens nicht oder nur sehrunbedeutend beeinflußt wird (ausgenommen, wenn diese sehrbeträchtlich sein sollte). Dagegen wird sich das Quecksilberin dem cylindrischen Gefäß mit der Ab- und Zunahme derWärme zusammenziehen oder ausdehnen. In dem letztern Fall wirdetwas Quecksilber die Verengerung am Hals des Gefäßespassieren, in die oben erwähnte seitliche Ausbuchtung gelangenund dort verbleiben, solange das Gefäß aufwärtsgerichtet ist; somit bleibt die Quecksilbermenge bei dieser Lagedes Thermometers in dem untern Teil der Röhreunverändert. Die nach dem Heraufholen des Thermometers mittelsder eingeteilten Lotleine an der Oberfläche erfolgendeAblesung desselben gibt also in der That die wirkliche Temperaturder betreffenden, durch die Lotleine bestimmten Tiefenschicht

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Thermomètre automoteur - Theromorphie.

des Wassers an, und das Instrument selbst ist ein genauerRegistrierapparat. Bei der Umkehrung des Thermometers in die Lage(Gefäß nach oben) in irgend einer Tiefe mußgroße Vorsicht angewendet werden. Zu diesem Zweck ist dasInstrument in ein hölzernes Gehäuse (s. Figur)eingefügt, welches zum Teil mit Schrotkugeln angefülltist, die sich frei von einem Ende zum andern bewegen können,und deren Gewicht so reguliert ist, daß sie den ganzenApparat gerade schwimmend im Wasser erhalten; dieser selbst istmittels eines Taues, welches durch eine Öffnung deshölzernen Gehäuses so nahe wie möglich bei demcylindrischen Gefäß geht, mit der Lotleine befestigt.Bei dem Herablassen wird das T. mit dem Gefäß in derLage nach unten herabgezogen; bei dem Heraufziehen aber wird derApparat, infolge des Widerstandes des Wassers, sich umkehren, unddas Gefäß kommt in die Lage nach oben (s. Figur). DieVorrichtung zum Schutz gegen den Wasserdruck besteht in einer dasT. umgebenden starkwandigen, hermetisch verschlossenenGlashülle, welche zum größten Teil mit Quecksilberangefüllt ist. Vgl. Gerland, Das T. (Berl. 1885).

Thermomètre automoteur (franz., spr.otomotör), s. Nachtfrost.

Thermomultiplikator, s. Wärmestrahlung.

Thermon, im Altertum Hauptort des erweitertenÄtolien in Griechenland, wozu seit ca. 300 v. Chr. auchWestlokris, Doris, Ötäa und Äniania gehörten,lag am Ostufer der Trichonis (See von Vrachori) und war wenigereine Stadt als ein Komplex von Tempeln, Versammlungsräumenetc. und Sitz des Ätolischen Bundes. T. wurde 218 v. Chr. vonPhilipp V. von Makedonien geplündert und zerstört, wobeiallein 2000 Statuen weggeführt wurden, und blieb seitdemunbedeutend. Seine Ruinen sind wahrscheinlich in Paläo-Bazarobei Petrochori zu suchen.

Thermopathogenie (griech.), Lehre von der Entstehung desFiebers.

Thermophore (griech.), s. Radiophonie.

Thermopylen ("Thor der warmen Quellen"), Engpaß ander Grenze der griechischen Landschaften Lokris und Malis (imjetzigen Nomos Phthiotis und Phokis), zwischen dem von Sümpfenumränderten Malischen Meerbusen und einem Ausläufer desBergs Öta, so benannt nach den daselbst befindlichen warmenSchwefelquellen, war bei einer Länge von mehr als einer Stundenur 50-60 Schritt breit, an vielen Stellen aber noch weit enger undwar als Haupteingang von Thessalien nach Hellas von alters her einwichtiger strategischer Punkt. Das vom Spercheiosherabgeführte Alluvium hat die Küste hier bedeutendverändert und vorgeschoben; kleine Bäche bilden jetztneben dem Weg einen bodenlosen Sumpf, durch welchen ein Steindammmit mehreren Brücken führt. - Berühmt ist derPaß besonders durch die heldenmütige Ausopferung desLeonidas und seiner Spartiaten im Juli 480 v. Chr. Währendsich die hellenische Bundesflotte an der Nordspitze von Euböa,am Vorgebirge Artemision, aufstellte, übernahmen die Spartanerdie Verteidigung der T. gegen das unermeßliche persischeHeer. Die dort aufgestellte griechische Schar bestand aus nichtganz 6000 Mann, darunter bloß 300 Spartiaten unter demOberbefehl des Königs Leonidas, welcher die alte Vermauerungdes Passes erneuern und den Paß über den Öta amKallidromos durch 1000 Phoker besetzen ließ. Als Xerxes zumAngriff schritt, schlugen die Griechen die Perser zwei Tage lang,zuletzt selbst die persische Leibwache zurück. Da führteder Malier Ephialtes 20,000 Perser unter Hydarnes auf demFußpfad, den die Phoker zu bewachen versäumten,über das Gebirge den streitenden Griechen in den Rücken.Als diese die Kunde von ihrer Umgehung erhielten, beschloßLeonidas, dem Befehl, den Paß zu hüten, gehorsam, mitden Spartiaten zu bleiben und bis auf den letzten Mann zukämpfen. Die übrigen ließ er zur Verteidigung ihrerHeimat abziehen, mit Ausnahme von 400 Thebanern, die er als Geiselnfür die Treue dieser Stadt mitgenommen hatte. Aber auch die700 Thespier blieben freiwillig bei ihm. Um 10 Uhr vormittags desdritten Tags, als von beiden Seiten die persische Übermachtzum Angriff schritt, führte Leonidas seine Schar mitten unterdie Feinde, um ihr Leben so teuer wie möglich zu verkaufen;als die Lanzen zersplittert und die Kräfte erschöpftwaren, zogen sich die Hellenen auf einen kleinen Hügelsüdlich von den Quellen zurück, wo sie einer nach demandern den Pfeilen der Perser erlagen. Von den Thebanern dagegenretteten sich viele dadurch, daß sie nach Leonidas' Tode dieWaffen streckten und den Persern beteuerten, daß sie nurgezwungen gegen sie gekämpft hätten. Das Haupt desLeonidas ließ Xerxes auf einen Pfahl stecken, und den Rumpfsoll er an das Kreuz haben schlagen lassen. Die Griechen aberwidmeten dem Andenken der Helden ein Denkmal mit der Inschrift desSimonides:

Wanderer, meld es daheim Lakedämons Bürgern:erschlagen

Liegen wir hier, noch im Tod ihrem Gebote getreu.

Im J. 191 siegte der römische Konsul Manius Acilius Glabrioüber Antiochos d. Gr. und die Ätolier, indem der Legat M.Porcius Cato die Umgehung über das Gebirge ausführte.Auch im griechischen Freiheitskampf wurde hier mehrere Male (6.Sept. 1821, dann 8. und 14. Juli 1822) gekämpft.

Thermosäule, s. Thermoelektrizität.

Thermostat (griech.), Gestell zum bequemen Erhitzen einesKörpers über der Lampe, speziell eine Vorrichtung zurselbsttätigen Regulierung der Temperatur beim Erhitzen.Erreicht die Quecksilbersäule eine bestimmte Höhe, dienicht überschritten werden soll, so schließt sie durcheinen in das Thermometer eingeschmolzenen Platindraht einenelektrischen Strom, der nun entweder nur den Wächter durcheine elektrische Klingel herbeiruft, oder auch direkt auf dieFlamme wirkt, indem er den Zufluß von Leuchtgasverringert.

Thermotherapie (griech.), Behandlung der Krankheitenmittels heißer Bäder, heißer Bähungenetc.

Thermotonus (griech.), bei Pflanzen mit reizbaren undperiodisch beweglichen Organen der durch die Wärme bedingtebewegliche Zustand derselben; vgl. Pflanzenbewegungen.

Théroigne de Méricourt (spr. teroannj d'merikuhr), "die Amazone der franz. Revolution", geb. 13. Aug. 1762zu Luxemburg, hieß eigentlich Anna Josephe Terwagne, ward inParis Kurtisane, that sich beim Zug der Pariser nach Versailles(Oktober 1789) hervor, trat in den Dienst der Jakobiner undagitierte für sie in Belgien, wo sie 1790 der kaiserlichenPolizei in die Hände fiel. Nach einjähriger Haft in Wienkehrte sie Anfang 1792 nach Paris zurück, wurde alsVerräterin vom Pöbel 10. Aug. beim Sturm auf dieTuilerien ausgepeitscht und starb 9. Juni 1797 im Irrenhaus. Vgl.Fuß, Théroigne de Méricourt (Lüttich1854).

Theromorphie (griech.), tierähnliche Bildung, sowohleine Mißbildung als eine atavistische Form, welche auf dieAbstammung des Menschen vom Tier hindeutet.

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Theron - Thespis.

Theron, Sohn des Änesidemos aus Gela, Tyrann vonAkragas (Agrigent) seit 489 v. Chr., zeichnete sich durchGerechtigkeit und Milde aus, eroberte Himera, kämpfte 480 inder Schlacht daselbst gegen die Karthager und starb 472. Pindarfeiert ihn als Sieger in den Olympischen Spielen. Sein Grabmal zuAkragas galt für ein berühmtes Kunstwerk.

Thersandros, einer der Epigonen, Sohn des Polyneikes undder Argeia, zog mit gegen Theben und ward nach des Eteokles undseines Vaters Tod König von Theben. Später zog er mitgegen Troja und kam in Mysien im Kampf mit Telephos um.

Thersítes, nach griech. Mythus derhäßlichste Mann in dem vor Troja lagernden Heer derGriechen, Sohn des Agrios und Verwandter des Diomedes, einboshafter und schmähsüchtiger Schreier, ward von Odysseuswegen Verleumdung des Agamemnon öffentlich gezüchtigt undnach späterer Sage von Achilleus getötet, weil er demLeichnam der Amazonenkönigin Penthesileia die Augenausgerissen hatte. Vgl. Jacobs, Die Episode des T. (in den"Vermischten Schriften", Bd. 6, Leipz. 1844).

Thesa (Tasa, Teja), Stadt in Marokko, östlich vonFes, am Ued el Assar, ein strategisch sehr wichtiger Punkt, hat3500 Einw., welche mit einer kleinen Garnison des Sultans in dervon einer doppelten Mauer umgebenen Stadt leben, aber dieselbe kaumverlassen können, da der die Umgegend bewohnende Stamm derRiata in Wahrheit Herr des ganzen Gebiets ist.

Thesaurus (griech., "Schatz"), bei den alten Griechen s.v. w. Schatzkammer, Schatzhaus. Die in der Regel unterirdischenSchatzhäuser (Thesauren) der alten Herrschergeschlechtergehörten zu den bedeutendsten Anlagen der griechischenVorzeit; die übliche Grundform derselben war die eineskreisrunden, durch Überkragung horizontaler Schichtenkuppelartig geschlossenen Gemachs (am bekanntesten das sogen.Schatzhaus des Atreus zu Mykenä). In der historischen Zeiterrichteten die einzelnen Staaten innerhalb des Bezirks allgemeinangesehener Heiligtümer (z. B. der zu Olympia und Delphi)eigne Thesauren zur Aufnahme der von ihnen dargebrachtenWeihgeschenke. - T. ist außerdem ein in früherer Zeitsehr beliebter und auch jetzt noch vorkommender Titel fürSammlungen von Monographien, zerstreuten Bemerkungen etc., welche,in einem größern Werk vereinigt, ein ganzeswissenschaftliches, besonders sprachliches, Gebiet umfassen, ebensofür umfangreichere, zum Gebrauch für Fachgelehrtebestimmte Wörterbücher. Bekannt sind namentlich: der "T.linguae graecae" von Henricus Stephanus und "T. linguae latinae"von Rob. Stephanus, der "T. antiquitatum graecarum" von Gronoviusund "T. antiquitatum romanarum" von Grävius.

Theseus, einer der berühmtesten Heroen desAltertums, Sohn des Königs Ägeus von Athen und derÄthra, ward bei seinem Großvater Pittheus in Trözenerzogen. Herangewachsen, nahm er das Schwert seines Vaters, welchesdieser selbst für ihn unter einem Felsblock verborgen hatte,als Erkennungszeichen und ging damit nach Athen. Unterwegs erschluger die Räuber Periphetes, Sinis, Skiron, Kerkyon, Prokrustesu. a. In Athen angekommen, sollte er auf Anstiften seinerStiefmutter Medeia (s. d.) vergiftet werden; Ägeus erkannteden Sohn aber am Schwert, und Medeia mußte fliehen. T. machtesich zunächst um das Land verdient, indem er denmarathonischen Stier erlegte. Als darauf die Gesandten des Minosnach Athen kamen, um den jährlichen Tribut von siebenJünglingen und sieben Jungfrauen für den Minotauros zuholen, ließ sich T. unter die Zahl der ausersehenen Opferaufnehmen, und es gelang ihm, mit Hilfe der Ariadne (s. d.) denMinotauros zu töten (s. Mtnotauros, mit Abbildung). Nach demTode des Ägeus trat er die Herrschaft über Attika an undzeichnete sich durch weise Herrschermaßregeln sowie durchkühne Heldenthaten aus. Er stiftete die Panathenäischenund Isthmischen Spiele, zog mit Herakles gegen die Amazonen underhielt als Siegespreis die Königin Antiope oder Hippolyte,die ihm den Hippolytos gebar, half dem Peirithoos die Kentaurenvertreiben und stieg mit demselben in die Unterwelt, um diePersephone zu entführen; hier aber wurden beide gefesseltzurückgehalten, bis sie Herakles befreite. Später nahm T.an dem Argonautenzug und an der kanonischen Jagd teil. Bei seinerZurückkunft nach Athen den Menestheus, Sohn des Peteos, aufdem Thron findend, ging er nach Skyros, wo er seinen Tod durcheinen Sturz von einem Felsen oder durch Verrat des KönigsLykomedes fand. T. war der ionische (speziell athenische)Hauptheros, den seine Verehrer zu gleichem Glanz wie die Dorierihren Herakles zu erheben suchten, insbesondere Repräsentantdes volkstümlichen Königtums. Er erhielt baldHeroendienst in Athen, und es wurde ihm ein prachtvoller Tempelerrichtet. Noch jetzt führt ein im Mittelalter als christlicheKirche, dann als Museum benutzter, kunstgeschichtlich höchstbedeutsamer Tempel in Athen den Namen Theseion, wiewohlwahrscheinlich mit Unrecht (s. Athen, S. 997). Die Darstellung desT. auf Kunstwerken ähnelt sehr der des Herakles, nur ist erstets jugendlich aufgefaßt und in seiner ganzen Erscheinungschlanker, die Keule weniger schwer, als die Herakleische.Besonders auf attischen Monumenten (Metopen und Fries des sogen.Theseions in Athen) sind seine Thaten gern dargestellt worden. Vgl.Stephani, Der Kamps zwischen T. und Minotauros (Leipz. 1842);Roßbach, T. und Peirithoos (Tübing. 1852).

Thesiger, Frederick, s. Chelmsford.

Thesis (griech.), ein Satz, namentlich ein zum Beweisaufgestellter (These); in der Metrik der Gegensatz von Arsis (s.d.), ebenso in der Musik.

Thesmophorien (griech.), altes mysteriöses Fest,welches in Athen und vielen andern Orten Griechenlands AnfangNovember nach Bestellung der Wintersaat gefeiert wurde, und zwar zuEhren der Demeter Thesmophoros, d. h. der gesetzgebenden Demeter,der Gründerin des Ackerbaues, der bürgerlichenGesellschaft sowie der rechtmäßigen Eheverbindung. Vonder Festfeier, die der Hauptsache nach in einer Prozession derFrauen nahe dem Demetertempel am Vorgebirge Kolias bestand und miteinem Festschmaus unter mimischen Tänzen und Spielen endete,waren die Männer streng ausgeschlossen. Vgl. Mommsen,Heortologie. Antiquarische Untersuchungen über diestädtischen Feste der Athener (Leipz. 1864).

Thesmotheten (griech.), s. Archonten.

Thespiä, Stadt im alten Böotien, westlich vonTheben, von deren Einwohnern 700 in den Thermopylen kämpftenund fielen, wurde von Xerxes zerstört, dann wieder aufgebaut,um später (372 v. Chr.) von den ihr stets feindlichenThebanern aufs neue zerstört zu werden. T. war Geburtsort desPraxiteles und der Phryne und blühte noch in römischerZeit. Ruinen bei Erimokastro.

Thespis, nach der griech. Sage der Erfinder des Dramas,speziell der Tragödie, indem er den dithyrambischenChören bei den Dionysien (Bakchosfesten)

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Thesprotia - Theuriet.

einen Monolog (und also einen Schauspieler) hinzufügte, derin der Regel eine auf Bakchos bezügliche mythische Geschichteenthielt, war aus Ikaria in Attika gebürtig und lebte um 540v. Chr. Falsch ist die Nachricht, daß T. mit einer wandelndenBühne aus einem Karren herumgezogen sei; doch ist derThespiskarren für wandelnde Bühnen seit Horazsprichwörtlich geworden. Vgl. Schauspielkunst, S. 414.

Thesprotia, Landschaft im alten Epirus, reichte vomAmbrakischen Meerbusen (Golf von Arta) bis an den Thyamis (Kalamas)und ward vom Acheron (heute Phanariotiko) durchströmt. DieThesproter, die schon in der "Odyssee" als ein seefahrendes, vonKönigen beherrschtes Volk genannt werden, waren einillyrischer Stamm, welcher erst allmählich sich hellenisierte;zur Zeit des Peloponnesischen Kriegs war ihr Staat dermächtigste in Epirus.

Thessalien, alte Landschaft im nördlichenGriechenland, grenzt gegen W. an Epirus, von dem es der Pindostrennt, gegen N. an Makedonien, gegen O. an das Ägeische Meer,gegen S. an den Pagasäischen und Malischen Meerbusen und andas Gebiet der Doloper und Änianen. Die Hauptgebirge sind: derOlympos (2985 m), Ossa (1953 m), Pelion (Plessidi, 1620 m) im N.,der Othrys (1728 m) im S., der Pindos (2168 m) im O. Die Gebirge imN. und S. sind leicht zu überschreiten, so daß T.wiederholt Völkerwanderungen und Eroberern zum Durchzugslanddiente. Ein nur 800 m hoher Gebirgszug, die berühmtenKynoskephalä, teilt die von jenen Bergen umringte thessalischeEbene, die einst ein Binnensee gewesen ist, in zweiwohlbewässerte Hälften. Hauptfluß ist der Peneios.Der Boden war fruchtbar; besonders gab es gute Weiden, weshalb diePferdezucht in T. zu Hause war. Die Thessalier waren alsPferdebändiger ebenso berühmt wie als Zauberer. Dieeinzelnen Stadtgebiete waren (vom Beginn der Olympiaden bis ins 3.Jahrh. v. Chr.) in vier Bezirke (sogen. Tetraden) verteilt. Diesewaren: Hestiäotis, nebst dem Gebiet der Perrhäber, derwestliche und nördliche Teil des Landes mit den StädtenTrikka, Gomphi, Ithome; Pelasgiotis, im O. längs der HalbinselMagnesia mit Larissa, der größten Stadt des Landes,Krannon, Pherä, Skotussa; Thessaliotis, der südwestlicheTeil der thessalischen Ebene, mit Kierion und Pharsalos, undPhthiotis oder Achaia Phthiotis, der Süden u. Südostendes Landes mit Halos und Thebä Phthiotides, wozu alsfünfte Landschaft noch der Küstenstrich Magnesia mit derStadt Demetrias kam, der ein selbständiges Gemeinwesenbildete. S. Karte "Altgriechenland". - Als älteste Bewohnerdes Landes werden Pelasger genannt, welche die Ureinwohnerunterjochten und zu Leibeignen machten, die unter dem NamenPenesten einen ähnlichen unterdrückten Stand bildeten wiedie Heloten in Sparta. Die "Ilias" kennt den Namen T. noch nicht.Der Tradition nach fielen 60 Jahre nach Trojas Fall diewahrscheinlich illyrischen Thessalier, ein Teil der Thesproter, ausEpirus in T. ein und veranlaßten dadurch die DorischeWanderung. Sie wurden später hellenisiert, blieben abergeistig unbedeutend. Um so mehr leisteten sie in athletischenKünsten. Unter den edlen Geschlechtern waren schon zur Zeitder Perserkriege die Aleuaden in Larissa und die Tyrannen zuPherä, die ihren Ursprung auf Jason zurückführten,berühmt. Unter dem spätern Tyrannen Alexander war T. derSchauplatz eines Kriegs mit den Thebanern unter Pelopidas. Dannstand T. im Bund mit Theben gegen Sparta. Nach Alexanders Ermordung(359) riefen die Aleuaden gegen dessen Nachfolger Tisiphonos undLykophron den König Philipp von Makedonien zu Hilfe, der sichaber bald selbst zum Herrn des Landes machte. Von da an blieb T. inmakedonischer Abhängigkeit, und wenn auch für Augenblickeder Ätolische Bund im Besitz des Landes war, so war es dochschon so weit makedonisiert, daß es keinen weitern Versuchmachte, die frühere Selbständigkeit wiederzuerlangen. AlsPhilipp III. mit den Römern Krieg führte, standen dieThessalier auf seiner Seite. Nach der Schlacht beiKynoskephalä, in der ersterer besiegt wurde, ward T. mit denandern griechischen Staaten bei den Isthmischen Spielen fürfrei erklärt (196) und bildete bis 146 einen Bund, um dannunter römischen Einfluß zu gelangen. Es behielt zwarseine Verfassung, wurde aber als Provinz behandelt. Unter denKaisern wurde es förmlich zu einer solchen gemacht und, da esnicht groß genug war, zu Makedonien geschlagen. Konstantin d.Gr. machte es dagegen zu einer eignen Provinz und stellte es unterdie Präfektur Illyrien. Hierauf kam es zum byzantinischen undzu Anfang des 13. Jahrh. zum lateinischen Kaisertum, obwohl sichwährend dieser Zeit manchmal eigne Dynasten in Besitz desLandes setzten und darin zu behaupten wußten. 1460-1881 warT. in der Gewalt der Türken. Jetzt bildet es die griechischenNomarchien Larissa und Trikkala. S. Karte "Griechenland".

Thessalonicher, Briefe an die, zwei Schriften desneutestamentlichen Kanons, welche vom Apostel Paulus wahrscheinlichzu Korinth abgefaßt worden sind, ihre Veranlassung in seinemInteresse für die erst kürzlich von ihm gestifteteGemeinde zu Thessalonich haben und insbesondere ihre Erwartungenvon der Zukunft Christi berichtigen sollen. Neuerdings ist dieAuthentie wenigstens des zweiten dieser Briefe fast gänzlichzweifelhaft geworden. Vgl. P. Schmidt, Der ersteThessalonicherbrief (Berl. 1885).

Thessalonike, Stadt, s. Saloniki.

Thetford, Stadt in der engl. Grafschaft Norfolk, an derKleinen Ouse, hat Malzdarren, Handel und (1881) 4032 Einw. T. warfrüher Hauptstadt Ostanglias; die Ruinen eines Palastes undmehrerer kirchlicher Gebäude zeugen noch von seiner ehemaligenBedeutung.

Thetis (nicht zu verwechseln mit Tethys), in der griech.Mythologie Tochter des Nereus und der Doris, wider ihren WillenGemahlin des Peleus (s. d.), Mutter des Achilleus. Als Peleus siewegen des gefährlichen Mittels, durch das sie ihren Sohnunsterblich machen wollte (s. Achilleus), tadelte, stieg sie zuihrem Vater in die Tiefen des Meers zurück, und nur bisweilenbegab sie sich auf die Erde, um ihrem Sohn Achilleus dlezärtlichste Muttersorge zuwidmen.

Theuerdank, s. Pfinzing.

Thëurgie (griech.), die vorgebliche Kunst, sichdurch gewisse Zeremonien und Handlungen mit den Göttern undGeistern in nähere Verbindung zu setzen und sie zuHervorbringung übernatürlicher Wirkungen für sich zugewinnen. Die T. hat ihren Ursprung bei den Magiern derChaldäer und Perser. Auch die Ägypter rühmten sich,große Geheimnisse darin zu besitzen. Unter den Philosophenspielte sie bei den Neuplatonikern eine große Rolle,namentlich bei Jamblichos und Proklos. Auch im Mittelalter kommenhäufig Spuren von ihr vor. Vgl. Lobeck, Aglaophamus(Königsb. 1829, 2 Bde.), und Litteratur bei Magie.

Theuriet (spr. töria), André, franz. Dichterund Romanschreiber, geb. 1833 zu Marly le Roi bei Paris, studiertedie Rechte in Paris und erhielt 1857 eine Anstellung imFinanzministerium. In demselben

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Theux de Meylandt - Thibaudin.

Jahr veröffentlichte die "Revrte des Deux Mondes" einGedicht von T.: "In memoriam", das sehr bemerkt wurde, dann aberschwieg er lange. Erst 1867 erschien "Le chemin des bois", ein BandGedichte, in welchen er den Wald besang, und die ihn zum Lieblingder Frauenwelt machten (in 2. Aufl. 1877 von der Akademiegekrönt). Weitere Werke von T. sind : "Les paysans del'Argonne, 1792", episches Gedicht (1871), "Le Bleu et le Noir,poème de la vie réelle" (1872); dann die Romane:"Mademoiselle Guignon" (1874), "Le mariage de Gérard", "UneOndine" (1875), "La fortune d'Angèle" (1876), "Raymonde"(1877); ferner: "Le filleul d'un Marquis" (1878), "Le fils Maugars"(1879), "Le sang des Finoël" (1879), "Tante Aurélie","Mariage de Gérard" (1884), der Novellenband "L'amoureux dela préfète" (1888), "Deux soeurs", Roman (1889), u.a. Die französische Akademie erkannte T. auch alsRomanschriftsteller 1878 einen ihrer ersten Preise zu. Als solcherzeichnet er sich ebenfalls durch einen tiefen Sinn für dieNatur und ein seltenes, an George Sand erinnerndes Talent aus,landschaftliche Stimmungsbilder zu entwerfen, und entschädigtdadurch für eine manchmal etwas lockere Erzählung oderungenügende Charakterzeichnung. T. ist seit geraumer Zeit eineder Stützen der "Revue des Deux Mondes".

Theux de Meylandt (spr. thö), BarthélemyTheodore, Graf de, belg. Staatsmann, geb. 25. Febr. 1794 aufSchabroek im Limburgischen, studierte zu Lüttich die Rechte,ward Advokat daselbst, im November 1830 Mitglied des Kongresses,1831 Mitglied der Deputiertenkammer und im Dezember d. J. Ministerdes Innern. Nachdem er 1832 mit seinen Kollegenzurückgetreten, ward er im August 1834 mit der Bildung einesneuen klerikalen Ministeriums beauftragt, worin er nebst derPräsidentschaft das Portefeuille des Innern und späterdas des Auswärtigen übernahm. Nach dem Sturz dieserVerwaltung 1840 ward T. in den Grafenstand erhoben und war nocheine Zeitlang als Minister ohne Portefeuille thätig. 1846 trater abermals an die Spitze eines klerikalen Kabinetts, mußteaber schon 13. Aug. 1847 infolge des Siegs der liberalen Linken beiden Wahlen zurücktreten und war bis 1870 eins der Häupterder klerikalen Partei in der Kammer. Ende 1871 wurde er in einemneuen klerikalen Ministerium Präsident und Minister ohnePortefeuille. Er starb 21. Aug. 1874 auf seinem Gut Meylandt beiHasselt.

Thiaki, jetziger Name von Ithaka.

Thianschan (Tienschan, "Himmelsgebirge"), mächtigesGebirge in Zentralasien (s. Karte "Zentralasien"), das vom 96.°östl. L. v. Gr. in der Wüste Gobi bis zum 65.° in dieEbenen der Bucharei unweit der Stadt Bochara reicht, und etwa 2600km lang ist. Im O. schmal, wächst das Gebirge nach W. zu anBreite und zerteilt sich hier in spitze, winkelig auseinandergehende Höhenzüge (Terek-Tagh, Alexanderkette,Transilenischer Alata u. a.), so daß die Breite schon amWestrand des Sees Issikul 1500 km beträgt. Die einzelnenHauptketten erscheinen kulissenartig übereinander geschoben,so daß die nördlichste im W. schon unter dem 77.Meridian endigt, wo die südlichste im O. kaum begonnen. DieLängsthäler herrschen vor, die größernöffnen sich nach W., so das Thal des Ili im N., welches sichzu einem breiten Steppengebiet erweitert, oder das des Tschu. MitZunahme der Breite nimmt die Starrheit und Unzugänglichkeitab, doch ist unsre Kenntnis der Hauptzüge noch sehrlückenhaft, viele Gipfel sind nur aus großer Fernevisiert worden; auch tragen die einzelnen Ketten nicht immereinheitliche Namen. Die äußerste Kette im NO., welchedie Dsungarei vom Tarimbecken trennt, reicht im Massiv desBogdo-ola in die Schneeregion (hier 4000 m), auch das Quelle gebietdes Ili ist von Gletschern umstarrt, und den Issikul umgeben Gipfelvon 4500 m; die höchsten Erhebungen scheinen aber dem mittlernTeil anzugehören, wo der Chan-Tengri 6500 m, nach einigensogar 7500 m erreichen soll. Die meisten Paßeinsenkungen sindhier vergletschert, am Ostfuß des Chan-Tengri führt derMusartpaß (3900 m) als einziger gangbarer aus dem Tekesthalin das Tarimbecken und verbindet so Kuldscha mit Aksu. Diewestlichen Pässe sind aber für den Verkehr wichtiger,insbesondere ist der Terek Dawan (3727 m) von alters herHauptstraße zwischen Ost- und Westturkistan gewesen.Erloschene Vulkane finden sich in beträchtlicher Menge amWestrand des Tarimbeckens, dagegen ist das Vorhandenseinthätiger Vulkane bisher nicht festgestellt worden. Das Rauchendes früher als Vulkan bezeichneten Beschan, südlich vomJuldusplateau, ist brennenden Kohlenlagern zuzuschreiben. Vgl.Sewerzow, Erforschung des Thianschangebirgssystems 1867(Ergänzungsheft zu "Petermanns Mitteilungen", Gotha 1875).

Thianschan-Nanlu, das westliche Becken des Han-hai,besser Tarimbecken genannt ; s. Han-hai.

Thianschan-Pelu, chines. Name der Dsungarei.

Thibaudeau (spr. tibodoh), Antoine Claire, Graf, franz.Staatsmann und Historiker, geb. 23. März 1765 zu Poitiers,ward Advokat daselbst, 1792 Konventsdeputierter, schloß sichder Bergpartei an und stimmte für den Tod des Königs.Nach dem Sturz Robespierres trat er auf die Seite derGemäßigten, ward im März 1795 Präsident desKonvents, dann Mitglied des Wohlfahrtsausschusses und 1796Präsident des Rats der Fünfhundert, nach der Revolutionvom 18. Brumaire Präfekt von Bordeaux, dann Staatsrat und 1803unter Erhebung in den Grafenstand Präfekt der Gironde,später der Rhonemündungen. Nach der zweiten Restauration1815 verbannt, ging er zunächst nach der Schweiz, dann nachPrag, wo er ein Handelshaus errichtete. Nach der Julirevolution von1830 kehrte er nach Frankreich zurück, beteiligte sich hieraber nicht an den öffentlichen Angelegenheiten. 1852 vonNapoleon III. zum Senator ernannt, starb er 8. März 1854. Erschrieb unter anderm: "Mémoires sur la Convention et leDirectoire" (Par. 1824, 2 Bde.); "Mémoires sur le Consulatet l'Empire" (das. 1835, 10 Bde.); "Histoire généralede Napoléon Bonaparte" (das. 1827 bis 1828, 5 Bde.; deutsch,Stuttg. 1827-30); "Histoire des États générauxet des institutions représentatives en France" (Par. 1843, 2Bde.). Nach seinem Tod erschien: "Ma biographie; mesmémoires 1765-92" (Par. 1875).

Thibaudin (spr. tibodäng), Jean, franz. General,geb. 13. Nov. 1822 zu Moulins-Engilbert (Nièvre), trat 1841in die Schule von St.-Cyr, ward 1843 Infanterieleutnant, dienteanfangs in Algier, kämpfte 1859 als Hauptmann in Italien,befehligte 1870 als Oberst das 67. Linienregiment in derRheinarmee, fiel nach der Kapitulation von Metz in deutscheGefangenschaft und wurde in Mainz interniert. Von hier entwich erim Dezember unter Bruch seines Ehrenworts nach Frankreich undstellte sich hier dem Kriegsminister wieder zur Verfügung.Nachdem er den Namen seiner Mutter, Comagny, angenommen, wurde ihmdas Kommando der 2. Division des 24. Armeekorps bei der ArmeeBourbakis und nach der

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Thibaut IV. - Thienemann.

Absetzung des Generals Bressolles das des Korps selbstübertragen, mit welchem T. 1. Febr. 1871 nach der Schweizübertrat. Nach dem Krieg wurde er zwar von derUntersuchungskommission nicht verurteilt, aber mit Rücksichtauf eine Reklamation der deutschen Regierung in Inaktivitätversetzt. Jedoch schon 1872 wurde er rehabilitiert, zum Oberstendes 32. Linienregiments ernannt und, da er sich als eifrigerRepublikaner zeigte, bald zum Brigadegeneral und, nachdem er unterFarre Direktor des Infanteriewesens im Kriegsministerium gewesenwar, 1882 zum Divisionsgeneral befördert. Da er bei derMinisterkrisis Ende Januar 1883 sich bereit erklärte, dieAusführung des Prätendentengesetzes gegen die in derArmee dienenden Prinzen von Orléans zu übernehmen, warder 30. Jan. 1883 zum Kriegsminister ernannt, nahm aber schon imOktober d. J. auf Verlangen der übrigen Minister seineEntlassung, da er sich weigerte, dem König von Spanien einenBesuch zu machen. 1885 wurde er zum Kommandanten von Paris ernannt,aber wegen seiner Beziehungen zu der durch den Ordensschacherbelasteten Frau Limouzin im November 1887 abgesetzt.

Thibaut IV. (spr. tiboh), Graf von der Champagne undBrie, seit 1234 König von Navarra, geb. 1201, war ein eifrigesMitglied der Adelskoalition, die sich die MinderjährigkeitLudwigs IX. zu nutze machen wollte. Aber der schönen MutterLudwigs, Blanche von Kastilien, gelang es, den Grafen auf ihreSeite zu ziehen und ihn später gegen die Rache seinerfrühern Freunde zu schützen. Dafürüberließ er ihr, als er den Thron von Navarra erbte, dieGrafschaften Blois, Chartres und Sancerre. T. starb 1253 in derChampagne nach der Rückkehr aus dem Heiligen Land.Großen Ruhm erwarb sich T. als Trouvère besondersdurch seine Liebeslieder; Dante und Petrarca zählen zu seinenaufrichtigsten Bewunderern. Seine Gedichte, welche sich trotz ihreskunstvollen Baues durch den leichten und graziösen Flußder Verse, Innigkeit und Wahrheit der Gefühle und durch reineund klare Sprache auszeichnen, nehmen eine Art Mittelstellung einzwischen der nordfranzösischen Lyrik und der Poesie derTroubadoure, und man wird kaum fehl gehen, wenn man annimmt,daß die zartesten und duftigsten Blüten seiner Dichtungunter dem Einfluß des liederreichen Hofs von Navarraerblüht sind. Von den 66 überlieferten Liedern sind 39Liebeslieder, die andern Kampflieder, fromme Rügelieder etc.;sie sind herausgegeben von Lévesque de la Ravallière(Par. 1742, 2 Bde.) und von Tarbé (Reims 1851). Vgl.Delbarre, Vie de T. (Laon 1850).

Thibaut (spr. tiboh), Anton Friedrich Justus,ausgezeichneter Lehrer des röm. Rechts, geb. 4. Jan. 1772 zuHameln, studierte in Göttingen, Königsberg und Kiel, ward1798 Professor in Kiel, 1802 nach Jena und 1806 nach Heidelbergberufen, wo er 28. März 1840 starb. Sein Hauptwerk ist das"System des Pandektenrechts" (Jena 1803, 2 Bde.; 9. Aufl. vonBuchholtz, das. 1846). Gemeinschaftlich mit Löhr undMittermaier gab er Bd. 6-23 des "Archivs für die zivilistischePraxis" (Heidelb. 1823-40) heraus. Seinen "JuristischenNachlaß" veröffentlichte Guyet (Berl. 1841-42, 2 Bde.).Als Kenner der klassischen Musik bewies er sich in der Schrift"Über Reinheit der Tonkunst" (Heidelb. 1825, 6. Aufl. 1884).Vgl. E. Baumstark, A. F. J. T. (Leipz. 1841).

Thibet, Land, s. Tibet.

Thièle (spr. tjähl, Zihl), linksseitigerNebenfluß der Aare, 134 km lang, entsteht als Orbe in demfranzösischen Jurasee Lac des Rousses (1075 m ü. M.),durchfließt, im Val de Joux auf Schweizergebietübergetreten, den Lac de Joux (1009 m ü. M.) und den LacBrenet, verschwindet von hier an durch einen Trichter, in welchemdie Werke einer Mühle sich befinden, unter den Kalkfelsen undkommt erst 4 km weiter als "Source de l'Orbe" aus einer hohenFelswand wieder hervor (783 m). Bald wieder einen ansehnlichenBergstrom bildend, zieht die T. durch das enge Thal von Valorbe,betritt unterhalb des Städtchens Orbe ein weites Sumpfland undmündet, schon unter dem Namen Toile oder (Obere) T., in denNeuenburger See (435 m). Als Mittlere Zihl verläßt derFluß sein großes Läuterungsbassin und erreichtjetzt in geradem, kanalisiertem Lauf den Bieler See. Die Untere T.,vom Austritt aus diesem Seebecken bis zur Aare, ist jetzt, nachAusführung großer hydrotechnischer Arbeiten, mit derAare selbst vereinigt und erreicht deren altes Bett beiMeienried-Buren (430 m). S. Juragewässerkorrektion.

Thielmann, Johann Adolf, Freiherr von, preuß.General, geb. 27. April 1765 zu Dresden, trat 1782 in einsächsisches Chevaulegers-Regiment, ward 1784 Leutnant, 1790 zueinem Husarenregiment versetzt, machte die Feldzüge am Rheinmit, ward 1798 Stabsrittmeister und focht 1806 bei Jena. Am 15.Okt. d. J. an Napoleon I. gesandt, ward er ganz von Bewunderungfür diesen erfüllt und betrieb die Allianz Sachsens mitFrankreich. Er diente als Major und Flügeladjutant impolnischen Feldzug, ward 1809 Oberst und Generaladjutant sowie kurzdarauf Generalmajor, deckte im Kriege gegen ÖsterreichSachsen, ward 1810 Generalleutnant, kommandierte 1812 inRußland eine Kavalleriebrigade und zeichnete sich besondersin der Schlacht an der Moßkwa aus, wofür er in denFreiherrenstand erhoben wurde. 1813 war er dafür, daßSachsen sich von Napoleon lossage, und suchte als Kommandant vonTorgau die dort versammelten Truppen zur Vereinigung mit denAlliierten zu bewegen. Als ihm dies nicht gelang, ging er im Maiallein zu denselben über, ward erst Befehlshaber einesStreifkorps, dann des sächsischen Korps, das er 1814 inFrankreich befehligte, trat 9. April 1815 in preußischeDienste über, führte 1815 bei Ligny und besonders beiWavre das 3. Armeekorps, ward 1816 kommandierender General des 7.,1819 des 8. Korps und starb als General der Kavallerie 10. Okt.1824 in Koblenz. Vgl. v Minckwitz, Die Brigade T. in dem Feldzugvon 1812 in Rußland (Dresd. 1879).

Thielt, Arrondissem*ntshauptstadt in der belg. ProvinzWestflandern, Knotenpunkt der Eisenbahnen Lichtervelde-T. undDeynze-Ingelmünster, hat ein Kommunalcollège,Spitzenklöppelei, Leinweberei, Ölfabrikation, Handel und(1888) 9850 Einw.

Thiene (spr. ti-ene), Distriktshauptstadt in der ital.Provinz Vicenza, an der Eisenbahn Vicenza-Schio gelegen, hat einenPalast mit Fresken von Veronese, bedeutende Tuchfabrikation und(1881) 5217 Einw.

Thienemann, Friedrich August Ludwig, Ornitholog, geb. 25.Dez. 1793 zu Gleina an der Unstrut, studierte seit 1813 in LeipzigMedizin und Naturwissenschaften, bereiste seit 1820 den NordenEuropas, namentlich Island, ward 1825 als Inspektor desköniglichen Naturalienkabinetts nach Dresden berufen und 1839zum königlichen Bibliothekar ernannt, legte aber schon 1842aus Gesundheitsrücksichten diese Stelle wieder nieder undstarb 24. Juni 1858 in Trachenberg bei Dresden. Seine Hauptwerkesind

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Thienen - Thiers

die "Systematische Darstellung der Fortpflanzungsgeschichte derVögel Europas" (mit seinem Bruder G. A. W. Thienemann und Chr.L. Brehm, Leipz. 1825 bis 1838, 5 Abtlgn.) und"Fortpflanzungsgeschichte der gesamten Vögel" (das. 1845-56,10 Hefte mit 100 Tafeln); "Reise im Norden Europas" (das. 1824 bis1827, 2 Bde.).

Thienen, Stadt, s. Tirlemont.

Thiengen, Stadt im bad. Kreis Waldshut, an der Wutach undder Linie Mannheim-Konstanz der Badischen Staatsbahn, 350 m ü.M., hat eine kath. Kirche, ein Schloß, 2 Bezirksforsteien,Baumwollspinnerei und -Weberei, Verbandstofffabrikation, Viehhandelund (1885) 2231 meist kath. Einwohner.

Thierfelder, Albert, Komponist, geb. 30. April 1846 zuMühlhausen i. Th., einer der letzten Schüler von MoritzHauptmann, wirkte als Dirigent zuerst in Elbing, dann inBrandenburg und wurde 1886 als Universitätsmusikdirektor nachRostock berufen. Er schrieb eine Symphonie in C moll, Sonaten, einKlavierquartett, das Chorwerk "Zlatorog" (Text von Rud. Baumbach)für Chor, Solo und Orchester, mit verbindender Deklamation, u.a.

Thierry (spr. tjerri), 1) Augustin, hervorragender franz.Geschichtschreiber, geb. 10. Mai 1795 zu Blois, besuchte dieNormalschule in Paris, widmete sich dem Studium der Geschichte,namentlich der französischen und englischen, ward 1830Mitglied der Akademie und starb erblindet 22. Mai 1856 in Paris. Erschrieb: "Histoire de la conquête de l'Angleterre par lesNormands" (Par. 1825, 4 Bde.; deutsch, Berl. 1830-1831, 2 Bde.),"Lettres sur l'histoire de France" (Par. 1827, 13. Aufl. 1868),"Dix ans d'études historiques" (1834, 11. Aufl. 1868),"Récits des temps mérovingiens" (1840, 2 Bde., invielen Ausgaben; deutsch, Elberf. 1855), die von der Akademie miteinem Hauptpreis gekrönt wurden, "Essai sur l'histoire de laformation et des progrès du tiers-état" (1853, neueAusg. 1868), welche Werke zuletzt in 9 Bänden (Par. 1883)gesammelt erschienen, und gab den "Recueil des monumentsinédits de l'histoire du tiers-état" (das. 1843-70, 4Bde.) heraus. Vgl. Aubineau, M. Aug. T., son systèmehistorique et ses erreurs (2. Aufl., Par. 1879).

2) Amédée, namhafter franz. Geschichtschreiber,Bruder des vorigen, geb. 2. Aug. 1797 zu Blois, erhielt eineProfessur in Besançon, ward nach der Julirevolution zumPräfekten des Departemnts Obersaône ernannt, 1831 in dieAkademie aufgenommen, 1838 Requetenmeister im Staatsrat und 1860Senator; starb 27. März 1873. Er schrieb: "Histoire desGaulois jusqu'à la domination romaine" (Par. 1828, 3 Bde.;6. Aufl. 1877, 2 Bde.); "Histoire de la Gaule sous la dominationromaine" (1840-47, 3 Bde.; 4. Aufl., 2 Bde.); "Récits (und"Nouveaux récits") de l'histoire romaine au V.siècle" (1860-1878, 6 Bde.: "Alaric", "Placidie", "Dernierstemps de l'Empire d'Occident", "Saint Jérôme, lasociété chrétienne à Rome etl'emigration romaine en Terre Sainte", "Saint Jean Chrysostome etl'impératrice Eudoxie", "Nestorius et Eutychès");"Tableau de l'Empire romain" (das. 1862 u. öfter); "Histoired'Attila et de ses successeurs" (das. 1864; 6. Aufl. 1876, 2 Bde.;deutsch, Leipz. 1874).

Thiers (spr. tjähr), Arrondissem*ntshauptstadt imfranz. Departement Puy de Dôme, malerisch am steilen Abhangdes Besset (623 m) über der Durolle gelegen, Station derEisenbahn von St.-Etienne nach Clermont-Ferrand (Abzweigung nachSt.-Germain des Fossés), hat 2 Kirchen aus dem 11. Jahrh.,viele mittelalterliche Häuser, ein Handelsgericht,Collège, Gewerbeschule, Handelskammer u. (1886) 11,753 Einw.T. ist der Mittelpunkt einer ausgedehnten Messerindustrie, welcheüber 400 Werkstätten mit gegen 12,000 Arbeiternbeschäftigt, und betreibt außerdem Fabrikation vonPapier, Quincaillerien, Kerzen, Decken, Asphalt und Leder sowielebhaften Handel.

Thiers (spr. tjähr), Louis Adolphe, franz.Staatsmann und Geschichtschreiber, geb. 15. April 1797 zu Marseilleals Sohn eines Advokaten, studierte in Aix die Rechte, ließsich 1820 daselbst als Advokat nieder, begab sich aber schon imSeptember 1821 mit seinem Freund Mignet nach Paris, um dort alsJournalist seine Talente geltend zu machen. Er schrieb zuerstfür den "Constitutionnel", das vornehmste Organ der liberalenPartei, und veröffentlichte außer einer mehrfachaufgelegten Schrift über Jean Law (1826, neue Ausg. 1878)1823-27 seine "Histoire de la Révolution française"in 6 Bänden (15. Aufl. 1881, 10 Bde.; deutsch von Jordan,Leipz. 1854), welche seinen Ruhm als Historiker begründete.Als Karl X. durch die Ernennung des Ministeriums Polignac derliberalen Partei den Krieg erklärte, gründete diese unterder Leitung von T., Armand Carrel und Barrot im Januar 1830 den"National", der durch die Kraft und Kühnheit seiner Polemikgegen die bestehende Dynastie bald großen Einflußgewann. Besonders elektrisierte die Massen das von T. erfundeneSchlagwort: "Le roi règne, mais ne gouverne pas". Als 26.Juli 1830 die berüchtigten Ordonnanzen erschienen,versammelten sich die Redakteure aller liberalen Journale imBüreau des "National" und erließen unter T.' Leitungeinen Protest gegen diese Regierungsmaßregel. Nachdem Siegder Revolution führte T. die Unterhandlungen mit dem Herzogvon Orléans, der auch 31. Juli auf dem Stadthaus den von T.an der Spitze einer Deputation wiederholten Antrag, den Thron zubesteigen, annahm. Als die Ordnung wiederhergestellt war, wurde T.11. Aug. zum Staatsrat und Generalsekretär, sodann AnfangNovember von Laffitte zum Unterstaatssekretär der Finanzenernannt. Zu derselben Zeit von der Stadt Aix in dieDeputiertenkammer gewählt, bildete er sich rasch zu einemRedner aus, dessen Präzision und Gewandtheit bald Anerkennungfanden. Hierdurch und durch seine administrativen Gaben denregierenden Kreisen empfohlen, ward er nach Périers Tod 11.Okt. 1832 Minister des Innern, 25. Dez. 1832 des Handels und deröffentlichen Arbeiten. Bei der Umgestaltung des Kabinetts 4.April 1834 übernahm er wieder das Departement des Innern.Während ihn die Strenge, die er bei der Unterdrückung derdemokratischen Unruhen in Paris und Lyon zeigte, auf immer mitseinen alten republikanischen Freunden entzweite, ward er dem Hofnoch unentbehrlicher und behauptete sich 1834-36 trotz mehrfacherMinistertwechsel im Kabinett, die "Politik des Widerstandes" mitErfolg verfechtend. Im Februar 1836 erhielt er den Vorsitz im neuenKabinett zugleich mit dem Portefeuille des Auswärtigen,mußte aber schon 26. Aug. 1836 zurücktreten, da derKönig dem schon beschlossenen Einschreiten in Spanien zugunsten des Liberalismus seine Zustimmung versagte, und stand nunzwei Jahre lang an der Spitze der dynastischen Opposition. Seit 13.Dez. 1834 war er auch Mitglied der Akademie. Am 1. März 1840als Minister des Auswärtigen wieder an die Spitze desKabinetts gestellt, bewirkte er die Zurückführung derLeiche Napoleons I. von St. Helena und die Befestigung von Paris.Sein Plan, der Quadrupelal-

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Thiers (Louis Adolphe).

lianz vom 15. Juli entgegen den Vizekönig von Ägyptenzu unterstützen und in dem allgemeinen Krieg die Rheingrenzewiederzugewinnen, scheiterte an der Weigerung des friedfertigenKönigs. T. reichte daher 21. Okt. seine Entlassung ein undgriff den schon früher gefaßten Plan wieder auf, dieGeschichte Napoleons I. zu schreiben, zu welchem Behuf er 1841 bis1845 dessen Schlachtfelder in Deutschland und Italien bereiste. Inder Kammer gesellte er sich wieder zur Opposition, derenFührung er jedoch nicht erlangte, obwohl er bei denVerhandlungen über die Regentschaft (1842), die Jesuiten(1845) und die Rechte der Universität (1846) heftig gegen dieRegierung auftrat. Als die Februarrevolution von 1848 denKönig zwang, das Ministerium Guizot zu entlassen, sollte T.mit Barrot ein neues bilden, durch welches Ludwig Philipp den Sturmbesänftigen wollte. Dasselbe kam aber nicht mehr zu stande,und T. hielt es für geraten, nach Proklamierung der RepublikParis zu verlassen. Er blieb Orléanist und nahm in derNationalversammlung eine Mittelstellung ein. Den PlänenNapoleons wirkte er eifrig entgegen und ward daher beimStaatsstreich 2. Dez. 1851 verhaftet und dann in das Auslandentlassen. 1852 ward ihm die Rückkehr nach Frankreichgestattet, wo er sich elf Jahre lang vom öffentlichenpolitischen Leben fern hielt und sich ganz der schriftstellerischenThätigkeit widmete. Die Frucht derselben war die "Histoire duConsulat et de l'Empire" (Par. 1845 bis 1862, 20 Bde.; Register1869; deutsch von Bülau, Leipz. 1845-62, 20 Bde.; vonBurckhardt und Steger, das. 1845-60, 4 Bde.). 1863 wurde T. inParis in den Gesetzgebenden Körper gewählt und ward hierder Führer der kleinen, aber mächtigen Opposition. Erbekämpfte in glänzenden Reden ("Discours prononcésau Corps législatif", Par. 1867) besonders den falschenKonstitutionalismus und die auswärtige Politik desKaiserreichs, sowohl in Zollfragen als namentlich die Interventionin Italien, welche die Gründung der italienischen Einheit, undsein Verhalten 1864-66 in der deutschen Frage, welches Sadowa zurFolge gehabt habe. Um das legitime Übergewicht Frankreichs zubehaupten, drang er auch auf Aufrechthaltung eines tüchtigenstehenden Heers nach altem System, da er von allgemeinerWehrpflicht und Volksbewaffnung nichts wissen wollte. Mit um sogrößerer Energie widersetzte er sich 15. Juli 1870 derübereilten Kriegserklärung und erklärte mitspäter bestätigter Einsicht Frankreich für nichtgerüstet. Nach dem Sturz des Kaiserreichs übernahm er imSeptember eine Rundreise an die Höfe derGroßmächte, um sie zu einer Intervention fürFrankreich zu veranlassen, kehrte aber Ende Oktober unverrichteterSache zurück und begann nun im Auftrag der RegierungUnterhandlungen mit dem deutschen Hauptquartier über einenWaffenstillstand, die ebenso erfolglos endeten. Bei den Wahlenfür die Nationalversammlung ward er in 20 Departements zumDeputierten und, da alle Parteien ihr Vertrauen auf ihn setzten,schon 17. Febr. 1871 von der Versammlung zum Chef derExekutivgewalt gewählt. Seine erste Aufgabe war, den Friedenmit Deutschland zu stande zu bringen; er führte selbst dieVerhandlungen mit Bismarck und rettete wenigstens Belfort. Am 1.März setzte er die Annahme des Friedens in derNationalversammlung durch und bewog 10. März diese, ihren Sitznach Versailles zu verlegen. Der Kommuneaufstand in Paris 18.März brachte T. in die höchste Bedrängnis, und nurseinem Mut und Selbstvertrauen sowie seiner unermüdlichenThätigkeit war es zu danken, daß derselbeüberwunden und gleichzeitig 10. Mai der definitive Friede mitDeutschland abgeschlossen wurde. Daran schlossen sich dieerfolgreichen Maßregeln zur Beschassung der nötigenGeldmittel. Am 31. Aug. 1871 ward er auf drei Jahre zumPräsidenten der Republik ernannt. Nun begannen aber dieSchwierigkeiten des Parteigetriebes in der Nationalversammlung. Diemonarchistischen Parteien sahen sich in ihren Hoffnungen auf T.'energische Unterstützung getäuscht und rächten sichdurch gehässige Angriffe und Ränke, obwohl T. denklerikalen Ansprüchen möglichst nachgab. Als daher T.,überzeugt, daß die Herstellung des Königtums inFrankreich, besonders des orléanistischen, eineUnmöglichkeit und die Republik die einzig möglicheRegierungssorm sei, 11. Nov. 1872 die definitive Konstituierung derRepublik von der Nationalversammlung verlangte, beschloß dieklerikal-monarchistische Majorität derselben, da die Zahlungder Kriegsentschädigung an Deutschland und die Räumungdes Gebiets durch den Vertrag vom 15. März 1873 gesichertwaren, T. zu stürzen. Am 19. Mai brachte die Rechte eineInterpellation ein über das neue Ministerium, welches T.berufen hatte, um seine Verfassungsvorschläge für dieRepublik durchzuführen; nach heftiger Debatte ward 23. Mai einTadelsvotum gegen dies Ministerium mit 360 gegen 344 Stimmenangenommen und, als T. darauf seine Entlassung gab, diese mit 368gegen 338 Stimmen genehmigt. T. zog sich darauf wieder vomöffentlichen Leben zurück und nahm nur an wichtigenAbstimmungen in der Deputiertenkammer teil. Nach dem Staatsstreichvom 16. Mai 1877 richteten sich die Hoffnungen aller Republikanerwieder auf T. als das Haupt einer gemäßigten Republik,aber er starb plötzlich 3. Sept. 1877 zu St.-Germain en Layeinfolge. eines Schlaganfalls und wurde am 8. in Paris feierlichbestattet. 1879 wurde ihm ein Standbild in Nancy, 1880 ein solchesin St.-Germain errichtet. T., von kleiner Gestalt, aber scharfgeschnittenen, lebendigen Zügen, war einer der bedeutendstenStaatsmänner Frankreichs im 19. Jahrh. und jedenfalls derpopulärste. Seine Doktrin war die des konstitutionellenSystems, in welchem der aufgeklärte, wohlhabendeBürgerstand die beste Sicherung seiner geistigen undmateriellen Güter erblickte, und welches T. unter derJulimonarchie verwirklicht zu sehen gehofft hatte. Deshalb war ihmdie militärische Demokratie eines Napoleon III. verhaßt.Aber über allen Doktrinen stand bei T. seine Nation,Frankreich. Dessen Ruhm und Größe zu vermehren, war seinhöchstes Ziel, wie er denn auch ein echter Franzose mit allenVorzügen und Schwächen dieses Volkes war; er besaßeine unermüdliche Arbeitskraft, feine, edle Bildung,Scharfblick, eine sanguinische Elastizität des Geistes undechten Patriotismus, dabei aber eine naive Selbstsucht undEitelkeit. Als Geschichtschreiber verherrlichte er dieFreiheitsideen der französischen Revolution und den KriegsruhmNapoleons I. in schwungvoller Sprache und glänzenderDarstellung, jedoch keineswegs stets wahrheitsgetreu undunparteiisch. Ganz erfüllt von der Idee, daß Frankreichsberechtigte Suprematie das politische Gleichgewicht Europas bedingeund die kleinen deutschen und italienischen Staaten für dieseSuprematie notwendig seien, war er ein heftiger Gegner deritalienischen und deutschen Einheitsbestrebungen und, obwohlVoltairianer, ein Beschützer des Kirchenstaats. T.' "Discoursparlementaires" wurden von Calmon (1879 bis 1883, 15 Bde.)herausgegeben. Vgl. Laya, Étu-

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Thiersch.

des historiques sur la vie privée, politique etlittéraire de M. T. 1830-46 (Par. 1846 2 Bde.); Derselbe,Histoire populaire de M. T. (das. 1872); Richardet, Histoire de laprésidence de M. T. (das. 1875); Eggenschwyler,T.' Leben undWerke (Bern 1877); Jules Simon, Le gouvernement de M. T. (Par.1878, 2 Bde.); Derselbe, T., Guizot, Remnsat (das. 1885); Mazade,M. T. (das. 1884); P. de Remusat,A. T. (das. 1889).

Thiersch, 1) Friedrich, namhafter Philolog, geb. 17. Juni1784 zu Kirchscheidungen bei Freiburg a. d. Unstrut, vorgebildet inNaumburg und Schulpforta, studierte seit 1804 in Leipzig undGöttingen Theologie und Philologie, ward 1808 Kollaborator amGymnasium zu Göttingen und Privatdozent an derUniversität, 1809 Professor an dem neuerrichteten Lyceum zuMünchen, begründete hier das 1812 mit der Akademieverbundene philologische Institut und zur Vereinigung derjüngern Gelehrten die "Acta philologorum Monacensium"(Münch. 1811-29, 4 Bde.) und ward 1826 nach der Verlegung derUniversität Landshut nach München ordentlicher Professorder Philologie und Direktor des philologischen Seminars daselbst.1831-32 war er in Griechenland, wo er nach dem Tod Kapo d'Istrias'an der Regierung teilnahm und namentlich für Erwählungdes Prinzen Otto von Bayern zum König wirkte; 1848 wurde erzum Präsidenten der Akademie der Wissenschaften erwählt.Er starb 25. Febr. 1860. T. ist die Wiederbelebung derphilologischen Studien in Bayern zu danken. Von seinen Schriftengehören hierher: "Griechische Grammatik, vorzüglich desHomerischen Dialekts" (Leipz. 1812, 3. Aufl. 1826); "GriechischeGrammatik für Schulen" (das. 1812, 4. Aufl. 1855); "Überdie Epochen der bildenden Kunst unter den Griechen" (Münch.1816-19, 2 Bde.; 2. Aufl. 1829); die Bearbeitung des Pindar (Leipz.1820, 2 Bde.); "Allgemeine Ästhetik in akademischenLehrvorträgen" (Berl. 1846). Er hat aber auch sehr segensreichauf die Gestaltung des höhern Schulwesens überhaupteingewirkt; er veröffentlichte hierüber: "Übergelehrte Schulen, mit besonderer Rücksicht auf Bayern"(Stuttg. 1826-37, 3 Bde. in 12 Abtlgn.); "Über den Zustand derUniversität Tübingen" (Münch. 1830; "Über dieneuesten Angriffe auf die Universitäten" (Stuttg. 1837) und"über den gegenwärtigen Zustand des öffentlichenUnterrichts in den westlichen Staaten von Deutschland, in Holland,Frankreich und Belgien" (das. 1838, 3 Bde.). Auch sonst vertrat erdie Grundsätze freierer Lebensgestaltung. In der Schrift"Über den angenommenen Unterschied zwischen Nord- undSüddeutschland" (Münch. 1810) trat er für dieangefeindeten Norddeutschen auf, in "Über Protestantismus undKniebeugung in Bayern" (drei Sendschreiben an Döllinger, Marb.1844) für seine protestantischen Glaubensgenossen. Nochschrieb er: "De l'état actuel de la Grèce et desmoyens d'arriver à sa restauration" (Leipz. 1833, 2 Bde.).Sein Leben beschrieb sein Sohn Heinrich T. (Leipz. 1866-67, 2Bde.). - Sein Bruder Bernhard, geb. 26. April 1794 zuKirchscheidungen, 1817 Lehrer in Gumbinnen, 1818 in Lyck, 1823 inHalberstadt, 1832 Direktor des Gymnasiums in Dortmund, gest. 1.Sept. 1855 als Emeritus in Bonn, veröffentlichte: "Überdas Zeitalter und Vaterland des Homer" (Halberst. 1824, 2. Aufl.1832), eine Ausgabe des Aristophanes (nur Bd. 1 und 6, Leipz. 1830)und der "Thesmophoriazusen" von Aristophanes (Halberst. 1832),Forschungen über die westfälischen Femgerichte u. a. T.ist der Dichter des Preußenliedes.

2) Heinrich Wilhelm Josias, Sohn von T. 1), derwissenschaftliche Vertreter des Irvingianismus in Deutschland, geb.5. Nov. 1817 zu München, studierte daselbst Philologie, inErlangen Theologie, ward 1839 Privatdozent der theologischenFakultät zu Erlangen und 1843 Professor in Marburg, legte aber1850 diese Stelle nieder, um als Pastor an der sich damals inNorddeutschland bildenden irvingianischen Gemeinde zu wirken, lebteseit 1864 ohne Amt in München, Augsburg und Basel, wo er 3.Dez. 1885 starb. Unter seinen Schriften sind zu nennen: "Versuchzur Herstellung des historischen Standpunktes für die Kritikder neutestamentlichen Schriften" (Erlang. 1845); "Vorlesungenüber Katholizismus und Protestantismus" (2. Aufl., das. 1848,2 Bde.); "Über christliches Familienleben" (8. Aufl., Augsb.1888); "Die Kirche im apostolischen Zeitalter" (3. Aufl., das.1879); "Döllingers Auffassung des Urchristentums" (Erlang.1862); "Die Strafgesetze in Bayern zum Schutz der Sittlichkeit"(Münch. 1868); "Die Gleichnisse Christi" (2. Aufl., Frankf.1875); "Die Bergpredigt Christi" (2. Aufl., Augsb. 1878);"Über den christlichen Staat" (Frankf. 1875); "ChristianHeinr. Zellers Leben" (Basel 1876, 2 Bde.); "Die Anfänge derheiligen Geschichte" (das. 1877); "Über die Gefahren undHoffnungen der christlichen Kirche" (2. Aufl., das. 1878);"Inbegriff der christlichen Lehre" (das. 1886); ferner außerder Biographie seines Vaters (s. oben): "Griechenlands Schicksalevom Anfang des Befreiungskriegs bis auf die gegenwärtigeKrisis" (Frankf. 1863). Vgl. Wigand, H. W. T.' Leben, zum Teil vonihm selbst erzählt (Basel 1887).

3) Karl, Mediziner, Bruder des vorigen, geb. 20. April 1822 zuMünchen, studierte daselbst, in Berlin, Wien u. Paris, ward1848 Prosektor für pathologische Anatomie in München,machte den zweiten schleswig-holsteinischen Krieg unter Stromeyerals freiwilliger Arzt mit und stellte 1854 bei einerCholeraepidemie in München experimentelle Untersuchungenüber die Ansteckungsfähigkeit der Cholera an. 1854 wurdeer als Professor der Chirurgie nach Erlangen, 1867 nach Leipzigberufen. 1870 machte er als konsultierender Generalarzt im 12.Armeekorps den Krieg gegen Frankreich mit. T. zählt zu denersten Chirurgen der Gegenwart. Nach einem von ihm in Gemeinschaftmit Wunderlich entworfenen Plan wurde das neue Stadtkrankenhaus zuLeipzig, ein Musterinstitut ersten Ranges, erbaut. Seinehervorragendsten Untersuchungen beziehen sich auf die Wundheilung,deren feinere Vorgänge er mikroskopisch zu erforschen suchte.Die gewonnenen Resultate wurden im "Handbuch der Chirurgie" vonBillroth und Pitha veröffentlicht. Auch die praktische Seiteder Wundheilung förderte T. als einer der ersten durchEinführung der Salicylsäure als Verbandmittels. überden Epithelialkrebs lieferte er eine bahnbrechende Arbeit (Leipz.1865).

4) Ludwig, Maler, geb. 12. April 1825 zu München als Sohnvon T. 1), besuchte die dortige Akademie, um sich unterSchwanthaler der Bildhauerkunst zu widmen, ging aber nach einigenJahren zur Malerei über, worin er Schüler von HeinrichHeß, Schnorr und insbesondere von Schorn wurde. Nachdem ereine Sakuntala (1848) und eine Kamisardenszene gemalt, begab ersich nach Rom und malte Szenen aus dem italienischen Volkslebensowie einen Hiob unter seinen Freunden. 1852 reiste er mit seinemVater nach Athen, schmückte die dortige byzantinische Kirchedes heil. Nikodemus mit Fresken und wurde 1856 nach Wien berufen,wo er in der griechischen Kirche ebenfalls Fresken ausführte.Nachdem

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Thiersheim - Thiviers.

er für den Baron Sina die in Rom entworfenen Kartons:Charon als Seelenführer, Bakchos' Einzug in den Hain vonKolonos und Thetis' Klage um Achilleus ausgeführt hatte,folgte er 1860 einem Ruf nach Petersburg, wo er zahlreiche Bilderin den Kapellen der Großfürsten Nikolaus und Michael undin der protestantischen Katharinenkirche malte. Nach seinerRückkehr entstanden für die Stiftskirche in Kempten dieAuferweckung der Tochter des Jairus und Christus in Gethsemane,1866 die Predigt des Paulus auf dem Areopag und in den folgendenJahren Christus am Teich Bethesda, eine Ceres, die ihre Tochtersucht, ein Christus in der Wüste, Alarich in Athen als Siegergefeiert und eine Kreuztragung Christi.

5) Friedrich, Architekt, Sohn von T. 2), geb. 18. April 1852 zuMarburg, besuchte 1868-73 das Polytechnikum in Stuttgart undbildete sich dann im Atelier von Mylius und Bluntschli für denpraktischen Beruf aus. 1877 und 1878 bereiste er Italien undGriechenland und entwarf dann mit dem Maler Keuffel die Kartonsfür die dekorativen Malereien im Haupttreppenhaus des neuenStadttheaters in Frankfurt a. M. Auf Grund dieser Arbeiten wurde er1879 als Professor der Architektur an die Kunstakademie und dietechnische Hochschule in München berufen. Er beteiligte sichan der Konkurrenz um den Zentralbahnhof in Frankfurt a. M., wobeisein Entwurf angekauft wurde, und 1881 an der Konkurrenz um dieRheinbrücke in Mainz. Hier erhielt sein mit den IngenieurenLauten und Bilfinger entworfenes Projekten ersten Preis. In weiternKreisen wurde sein Name durch die Konkurrenz um das deutscheReichstagsgebäude bekannt, bei welcher ihm ebenfalls der erstePreis zuerkannt wurde. Jedoch ward nicht er, sondern Wallot mit derAusführung des Gebäudes betraut. T. veröffentlichte:"Die Königsburg von Pergamon" (Stuttg. 1882).

Thiersheim, Flecken im bayr. RegierungsbezirkOberfranken, Bezirksamt Wunsiedel, hat eine evang. Kirche, einAmtsgericht und (1885) 1178 Einw.

Thiessow, Dorf und Seebad im preuß.Regierungsbezirk Stralsund, Kreis Rügen, auf derSüdspitze der Halbinsel Mönchgut, hat eine Lotsenstationund 189 Einwohner.

Thietmar (Dietmar), Bischof von Merseburg,Geschichtschreiber der Zeit der sächsischen Kaiser, geb. 976als Sohn des Grafen Siegfried von Walbek, mit dem sächsischenKaiserhaus verwandt, im kaiserlichen Stift zu Quedlinburg, imKlosterberge und in Magdeburg gebildet, wurde 1002 Propst des vonseinem Großvater gestifteten Klosters Walbek, 1009 Bischofvon Merseburg und starb 1. Dez. 1019. Er schrieb eine Chronik inacht Büchern, welche die Geschichte von 908 bis 1018umfaßt und an die Geschichte Merseburgs, Sachsens und derWendenkriege wertvolle Mitteilungen zur Reichsgeschichteanschließt. T. ist in der Geschichte seiner Zeit gutunterrichtet, wahrheitsliebend und anschaulich in der Darstellung;namentlich sind die drei letzten Bücher (1014-18) fast wie einTagebuch. Weniger gut ist sein lateinischer Stil und dieKomposition, da er immer neue Zusätze und Nachträgehinzufügte, die sich, da die eigne Handschrift Thietmarserhalten ist, leicht erkennen lassen. Die einzige zuverlässigeAusgabe ist die von Lappenberg in den "Monumenta Germaniaehistorica", Script. III (besonders, Hannov. 1889), die besteÜbersetzung die von Laurent (2. Aufl., Berl. 1879).

Thimothygras, s. Phleum.

Thing, s. Ding.

Thinis, die älteste Stadt Ägyptens und Heimatdes ersten Pharao, Mena oder Menes, des Begründers desägyptischen Reichs und der Stadt Memphis, lag inOberägypten westlich vom Nil, wo sich ca. 18 km südlichvon Girge bei El Cherbe und Kôm es Sultân seine Resteerhalten haben, unweit der mit ihm in engen Beziehungen stehendenTotenstadt Abydos (s. d. 2).

Thiocyanverbindungen, s. Rhodanverbindungen.

Thionville (spr. tiongwil), Stadt, s. Diedenhofen.

Thioschwefelsäure, s. UnterschwefligeSäure.

Thiosulfate, Unterschwefligsäuresalze, z. B.Natriumthiosulfat, unterschwefligsaures Natron.

Thirlmere (spr. thirlmihr), kleiner See in der engl.Grafschaft Cumberland, 1877 von der Stadt Manchester angekauft, dieihn in ein großes Reservoir für neu zu erbauendeWasserwerke verwandelt hat.

Thirsk, Stadt in Yorkshire (England), malerisch amOstrand der Ebene von York und am Fuß der Hambletonhügelgelegen, mit (1881) 3337 Einw.

Thirst-quenchers (engl., spr. thörst-kwenntschers,"Durstlöscher"), moussierende Pastillen gegen Durst.

Thisted, dän. Amt, den nordwestlichsten Teil vonJütland umfassend, 1688 qkm (30,6 QM.) mit (1880) 64,007 Einw.Die gleichnamige Hauptstadt im sogen. Thyeland, am nördlichenUfer des Limfjords, Endpunkt der Bahnlinie Struer-T, hat eineansehnliche Kirche und (1880) 4184 Einw., die recht lebhaftenHandel, Fischerei und Industrie treiben. T. ist Sitz einesdeutschen Konsuls.

Thisted, Valdemar Adolf, dän. Dichter, bekannt unterdem Pseudonym Em. Saint-Hermidad, geb. 28. Febr. 1815 zu Aarhus,studierte Theologie in Kopenhagen, ward 1845 Adjunkt an derRealschule seiner Vaterstadt, 1855 Pfarrer im nördlichenSchleswig und 1862 nach größern Reisen im Süden zuTömmerup auf Seeland, von welcher Stelle er sich 1870entbinden ließ. Er starb 1889. Von seinen meist auch insDeutsche übersetzten Werken sind hervorzuheben die Romane undSchilderungen: "Vandring i Syden" (1843); "Havfruen" (1846); "Tabtog funden" (1849, 2 Bde.); ferner: "Episoder fra et Reiseliv"(1850) und "Romerske Mosaiker" 1851), die Früchte einer Reisenach Italien; der Roman "Sirenernes Ö" (1853); das romantischeDrama "Hittebarnet" (1854; "Neapolitaniske Aquareller" (1853) und"Hjemme og paa Vandring" (1854), novellistische Reisestudien; danndie Dichtungen: "Örkenens Hjerte" (1849) und "Bruden" (1851),nebst "Digte" (1861); endlich der Roman "Familieskatten" (1856).Großes Aufsehen erregten seine "Breve fra Helvede" ("Briefeaus der Hölle", 4. Aufl. 1871, unter dem Pseudonym M. Rowan).Thisteds Schriften zeichnen sich durch glänzende Darstellungund reiche Phantasie aus, leiden aber unter großerWeitschweifigkeit.

Thivä (Thebai), Hauptstadt einer Eparchie desgriech. Nomos Attika und Böotien, an der Stelle der Kadmeia,der Burg des alten Theben (s. d. 2), gelegen, Sitz eines Bischofs,mit (1879) 3509 Einw. Aus dem Altertum hat sich nur wenig erhalten,abgesehen von den zahlreichen Quellen, die in den thebanischenMythen eine Rolle spielen. In der Nähe wurden jüngst vonder Deutschen Archäologischen Schule die Reste des vonPausanias geschilderten, berühmten Kabirentempelsausgegraben.

Thiviers (spr. tiwjeh), Stadt im franz. DepartementDordogne, Arrondissem*nt Nontron, an der EisenbahnLimoges-Périgueux, hat eine romanische Kirche, einSchloß, Fabrikation von Fayence, Handel mit Vieh,Trüffeln und Käse und (1881) 2127 Einw.

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Thizy - Thomas.

Thizy (spr. tisi), Stadt im franz. DepartementRhône, Arrondissem*nt Villefranche, an der EisenbahnSt.-Victor-Cours, mit bedeutender Fabrikation von Leinwand undKattun, Färberei und Appretur und (1881) 3759 Einw.

Thlinkit, Indianerstamm, s. Koloschen.

Thoas, nach griech. Mythus König von Lemnos, wurde,als die Frauen von Lemnos alle Männer aus der Inseltöteten, von seiner Tochter Hypsipyle (s. d.) gerettet,später aber von den Lemnierinnen entdeckt und ins Meerversenkt. Nach andrer Überlieferung entfloh er nach der InselSikinos bei Euböa oder nach Chios oder nach Taurien, dessenaus der Geschichte der Iphigenie (s. d.) bekannter König T.nun mit dem lemnischen identifiziert wurde.

Thöl, Johann Heinrich, Autorität auf dem Gebietdes Handels- und Wechselrechts, geb. 6. Juni 1807 zu Lübeck,ward 1830 Privatdozent und 1837 Professor der Rechte inGöttingen, 1842 zu Rostock, kehrte aber 1849 an erstereUniversität zurück und starb 16. Mai 1884 inGöttingen. Er hat sich namentlich durch "Das Handelsrecht"(Bd. 1 u. 2, Götting. 1841-48; Bd. 3, Leipz. 1880; Bd. 1, 6.Aufl., Leipz. 1879; Bd. 2: Wechselrecht, 4. Aufl. 1878) bekanntgemacht. Außerdem erwähnen wir von ihm: "Volksrecht,Juristenrecht" (Rost. 1846); "Einleitung in das deutschePrivatrecht" (Götting. 1851); "AusgewählteEntscheidungsgründe des Oberappellationsgerichts der vierFreien Städte Deutschlands" (das. 1857); "Zur Geschichte desEntwurfs eines allgemeinen deutschen Handelsgesetzbuchs" (das.1861); "Protokolle der Leipziger Wechselkonferenz" (das. 1866);"Theaterprozesse" (das. 1880); "HandelsrechtlicheErörterungen" (das. 1882). Vgl. die Gedächtnisschriftenvon Frensdorff (Freiburg 1885) und Ehrenberg (Stuttg. 1885).

Tholen, Insel der niederländ. Provinz Zeeland, durchdie Osterschelde und Mündungsarme der Maas gebildet, 24 kmlang, 11 km breit. Auf der Ostküste die Stadt T., mit 2Kirchen und (1887) 2758 Einw.

Tholey, Flecken im preuß. Regierungsbezirk Trier,Kreis Ottweiler, hat eine kath. Kirche, ein Amtsgericht,Eisenerzgruben und (1885) 1155 Einw.; die ehemaligeBenediktinerabtei ward 1793 aufgehoben.

Tholos (griech.), ein aus übereinander nach innenvortretenden Steinschichten gebildeter Kuppelbau. Solche denältesten Zeiten Griechenlands angehörende Kuppelbautensind bei Mykenä, Orchomenos u. a. O. entdeckt worden.Früher für Schatzhäuser gehalten, gelten sie jetztals Gräber von Fürsten.

Tholuck, Friedrich August Gotttreu, protest. Theolog,geb. 30. März 1799 zu Breslau, studierte daselbst und inBerlin erst orientalische Sprachen, dann Theologie und ward durchden Verkehr mit den damaligen frommen Kreisen in Berlin fürdie pietistische Richtung gewonnen, von welcher sogleich seinErstlingswerk: "Die wahre Weihe des Zweiflers" (1823; 9. Aufl. u.d. T.: "Die Lehre von der Sünde und dem Versöhner", Gotha1870), zeugte. Seit 1824 außerordentlicher Professor derTheologie in Berlin, folgte er, von einer wissenschaftlichen Reisenach England und Holland zurückgekehrt, 1826 einem Ruf alsordentlicher Professor nach Halle, wo er namentlich auch durcheinen ausgebreiteten Privatverkehr mit den Studierenden sowie alsPrediger und (seit 1867) Oberkonsistorialrat erfolgreich bis zuseinem 10. Juni 1877 eingetretenen Tod wirkte. Vorübergehendwar er 1828 und 1829 preußischer Gesandtschaftsprediger zuRom. Außer der genannten Schrift und Kommentaren zurBergpredigt (5. Aufl., Gotha 1872), zu den Psalmen (2. Aufl., das.1873), zum Römerbrief (5. Aufl., Halle 1856),Johannesevangelium (7. Aufl., Gotha 1857) und Hebräerbrief (3.Aufl., Hamb. 1850) sowie zahlreichen Predigten ("Predigtenüber die Hauptstücke des christlichen Glaubens undLebens", 4 Bde.; 6. Aufl., Gotha 1877) veröffentlichte er:"Die Glaubwürdigkeit der evangelischen Geschichte" (Hamb.1837, 2. Aufl. 1838); "Das Alte Testament im Neuen" (das. 1836, 7.Aufl. 1877); "Der Geist der lutherischen Theologen Wittenbergs im17. Jahrhundert" (das. 1852); "Das akademische Leben des 17.Jahrhunderts" (Halle 1853-54, 2 Bde.); "Das kirchliche Leben des17. Jahrhunderts" (Berl. 1861-62, 2 Abtlgn.); "Lebenszeugen derlutherischen Kirche vor und während der Zeit desDreißigjährigen Kriegs" (Halle 1861); "Geschichte desRationalismus" (Bd. 1, Berl. 1865) u. "Stunden christlicherAndacht" (Hamb. 1840; 8. Aufl., Gotha 1870). Eine Gesamtausgabeseiner Werke erschien Gotha 1863-67, 11 Bde. Vgl. Kähler, A.T., ein Lebensabriß (Halle 1877); L. Witte, Tholucks Leben(Bielef. 1885-86, 2 Bde.).

Thomar, Stadt in der portug. Provinz Estremadura,Distrikt Santarem, am Nabào und der EisenbahnLissabon-Oporto, hat ein altes Schloß, 2 Kirchen, eingroßes Kloster des Christusordens (dessen Hauptsitz ehemalsdie Stadt war), Baumwollindustrie und (1878) 5105 Einw. Unfern dieRuinen des alten Nabantia.

Thomas, einer der zwölf Jünger Jesu, im viertenEvangelium nach griechischer Übersetzung des aramäischenNamens Didymus, d. h. Zwilling, genannt und als Typus derSchwergläubigkeit behandelt, daher das sprichwörtlicheungläubiger T. Der ältesten Tradition zufolge predigte erdas Christentum in Parthien oder in Indien. Ebendeshalb betrachtenauch die seit etwa 600 in Malabar wohnenden syrischen Christen(Thomaschristen) den T. als Stifter ihrer Kirche; vgl. Germann, DieKirche der Thomaschristen (Gütersl. 1877). Der geschichtlicheKern dieser Traditionen dürfte sich auf eine gewisseVerbindung oder doch wenigstens Bekanntschaft alter christlicherMissionäre mit den parthisch-indischen Grenzländernreduzieren. Die Legenden nennen als vom Apostel T. getauft mitgroßer Bestimmtheit einen uns durch viele Münzen undInschriften bekannten König parthischer Abkunft, welcher inPeschawar am Indus geherrscht: Gundaphoras oder Gondophares; vgl.Gutschmid, Rheinisches Museum für Philologie (1864). Dem T.zugeschrieben werden unter den Apokryphen die "Acta Thomae" und das"Evangelium secundum Thomam" (vgl. Lipsius, ApokrypheApostelgeschichten, Bd. 1, Braunschw. 1883; Bonnet, Acta Thomae,Leipz. 1883). In der römisch-katholischen Kirche ist dem T.der 21. Dezember, in der griechisch-katholischen der 6. Oktobersowie der erste Sonntag nach Ostern (Thomassonntag) geweiht.

Thomas, 1) Charles Louis Ambroise, Komponist, geb. 5.Aug. 1811 zu Metz, war 1828-32 Schüler des PariserKonservatoriums und errang im letztgenannten Jahr mit der Kantate"Herman et Ketty" den römischen Preis. Nach dreijährigemAufenthalt in Italien nach Paris zurückgekehrt,debütierte er 1837 als dramatischer Komponist mit derkomischen Oper "La double échelle", welche jedoch so wenigwie sieben weitere Arbeiten dieser Gattung einen nennenswertenErfolg hatte. Erst mit den komischen Opern: "Le Caïd" (1849)und "Le songe d'une nuit d'été" (1850), gelang esihm, die Teilnahme des Publiku*ms in vollem Maß zugewinnen

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Thomas a Kempis - Thomas von Celano.

und in die Reihe der ersten dramatischen Komponisten Frankreichszu treten. Von seinen während der folgenden Jahreaufgeführten sechs Opern fand nur "Psyche" (1857) einigenBeifall, wogegen "Mignon" (1866) vollständig durchschlug undnicht nur in Paris, sondern auch im Ausland glänzenden Erfolghatte. Eine günstige Aufnahme fand auch "Hamlet" (1868),während sein letztes Werk, "Françoise de Rimini"(1882), nur einen mäßigen Erfolg hatte. T.' Musikzeichnet sich durch angenehme, wenn auch bisweilen anTrivialität streifende Melodik, geistvolle Orchestration undnamentlich durch effektvolle Behandlung der Singstimmen aus, stehtjedoch an Originalität hinter der seiner Vorgänger aufdem Gebiet der großen wie der komischen Oper weitzurück. Unter seinen sonstigen Werken befinden sich einRequiem, eine solenne Messe, ein Streichquintett und -Quartett,eine Phantasie für Klavier und Orchester, Klavier- undGesangstücke u. a. Auch als Musikpädagog hat sich T.ausgezeichnet, nachdem er 1871 als Nachfolger Aubers zum Direktordes Konservatoriums erwählt war, welcher Anstalt er schonJahre zuvor als Komposttionslehrer angehört hatte. Seit 1868ist er auch Kommandeur der Ehrenlegion.

2) George H., amerikan. General, geb. 1816 in Southampton County(Virginia), ward in West Point erzogen, 1840 Leutnant derArtillerie, diente in Florida u. Texas und machte auch denmexikanischen Krieg mit. Beim Ausbruch des Bürgerkriegs 1861Kavallerieoberst in der Unionsarmee, erhielt er den Oberbefehlüber die Reiterei auf dem westlichen Kriegsschauplatz, siegte19. März 1862 bei Mill Spring, zeichnete sich in der Schlachtam Chickamanga (19. und 20. Sept. 1863) durch seine Standhaftigkeitund Umsicht aus, befehligte 1864 ein Korps unter Sherman auf demMarsch nach Atlanta, dann in Tennessee, siegte 15.-16. Dez. 1864bei Nashville, erhielt nach dem Krieg ein Militärkommando imSüden, dann das in San Francisco und starb daselbst 28.März 1870. Bescheidenheit und Uneigennützigkeitzeichneten ihn als Menschen, Tapferkeit, Ausdauer und methodischeBildung als Soldaten aus. Sein Leben beschrieben R. W. Johnson(Philad. 1881) und van Horne (New York 1882).

3) Theodor, Violinspieler und Dirigent, geb. 11. Okt. 1835 zuEsens in Ostfriesland, kam als Kind nach New York, wo er sich,nachdem er durch Schüllinger und Mayrhoffer einegründliche musikalische Erziehung erhalten hatte,zunächst als Quartettspieler eine geachtete Stellung errang.Einen ungleich größern Wirkungskreis aber fand er von1869 an, als er sich an die Spitze eines eignen Orchesters stellteund eine wahrhaft geniale Kraft als Dirigent entfaltete. Seitdemhaben die außerordentlichen Leistungen seiner Kapelle sowiedie vielseitigen, alle Richtungen der klassischen Musik umfassendenProgramme der von ihm in New York und in den größernStädten der Union veranstalteten Konzerte seinen Namen zueinem der populärsten des Landes gemacht. 1877 folgte er einemüberaus vorteilhaften Engagement als Direktor desneuerrichteten Konservatoriums in Cincinnati, kehrte jedoch schonnach zwei Jahren nach New York und zu seiner frühernDirigentenwirksamkeit zurück.

4) Sydney Gilchrist, Techniker, geb. 1850 in oder bei London,besuchte die Royal School of mines, bemühte sich seit 1870 umdie Entphosphorung des Roheisens im Bessemerkonverter und verbandsich 1876 mit seinem Vetter Percy Gilchrist, der als Chemiker aufden Bleanaoneisenwerken beschäftigt war, zur Vornahmegrößerer Verfuche. 1877 nahm er sein erstes Patent aufein Verfahren, welches für die Eisenindustrie kaum minderbedeutungsvoll wurde als der Bessemerprozeß. SeinerGesundheit halber ging er 1882 nach Australien, 1883 nach Algierund starb 1. Febr. 1885 in Paris.

5) Karl, Pseudonym, s. Richter 10).

Thomas a Kempis, s. Thomas von Kempen.

Thomas von Aquino (T. Aquinas), berühmterScholastiker, geb. 1225 auf dem Schloß Roccasecca imNeapolitanischen aus einem alten Adelsgeschlecht, ward im KlosterMonte Cassino erzogen und trat gegen den Willen seiner Eltern 1243zu Neapel in den Dominikanerorden ein, studierte in Köln undParis und trat hier 1248 als Lehrer der scholastischen Philosophiemit solchem Beifall auf, daß er den Beinamen eines Doctoruniversalis und angelicus erhielt. Papst Urban IV. berief ihn 1261nach Italien zurück, worauf T. zu Bologna, Pisa und Romlehrte. Seit 1272 zog er sich in dasselbe Kloster zu Neapelzurück, in das er zuerst eingetreten war, und starb 6.März 1274 im Kloster Fossanuova bei Terracina auf der Reisezum Konzil von Lyon. T. ward 15. Juli 1323 kanonisiert und galtfür den größten Kenner der AristotelischenPhilosophie. Als einer der Hauptverfechter des Realismus übteer einen großen Einfluß in den scholastischenStreitigkeiten seiner Zeit aus. Seine in vielen Einzelausgabengedruckten Hauptwerke sind: der Kommentar über des PetrusLombardus vier Bücher Sentenzen; ferner "Summa theologiae"(hrsg. von Nicolai u. a., 13. Aufl., Regensburg 1884, 8 Bde.;deutsch von Schneider, das. 1886 ff.), der erste vollständigeVersuch eines theologischen Systems; "Summa fidei catholicae contragentiles"; "Quaestiones disputatae et quodlibetales" und "Opusculatheologica". Er begründete besonders die Lehren vom Schatz derKirche an überflüssigen Werken, von derTranssubstantiation und von der Infallibilität des Papstes.Seine Schriften (Gesamtausgabe, Parma 1852-72, 25 Bde., und aufVeranlassung des Papstes Leo XIII., Rom 1882 ff.; Auswahl, Turin1886, 3 Bde.) genossen lange in der katholischen Kirche eine Artvon kanonischem Ansehen, und namentlich war er stets dieHauptautorität der Dominikaner. Doch trat schon um 1300 derFranziskaner Duns Scotus gegen ihn auf und gründete diephilosophisch-theologische Schule der Skotisten, mit welcher dieThomisten auf den Universitäten in Fehde lebten. Letztereverteidigten namentlich im Anschluß an T. die strenge LehreAugustins von der Gnade und bestritten die unbefleckteEmpfängnis der Jungfrau Maria. In beiderlei Beziehung ist diespätere Kirche von der Lehrautorität des heil. T.abgewichen. Vgl. Werner, Der heil. T. (Regensb. 1858-59, 3 Bde.);Jourdain, La philosophie de saint Thomas d'Aquin (Par. 1858, 2Bde.); Baumann, Die Staatslehre des heil. T. (Leipz. 1873);Holtzmann, T. und die Scholastik (Karlsr. 1874); Eucken, DiePhilosophie des T. und die Kultur der Neuzeit (Halle 1886);Frohschammer, Die Philosophie des T. (Münch. 1889); fernerThömes, Divi Thomae Aquinatis opera et praecepta (Berl. 1875,Bd. 1); Schütz, Thomas-Lexikon (Paderb. 1881).

Thomas von Celano, geistlicher Dichter des 13. Jahrh.,Verfasser des berühmten Liedes "Dies irae, dies illa" war zuCelano in den Abruzzen geboren und einer der ersten Jünger desheil. Franziskus von Assisi. Als sich 1221 der Bettelorden derMinoriten am Rhein niedergelassen hatte, wurde er von Cäsariusvon Speier, dem ersten Minister der deutschen

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd.

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Thomas von Kempen - Thomasschlacke.

Ordensprovinz, zum Kustos der Konvente zu Worms, Mainz undKöln und 1222 zu seinem Stellvertreter und zum alleinigenKustos der Rheingegenden ernannt. Nach achtjähriger Verwaltungdieses Amtes begab er sich wieder nach Assisi und schrieb hier imAuftrag des Papstes Gregor IX. das Leben des heil. Franziskus, dasnie im Druck erschien. Weiter ist von seinem Leben nichts bekannt.Einige schreiben T. noch zwei Sequenzen zu: "Fregit victorvirtualis" und "Sanctitatis nova signa"; doch bleibt das "Dies iraeetc." das Werk, dem er allein seinen Ruhm verdankt. Man hat vondiesem in der römisch-katholischen Kirche zu einem stehendenGesang am Fest Allerseelen und beim Totenamt erhobenen Liede dreibedeutend voneinander abweichende Texte: den wahrscheinlichenUrtext, wie er von einer Marmorplatte in der Kirche des heil.Franziskus zu Mantua kopiert worden sein soll; den sogen.Hämmerlinschen, wie ihn Felix Hämmerlin (Malleolus)herstellte, und den kirchlichen, der durch die Autorität destridentinischen Konzils festgestellt und 1576 in einemrömischen Missale bekannt gemacht worden ist.Übersetzungen dieses Liedes sind in vielen Sprachenerschienen; unter den deutschen sind besonders die von Clodius,Herder, A. W. Schlegel, Fichte, A. L. Follen und H. A. Danielhervorzuheben. Noch öfter wurde das Gedicht komponiert, so vonPalestrina, Pergolese, Astorga, Durante, Joseph und Michael Haydn,Jomelli, Mozart (im "Requlem"), Cherubini, Neukomm, Abt Vogler, G.Weber, Winter u. a. Vgl. Lisco, Dies irae, Hymnus auf dasWeltgericht (Berl. 1840); Daniel im "Thesaurus hymnologicus" (Halle1844).

Thomas von Kempen (T. a Kempis), berühmterasketisch-mystischer Theolog des Mittelalters, eigentlich ThomasHamerken oder Hämmerlein (Malleolus), geb. 1380 zu Kempen(Kampen) im Kölnischen, besuchte die Schule der Brüderdes gemeinsamen Lebens in Deventer, trat 1407 in dasAugustinerkloster zu Agnetenberg bei Zwolle, ward 1423 Priester undSubprior und starb als Superior desselben 1471. Unter seinenSchriften (zuletzt hrsg. von F. X. Kraus, Trier 1868;übersetzt von Silbert, 2. Ausg., Wien 1840, 4 Bde.) sind amverbreitesten geworden die "Vier Bücher von der NachfolgeChristi" ("De imitatione Christi", etwa 5000 mal aufgelegt; nachdem 1441 geschriebenen, in Brüssel befindlichen Autographhrsg. von Hirsche, Berl. 1874; im Faksimile von Ruelens, Lond.1879). Nachdem früh seine Autorschaft desselben bestrittenwar, wurde dieselbe 1652 vom Pariser Parlament und auch durch dieneuere Kritik, allerdings gegen vielfachen Widerspruch, behauptet.Vgl. Malou, Recherches sur le véritable anteur du livre del'Imitation de Jésus-Christ (3. Aufl., Tournai 1858);Kettlewell, The authorship of the De imitatione Christi (Lond.1877); Derselbe, Thomas a Kempis and the brothers of common life(2. Aufl. 1884); Hirsche, Prolegomena zu einer neuen Ausgabe derImitatio Christi (Berl. 1873-83, 2 Bde.; Keppler in derTübinger "Theologischen Quartalschrift" (1880). Verfehlt istder noch von Wolfsgruber ("Van der navolginge cristi ses boeke",Wien 1879; "Giovanni Gersen", Augsb. 1880) vertretene Versuch derBenediktiner, das Buch für einen Benediktinerabt von Vercellimit Namen Gersen, von dem man nichts näheres weiß, inAnspruch zu nehmen. Doch ist anzuerkennen, daß dieUnterschrift in dem sogen. Autographum (Finitus et completus ...per manus fratris Thomae Kempensis) den Thomas ebensogut alsAbschreiber (und T. hat in der That viele Bücherabgeschrieben) wie als Verfasser bezeichnen kann. Auch kann mansich nach dem augenblicklichen Stande der Dinge dem Eindruck nichtverschließen, daß es nach aller WahrscheinlichkeitHandschriften gibt, die über die Zeit des T. hinausgehen,womit freilich nicht gesagt ist, daß gerade Gersen derVerfasser wäre.

Thomaschristen, s. Thomas (Apostel) und Nestorianer.

Thomasin von Zirkläre, mittelhochdeutscher Dichter,aus Friaul, verfaßte 1215-16 ein Lehrgedicht in zehnBüchern. "Der welsche Gast", d. h. der Fremdling ausWelschland (hrsg. von Rückert, Quedlinb. 1852), eineumfassende, auf die höfischen Kreise berechneteTugendlehre.

Thomasius, 1) (Thomas) Christian, deutscher Rechtslehrer,geb. 1. Jan. 1655 zu Leipzig, studierte daselbst die Rechte undPhilosophie, trat dann als akademischer Lehrer auf und hielt (1688)die ersten Vorlesungen in deutscher Sprache. SeineFreimütigkeit zog ihm viele Feinde unter den Theologen zu, undschon war in Dresden ein Verhaftsbefehl gegen ihn ausgewirkt, alser über Berlin 1690 nach Halle entfloh, wo er an derRitterakademie Vorlesungen begann. Später (1694) wurde er ander zum Teil durch seine Mitwirkung neugegründetenUniversität zu Halle Professor der Rechte, Geheimrat undRektor. Er starb daselbst 23. Sept. 1728. T. hat viel zurEinführung einer bessern Methode in der Behandlung allerWissenschaften und namentlich der Philosophie durch Verwerfung derhergebrachten philosophischen Terminologie beigetragen. Auch hat erzuerst die Hexenprozesse und die Tortur mit den Waffen des Geistesbekämpft. Seine Denkart charakterisieren besonders seine"Vernünftigen und christlichen, aber nicht scheinheiligenGedanken und Erinnerungen über allerhand gemischtephilosophische und juristische Händel" (Halle 1723-25, 3 Bde.;Anhang 1726) sowie seine "Historie der Weisheit und Thorheit" (das.1693, 3 Tle.). Seine systematischen Schriften betreffen meist dasNaturrecht und die Sittenlehre. Vgl. H. Luden, T. nach seinenSchicksalen und Schriften (Berl. 1805); Dernburg, T. und dieStiftung der Universität Halle (Halle 1865); B. A. Wagner,Christ. T. (Berl. 1872); Nicoladini, Christ. T. (das. 1887).

2) Gottfried, luther. Theolog, geb. 26. Juli 1802 zu Egenhausenin Franken, studierte in Erlangen, Halle und Berlin, wurde 1829Pfarrer zu Nürnberg, 1842 ordentlicher Professor der Dogmatikund Universitätsprediger in Erlangen und starb daselbst 24.Jan. 1875. Seine bedeutendsten Schriften sind außer mehrerenPredigtsammlungen, Religionslehrbüchern und kirchlichenZwecken dienenden Arbeiten: "Origenes" (Nürnb. 1837);"Beiträge zur kirchlichen Christologie" (das. 1845); "DasBekenntnis der lutherischen Kirche in der Konsequenz seinesPrinzips" (das. 1848); "Christi Person und Werk" (2. Aufl., Erlang.1856-64, 3 Bde.); "Das Bekenntnis der lutherischen Kirche von derVersöhnung" (das. 1857); "Das Wiedererwachen des evangelischenLebens in der lutherischen Kirche Bayerns" (das. 1867); "Diechristliche Dogmengeschichte" (das. 1874-76, 2 Bde.; 2. Aufl.1886-89). Vgl. v. Stählin, Lohe, T., Harleß (Leipz.1886).

Thomasschlacke, die nach dem Thomasschen Verfahren derVerhüttung phosphorhaltiger Erze mit basischen Zuschlägenerhaltene Schlacke, ist porös oder dicht, schwarz,zerfällt beim Liegen an der Luft zu einem groben Pulver,welches schwer zersetzbare, bis kopfgroße Beimengungenenthält. Die gemahlene Schlacke zeigt wenig konstanteZusammensetzung, da diese durch die verwendeten Erxe undZuschläge wie auch durch die

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Thomisten - Thomson.

Führung des Prozesses beeinflußt wird. Im Mittelenthält T. 17 (14-24) Proz. Phosphorsäure, 50 Kalk, 4Magnesia, 14 Eisenoxyd, je 4 Manganoxydul und Thonerde, 7,5Kieselsäure, 0,5 Schwefel und 0,2 Proz. Schwefelsäure.Sie dient im fein gemahlenen Zustand als billiges Dungmittel, dochwird sie auch auf Thomaspräzipitat (präzipitiertenphosphorsauren Kalk) verarbeitet, welcher als Dungmittel ungleichgrößern Wert besitzt.

Thomisten, s. Thomas von Aquino.

Thommen, Achilles, Architekt, geb. 25. Mai 1832 zu Basel,studierte daselbst Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaft,seit 1850 auf dem Polytechnikum in Karlsruhe, arbeitete seit 1852unter Etzel an der Schweizer Zentralbahn und 1857 an der FranzJoseph-Orientbahn in Ungarn. Als Oberingenieur tracierte,projektierte und baute er 1861-67 die Brennerbahn, wurde dann alsStaatseisenbahnbaudirektor und Leiter des gesamten Eisenbahnwesensnach Ungarn berufen. Hier projektierte, leitete und überwachteer den Bau eines Bahnnetzes von über 2400 km Länge, nahmaber 1870 seinen Abschied und lebt seitdem in Wien. SeineThätigkeit für den Bau von Gebirgsbahnen warepochemachend, und die Brennerbahn ist das Vorbild fürähnliche Unternehmungen geworden. Er bearbeitete schon 1869"Grundzüge für Lokalbahnen" und veröffentlichte inder Folge "Normalien für Unter-, Ober- und Hochbau",außerdem die Schrift "Die Gotthardbahn" (Wien 1877).

Thomsen, Christ. Jürgensen, dän.Archäolog, geb. 29. Dez. 1788 zu Kopenhagen als Sohn einesKaufmanns, dessen Handelsgeschäft er nach dem Tode des Vatersfortführen mußte, beschäftigte sich nebenbei eifrigmit Numismatik, Altertümern und Kunstgeschichte und legte eineMünz- und Antiquitätensammlung an. 1816 wurde erSekretär der Kommission zur Aufbewahrung der Altertümerund übernahm dann die Verwaltung des neuerrichtetenaltnordischen Museums. In dieser Stellung war er der erste, welcherzwischen einem Steinzeitalter, Bronzezeitalter und Eisenzeitalterunterschied. Später erhielt er die Direktion der Münz-und Medaillensammlung, die Inspektion der Gemäldesammlung unddie des ethnographischen Museums; 1861 wurde er Direktorsämtlicher Sammlungen, deren eigentlicher Schöpfer undOrdner er war. T. starb 21. Mai 1865.

Thomson, 1) James, engl. didaktischer Dichter, geb. 11.Sept 1700 zu Ednam in Schottland, studierte zu Edinburg Theologie,widmete sich aber bald ganz der Poesie und dichtete als Hofmeisterzu London die beschreibenden, im Blankvers abgefaßtenGedichte: "Winter" (1726), "Summer" (1728), "Spring" (1729) und"Autumn" (1730), die dann vereinigt unter dem Namen: "Seasons"(deutsch von Soltau, Braunschw. 1823; von Bruckbräu,Münch. 1836) erschienen. In diesen Gedichten gibt T. eineoriginelle Beschreibung der Naturerscheinungen, die er mitaufmerksamem und liebevollem Auge begleitet; besondersglücklich ist er in Beobachtung des Tierlebens. DieEintönigkeit aber, die ein bloß beschreibendes Gedichtkaum würde vermeiden können, weiß T. zu umgehen,indem er in lieblichen und ergreifenden Episoden den Menschen inseinem Verhältnis zu den Mächten der Natur und im Kampfmit denselben vorführt. Haydn hat das Gedicht im Auszugkomponiert. 1731 begleitete T. einen Sohn des nachmaligenLord-Kanzlers Sir Charles Talbot auf seinen Reisen durch denKontinent. Nachdem er bis Talbots Tod im Genuß einereinträglichen Sinekure gestanden, erhielt er vom Prinzen vonWales einen Jahrgehalt von 100 Pfd. Sterl. und die Stelle einesOberaufsehers über die Antillen. Er starb 27. Aug. 1748. Fastnoch höher als die "Seasons" steht "The castle of indolence",ein allegorisches Gedicht in der Spenserstrophe und eine der bestenNachahmungen des Spenserschen Stils. Andre Produktionen von T. sinddie trefflichen patriotischen Gedichte: "Liberty" und "Britannia".Am schwächsten ist er in seinen fünf Tragödien(darunter "Sophonisbe" und "Tancred and Sigismunda"). Noch einkleines von ihm mit einem Schulfreund, Mallet, gemeinschaftlichgeschriebenes Stück: "Alfred", verdient Erwähnung, weilin ihm zuerst das berühmte englische Volkslied "RuleBritannia" vorkommt. Eine Gesamtausgabe von Thomsons Werkenerschien zu Edinburg 1768, 4 Bde. (in neuer Ausgabe 1874). DesDichters Leben beschrieb Murdoch (Lond. 1803, 3 Bde.).

2) Thomas, Chemiker, geb. 12. April 1773 zu Crieff inSchottland, studierte zu Glasgow und Edinburg und lieferte seit1796 für die Supplemente zur "Encyclopaedia britannica"gediegene Artikel über Physik, Chemie, Mineralogie undMetallurgie. 1801 bis 1811 las er in Edinburg über Chemie,lebte dann in London, war 1817-41 Professor der Chemie in Glasgowund starb 2. Juli 1852 zu Kilmun in Argyllshire. Seine Arbeitenbewegen sich auf dem Gebiet der allgemeinen und organischen Chemie,der Mineralogie und Geologie. Er entdeckte mehrere Verbindungen,erfand ein Saccharometer, verbesserte das Lötrohr undführte 1798 den Gebrauch der Symbole in der Chemie ein. Vonseinen selbständigen Werken sind hervorzuheben: "System ofchemistry" (7. Aufl., Edinb. 1831, 4 Bde.); "Elements of chemistry"(das. 1810); "Attempt to establish the first principles ofchemistry by experiments" (Lond. 1825, 2 Bde.); "History ofchemistry" (das. 1830-1831, 2 Bde.); "Outlines of mineralogy andgeology" (das. 1836); "Chemistry of organic bodies" (das. 1838, 2Bde.) und "Outlines of heat and electricity" (das. 1839). Seit 1813gab er zu London die "Annals of Philosophy" heraus, welche 1822 mitdem "Philosophical Magazine" vereinigt wurden.

3) Thomas, engl. Reisender, geb. 4. Dez. 1817 zu Glasgow,studierte dort Medizin, trieb daneben aber auch Chemie,Mineralogie, Konchologie und Botanik, trat 1840 als Arzt in dieDienste der Ostindischen Kompanie und machte den afghanischenFeldzug mit. 1847 wurde er zu einem der drei Kommissare ernannt,welche die Grenze zwischen Kaschmir und Tibet festlegen sollten.1848 erforschte er den Schajokfluß bis zu seiner Quelle amKarakorumpaß in 5550 m Höhe. Über diese Reisenschrieb er: "Western Himalayas and Tibet" (Lond. 1852), welches ihmdie goldene Medaille der Londoner Geographischen Gesellschafteintrug. 1850 und 1851 bereiste er Sikkim, die Khassiaberge,Katschar, Tschittagong und die Sunderbands. 1851 kehrte er mitkolossalen botanischen und geologischen Sammlungen undBeobachtungen, aber mit gebrochener Gesundheit nach Europazurück. Alle Bemühungen, von der Ostindischen Kompanieeine Unterstützung zur Herausgabe und Verwertung seinerSchätze zu erlangen, waren vergeblich, und so mußte erdie auf eigne Kosten begonnene Herausgabe seiner "Flora of BritishIndia" einstellen. Von 1854 bis 1861 lebte er wieder in Indien alsDirektor des botanischen Gartens und Professor der Botanik inKalkutta; er starb 18. April 1878 in London.

4) Sir William, Physiker, geboren im Juni 1824 zu Belfast,studierte in Glasgow, Cambridge und Paris und wurde 1846 Professorder Physik in Glas-

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Thomson - Thon.

gow. Seine erste Arbeit (1841) behandelte die Wärmeleitungin hom*ogenen festen Körpern und deren Beziehung zurmathematischen Theorie der Elektrizität. Sie erschien mitvielen andern Arbeiten aus dem Gebiet der Elektrizität und desMagnetismus in dem Werk "Reprint of papers on electricity andmagnetism" (Lond. 1872, 2. Aufl. 1884). T. lieferte auchverschiedene Elektrometer, von denen das Quadrantelektrometerfür die feinsten elektrischen Messungen großeVerbreitung, namentlich zu Untersuchungen über dieatmosphärische Elektrizität, gefunden hat, währendsein Spiegelgalvanometer in der Geschichte der unterseeischenTelegraphie Epoche machte. Auf dem Gebiet der mechanischenWärmetheorie haben seine Arbeiten neben denen von Clausius ammeisten zur Entwickelung der Theorie beigetragen. In England hatman versucht, T. überhaupt als den Begründer der neuenWärmetheorie hinzustellen; indes hat Clausius zuerst 1850 dieaus dem von Mayer 1842 ausgesprochenen Prinzip von der Erhaltungder Kraft sich ergebenden Folgerungen in der mathematischenBehandlung der Wärmeerscheinungen verwertet. Dann aber gehendie Arbeiten von T. und Clausius einander so nahe parallel,daß es manchmal schwer fällt, zu unterscheiden, welchervon beiden Forschern gewisse Sätze zuerst entwickelt hat.Ebenso wie Clausius hat auch T. die Prinzipien der mechanischenWärmetheorie auf andern Gebieten der Physik verwertet; soentwickelte er sofort eine mechanische Theorie der chemischenZersetzung durch den elektrischen Strom und eine Theorie derThermoströme. Letztere führte ihn zu der Entdeckung derpositiven oder negativen Fortführung der Wärme durch dengalvanischen Strom, wie er die Erscheinung bezeichnete.Hervorragendes leistete T. auf dem Gebiet der unterseeischenTelegraphie. Seine theoretischen und experimentellen Arbeiten, ganzbesonders seit 1858, als das erste gelegte Kabel zwischen Englandund Amerika seine Dienste so bald versagte, haben zu denspäter erreichten Erfolgen auf das erheblichste beigetragen.In Anerkennung dieser Leistungen wurde er bei der Rückkehr vonder Legung des Kabels 1866, an der er sich selbst beteiligt hatte,zum Ritter ernannt. Ein Beweis von der Vielseitigkeit des Mannessind seine Untersuchungen über Ebbe und Flut, über dieGestalt der Erde, über die Frage, ob das Innere der Erde festoder flüssig ist, und über manche Frage der theoretischenMechanik. T. schrieb: "On the electrodynamic properties of metals"(1855); "Navigation, a lecture" (1876); "Reprint of papers onelectrostatics and magnetism" (2. Aufl. 1884); "Mathematical andphysical papers" (1882-84, 2 Bde.); "Treatise on naturalphilosophy" (2. Aufl. 1879-83, Bd. 1 in 2 Tln.; deutsch vonWertheim: "Handbuch der theoretischen Physik", Braunschw. 1874,unvollendet); er redigiert seit 1846 das "Cambridge and DublinMathematical Journal".

5) Sir Charles Wyville, Naturforscher, geb. 5. März 1830 zuBonsyde in Linlithgowshire, studierte seit 1845 zu EdinburgNaturwissenschaft und begann 1850 Vorlesungen über Botanik inAberdeen. Gleichzeitig beschäftigte er sich eifrig mit derErforschung der niedern Tiere. 1853 ward er Professor fürNaturwissenschaft in Cork, ging aber schon 1854 in gleicherEigenschaft nach Belfast und las hier über Mineralogie undGeologie, wobei er indes seine geologischen Arbeiten fortsetzte undauch den Bau des Museums des Queen's College leitete. Er begann umdiese Zeit die Studien über die fossilen und die lebendenLiliensterne, welche erst 1862 zum Abschluß kamen. DieEntdeckung einer sehr alten Form von Liliensternen in den Tiefendes Atlantischen Ozeans brachte T. zu der Überzeugung,daß in diesen Regionen die größten Schätzefür die weitere Erforschung dieser Tiere zu finden seien, undauf seine Anregung veranlaßte Carpenter die Regierung,wissenschaftliche maritime Expeditionen auszurüsten. So kamenseit 1868 die Lightning-, Porcupine- und Challenger-Expedition zustande, welche namentlich für die Zoologie und diephysikalische Geographie die bedeutendsten Resultate gelieferthaben. 1870 wurde T. Professor der Naturwissenschaft in Edinburg.Von hier aus unternahm er die Challenger-Expedition, auf welcher er3½ Jahre von England abwesend war. Erst 1876 kehrte er nachEngland zurück. Die Resultate dieser Expeditionen legte ernieder in den Werken: "The depths of the sea" (2. Aufl., Lond.1873) und "The voyage of the Challenger, the Atlantic" (das. 1877,2 Bde.). Er starb 10. März 1882 in Edinburg.

Thon (Pelit), in seinen reinsten Varietäten (Kaolin,Porzellanerde, s. d.) ein wasserhaltiges Aluminiumsilikat vonbestimmter Zusammensetzung, die lokal aufgehäuftenZersetzungsprodukte feldspathaltiger oder glimmerreicher Gesteinedarstellend. In trocknem Zustand sind die Thone fein- odergroberdig, zerreiblich, an der Zunge klebend und beim Anhauchen voneigentümlichem Geruch (Thongeruch). Nach dem Gefühl beimAngreifen spricht man von fetten und magern Thonen, die letzternsind die unreinern. Haben die Thone Wasser eingesogen (und siekönnen bis 70 Proz. aufnehmen), so werden sie in verschiedenemGrad geschmeidig und plastisch. Auch Fetten, Ölen undSalzlösungen gegenüber besitzen die Thone eine starkeAbsorptionskraft. Das aufgenommene Wasser entweicht beimErwärmen, wobei die Thone stark schwinden und bersten (diemagern Thone weniger als die fetten); beim Glühen werden siehart, klingend, verlieren ihre Plastizität und verglasen undschmelzen je nach der Natur der Beimengungen bei verschieden hoherTemperatur. Reiner Kaolin ist nicht schmelzbar, sondern sintert nurbei sehr hoher Temperatur zusammen; von den Verunreinigungen desKaolins scheint besonders Magnesia die Feuerbeständigkeitabzuschwächen, weniger Kalk, noch weniger Eisenoxyd und Kali.Selten sind die Thone rein weiß, gewöhnlich grau,bräunlich, rötlich, grünlich, bläulich, buntgestreift, geädert oder geflammt. Spezifisches Gewicht des bei100° getrockneten Thons 2,44-2,47. Chemisch sind die Thone alsunreine Kaoline (vgl. Porzellanerde) aufzufassen, als vermittelndeVerwitterungsstadien zwischen den Feldspaten (sowie einigen andernSilikaten) und diesen, gewöhnlich gemengt mit den sonstigenZersetzungsprodukten der betreffenden Gesteine. Sie enthaltenaußer reinem Aluminiumsilikat am häufigsten kohlensaurenKalk, Magnesia, Eisenoxydul, Quarzsand, Glimmerschüppchen,Eisenoxyd, Eisenhydroxyd, kohlige Substanzen, seltener Eisenkies,Gips, Schwefel, Knollen von thonigem Sphärosiderit, kalkigenMergeln etc. Als Beispiel der chemischen Zusammenhang mögenfolgende Analysen dienen:

1. 2. 3. 4. 5.

Kieselsäureanhydrid 46,50 62,54 68,28 75,44 52,87

Thonerde 39,56 14,62 20,00 17,09 15,65

Eisenoxyd und -Oxydul - 7,65 1,78 1,13 12,81

Kalk - - 0,61 0,48 -

Magnesia - - 0,52 0,31 2,65

Kali - - 2,35 0,52 1,33

Wasser 13,94 14,75 6,39 4,71 14,73

Zusammen: 100,00 99,56 99,93 99,68 100,04

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Thonberg - Thonissen.

Zum Vergleich sind unter 1) die berechneten Werte derKaolinformel vorausgeschickt; 2) T. von Pöchlarn inÖsterreich; 3) T. von Grenzhausen in Nassau; 4) T. von Bendorfbei Koblenz; 5) roter T. von Norfolk in England.

An Varietäten unterscheidet man: eisenschüssigen T.,gelb oder rotbraun, je nachdem Eisenhydroxyd oder Eisenoxyd dasfärbende Prinzip ist; glimmerigen T., mit zahlreichen, oftlagenweise angeordneten Glimmerblättchen gemengt;Töpferthon, zäh und sehr plastisch, feinen Quarzsandführend; Pfeifenthon, sehr reiner, kaolinartiger T.;bituminösen T. mit hohem Gehalt an organischen Stoffen, welchebeim Glühen unter Bleichung des Thons zerstört werden;Salzthon (Hallerde), mit Steinsalz und Calciumsulfat (Anhydrit oderGips) innig gemengt; Alaunthon (Vitriolthon, Alaunerde), Gemengevon T. mit Eisenkies, gewöhnlich in mikroskopischen Teilchen,welche bei der natürlichen oder künstlichunterstützten Verwitterung Schwefelsäure bilden und aufdie im T. enthaltenen Kalium- und Aluminiumsilikate zersetzendeinwirken (vgl. Alaunerde, Schwefelkies); Septarienthon s.Septarien), ein an mergeligen Nieren reifer T. Feuerfeste Thoneschmelzen erst bei sehr hoher Temperatur, eine Eigenschaft, die aufder Abwesenheit oder dem geringen Gehalt an Kalium-, Magnesium-,Eisen- und Manganverbindungen beruht. Einen durch Quarz, Kalk undEisen stark verunreinigten T. stellt der Lehm (s. d.) dar. T. mitder Neigung zu Schieferung nennt man Letten, bei stärkermHervortreten der Parallelstruktur Lettenschiefer. Ebenfalls denThonen beizuzählen ist die Walkerde (Walkererde), die einegrünlichgraue bis olivengrüne Masse bildet, nur wenig ander Zunge haftet, im Wasser zerfällt, aber sehr begierigÖle und Fette einsaugt; chemisch scheint sie durch einenkonstanten Gehalt an Magnesia charakterisiert zu sein.Porzellanjaspis (Porzellanit) und Basaltjaspis sind durchnatürliche Prozesse (Kohlenbrände, vulkanischeEruptionen) gebrannte Thone. Sonstige Unterscheidungen beziehensich auf die geologische Formation, in welcher sie vorkommen, so z.B. Tegel (ein Tertiärthon), Wälderthon (aus dem Weald),Oxfordthon (zum Jurasystem gehörig) u. a. Im allgemeinen sinddie Thone in den mittlern und jüngern Formationen entwickeltund werden in den ältern durch Schieferthone und Thonschiefervertreten. Ganz fremd sind sie aber selbst den ältestenGesteinsschichten nicht, wie z. B. in Rußland sowohl im Silurals in der Steinkohlenformation Thone vorkommen. Die Thone bildenbald mächtigere Schichten, bald dünne Lagen oderSpaltenausfüllungen (Lettenklüfte) zwischen andernGesteinen, namentlich Kalken und Sandsteinen. Bisweilen findet mansie auf primärer Lagerstätte als Hülle um diejenigenSilikatgesteine, aus denen sie entstanden sind. Sie führenhäufig Versteinerungen, und dann gewöhnlich in besondersschönem Erhaltungszustand. Bekanntere Thonlager sind die vonGroßalmerode in Kurhessen, Passau, Stourbridge in England,Hoganäs in Schweden für feuerfeste Thone; Köln,Lüttich, Namur für Pfeifenthone; Bunzlau, Hildburghausen,Klingenberg am Main, Koblenz u. v. a. O. für Töpferthone.Thone dienen zu Fayence, Steingut, Topfwaren, Thonpfeifen,Schmelztiegeln, Gußformen, zum Modellieren, zum Walken desTuchs, als Dungmaterial (namentlich Salzthon); unreinereVarietäten und Lehm zu Backsteinen und Ziegeln, alsBaumaterial, zum Ausschlagen (Dichten) von Wasserkanälen etc.Über die wichtige Rolle, welche der T. im Boden spielt, s.Boden. Endlich sind thonige Schichten im Innern der Erde diewichtigsten Wassersammler, welche als sperrende Schichten dieversinkenden Wasser der durchlassenden Gesteine auf ihrerGrenzfläche auffangen und bei entsprechender Lagerung derSchichten Quellenbildung veranlassen. Durch diese wassersperrendeKraft schützen umgebende Thonschichten die Steinsalzlager vorder Auslaugung.

Thonberg, Dorf im SO. von Leipzig, jetzt mit diesemzusammenhängend, mit Irrenanstalt (der Stadt Leipziggehörig) und (1885) 3740 Einw. Unfern bezeichnet derNapoleonstein Napoleons Standort in der Leipziger Schlacht (18.Okt. 1813).

Thoneisenstein, brauner und roter, s. Brauneisenerz undRoteisenstein.

Thonerde, s. Aluminiumoxyd.

Thonerdealaun, s. Alaun, konzentrierter.

Thonerdehydrat, s. Aluminiumhydroxyd.

Thonerdenatron, s. Aluminiumhydroxyd.

Thonerdesalze, s. Aluminiumsalze.

Thônes (spr. tohn), Stadt im franz. DepartementObersavoyen, Arrondissem*nt Annecy, am Fier, mit Collège,kleinem Seminar, Uhrmacherschule, Fabrikation von Seilerwaren,Kirschgeist, Pelzwerk und Baumwollwaren und (1881) 1694 Einw.

Thonet, Michael, Industrieller, geb. 1796 zu Boppard,begründete eine Möbelfabrik in Wien, wo er die Möbelaus gebogenem Holz erfand, und starb daselbst 1870. Die Fabrik wirdunter der Firma "Gebrüder T." von seinen Söhnenweitergeführt. Die Rundstäbe werden durch Wasserdampfoder durch Kochen in dünnem Leim erweicht und in eiserneFormen gepreßt, deren Krümmungen sie nach dem Trocknenbehalten. Der Vorzug der gebogenen Möbel (Stühle,Fauteuils, Schaukelstühle, Sofas, Klaviersessel u. dgl.)besteht in großer Festigkeit.

Thongallen, regellos gestaltete Konkretionen von Thon inandern Gesteinen, besonders in thonigen Sandsteinen. Siekönnen, da sie sich nach dem Verritzen durch Wasseraufnahmeaufblähen u. abblättern, beim Abbau, namentlich beimTunnelbohren, große Schwierigkeiten bereiten undEinstürze veranlassen.

Thonglimmerschiefer, s. Phyllitschiefer.

Thonissen, Jean Joseph, belg. Nationalökonom undRechtslehrer, geb. 21. Jan. 1817 zu Hasselt, studierteRechtswissenschaft, widmete sich hierauf der Advokatur und wurde,nachdem er verschiedene Ämter im Gebiet der Verwaltung und derRechtspflege bekleidet hatte, 1847 Professor des Kriminalrechts ander katholischen Universität zu Löwen und späterauch in das Abgeordnetenhaus gewählt. 1855 wurde er zumMitglied der Akademie in Brüssel ernannt und 1869 zumkorrespondierenden Mitglied der französischen Akademie. Seit1863 der Abgeordnetenkammer angehörend, wurde er 26. Okt. 1884Minister des Innern und des öffentlichen Unterrichts, tratjedoch Oktober 1887 zurück. Er schrieb: "La constitution belgeannotée" (1844, 3. Aufl. 1879); "Le socialisme et sespromesses" (1850); "Le socialisme dans le passé" (1851); "Lesocialisme depuis l'antiquité jusqu'à la constitutionfrançaise du 14 janvier 1852" (1852); "La Belgique sous lerègne de Leopold I" (1855-56, 4 Bde.; 2. Aufl. 1861, 3Bde.); "Vie du comte Félix de Merode" (1861); "De laprétendue nécessité de la peine de mort"(1864); "Études sur l'histoire du droit criminel des peuplesanciens" (1869); "Mélanges d'histoire, de droit etd'économie politique" (1873); "Le droit pénal de larépublique athénienne" (1876); "L'organisationjudiciaire, le

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Thonmergel - Thonwaren.

droit pénal et la procédure pénal de la loisalique" (2. Aufl. 1882); "Travaux préparatoires du code deprocédure pénale" (1885).

Thonmergel, s. Mergel.

Thonon (spr. -óng), Arrondissem*ntshauptstadt imfranz. Departement Obersavoyen, ehemalige Hauptstadt des Chablais,am Genfer See und der Eisenbahn Collonges-St. Gingolph, mit Restendes 1536 zerstörten Residenzschlosses, Collège,Gipsbrüchen, Baumwollspinnerei, Handel mit Käse, einemHafen und (1886) 3216 Einw. Unfern das Schloß Ripaille.

Thonpfeifen, s. Thonwaren, S. 667.

Thonröhren, s. Mauersteine, S. 353.

Thonsandstein, s. v. w. thoniger Quarzsandstein, s.Sandsteine.

Thonschiefer (Argilit), dichte schieferige Gesteine, diegewöhnlich vorwiegend aus klastischem Material (einemkaolinartigen Silikat, Quarz- und Feldspatbruchstücken,Glimmer- und Talkblättchen) bestehen, daneben aber auchkristallinische, meist nur unter dem Mikroskop erkennbareBestandteile enthalten. Die letztern, gewöhnlich als schwerbestimmbare Mikrolithe entwickelt, scheinen Hornblende, Turmalin,Glimmer und glimmerähnliche Mineralien zu sein. Außerdemkommen Eisenkies, Kohleteilchen, Eisenoxydblättchen undKalkspat vor, in größern, makroskopischen PartienEisenkiesknollen (auch als Vererzungsmittel eingeschlossenerPetrefakten), Quarz und Kalkspat in Linsen, Nestern und Adern.Gefärbt ist der T. meist grau oder schwarz, seltener rot,grün und gelb. Das spezifische Gewicht schwankt um 2,8. Diechemische Zusammensetzung ist infolge der schwankendenmineralischen sehr unbestimmt. Geschiefert sind die T. meist sehrdeutlich und zeigen oft gleichzeitig die transversale Schieferung(s. d.). An Varietäten sind zu unterscheiden: Dachschiefer(Lehesten, Sonneberg u. a. O. im Thüringer Wald, Kaub etc. amRhein, Harz, Erzgebirge, England), sehr vollkommen und ebenschieferig; Tafelschiefer (Grapholith), durch beigemengte Kohleintensiv schwarz gefärbt; Zeichenschiefer (schwarze Kreide,Schieferschwarz; Thüringen, Oberfranken, Andalusien),ebenfalls kohlereich, daneben weich und erdig; Griffelschiefer(besonders Thüringen), zu Stengeln spaltbar infolge desgleichzeitigen Auftretens der wahren und der falschen Schieferung(s. d.); Alaunschiefer (Skandinavien, Vogtland, Harz, Böhmen),reich an Eisenkies neben Kohle; Kalkthonschiefer (Alpen), inwelchem die Thonschiefermasse Kalklinsen umhüllt; Wetzschiefer(Thüringen, Sachsen, Ardennen), kieselsäurereiche, harteVarietäten von gewöhnlich hellerer Farbe. ImOttrelithschiefer (Ottrez in den Ardennen, Oberpfalz,Pyrenäen, Nordamerika) sind Ottrelithblättcheneingewachsen, im Chiastolithschiefer (Fichtelgebirge, Vogesen,Bretagne, Pyrenäen) weiße Chiastolithe von verschiedenerGröße. Die zuletzt genannte Varietät ebenso wiegewisse andre, in denen unbestimmt konturierte und mineralogischvon der übrigen Gesteinsmasse nur wenig verschiedeneKonkretionen auftreten, welche nach ihrer Form die NamenKnotenschiefer, Fruchtschiefer, Garbenschiefer und Fleckschieferveranlaßt haben, sind mit typischen Thonschiefern an einigenOrten so verknüpft, daß sie sich allmählich ausletztern heraus entwickeln und sich proportional zu einergrößern Annäherung an Eruptivgesteine, namentlichGranit, mehr und mehr von dem normalen T. unterscheiden. DieBauschanalysen solcher Gesteine bewegen sich, namentlich wenn manvom Gehalt an Wasser und organischen Substanzen absieht, innerhalbenger Grenzen, so daß im wesentlichen nur eine Änderungder Struktur, ein Kristallinischwerden der Bestandteile vorliegt(vgl. Metamorphismus der Gesteine). Thonschiefergebiete, welcheeine Verknüpfung solcher "metamorphischer" Varietätenaufweisen, sind aus Sachsen, dem Harz, den Vogesen, Pyrenäen,aus Cornwall und von andern, auch transatlantischen Orten bekannt.Es bilden diese Varietäten zugleich petrographischeÜbergänge zu den Phylliten (s. Phyllit), welche imallgemeinen reicher an kristallinischen Bestandteilen als die T.sind. Die T. gehören den ältern Formationen an und kommennur selten (z. B. die tertiären Glarusschiefer, s.Tertiärformation) in jüngern Schichten vor, werden abermeist ihrerseits von den Phylliten an Alter noch übertroffen.Eine Reihe von Bezeichnungen, Ortsnamen entnommen oder nachVersteinerungen gewählt, dienen zur Charakterisierung desAlters der T., so beispielsweise: Graptolithenschiefer im Silur,Wissenbacher oder Orthocerasschiefer im Devon, Posidonienschieferdes Kulms etc. Wo der T. in großer, Berge bildenderMächtigkeit auftritt, setzt er meist abgerundete Höhenund wellige Plateaus zusammen; seine Thäler sind oft schroffeingerissen, am Fuß der klippenartig emporsteigendenThalwände mit großen Schutthalden bedeckt, welche diestarke Zerklüftung des Gesteins geliefert hat. Das letzteResiduum der Verwitterung ist meist ein mit Gesteinsbrockengemengter, fruchtbarer Lehm- und Thonboden. T. dient zuDachplatten, Schreibtafeln, Griffeln, Tischplatten, die erdigenVarietäten als schwarze Kreide, die harten als Wetzsteine, dieeisenkieshaltigen zur Alaun- und Vitriolbereitung.

Thonschneidemaschinen, s. Mauersteine, S. 351.

Thonstein, s. v. w. Porphyr- und Felsittuff (s.Porphyrbreccie), früher für verhärteten Thon, ineinigen Varietäten für Bandjaspis gehalten.

Thonwaren, aus Thon geformte und gebrannte, oft glasierteGegenstände. Die ungemein zahlreichen Gattungen der T. werdennach der innern Beschaffenheit der gebrannten Masse (des Scherbens)eingeteilt. Die sehr stark erhitzten oder aus leicht schmelzbarerMasse bestehenden sind auf dem Bruch dicht, glasartig, scheinbargeflossen, kleben nicht an der Zunge, sind undurchdringlichfür Wasser und geben am Stahl Funken. Die weniger starkerhitzten sind im Bruch erdig, porös, kleben an der Zunge undlassen Wasser durchsickern. Knapp hat folgende Übersichtgegeben:

A. Dichte T. 1) Echtes oder hartes Porzellan(Feldspatporzellan), massiv, gleichsam geflossen, durchscheinend,hell klingend, weiß, strengflüssig, mit dem Messer nichtritzbar, stark glänzende Glasur. Rohmaterial: Kaolin mit einemZusatz, dem sogen. Fluß, welcher, für sich unbildsam,mit der Thonmasse zu einem Glas zusammenschmilzt. Der Flußbesteht aus Feldspat mit Zusatz von Kreide, Gips, Quarz.Ähnliche Zusammensetzung hat die Glasur. Die Masse wird inEiner Operation gar gebrannt. Unglasiert zeigt die gebrannte Masseein mattes Aussehen und heißt Statuenporzellan oderBiskuit.

2) Frittenporzellan, weiches Porzellan, Glasporzellan, ausleichtflüssigerer Masse als englisches und französischesfabriziert. Jenes besteht aus Kaolin und sich weiß brennendemThon mit Flußmitteln (Feuerstein, Cornish stone, Gips oderKnochenasche). Masse und Glasur werden in zwei Operationengebrannt, zuerst die Masse, dann die Glasur. Das französischePorzellan ist ein glasartiges, unvollständig geschmolzenesAlkali-Erdsilikat ohne Thonzusatz mit bleihaltiger Glasur. Auseiner Masse, ähnlich der

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Thonwarenfabrikation.

Fig. 1. Töpferscheibe, durch Maschinenkraft gedreht.

Fig. 2. Doppelofen für Holzkohlenfeuerung.

Fig. 3. Thomas Steinkohlenofen.

Fig. 4. Grundriß von Mendheims Gasofen.

Fig. 5. Querschnitt von Mendheims Gasofen.

Fig. 6. Längsschnitt von Mendheims Gasofen.

Zum Artikel »Thonwaren«.

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Thonwaren (Porzellanfabrikation).

für das englische Porzellan, nur daß siestrengflüssiger ist, besteht das parische Porzellan oderParian. Eine andre Masse steht in ihren Eigenschaften in der Mittezwischen Parian und Steinzeug und wird Carrara genannt. Aus feinem,mit Salzsäure gereinigtem Feldspatpulver (Zusatz vonKnochenasche) stellt man die Porzellanknöpfe her. 3) Steingut,wovon zu unterscheiden: feines Steingut oder Wedgwood ausfeuerfestem, sich weiß brennendem Thon, mit Flußmitteln(Feldspat, Feuerstein), glasiert mit Blei- und Boraxglasur oderunglasiert und gefärbt; ordinäres Steingut oder Steinzeugaus einem farbigen, feuerfesten Thon, der mit dünnerKochsalzglasur versehen wird: Material fürMineralwasserkrüge, Töpfe, Schüsseln, Näpfeetc. 4) Klinker, verglaste Ziegel, aus schmelzbarem Thon erzeugt,als Pflasterziegel benutzt.

B. Poröse Thonwaren. Dieselben zeigen geringere Härte,sind meist nicht gesintert, daher im Scherben porös, an derZunge klebend. 1) Feine Fayence, englisches Steingut, ausweißem, feuerfestem Thon bestehend, mit durchsichtigerbleiischer Glasur, häufig mit Malerei undKupferstichabdrücken geziert. 2) Ordinäre Fayence,weißes Steingut, Majolika, aus sich gelblich brennendem Thonoder Thonmergel mit undurchsichtiger, weißer odergefärbter Zinnglasur; zu gewöhnlichem Geschirr. 3)Gemeine Töpferware, irdene Ware, Töpferzeug, alle ausTöpferthon und Thonmergel dargestellten weichen undporösen Gefäße, mit undurchsichtiger Zinn- oderBleiglasur überzogen und durch Metalloxyde gefärbt:weiße und braune Töpferware. 4) Tabakspfeifen oderkölnische Pfeifen aus weißem, feuerfestem Pfeifenthon(Pfeifenerde). 5) Terrakotta, gebrannte, antike Formen nachahmendeWaren zu Bauornamenten, Fußbodenplatten, Mosaiksteinen. 6)Schmelztiegel aus feuerfestem Thon, mit grobem Sand, auch wohlGraphit vermischt (hessische, Passauer, Ipser, Graphittiegelfür Metallreduktionen). 7) Feuerfeste Steine, Schamottesteineaus feuerfestem Thon zum Bau von Schmelzöfen. 8) Mauerziegel,Backsteine, Dachsteine aus Lehm, magerm Töpferthon oderKalkmergel nebst Sandzusatz, durch Eisen gelb bis rot und braungefärbt; bisweilen glasiert.

Porzellanfabrikation.

(Hierzu Tafel "Thonwarenfabrikation".)

Hartes, echtes Porzellan. Die Grundmasse ist ein Gemisch vonreiner Porzellanerde mit Feldspat als hauptsächlichemFlußmittel, zuweilen auch mit Quarz, Kreide, Gips. Der Quarzmindert das Schwinden des Thons, nimmt ihm aber auch einen Teilseiner Plastizität. Die Flußmittel machen die Massekompakt, klingend, glasartig, transparent, indem sie dieThonteilchen beim Schmelzen umhüllen und miteinanderverbinden. Die natürlichen Rohstoffe bedürfensorgfältiger Zubereitung. Sie werden auf Stampfwerken oder imDesintegrator zerkleinert, unter Wasserzufluß gemahlen,gesiebt und geschlämmt. Beim Schlämmen bedient man sichgroßer, terrassiert übereinander stehenderSchlammbottiche, die je in verschiedenen Abständen Löcherhaben, welche für gewöhnlich mit Holzpfropfen verstopftsind. Das gepulverte Material kommt in die obersten Bottiche, wirdmit Hilfe zufließenden Wassers aufgeweicht und ausgewaschen;die Milch fließt in die folgenden Bottiche, in welchen sichdas Pulver nach dem Grade der Feinheit als zarter Schlamm absetzt.Die entwässerten, aber noch feuchten Materialien werden ingeeignetem Verhältnis gemischt, worauf man die Masse durchVerdunstung im Freien oder durch künstliche Wärme, durchAuflegen auf poröse Platten aus gebranntem Thon oder Gips,unter welchen ein luftleerer Raum erzeugt wird, auf Filterpressenoder endlich durch Pressen in Drilchsäcken noch weiterentwässert, durch Kneten hom*ogener macht und längere Zeitin einem kühlen, feuchten Raum liegen läßt, damitsie "faule". Sie färbt sich hierbei anfangs dunkel, dann unterGasentwickelung wieder weiß und erlangt eine günstigereBeschaffenheit, ohne daß man mit Sicherheit angeben kann,worauf dies beruht. Nach dem Faulen wird die Masse zerschnitten undwieder zu Ballen geknetet, aus welchen nunmehr die verschiedenenGegenstände auf der Dreh- oder Töpferscheibe oder mitHilfe besonderer Formen hergestellt werden. Die Töpferscheibe(Textfig.) besteht aus einer vertikalen eisernen Welle, derenunteres Ende ein horizontales Schwungrad c, das obere eine Platte dträgt. Gegenüber der Scheibe sitzt der Arbeiter und drehtdas Schwungrad und somit die Platte zuerst mit einer Stange, dannmit dem Fuß oder durch maschinelle Vorrichtungen. Der Formersetzt die Masse auf die Mitte der Tischplatte, benetzt sie mitWasser, bringt die Scheibe in Drehung, bildet zuerst einen stumpfenKegel, drückt, während sich die Platte fortwährenddreht, mit dem Daumen beider Hände in den obern Teil desKegels, gleichzeitig mit den Fingern auf die Seitenfläche undhat es so in der Gewalt, der Masse eine bestimmte Höhlung undäußere Form zu erteilen. Damit seine Hände glattund schlüpfrig bleiben, taucht er sie in fein zerteiltePorzellanmasse, sogen. Schlicker. Anstatt mit dem Fuß desArbeiters, kann die Scheibe auch mit Maschinenkraft gedreht werden.Eine derartige Scheibe ist in Fig. 1 der Tafel dargestellt; a isteine konische Trommel, die durch Treibriemen d gedreht wird, b einezweite in entgegengesetzter Lage stehende Trommel; ein Riemen c,der durch eine Kurbel auf s verschiebbar ist, dient zurÄnderung der Umdrehungsgeschwindigkeit der Scheibe m, die ihreBewegung mittels des Riemens f erhält. Zur Herstellung genauerMuster benutzt der Dreher Schablonen, die aus Blech geschnittensind und mit der Kante, welche die Kontur des Gegenstandes angibt,gegen die beständig rotierende Thonmasse gehalten werden. Dasgeformte Stück wird mit einem dünnen Messingdraht von derScheibe abgeschnitten, vorsichtig auf ein

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Thonwaren (Porzellanfabrikation).

Brett gestellt und bei gewöhnlicher Temperatur im Schattengetrocknet. Gegenstände von nicht kreisförmigemQuerschnitt oder von komplizierter Gestalt werden in Formenhergestellt. Diese bestehen meist aus Gips, welcher der Masse soviel Wasser entzieht, daß sie sich nach Entfernung der Formnicht mehr verbiegt. Das Formen wird verschieden ausgeführt.Bei der Ballenformerei drückt man die Masse in Stückenvon geeigneter Größe mit den Fingern oder mit Hilfeeines Holzes so in die Form, daß das Stückgleichmäßige Scherbenstärke erhält. Ist dieForm zweiteilig, so werden beide Hälften schließlichaufeinander gelegt und die beiden Thonmassen miteinander vereinigt.Teller, Tassen etc. formt man mit Hilfe von dünnenBlättern aus weicher Porzellanmasse, die häufig mitMaschinen erzeugt werden. Man gießt auch die Porzellanmassein Form eines gleichmäßig flüssigen Breies in dieporösen Formen, welche Wasser absorbieren und sich dadurch miteiner Schicht von kompakterer Masse auskleiden. Sobald diesgeschehen ist, gießt man das flüssig Gebliebene ab undfüllt neue Masse ein, was so oft wiederholt wird, bishinreichende Wandstärke erreicht ist. Viele Figuren, Blumen,Ornamente etc. werden aus freier Hand mit dem Bossiergriffelgebildet. Die geformten Gegenstände bedürfen häufignoch einer nachträglichen Bearbeitung durch Abdrehen,Ausbessern, Guillochieren etc.; auch werden Henkel und andreähnliche Teile angesetzt, worauf man sie trocknenläßt. Unglasiertes Porzellan kommt als Biskuit in denHandel, besonders in Form von Kunstgegenständen, alleGebrauchsgegenstände aber werden glasiert.

Die Porzellanglasur ist sehr hart, glatt, glänzend, bekommtnicht leicht Risse und haftet sehr fest auf dem Porzellan. DieseEigenschaften verdankt sie ihrer Zusammensetzung, die mit der desPorzellans selbst wesentlich übereinstimmt. Man bereitet sieaus einem Gemenge von fein gepulvertem und geschlämmtemKaolin, Quarzsand, Gips und Porzellanscherben, die mit Wasser etwazur Konsistenz der Kalkmilch angerührt werden. Die zuglasierenden Stücke müssen neben gewisser Festigkeitinsbesondere Porosität besitzen, welche sie befähigt,Feuchtigkeit schnell und leicht zu absorbieren. Damit sie dieseEigenschaft erhalten, müssen sie einem schwachen Brande, demVerglühen, unterworfen werden. Zieht man sie dann durch eineFlüssigkeit, in welcher feine Körper suspendiert sind,wie in der Glasurflüssigkeit, so halten sie letztere wie einFilter in ihren Poren zurück, absorbieren die Feuchtigkeit,bedecken sich mit Glasurschicht und erscheinen nach demHerausziehen trocken. Um von den glasierten Stücken alleVerunreinigungen fern zu halten, werden sie nicht der direktenEinwirkung des Feuers ausgesetzt, sondern in eigens für diesenZweck angefertigten Thongefäßen, Kassetten oder Kapseln,die aus feuerfester Masse bestehen, gebrannt. In diese Kapselnwerden die Objekte eingesetzt; dieselben kommen dann in denPorzellanbrennofen und zwar Kapsel auf Kapsel, so daßmöglichst an Raum erspart wird. Das Brennen des Porzellans,wie der keramischen Objekte überhaupt, hat in der Neuzeiterhebliche Fortschritte gemacht in Ausnutzung der Wärme,Ersparung von Brennstoff, Verwertung auch schlechterBrennmaterialien. Bis vor etwa zehn Jahren diente für denPorzellanbrand der Holzetagenofen mit periodischem Brande. DieVerbesserungen der Heizungsanlagen im Hüttenwesen, dieAnwendung des Ringofens in der Ziegelfabrikation wirktenregenerierend auf diesem Gebiet. Kontinuierlicher Brand, Benutzungvon Gas als Brennstoff, Vorwärmung der Verbrennungsluft,Ausnutzung der Verbrennungsgase charakterisieren die Gegenwart;damit sucht sie bedeutende Leistungsfähigkeit undBequemlichkeit des Betriebs zu verbinden. Bereits im vorigen undAnfang der 40er Jahre dieses Jahrhunderts versuchte man inFrankreich, Porzellan mit Steinkohle zu brennen, jedoch ohneErfolg; erst in den 60er Jahren bürgerten sich solcheÖfen neben den ältern Etagenöfen in England,Frankreich und Mitteldeutschland ein. In den 50er Jahren machteSalvetat auf den hohen Wert der Gasfeuerung für diekeramischen Industrien aufmerksam, und es konstruierte dann Venierden ersten brauchbaren Gasofen für die ThunschePorzellanfabrik zu Klösterle in Böhmen.

Fig. 2 zeigt den ältern Doppelofen fürHolzkohlenfeuerung, wie er zu Sèvres Anwendung fand, Fig. 3den Steinkohlenofen von Thoma, Fig. 4-6 den Gasofen von G.Mendheim. Der Holzetagenofen bestand aus drei durch flacheGewölbe getrennten Etagen; die beiden untern L L' dienen zumGlattbrennen, die obere L'' zum Verglühen des Porzellans; alledrei Etagen kommunizieren durch die Öffnungen c c c in denGewölben. Die seitlichen Thüren P gestatten den Zugang indie verschiedenen Räume; dieselben sind übrigenswährend des Brandes vermauert. f f sind die seitlichangebrachten Feuerkasten, die mittels eines eisernen Schiebersverschlossen werden können. In dieselben wird durch o etwasHolz gebracht und, sobald dieses brennt, o verschlossen und vonoben neues Brennmaterial zugebracht. Die Luft tritt nun von oben zudem Brennstoff, und die Flamme gelangt, durch die Kanälegehörig verteilt, in den Ofen. Die Feuergase ziehenaufwärts, umspülen die eingesetztenKapselstöße und entweichen durch den essenartigenAufsatz H, welcher übrigens zur Regelung des Zugs durch KlappeI nach Wunsch geöffnet oder geschlossen werden kann. In Fig. 3bei dem Thomaschen Ofen ist A der Glattbrennofen mitEinsetzthür a, C der Verglühofen, D die Esse, welche aufKappe b des Verglühofens ruht. Der Ofen hat fünfFeuerkasten, in denen die Roststäbe der Roste g schräghängen; l ist der Fülltrichter, durch pverschließbar. Durch seitliche Kanäle wird der FeuerungLuft zugeführt. Die Einrichtung ist derart, daß dieFlamme an der Sohle r des Glattofens nach der Mitte getrieben wird,um eine gleichmäßige Verteilung der Hitze zu bewirken;durch w wird der Trockenraum S erwärmt, v ist die Klappe zurZugregulierung. Bei dem Gasofen von Mendheim erfolgt die Befeuerungder einzelnen Kammern durch Gas, welches in besondern,außerhalb des Ofens liegenden Generatoren erzeugt wird. Fig.4 stellt den Grundriß des Ofens, Fig. 5 den Querschnitt, Fig.6 den Längsschnitt der Kammer dar. Der Ofen besteht aus zweiparallelen Kammerreihen von 18 Kammern, welche in der Weiseangeordnet sind, daß in jeder Reihe 9 Kammern liegen, die inder Mitte durch Rauchsammler getrennt (1-9, 10-18), an beiden Endendurch die Kanäle h1h2 verbunden sind. Das aus den beidenSchachtgeneratoren a aus Steinkohle erzeugte Gas tritt durch dieeisernen Ventile b b in den Kanal c c ein, gelangt je nach Bedarfdurch Ventile d1d2 in die Kanäle e1e2, um hier zum Heizen derbei f schließbaren Kammer zu dienen. Soll z. B. Kammer 8befeuert werden, so öffnet man das zugehörige Ventil f;das Gas strömt hinter einer Feuerbrücke in dieselbe einund kommt hier mit einem Luftstrom in Berührung, der bereitsdie fertig gebrannten Kammern 7, 6, 5, 4, 3, 2, 1, 11, 18, 17passiert hat. Der Luftstrom

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Thonwaren (Porzellanfabrikation).

ist bei 17 eingetreten und hat sich auf dem Weg bis 8allmählich an den kühlenden Objekten erhitzt; hier hereintritt er durch die in der Kammerwand befindlichen Löcher g gund bewirkt die Verbrennung des Gases unter bedeutenderWärmeentwicklung. Die Flamme streicht nun durch dieLöcher g g nach Kammer 9, von hier durch den Kanal h2 nach 10,dann nach 11, 12, 13, 14. Letztere Kammer kann man von 15 durcheinen Blechschieber trennen; die Feuergase werden dadurchgezwungen, durch das geöffnete Ventil i in den Rauchkanal zutreten, um von diesem dem Schornstein l zugeführt zu werden.Der Betrieb des Ofens ist demnach derselbe wie derjenige desfür den Ziegelbrand benutzten Ringofens. Während Kammer 8im Garbrand, werden die Kammern 9-14 durch die abziehendenFeuergase vorgewärmt; die Kammern 15, 16 sind ausgeschlossen,15 wird neu beschickt, 16 entleert. Die Zirkulation der Luftbeginnt mit ihrem Eintritt bei 17 und endet mit dem Austritt derVerbrennungsprodukte bei 14. Ist Kammer 8 gar gebrannt, soschreitet man zu 9. Kammer 18 bildet dann die Eintrittsstellefür Luft, Kammer 15 die Austrittsstelle; 16 wird neubeschickt, 17 entleert u. s. f.

Das Einsetzen der zu brennenden Porzellangeschirre erfordertgroße Aufmerksamkeit, da der Arbeiter die Kassetten nach denObjekten zu wählen und die Kapselstöße in dieverschiedenen Stellen des Ofens unter möglichsterRaumausnutzung und Ausnutzung der Hitze zu verteilen hat. In denEtagenöfen stellt er die Stöße in der Regel in dreikonzentrischen Ringen um eine Kernsäule; die Stößewerden durch dazwischen gelegte Thonmassen gegeneinander verstrebt.Ist die Einsetzarbeit vollendet, so werden dieEinsatzöffnungen vermauert, mit Aussparung vonProbelöchern, um den Gang durch eingelegte Probescherbenbeobachten zu können. Anfangs gibt man in Öfen mitdirekter Feuerung ein schwaches Feuer. Man nennt dies Vorfeuer,Lavier- oder Flatterfeuer; dieses wird in 12-15 Stunden zumScharffeuer (Weißglut) gesteigert, welches man 17-18 Stundenunterhält. Hierauf verschließt man den Ofen undläßt 3-4 Tage erkalten, um ihn zu entleeren. Das demOfen entnommene Geschirr wird sortiert, wobei sichverhältnismäßig wenig vollkommen fehlerfreie Wareergibt. Ein großer Teil des Porzellans wird mit Malereidekoriert, und hierbei kann mancher Fehler verdeckt werden. DiePorzellanfarben sind gefärbte Gläser, welche durchEinschmelzen oder Einbrennen befestigt werden. Manche Farbenertragen die Hitze des Garbrandes, ohne zerstört zu werden(Scharffeuerfarben); sie können unter Glasur aufgetragen undmit ihr im Garofen eingeschmolzen werden. Bei andern ist dies nichtder Fall (weiche oder Muffelfarben); sie werden stets auf derGlasur des bereits gar gebrannten Porzellans aufgetragen und apartin Muffeln eingebrannt. Die Zahl dieser letztern Farben ist sehrviel größer, weil die meisten Metalloxyde im Scharffeuersich verflüchtigen oder einen unreinen Ton geben. AlleMuffelfarben liegen auf dem Porzellan fühlbar erhaben und sindals weiche Bleigläser der Abnutzung stark unterworfen. AlsFarbstoffe benutzt man Eisenoxyd für Rot, Braun, Gelb,Violett, Chromoxyd für Grün, Chromoxyd undsalpetrigsaures Kobaltoxydkali für Blau und Schwarz, Uranoxydfür Orange und Schwarz, Manganoxyd für Violett, Braun undSchwarz, Iridiumoxyd für Schwarz, Titanoxyd und Antimonoxydfür Gelb, Kupferoxyd und Kupferoxydul für Grün undRot, Goldpurpur für Purpur und Rosenrot etc. Bei Vergoldungwird fein verteiltes Gold mit basisch salpetersaurem Wismutoxyd undmit Quecksilberoxyd gemischt aufgetragen. Auch benutzt man Muschel-oder Malergold und brennt in der Muffel ein. Die Vergoldungerscheint matt und erhält erst durch Polieren mit Achat undBlutstein Glanz. Zur Meißener oder Glanzvergoldung benutztman ein Präparat, welches Goldchlorid, Schwefelgold oderKnallgold in Schwefelbalsam enthält. Man erhält hierdirekt glänzende Vergoldung, die aber sehr vergänglichist. Will man die Glasur des Hartporzellans färben, somuß man, wenn die normale Zusammensetzung derselben nicht zusehr verändert und Haarrissigkeit herbeigeführt werdensoll, die farblosen Flußmittel (Kali und Kalk) inäquivalenten Mengen durch färbende Metalloxyde ersetzen.Da die Menge der farblosen Flußmittel bei derHartporzellanglasur aber nur 8-10 Proz. beträgt, so ist inBezug auf die Einführung der färbenden Metalloxyde nurein geringer Spielraum gelassen. Dazu kommt, daßHartporzellan ohne Anwendung einer reduzierenden Flamme kaum gargebrannt werden kann, und daß demnach solche Metalloxyde,welche der Reduktion leicht unterworfen sind, für die Glasurnicht angewendet werden dürfen. Aus diesen Gründen istdie Palette für die Scharffeuerglasuren des Porzellans nurschwach besetzt und beschränkt sich auf Kobalt-, Chrom-,Eisen- und Manganoxyd nebst den edlen Metallen Gold, Platin undIridium. Seger hat deshalb eine neue Masse für Porzellanzusammengesetzt, für welche die Garbrandtemperatur bedeutendniedriger ist, so daß eine wesentlich leichtflüssigereGlasur verwendet werden kann, ohne daß dieselbe Haarrissezeigt. Um diese Glasur zu färben, kann man weitgrößere Mengen färbender Metalloxyde an Stelle derfarblosen Flußmittel einführen, auch sind die leichterreduzierbaren Metalloxyde (Kupfer-, Nickel- und Uranoxyd) zuverwenden, weil das Seger-Porzellan noch in oxydierendem Feuer gargebrannt werden kann. Dadurch ist die Palette für die farbigenGlasuren, welche im Vollfeuer aufgebrannt werden können, einewesentlich ausgedehntere geworden als früher. Auch diefabrikmäßige Herstellung des so sehr geschätztenChinesischrots, bisher das Geheimnis einiger Fabriken in Nanking,wurde von Seger aufgefunden; nunmehr liefert die BerlinerPorzellanmanufaktur derartige Gegenstände in vorzüglicherQualität. Nach einer neuen Dekorationsweise für Porzellanwird das Biskuit spitzenartig durchstochen und einezähflüssige Emailglasur aufgebracht. Dieselbeüberzieht das ganze Stück, so daß auch diekleinsten durchstochenen Öffnungen erfüllt werden undnach dem Brennen durchsichtig erscheinen (émailajouré). Beim Porzellandruck wird die gravierte Kupfer- oderStahlplatte mit Emailfarbe eingerieben, die Zeichnung auf Papiergedruckt, dieser Druck auf Porzellan abgezogen und entweder imGarfeuer oder in der Muffel eingebrannt. Lichtbilder oderLithophanien sind in flachen Gipsformen mit Reliefzeichnungengepreßte und unglasierte Porzellanplatten. ÜberPorzellanmalerei als Kunstbeschäftigung s. den besondernArtikel.

Frittenporzellan war in seiner Darstellung in Europa lange Zeitvor dem echten bekannt und wurde als Surrogat desselben, alsweiches Porzellan, benutzt. Das englische Frittenporzellan (zumTeil auch das nordamerikanische Iron-Stone) besteht auskalkhaltigem Porzellanthon von Cornwall (Cornish clay genannt),einem feldspatartigen Mineral (Cornish stone, verwitterterPegmatit), plastischem Thon, Feuerstein und phosphorsaurem Kalk(Kno-

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Thonwaren (Steingut, Fayence etc.).

chenasche oder Phosphorit). Letzterer macht die Masseleichtflüssig. Dies Porzellan wird im ersten Feuer nahezu gargebrannt und erhält im zweiten schwächern Feuer eineleichtflüssige Glasur aus Cornish stone, Kreide, Feuerstein,Borax und Bleioxyd. Hiernach ist das englische Porzellan wenigerhaltbar und bekommt leichter Risse als das harte, die Masse aberist plastischer, verzieht sich weniger, weil sie nicht so scharfgebrannt wird, erträgt geringere Scherbenstärke, und aufder leichtflüssigen Glasur sind die schönstenFarbennüancen anwendbar. Man brennt dies Porzellan in Kapselnund in Etagenöfen mit Steinkohlen- oder Gasfeuerung. ParischesPorzellan (Parian), von verschiedener Zusammensetzung, iststrengflüssiger als das vorige, wachsartig schimmernd, vonmildem, gelbem Ton und wird unglasiert zu Statuen benutzt.Ähnlich ist der Carrara. Das französischeFrittenporzellan ist ein Erdalkaliglas ohne Kaolinzusatz mitbleihaltiger Glasur. Es wurde in Sèvres vor der Fabrikationdes echten Porzellans bis 1769 ausschließlich dargestellt.Man bereitet es aus 75 Teilen Glas (aus Sand, Kalk, Pottasche undSoda hergestellt), 17 Teilen Mergel und 8 Teilen Kreide. DieseMaterialien werden naß gemahlen und der Brei monatelangaufbewahrt. Die Masse wird durch Seifen-, Leim- oder Gummiwasserplastisch gemacht, kann aber nur in Gipsformen geformt undmuß, da sie sich beim Brand leicht verzieht, auf Formen vonfeuerfestem Thon in Kapseln gebrannt werden. Hierzu genügt dasVerglühfeuer des Porzellanofens. Die Glasur ist einbleihaltiges Glas. In Sèvres wird dies Porzellan kunstvolldurch die sogen. pastose polychrome Malerei dekoriert. Ähnlichist das Heißgußporzellan oder Kryolithglas, welches inPhiladelphia und Pittsburg in großem Maßstab fabriziertwird.

Steingut, Fayence, Halbporzellan etc.

Steingut (Steinzeug) hat, ähnlich dem Porzellan, einendichten, halb verglasten, gleichartigen, klingenden, an der Zungenicht klebenden Scherben, unterscheidet sich aber vom Porzellandadurch, daß es auch in seinen weißen Varietätenan den Kanten nicht durchscheinend ist. Gegen Temperaturwechselzeigt es sich sehr empfindlich, dagegen ist es sehr fest und vonbeträchtlicher chemischer Widerstandsfähigkeit. Es istfarblos oder farbig und kommt glasiert und unglasiert vor. Diegrößere Plastizität gestattet die Herstellung sehrgroßer Gefäße. Das feine weiße Steinzeugwird aus sich weiß brennendem, weniger feuerfestemplastischen Thon hergestellt, mit Zusatz von Kaolin und Feuersteinund mit Cornish stone als Flußmittel, von welchem mehr alsbei der Porzellanfabrikation genommen wird, so daß dasSteinzeug bei niederer Temperatur zu brennen ist. Statt des Kaolinsbenutzt man oft auch Feldspat und bedarf demnach geringerer Hitze.Die Waren kommen unglasiert in die Kapseln, oder man kleidet dieKapseln, in denen sie gebrannt werden, mit Kochsalz, Pottasche undBleioxyd aus oder gibt eine Glasur aus blei- undborsäurehaltigem Glas. Das feine Steinzeug ist besonders inEngland gebräuchlich, ebenso das ähnliche Wedgwood,welches oft durch Metalloxyde in der Masse gefärbt oder nurmit einer Schicht farbigen Thons überzogen und in dermannigfaltigsten Weise, z. B. mit farbigen oder farblosenOrnamenten auf andersfarbigem Grund, dekoriert wird. Basaltgut istschwarzes, sehr hartes und dauerhaftes Steingut, aus eisenhaltigemThon, Kiesel, Gips und Braunstein ohne Glasur gebrannt. ZuMedaillons und feinen Kunstwerken dient das feine weißeJaspisgut.

Das gemeine Steingut bildet die Masse derMineralwasserkrüge, Krüge, Näpfe, Einmachkruken,pharmazeutischen Geräte etc. Es wird aus einem plastischen,mehr oder weniger gefärbten, ohne Zusatz von Flußmittelnstark frittenden Thon, bisweilen unter Zusatz von Sand odergemahlenen Steingutfarben hergestellt und ist meist grau, gelblich,rötlich oder bläulich. Der Thon wird nur eingesumpft, aufder Thonknetmühle bearbeitet, auf Haufen gebracht, indünnen Spänen abgestochen und wieder geknetet. DasBrennen geschieht in liegenden gewölbten Öfen mit meistansteigender Sohle oder in Kasseler Flammöfen. Befindet sichdie eingesetzte Ware in höchster Glut, so wird durch dieÖffnungen des Gewölbes Kochsalz eingeworfen. DieKieselsäure der Ware zersetzt bei Gegenwart vonWasserdämpfen das Kochsalz unter Bildung von Salzsäureund Natron, mit welch letzterm sie kieselsaures Natron bildet, dasmit der Thonerde auf der Oberfläche der Geschirre zu einerGlasur von kieselsaurem Thonerde-Natron zusammenschmilzt.

Die Fayence hat ihren Namen von der Stadt Faenza in Italien, sieist in der Masse dicht, erdig, nicht durchscheinend, klebt an derZunge und wird wesentlich aus plastischem Thon, oft unter Zusatzvon gemeinem Töpferthon, bisweilen auch Kreide, Sand,Glasfritte, Gips, Knochenasche etc. dargestellt. Sie ist deshalbzum Teil feuerbeständig oder sehr schwer schmelzbar,während andre Sorten nur bei niederer Temperatur gebranntwerden dürfen. Die Glasur ist ein durchsichtiges oderundurchsichtiges Bleiglas, wird leicht rissig und blättertbisweilen ab. Durch die Risse dringen farbige Flüssigkeitenund Fett in die Masse ein und lassen die Geschirre unreinerscheinen. Von gewöhnlicher Töpferware unterscheidetsich Fayence wesentlich nur durch feineres Material undsorgfältigere Bearbeitung. Man unterscheidet feine undordinäre Fayence. Erstere besteht aus einer weißen,dichten, harten, etwas klingenden Masse und erhält stetsdurchsichtige bleiische Glasur. Hierher gehört das feineSteingut von Mettlach, Belgien und dem nordöstlichenFrankreich, welches aus weißem plastischen Thon mit Zusatzvon Sand und Kreide oder alkalireicher Glasfritte dargestellt wird,ferner das englische Steingut (Staffordshire) aus sich weißbrennendem, feuerfestem Thon mit Zusatz von Feuersteinpulver unddas Hartsteingut (feines englisches Steingut, Gesundheitsgeschirr,Halbporzellan) aus weißem plastischen Thon mit Zusatz vonKaolin. Der Thon wird auf einem Thonschneider mit Wasser gemischt,auf einer Siebmaschine gereinigt, mit den übrigen Materialiengemischt und die Masse auf der Filterpresse entwässert. Diegeformten und getrockneten Gegenstände werden in Kapseln beihoher Temperatur gebrannt, dann bemalt, bedruckt etc. und zuletztglasiert. Die Glasur bereitet man aus Bleioxyd, Feuerstein,Feldspat, Cornish stone, Kaolin, oft unter Zusatz von Borax, Soda,Salpeter, Kreide. Das Einbrennen geschieht in Kapseln bei sehr vielniederer Temperatur. Da sich nun hierbei nicht wie beim Porzellandas Geschirr verzieht, so braucht man nicht jedes Stück ineine besondere Kapsel zu stellen, sondern kann mehrere Stückeübereinander schichten, wobei nur die gegenseitigeBerührung durch feinspitzige Pinnen von Thonmasse verhindertwird. Ein Teller z. B. ruht dann auf drei Pinnen, deren Marken manauf der Unterseite des breiten Randes als kleine Glasurfehlerleicht auffindet. Hierdurch unterscheidet sich ein Fayencetellervon einem Porzellanteller, welch letzterer beim Brand

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Thor (Archit.) - Thor (nord. Myth.).

mit seinem untern Rand auf dem Boden der Kapsel steht und hierzur Verhinderung des Anschmelzens von Glasur befreit wird. Derfeinen Fayence schließen sich auch die kölnischen oderholländischen Thonpfeifen aus reinem weißen Thon ohneZusatz und die lackierten T., wie Terralith, Hydrolith, Siderolith,an. Die ordinäre Fayence wird aus mehr oder wenigereisenhaltigem plastischen oder Töpferthon mit Mergel- undSandzusatz dargestellt und bei so niedriger Temperatur gebrannt,daß der kohlensaure Kalk des Mergels nicht zersetzt wird undder Scherben mithin beim Übergießen mit Säurebraust. Die Glasur wird aus Blei- und Zinnoxyd, Sand und Kochsalzoder Soda dargestellt und ist weiß, undurchsichtig, um dieFarbe des Scherbens zu verdecken, oft aber auch durch Metalloxydegefärbt. Die Fayence wird in Kapseln zweimal gebrannt und zwarerst bei Kirsch- oder Hellrotglut, dann nach dem Auftragen derGlasur (durch Eintauchen) bei kaum höherer Temperatur. Diegemeine Fayence zeigt meist geringe Festigkeit und springt leichtbeim Erhitzen, so daß sie als Kochgeschirr nicht benutztwerden kann. Eine besondere Gattung derselben bilden dieOfenkacheln. Die Fayence wird unter oder auf der Glasur bemalt,auch durch Angießen mit farbigem Thonbrei gefärbt undbedruckt. Man benutzt fein pulverisierte Metalloxyde, mit gekochtemLeinöl angerieben, als Druckerfarbe, druckt das Bild auffeinem, weichem, mit Leinsamenschleim getränktem Papier,bringt dieses sogleich auf die einmal gebrannte, also poröseFayence und drückt es mit Filz vorsichtig an. Löst mannun das Papier vorsichtig mit Wasser ab, so bleibt der Druck aufder Fayence und kann eingebrannt werden. Auch Flowing-colours undLüster werden häufig auf Fayence angewandt.

Mit dem Namen Majolika bezeichnet man die verschiedenstenGattungen ordinärer Fayence und zwar solche mit auf der rohenGlasur angebrachten, eingebrannten Malereien ausfeuerbeständigen Starkfeuerfarben, solche mit farbigenGlasuren oder mit Malerei auf Steingutglasur, ferner Fayence mitopaker Glasur, meist Imitationen italienischer Meister, desgleichenImitationen mit transparenter weißer Glasur auf einer denrötlichen Scherben bedeckenden Lage farbigen Thons, fernerGegenstände, mit verschiedenfarbigen Thonlagen und darauf mitdurchsichtiger Glasur versehen (Schweizer Majolika). Währendletztere und die sogen. französischen Majoliken,Steingutgegenstände mit farbigen Glasuren,Gebrauchgegenstände geworden sind, liefert die italienischeImitationsmajolika nur Luxus- und Schaustücke. Weiteres s.Keramik.

Töpfergeschirr (Weiß- und Brauntöpferei).

Ordinäres Töpfergeschirr wird aus den verschiedenstenThonen, wenn sie nur billig sind, namentlich aus Töpferthonund Thonmergel, dargestellt und kann nur bei Dunkel- bisHellrotglut gebrannt werden. Infolgedessen bleibt die Masse sehrporös und wird nur durch die Glasur gebrauchsfähig.Letztere muß daher auch sehr haltbar sein und darf nichtrissig werden oder abblättern. Die Geschirre ertragen starkenTemperaturwechsel und sind daher auch als Kochgeschirr verwendbar.Für die sogen. Weißtöpferei, welche gemeinesKüchengeschirr herstellt, benutzt man den gemeinenTöpferthon, für die Brauntöpferei, zu welcher dasBunzlauer und Waldenburger Geschirr gehört, einen ziemlichfeuerbeständigen Thon. Zu fetter Thon wird mit magerm Thonoder Sand, auch wohl mit Feuerstein, Kreide, Schamotte,Steinkohlenasche gemischt und, nachdem er monatelang gelegen hat,getreten, auf dem Thonschneider bearbeitet, geknetet, einemFäulnisprozeß unterworfen und abermals getreten,geknetet etc., bis er hinreichend hom*ogen geworden ist. DasSchlämmen ist in der Regel zu teuer. Die auf der Drehscheibegeformten und getrockneten Gegenstände werden häufig miteinem Schlamm aus weißem oder farbigem Thon, auch wohl unterZusatz färbender Metalloxyde begossen (engobiert), um ihneneine bestimmte Farbe zu erteilen, und, nachdem der Begußgetrocknet ist, durch Eintauchen, Begießen oderBestäuben mit Glasur versehen. Letztere ist eine leichtschmelzbare Bleiglasur aus Bleiglätte oder Bleiglanz und Lehm,welcher häufig färbende Metallpräparate beigemengtwerden. Bei richtiger Zusammensetzung der Glasur, wenn das Bleioxydvollständig an die Kieselsäure gebunden ist, entziehendie in der Haushaltung vorkommenden Säuren (Essig,Fruchtsäfte) der Glasur kein Blei, während saure Speisenaus schlechter, namentlich ungenügend gebrannter Glasur Bleiaufnehmen können. Die ordinäre Töpferware wird inder Regel nur einmal (mit der Glasur) und ohne Kapseln gebrannt.Der Boden der Gefäße darf keine Glasur erhalten, damiter nicht anschmilzt, auch muß die gegenseitige Berührungder Geschirre thunlichst vermieden werden. Die Töpferöfensind meist liegende Flammöfen mit nur einer Feuerung an dereinen und der Esse an der andern Seite. Der Feuerraum ist vomBrennraum in der Regel durch eine durchbrochene Mauer geschieden,welche die Feuerungsgase möglichst gleichmäßigverteilen, Flugasche zurückhalten und, wenn glühend, zurRauchverbrennung beitragen soll. Sehr gebräuchlich ist derKasseler Ofen (s. Mauersteine, S. 352). Auch Gasfeuerung ist aufTöpferöfen mit Vorteil angewandt worden, und beigroßem Betrieb benutzt man die kontinuierlichenRingöfen, welche zuerst für Ziegeleien konstruiertwurden. Über Mauersteine und Terrakotten s. diese Artikel;über die Geschichte der Thonbildnerei s. Keramik. Vgl. Kerl,Handbuch der gesamten Thonwarenindustrie (2. Aufl., Braunschw.1878); Gentele, Vollständiges Lehrbuch im Poteriefach (2.Aufl., Leipz. 1859); Schumacher, Die keramischen Thonfabrikate(Weim. 1884); Möller, Die neue Bauanlage der königlichenPorzellanmanufaktur zu Charlottenburg (Berl. 1873); Mendheim,Brennöfen mit Gasfeuerung (das. 1876); Liebold, Die neuenkontinuierlichen Brennöfen (Halle 1876); Stegmann, Gasfeuerungund Gasöfen (2. Aufl., Berl. 1881); Challeton, L'art dubriquetier (Par. 1861), und die kunstgeschichtliche Litteratur beiKeramik.

Thor, in der Architektur, s. Portal.

Thor (Thunar), in der nord. Mythologie Gott des Donners,dem deutschen Donar (s. d.) entsprechend, war der erste Sohn desOdin und der Jörd (Erde) und genoß unter allen Asen dashöchste Ansehen. Er wird geschildert als ein Wesen vonjugendlicher Frische, mit rotem Bart und von ungeheurerStärke, furchtbar besonders durch drei Kleinode: denDonnerhammer Miölnir, der geschleudert sein Ziel nie verfehlteund von selbst zurückkehrte, den Machtgürtel Megingiardund die Eisenhandschuhe. Er lag in steter Fehde mit demRiesengeschlecht der Joten und Thursen, auch mit der Jormungandr(Midgardschlange). Später erlegte er diese bei derGötterdämmerung, doch wurde er hierbei selbst durch ihrenGifthauch getötet. Seine Gattin, die Erdgöttin Sif (s.d.), brachte ihm aus früherer Ehe den schnellenBogenschützen Uller zu und gebar ihm eine Tochter, Thrud("Kraft"), während er von der Jotin Jarnsaxa zwei Söhne,Magin ("Stärke")

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Thor, Le - Thoren.

und Modi ("Mut"), besaß. Sein gewöhnlicher Wohnsitzwar Thrudheim ("Land der Stärke"); doch hatte er auch eineWohnung in Asgard, Namens Thrudwangr. Von ihm hat der Donnerstag(Thorstag) den Namen. Vgl. Uhland, Der Mythus vom T. (Stuttg. 1836,und im 6. Bd. der "Schriften").

Thor, Le, Flecken im franz. Departement Vaucluse,Arrondissem*nt Avignon, an einem Arm der Sorgues und an derEisenbahn Avignon-Cavaillon, hat eine gut erhaltene Kirche (imÜbergangsstil), Seidenspinnerei, Papierfabrikation,Gipserzeugung und (1881) 1462 Einw.

Thora (Thorah, hebr.), bei den Juden vorzugsweiseBenennung des mosaischen Gesetzes und des dasselbe enthaltendenPentateuchs (vgl. Bibel, S. 879). Sefer-T., Buch des Gesetzes, dievon besondern Schreibern mit größter Genauigkeitgeschriebene Pergamentrolle, aus welcher in den Synagogen dieAbschnitte der Bücher Mosis vorgelesen werden.

Thorakocentesis (griech), s. Paracentese.

Thorakometer (griech., Brustmesser), Instrument zumMessen des Brustumfanges und der Erweiterung des Brustkorbes beimAtmen, wird vollkommen ersetzt durch ein gewöhnlichesBandmaß.

Thorax (griech.), Brustharnisch (s. Rüstung); in derAnatomie die Brust (s. d.) sowohl der Wirbeltiere als auch derGliederfüßer. Bei den letztern ist der T. zuweilen mitdem Kopf zum sogen. Kopfbruststück (Cephalothorax, s.d.)verwachsen. Bei den Insekten trägt er die drei Bein- undgewöhnlich auch zwei Flügelpaare.

Thorbecke, Johann Rudolf, niederländ. Staatsmann,geb. 15. Jan. 1798 zu Zwolle, studierte in Leiden die Rechte, dannin Deutschland Philosophie, habilitierte sich 1822 als Dozent inGießen, dann in Göttingen und ward 1825 Professor derpolitischen Wissenschaften zu Gent, 1830 Professor der Rechte zuLeiden. 1840 in die Erste Kammer berufen, stimmte er fürdurchgreifende Verfassungsreform, welche er bereits durch seineSchriften: "Aanteekening op de grondwet" und "Proeve van herzienegrondwet" verteidigt hatte, und legte 1844 einen vollständigausgearbeiteten Entwurf einer Verfassungsreform vor, der aber erstim Oktober 1848 von einer mit Revision des Grundgesetzes unterThorbeckes Leitung beauftragten Kommission angenommen wurde. ImOktober 1849 mit Bildung eines neuen Ministeriums beauftragt,übernahm er in diesem das Portefeuille des Innern und wirktein dieser Stellung mit Eifer für Durchführung derVerfassung. Da er indes den König durch schroffes Auftreten,das protestantisch gesinnte Volk durch die Zulassung katholischerBistümer verletzte, ward er von seinen Gegnern 1853gestürzt. T. war nicht bloß dem König, sondern auchvielen sogen. Liberalen seines ernsten, rücksichtslosen Wesensund seiner strengen politischen Doktrin wegen verhaßt, underst 30. Jan. 1862 trat er endlich wieder an die Spitze desMinisteriums. Da indes seine Reformpläne im Kolonialwesen dieInteressen zu vieler, auch Liberaler, verletzten, ward er imMärz 1866 wieder gestürzt, obwohl er der einzigeStaatsmann in den Niederlanden war, welcher wußte, was erwollte, und die liberale Partei einigermaßen zusammenzuhaltenverstand. Das Verhalten des Ministeriums van Zuylen in derLuxemburger Frage tadelte er aufs schärfste und führte1868 dessen Sturz herbei, worauf er zwar 22. Mai den Auftragübernahm, ein neues Ministerium zu bilden, aber nicht selbsteintrat, sondern dasselbe Fock übertrug und bloß in derKammer unterstützte. Nach dessen Abdankung, Anfang 1871, trater indes selbst wieder als Minister des Innern an die Spitze desKabinetts und bemühte sich, die Reform des Heerwesens zurSicherung der niederländischen Unabhängigkeit, die T.durch Preußen bedroht glaubte, und die Einführung einerEinkommensteuer durchzusetzen. Mit beiden Vorschlägen drang erindes nicht durch und nahm im Mai 1872 deshalb seine Entlassung.Noch ehe das neue Ministerium gebildet war, für welches T. dieGeschäfte noch fortführte, starb er 4. Juni 1872. Nachseinem Tod erst würdigte man den Verlust desüberzeugungstreuen, energischen und praktisch befähigtenStaatsmanns und ehrte ihn 1876 durch ein Denkmal zu Amsterdam.Gesammelt erschienen Thorbeckes kleinere Schriften ("Historischeschetsen", 2. Aufl., Haag 1872), seine Briefe aus den Jahren1830-32 (Amsterd. 1873) und seine Reden (Deventer 1856-70, 6 Bde.).Vgl. Olivier, Herinneringen aan T. (Haag 1872).

Thordsen, Kap, s. Eisfjord und Polarforschung, S.160.

Thoreau (spr. thóro). Henry, nordamerikan.Schriftsteller, geb. 1817 zu Concord bei Boston als der Sohn einesBleistiftmachers, besuchte das Harvard College in Cambridge,welches er 1837 nach erlangtem Grad verließ, um als Lehrersein Brot zu verdienen. Sein unsteter, Selbständigkeitliebender Geist ließ ihm aber keine Ruhe bei einer festenBerufsstellung; er verschmähte die Handwerksthätigkeitnicht und verstand sich aufs Zimmern, Malen, Bleistiftmachen undGartenarbeit. Die Schriftstellerei trieb er ebenso regellosnebenher. T. ist eins der hervorragendsten Mitglieder jener durchEmerson, Alcott, Margareta Fuller u. a. vertretenen Schule desIdealismus, welche sich von der puritanischenStrenggläubigkeit befreit hatte und einem freiern Leben imGeist und in der Wahrheit zustrebte. In diesem Kreis war T. eineder originellsten Erscheinungen, in der sich der Dichter und Denkervereinigte. Der Gegenstand seiner Schriften ist fastausschließlich die Natur, deren Erscheinungen aus allenGebieten er in tief empfundenen Bildern und Betrachtungen zubeschreiben verstand. Während zweier Jahre lebte T. in einervon ihm selbst gezimmerten Hütte, eine Meile von Concord imWald; dort sammelte er seine zerstreuten Aufsätze zu dem Buch"A week on the Concord and Merrimac rivers" (Bost. 1849) undentstand die Schrift "Walden; or life in the woods" (das. 1855).Seine andern Schriften wurden erst nach seinem 1862 erfolgten Todgesammelt herausgegeben. Es sind die mit einer kleinenLebensbeschreibung Thoreaus von seinem Freund Emerson eingeleiteten"Excursions in field and forest" (Bost. 1863); ferner: "The Mainwoods" (1864); "Cape Cod" (1865); "Early spring in Massachusetts";"A Yankee in Canada" (1866); endlich: "Letters to various persons"(1865). Ein hervorstechender Zug bei T. war seine leidenschaftlicheund frühzeitige Parteinahme für die Abschaffung derSklaverei. Sein Leben schrieben Page (1879) und Sanborn (Bost.1882).

Thoren, Otto von, Maler, geb. 1828 zu Wien wurde 1846Offizier, machte 1848 den ungarischen Feldzug mit und verweiltedann längere Zeit in Venedig; 1857 wandte er sich ganz derMalerei zu und studierte mehrere Jahre in Brüssel und Paris.Gegen Mitte der 60er Jahre wurde er nach Wien berufen, um einReiterbildnis des Kaisers von Österreich auszuführen.Nachdem er noch einen Tod Gustav Adolfs gemalt hatte, wandte ersich der Tiermalerei, insbesondere der Darstellung des Weideviehs,zu, worin er sich durch energische Charakteristik und feineNaturbeob-

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Thorenburg - Thorn.

achtung bei breiter malerischer Darstellung auszeichnet. SeineHauptwerke sind: ungarische Ochsen, gegen den Wind nach Hausegetrieben, ackernde Ochsen, Pflüger aus der Normandie, derherannahende Wolf, Ochsengruppe bei Sonnenuntergang. T. lebt inParis.

Thorenburg, Stadt, s. Torda.

Thoresen, Anna Magdalena, geborne Kragh, norweg.Romanschriftstellerin, geb. 3. Juni 1819 zu Fridericia inJütland als die Tochter eines Schiffszimmermanns, kam mit 20Jahren nach Kopenhagen, um sich zur Lehrerin auszubilden, ward nacheinigen Jahren Erzieherin im Haus des norwegischen PfarrersThoresen und zwei Jahre später (1844) dessen Frau. Ihr neuerWohnort bot ihr in Fülle Gelegenheit, das Volk und dienordische Natur zu studieren, und beide, Land und Leute Norwegens,haben in ihr später die verständnisvollste Darstelleringefunden. Als nach 18jähriger Ehe der Pfarrer starb, wandtesich die Witwe wieder nach Kopenhagen, um es nun mit derSchriftstellerei zu versuchen. Sie brachte zuerst kleinere Arbeiten("Fortällinger" u. a.), sodann die ebenso eigentümlichewie schöne Erzählung "Signes Historie" (1864), diedurchschlagenden Erfolg hatte. Es war damals die Blütezeit derBauerngeschichten und die Strömung ihr sonach förderlich;gleichwohl verdankt sie vorzugsweise ihrem eignen Talent dieErfolge dieser und ihrer folgenden Erzählungen, die sichebensosehr durch Originalität der Erfindung und Tiefe derCharakteristik wie durch Pracht der Schilderungen auszeichnen. Essind: "Solen i Siljedalen" (1868); "Billeder fra Vestkysten afNorge" (1872); "Nyere Fortällinger" (1873); "Livsbilleder"(1877); "Herluf Nordal" (1879); "Billeder fra Midnatsolens Land"(1884-86, 2 Bde.). In ihren Bühnendichtungen ("Et rigt parti".1870; "Inden Döre", 1877; "Kristoffer Valkendorf ogHanseaterne", 1878; "En opgaaende sol", 1882) zeigt sie sichweniger beanlagt. Der größte Teil ihrer Dorfgeschichtenwurde von Reinmar ins Deutsche übersetzt (2. Aufl., Berl.1884, 5 Bde.). Ihre neueste Veröffentlichung ist ein BandGedichte (1887).

Thorheit unterscheidet sich von der Tugend, welche nurgute, wie von dem Laster, welches nur schlechte Zwecke verfolgt,durch moralische Gleichgültigkeit gegen die Beschaffenheit desZwecks, von der Weisheit, welche zur Erreichung guter, wie von derKlugheit, welche zu solcher beliebiger Zwecke taugliche Mittelwählt, durch die gedankenlose Sorglosigkeit oder (logische)Verkehrtheit in der Wahl der Mittel.

Thorild, Thomas, schwed. Dichter und Denker, geb. 1759 zuKongelf in Bohuslän, trat als leidenschaftlicher Gegner desherrschenden französischen Geschmacks auf und verschaffte, einVerehrer Klopstocks und Ossians, der Romantik in Schweden Eingang,verweilte dann 1788-90 zur Ausführung seiner weltverbesserndenIdeen in England, ohne Erfolg zu haben, wurde nach seinerRückkehr wegen der freisinnigen politischen Schrift"Ärligheten" ("Die Ehrlichkeit") auf mehrere Jahre des Landesverwiesen, erhielt 1795 eine Anstellung als Professor derschwedischen Litteratur und Bibliothekar zu Greifswald und starbdaselbst 1808. Weniger durch seine Poesien, von denen dasdidaktische Gedicht "Passionerna" ("Die Leidenschaften^, Stockh.1785) genannt sei, hat T. durch seine Streitschriften, die er zumTeil unter dem Titel: "Kritik öfver kritiker med utkast til enlagstiftning i snillets verld" ("Kritik über Kritiken nebstEntwurf zu einer Gesetzgebung im Reich des Genies", 1791)herausgab, Einfluß auf die Entwickelung der schwedischenDichtkunst ausgeübt. Als origineller und paradoxer Denker abererscheint er besonders in seinem Hauptwerk: "Maximum sivearchimetria" (Berl. 1799), das eine Fundamentalphilosophie oderurwissenschaftliche Grundlehre, allgemeine Kritik "Tanti et Totius"sein sollte. Grundlage alles Wissens ist danach das Gefühl derNotwendigkeit, so zu denken, wie man denkt, und da bei einem echtenDenker vorausgesetzt werden müsse, daß er überhauptnichts, was ihm nicht denknotwendig scheine, denke, so seiüberhaupt jedes Denken Erkenntnis, weil und insoweit esnotwendiges Denken ist, und der Unterschied zwischen Wahrheit undIrrtum besteht in dem Wieviel (Tantum quantum), d. h. in dem Gradeder Notwendigkeit, welche dasselbe besitzt. Ein philosophischesGlaubensbekenntnis, das T. drucken ließ, sollunterdrückt worden sein. Eine neue Ausgabe seiner "Samladeskrifter" besorgte Hanselli (Stockh. 1873-1874, 2 Bde.). Vgl.Geijer, Thorild (Upsala 1820).

Thorium (Donarium) Th, chem. Element, welches sich imThorit, Orangit, Pyrochlor, Monazit und andern seltenen Mineralienfindet und aus dem Chlorthorium gewonnen wird. Es bildet ein grauesPulver vom spez. Gew. 7,73, Atomgewicht 231,96, zersetzt nichtWasser, ist leicht löslich in Salpetersäure, schwer inSalzsäure, verbrennt beim Erhitzen an der Luft zu farbloserThorerde (Thoroxyd, Thorsäure) ThO2. Diese bildet mitfarblosen Säuren farblose Salze, die etwas zusammenziehendschmecken und beim Erhitzen zersetzt werden.

Thorn (poln. Torun), Kreisstadt und seit dem Eingehen derFestung Graudenz durch Anlage zahlreicher detachierter Forts aufbeiden Seiten der Weichsel Festung ersten Ranges, an der Weichsel,über die hier eine 1000 m lange Eisenbahnbrückeführt, Knotenpunkt der Linien Schneidemühl-T.,T.-Allenstein, T.-Alexandrowo, T. Marienburg und Posen-T. derPreußischen Staatsbahn, 34 m ü. M., hat alte, vomDeutschen Orden erbaute Ringmauern, 2 evangelische und 3 kath.Kirchen (unter letztern die Johanniskirche mit dem Epitaphium desKopernikus), eine Synagoge, ein altes Schloß (von 1260), einschönes Rathaus (mit wichtigem Archiv und Museum), 2Bahnhöfe, ein Schlachthaus, einen Marktplatz (in der Altstadt)mit der kolossalen Bronzestatue des Kopernikus, welche dem 1473 inT. gebornen großen Astronomen 1853 hier errichtet wurde, und(1885) mit der Garnison (2 Infanteriereg. Nr. 21 und 61, einPionierbat. Nr. 2, ein Ulanenreg. Nr. 4 und einFußartilleriereg. Nr. 11) 23,906 meist evang. Einwohner. DieIndustrie besteht in Eisengießerei, Maschinen-, Dampfkessel-,Spiritus-, Seifen-, Tabaks- und berühmterPfefferkuchenfabrikation, Tischlerei und Schlosserei, Bierbrauereietc. Der lebhafte Handel, unterstützt durch eineHandelskammer, eine Reichsbankstelle und andre Bankinstitute sowiedurch die Stromschiffahrt, ist besonders bedeutend in Getreide undHolz, ferner in Wein, Kolonial-, Eisen- und Schnittwaren, Vieh,Steinkohlen etc. Besucht sind auch die dortigen alljährlichenWoll-, die allmonatlichen Pferde- und allwöchentlichenViehmärkte. T. ist Sitz eines Landgerichts, einesHauptzollamtes, des Stabes der 8. Infanteriebrigade und hat einGymnasium mit Realgymnasium u. ein Lehrerinnenseminar. Unmittelbarbei T. liegt das Dorf Mocker mit Eisengießerei, Ma-

Wappen von Thorn.

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Thornbury - Thorwaldsen.

schinen- und Nudelfabrikation und (1885) 6826 Einw. sowie derFlecken Podgorz mit 1972 Einw. Zum Landgerichtsbezirk T.gehören die neun Amtsgerichte zu Briesen, Gollub, Kulm,Kulmsee, Lautenburg, Löbau, Neumark, Strasburg und T. - Denersten Grund zu der Stadt legte der Hochmeister Hermann Balk 1231.Deutsche Einwanderer aus Westfalen bevölkerten die Stadt, die28. Dez. 1232 das unter dem Namen der Kulmischen Handfeste bekanntePrivilegium erhielt. T. trat später dem Hansabund bei. Hierwurde 1411 zwischen dem König Wladislaw II. von Polen und demDeutschen Orden Friede geschlossen. 1454 ward das Schloß zuT. vom Preußischen Bund erobert und von den Bürgernzerstört. Am 19. Okt. 1466 ward hier ein zweiter Friedezwischen Polen und dem Deutschen Orden geschlossen. DerWaffenstillstand mit Polen zu T. 5. April 1521 gewährte demHochmeister Albrecht von Brandenburg vier Jahre Ruhe bis zumberühmten Krakauer Frieden. 1557 nahmen Rat undBürgerschaft die Reformation an, und 1558 ward dieMarienschule zu einem Gymnasium erhoben. Auf Veranlassung despolnischen Königs Wladislaw IV. ward hier 1645 unterOssolinskis Vorsitz das sogen. Colloquium charitativum zurVersöhnung der Katholiken und Dissidenten, woran auch G.Calixt teilnahm, veranstaltet. Streitigkeiten, welche 16. Juli 1724zwischen den Jesuitenzöglingen und den Schülern desprotestantischen Gymnasiums bei Gelegenheit derFronleichnamsprozession entstanden, hatten einen Tumult zur Folge,wobei das Jesuitenkloster gestürmt und verwüstet wurde.Die polnische Regierung ließ darauf auf Grund eines ganzungesetzlichen Verfahrens 7. Dez. 1724 den StadtpräsidentenRößner nebst neun Bürgern enthaupten (ThornerBlutbad) und bestimmte, daß der Magistrat künftig zurHälfte aus Katholiken bestehen und die Marienkirche denKatholiken übergeben werden sollte. Bei der zweiten TeilungPolens fiel T. zugleich mit Danzig 1793 an Preußen. Durch denFrieden von Tilsit 1807 kam es an das Großherzogtum Warschau,und 16. April 1813 mußte es, nachdem es von den Russen undPreußen eingeschlossen worden war, nach achttägigerBeschießung kapitulieren. Durch die Wiener Kongreßaktevon 1815 kam es von Polen an Preußen zurück und wardseit 1818 mit Festungswerken versehen. Vgl. Wernicke, GeschichteThorns (Thorn 1839-42, 2 Bde.); Hoburg, Die Belagerungen der Stadtund Festung T. (das. 1850); Steinbrecht, Die Baukunst des DeutschenRitterordens, Bd. 1: T. im Mittelalter (Berl. 1884); Kestner,Beiträge zur Geschichte der Stadt T. (Thorn 1883); Steinmann,Der Kreis T. (das. 1866).

Thornbury (spr. thórnböri), George Walter,engl. Dichter und Schriftsteller, geb. 1828 zu London, gest.daselbst 11. Juni 1876, begann seine Laufbahn 1845 mitBeiträgen zum "Bristol Journal" und schrieb späterhauptsächlich für das "Athenaeum". Sein erstesgrößeres Werk war: "Lays and legends of the New World"(1851). Es folgten eine Geschichte der Bukanier ("Monarchs of theMain", 1855, neue Aufl. 1873), "Shakspere's England during thereign of Elisabeth" (1856, 2 Bde.) und "Art and nature at home andabroad" (1856, 2 Bde.). Als Dichter zeigte er sich in "Songs ofCavaliers and Roundheads" (1857), "Two centuries of song" (1867)und "Historical and legendary ballads and songs" (1875) sowie inseinen Romanen, von denen zu nennen: "Every man his own trumpeter"(1858); "Icebound" (1861); "True as steel" (1863, 3 Bde.);"Wildfire" (1864); "Tales for the marines" (1865); "Haunted London"(1865); "Greatheart" (1866); "The vicar's courtship" (1869) und"Old stories retold" (1869). Als Kunstschriftsteller hat sich T.hervorgethan in den Werken: "British artists from Hogarth toTurner" (1861, 2 Bde.) und "Life of J. M. W. Turner" (1861). Vonseinen Reiseschilderungen sind anzuführen: "Life in Spain"(1859); "Turkish life and character" (1860); "Tour round England"(1870, 2 Bde.); "Criss crossjourneys" (1873, 2 Bde.); "Old and newLondon" (1873-74, 2 Bde.).

Thornhill, Stadt im südwestlichen Yorkshire(England), am Calder, dicht bei Dewsbury, hat chemische Fabriken,Eisenhütten und (1881) 8843 Einw.

Thornhill, James, engl. Maler, geb. 1676 zu MelcombeRegis in Dorset, bildete sich bei Th. Highmore und war dannbesonders auf dem Gebiet der dekorarativen Malerei unter demEinfluß der französischen Schule thätig. Erschmückte unter anderm die Kuppel der Paulskirche, diegroße Halle zu Blenheim, die Kapelle zu Wimpole, diegroße Halle zu Greenwich, ferner Hamptoncourt und EastonNeston mit Gemälden und malte auch Porträte undLandschaften. Er starb 13. Mai 1734 bei Weymouth.

Thornton, Stadt in Yorkshire (England), westlich vonBradford, hat Worstedweberei, Fabrikation von Weberschiffen undHolzschuhen und (1881) 6084 Einw.

Thorpe (spr. thorp), Benjamin, engl. Forscher auf demGebiet der angelsächsischen Sprache und Litteratur, geb. 1782,folgte in seinen Studien den Grundsätzen des Dänen Rask(s. d.), dessen angelsächsische Grammatik er ins Englischeübertrug (Kopenh. 1830, 3. Aufl. 1879); starb 23. Juli 1870 inChiswick. T. lieferte viele schätzbare Ausgaben undÜbersetzungen angelsächsischer Sprachdenkmäler,unter denen hauptsächlich die folgenden hervorzuheben sind:"Anglo-Saxon version of the story of Apollonius" (Lond. 1836);"Codex Vercellensis"(1837); "Ancient laws and institutes of theAnglo-Saxon kings" (1840, 2 Bde.); "Codex Exoniensis, a collectionof Anglo-Saxon poetry" (1842); "Analecta anglo-saxonica" (1846,neue Ausg. 1868); "Anglo-Saxon version of the four gospels" (1848);"Beowulf" (1855, 2. Aufl. 1875); "Libri psalmorum versio, latina etanglo-saxonica" (1857); "Anglo-Saxon chronicle" (1861, 2 Bde.) und"Diplomatarium anglicanum aevi saxonici" (1865). Außerdemschrieb er: "Northern mythology" (1852, 3 Bde.), eine kritischeÜbersicht der Volkssagen Skandinaviens, Norddeutschlands undder Niederlande, der sich "Yule tide tales" (1852) und eineÜbersetzung der Edda (1866) anschlossen; auch übertrug erLappenbergs "Geschichte Englands" sowie Paulis "Alfred d. Gr." u.a. ins Englische.

Thorshavn, Stadt auf Strömö, s.Färöer, S. 58.

Thorstein, Berg, s. Dachstein.

Thorsteuer (Thoraccise), eine Form der Aufwandsteuer,erhoben beim Eingang von Waren in bewohnte (geschlossene) Orte,kommt unter der Benennung Ottroi meist nur als Gemeindesteuervor.

Thorwaldsen, Bertel (in Rom Alberto genannt), Bildhauer,geb. 19. Nov. 1770 auf der See zwischen Island und Kopenhagen,wohin sich sein Vater, ein Isländer, begab, um sich seinenLebensunterhalt durch Schnitzen von Figuren fürSchiffsvorderteile zu erwerben. T. war schon als Knabe in demselbenBeruf thätig. Vom elften Jahr an besuchte er dieKunstakademie, wo er mit Erfolg studierte und mehrere Preisegewann. Unter anderm hatte T. damals die Büste desStaatsministers Peter Andreas v. Bernstorff modelliert, welche erspäter (1798) zu Rom in Marmor ausführte. Dadurch wurdeder Staatsmi-

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Thorwaldsen.

nister Graf Reventlow auf ihn aufmerksam und verschaffte ihm eindreijähriges Reisestipendium. Im Mai 1796 verließ T.Kopenhagen zu Schiff, kam aber erst im Februar des folgenden Jahrsin Neapel und 8. März in Rom an. Hier ging ihm unter demAnschauen der antiken Götter- und Heroenbilder dasVerständnis für die klassische Kunstrichtung auf.Insbesondere gaben auch die Zeichnungen von Carstens und Zoegaseinem Geiste die Richtung auf die ideale Schönheit derantiken Kunst. Im Sommer 1798 übersandte er von Rom aus derKopenhagener Akademie sein erstes selbständiges Werk: Bakchosund Ariadne. Gegen das Ende seines auf drei Jahre bestimmtenAufenthalts in Rom führte er noch einen das Goldene Vlieserobernden Jason aus, fand aber damit keinen Beifall und zerschlugihn. Ein neuer Jason, in kolossaler Größe, fand zwar beiZoega und Canova Anerkennung, hätte jedoch fast das Schicksalseines Vorgängers geteilt. T. wollte seine Rückreise nachKopenhagen mit dem Bildhauer Hagemann aus Berlin antreten, wardjedoch durch eine Paßangelegenheit des letztern um einen Tagaufgehalten. Gerade an demselben Tag besuchte der reiche Brite SirTh. Hope Thorwaldsens Atelier und bestellte die Ausführung desModells vom Jason, wodurch über Thorwaldsens fernernAufenthalt in Rom und damit über seine Zukunft entschiedenwurde. Verschiedene Umstände verzögerten die Vollendungder Arbeit bis 1828, wo T. das Werk zugleich mit mehreren Reliefsund Büsten als Geschenken des Künstlers an Hope nachEngland absendete. In das Frühjahr 1805 fällt dieAusführung von vier Statuen: Bakchos mit Thyrsos und Patera,Ganymed mit Jupiters Adler zu seinen Füßen, Apollon, mitLeier und Plektron an den Baumstamm gelehnt, und die berühmteVenus mit dem Apfel, nackt, mit dem Kleid über dem Baumstamm.Letztere hat der Künstler später (1813-16) auch inLebensgröße ausgeführt. Im Mai 1805 wurde T. zumMitglied der Akademie in Kopenhagen und zum Ehrenmitglied derAkademie in Bologna ernannt. Von den Werken dernächstfolgenden Jahre sind die hervorragendsten: der Adonis(1810) in der Münchener Glyptothek; das Relief: A genio lumen,die Kunst als sitzende weibliche Gestalt darstellend; Hektor denParis auffordernd, die Waffen zu ergreifen, und vier Reliefs: Amorals Löwenbändiger, Venus, aus der Muschel ins Licht derWelt tretend, Amor, von der Biene verwundet und vor seiner Mutterklagend, und Bacchus, welchen Merkur der Ino übergibt,sämtlich für den Fürsten Malte von Putbus. VonNapoleon I. erhielt T. den Auftrag, für den Sommerpalast aufMonte Cavallo (Palazzo Quirinale) einen großen Friesauszuarbeiten. T. wählte den Triumphzug Alexanders d. Gr. inBabylon und vollendete das Werk im Juni 1812. Eine Ausführungin Marmor, die Napoleon I. für Paris bestellt hatte, wurdenach dem inzwischen erfolgten Sturz des Kaisers für die Villades Grafen Sommariva (jetzt Villa Carlotta) am Comersee 1828vollendet. Später hat T. den Triumphzug noch mehrere Maleausgeführt, unter anderm 1829 für das SchloßChristiansborg in Kopenhagen (s. Tafel "Bildhauerkunst VII", Fig. 1u. 2). Gestochen ist er am besten von Amsler (mit Beschreibung vonL. Schorn, Münch. 1835, und mit Text von Lücke, Leipz.1870). In Montenero, wohin sich T. wegen Unwohlseins begeben,führte er 1815 nach drei Monate langem schwermütigenHinbrüten die beiden schönen Reliefs: Nacht und Morgen anEinem Tag aus. In den Jahren 1817 und 1818 modellierte er unteranderm eine Statue des Ganymed, die Büste Lord Byrons, denberühmten Hirtenknaben mit dem Hunde, die Statue der Hoffnung(im Schloß Tegel bei Berlin), Merkur als Argustöter undein Relief für die Kapelle im Palast Pitti: Christus mitseinen Jüngern am Meer bei Tiberias, dem Christus in Emmausfolgte. Seine damals ausgeführte Gruppe der Grazien zeigt imGegensatz zu der berühmten des Canova die keusche Strenge derAntike. 1819 kehrte T. nach Kopenhagen zurück. Seine erstendortigen Arbeiten waren die Büsten des Königs und derKönigin sowie mehrerer Prinzen und Prinzessinnen.Bedeutungsvoller sind die Werke für die Frauenkirche inKopenhagen, welche er teils damals, teils späterausführte. Im August 1820 verließ er, zum Etatsraternannt, die dänische Hauptstadt und ging überDeutschland, Polen und Österreich nach Italien zurück. InRom modellierte er zunächst die treffliche Porträtstatuedes Fürsten Potocki (jetzt in der Kathedrale zu Warschau) undvollendete dann (1821) die Skizzen zu dem großen Bildercyklusder Frauenkirche. Unter seiner Aufsicht führten seineSchüler die Statuen der Apostel und den aus 14 Statuenbestehenden Schmuck des Giebelfeldes: die Predigt des Johannes inder Wüste aus. Das nächste größere Werk, dasMonument des Kopernikus, in Bronze gegossen, ward 1830 auf demUniversitätsplatz zu Warschau aufgestellt. Zu ThorwaldsensHauptarbeiten der folgenden Jahre gehören: das Modell zurReiterstatue des Fürsten Poniatowski, welche, in Bronzegegossen, 1830 zu Warschau enthüllt wurde, und die Büsteund ein Relief für den Sarkophag des Kardinals Consalvi.Obwohl T. Protestant war, wurde er ausersehen, dem Papst Pius VII.ein Denkmal zu setzen; dasselbe ward 1830 in Marmor vollendet undin der Kapelle Clementina der Peterskirche aufgestellt. WeitereWerke Thorwaldsens aus dieser Zeit sind: das Monument des HerzogsEugen von Leuchtenberg in der St. Michaelskirche zu Münchenund die Reiterstatue des Kurfürsten Maximilian I. von Bayernauf dem Wittelsbacher Platz daselbst, die Statue Gutenbergsfür Mainz, welche 1837, und die Schillers für Stuttgart,die 1839 enthüllt ward. 1838 unternahm T. eine zweite Reisenach Dänemark und wurde mit großer Begeisterungempfangen. Hier beschäftigte er sich vorzugsweise mit Werken,deren Motive der christlichen Religion entnommen sind. Meisterwerkedieser Richtung sind zwei große Reliefs, der Einzug Christiin Jerusalem und der Zug des Heilands nach Golgatha, beide in derFrauenkirche zu Kopenhagen. Damals modellierte er auch die StatueKönig Christians IV., die, in Erz gegossen, im Dom zuRoeskilde aufgestellt wurde, dann die Büsten Holbergs,Öhlenschlägers, Steffens' und sein eignes Bild inLebensgröße. Im Mai 1841 kehrte er nach Rom zurück.Dort vollendete er die Allegorien der sieben Wochentage inGenienfiguren, für den König von Württemberg dieReliefs der vier Jahreszeiten, der Hirtin mit denLiebesgöttern im Nest und Amors, wie er sich bei Venusüber den Stich der Rose beklagt. Nachdem T. noch einen Cyklusvon Bildern aus dem Leben des Heilands, als Fortsetzung der imAuftrag des Königs von Bayern begonnenen gleichartigen Arbeit,entworfen, kehrte er im Oktober 1842 nach Kopenhagen zurück.Hier beschäftigte ihn neben der Umarbeitung einigerfrüher gefertigter Modelle zur Ausschmückung desSchlosses Christiansborg vornehmlich der Plan zu einem StandbildLuthers, welches aber nicht zu stande kam. Aus seinem Atelier zuRom ging in dieser Zeit die schon 1833 begonnene Statue Konradinsvon Schwaben in Marmor hervor, welche in der Kirche Santa Mariadel

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Thos - Thouars.

Carmine zu Neapel, wo Konradins Gebeine ruhen, aufgestellt ward.T. starb plötzlich 24. März 1844 in Kopenhagenwährend einer Vorstellung im Theater; seinLeichenbegängnis trug das Gepräge nationaler Trauer.Thorwaldsens Hauptgebiet war die Darstellung idealer,mythologischer Gestalten; er schuf die Antike gleichsam neu in sichin ihrer Wahrheit und Einfachheit, in ihrer Naivität und ihremHumor. In dieser Beziehung hat er eine Zeitlang auf die Richtungder Kunst des 19. Jahrh. Einfluß geübt, besonders aberauf die Kunst und Kunstindustrie seines Vaterlandes, die noch heuteseiner Richtung folgt. Die Darstellung des Individuellen,Charakteristischen war ihm dagegen versagt, ebenso wie dasDramatische außerhalb seiner Begabung lag. Seine Bedeutungliegt in der Wiederbelebung der idyllischen Richtung der antikenKunst. T. war nie verheiratet und hatte außer einernatürlichen Tochter keine Angehörigen. Zum Erben seineskünstlerischen Nachlasses nebst einem Kapital von 75,000Thaler hatte er seine Vaterstadt eingesetzt mit der Bedingung,daß ein eignes Gebäude zur Aufbewahrung desselbenerrichtet werde. Dieses Thorwaldsen-Museum, nach Plänen desArchitekten Bindesböll im italienischen Stil aufgeführt,wurde 1846 eröffnet und enthält (teils in Originalen,teils in Abgüssen) die sämtlichen Kunstwerke sowie dieKunstsammlungen des Meisters (darunter von seiner Hand 80 Statuen,drei lange Bilderreihen in erhabener Arbeit sowie zahlreiche andereReliefs und 130 Büsten). In dem von den vier Flügeln desGebäudes umschlossenen Mittelraum befindet sich seinschmuckloses Grab. Einen Katalog des Museums veröffentlichteMüller (Kopenh. 1849-1851, 8 Tle.); eine Sammlung vonLithographien (120) sämtlicher Werke Thorwaldsens gab Holst im"Musée T." (das. 1851). Denkmäler des Künstlersbefinden sich im Garten des Palazzo Barberini zu Rom (nach EmilWolff) und zu Reikjavik auf Island (seit 1875). Zu denbedeutendsten seiner Schüler gehören die DänenFreund und Bissen, die Deutschen Emil Wolff, Schwanthaler, von derLaunitz, die Italiener Tenerani, Bienaimé u. a. Vgl. Thiele,Leben und Werke des dänischen Bildhauers B. T. (Leipz.1832-34, 4 Bde. mit 160 Kupfertafeln); Derselbe, ThorwaldsensLeben, nach eigenhändigen Aufzeichnungen (deutsch, das.1852-56, 3 Bde.); E. Plon, T., sein Leben und seine Werke (a. d.Franz, Wien 1875); Hammerich, T. u. seine Kunst (Gotha 1876).

Thos, s. Schakal.

Thoth (Tehut), ägypt. Gott, mit dem die Griechen denHermes identifizierten, ist ursprünglich Lunus, ein Mondgott,gewöhnlicher aber der Gott der Schrift und Wissenschaft. Seinheiliges Tier ist der Ibis, er selbst wird beständig mit einemIbiskopf dargestellt (s. Abbildung); außerdem war ihm derHundskopfaffe heilig, unter dessen Form er gleichfalls mituntererscheint. Seine gewöhnlichsten Attribute sind Schreibtafelund Griffel. Er gilt als der Urheber aller Intelligenz und als derVerfasser der heiligsten Bücher. Weiteres s. HermesTrismegistos.

Thou (spr. tu), 1) Jacques Auguste de, latinisiertThuanus, franz. Geschichtschreiber und Staatsmann, geb. 8. Okt.1553 zu Paris, wo sein Vater Christoph de T. ersterParlamentspräsident war, studierte in Orléans undValence die Rechte, ward von Heinrich III. mit mehreren wichtigenMissionen, unter andern 1576 mit den Unterhandlungen mit denprotestantischen Führern in Guienne, betraut und zumgeistlichen Rat beim Pariser Parlament ernannt. Nach dem Tod seinerbeiden Brüder gab er den beabsichtigten Eintritt in dengeistlichen Stand auf, ward 1584 Requetenmeister, folgte 1586Heinrich III. nach Chartres, veranlaßte ihn 1588 zu demBündnis mit Heinrich von Navarra und reiste, um Geld zurFortsetzung des Kampfes gegen die Liga zu schaffen, nachDeutschland und Italien. Nach Heinrichs IIl. Ermordung trat er indie Dienste Heinrichs IV. 1594 ward er Vizepräsident desParlaments und Großmeister der königlichen Bibliothek.Als toleranter, freisinniger Katholik hatte er wesentlichen Anteilan der Ausarbeitung des Edikts von Nantes. Nach Heinrichs IV.Ermordung (1610) verlieh ihm die Regentin Maria von Medici nichtdie ihm versprochene Stelle des ersten Präsidenten desParlaments, sondern ernannte ihn zu einem der dreiGeneraldirektoren der Finanzen; daher zog er sich bald aus demöffentlichen Leben zurück. Er starb 7. Mai 1617. SeinHauptwerk ist die "Historia mei temporis", 1543-1607, die er 1591,vom Tod Franz' I. ausgehend, begann. Die ersten 18 Bücherwurden 1604 veröffentlicht. 1606 erschien eine neue Ausgabebis zum 49. Buch, 1614 eine dritte, 80 Bücher umfassend, bis1584. Das Werk sollte nach seinem Plan 138 Bücher umfassen undbis zum Tod Heinrichs IV. reichen; allein bei Veranstaltung dernächsten Ausgabe überraschte ihn der Tod, und dieselbeerschien daher erst 1620, von seinem Verwandten Dupuy und seinemFreund Nic. Rigault besorgt. Vollständig erschien das Werk indem ursprünglichen Text und von Rigault aus Thous Materialienbis zu dem bestimmten Ziel fortgesetzt zu London 1733 in 7Bänden. Nach dieser Ausaabe ist die 1734 zu Paris (mit demDruckort London) erschienene französische Übersetzung (16Bde.) abgefaßt. Das in trefflichem lateinischen Stilgeschriebene Werk ist für die Geschichte jener Zeit, besondersdie französische, und für die Würdigung derdamaligen religiösen Händel äußerst wichtig,da T. Augenzeuge vieler Ereignisse war und nach unparteiischerWahrheit strebte. Dennoch wurde er als kirchenfeindlich undparteiisch für die Hugenotten angegriffen. Zu seinerRechtfertigung schrieb T. seit 1616: "Thuani commentarius de vitasua", libri IV" (Orl. 1620, deutsch in Seybolds "Selbstbiographienberühmter Männer"). Eine Sammlung trefflicher Poesien inlateinischer Sprache erschien unter dem Titel: "Posteritati;poematum opus notis perpetuis illustratum a J. Melanchthone"(Amsterd. 1678). Vgl. Phil. Chasles, Discours sur la vie et lesoeuvres de J. A. de T. (Par. 1824); Düntzer, de Thous Leben,Schriften und historische Kunst (Darmst. 1837).

2) François Auguste de, franz. Staatsrat, Sohn desvorigen, geb. 1607 zu Paris, glich seinem Vater an Talenten undKenntnissen sowie an Edelmut des Charakters, wurde sehr jungParlamentsrat, Requetenmeister, auch Großmeister derköniglichen Bibliothek und später Staatsrat, aber alsMitwisser der Verschwörung des Cinq-Mars (s. d.) 12. Sept.1642 in Lyon enthauptet.

Thouars (spr. tuár), Stadt im franz. DepartementDeux-Sèvres, Arrondissem*nt Bressuire, rechts am Thouet,über den drei Brücken führen, Knotenpunkt

[Thoth.]

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Thouars - Thrakische Chersones.

der Eisenbahnen Tours-Bressuire und Saumur-Niort, hat einFelsenschloß mit schöner Kapelle, Reste vonBefestigungswerken, Weberei, Gerberei, Handel mit Getreide, Pferdenetc. und (1881) 3535 Einw.

Thouars, auch P. Th., bei botan. Namen für L. M. A.du Petit-Thouars, geb. 1756 auf Schloß Boumois in Anjou,bereiste die Maskarenen und Madagaskar, gest. 1831 in Paris. Florader südafrikanischen Inseln; Obstbäume.

Thourout (spr. turuh), Stadt in der belg. ProvinzWestflandern, Arrondissem*nt Brügge, Knotenpunkt derStaatsbahnlinie Ostende-Ypern und der Linie Brügge-Courtrai,hat Leinweberei, Gerberei, Hutfabrikation und (1888) 8972 Einw.

Thouvenel (spr. tuhw'nell), Edouard Antoine, franz.Staatsmann, geb. 11. Nov. 1818 zu Verdun, bereiste nachAbsolvierung seiner Rechtsstudien den Orient (vgl. sein Werk "LaHongrie et la Valachie", 1840), ging 1844 als Attaché nachBrüssel und 1845 als Gesandtschaftssekretär nach Athen,wo er 1848 Gesandter wurde; 1850 ward er nach Münchenversetzt. Als entschiedener Anhänger desPrinz-Präsidenten erhielt er nach dem Staatsstreich vom 2.Dez. 1851 die Leitung der politischen Angelegenheiten imDepartement des Auswärtigen übertragen. Dem Kaiser machteer sich unentbehrlich durch die Gewandtheit, womit er dessen Ideenaufzunehmen und in vollendeter Form diplomatisch zu gestaltenverstand. 1855 für den Gesandtschaftsposten in Konstantinopelausersehen, sollte er vornehmlich den englischen Einfluß imDiwan brechen; doch gelang es ihm nicht, den französischenEinfluß zu größerer Geltung zu bringen. Seit 8.Mai 1859 Senator, war er vom 24. Jan. 1860 bis 15. Okt. 1862Minister des Auswärtigen. Er starb 19. Okt. 1866 in Paris.Vgl. "Le secret de l'empereur. Correspondance confidentielle etinédite entre M. T., le duc de Grammont et legénéral Flahault 1860-63", veröffentlicht von M.Thouvenel (Par. 1888).

Thouvenin (spr. tuhw'náng), Louis Etienne de, geb.1791 zu Moyenvic (Meurthe), wurde 1811 Artillerieleutnant imfranzösischen Heer, focht mit Auszeichnung in denFeldzügen 1813-15, dann 1823 in Spanien, 1828 in Griechenland,trat 1853 als Brigadegeneral in den Ruhestand und starb 1882. Erschlug 1840 eine Verbesserung des gezogenen Gewehrs vor, indem ereinen Dorn in der Schwanzschraube des gezogenen Gewehrs anbrachte,und konstruierte 1844 eine Dornbüchse mit Langgeschoß,welche 1846 angenommen, fast in allen Heeren als Jägerwaffe,auch als Birsch- und Scheibenbüchse benutzt und erst durch dasMinie- und Zündnadelgewehr verdrängt wurde.

Thrakien (Thrake, lat. Thracia), in den ältestenZeiten Bezeichnung der nördlich von Griechenland sichausdehnenden Landstriche, dann das Land östlich undnördlich von Makedonien; zur Zeit der Römerherrschaft dasim W. vom Gebirge Rhodope, im N. vom Hämos, im O. vom PontosEuxeinos und dem Thrakischen Bosporus und im S. von der Propontis,dem Hellespont und dem Ägeischen Meer begrenzte Land.Hauptgebirge desselben ist der Hämos im N., an den sich im SW.der Skomios anschließt. Die bedeutendsten Flüsse sinddie an der Südküste mündenden: Nestos und Hebros(jetzt Maritza) mit dem Ergines (jetzt Ergene) und dem Artiskos(Arda). Von Meerbusen ist nur der Melasbusen zwischen T. und derThrakischen Chersones ermähnt. Das Land lieferte Getreide inMenge und selbst Wein. Auch an edlen Metallen war es reich, und beiPhilippi wurden Goldminen bearbeitet. Die unter dem allgemeinenNamen Thraker (Thrakes) begriffenen Einwohner arischen Stammesstanden frühzeitig auf einer ziemlich hohen Stufe der Kultur,sanken aber später in derselben und zerfielen in eine MengeVölkerschaften, z. B. die Odrysen am Hebros, die Besserlängs der Rhodope und die Kikonen und Bistonen amÄgeischen Meer. Die Sitten und Gebräuche der Thrakerhatten viel Übereinstimmendes mit denen der germanischenVölker. Jagd und Krieg bildeten die Hauptbeschäftigungder Männer. Eine den Thrakern eigentümliche Sitte war dasTättowieren. Manche Stämme hatten Könige, denen einRat zur Seite stand. Die Religion war die polytheistische derGriechen. Menschenopfer wurden nur bei Nationalfeiern dargebracht.Die wichtigern Städte, fast durchweg griechische Siedelungen,waren, zwischen Nestos und Hebros an der Küste: Abdera,Maroneia, Änos; auf der Thrakischen Chersones: Sestos,Kallipolis, Lysimachia; an der Propontis: Perinthos, Selymbria; amThrakischen Bosporus: Byzantion; am Pontos: Apollonia, Mesembria;im Innern: Philippopolis, Hadrianopolis.

Dareios Hystaspis hatte auf seinem Feldzug gegen die Skythen 515v. Chr. die um den Pontos Euxeinos wohnenden thrakischenStämme unterjocht; doch hörte die persische Herrschaftwieder ganz auf, als der Zug des Königs Xerxes gegenGriechenland 480 unglücklich ablief. Nach den Perserkriegenbemächtigten sich die Griechen der thrakischen Küsten,und namentlich war es Athen, welches mehrere Seestädte und dieStriche in T. mit den Goldbergwerken an sich riß. Im Innerngelangten besonders die Odrysen zur Herrschaft, namentlich unterihren Fürsten Teres und Sitalkes, der sein Reich bis zumIstros, Nestos und Pontos Euxeinos ausdehnte. Mit den Athenernbefreundet, unternahm er auf ihre Veranlassung gegen Perdikkas vonMakedonien 430 einen Feldzug, blieb aber 425 gegen die Triballer.Sein achfolger Seuthes L unterwarf sich mehrere Nachbarvölker.Seuthes I. (400) war der Schwiegersohn des Atheners Xenophon. SeinNachfolger Kotys (380) eroberte fast ganz T., wodurch er inZwiespalt mit Athen geriet. Sein Sohn Chersobleptes wurde vonPhilipp von Makedonien 343 seines Landes beraubt und T. demmakedonischen Reich einverleibt. Nach Alexanders d. Gr. Tod wurdeT. Lysimachos 311 zugesprochen, doch behaupteten mehrereStämme unter Seuthes III. ihre Unabhängigkeit. NachLysimachos' Tod eroberten 280 keltische Völkerschaften dasLand, wurden aber um 220 wieder vertrieben, worauf wieder jederVolksstamm seinen besondern Heerführer hatte. Besondersmächtig wurden die Besser sowie die odrysischen Fürsten.M. Crassus unterwarf einen großen Teil des Landes, welcherunter dem Namen Mösia zur römischen Provinz gemacht ward.Das übrige T. stand zwar in Abhängigkeit von denRömern, hatte aber eigne Könige. Nach dem Tode desRhömetalkes, 7 n. Chr., verteilte Kaiser Augustus dessen Reichzwischen dessen Bruder und Sohn Rheskuporis und Kotys V. Ihnenfolgte durch die Gunst des Tiberius des erstern SohnRhömetalkes II., und Caligula überließ ihm 38 dieHerrschaft über ganz T. Nach seinem Tod (47) wurde ganz T.römische Provinz, erhielt aber erst von Vespasianus dieEinrichtung einer solchen. Unter den byzantinischen Kaisern wurdenviele fremde Völker nach T. verpflanzt, so die Bastarner vonProbus, die Goten von Valens und Theodosius. Vgl. Cary, Histoiredes rois de Thrace (Par. 1825).

Thrakische Chersones, s. Chersonesus.

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd.

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Thrakischer Bosporus - Thrasybulos.

Thrakischer Bosporus, im Altertum Name der Straßevon Konstantinopel.

Thran (Fischthran, Fischöl), fettes Öl ausSeesäugetieren und Fischen. Die Waltiere und Robben, welchehauptsächlich des Thrans halber gejagt werden, besitzen unterder Haut eine sehr starke Specklage, aus welcher man durchAuskochen den T. gewinnt. Früher geschah dies meist auf denSchiffen selbst, während man jetzt den in Fässernverpackten Speck nach den Seestädten bringt und mit Dampfausschmelzt. Frischer Speck liefert einen hellen T. von mildemGeschmack und Geruch; aus dem auf der Reise angefaulten Speckerhält man dagegen bei größerer Ausbeute einendunkelbraunen T. von widerlich scharfem Geruch und Geschmack,nachdem eine etwas bessere Sorte vorher freiwillig abgeflossen ist.Der braune T. wird durch Schütteln mit Ätzkali oderMetallsalzlösungen, Lohbrühe oder Chlorkalk gereinigt undzum Teil auch gebleicht. Heller T. harzt stärker auf dem Lederals dunkler, bei höherer Temperatur durch Ausbraten gewonnenerund erhält die guten Eigenschaften des letztern, wenn man ihnauf 290° erhitzt. Der gewöhnliche Walfischthran,zunächst vom Grönlandswal (Balaena Mysticetus) gewonnen,ist meist als weißer T. im Handel, obwohl davon auch einegelbe und braune Sorte existiert. Der T. vom Pottfisch oderKachelot (Catodon macrocephalus) ist hell orangegelb, indünnen Schichten lichtgelb, durchsichtig klar, vom spez. Gew.0,884, setzt bei 8° nadelförmige Fettkristalle ab. Erdringt leicht in das Leder ein, schlägt aber gern durch.Delphinthran, hauptsächlich aus dem Speck des Grindwals(Globiceps macrocephalus), im Norden Europas in großen Mengenerzeugt, ist leichtflüssig, zitronengelb, von sehr starkemGeruch, scheidet bei 3° Fettkristalle ab und erstarrt erst beiniedriger Temperatur. Er eignet sich bestens für dieSämischgerberei. Der Döglingthran, aus dem Zwergwal(Balaenoptera rostrata) gewonnen, ist farblos bis braun, riechtsehr intensiv, gehört zu den schlechten Thransorten und wirdmeist mit andern Thranen gemischt. Die Robbenthrane, zu denen derbeliebte Dreikronenthran gehört, werden aus dem Speck derOhrenrobben (Otaria), Seehunde (Phoca) und Walrosse (Trichechus)auf verschiedenen Meeren gewon^ nen. Diese Thrane sind vielgeschätzter als die Walsischthrane. Da sie spezisisch schwerersind, liefern sie im Leder bessere Gewichtsergebnisse, wegen ihrerDickfiüssigkeit schlagen sie nicht leicht durch und mischensich auch gleichmäßiger mit dem Talg zu einergleichförmigen Schmiere. Dazu kommt, daß die Walthranemit der Zeit an der Luft zu einer starren Masse eintrocknen, wobeidas Leder steif, hart und brüchig wird. Durch denSämischprozeß wird der Walfischthran in ein braunes,dickes Öl (Moellon, Dégras) umgewandelt, welches nichtmehr an der Luft trocknet und als vorzüglichesLederschmiermittel bekannt ist. Die Umwandlung, welche derWalfischthran hier erfahren hat, muß auch auf andre Weiseherbeigeführt werden können, wenigstens kommt alsBaläneïn ein T. im Handel vor, welcher viele wertvolleEigenschaften des Dégras besitzt und dem Leder helle Farbeund große Milde verleiht. Für die Sämischgerbereisind die Walfischthrane vorzuziehen, weil sie vermöge ihrerDünnflüssigkeit leichter als die Seehundsthrane in dieBlöße eindringen. Von den Fischthranen ist der T. vomStockfisch oder Dorsch (Gadus Morrhua) am wichtigsten. Er wird ausder Leber dieser beiden Fische, aber auch aus der Leber andrerSchellfische gewonnen, der helle und braunblanke durch Behandelnder Leber mit Dampf, der dickflüssigere, dunklere durchAusbraten der gedämpften Lebern über freiem Feuer. DerDampfthran bildet beim Lagern einen bedeutenden Bodensatz undbraucht lange Zeit zum Abklären. Für die Benutzung alsLederschmiere ist das Auskochen ebenso notwendig wie beim Wal- undRobbenthran. Heringsthran kommt weiß, blond und braun vor,ist sehr dickflüssig, vom spez. Gew. 0,927, riecht undschmeckt intensiv nach Seefischen. Der Gerberthran dieser Sorte istbräunlich orangegelb, bleibt bei 0° noch flüssig undsetzt nur nach einiger Zeit festes Fett ab. Beim Lagern wird erbald ranzig und ziemlich sauer, was übrigens seiner gutenVerwendbarkeit als Schmiermittel nur wenig schadet. Rochenthran,aus den Lebern von Trygon Pastinaca, Raja Giorna und Raja clavata,dem Dorschthran ähnlich, wird in italienischen undsüdfranzösischen Gerbereien benutzt. Eine ergiebigeQuelle ist durch den Haifischfang erschlossen; manche Leber soll800 kg T. liefern. Über die Eigenschaften desselben alsLederschmiermittel ist noch nichts bekannt. An der OstküsteNordamerikas liefert die Meerbricke (Petromyzon maximus) einen T.,der weniger als Dorschthran geschätzt wird. Die Leber desThunfisches (Thynnus vulgaris) wird jetzt ebenfalls auf T.versotten. Guter Thunfischthran ist gelbbraun, dickflüssig,vom spez. Gew. 0,9275, riecht mild nach Sardinen, erstarrt erstunter 0° und stellt sich den besten bisher im Handelvorkommenden Thranen zur Seite.

Thränen (Lacrimae), die wässerige und klareFlüssigkeit, welche von den acinösenThränendrüsen abgesondert wird und auf 99 Proz. Wasserkleine Mengen von Mucin und Eiweiß sowie ca. 0,8 Proz. Salzeenthält. Die T. werden beständig in geringer Mengeabgesondert, ergießen sich über die vordere Flächedes Augapfels, um diesen vor Wasserverlust zu schützen,sammeln sich im Thränensee in den innern Augenwinkeln undgelangen durch die Thränenpunkte in dieThränenkanälchen, von hier in den Thränengang unddann in die Nasenhöhle, wo sie sich dem Nasenschleimbeimengen. Wird die Sekretion der T. so stark vermehrt, daßdie Thränenkanälchen das Sekret nicht mehrfortzuführen im stande sind, so stürzen die T. aus demAuge hervor (Weinen). Die Thränenabsonderung wirdvergrößert durch Reizung des Nervus lacrimalis, durchgewisse psychische Affekte und reflektorisch bei Reizung derNasenschleimhaut oder der Konjunktiva. Beiden Tieren wird einAbfließen der T. über die Wangen nur unterpathologischen Verhältnissen wahrgenommen.

Thränenbeine, s. Schädel, S. 374.

Thränenfistel, eine krankhafte, geschwürigeÖffnung, durch welche der Thränensack undThränenkanal nach außen münden. Meist liegt eineErkrankung der den Thränenkanal begrenzenden Knochen zuGrunde; die Behandlung beginnt mit einer Entfernung etwaabgebröckelter Knochenstückchen, später wird derDefekt durch plastische Operation geschlossen.

Thränenflaschen, fälschliche Bezeichnungfür schlauchförmige, in antiken Gräbern gefundeneSalbgefäße aus Glas oder Thon.

Thränengras, s. Coix.

Thränenschwamm, s. Hausschwamm.

Thränensteine, s. Augenstein.

Thraso, Name des prahlerischen Soldaten (miles gloriosus)in dem Lustspiel "Der Eunuch" von Terenz; daher thrasonisch,prahlerisch, großsprecherisch.

Thrasybulos, athen. Feldherr, Sohn des Lykos, stand 411v. Chr. als einer der Strategen an der

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Thrasyllos - Thrombosis.

Spitze der athenischen Flotte bei Samos, setzte, um dieoligarchische Herrschaft der Vierhundert zu stürzen, dieZurückberufung des Alkibiades durch und focht erst unterAlkibiades am Hellespont, dann 406 als Trierarch bei den Arginusen.Nachdem auf das Gebot Spartas in Athen die Herrschaft derDreißig Tyrannen errichtet worden war, ging T. in dieVerbannung nach Theben, fiel von da aus 403 mit 70 seiner Freundein Attika ein, eroberte das Kastell Phyle, bemächtigte sichdes Piräeus und besiegte die Tyrannen. Er betrieb darauf dieWiederherstellung der Solonischen Verfassung und den Erlaßeiner allgemeinen Amnestie. Unmäßige Ausbrücheleidenschaftlicher Demokraten wider die Gegenpartei wußte erzu unterdrücken. Er begnügte sich mit einem Olivenkranzals Anerkennung seines Verdienstes. Als Feldherr befehligte er 394die athenischen Truppen in Böotien und vor Korinth, stellte391 den Einfluß Athens in Byzantion und auf den Inseln wiederher, namentlich durch die Eroberung von Lesbos und die Verteidigungvon Rhodos, und wurde 389, als er in Pamphylien bei der StadtAspendos gelandet war, durch einen Ausfall der Aspender imFeldherrenzelt getötet; er entging so der gegen ihn erhobenenAnklage wegen Veruntreuung und Plünderung.

Thrasyllos, athen. Feldherr, Anhänger derDemokratie, rief 411 als Strateg der athenischen Flotte bei Samosim Verein mit Thrasybulos Alkibiades zurück, kämpfteunter diesem tapfer in Kleinasien, war wieder Strateg 406 in dersiegreichen Schlacht bei den Arginusen, ward aber nebst fünfandern Strategen wegen der Nichtbestattung der Gefallenen zum Todverurteilt und hingerichtet.

Three rivers (spr. thri riwwers), s. TroisRivières.

Threnodie (griech.), bei den Griechen Bezeichnung derTrauer- oder Klagelieder auf den Tod geliebter Wesen, dergleichenbei der Ausstellung der Leichen gesungen wurden. Sie bildeten sichmit der Zeit zu einer eignen Gattung der Poesie aus, in dernamentlich Pindar und Simonides Vorzügliches leisteten. Vgl.Elegie.

Threskiornis, s. Ibisse.

Thrinakía, mythische Insel bei Homer, auf welcherdie Herden des Sonnengottes weideten (s. Helios), wohl identischmit Trinakria (s. d.).

Thrips, Blasenfuß, s. Blasenfüßer.

Thrombosis (griech.), Verstopfung vonBlutgefäßen durch ein Blutgerinnsel (Thrombus,Pfropfen), kommt im Herzen, in den Arterien und besondershäufig in den Venen, namentlich nahe ihren Klappen, vor.Dagegen ist sie in den Kapillaren und Lymphgefäßenseltener. Jeder Pfropfen ist von Anfang an ein wandständiger,welcher das Gefäßlumen nur teilweise verstopft;späterhin füllt der Pfropfen das Gefäßlumenvollständig aus. Von der Stelle der ursprünglichenVerstopfung kann sich der Thrombus sowohl nach rückwärtsals auch zentralwärts, d. h. nach dem Herzen hin, inverschiedener Ausdehnung fortsetzen. Derselbe ist anfangs weich,feucht, blutig gefärbt; später wird er trockner, derber,gelblich und bröckelig. Weiterhin kann derselbe, und zwarzunächst in seinem Zentrum, zu einer breiigen, ofteiterartigen Masse erweichen (puriforme Schmelzung) und endlichseiner ganzen Ausdehnung nach in eine solche Masse zerfallen. DasGerinnsel kann aber unter andern Umständen auch durchEinwanderung von Rundzellen aus der Nachbarschaft zu festemBindegewebe organisiert werden. Hierdurch wird stets eine bleibendeVerstopfung des Gefäßes bedingt, und dieser Vorgang isterwünscht, wenn er in einem zerschnittenen oder anderweitigverletzten Gefäß vor sich geht, weil er das einzigesichere Mittel gegen die Blutung abgibt. Selten kommt es zurteilweisen Resorption, zur einfachen Schrumpfung und Vermeidung desThrombus (Venensteine, Phlebolithen). An der Stelle, wo sich ineinem Gefäß ein Thrombus gebildet hat, zeigt sich dieGefäßwand infolge der T. meist im Zustand einerchronischen, seltener einer akuten Entzündung; umgekehrt hatauch eine Entzündung der Gefäßwand nicht selten T.zur Folge. Die Ursachen der T. bestehen entweder in einer Stockungdes Bluts (bei normaler Gefäßwand) oder in krankhafterVeränderung der Gefäßwand. Stockungen des Blutstreten aber unter den verschiedensten Verhältnissen ein, so z.B. bei jeder Verengerung des Gefäßlumens(Kompressionsthrombose), wie sie durch die Unterbindung desGefäßes oder durch den Druck, welchen Geschwülsteetc. auf das Gefäß ausüben, bedingt wird. Auch beider Durchschneidung und Zerreißung der Gefäßekommt es fast immer zur T. (traumatische T.), und in diesem Fallist die Pfropfenbildung ein erwünschter, zur Heilungnotwendiger Vorgang, da auf ihm z. B. die Heilung von Wunden zumTeil beruht. Eine fernere Veranlassung zur T. ist die Erweiterungder Gefäße (Dilatationsthrombose), denn je weiter derKanal ist, desto langsamer ist der Fluß in demselben beigleicher Flüssigkeitsmenge. Hierher gehören dieFälle von Gerinnung in den Krampfaderknoten undPulsadergeschwülsten, wodurch eine Heilung der letzternbewerkstelligt werden kann. Endlich bilden sich Gerinnungen in denVenen bei stark abgemagerten Kranken, wenn dieselben ruhigdaliegen, und wenn gleichzeitig die Herzkraft abgenommen hat, dasBlut also nicht schnell genug zirkuliert (marantische T.). DieseArt der T. ist eine häufige Nachkrankheit schwererfieberhafter Krankheiten, namentlich des Typhus undPuerperalfiebers; sie ist auch eine sehr gewöhnlicheKomplikation der Tuberkulose, Krebskrankheit, der chronischenGelenk- und Knochenkrankheiten. In andern Fällen ist die T.abhängig von krankhaften Veränderungen derGefäßwand. Dies geschieht beim Brand eines Gliedes, beider Entzündung der äußern Venenhaut, bei Krebs,welcher die Venenwand durchbricht, und am häufigsten bei derchronischen Entzündung der innern Arterien und Herzhaut. Inallen diesen Fällen werden die Gefäßwänderauh, und der Faserstoff des Bluts lagert sich auf den Rauhigkeitenals Thrombus ab. In ähnlicher Weise tritt Blutgerinnung ein,wenn man durch das lebende Gefäß eine Nadel sticht odereinen Faden durchzieht, wie dies z. B. die Chirurgen bei der sogen.Elektropunktur der Aneurysmen thun, um auf dem Weg einerkünstlich herbeigeführten Gerinnung oder T. die Heilungderselben herbeizuführen. Die Verstopfung der Venen gibt sichzu erkennen durch Anstauung des venösen Bluts hinter demThrombus und vorzugsweise durch wassersüchtige Anschwellungdes betreffenden Körperteils. Die Wassersucht fehlt jedoch,wenn sich ein genügender Kollateralkreislauf herstellt. DieFolgen der T. einer Arterie bestehen in mangelhafter oderunterbrochener Blutzufuhr, also in Blutarmut des betreffendenTeils, welche so hochgradig werden kann, daß derselbe brandigabstirbt, wie beim sogen. Altersbrand. Es kommt nicht selten vor,daß ein Stück von einem Thrombus, namentlich wennderselbe in der Erweichung begriffen ist und der Kranke eineschnelle Bewegung ausführt, abbricht und mit dem Blutstromnach andern Körperteilen hingeführt wird (s. Embolie).War der Thrombus aus der

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Thrombus - Thugut.

Gegend einer verjauchenden Wunde und selbst mit Jauchegetränkt, so ruft der von ihm abgebrochene Embolus an derStelle, wohin er mit dem Blutstrom gelangt, wiederum eine jauchigeEntzündung hervor, es entstehen die sogen. metastatischenAbszesse. Vgl. Virchow, Gesammelte Abhandlungen (Berl. 1862);Baumgarten, Die sogen. Organisation des Thrombus (Leipz. 1877).

Thrombus (griech.), s. Thrombosis.

Thron (griech.), der für besonders feierlicheGelegenheiten bestimmte, ausgezeichnete Sitz fürfürstliche Personen, ein Attribut der Herrschergewalt, bei denGriechen ursprünglich Ehrensitz, der Stuhl der sitzendenGötterbilder (s. Abbildung). Der T. ist in einem besondernSaal (Thronsaal) aufgestellt und ruht gewöhnlich auf einemGestell, zu dem mehrere Stufen führen. Über dem Sesselist in der Regel ein Thronhimmel angebracht, d. h. eine an der Wandbefestigte, verzierte, zeltartige Decke mit prächtigen, meistaus Seide u. Goldstoff bestehenden Behängen. Der T. wird vonden Fürsten nur bei feierlichen Gelegenheiten benutzt, wennder Fürst als Träger der Herrscherwürde auftretenmuß. Symbolisch bezeichnet T. die Herrscherwürde oderHerrschergewalt selbst, daher die Ausdrücke: den T. besteigen,jemand vom T. stoßen etc., Thronerbe, Thronlehen,Thronräuber (Usurpator).

Thronentsagung, s. Abdankung.

Thronfolge (Succession, Thronerbfolge), der Eintritt desRegierungsnachfolgers (Thronfolgers) in die Hoheitsrechte desbisherigen Monarchen. Je nachdem sich die T., wie dies in denErbmonarchien der Fall ist, auf Verwandtschaft oder je nachdem siesich auf einen andern Titel, z. B. auf eine Erbverbrüderung,gründet, wird zwischen ordentlicher undaußerordentlicher T. unterschieden. Das Recht zurordentlichen T. (Thronfolgerecht) wird durch leibliche und ehelicheAbstammung vom ersten Erwerber der Krone aus ebenbürtiger Ehebegründet (s. Ebenbürtigkeit), und zwar sind nach denmeisten fürstlichen Hausgesetzen männliches Geschlechtdes Thronfolgers und Abstammung desselben vom ersten Erwerber durchMänner (agnatische oder männliche Deszendentenfolge)erforderlich. Außerdem muß der Thronfolger nach denmeisten Verfassungen die zur Führung der Regierung nötigegeistige und körperliche Tüchtigkeit besitzen. Weibliche(kognatische) T. ist nach manchen Hausgesetzen und Verfassungenüberhaupt ausgeschlossen. Dies ist das sogen. Salische Gesetz(s. d.). In andern Staaten, z. B. in Holland, Bayern, Sachsen undWürttemberg, ist die weibliche T. subsidiär, d. h. nachgänzlichem Aussterben des Mannesstamms, statuiert, und inEngland und Spanien ist sogar eine mit der agnatischen vermischteweibliche T. (Successio promiscua) insofern eingeführt, alsnur die Söhne des Regenten und ihre männliche Deszendenzvor den Töchtern den Vorzug haben, während die letzternund ihre Nachkommen die Brüder des Regenten und dessensonstige Agnaten in den Seitenlinien ausschließen. DieThronfolgeordnung ist regelmäßig so bestimmt, daßstets der Erstgeborne und, wenn er vor der Thronerledigungverstarb, sein erstgeborner Deszendent und dessen Nachkommenschaftsuccedieren (Lineal-Primogeniturordnung). Fehlt es überhauptan Deszendenten, so kommt der Erstgeborne der dem letzten Regentennächsten Linie zur T. Vgl. Schulze, Das Recht der Erstgeburtin den deutschen Fürstenhäusern (Leipz. 1851); Derselbe,Die Hausgesetze der regierenden deutschen Fürstenhäuser(Jena 1862-83, 3 Bde.); Heffter, Die Sonderrechte dersouveränen und der mediatisierten, vormalsreichsständigen Häuser (Berl. 1871).

Thronrede, die Rede, mit welcher der Monarch oder andessen Stelle ein verantwortlicher Minister die Sitzungen derVolksvertreter eines konstitutionellen Staats eröffnet. Siebezeichnet die von der Volksvertretung zu behandelndenGegenstände und gibt zugleich in der Regel eine Darlegung deräußern und innern Verhältnisse des Staats. Die T.wird daher zugleich als Programm des Ministeriums, welches ihrenInhalt zu vertreten hat, angesehen und bei besonderer Veranlassungvon der Kammer in einer Adresse beantwortet.

Thuanus, s. Thou 1).

Thudichum, Friedrich Wolfgang Karl von, angesehenerRechtslehrer, geb. 18. Nov. 1831 zu Büdingen, studierte1849-52 in Gießen, war dann vier Jahre im Justiz- undVerwaltungsdienst thätig und habilitierte sich 1858 inGießen als Privatdozent. 1862 folgte er einem Ruf alsaußerordentlicher Professor der Rechte nach Tübingen, woer 1870 zum ordentlichen Professor ernannt ward. Er schrieb. "DieGau- und Markverfassung in Deutschland" (Gieß. 1860); "Deraltdeutsche Staat" (das. 1862); "Rechtsgeschichte der Wetterau"(Tübing. 1867-85, 2 Bde.); "Das Verfassungsrecht desNorddeutschen Bundes und des Deutschen Zollvereins" (das. 1869f., 2Abtlgn.); "Deutsches Kirchenrecht des 19. Jahrhunderts" (Leipz.1877-78, 2 Bde.); "Bismarcks parlamentarische Kämpfe undSiege" (Stuttg. 1887).

Thueyts (spr. tüä), Stadt im franz. DepartementArdèche, Arrondissem*nt Largentière, auf einem vonriesigen Basaltsäulen gestützten Lavaplateau nahe amZusammensluß der Ardèche und desMédéric, welcher unter dem Pont du Diable einen 100 mhohen Wasserfall bildet, hat Mineralquellen, Seidenindustrie, einaltes Schloß und (1881) 720 Einw.

Thug, s. Thag.

Thugut, Franz Maria, Freiherr von, österreich.Staatsmann, geb. 8. März 1739 zu Linz, fand 1752 Aufnahme indie orientalische Akademie zu Wien, ward 1754 als Sprachknabe(Dolmetschgehilfe) mit einer Gesandtschaft nach Konstantinopelgeschickt, hierauf 1757 zum Dolmetsch, 1769 zumGeschäftsträger bei der Pforte, 1770 zum Residenten und1771 zum Wirklichen Internunzius daselbst ernannt. Auf demFriedenskongreß von Fokschani 1772 bewies er alsösterreichischer Botschafter große diplomatischeGewandtheit und ward von Maria Theresia dafür in denFreiherrenstand erhoben. Durch eine Konvention mit der Pfortebewirkte er 1776 die Abtretung der Bukowina an Österreich.Nachdem er an den Höfen von Neapel, Versailles und Berlindiplomatisch thätig gewesen, ging er 1780 als Gesandter nachWarschau, 1787 nach Neapel und 1788 als Hofkommissar in die Moldauund Walachei, deren Verwaltung er bis 1790 leitete. Er beteiligtesich hierauf an den Friedensunterhandlungen mit der Pforte zuSistova und leitete in Paris die Unterhandlungen zwischen derKönigin Maria Antoinette und dem Grafen Mirabeau. Nach seinerRückkehr im J. 1792 wurde er zum Armeeminister bei dem Heerdes Prinzen von

[Zeus auf dem Thron os sitzend (Münze vonElis).]

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Thuin - Thulden.

Koburg, welches die verlornen Niederlande wiedererobern sollte,ernannt und 27. Mai 1793 Generaldirektor der Staatskanzlei unterKaunitz und damit tatsächlich, nach Kaunitz' Tod 1794 auchformell, Minister der auswärtigen Angelegenheiten. Ein Mannvon Geist und Talent, aber ränkevoll und gewissenlos,schärfte er durch seine unruhige, neidische Eroberungspolitikden Gegensatz zwischen Österreich und Preußen, dessenPlänen er in Polen auf alle Weise hindernd in den Weg trat,ohne für Österreich Wesentliches zu erreichen,während er die energische Kriegführung der Koalitiongegen Frankreich empfindlich schädigte. Nachdem er auf dieseWeise Österreich in Deutschland isoliert hatte, verschuldeteer den unglücklichen Ausgang des Kriegs und mußte aufNapoleons I. ausdrückliches Verlangen bei dem Abschlußdes Friedens von Campo Formio 1797 aus dem Ministerium scheiden. Erging darauf als bevollmächtigter Minister in die neuerworbenenitalienischen und Küstenprovinzen, übernahm 1799 beimWiederausbruch des Kriegs aufs neue das Portefeuille desAuswärtigen, trat aber schon im Dezember 1800 wiederzurück und lebte fortan zu Preßburg und Wien, wo er 29.Mai 1818 starb. Vgl. Vivenot, T., Clerfayt und Wurmser 1794-97(Wien 1869); Derselbe, T. und sein System (das. 1870, 2 Tle.);Derselbe, Vertrauliche Briefe des Freiherrn v. T. (das. 1871, 2Bde.).

Thuin (spr. tuäng), Hauptstadt eines Arrondissem*ntsin der belg. Provinz Hennegau, an der Sambre und der EisenbahnCharleroi-Erquelines, mit schöner Kirche, höhererKnabenschule, Tuchfabrikation, Eisenwerken und (1888) 5361 Einw. T.gehörte früher zum Bistum Lüttich und war starkbefestigt.

Thuja Tourn. (Lebensbaum), Gattung aus der Familie derKupressineen, Bäume von in der Regel mehr oder wenigerpyramidenförmigem Wuchs, mit blattartig flachen letztenVerästelungen, vierreihig dachziegeligen,schuppenförmigen, nur an der Spitze freien Blättern,monözischen Blüten auf verschiedenen Ästen undkleinen, im zweiten Jahre reifenden Zapfen. T. occidentalis L.(abendländischer Lebensbaum), ein 20-22 m hoher Baum vonpyramidenförmigem Wuchs mit abstehenden bis horizontalenÄsten, in horizontaler Ebene dicht und fiederig zweizeiligverzweigten jüngern Zweigen, kurzen, fast stachlig gespitztenBlättern, von denen die auf den flachen Seiten der Zweigestehenden eine rundliche, stark riechende Drüse auf demRücken besitzen, und länglichen, überhängenden,braunen Beerenzapfen, wächst in Nordamerika und wird seit dem16. Jahrh. bei uns kultiviert. In den Gärten benutzt manmehrere Varietäten als Ziersträucher, auch ist der Bauman vielen Orten beliebte Gräberpflanze. Das Holz dient zuWasserbauten und feinen Tischlerarbeiten; die Blätter und dasdaraus bereitete ätherische Öl wurden frühermedizinisch benutzt (daher der Name, den zuerst Dodoens brauchte).T. (Biota) orientalis L. (morgenländischer Lebensbaum), einniedriger, bleibender, pyramidenförmiger Baum mit insenkrechter Ebene fiederig verzweigten Ästchen, einerMittelfurche auf dem Rücken der Blätter und fleischigen,hellgrünen, bläulich bereiften, später fast derganzen Länge nach sich öffnenden Beerenzapfen,wächst in China und Japan, auch in Mittelasien und Gilan undwird wie die vorige in mehreren Abarten bei uns kultiviert, istaber viel empfindlicher. - T. articulata, s. Callitris.

Thukydides, 1) athen. Staatsmann, Sohn des Melesias,übernahm nach Kimons, seines Verwandten, Tod (449 v. Chr.) dieLeitung der konservativen Partei in Athen, wußte durch seinenuneigennützigen Charakter und seine Rednergabe vieleAnhänger zu gewinnen, ward, als er Perikles zu stürzenversuchte, 444 durch den Ostrakismos verbannt, setzte aber nachseiner Rückkehr die Opposition gegen Perikles fort.

2) Ausgezeichneter griech. Geschichtschreiber, geb. 471 v. Chr.(so eine Angabe aus dem Altertum, wahrscheinlich jedoch einigeJahre später) im attischen Gau Halimus, stammte durch seinenVater Oloros von einem thrakischen Fürstengeschlecht ab,während er durch seine Mutter mit Miltiades verwandt war,hatte den Philosophen Anaxagoras und angeblich auch den RednerAntiphon zu Lehrern. Er führte 424 den Oberbefehl übereine Flottenabteilung in den thrakischen Gewässern, ward aber,weil er die Eroberung der Stadt Amphipolis durch die Spartanernicht verhindern konnte, 423 verbannt, kehrte 403 infolge derveränderten Verhältnisse nach Athen zurück, aber nurauf kurze Zeit, und starb wenige Jahre nachher; über Ort, Zeitund Art seines Todes besitzen wir nur unzuverlässige, sichuntereinander widersprechende Nachrichten. Er war der erste, dereine strenge historische Kritik anwandte; sein Werk stellt denPeloponnesischen Krieg dar, jedoch nur bis 411, wo es unvollendetabbricht, und zeichnet sich ebensosehr durch Wahrheitsliebe undpolitische Einsicht wie durch die kräftige, gedrängteSprache aus; die gedankenreichen Betrachtungen über dieGründe der Vorgänge sind meist in die Form von Redengekleidet, die den handelnden Personen in den Mund gelegt werdenund die einen besonders wertvollen Bestandteil des Werkes bilden.Unter den Ausgaben sind außer der ersten (Vened. 1502) dievon Poppo (Leipz. 1821-40, 11 Bde.; Handausgabe, 2. Aufl., das.1875, 2 Bde.), Bekker (Berl. 1821, 3 Bde.; in 1 Bd. 1868), Dindorf(Leipz. 1824), Göller (2. Aufl., das. 1836, 2 Bde.), Arnold(neue Ausg., Oxf. 1854, 3 Bde.), Bloomfield (Lond. 1842, 2 Bde.),Krüger (3. Aufl., Berl. 1860, 2 Bde.), Schöne (das.1874), Classen (2. Aufl., das. 1870-78, 8 Bde.) und Böhme (2.Aufl., Leipz. 1862 ff.) hervorzuheben. Neuere Übersetzungenlieferten Osiander (Stuttg. 1826 bis 1829 u. öfter, 8 Bdchn.),Campe (das. 1856-1857, 2 Bde.) und Wahrmund (2. Aufl., das. 1867, 2Bde.). Eine Biographie des T. in griechischer Sprache besitzen wirvon Marcellinus (hrsg. von Westermann in den "Biographi graeciminores". Braunschw. 1845). Antike Büsten des T. befinden sichin Neapel (Doppelherme, mit Herodot) und zu Holkham Hall inEngland. Vgl. Krüger, Untersuchungen über das Leben desT. (Berl. 1832); Roscher, Leben, Werk und Zeitalter des T.(Götting. 1842); Welzhofer, T. und sein Geschichtswerk(Münch. 1877); Michaelis, Die Bildnisse des T. (Straßb.1877); Girard, Essai sur T. (2. Aufl., Par. 1884).

Thulden, Theodor van, niederländ. Maler undRadierer, geb. 1606 zu Herzogenbusch, bildete sich in der Werkstattvon Rubens und wurde 1627 Freimeister der Lukasgilde in Antwerpen.Er war 1632 und 1647 in Paris thätig, wo er eine Anzahl vonKirchenbildern, unter andern die heilige Dreifaltigkeit (jetzt imMuseum zu Grenoble), die Himmelfahrt Mariä (jetzt im Museum zuAngers) und die Äusgießung des Heiligen Geistes (jetztim Museum zu Le Mans), malte, und 1648 wurde er nach dem Haagberufen, wo er an der Ausmalung des Oraniensaals im Huis ten Boschteilnahm (Hauptbild: die waffen-

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Thule - Thun.

schmiedenden Kyklopen). Von seinen übrigen Werken sind zunennen: Martyrium des heil. Hadrian (in der Michaeliskirche zuGent), der auferstandene Christus vor Maria (im Louvre zu Paris),die Entdeckung der Purpurschnecke (im Museum zu Madrid) und dieRückkehr des Friedens (in der kaiserlichen Galerie zu Wien).Er hat auch zahlreiche Blätter radiert, unter andern dieAmazonenschlacht nach Rubens, 49 Blätter nach denDarstellungen auf dem Triumphbogen beim Einzug desKardinal-Infanten Ferdinand in Antwerpen (1635) und 58 BlätterOdysseebilder nach Primaticcio und N. dell' Abbate. Er starb um1676 in Herzogenbusch.

Thule, eine von Pytheas (s. d.) um 330 v. Chr. entdeckteund fälschlich von ihm unter den Polarkreis verlegte Insel desAtlantischen Meers, die für den nördlichsten Punkt derbekannten Erde galt. Ptolemäos setzt dieselbe so an, daßsie den heutigen Shetlandinseln entspricht (so H. Kiepert undMüllenhoff).

Thum, Stadt in der sächs. KreishauptmannschaftZwickau, Amtshauptmannschaft Annaberg, an der LinieWillischthal-Ehrenfriedersdorf der Sächsischen Staatsbahn, 513m ü. M., hat eine evang. Kirche, eine Oberförsterei,Strumpfwirkerei, Spinnerei, Färberei, Bandfabrikation und(1885) 4213 Einw.

Thumann, Paul, Maler, geb. 5. Okt. 1834 zu Tschacksdorf(Niederlausitz), war von 1855 bis 1856 Schüler der Akademie inBerlin und arbeitete dann bis 1860 im Atelier von JuliusHübner in Dresden. Nach zweijährigem Aufenthalt inLeipzig ging er nach Weimar zu Ferdinand Pauwels und wurde 1866Professor an der Kunstschule daselbst. Nachdem er seit 1872 alsLehrer in Dresden thätig gewesen, wurde er 1875 als Professoran die Kunstakademiein Berlin berufen, welche Stellung er 1887niederlegte. Er bereiste 1862 Ungarn und Siebenbürgen, 1865Italien, später Frankreich, Belgien, England. SeineHauptthätigkeit fand T. in der Illustration (z. B. AuerbachsKalender, Goethes "Wahrheit und Dichtung", Tennysons "Enoch Arden".Chamissos "Frauenliebe und Leben", desselben "Lebenslieder und-Bilder", Hamerlings "Amor und Psyche", Heines "Buch der Lieder").Die Eleganz der Formengebung, der sinnvolle Ernst und die Anmut derFiguren gewannen diesen Illustrationen großen Beifall. Dochverlor sich T. schließlich in ein süßliches undoberflächliches Formenspiel, welches den Eindruck seinerersten Schöpfungen abschwächte. Von seinen Gemäldensind neben der Erstlingsarbeit: St. Hedwigis, Altarbild fürLiegnitz (1857), fünf Bilder aus dem Leben Luthers fürdie Wartburg, Luthers Trauung (1871), die Taufe Wittekinds und dieRückkehr Hermanns des Cheruskers aus der Schlacht amTeutoburger Wald für das Gymnasium zu Minden und die dreiParzen zu erwähnen. Er hat auch Studienköpfe gemalt,deren Vorzug in der süßlichen Eleganz der Auffassungberuht.

Thumerstein (Thumit), s. Axinit.

Thümmel, Moritz August von, Schriftsteller, geb. 27.Mai 1738 zu Schönefeld bei Leipzig, studierte in Leipzig, ward1761 Kammerjunker bei dem Erbprinzen von Sachsen-Koburg und 1768Wirklicher Geheimer Rat und koburgischer Minister, zog sich 1782von den öffentlichen Geschäften zurück und starb 26.Okt. 1817 in Koburg. Unter seinen Schriften (neue Ausg. 1856, 8Bde.) erlangten "Wilhelmine, oder der vermählte Pedant", einprosaisch-komisches Gedicht (Leipz. 1764; 6. Aufl. 1812; neue Ausg.von Ad. Stern, das. 1879), und die "Reise in die mittägigenProvinzen von Frankreich" (das. 1791-1805, 10 Bde.) einenaußerordentlichen Ruf. T. erwies sich in diesen Produktionenals echten Geistesverwandten und Schüler Wielands. Einegewisse Anmut, feine Beobachtung und Schilderungsgabe, danebenfreilich auch Frivolität und lüsterne Leichtfertigkeitsicherten ihnen die nachhaltigste Wirkung. Vgl. v. Gruner, Leben M.A. v. Thümmels (Bd. 8 der "Werke", Leipz. 1819). -

Sein Bruder Hans Wilhelm, Freiherr von, geb. 17. Febr. 1744 zuSchönefeld, gest. 1. März 1834 als herzoglichsachsen-gothaischer Wirklicher Geheimer Rat, Kammerpräsidentu. Obersteuerdirektor in Altenburg, machte sich besonders um dasHerzogtum Sachsen-Altenburg durch Erleichterung derbäuerlichen Lasten, Verbesserung des Armenwesens, Errichtungvon Armen- und Krankenhäusern etc. verdient. Zugleich war erein Freund und Förderer der Wissenschaften und Künste(namentlich der Baukunst). Seiner Anordnung gemäß wurdeer auf seinem Landgut Nöbdenitz unfern Altenburg unter demStamm einer alten Eiche, ohne Sarg, auf einer Moosbank sitzend,eingesenkt.

Thummim, s. Urim und Thummim.

Thun, Landstädtchen im schweizer. Kanton Bern, ander Eisenbahn Bern-Scherzligen, mit (1888) 5507 Einw., ist Sitz dereidgenössischen Militärschule und der größteWaffenplatz der Schweiz (mit Reitschule, Zeughäusern,Munitionsfabrik etc.), außerdem für die Mehrzahl derTouristen die Pforte zum Berner Oberland. An die Dampfschiffkursedes Thuner Sees (s. d.), an dessen Ausfluß T. liegt,schließt sich die Bödelibahn Därligen-Interlaken.Vgl. Roth, T. und seine Umgebungen (Bern 1873); "T. und Thuner See"(Zürich 1878).

Thun (T. und Hohenstein), 1) Friedrich, Graf von,österreich. Staatsmann, geb. 8. Mai 1810 aus einem seit 1629reichsgräflichen, in Tirol und Böhmen begütertenGeschlecht, betrat die diplomatische Laufbahn, ward bei dem am 9.Mai 1850 eröffneten Kongreß zu Frankfurt a. M.österreichischer Gesandter und nach Reaktivierung desBundestags Präsident desselben, welche Stelle er im November1852 mit der eines außerordentlichen Gesandten undbevollmächtigten Ministers am preußischen Hofevertauschte. Von 1854 bis 1863 war er österreichischerGesandter in Petersburg und starb als k. k. Kämmerer undMitglied des Herrenhauses 24. Sept. 1881 in Tetschen.

2) Leo, Graf von, österreich. Staatsmann, Bruder desvorigen, geb. 7. April 1811, war vor der Märzbewegung von 1848als Sekretär in der Hofkanzlei angestellt und machte sichdamals auch durch einige Schriften, wie: "über dengegenwärtigen Stand der böhmischen Litteratur" (Prag1842), "Die Stellung der Slowaken in Ungarn beleuchtet" (das.1843), bekannt. 1848 war er eine Zeitlang Landeschef vonBöhmen. Vom 28. Juli 1849 bis Oktober 1860 mit demPortefeuille des Kultus und öffentlichen Unterrichts betraut,machte er sich in dieser Stellung namentlich um Durchführungder Unterrichtsreform verdient, errichtete die kaiserliche Akademieder Wissenschaften, deren Ehrenmitglied er wurde, wirkte aberanderseits wesentlich zum Abschluß des Konkordats mit. Am 18.April 1861 wurde er lebenslängliches Mitglied desHerrenhauses, in welchem er Huuptvertreter der klerikalen undfeudalen Interessen war. 1861 als Vertreter desfideikommissarischen Besitzes in den Landtag Böhmens gesendet,schloß er sich der mit den tschechischen Föderalistenverbündeten Feudalpartei an. Bei den staatsrechtlichenVerhandlungen des böhmischen Landtags 1865 bis 1866 war T.Berichterstatter der Majorität. Der

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Thunar - Thur.

Ausgleich mit Ungarn fand in T. einen schroffen Gegner, wie erauch gegen das Ehe- und Schulgesetz von 1868 war. Er starb 17. Dez.1888 in Wien.

3) Guido, Graf von, österreich. Staatsmann, geb. 19. Sept.1823, trat in den diplomatischen Dienst, ward 1859Geschäftsträger im Haag, 1863 in Petersburg, 1865-66Gesandter am kaiserlichen Hof in Mexiko, 1866-67 bei denHansestädten, 1867-1870 Vertreter der verfassungstreuenböhmischen Großgrundbesitzer im böhmischen Landtagund im Abgeordnetenhaus, ist seit Dezember 1872 Mitglied desHerrenhauses.

Thunar, Gott des Donners, s. Thor.

Thunb., bei naturwissenschaftl. Namen Abkürzungfür K. P. Thunberg (s. d.).

Thunberg, Karl Peter, Botaniker und Zoolog, einer derberühmtesten Schüler Linnés, geb. 11. Nov. 1743 zuJönköping, studierte in Wexiö, dann seit 1761Medizin und Naturgeschichte zu Upsala, bereiste Europa, lebte von1772 bis 1775 als Arzt der Holländisch-Ostindischen Kompanieam Kap, ging 1775 nach Batavia und Japan, kehrte 1778 nach Schwedenzurück, ward 1781 Professor der Botanik zu Upsala und starb 8.Aug. 1828 auf Tunaberg bei Upsala. Er schrieb: "Flora japonica"(Leipz. 1784); "Icones plantarum japonicarum" (Ups. 1794-1805);"Prodromus plantarum capensium" (das. 1794-1800); "Flora capensis"(das. 1807-13); "Resa uti Europa, Africa, Asia" (das. 1788-93, 4Bde.; deutsch, Berl. 1792-94). Von seinen botanischen undzoologischen Abhandlungen in den akademischen Dissertationen derUniversität Upsala wurden die bis 1801 reichenden von Persoonherausgegeben: "Dissertationes academicae Upsaliae hahitae subpraesidio C. P. Thunbergi" (Götting. 1799-1801, 3 Bde.).

Thunder Bay, Bai am westlichen Ende des Obern Sees inKanada (Britisch-Amerika), an welchem die Hafenorte Port Arthur undFort William liegen.

Thünen, Johann Heinrich von, hervorragenderNationalökonom, geb. 24. Juli 1783 auf dem väterlichenGut Kanarienhausen bei Jever, studierte Landwirtschaft und kaufte1810 das durch ihn berühmt gewordene Gut Tellow inMecklenburg, welches er bis zu seinem 22. Sept. 1850 erfolgten Todbewirtschaftete. Er führte mit großer Genauigkeit Buchund Rechnung über seine Wirtschaft und gewann auf diesem Wegfruchtbare Schlußfolgerungen über den Einfluß,welchen die Entfernung vom Absatzort auf Intensität derBewirtschaftung, Wahl der Fruchtart, überhaupt auf die Artausüben muß, wie ein Landgut rationell zu behandeln ist.In lichtvoller Weise hat er das unter dem Namen ThünenschesGesetz bekannt gewordene Ergebnis derselben in seinem in 3 Teilen(Hamb. 1826, Rost. 1850 u. 1863) erschienenen Werk "Der isolierteStaat in Beziehung auf Landwirtschaft und Nationalökonomie"(3. Aufl., Berl. 1875) dargelegt. Im 2. Bande dieses Werkes,welcher kurz vor seinem Tod erschien, untersucht er dienaturgemäße Höhe des Arbeitslohns und kommt zu demResultat: "Der naturgemäße Arbeitslohn = ^ap; dieseFormel schmückt auch seinen Leichenstein. 1847 führte T.auf seinem Gute das System der Gewinnbeteiligung der Arbeiter ein,mit welchem gute Erfolge erzielt wurden. Vgl. (Schumacher) "J. H.v. T., ein Forscherleben" (2. Aufl., Rost. 1883); Hermann, DasThünensche Gesetz (Halle 1876).

Thuner See, See im schweizer. Kanton Bern, 560 m ü.M., 216 m tief, 48 qkm groß, nimmt viele Gebirgswasser auf,darunter bei Thun die Kander, und wird von der Aare durchflossen,die ihn mit dem Brienzer See verbindet. Im Gegensatz zu diesem ister mehr von voralpinem Wesen, mehr lieblich als ernst undgroßartig, von sanftern Bergformen umrahmt, mehr mitDörfern und Landhäusern bekränzt und in der Saisonmehr vom Fremdenzug belebt, wie die größere Zahl seinerDampfer verrät. Das Bahnnetz der flachern Schweiz erreicht ihnin Thun (-Scherzligen), und die Bödelibahn verknüpft ihnmit dem Brienzer See: von Därligen über Interlaken nachBönigen. Der See ist reich an Fischen, vorzüglichForellen, Aalen, Karpfen und Hechten.

Thunfisch (Thynnus C. V.), Gattung aus der Ordnung derStachelflosser und der Familie der Makrelen (Scomberoidei),große Fische mit gestrecktem, spindelförmigem, gegen denSchwanz hin stark verdünntem Körper, nahe aneinanderstehenden Rückenfloffen, 6-9 falschen Flossen, hintenRücken- und Afterflosse, einem aus großen Schuppengebildeten Brustpanzer und einem Kiel neben beiden Kanten desSchwanzes. Der gemeine T. (T. vulgaris C. V., s. Tafel "FischeII"), 2-3 m, angeblich bis 4 m lang und 3-12 Ztr. schwer, istoberseits schwarzbläulich, am Brustpanzer weißblau, anden Seiten und am Bauch grau mit weißen Flecken undBändern, an der ersten Rücken- und der Afterflossefleischfarben, die falschen Flossen schwefelgelb, schwarzgesäumt, bewohnt das Mittelmeer, auch den Atlantischen Ozeanund das Schwarze Meer, geht nördlich bis England, selten bisRügen, lebt in der Tiefe, nähert sich, um zu laichen, denKüsten und hält dabei, bisweilen in Herden von Tausenden,bestimmte Straßen ein. Er erscheint im April, laicht im Juniim Tang, und die Jungen erreichen noch im Oktober ein Gewicht von 1kg. Der T. nährt sich von Fischen und Weichtieren,hauptsächlich von Sprotten und Sardellen, und wird vonHaifischen und Delphinen verfolgt, lebt dagegen mit demSchwertfisch in gutem Einvernehmen und zieht öfters in dessenGesellschaft. Die Thunfischerei wurde im Altertumhauptsächlich an der Straße von Gibraltar und imHellespont, gegenwärtig besonders großartig an denitalienischen Küsten betrieben. Man sperrt den Tieren diegewohnten Straßen mit sehr großen Netzen ab underbeutet Tausende mit einemmal, indem man sie aus einer Kammer desNetzes in die andre treibt, bis sie sämtlich in derTotenkammer versammelt sind. Diese wird dann heraufgezogen und derFisch mit Keulen erschlagen. Das Fleisch ist sehr verschiedenartig,wird daher gut sortiert und eingesalzen, bildet aber wesentlich nureine Speise der ärmern Klassen. Ein vielfach beliebtes horsd'oeuvre ist T. à l'huile, gekochter T. in Öleingelegt, den man mit pikanter kalter Sauce genießt. Aus derLeber gewinnt man Thran; aus Haut und Knochen kocht man Öl.Der Bonite (T. Pelamis L.), 80 cm lang, ein sehr schönerFisch, auf dem Rücken und an den Seiten stahlblau, inGrün und Rot schillernd, am Bauch silbern mit braunenStreifen, lebt besonders im Atlantischen Ozean, folgt inGesellschaft der Thune oft lange den Schiffen, bildet dabei aberregelmäßig geordnete Haufen. Er nährt sichhauptsächlich von fliegenden Fischen, außerdem vonTintenfischen, Schaltieren und selbst Pflanzenstoffen; sein Fleischist nicht genießbar, soll sogar schädlich sein.

Thuok (Theok), Ellenmaß in Anam, = 10 Tahk à10 Fahn = nahezu 64 cm; das T. der Feldmesser und Architekten istjedoch nur 0,485 m.

Thur, 1) Fluß im Oberelsaß, entspringt amRheinkopf in den Vogesen, durchströmt das anmutige,industriereiche Thal von St.-Amarin in südöstlicher

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Thür - Thurgau.

Richtung, tritt bei Thann aus dem Gebirge, fließt in derRheinebene nach NO. und mündet mit einem Arm bei Ensisheim,mit dem andern bei Kolmar links in die Ill; die Länge ihresLaufs beträgt 86 km. -

2) Linksseitiger Nebenfluß des Rheins in der Schweiz, 122km lang, entspringt in zwei Quellflüssen im obersten Teil desToggenburg, bei Wildhaus (1104 m) und am Säntis,durchfließt in nordwestlichem Lauf das Toggenburg, wendetsich dann bei Wyl nach NO., bei Bischofzell, unter Aufnahme derSittern (457 m), wieder nach W., durchfließt den Thurgau unddas Züricher Weinland und mündet in korrigiertem Bettunterhalb Andelfingen (348 m). Ihr größter linksseitigerZufluß ist die Murg.

Thür, im Hochbau verschließbareDurchgangsöffnung in einer Umfangs- oder Zwischenwand, bestehtaus einer meist steinernen oder hölzernen, selten eisernenEinfassung, aus ein- oder mehrteiligen, meist hölzernen,seltener aus Metall bestehenden Flügeln und aus dem Beschlag.Die Thüröffnung erhält je nach der Bestimmung der T.eine Breite von 0,5-1,5 m und eine Höhe von 1,8-2,5 m,während sie je nach Baumaterial und Stil des Gebäudesoben wagerecht oder durch Bogen (s. d.) begrenzt ist. DieEinfassung einer rechteckigen T. besteht aus dem Sturz, den beidenGewänden (Säulen, Pfosten) nebst der Schwelle (Sohle) undist mit Falz versehen, in welchen sich die Flügel legen,welche bei untergeordneten Gebäuden oder Gebäudeteilenaus Brettern mit zwei Querleisten und einer Strebe, fürGebäude, welche höhern Anforderungen genügenmüssen, aus Rahmstücken und Füllungenzusammengesetzt sind. Im romanischen Stil bildet der meistgewölbte Bogen einen Halbkreis, im gotischen Stil einenSpitzbogen. Die Thürflügel lehnen sich entweder direkt andiese Bogen oder an den wagerechten Abschluß eines zwischendieselben eingeschalteten, mehr oder minder reich ornamentiertenBogenfeldes an. Der Beschlag besteht aus den Thürbändernund dem Thürschloß von verschiedener Konstruktion, wozuin manchen Fällen noch besondere Verschlußvorrichtungen,wie Riegel und Thürzuwerfer, hinzutreten. Je nach Lage undBewegungsweise hat man noch Schiebethüren, Fallthüren,Klappthüren u. a. Die T. wird je nach dem Charakter desGebäudes mehr oder minder reich ausgebildet und erhältbesonders im Kirchenbau oft reichgegliederte und ornamentierteEinfassungen, künstlerisch ausgestattete Thürflügelund kunstvoll geschmiedete Beschläge (s. Tafel"Schmiedekunst") . In diesem Fall, besonders bei denHaupteingängen der Kirchen, wird die T. mit Portalbezeichnet.

Thuret (spr. türä), Gustav, Botaniker, geb. 23.Mai 1817 zu Paris, studierte Rechtswissenschaft, dann Botanik, ging1840 als Attaché der französischen Gesandtschaft nachKonstantinopel, kehrte aber schon im nächsten Iahr nachFrankreich zurück, um sich ganz den Untersuchungen derMeeresalgen widmen zu können. Hier lebte er bis 1851 aufseinem Schloß Reutilly bei Lagny, siedelte dann mit Bornetnach Cherbourg und später nach Antibes über, wo er einenbotanischen Garten anlegte. Er starb 10. Mai 1875. T. entdeckte dieGeschlechtlichkeit und die Befruchtung der f*ckaceen (1853) undFlorideen (1867). Nach seinem Tod erschienen: "Étudesphycologiques. Analyses d'algues marines" (Par. 1878, mit 50Tafeln).

Thurgau, Kanton der nördlichen Schweiz, durch denBodensee und Rhein von Baden, Württemberg und Bayern getrennt,umfaßt 988 qkm (17,9 QM.). In dem zum Thalsystem der Murggehörenden Hinter-T. steigt das Land fast zu voralpinenHöhen an, so am Hörnli (1135 m), jedoch ohne dessenGipfel zu erreichen. Auch der größere Teil des an denKanton St. Gallen grenzenden Gebiets steigt erheblich an,während die tiefsten Punkte an der Thur und am Rhein liegen.Zwischen Thurthal und Bodensee zieht ein breites Plateau(Seerücken) hin, zudem als einer der markantesten Punkte derOttenberg (671 m) gehört. Der Kanton zählt (1888) 105,091Einw. deutscher Abstammung. Unter der Bevölkerung sind beideKonfessionen sehr gemischt, doch ist der Protestantismusvorherrschend. Die Katholiken (im ganzen 30,337) gehören derDiözese Basel an; Klöster bestehen keine mehr. Der Kantonbaut zwar nicht ausreichend Getreide, nimmt aber in andernFeldgewächsen und besonders in Obst und Wein (auf 1812 Hektar)eine hervorragende Stelle ein. Auch die Rinder- u. Schweinezuchtist bedeutend (1886 gab es 47,317 Rinder, 10,418 Schweine). VieleGesellschaftskäsereien sind vorhanden. In Ermatingen undGottlieben werden jährlich ca. 150,000 Gangfische gefangen.Hauptindustrie ist gegenwärtig die Baumwollspinnerei an derThur und Murg; Islikon im Thurthal besitzt eine ausgedehnteFärberei und Druckerei, Amriswyl eine Strumpffabrik.Außerdem sind Gerbereien, Papiermühlen,Spielkartenfabriken, Spiritus- und Leimfabriken, Ziegeleien etc. imBetrieb. Großhandelsplätze hat der T. nicht, aber einenbedeutenden Obstmarkt in Frauenfeld, große Viehmärkte inDießenhofen, Bischofzell, Amriswyl und Weinfelden. Romanshornist als Bodenseehafen wichtig. Die Nordostbahn überschreitetin Amriswyl den Seerücken, geht ins Thurthal hinüber nachWeinfelden-Frauenfeld-Winterthur und kreuzt die Seethallinien inRomanshorn. Den Hinter-T. kreuzt die Linie Winterthur-St. Gallen.In Frauenfeld und Weinfelden arbeiten die zwei thurgauischenZettelbanken: die Thurgauische Hypothekenbank (1851 gegründet)und die Thurgauische Kantonalbank (seit 1870). Das Schulwesengehört zu den regenerierten; in Kreuzlingen besteht daskantonale Lehrerseminar, in Frauenfeld eine Kantonsschule. Der T.hat auch eine Rettungs- und eine Zwangsarbeits-, aber keineBlinden- und Taubstummenanstalt. Die öffentlichen Bibliothekenenthalten 60,000 Bände, wovon über 30,000 auf dieKantonsbibliothek in Frauenfeld entfallen. Nach der Verfassung vom28. Febr. i869 gehört der T. zu den rein demokratischenKantonen. Sie gibt dem Volk das obligatorische Referendum, dem auchdie Beschlüsse der Legislative unterstellt werden können.Die oberste Landesexekutive wird direkt vom Volk gewählt undkann, wie die Legislative, abberufen werden, nämlich wenn 5000Votanten sich für eine Abstimmung ausgesprochen haben. DieLegislative übt der Große Rat, der auf je drei Jahredurch das Volk gewählt wird. Die oberste vollziehendeBehörde ist der Regierungsrat, mit fünf Mitgliedern undebenfalls dreijähriger Amtsdauer. Die oberste Gerichtsinstanzheißt Obergericht, dessen sieben Mitglieder ebenfalls aufdrei Jahre durch den Großen Rat gewählt werden. DerKanton ist in acht Bezirke eingeteilt; jeder derselben hat seinenBezirksstatthalter, dem ein Bezirksrat zur Seite steht, und einBezirksgericht, jede Gemeinde ihren Gemeinderat, dessen Vorsitz derAmmann führt; für größere Kreise besteht einFriedensrichter. Die Staatsrechnung für 1886 weist anEinnahmen 1,224,476 Frank auf, darunter Ertrag des Staatsguts449,516, Abgaben 625,207 Fr.; die Ausgaben belaufen sich auf1,207,793 Fr., wovon 281,784 Fr. auf das Erziehungswesen fallen. ZuEnde des Jahrs 1886 berechnete sich das unmittelbare Staatsgut auf5,624,823 Fr.

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Thurii - Thüringen.

die Summe des Spezialfonds auf 6,444,022, also dasGesamtvermögen auf 12,068,845 Fr. Hauptstadt istFrauenfeld.

Geschichte. T. war der Name einer alten alemannischenGrafschaft, welche ursprünglich außer dem Kanton T. auchdie heutigen Kantone Zürich, Uri, Schwyz, Zug, Appenzell sowieStücke von St. Gallen, Aargau und Luzern umfaßte, aberdurch die Lostrennung des westlichen Teils als eines besondernZürichgaues, durch die Immunitätsprivilegien des KlostersSt. Gallen etc. zusammenschmolz. Nach dem Aussterben der Grafen vonKyburg, welche die Landgrafschaft T. besessen, kam dieselbe anRudolf von Habsburg (1264). 1415 wurde infolge der ÄchtungHerzog Friedrichs die hohe Gerichtsbarkeit über den T. anKonstanz verliehen, 1460 entrissen die Eidgenossen das LandÖsterreich gänzlich und machten daraus eine gemeineVogtei der sieben alten Orte (ohne Bern). Unter dem SchutzeZürichs wandte sich der größte Teil des Landes derReformation zu. Der Umsturz der alten Eidgenossenschaft (1798)befreite den T. aus seiner Unterthanenschaft, und dieMediationsakte erhob ihn 1803 zum selbständigen Kanton miteiner Repräsentativverfassung, die 1814 durch Zensus, langeAmtsdauern, künstliche Wahlart etc. ein aristokratischesGepräge erhielt. Nach der Julirevolution machte T. unter derFührung des Pfarrers Bornhauser den Anfang mit derDemokratisierung der schweizerischen Kantone durch seine neue, 26.April 1831 angenommene Verfassung. Seitdem gehörte der T.beständig zu den liberalen Kantonen, nahm teil an den BadenerKonferenzbeschlüssen, hob 1848 seine Klöster auf bis aufeins und erklärte sich für Annahme der neuenBundesverfassung wie auch für die Revisionen derselben 1872und 1874. Nachdem schon 1837 und 1849 das Grundgesetz revidiertworden war, begann 1868 eine neue Revisionsbewegung, welcheEinführung des Referendums und der Initiative, der direktenVolkswahl der Regierung etc. anstrebte und in der Verfassung vom28. Febr. 1869 ihren Abschluß fand. Vgl. Puppikofer,Geschichte des Thurgaus (2. Aufl., Frauenfeld 1884); Häberlin,Geschichte des Kantons T., 1798-1869 (das. 1872-76, 2 Bde.);"Thurgauische Beiträge zur vaterländischen Geschichte"(das. 1861 ff.).

Thurii, Stadt, s. Sybaris.

Thüringen, das Land zwischen Werra und Saale, demSüdfuß des Harzes und dem des Thüringer Waldes,umfaßt den Hauptteil des Großherzogtums Sachsen-Weimar,das Herzogtum Sachsen-Gotha, die Ober-Herrschaft derFürstentümer Schwarzburg-Rudolstadt undSchwarzburg-Sondershausen, einen Teil der HerzogtümerSachsen-Meiningen und Sachsen-Altenburg, den preußischenRegierungsbezirk Erfurt fast ganz und vom RegierungsbezirkMerseburg den westlichen Teil. Unter den Namen thüringischeStaaten versteht man alle Länder zwischen denpreußischen Provinzen Sachsen und Hessen-Nassau, Bayern unddem Königreich Sachsen, nämlich: das GroßherzogtumSachsen-Weimar, die Herzogtümer Sachsen-Meiningen,Sachsen-Koburg-Gotha und Sachsen-Altenburg sowie dieFürstentümer Schwarzburg und Reuß, mit einemGesamtflächeninhalt von 12,288 qkm (223,17 QM.) und (1885)1,213,063 Einw. (darunter ca. 1,147,800 Evangelische, 17,000Katholiken und 3800 Juden). S. Karte "SächsischeHerzogtümer".

[Geschichte.] Zu Anfang des 5. Jahrh. n. Chr. tritt in demheutigen T. ein deutscher Volksstamm unter dem Namen Thüringer(Düringe) in der Geschichte auf. Sie sind Abkömmlinge derHermunduren, mit deren Namen der ihrige nahe verwandt ist. ZuGrenznachbarn und steten Gegnern hatten sie im Norden die Sachsen,im Westen die Franken und im Süden die Alemannen. Sie werdendann unter den deutschen Völkerschaften genannt, welche denHunnenkönig Attila 451 auf seinem Zug nach Gallienbegleiteten. Zu Anfang des 6. Jahrh. hat sich ein großesthüringisches Reich gebildet, dessen Grenzen im Norden bis zurNiederelbe, im Süden bis zur Donau reichten. Hermanfried,durch seine Gattin Amalaberga der Eidam des großenTheoderich, erwarb damals die Alleinherrschaft, nachdem er seineBrüder Berthar und Baderich aus dem Wege geräumt hatte.Als König Theoderich I. von Austrasien, der ihm dabeigeholfen, den versprochenen Lohn nicht erhielt, begann er inGemeinschaft mit seinem Bruder Chlotar I. 530 gegen Hermanfried denKrieg. Bei Burgscheidungen wurden die Thüringer geschlagen,und ihr König, der sich, um Frieden zu schließen, nachAustrasien begab, fand auf der Mauer von Zülpich durchHinterlist seinen Tod. Das nordöstliche T. zwischen derUnstrut und Elbe ward hierauf den Sachsen überlassen, dersüdwestliche Teil fiel an Austrasien. Fortan bezieht sich derName T. vornehmlich auf das Gebiet zwischen Harz und ThüringerWald, Werra und Saale. Der südliche Teil um den Main bis zurDonau wurde allmählich fränkisches Gebiet und verlor denalten Namen. Dagobert I. von Austrasien gab 630 den Thüringerneinen Herzog in der Person Radolfs. Derselbe focht tapfer gegen dieSlawen, lehnte sich dann gegen den Frankenkönig Siegbert III.auf und brachte 640 die Unabhängigkeit Thüringens zustande. Schon im 7. Jahrh. wurde die Bekehrung der Thüringerdurch britische Missionäre versucht. Die dauernde Bekehrunggelang aber erst Bonifacius, welcher um 725 die Johanniskirche aufdem Alten Berg bei Georgenthal, das Kloster Ohrdruf und dieMarienkirche in Erfurt stiftete. Inzwischen war T. wieder zurAnerkennung der fränkischen Oberhoheit gebracht worden; vonPippin wurde die herzogliche Würde beseitigt und dieVerwaltung der einzelnen Gaue (wie Helmengau, Altgau, Eichsfeld,Westgau, Ostgau, Lancwiza und Arnstadt) Grafen überlassen.Karl d. Gr. gründete um 804 gegen die Sorben diethüringische Mark an der Saale, deren Inhaber unter Ludwig demDeutschen den Titel Markherzöge (duces Sorabici limitis)führten, wie Thakulf um 849 und Radulf um 875. DieseWürde wechselte dann mehrfach, so daß es zur Ausbildungeiner einheimischen herzoglichen Gewalt nicht kam; vielmehr dehnteder sächsische Herzog Otto der Erlauchte 908 nach dem Tode desMarkgrafen Burchard seine Gewalt eigenmächtig auch überT. aus. Nach dessen Tod (912) behauptete sie sein Sohn, dernachmalige deutsche König Heinrich I., gegen den KönigKonrad I. Von den fünf Marken, in welche Kaiser Otto I. nachMarkgraf Geros Tode dessen große Sorbenmark zerteilte,verschwanden die nordthüringische und diesüdthüringische frühzeitig wieder, weilüberflüssig geworden durch die östlichern Marken.Ihnen entsprechen die Bistümer Merseburg und Zeitz(später Naumburg), wogegen das eigentliche T. kirchlich vonMainz abhängig blieb. Markgraf Ekkehard I. von Meißen(985-1002) besaß auch über T. eine Art herzoglicherGewalt. Noch einmal, unter den Markgrafen Wilhelm und Otto (vonWeimar, 1046-1067), war T. mit Meißen vereinigt; doch erhobsich um diese Zeit ein neues Geschlecht in T., das die übrigenGrafen, die sich nach Käfernburg, Schwarzburg, Gleichen,Gleisberg, Weimar nannten, an Macht bald übertraf. Ludwig derBärtige kaufte zwischen 1031

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Thüringen (Geschichte).

und 1039 von den Grafen von Käfernburg, Gleichen u. a.Güter am Thüringer Wald, namentlich in der Gegend vonAltenberg und Reinhardsbrunn, erhielt hierzu vom Kaiser noch eingroßes unangebautes Gebiet um den Inselsberg und durch seineGemahlin Cäcilie Sangerhausen und Umgegend. Er ist der Ahnherrder ältern thüringischen Landgrafen. Ihm folgte 1056Ludwig II., der Salier (fälschlich der Springer, s. Ludwig53), unter dem T. den Zehntenstreit mit dem Erzbischof Siegfriedvon Mainz auszufechten hatte. Trotz der Entscheidung der ErfurterKirchenversammlung (1073) weigerten sich die Thüringer, neueZehnten zu zahlen, und stellten sich auf die Seite der GegnerHeinrichs IV., der die Ursache ihrer Bedrückung gewesen war.In dieser schweren Zeit der Gewaltthaten entstanden überallauf Thüringens Bergen Burgen; auch Ludwig der Springer baute1067 die Wartburg bei Eisenach und schlug da 1076 seinen Wohnsitzauf. 1085 gründete er das Kloster Reinhardsbrunn. Nach seinemTod (1123) folgte sein Sohn Ludwig III. Ihm verlieh 1130 KönigLothar die bisher dem Grafen von Winzenburg zustehende Würdeeines Landgrafen von T. Auch erwarb er, als Landgraf Ludwig I.genannt, durch Heirat bedeutende Besitzungen in Hessen. Sein SohnLudwig II., der Eiserne (s. Ludwig 54), durch seine Gemahlin Juttamit dem Kaiser Friedrich Barbarossa verwandt, nahm an dessenHeerfahrten nach Italien teil und starb 1172. Sein Sohn undNachfolger Ludwig III., der Milde (s. Ludwig 55), nahm an derBekämpfung Heinrichs des Löwen den thätigsten Anteilund erhielt nach Heinrichs Sturz (1180) die PfalzgrafschaftSachsen. 1189 machte er Kaiser Friedrichs I. Kreuzzug mit und starbauf der Heimkehr im Mai 1190 auf Cypern kinderlos. Ihm folgte seinBruder Hermann I., dessen Schwanken zwischen den beidenGegenkönigen Philipp von Schwaben und Otto IV. sowie zwischenOtto IV. und Friedrich II. große Kriegsdrangsale über T.brachte. Die Wartburg ward unter ihm ein Asyl der Minnesängerund der Schauplatz des sagenhaften Wartburgkriegs (s. d.). Hermann,welcher 1216 starb, hatte seinen zweiten Sohn, Ludwig IV., denHeiligen, zum Nachfolger. Dieser (s. Ludwig 56) und seine Gemahlin,die heil. Elisabeth (s. Elisabeth 14), sind von Sage und Legendevielfach verherrlicht worden. Bei Ludwigs Tod in Otranto 11. Sept.1227 zählte sein einziger Sohn, Hermann II., erst vier Jahre,weshalb sein Oheim Heinrich Raspe die stellvertretende Regierung inT. erhielt. 1238 mündig geworden, übernahm Hermann II.die Regierung selbst, starb aber schon 1242 kinderlos. Ihm folgteder eben genannte Heinrich Raspe (s. Heinrich 49). Er starb alsGegenkönig Kaiser Friedrichs II. 17. Febr. 1247, als derletzte männliche Sproß seines Hauses. Schon 30. Juli1242 hatte der Markgraf Heinrich der Erlauchte von Meißen (s.Heinrich 39), Sohn von Jutta, der Stiefschwester des letztenLandgrafen von T., vom Kaiser Friedrich II. die anwartschaftlicheBelehnung mit T. erhalten und schritt nun zur Besitzergreifung. Daaber zu gleicher Zeit Sophie, die Tochter Ludwigs des Heiligen undGemahlin des Herzogs Heinrich I. von Brabant, und Graf Siegfriedvon Anhalt, ein Neffe Heinrich Raspes, mit Erbansprüchenhervortraten, so entstand der sogen. Thüringer Erbfolgekrieg,welcher zwar durch das Treffen bei Mühlhausen (11. Febr. 1248)und den Weißenfelser Vergleich vom 1. Juli 1249 zu gunstenHeinrichs des Erlauchten endigte, allein, da Sophie von Brabant denKampf erneuerte, nach einem zweiten entscheidenden Sieg Heinrichsbei Wettin (29. Okt. 1263) dadurch beigelegt wurde, daßSophie Hessen, Heinrich dem Erlauchten aber T. zugesprochen ward.T. war seit 1256 von Heinrichs ältestem Sohn, Albrecht, unddessen Oheim, dem Grafen Hermann von Henneberg, verwaltet worden.1263 aber trat Heinrich der Erlauchte T. und die sächsischePfalz an jenen Sohn, Albrecht den Entarteten (s. Albrecht 14), ab.Diesen verwickelte sein Versuch, die ihm von seiner erstenGemahlin, Margarete, gebornen Söhne, Heinrich, Friedrich denFreidigen und Diezmann, zu gunsten des ihm von Kunigunde vonEisenberg gebornen Apitz an ihrem Erbteil zu verkürzen, inKrieg mit erstern; dabei verkaufte er 1294 T. für 12,000 MarkSilber an den König Adolf von Nassau. Infolge davon ward dasLand von allen Greueln des Kriegs heimgesucht, indem sichKönig Adolf 1294 und 1295 mit Heeresmacht in Besitz deserkauften Landes zu setzen suchte, und diese Greuel wiederholtensich, als nach Adolfs Sturz dessen Nachfolger Albrecht I. ebenfallsAnsprüche auf T. erhob. Nachdem aber Friedrich der Freidige(s. Friedrich 34) seinem Vater die Wartburg entrissen und mitDiezmann die kaiserlichen Truppen bei Lucka 31. Mai 1307 geschlagenhatte, gelangte er nach Diezmanns Ermordung zum alleinigen Besitzvon T. und erhielt dann von Kaiser Heinrich VII. auch dieförmliche Belehnung. Zwischen seinem Sohn und NachfolgerFriedrich II,. dem Ernsthaften (s. Friedrich 35), einer- und denGrafen von Orlamünde und Schwarzburg sowie andernthüringischen Grafen anderseits entstand 1342 der sogen.Thüringer Grafenkrieg. Zwar stiftete Kaiser Ludwig der Bayer1343 Frieden, doch entbrannte der Kampf bald aufs neue und endeteerst 1345 und zwar zum Vorteil des Landgrafen. Er starb 18. Nov.1349. Von seinen drei Söhnen vergrößerte FriedrichIII., der Strenge (1349-81, s. Friedrich 36), T. durch Erwerbungder Pflege Koburg und Balthasar (1349-1406) durch Erwerbung derÄmter Hildburghausen, Heldburg, Ummerstadt etc. infolge seinerVermählung mit Margarete, der Tochter des Burggrafen Albrechtvon Nürnberg. Auch entrissen sie im Verein mit ihrem drittenBruder, Wilhelm dem Einäugigen, 1369 den von ihnen besiegtenVögten von Plauen Ziegenrück, Auma und Triptis undkauften 1365 die Stadt Sangerhausen zurück. Nachdem 1373 mitden Landgrafen von Hessen eine Erbverbrüderung geschlossenworden war, fand 1379 und definitiv 1382 nach Friedrichs desStrengen Tod eine Teilung statt, der zufolge T. an Balthasar fiel.Balthasar hatte in T. 1406 seinen Sohn Friedrich IV., denFriedfertigen oder den Einfältigen, zum Nachfolger. Dieser (s.Friedrich 37) überließ aber die Regierung meist seinemSchwiegervater, dem Grafen Günther von Schwarzburg, underhielt infolge des Absterbens seines Oheims Wilhelm einengroßen Teil von Meißen. Nach seinem Tod (1440) fiel T.an den Kurfürsten Friedrich II., den Sanftmütigen, unddessen Bruder, den Herzog Wilhelm III. Die Teilung zwischen beidenBrüdern veranlaßte einen Bruderkrieg (s. Sachsen, S.134). Als darauf Wilhelm 1482 ohne Leibeserben starb, fiel T. andie Söhne Friedrichs des Sanftmütigen, Ernst und Albert,welche 26. Aug. 1485 eine förmliche Länderverteilungvornahmen (s. Sachsen, S. 134). Seitdem verschmilzt die Geschichtevon T. in die der sächsischen Herzogtümer ErnestinischerLinie (s. d.), die Geschichte des thüringischen Kreises aber,wie der Anteil der Albertinischen Linie hieß, in dieGeschichte Kursachsens und seit 1815 Preußens. Vgl."Thüringische Geschichts-

GEOLOGISCHE KARTE VON THÜRINGEN.

Maßstab 1:415000.

Farbenerklärung.

Formationen:

Tertiär

Lias

Trias:

Keuper

Muschelkalk

Buntsandstein

Perm:

Zechstein

Rotliegendes

Karbon:

prod. Steinkohle

Kulm

Devon

Silur

Cambrium.

Gneis und Glimmerschiefer

Eruptivgesteine:

Phonolith

Basalt

Palatinit

Melaphyr und Porphyrit

Quarzporphyr

Granitporphyr

Granit

Diabas

683

Thüringer Wald.

quellen" (hrsg. von Wegele und Liliencron, Jena 1854 bis 1886,Bd. 1-5); "Zeitschrift des Vereins für thüringischeGeschichte" (das. 1854 ff.); Galletti, Geschichte Thüringens(Gotha 1781-85, 6 Bde.); Wachter, Thüringische undobersächsische Geschichte (Leipz. 1826-30, 3 Bde.);Knochenhauer, Geschichte Thüringens in der karolingischen u.sächsischen Zeit (Gotha 1863) und zur Zeit des erstenLandgrafenhauses (das. 1871); Koch, Geschichte Thüringens(das. 1886); Rothe, Chronik von T. (hrsg. von Fritzsche, Eisenach1888); Gebhardt, Thüringische Kirchengeschichte (Gotha 1880);Bechstein, Sagenschatz und die Sagenkreise des ThüringerLandes (Hildburgh. 1838).

Thüringer Wald (hierzu "Geologische Karte desThüringer Waldes"), Kettengebirge in Mitteldeutschland,erstreckt sich zwischen Thüringen im N. und Franken im S. insüdöstlicher Richtung von der Werra unweit Eisenach biszum Wetzstein bei Lehesten, nach andern nur bis zur Werra undSchwarza, wo es, den Charakter des Plateaus annehmend, in denFrankenwald übergeht (s. Karte "SächsischeHerzogtümer"). Die Länge des Gebirges, über dessenKamm in seiner ganzen Ausdehnung ein uralter Grenzweg, der sogen.Rennstieg (s. d.), führt, beträgt, die Linie der Werra-und Schwarzaquelle als Grenze angenommen, 75, bis zum Wetzstein 110km, während die Breite im äußersten Nordwesten kaum10 km, im SO., zwischen Rudolstadt und Sonneberg, 35 kmbeträgt. Das Profil des langgestreckten Gebirgszugs mit seinenzahlreichen, schön gerundeten Gipfeln und muldenförmigenVertiefungen bildet eine fortlaufende, sanft gekrümmteWellenlinie, die namentlich von der Nordseite her einen ungemeinmalerischen Anblick darbietet. Der Kamm selbst erhebt sich nur anwenigen Stellen über 900 m, während die Höhe seinerAusläufer zwischen 200 m (bei Eisenach und Saalfeld) und 490 m(bei Ilmenau) schwankt. Im allgemeinen kann man den T. W. nachseiner Längenausdehnung in zwei Hälften teilen, die inihrer von der geognostischen Zusammensetzung abhängigenOberflächengestalt sich wesentlich voneinander unterscheiden.Auf ihrer etwa durch die Linie Eisfeld-Amtgehren bezeichnetenGrenze haben die Gewässer, welche das Gebirge dreiHauptströmen (Elbe, Weser und Rhein) zusendet, ihrenQuellknoten. Der nordwestliche Teil bildet eine schmale, gegenEisenach keilförmig zugespitzte, durch einen hohen Kammgeschlossene Bergkette mit steilem Abfall nach N. und S. Da,abgesehen von räumlich beschränkten Gebietenkristallinischen Urgebirges (Granit-, Gneis- undGlimmerschiefergebiet von Brotterode), die Ablagerungen derKarbon-Rotliegend-Zeit und von diesen wiederum vorwaltend dieLavaströme porphyr- und melaphyrartiger Gesteine dieHauptmasse dieses etwa 75 km langen, 15 bis 22 km breitenGebirgsabschnitts zusammensetzen, so herrschen die denEruptivgebieten eignen steilen, zerrissenen, durch malerischgeformte Thalgründe zerklüfteten Terrainformen vor. Indiesem vorzugsweise von Bade- und Kurorten belebten Teile liegenzugleich die höchsten und besuchtesten Gipfel des Gebirges:der Inselsberg (915 m), der Große Beerberg (983), derSchneekopf (978), der Finsterberg (947), der Kickelhahn (861 m) u.a. Der südöstliche Teil (den Wetzstein als Grenzeangenommen) stellt sich als ein fast ebenso langes, dagegen 40-50km breites, wellenförmiges, hauptsächlich aus Phyllit,Thonschiefer und Grauwacke bestehendes Hochland dar, mit steilemAbfall nach S., breitfüßigen und flach geböschtenBergen, welche sich nur wenig über das allgemeine Niveauerheben, und langgestreckten, etwas einförmigen, aber vongewerblichem und industriellem Verkehr vielfach belebtenThälern. Als höchste Punkte sind hier zu nennen: dasKieferle (877 m), die Kursdorfer Kuppe (805), der Wurzelberg (837)und der Wetzstein (821 m). - Der Wald besteht vorherrschend ausTannen und Fichten, neben denen auch bedeutendeLaubwaldbestände vorkommen, gegenwärtig fast überallGegenstand einer sorgfältigen Kultur. Die am höchstengelegenen, stets bewohnten Orte sind: Neustadt a. R. (925 m),Igelshieb (835), Steinheid (814), Neuhaus a. R. (812), Oberhof(811), Oberweißbach (754), Schmiedefeld (728 m) etc., fastalle im südöstlichen Teile des Thüringer Waldesliegend.

In geognostischer Beziehung gehört der T. W. zu deninteressantesten und lehrreichsten Gebirgen Deutschlands. Dasnordwestliche Ende besteht aus Rotliegendem; weiterhin gegen SO.wächst in der Nachbarschaft des inselartig hervortauchendenKernes kristallinischen Grundgebirges (Granit, Gneis,Glimmerschiefer) die Zahl und Mannigfaltigkeit derkarbonisch-rotliegenden Sedimente und besonders der gleichaltrigenEruptivgesteine mit ihren Tuffbildungen. Porphyr, Porphyrit,Melaphyr in den verschiedenartigsten Abänderungen durchsetzengangförmig und stockförmig oder überlagerndeckenförmig die bisweilen stark zurücktretenden und inihrem Lagerungsgefüge durch zahlreiche Verwerfungengestörten Schichtgesteine. Dabei walten in den gewaltigen,Lavaströmen vergleichbaren Deckenergüssen der tiefern(karbonischen) Stufe, wie sie den Granit von Suhl, Vesser,Schmiedefeld und Stützerbach überlagern, die basischenEruptivgesteine (Melaphyr, Glimmerporphyrit), in der höhern,dem Rotliegenden zugerechneten Stufe, insonderheit auf der StreckeTambach, Oberhof, Elgersburg, dagegen die sauren Glieder(Quarzporphyr etc.) vor. Südöstlich der Linie Amtgehren,Neustadt a. R., Unterneubrunn hören die zusammenhängendenEruptivgesteinsdecken ziemlich plötzlich auf, und die Gliederdes kambrisch-phyllitischen Schiefersystems (Thonschiefer,Grauwacke, Quarzit) mit den bei Siegmundsburg aufgefundenenVertretern der ältesten Fauna treten in der ganzen Breite desWaldgebirges hervor. Schon hart an der Grenze gegen den Frankenwaldlagern sich in schmalem, von SW. bis NO. laufendem Streifen vonSteinach über Spechtsbrunn, Gräfenthal nach Saalfeld dieGlieder des Silur- und Devonsystems auf, ihrerseits den weit in denFrankenwald in großer Fläche verbreiteten Kulm(Unterkarbon) tragend. Der ganze Gebirgskörper erscheint alsein durch gewaltige Bruchlinien (Verwerfungen) von dem ihnallseitig umgebenden, eingesunkenen, aus Buntsandstein, Muschelkalkund Keuper gebildeten hügeligen Vorland losgetrennter undstehen gebliebener horstförmiger Keil. Wo das Absinken desVorlandes von demselben weniger in Gestalt scharfer,schnittförmiger Brüche als durch eine Schichtenverbiegungund Niederziehung erfolgte, ist die Zechsteinformation als baldbreiterer, bald schmälerer Randsaum des Gebirges erhalten.

Die Gewässer des Thüringer Waldes, sämtlich zumGebiet der Nordsee gehörend, verzweigen sich zu einemdreifachen Flußgebiet, dessen Scheitelpunkt der Saarbergunfern Limbach ist. Zum Elbgebiet gehören die direkt oderindirekt zur Saale gehenden: Selbitz, Loquitz, Schwarza, Ilm undGera mit Apfelstedt; zum Wesergebiet: die Werra mit Schleuse,Hasel, Schmalkalde, Druse und Hörsel mit Leine; zumRheingebiet die zum Main gehenden: Rodach und Itz. Angrößern stehenden Gewässern fehlt es dem Gebirge.Von Mineralquellen

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Thüringische Terrasse - Thurles.

sind außer den kalk- und kohlensäurehaltigenEisenquellen in Liebenstein die Solquellen von Salzungen undSchmalkalden zu nennen, während andre Orte, besondersElgersburg, Ilmenau etc., sich eines fast chemisch reinen Wasserserfreuen und den dortigen Kaltwasserheilanstalten ihren guten Rufverschafft haben. An nutzbaren Mineralien ist die Ausbeute vonBraunstein, welcher aus Gängen im Porphyr vorkommt(Manganerz), bei Ilmenau, Elgersburg, Friedrichroda, Schmalkaldenetc. von einiger Bedeutung. Außerdem liefert dieZechsteinformation Eisenerze (Stahlberg und Mommel beiSchmalkalden, Kamsdorf bei Saalfeld), Schwerspat, Kupfererz(Kupferschiefer bei Ilmenau, Schweina u. Fahlerz bei Kamsdorf),Gips (Kittelsthal, Friedrichroda etc.), Kobalt- und Nickelerze beiSaalfeld und Schweina. Alaun- und Vitriolschiefer sind beiSchmiedefeld im Silur bekannt. Gold fand sich im kambrischenQuarzit von Reichmannsdorf. Flußspat wird bei Steinbach undÖhrenstock, Kaolin bei Limbach etc. gewonnen. BesondereErwähnung verdienen noch die Schieferbrüche imsüdöstlichen Teil des Gebirges, besonders bei Lehesten.Lebhaft ist die Industrie. Hervorragend sind besonders: dieBearbeitung des Eisens in allen Formen bis hinab zu den Produktender Kleinschlosserei und den sogen. Schmalkaldener Waren, diePorzellan- und Steingutmanufakturen, die Spielwaren- undPapiermachéfabriken in Sonneberg und Waltershausen, dieMeerschaumindustrie in Ruhla, die Glashütten,Glasinstrumenten- und Glasperlenfabrikation, die Farbenfabriken,die Gewinnung von Pechharz und Kienruß etc. Bedeutend ist derFremdenverkehr während der Sommermonate, besonders inEisenach, Thal, Ruhla, Friedrichroda, Tabarz, Georgenthal, Tambach,Elgersburg, Ilmenau. Zahlreiche, meist wohlgepflegte Straßenüberschreiten das Gebirge. Ein Gürtel von Eisenbahnenumgibt den T. W., drei Linien durchschneiden denselben von N. nachS. zum Teil in langen Tunnels. Für noch größereHebung des Fremdenverkehrs, namentlich auch fürAufschließung noch weniger bekannter Thäler undAussichtspunkte, ist der Thüringerwaldverein sehr thätig.In politischer Beziehung bietet der T. W. noch heute das buntesteBild dar: Preußen, Sachsen-Meiningen, Sachsen-Weimar,Sachsen-Koburg-Gotha, die beiden Schwarzburg, Reuß und Bayernteilen sich in ihn. Vgl. Heim, Geologische Beschreibung desThüringer Waldgebirges (Meining. 1796, 6 Bde.); Credner,Geognostische Verhältnisse Thüringens und des Harzes(Gotha 1843); Derselbe, Versuch einer Bildungsgeschichte dergeognostischen Verhältnisse des Thüringer Waldes (das.1855); Schwerdt und Ziegler, Thüringen (in "MeyersReisebüchern", 3. Aufl., Leipz. 1879), und ebenda: Anding undRadefelds "Wegweiser" (9. Aufl., das. 1888); Trinius,Thüringer Wanderbuch (Mind. 1886-89, 3 Bde.); Vogel,Topographische Karte vom T. W., 1 : 150,000 (Gotha).

Thüringische Terrasse, die Berg- undHügellandschaft zwischen dem Thüringer Wald und dem Harz,der Saale und der Werra, die vom Harz durch die Goldene Aue (dasThal der Helme) geschieden wird, bildet im allgemeinen eineallmählich gegen S. ansteigende Landschaft mit zahlreichenBergzügen und Platten unter besondern Namen. Dahingehören: das Plateau des Eichsfeldes (Goburg, am Westrand, 568m) mit dem Ohmgebirge (522 m) und dem Dün (517 m), daszwischen Wipper und Helbe sich als Hainleite (Wetternburg 465,Possen 461 m) zur Unstrut zieht; das Kyffhäusergebirge (470 m)am südlichen Rande der Goldenen Aue; die Schmücke,Schrecke und Finne zwischen der Unstrut bei Sachsenburg und derSaale bei Kösen; der Göttinger Wald (440 m) östlichvon der Leine und von Göttingen; der Hainich (473 m),Verbindungsglied zwischen dem Eichsfelder Plateau und den Bergenbei Eisenach; der Ettersberg (481 m) nördlich von Weimar undder Steigerwald bei Erfurt. In unmittelbarer Nähe desThüringer Waldes bereits befinden sich Höhen zwischen derSaale und Gera (Singerberg bei Stadtilm 582 m, Reinsberg bei Plaue614 m), die Drei Gleichen bei Wandersleben und die Hörselberge(485 m) bei Eisenach. Auch die ostwärts von der Saale sicherstreckenden Berglandschaften gehören teilweise noch hierher,so: der Kulm (482 m) bei Saalfeld, die Leuchtenburg (436 m), dieKunitzburg (353 m) und die Rudelsburg, alle drei unmittelbar an derOstseite des Saalethals. Was den Bau der Terrasse betrifft, sobesteht dieselbe, abgesehen von den Alluvionen in denFlußthälern, vorzugsweise aus Keuper, Muschelkalk undBuntsandstein. Älteres Gestein, Zechstein und Rotliegendes,Granit, Gneis und Hornblendefels bedeckend, findet sich imKyffhäusergebirge.

Thürklopfer, ursprünglich eiserne Hämmer,dann Ringe aus Eisen oder Bronze, welche an den Hausthüren soangebracht waren, daß man sie bewegen und mit ihnen gegeneinen eisernen Knopf schlagen konnte. Seit der gotischen Zeitwurden die T. phantastisch gestaltet und künstlerisch verziert(s. Tafel "Schmiedekunst", Fig. 3 u. 25), in der Renaissance zuKunstwerken mit figürlichem Zierat ausgebildet (s. Abbild.).Bisweilen waren sie auch mit Fackelhaltern verbunden (s. Tafel"Schmiedekunst", Fig. 19). Jetzt nur noch in Englandgebräuchlich.

Thurles (spr. thörls), Stadt in der irischenGrafschaft Tipperary, am Suir, sehr alt, Sitz des Erzbischofs vonCashel und Emly, hat ein kath. Seminar, 2 Nonnenklöster, dieRuinen eines Schlosses derTempelherren und (1881) 4850 Einw. 6 kmdavon die Ruinen der 1182 gestifteten Holy Croß Abbey.

[Thürklopfer (Neptun am Palast Trevisan inVenedig).]

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Thurm - Thymele.

Thurm, s. Turm.

Thurmayr, Johannes, s. Aventinus.

Thurn, Heinrich Matthias, Graf von, einer derHauptführer des böhmischen Aufstandes unter FerdinandII., geb. 1580 von protestantischen Eltern, erhielt vom KaiserRudolf II. wegen seiner Dienstleistungen in einem Feldzug gegen dieTürken die Stelle eines Burggrafen von Karlstein inBöhmen. Er war einer der Haupturheber des Majestätsbriefsund wurde von den Ständen zu einem der 30 Defensoren desGlaubens ernannt. Er gab 23. Mai 1618 das Zeichen zum Aufstand derprotestantischen Bevölkerung in Böhmen und ward dann zumAnführer des ständischen Heers ernannt, mit dem er imJuni 1619 bis Wien vordrang. Nach der Schlacht am WeißenBerg, in welcher er mitkämpfte, floh er nach Siebenbürgenzu Bethlen Gabor. 1626 befehligte er ein kleines Korps inSchlesien, begab sich dann zu dem König Gustav Adolf vonSchweden und focht bei Leipzig 1631 und bei Lützen 1632 mit.Nach dem Tode des Königs ging er mit einem schwedischen Korpsnach Schlesien, knüpfte dort mit Wallenstein nutzloseUnterhandlungen an und ward im Oktober 1633 mit seinen 2500Schweden bei Steinau a. O. eingeschlossen und zur Kapitulationgezwungen, aber bald wieder freigegeben. 1636 veröffentlichteer in Stockholm eine "Defension-Schrifft". Er starb 28. Jan. 1640.Vgl. Hallwich, Heinrich Matthias Graf T. (Leipz. 1883).

Thurn und Taxis, altes, weitverzweigtes Adelsgeschlecht,stammt angeblich von den mailändischen della Torre, die1237-77 und 1302-11 Mailand beherrschten. Von den Viscontivertrieben, ließ sich nach der Überlieferung Lamoral I.1313 im Gebiet von Bergamo nieder und nahm von dem Berg Tasso(Dachsberg) den Namen del Tasso, später de Tassis (Taxis), an.Thurn entstand durch die Übersetzung des italienischen Torre.Franz von T. ward von Kaiser Maximilian 1512 derrittermäßige Reichsadel bestätigt; er errichtete1516 die erste wirkliche Post zwischen Wien und Brüssel. 1595wurde Leonhard von Taxis Generalpostmeister des Reichs, und 1615erwarb Lamoral von Taxis neben der Erblichkeit dieses Amtes diegräfliche Würde für sein Haus. Eugen Alexander vonTaxis wurde 1686 von Leopold I. in den Reichsfürstenstanderhoben, und der fürstliche Rang war seit 1695 in seinemGeschlecht erblich. Die 1785 von Karl Anselm von Taxis erkauftenreichsunmittelbaren Herrschaften Friedberg, Scheer,Dürmentingen und Bussen wurden 1786 zu einer gefürstetenReichsgrafschaft erhoben und verschafften ihrem neuen Herrn Sitzund Stimme auf der Fürstenbank des schwäbischen Kreises.Als Entschädigung für den Verlust der Posten in denösterreichischen Niederlanden und auf dem linken Rheinufererhielt das Thurn und Taxissche Haus imReichsdeputationshauptrezeß von 1803 das gefürsteteDamenstift Buchau nebst Stadt, die Abteien Marchthal und Neresheim,das Amt Ostrach, die Herrschaften Schemmerberg und die WeilerTiefenthal, Frankenhofen und Stetten als Fürstentum; vonPreußen 1819 als Entschädigung für die hierverlornen Posten drei in der Provinz Posen gelegeneDomänenämter, die zu einem Fürstentum Krotoschinerhoben wurden. Außerdem besitzt das Haus zahlreicheHerrschaften in Österreich, Bayern, Württemberg u.Belgien. Seine gesamten Besitzungen umfassen etwa 1900 qkm(34½ QM.) mit ca. 100,000 Einw. und 1,1 Mill. Mk.Einkünften. Über die Thurn und Taxisschen Posten, welche1867 Preußen übernahm, s. Post, S. 274.Gegenwärtiger Standesherr ist Fürst Albert, geb. 8. Mai1867, Sohn des Erbprinzen Maximilian und der Prinzessin Helene,Herzogin in Bayern. Derselbe wohnt in Regensburg, ist erblicherReichsrat in Österreich u. Bayern und erbliches Mitglied despreußischen Herrenhauses sowie der Ersten Kammer inWürttemberg. Eine Sekundogenitur des Hauses T. bildet die zuPrag residierende fürstliche Seitenlinie, welche durch dieNachkommen des Prinzen Maximilian Joseph (geb. 29. Mai 1769, gest.15. Mai 1831) gebildet wird. An ihrer Spitze steht jetzt FürstHugo, geb. 3. Juli 1817. Einer seiner Brüder, Prinz Emmerich,geb. 12. April 1820, ist k. k. Geheimrat, Kämmerer und Generalder Kavallerie in Österreich. Beider Oheim, Prinz KarlTheodor, geb. 17. Juli 1797, wurde 1850 bayrischer General derKavallerie und im Feldzug von 1866 Befehlshaber desKavalleriereservekorps, ward bald nach wiederhergestelltem Friedenzur Disposition gestellt und starb 21. Juni 1868 inMünchen.

Thurnau, Flecken im bayr. Regierungsbezirk Oberfranken,Bezirksamt Kulmbach, am Rande des Jura, 350 m ü. M., Hauptorteines 220 qkm (4 QM.) großen Mediatgerichts des Grafen vonGiech, hat eine evang. Kirche, ein Schloß mit Park, einAmtsgericht, Schleifsteinbrüche und (1885) 1269 Einw.

Thursday (spr. thörrsde), zur britisch-austral.Kolonie Queensland gehörige Insel, in der Torresstraßegelegen, nördlich vom Kap York, mit der seit einigen Jahrenhierher von Somerset verlegten Niederlassung der Regierung. T. isteine Zentralstation für die in diesen Gewässernschwunghaft betriebene Perl- und Trepangfischerei (Ertrag 1886:70,602, resp. 6800 Pfd. Sterl.) und Station für die vonSingapur nach Brisbane laufenden Postdampfer.

Thursen, Riesen, s. Joten.

Thúrso, Seestadt in der schott. GrafschaftCaithneß, an der Mündung des Flusses T. in einegeräumig Bai, hat ein altes Schloß, einen Hafen fürSchiffe von 3,6 m Tiefgang, Seilerei, Ausfuhr von Vieh undPflastersteinen und (1881) 4026 Einw.

Thürsteuer, f. Gebäudesteuer.

Thusis (roman. Tuseun), Marktflecken im schweizer. KantonGraubünden, Hauptort des Bezirks Heinzenberg, an derMündung der Nolla in den Hinterrhein (oberhalb beginnt die Viamala), 746 m ü. M., mit Korn- und Viehhandel und (1880) 1126Einw. T. ist wichtig als Kreuzungspunkt der Splügen- und derSchynstraße. In der Nähe die Burgruine Hohen-Rätien(Hohen-Realta, 950 m hoch) mit schöner Aussicht. Vgl. Lechner,T. und die Hinterrheinthäler (Chur 1875); Rumpf, Thusis(Zürich 1881).

Thusnélda, Tochter des Segestes, Gattin desArminius, der sie ihrem Vater entführt hatte, gerietspäter wieder in die Gewalt ihres Vaters und wurde von diesem15 n. Chr. an Germanicus ausgeliefert, der sie nebst ihrem SohnThumelicus, den sie in der Gefangenschaft geboren, im J. 17 zu Romim Triumph aufführte.

Thyatira, antike Stadt, s. Akhissar 2).

Thyéstes, Bruder des Atreus (s. d.).

Thyiaden, s. v. w. Bacchantinnen, s. Dionysos, S.997.

Thylacinus, Beutelwolf.

Thylacotherium, s. Beuteltiere, S. 848.

Thyllen (griech., Füllzellen), Zellen, welcheältere oder verletzte Gefäße, z. B. im Holz derEiche, Robinien u. a., nachträglich ausfüllen.

Thymallus, Äsche.

Thymele, auf der altgriech. Bühne einealtarförmige viereckige, sich auf Stufen erhebendeErhöhung in der Mitte der Orchestra, auf welcher derChorführer

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Thymeleen - Tiara.

stand und die Bewegung des Reigens beherrschte (s. Tafel"Baukunst IV", Fig. 11, u. Theater, S. 623).

Thymeleen (Daphnoideen), dikotyle, etwa 300 Artenumfassende, der gemäßigten und warmen Zoneungehörige Pflanzenfamilie aus der Ordnung derThymeläinen, welche sich von den nächstverwandtenEläagnaceen hauptsächlich durch die nahe dem Gipfel desein-, selten mehrfächerigen Ovariums entspringenden,hängenden Samenknospen unterscheidet. Vgl. MeißnersMonographie in De Candolles "Prodromus", Bd. 14. Eine Anzahl vonArten aus den Gattungen Daphne L. und Pimelea Banks kommen fossilin Tertiärschichten vor.

Thymelinae, Ordnung im natürlichen Pflanzensystemunter den Dikotyledonen, charakterisiert durch nebenblattloseBlätter, viergliederige Blüten, einröhrenförmiges, blumenkronartig gefärbtes Perigon,die fehlende Korolle, perigynische Staubgefäße, einenoberständigen, einfächerigen und meist einsamigenFruchtknoten, umfaßt die Familien der Thymeleen,Eläagneen, Proteaceen.

Thymian, Pflanzengattung, s. Thymus.

Thymianöl, ätherisches Öl, welches aus demblühenden Kraute des Thymians durch Destillation mit Wassergewonnen wird. Es ist farblos oder gelblich, vom Geruch undGeschmack des Thymians, spez. Gew. 0,87-0,90, löst sich schwerin Wasser, in gleichen Teilen Alkohol, leicht in Äther,enthält Thymen C10H16, Cymol C10H14 und Thymol C10H14O. Eswird in der Parfümerie häufig angewandt.

Thymol (Thymiankampfer) C10H14O findet sich imätherischen Thymianöl und in einigen andernätherischen Ölen und wird daraus gewonnen, indem man dieÖle mit Natronlauge schüttelt und die von dem Ölgetrennte wässerige Flüssigkeit mit SalzsäureÜbersättigt. Es bildet farblose Kristalle, riechtthymianähnlich, schmeckt brennend gewürzhaft, ist leichtlöslich in Alkohol und Äther, schwer in Wasser, schmilztbei 44°, siedet bei 230° und wird aus seiner Lösung inwässerigen Alkalien durch Kohlensäure abgeschieden. DasT. wurde als Ersatz der Karbolsäure (Phenol) beim Wundverband,als Arzneimittel, zu Mundwässern und zum Konservieren desFleisches etc. empfohlen. Es wirkt antiseptisch, aber nicht in derWeise schädlich auf den Organismus wie Karbolsäure,hinter welcher es freilich auch in seinen antiseptischenEigenschaften bedeutend zurücksteht. In der Wundbehandlung hates daher nur vorübergehend eine Rolle gespielt. Vgl. Ranke,Über das T. (Leipz. 1878).

Thymus Tourn. (Thymian, Quendel), Gattung aus der Familieder Labiaten, Halbsträucher oder kleine Sträucher mitkleinen, ganzrandigen, gegenständigen Blättern, meistwenigblütigen Scheinquirlen, die bald entfernt voneinander,bald zu dichten oder lockern Ähren oder Köpfchenzusammengedrängt sind, und meist rötlichen Blüten.40 (80) Arten, besonders in den Mittelmeerländern. T.Serpyllum L. (Feldthymian, Feld-, Hühnerpolei, Quendel), inganz Europa, im mittlern und südwestlichen Asien, in Afrikaund Nordamerika, kleiner Halbftrauch mit niederliegendem,verästeltem Stengel, linealischen oder elliptischen, meistdrüsig punktierten und am Grund borstig gewimpertenBlättern und blaß purpurroten Blüten, variiertstark in Behaarung und Blattform, riecht, besonders gerieben,angenehm gewürzig und liefert ein ätherisches Öl(bis 0,4 Proz.). Das Kraut ist offizinell. T. vulgaris L.(Gartenthymian, römischer Quendel), ein niedriger Halbstrauchin Südeuropa, in Deutschland und noch in Norwegen häufigin den Gärten zum Küchengebrauch und der Bienen wegenkultiviert, hat einen aufsteigenden, ästigen Stengel,linealisch-lanzettliche bis länglich-eiförmige,drüsig punktierte, sehr kurz behaarte oder kahle, am Randumgerollte Blätter und weißliche oder rötlicheBlüten in ährig bis kopfig zusammengerücktenScheinquirlen. Das Kraut enthält ätherisches Öl (bis0,6 Proz.) und ist offizinell.

Thymusdrüse (Milchfleisch, Brustdrüse, Briesel,Glandula Thymus), bei den Wirbeltieren ein drüsiges Gebilde imobern Teil der Brusthöhle und des Halses. Sie ist sehrlanggestreckt bei den Krokodilen und Vögeln, wo sie vomHerzbeutel bis zum Unterkiefer reicht, kürzer bei denSäugetieren. Fast immer ist sie in der Jugend stärkerentwickelt und erleidet im Alter Rückbildungen. Bei denFischen steht sie noch in naher Beziehung zu den Kiemen und scheintauch aus ihnen hervorgegangen zu sein. Ihrem Bau nach ist sie eineLymphdrüse (s. d.) ohne Ausführungsgang. Beim Menschenliegt sie hinter dem Handgriff des Brustbeins, wiegt 4-34 g, istgraurötlich, platt, meist dreieckig und besteht aus zweiseitlichen Lappen, welche durch einen schmälern mittlern Teiluntereinander verbunden sind. Ungefähr im zweiten Jahr nachder Geburt hört sie auf, sich zu vergrößern. Von daan bleibt sie, meist bis etwa zum 15. Jahr, stationär underleidet dann allmählich eine Umwandlung in Fettgewebe.

Thynnus, Thunfisch.

Thyone, Beiname der Semele (s. d.), daher auch Dionysoshin u. wieder als Thyoneus verehrt wurde.

Thyreotomie (griech.), operative Spaltung desSchildknorpels zur Entfernung unzugänglicher Neubildungen ausdem Kehlkopf.

Thyrsos (griech.), der mit Epheu u. Weinranken umwundene,oben mit einem Fichtenzapfen versehene Stab des Dionysos u. seinerBegleiter (s. Abbild.); in der Botanik (Thyrsus) s. v. w. sehrzusammengedrängte Rispe.

Thysanuren (Thysanura), Gruppe der Insekten, welchefrüher zu den Geradflüglern gestellt wurde, jetzt aberals selbständige Ordnung aufgefaßt wird; flügelloseTiere mit behaarter oder beschuppter Körperbedeckung,rudimentären kauenden Mundteilen und borstenförmigenFäden, bez. Springapparat am Ende des zehngliederigenHinterleibs. Die T. scheinen den ursprünglichen Charakter derältesten Insektenformen am meisten bewahrt zu haben u.erinnern besonders in den langgestreckten Kampodiden an gewisseMyriopoden, zumal sie auch am Hinterleib Fußstummel tragenkönnen. Die T. leben an feuchten, moderigen Orten undernähren sich von verwesenden organischen Substanzen. Manteilt sie in drei Familien: Campodidae. Springschwänze(Poduridae) und Borstenschwänze (Lepismidae), zu welchen derZuckergast (Lepisma saccharina) gehört. Vgl. Lubbock,Monograph of the Collembola and Thysanura (Lond. 1873).

Ti, in der Chemie Zeichen für Titan.

Tiahuanaco, Dorf in der südamerikan. RepublikBolivia, in der Nähe des Titicacasees, bekannt durch seineAltertümer, die von den Vorfahren der Aymara herstammensollen.

Tiara (griech.), nach Herodot die bei feierlichenGelegenheiten getragene Kopfbedeckung der Orientalen, namentlichder Perser, von aufrecht stehender Form mit darum geschlungenemDiadem; dann die hohe päpstliche Kopfbedeckung, anfangsweiß ohne Kronenrand, dann gestreift mit goldenemStirnreif.

[Thyrsos.]

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Tibaldi - Tiber.

Bonifacius VIII. (gest. 1303) gab dem letztern die Gestalt einerKrone (regnum) und setzte darüber noch einen zweiten goldenenKronenreif; Urban V. (gest. 1370) fügte dazu einen drittenKronenreif und machte sie so zur dreifachen Krone (triregnum), anden Seiten mit zwei herabhängenden Bändern u. oben daraufmit dem Reichsapfel, dem Symbol der vom Kreuz beherrschten Welt.Seit Papst Paul II. (gest. 1471) besteht sie aus purpurnen, blauenund grünen Streifen mit dreifachem Reif darum (s.Abbild.).

Tibaldi, Pellegrino, ital. Maler und Architekt, geb. 1532zu Bologna, begab sich 1547 nach Rom, wo er besonders die WerkeMichelangelos studierte, ging sodann zur Architektur über,bethätigte sich aber auch wieder als Maler, als ihn derKardinal Gio. Poggi beauftragte, in seinem Palast zu Bologna dieGeschichte des Odysseus zu malen. Durch seine Ausschmückungder Kapelle des heil. Jakob des Augustiners erwarb er sich denNamen eines "Michelangelo riformato". Im Börsensaal zu Anconamalte er den die Ungeheuer zähmenden Herakles, inzwischen aberauch zarte und anmutige Bilder in Öl, meist figurenreich,lebhaft koloriert und mit Architektur verziert. 1562 wurde T. vomKardinal Carlo Borromeo nach Pavia berufen, um den Plan zum Palastdella Sapienza zu entwerfen. In Mailand restaurierte er denerzbischöflichen Palast, und nach Vollendung des Baues derKirche des heil. Fidelis daselbst wurde er 1570 erster Architektdes Doms und modernisierte als solcher besonders das Inneredesselben. 1586 ward er von Philipp II. nach Madrid berufen, um denPlan zum Escorial zu entwerfen, in welchem er auch das Deckenbildder Bibliothek malte. Zum Marchese von Valsolda ernannt, kehrte derKünstler nach neun Jahren nach Mailand zurück und starbdaselbst 1598. Vgl. Zanotti, Le pitture di Pellegrino T. (Vened.1756). Sein Sohn Domenico, geb. 1532 zu Bologna, gest. 1583, erwarbsich ebenfalls als Architekt und Maler einen Namen.

Tibbu (Tebu), das Volk der östlichen Sahara, hatseine westliche Grenze, gegen die Tuareg hin, ungefähr an dergroßen von Tripolis über Mursuk und Bilma nach Kukaverlaufenden Karawanenstraße, wird im N. von Tripolitanien,im S. von Kanem und Wadai, im O. von der Libyschen Wüstebegrenzt und zerfällt in zwei sprachlich getrennte Gruppen:die Teda oder Tubu in Tibesti und Kauar und die Dasa oder Koran inBorku, Kanem und dem Gebiet des Gazellenflusses in Wadai.Während Rohlfs u. a. die T. zu den Negern stellten, weistihnen Nachtigal ihre ethnographische Stellung bei den Berbern zu;doch ist eine Mischung mit Negern nicht ausgeschlossen. Die Spracheder Teda ist nach den Untersuchungen von Barth, der die T. fürNachkommen der alten Garamanten (s. d.) hält, und Fr.Müller entschieden verwandt mit dem benachbarten Kanuri vonBornu. Hautfarbe und Gesichtsbildung der T. schwanken zwischen hellund "kaukasisch" und negerartig mit krausem Haar und gelberBindehaut der Augen; vorwiegend sind weißlichgelbe bisrotbräunliche Individuen. Der Bartwuchs ist spärlich.Alle T. sind jetzt zum Islam bekehrt, dem sie fanatischanhängen, wiewohl sie dessen Wesen kaum begriffen haben.Gesellschaftlich sind die T. in drei Klassen geschieden: die Maina(Edlen), aus welchen die Sultane hervorgehen, das übrige Volkund die Schmiede, welche eine Pariastellung einnehmen. DieIndustrie ist sehr gering; die Frauen flechten Matten ausPalmfasern, die Männer gerben Schläuche und verfertigenSättel. Die Behausungen, durch Reinlichkeit ausgezeichnet,bestehen aus Höhlen in den Felsen, aus kreisrunden, vonSandsteinen geschichteten Häusern und aus Stabhütten, diemit Matten gedeckt sind. Die Kleidung ist das einfacheBaumwollgewand (Tobe) des Sudân; Knaben gehen bis zum zehntenJahr nackt. Waffen sind Schwert, Spieß, Bogen und das zackigeWurfmesser (Schandermagor), wie es bei den Niam-Niam im Gebrauchist. Da geschriebene Gesetze fehlen, beruht die gesellschaftlicheOrdnung auf dem Herkommen, wozu seit Einführung des Islam derKoran kommt. Die Sultane (Derde) werden auf Lebenszeit aus derKlasse der Maina gewählt; ihre Einkünfte bestehen ineinem Teil der Raubzugsbeute; ihre Machtvollkommenheit ist einebeschränkte. Eine Nation oder einen Staat bilden die T. nicht;auch da, wo, wie in Kauar und Tibesti, mehrere Ortschaften untereinem gemeinsamen Herrscher stehen, ist doch der Verband einlockerer. Vgl. Behm, Land und Volk der Tebu (im ErgänzungsheftNr. 8 zu "Petermanns Mitteilungen", 1862); Nachtigal, Die T. (inder "Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde in Berlin",Berl. 1870); Derselbe, Sahara und Sudân, Bd. 1 (das. 1879);Rohlss, Quer durch Afrika, Bd. 1 (Leipz. 1874).

Tiber (ital. Tevere, franz. Tibre, bei den RömernTiberis, in noch früherm Altertum Albula), der Hauptflußdes mittlern Italien, an dessen Ufern die Stadt Rom liegt,entspringt in der Provinz Arezzo, 18 km nördlich von PieveSanto Stefano, am Hochkamm des toscanischen Apennin, fließtanfangs gegen S. und SW. durch die Provinz Perugia, wendet sichdann bei der Einmündung der Paglia scharf gegen SO. undläuft nun eine Strecke weit parallel mit der Küste desTyrrhenischen Meers, bis er sich wieder gegen SW. dem Meerzuwendet, die Provinz Rom betritt und 38 km unterhalb Rom in zweiArmen (wovon der nördliche, der von Fiumicino, einkünstlich abgeleiteter Kanal ist) in das Tyrrhenische Meereinmündet. Das Thal des T. ist bald schluchtenartig eng undwild, bald weitet es sich zu einem lieblichen Gebirgskessel aus,überall aber ist es reich an Naturschönheiten. Auch dieThäler der Nebenflüsse haben einen wilden Charakter. Nurdie untern, erweiterten Thalgründe von Rieti u. Foligno,trocken gelegte Seebecken, machen eine Ausnahme. Bei Nazzanogelangt der Fluß in die wellenförmige Campagna di Roma.Die beiden Mündungsarme, von welchen nur der nördliche(Fiumicino) schiffbar, der südliche (Fiumara) aber versandetist, umschließen die Isola sacra ("heilige Insel"), ein mitWald und Sumpf bedecktes Delta. Von den mehr als 40Nebenflüssen verdienen nur die Paglia mit der Chiana rechts,der Chiascio mit Topino und cl*tunno, die Nera mit dem Velino undder Teverone links Erwähnung. Die direkte Entfernung von derQuelle bis zur Mündung beträgt 233, der Stromlauf 418 km.Beim Eintritt in die Stadt Rom, welche er auf eine Länge von4450 m durchfließt, ist der Fluß 75, weiterhin nur 52,unterhalb der Tiberinsel 103 m breit, bei einer Tiefe von 5-13 m.Berüchtigt sind die vielen Überschwemmungen in Rom undder Cam-

[Tiara.]

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Tiberias - Tiberius Claudius Nero.

pagna, welche durch rasches Schneeschmelzen und langesRegenwetter bei weitgehender Entwaldung des Flußgebietsverursacht werden. Den Lauf des Flusses zu regeln und dieseÜberschwemmungen zu verhüten, ist eine der schwierigstennoch ungelösten Aufgaben der italienischen Wasserbaumeister.Der T. ist von der Mündung der Nera an schiffbar, von Rom ausauch für kleine Dampfer und Segelschiffe bis zu 180 Ton. SeinWasserstand ist auch im Sommer höher, als man erwarten sollte,und es ist anzunehmen, daß er durch unterirdischeZuflüsse aus dem Kalkgebirge genährt wird. Er istbeständig trübe und von den Thonmassen gelblichweißgefärbt, welche er von den umbrischen Bergen und Ebenenmitführt, um sie an seiner Mündung abzulagern. Er schiebtdeshalb sein Delta sehr rasch ins Tyrrhenische Meer vor und hatalle Hafenanlagen ausgefüllt und unbrauchbar gemacht; dieälteste, Ostia, liegt jetzt 6½ km vom Meer. Vgl. Smith,The T. and its tributaries (Lond. 1877); Nissen, ItalischeLandeskunde, Bd. 1 (Berl. 1883).

Tiberias, Stadt in Palästina (Galiläa), amwestlichen Gestade des Sees Genezareth, der daher auch See von T.heißt, Gründung und gewöhnliche Residenz desHerodes Antipas, der ihr dem Kaiser Tiberius zu Ehren den Namengab, war durchaus im römisch-griechischen Geschmack erbaut,mit Amphitheater, Rennbahn etc. und daher den strenggläubigenJuden zuerst verhaßt. Nach dem Untergang des jüdischenStaats war T. Jahrhunderte hindurch Sitz einer berühmtenjüdischen Akademie und Mittelpunkt der jüdischen Nation,wo Mischna und Talmud entstanden. Das Christentum fand nur langsamseit Konstantin Eingang. 637 fiel die Stadt den Arabern in dieHände. Während der Kreuzzüge galt sie als eins derwichtigsten Bollwerke der Kreuzfahrer; aber 4. Juli 1187 erlittendie Christen bei Hattin unweit T. durch Saladin eine entscheidendeNiederlage, welche die Übergabe der Stadt zur Folge hatte.Jetzt Tabarieh, ein ärmlicher, schmutziger Ort mit verfallenemKastell, dicker Stadtmauer und 3000 Einw., zur größernHälfte Juden, deren Begräbnisplatz, ½ Stundewestlich der Stadt, die Gräber der berühmtestenTalmudisten (Maimonides, Rabbi Akiba etc.) enthält.

Tiberinus (Paton T.), der Gott des Tiberflusses, nach derrömischen Sage ein alter König des Landes, der in demseither nach ihm Tiberis genannten Fluß Albula ertrank undzum Gott wurde. Der Mythus ließ ihn die in den Tibergestürzte Mutter des Romulus und Remus, Rea Silvia, zu seinerGemahlin und zur Stromgöttin erheben. Sein Heiligtum war aufder Tiberinsel, wo ihm 8. Dez. geopfert wurde; besondere Spielefeierten ihm zu Ehren am 7. Juni die Fischer.

Tiberius, Name zweier oströmischer Kaiser: 1) T.Constantinus, ein Thraker, Befehlshaber der Leibwache unter JustinII., wurde von diesem 574 zum Mitkaiser erhoben und folgte ihm 578in der Regierung. Er unterdrückte einen von Justins GemahlinSophia angestifteten Aufstand und führte ein kräftigesund gerechtes Regiment, er kämpfte mit Glück gegen denPerserkönig Chosru, welcher 579 den Krieg erneuerte, aber vonT.' Feldherrn Justinian wiederholt besiegt und bis in die Näheseiner Hauptstadt verfolgt wurde. T. starb schon 582.

2) T. Apsimarus, von dem gegen den Kaiser Leontiosaufständischen Heer 698 zum Kaiser ausgerufen, stürzteLeontios, wurde aber 705 von dem mit bulgarischer Hilfe aus demExil heimkehrenden Justinian II. gestürzt und grausamhingerichtet.

Tiberius Claudius Nero, röm. Kaiser, geb. 42 v.Chr., Sohn eines gleichnamigen Vaters und der Livia Drusilla undnach deren Verheiratung mit Augustus (38) Stiefsohn des Kaisers,unterwarf mit seinem Bruder Drusus zusammen 16-15 die Rätierund Vindelizier, unterdrückte in drei Feldzügen 12-10einen Aufstand der Pannonier und Dalmatier und machte 8 einenEinfall in das Gebiet der Sigambrer, die er schlug, und von denener 40,000 auf das linke Rheinufer verpflanzte. Er war 12 nach demTode des Agrippa mit Julia, der Tochter des Augustus, verheiratetworden, und 6 wurde ihm die tribunizische Gewalt auf fünfJahre verliehen. In demselben Jahr aber wurde er durch dieAusschweifungen der Julia und durch Eifersucht auf die bevorzugtenEnkel des Augustus, Gajus und Lucius Cäsar, bewogen, sichgegen den Willen des Kaisers nach Rhodos in ein freiwilliges Exilzu begeben. Erst 2 n. Chr. kehrte er von da zurück, und nunwurde er, nachdem Gajus und Lucius Cäsar gestorben waren, 4von Augustus adoptiert und damit zum Nachfolger auf dem Kaiserthrondesigniert; zugleich wurde ihm die tribunizische Gewalt auf weiterefünf Jahre (sodann 9 auf Lebenszeit) übertragen. Sonachfiel ihm, nachdem er 6-9 einen neuen, langen und schwierigen Kriegin Pannonien und Dalmatien geführt und 11 die Rheingrenzegegen die Deutschen geschützt hatte, 14 nach dem Tode desAugustus die Herrschaft von selbst zu, welche er hierauf 23 Jahremit Klugheit und Energie und nicht ohne einen gewissen Gewinnfür die Provinzen, aber mit Härte und Mißgunstgegen jedermann und mit Grausamkeit geführt hat. In den erstenJahren seiner Regierung wurde er zu einiger Zurückhaltungdurch die Rücksicht auf Germanicus, den Sohn seines BrudersDrusus, bestimmt, den er auf Anordnung des Augustus adoptiert, undder durch zwei glänzende, obwohl erfolglose Feldzügegegen die Deutschen (15 und 16) seinen Argwohn erregt hatte.Nachdem aber Germanicus 19 gestorben und die Regierung immer mehrin die Hand des Sejanus, des Präfekten der Prätorianer,gelangt war, der diese in einem festen Lager in Rom selbstvereinigte, um durch sie einen Druck auf die Hauptstadtauszuüben, nahmen die Verfolgungen der angesehenstenMänner durch die Delatoren, d. h. die Angeber, welche imDienste des T. alle, die dessen Verdacht erweckten, anklagten undihre Verurteilung im knechtisch gesinnten Senat bewirkten, immermehr zu. Zwar wurde 31 Sejanus gestürzt, der, um sich selbstden Weg zur Herrschaft zu bahnen, schon 23 Drusus, den Sohn des T.,durch seine Gemahlin hatte vergiften lassen, der 26 den T. bewogenhatte, sich nach Capreä (Capri) zurückzuziehen, und derdie Familie des Germanicus zum großen Teil zu beseitigengewußt hatte. Indessen diente dies nur dazu, die Zahl derHinrichtungen zu vermehren, indem alle diejenigen, welche derMitschuld an den Plänen des Sejanus geziehen wurden, derGrausamkeit des T. zum Opfer fielen, bis endlich T. 16. März37, als er schon im Todeskampf lag, von Macro, dem Nachfolger desSejanus in der Gunst des Kaisers, in den Kissen seines Lagerserstickt wurde. Vgl. Stahr, Tiberius' Leben, Regierung, Charakter(2. Aufl., Berl. 1873); L. Freytag, T. u. Tacitus (das. 1870),welche beide den T. durch Herabsetzung des Tacitus zu rechtfertigengesucht haben; dagegen Pasch, Zur Kritik der Geschichte des KaisersT. (Altenb. 1866), und Beulé, T. und das Haus des Augustus(deutsch von Döhler, Halle 1873); Deppe, Kriegszüge desT. in Deutschland (Bielef. 1887).

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Tibesti - Tibet.

Tibesti (auch Tu), das Land der Tibbu Reschade in deröstlichen Sahara, zwischen 14-19° östl. L. v. Gr. und19-23° nördl. Br. gelegen, wurde zuerst 1868-69 vonNachtigal erforscht. Der bewohnte Teil des Landes konzentriert sichum das Zentralgebirge, eine von NW. nach SO. streichende Kette,welche im Tarso, einem 1000 m hohen Dolomitrücken, ihrenHauptstock hat. Die höchsten Kegel desselben sind: der Tusside(2500 m), der Timi, Boto und Bodo. Am östlichen Fuß desTarso befindet sich eine heiße Quelle. An den Seiten diesesHauptgebirges, in den nach W. hinabgehenden Thälern sowie indem östlich gelegenen Thal Bardai, haust die elende und armeBevölkerung, deren Hauptsubsistenzmittel ihre Kamel-, Schaf-und Ziegenherden sind. Datteln wachsen in einigen Schluchten, Durraund Duchn wird an wenigen Orten gebaut. Auch die Jagd istdürftig. Hauptorte sind Tao und Bardai. Vgl. Nachtigal, Saharaund Sudân, Bd. 1 (Berl. 1879).

Tibet, Zeug, s. Merino.

Tibet (Thibet, Tübet), Nebenland Chinas zwischen demHauptkamm des Himalaja im S. und W., dem Kuenlün und seinenöstlichen Fortsetzungen im N. und den Provinzen Kansu undSetschuan im O. (s. die Karten "Zentralasien" und "China"),umfaßt 1,687,898 qkm (30,654 QM.), bildet ein großesPlateau, das, im äußersten Westen schmal, nach Ostenständig an Breite zunimmt, bis es im Meridian von Lhassazwölf Breitengrade bedeckt, worauf es mit schwachkonvergierendem Nord- und Südrand nach Osten geht. DenSüden dieses ungeheuern Gebiets nimmt das Längsthal desIndus und Sanpo ein als deutliche Grenzmark zwischen dem Himalajaund der tibetischen Massenerhebung. Die nördlich davon sichausbreitende Hochfläche, welche sich allmählich vonWesten, wo die gewaltige Bergmasse des Karakorum aufgelagert ist,nach O. senkt, hat eine mittlere Höhe von über 4000 m.Zwischen 80 und 90° östl. L. v. Gr. scheint die welligeHochsteppe vorzuherrschen; hier führt die Straße vonKiria über den Kuenlün und ein 5000 m hohes Plateau zuden Goldfeldern von Thok Dschalung, dem höchsten (4977 m)ständig bewohnten Orte der Erde. Hier dehnt sich nun diezentrale Hochsteppe aus, ein mit zahlreichen Salzlachen undSalzseen bedecktes, abflußloses Gebiet, das fürzahlreiche Scharen wilder Esel, Antilopen und Moschusschafe immernoch genügende Weideplätze zu bieten scheint. Auf weiteStrecken ist das Hochland unbewohnt, nur einige tiefer gelegeneGründe gestatten den Anbau von Gerste. Den Südostteildieser Hochsteppe erfüllt ein seenreiches Gebiet; einer dergrößten Seen ist der Tengri-Nor (4600 m ü. M.),einige buddhistische Klöster an seinen Ufern sind die einzigenWohnstätten. Osttibet, das Gebiet nordöstlich von Lhassabis zum Huangho, ist gleichfalls ein von beträchtlichenBergmassen erfülltes Hochland, doch unterscheidet sichdasselbe von dem westlichen Plateau dadurch, daß zahlreichenach O. und SO. strebende Flüsse (Omtschu oder Dibong,Tsatschu, Salwen, Mekhong, Murussu oder Britschu, Jatschu, diebeiden letztern Quellflüsse des Jantsekiang) dasselbedurchziehen. Über die Hauptrichtung der GebirgszügeOsttibets herrscht noch keine Klarheit; auf weite Streckengänzlich unbewohnt, beherbergt dies Gebiet einzelne wildeStämme, die kaum als Unterthanen der Chinesen anzusehen sindund das Eindringen von S. her ähnlich erschweren wie dietibetischen Beamten an den Grenzorten der Karawanenstraßen.Von der großen Hochebene führen 5000 m hohe Pässeüber den bis 7500 m hohen, mit Schneegipfeln gekröntenPlateaurand in das Thal des Brahmaputra, das bis 88° östl.L. v. Gr. noch immer über 4000 m hoch und daher nur vonNomaden bewohnbar ist. Hier erst beginnt die Möglichkeit desAnbaues der Gerste. Im NO. liegt das mit zahllosen Seen besetzteQuellgebiet des Huangho, des Sternenmeers, westlich davon erhebtsich das Plateau zu 5400 m, dagegen senkt sich das von einemabflußlosen Salzmorast bedeckte Becken von Tschaidam bis zu2600 m; am äußersten Nordrand des tibetischen Plateausliegt 3300 m hoch das Becken des Kuku-Nor. Das Klima hat einendurchaus kontinentalen Charakter: die Sommer sind kurz undheiß, die Winter lang und streng (bis -25° C.). DieTrockenheit ist ungemein, der atmosphärische Niederschlag,fast nur Schneefall während des 5-7 Monate dauernden Winters,beträgt kaum 25 mm. Die beim Auftauen des Schnees mitFeuchtigkeit sich vollsaugenden Moosarten ersetzen zum Teil denMangel an Waldungen, indem sie das gänzliche Ausdörrendes Bodens verhindern. Die Pflanzenwelt ist, da die Hochebenengrößtenteils höchst unfruchtbar sind, eine sehrdürftige. In den wärmern Thälern des Südwestenswird Reis gebaut, ebenso Obst und Wein; der Getreidebau deckt denBedarf nicht. Die Steppenregionen liefern den feinsten Rhabarber.Mannigfaltig ist das Tierreich. Der Yak kommt auf den Hochsteppenin großen Herden wild vor, ebenso eine wilde Art Pferde(Equus hemionus) und ein wildes Schaf (Ovis Argali) mitgroßen Hörnern. Antilopen, Moschustiere, Wölfe,Schakale und Füchse bevölkern die Steppen. Vögelsind selten, Singvögel fehlen ganz. Die wertvollsten Haustieresind: Yak, Pferd (klein), Ziege (deren Vlies die kurze, zu denfeinsten Geweben taugliche, Paschm genannte Wolle liefert) undSchaf. Hunde sind bei jedem Haus, aber verwahrlost und darum einePlage. Das Mineralreich liefert Gold, Edelsteine, Bergkristalle,Salz, Borax u. a.

Die Bevölkerung, deren Zahl auf 6 Mill. veranschlagt wird,gehört der großen Mehrzahl nach zu den eigentlichenTibetern (Bod-dschi), einem mongolischen Volk; daneben gibt eseigentliche Mongolen (Sokpa), Türken (Hor) und Kirgisen im N.,Mohammedaner, Chinesen und einige Inder in Lhassa und in denStädten. Die Tibeter bewohnen außer T. noch Bhutan,Sifan, das Quellgebiet des Huangho und die obern Stufenländerder hinterindischen Flüsse sowie im W. Ladak und Baltistan.Den Charakter des Tibeters kennzeichnen kriechendeUnterwürfigkeit gegen Mächtige, Übermut gegenNiedrige. Die Ehe wird wenig heilig gehalten; unter den Reichenherrscht Polygamie, unter dem Volk Vielmännerei beiBrüdern. Gesellschaftlich gliedert sich die Bevölkerungin Geistliche und Laien; leider übt die Welt- undKlostergeistlichkeit beider Geschlechter keinen guten Einflußauf die Sittlichkeit des Volkes aus. Doch findet wissenschaftlicheBildung in den zahlreichen Klöstern eine anerkennenswertePflege, so daß in dieser Hinsicht die Tibeter unter denVölkern Hochasiens einen hervorragenden Rang einnehmen. DieHauptbeschäftigung ist Viehzucht, dann Ackerbau; diegewerbliche Thätigkeit beschränkt sich auf Anfertigungvon groben Wollgeweben, Filzen und Metallarbeiten für denHausbedarf. Der Handel mit Hochasien, Indien und China ist nichtunbedeutend; doch bereitet die chinesische Regierung dem Verkehrmit Indien aus politischem Mißtrauen die größtenSchwierigkeiten. Den Verkehr mit China wie den Binnenhandel habendie Klöster und die Großen des Landes inHänden.

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Tibet (Geschichte).

Waren werden auf den Rücken von Schafen und Ziegen oderauch von Menschen verschickt, Kunststraßen fehlen, und selbstauf den Hauptverkehrswegen müssen Seilbrücken solidereAnlagen ersetzen. Der Handel ist vorwiegend Tauschhandel. NebenThee statt Geld kursieren chinesische Kupfermünzen undindische Rupien, oft zu Klumpen zusammengeschmolzen. Religion istder Buddhismus in der tibetischen Form. Begründer dertibetischen Lehre ist der Mönch Tsonkhapa (1358-1419), der dieMenge des zu Wissenden und zu Verrichtenden in acht Gebotezusammenfaßte und unter der Geistlichkeit eine festeHierarchie begründete, welche der Kitt der bestehendenpolitischen Verhältnisse wurde. Obenan steht der Dalai Lama,eine Verkörperung des Tschenresi (Padmapani), desgöttlichen Stellvertreters des Buddha auf Erden; seineResidenz ist Lhassa (s. d.). Nächst diesem kommt der PantschenRinpotsche, der zu Taschi Lhunpo (s. d.) residiert und dort ineinem kleinen Bezirk auch Hoheitsrechte ausübt. BeideHohepriester gehen aus Wahl hervor unter Einwirkung derchinesischen Regierung (s. Dalai Lama). Unter dem Dalai Lama stehendie Klosteräbte, unter diesen die Priester (Lama), alle demCölibat unterworfen und in verschiedene Klassen zerfallend.Die Klöster (Gonpa) sind weitläufige Gebäude(zuweilen eine ganze, von Ringmauern umgebene Stadt) und reich mitliegenden Gründen bedacht. Durchschnittlich wird aus jederFamilie ein Sohn Lama. Die Mönche sind sehr ungebildet, dabeivon lockern Sitten. Die religiösen Gebräucheunterstützen den Aberglauben; weltbekannt ist die Anwendungdes Gebetrades (s. Gebetmaschine). Die Hauptfamilienakte vollziehensich ohne Segen des Lama; aber bei jedem sonstigen Anlaßbraucht man den Lama als Geisterbeschwörer, der dabeigroße Fertigkeit in höherer Gaukelei bekundet. Dereigentliche Gottesdienst ist durch Gepränge, Musik undWeihrauch geistverwirrend (vgl. E. Schlagintweit, Buddhism in T.,Leipz. 1863). Eine zwischen 1861 und 1870 durch französischeMissionäre in Bonga, südöstlich von Lhassa,eingerichtete Missionsstation wurde unterdrückt. DieVerwaltung wird im Namen des Kaisers von China von Tibeterngeführt, welche ihre Bestallung von Peking aus erhalten. DerDalai Lama widmet sich nur der Erfüllung seinerreligiösen Pflichten; die Besorgung derRegierungsgeschäfte liegt einem Stellvertreter ob, der aus denMönchen eines der Hauptklöster von Lhassa genommen wird.Oberster Rat sind 4 Minister und 16 Dezernenten für Zivil,Militärverwaltung, Gerichtswesen und Finanzen mit dem Sitz inLhassa; unter ihnen wirken Lokalbeamte. Chinesische Beamteüberwachen in Lhassa, Mandarinen in den Provinzen dieGeschäfte; sie stehen unter dem Gouverneur von Setschuan, wieT. auch als Teil dieser Provinz gilt. Verwaltung wie Gerichtswesenbieten jedoch durch Bestechlichkeit ein Zerrbild gesundenStaatslebens. Für den Bestand der chinesischenOberherrlichkeit sorgt eine Mandschutruppe von etwa 4000 Mann, diein zahlreichen kleinen Garnisonen untergebracht ist. Außerdemwird im Inland eine Miliz ausgehoben. Der jetzige Dalai Lama, der13. dieses Titels, wurde 1879 noch im Kindesalter unterFeierlichkeiten, die drei Tage andauerten, eingesetzt.

[Geschichte.] Die tibetischen Chroniken leiten das ältestedort regierende Königsgeschlecht von jenem der Sakja ab, demim 7. Jahrh. v. Chr. der Stifter des Buddhismus entsproß. EinInder, Namens Buddasri, soll ein halbes Jahrhundert v. Chr. die"kleinen Könige" in T. sich unterthan gemacht und sich zumersten Großkönig aufgeschwungen haben. Das Reichhieß damals Jarlung ("oberes Thal") und umfaßte dieUferländer des Jarlungflusses und seiner Zuflüsse. InnereKämpfe füllten die Zeit bis 607, da trat als großerEroberer Namri Srongtsan auf; Begründer des Buddhismus, einerLitteratur und eines tibetischen Alphabets wurde Srongtsan Gampo(629-698), der dem Reich dabei viele neue Provinzen erwarb und zudem chinesischen Kaiserhaus durch eine Heirat in freundschaftlicheBeziehungen trat; er verlegte die Residenz nach Lhassa. Unter KriSrongdetsan (744-786) stand T. auf der Höhe der Macht; bis anden Mustag hin, unter Türken und Mongolen, verschaffte es sichAchtung; die Himalajaländer wurden abhängig, mit Chinaüber die Grenze ein Vertrag geschlossen und dieser in eineDenksäule zu Lhassa eingeschnitten. Mächtig war nochRalpatschan (806-842); er ließ die heiligen Schriften in zweiSammlungen bringen (vgl. Tibetische Sprache), demütigte dieäußern Feinde, darunter die Chinesen. SeineGunstbezeigungen an den Klerus hatten eine innere Revolution zurFolge, der König wurde ermordet, dem fremden Kultus Abbruchgethan und hierdurch Osttibet in kleinere Reiche zersplittert wieauch den Chinesen geöffnet. In diesen Wirren wurde vonMitgliedern der Königsfamilie eine Seitendynastie in Westtibetgegründet, Ladak (s. d.) und die angrenzenden Provinzen zumBuddhismus bekehrt. 1206 und 1227 erhob Dschengis-Chan Tribut vonT.; im 14. Jahrh. trat Tsonkhapa (s. oben) als Reformator der Lehreauf und wurde Begründer der Allgewalt der Priester. 1566fielen die Ostmongolen in das nördliche T. ein; 1624 drang derJesuitenpater A. Andrada als der erste christliche Missionärin das südöstliche T. vor. Eine großeUmwälzung brachte dann der 1640 auf Anforderung des damaligenDalai Lama erfolgte Zug der am Kuku-Nor lagernden Choschotmongolen.Die dem Dalai Lama ungünstigen Großen wurden vernichtetund dieser von den gläubigen Mongolen als Landesherreingesetzt. Den Mandschu bezeigte bereits 1642 der Dalai LamaVerehrung, 1651 begab sich dieser nach Peking zum Besuch desKaisers. Die in Kaschgar, Jarkand und Ili herrschenden Dsungarenwollten nicht dulden, daß China über die Wahl des DalaiLama verfüge; um T. von sich abhängigen machen, zogen sievor Lhassa, stürmten dies vergeblich, bekamen es aber 30. Nov.1717 durch Verrat in die Hand und wüteten schrecklich. Derchinesische Kaiser Kanghi wurde nun von den Tibetern um Hilfeangegangen, seine Armee rückte in vier Haufen ein, schlug dieDsungaren in mehreren Treffen und begründete so 1720 dieOberherrschaft der heute noch herrschenden Mandschudynastieüber T. Ein 1727 ausgebrochener Aufstand wurde blutigunterdrückt, und T. behielt nun Ruhe bis 1791, währendwelcher Zeit jedoch China manchen unbequemen Würdenträgermittels Gifts beseitigt haben soll. Die Weigerung der Tibeter, mitNepal einen billigen Münzvertrag abzuschließen,führte zum Krieg mit diesem; China schickte Truppen und schlug1791 das nepalische Heer. Zwischen 1837 und 1844 ließ derehrgeizige Regent (der weltliche Stellvertreter des Dalai Lama)drei Dalai Lamas ermorden, wurde schließlich der Thatüberführt, verbannt und die chinesische Verwaltung nochstraffer angezogen. Insbesondere wurden die Großen des Landesdadurch mißgestimmt, daß der Regent nunmehr nur aus derReihe der Priester genommen ward; die Priester hinwieder wurdendarum unbotmäßig, weil seit einigen Jahrzehnten infolgeder Aufstände der Taiping und

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Tibetische Sprache und Litteratur - Tic.

Dunganen (s. d.) die herkömmlichen Gaben des chinesischenSchatzes an die tibetischen Klöster ausblieben. Die Chinesenvermögen ihre Herrschaft in T. nur mit Schwierigkeiten zubehaupten. Zwischen Ende des 13. Jahrh. und 1870 erreichtenEuropäer 14mal T., darunter 7mal Lhassa; von Indien aus istder Eintritt Europäern nicht gestattet, eine 1876 geplanteenglische Gesandtschaft mußte unterbleiben. Im Streit umSikkim (1887/88) nahm T. gegen Britisch-Indien Partei, wurde abervon Peking aus zur Nachgiebigkeit gezwungen. Große Verdiensteum die Erforschung von T. hat der Russe Prschewalskij (s. d.) ;kein andrer europäischer Reisender hat in T. so großeStrecken durchmessen wie dieser Forscher. Vgl. Klaproth,Description du Thibet (Par. 1831); E. Schlagintweit, DieKönige von T. (Münch. 1866); Desgodins, Le Thibet (2.Aufl., Par. 1885); Ganzenmüller, Tibet (Stuttg. 1878);Kreitner, Im fernen Osten (Wien 1881); Prschewalskij, Reisen in T.(deutsch, Jena 1884); Feer, Le T. (Par. 1886).

Tibetische Sprache und Litteratur. Die tibetische Sprache isteine der einsilbigen Sprachen Ostasiens und bietet die selteneErscheinung dar, daß sie sich, obschon bereits vor mehr als1200 Jahren zur Schrift- und Litteratursprache erhoben, infolgeeiner fast abgöttischen Verehrung des geschriebenen Wortes bisheute unverändert erhalten hat, während Stil undRedeformen Umgestaltungen erfuhren. Daher zeigen sich beiVergleichung von Schrift und Laut Abweichungen in ähnlichemMaß wie im Französischen. Alphabet und Schrift (vonlinks nach rechts) sind dem Altindischen nachgebildet; doch wirdeine Druckschrift, eine Kursiv und eine Schnellschriftunterschieden. Man schneidet die Buchstaben sehr schön inHolzblöcke und druckt damit; bewegliche Lettern kennt mannicht. Der Schrift sind zusammengesetzte Konsonanten eigen, wie imSanskrit. Das Tibetische hat 30 Konsonanten; Diphthonge fehlen.Beim Schreiben trennt man jede Silbe durch einen Punkt. Die Flexionwird meist durch Anfügung von Stammbildungsendungen (Affixenund Suffixen) ersetzt. Es gibt zwei Modi: Infinitiv und Imperativ,und drei Tempora: Präsens, Perfektum und Futurum. Das Verbumist durchweg unpersönlich, Aktivum und Passivum werden nichtunterschieden; das handelnde Subjekt eines transitiven Zeitwortssteht im Instrumental ("durch mich ist gethan"). Die Syntax kenntnur wenige feste Regeln, worunter obenan steht, daß dereinfache Satz mit dem Zeitwort schließt. Grammatiken desTibetischen verfaßten der Missionär Schröter (mitWörterbuch, Serampur 1826), der Ungar Csoma (ebenfalls mitWörterbuch, Kalk. 1834), J. F. Schmidt (Petersb. 1839-41),Foucaux (Par. 1858) und besonders Jäschke ("Tibetan grammar",2. Aufl., Lond. 1883), der auch ein "Tihetan-English dictionary"(das. 1882) und ein großes "Handwörterbuch derTibetsprache" (Gnadau 1871-75) herausgab. Die tibetische Litteraturbesteht ihrem geistlichen Teil nach zumeist aus Übertragungenaus dem Sanskrit, die mit wenigen tibetischen Originalwerken zweiHunderte von Bänden starke Sammlungen füllen, denKandschur (s. d.) und den neuern Tandschur. Die Profanlitteratur anErzählungen, Gedichten, Geschichtswerken ist nichtunbedeutend, aber noch wenig bekannt. An der Herausgabe undÜbersetzung tibetischer Texte beteiligten sich der UngarCsoma, die Deutschen J. F. Schmidt, A. Schiefner, H. A.Jäschke, E. Schlagintweit, die Franzosen Foucaux und Feer.Vgl. Hodgson, Essays on the languages, literature and religion ofNepal and Tibet (Lond. 1874).

Tibia (lat.), Schienbein; bei den Römern auch einBlasinstrument mit Tonlöchern (Pfeife, Flöte).

Tibialis (lat.), das Schienbein betreffend, z. B. arteriat., Schienbeinschlagader, vena t., Schienbeinblutader, etc.

Tibullus, Albius, röm. Elegiker, um 55 v. Chr.geboren aus ursprünglich wohlhabendem Rittergeschlecht, das inden Bürgerkriegen einen großen Teil seiner Güterverloren hatte. Er begleitete 31 seinen Gönner Messala auf demaquitanischen Feldzug. Eine Aufforderung desselben, ihn nach Asienzu begleiten, lehnte er anfangs ab, da ihn die Liebe zu Delia(eigentlich Plania), einer Libertine in Rom, zurückhielt; zwarentschloß er sich noch zur Mitreise, doch mußte er,unterwegs erkrankt, in Kerkyra zurückbleiben. Nach Romzurückgekehrt, fand er seine Geliebte mit einem reichernBewerber verheiratet, ein Schlag, den er nicht wieder verwunden zuhaben scheint. Er starb bald nach Vergil, 19 oder 18 v. Chr. SeineGedichte zeichnen sich durch Einfachheit, Gefühl und Anmutaus; besonders schön und innig sind die auf Deliabezüglichen im ersten der unter seinem Namenüberlieferten vier Bücher. Von diesen gehören ihmindessen nur die beiden ersten vollständig an. Das ganzedritte rührt von einem wenig talentvollen Nachahmer her, dersich selbst mit dem Namen Lygdamus und als 43 v. Chr. geborenbezeichnet, und von den Gedichten des vierten Buches haben eineAnzahl poetische Liebesbriefe ein junges Mädchen, NamensSulpicia, zur Verfasserin. Neuere Ausgaben von Voß (Heidelb.1811), Lachmann (Berl. 1829), Dissen (Götting. 1835, 2 Bde.),Haupt (5. Aufl., Leipz. 1885), L. Müller (das. 1870),Bährens (das. 1878), Hiller (das. 1885). Übersetzungenlieferten Voß (Tübing. 1810), Teuffel (Stuttg. 1853 u.1855), Binder (2. Aufl., Berl. 1885) , Eberz (Frankf. 1865).

Tibur, Ort in Latium, auf einem 250 m hohen Hügel amsüdlichen Ufer des hier prächtige Wasserfällebildenden Anio (s. d.), östlich von Rom, war eine derältesten und mächtigsten Städte des LatinischenBundes, welche sich erst 335 den Römern endgültigunterwarf, aber nominell unabhängig blieb. Die Umgebung warreich an Landhäusern, unter denen namentlich die prachtvolleVilla Hadriani, südwestlich der Stadt in der Ebene,berühmt war. Jetzt Tivoli (s. d.). Vgl. L. Meyer, T. (Berl.1883).

Tic (franz.), s. v. w. Zucken, Verziehen des Gesichts.Man unterscheidet zwei Krankheiten dieses Namens, nämlich denT. douloureux oder Fothergilischen Gesichtsschmerz (s.Gesichtsschmerz) und den T. convulsif, welcher ein Krampf imBereich des Nervus facialis, ein mimischer Gesichtskrampf ist.Diese letztere Krankheit kommt häufig bei hysterischen und mitEingeweidewürmern behasteten Personen vor. AuchGemütsbewegungen und der Nachahmungstrieb werden unter denveranlassenden Ursachen des T. convulsif angeführt; in vielenFällen ist der T. convulsif ein leichter Grad von Veitstanz.Fast immer werden nur die Muskeln Einer Gesichtshälfte vomKrampf befallen. Die Kranken machen schnell wechselnde oderandauernde Grimassen, runzeln die Stirn und die Augenbrauen,blinzeln mit den Augenlidern und schließen das Auge, zuckenund schnüffeln mit den Nasenflügeln, verziehen denMundwinkel nach oben und unten etc. Diese Grimassen tretenplötzlich auf, verschwinden ebenso schnell und kehren nachkurzen Zwischenpausen wieder. Gewöhnlich ruft eine durch denWillen eingeleitete isolierte Bewegung des Gesichts krampfhafteZusammenziehungen in andern Muskeln hervor. Anfangs ist die krankeGesichts-

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Tichatschek - Tidemand.

hälfte oft schmerzhaft, später verlieren sich dieSchmerzen. Die Behandlung ist selten erfolgreich, man empfiehlt denkonstanten galvanischen Strom, Bromkalium, kräftigeErnährung; beim Vorhandensein von Würmern abtreibendeMittel. - Figürlich bedeutet T. (Tick) s. v. w. Grille,wunderliche Eigenheit.

Tichatschek, Joseph Aloys, Opernsänger (Tenor), geb.11. Juli 1807 zu Weckelsdorf in Böhmen, ging 1827 nach Wien,um dort Medizin zu studieren, widmete sich jedoch bald darauf derMusik und fand 1830 ein Engagement als Chorist amKärntnerthor-Theater. Infolge eifriger Kunstgesangstudienunter Leitung Cicimaras konnte er 1833 in kleinern Partien mitErfolg auftreten und das Jahr darauf einen Ruf als erster Tenornach Graz annehmen, wo er bis 1837 der Liebling des Publiku*ms war.Im genannten Jahr gastierte er in Dresden und fand hier solchenBeifall, daß er alsbald an der Oper und zugleich alsSänger beim Chor der katholischen Hofkirche angestellt wurde.Hier erreichte er, angeregt namentlich durch denkünstlerischen Verkehr mit der SängerinSchröder-Devrient und Richard Wagner, nachdem dieser 1842 alsKapellmeister an die Dresdener Oper berufen war, die höchsteStufe der Meisterschaft. Besonders gaben ihm die Musikdramen desletztgenannten Meisters: "Rienzi", "Tannhäuser" und"Lohengrin", Gelegenheit, seine Fähigkeiten nicht nur alsSänger, sondern auch als geistvoll reproduzierenderKünstler im hellsten Licht zu zeigen. So wirkte er, zahlreicheGastspiele in ganz Europa abgerechnet, ununterbrochen in Dresdenbis 1870, wo er in den Ruhestand trat. Er starb 18. Jan. 1886daselbst.

Tichborne (spr. tittschborn), Sir Roger, engl. Baronet,geb. 5. Jan. 1829, wanderte 1853 auf einem französischenSchiff aus und kam wahrscheinlich bei dem Schiffbruch der Bella imApril 1854 um. Seine reiche Erbschaft wurde den Verwandten, die siein Besitz genommen hatten, 1866 von einem Fleischergesellen Ortonaus Neusüdwales streitig gemacht, der sich für denverschollenen Sir Roger T. ausgab. Anerkannt von der Mutter SirRoger Tichbornes und unterstützt von Advokaten und Agitatoren,gelang es dem Prätendenten, die öffentliche Meinungfür sich zu interessieren und einen Prozeß gegen dieErben einzuleiten, für dessen Kosten seine Anhängerallmählich 60,000 Pfd. Sterl. aufbrachten. DieserProzeß, der das größte Aufsehen machte, zog sichinfolge der zahlreichen weit hergeholten Schutz- undBelastungszeugen und der Winkelzüge der Advokaten lange hin,Orton wurde 1872 zunächst für einen Betrügererklärt und 1874 wegen doppelten Meineids zu 14 JahrenZuchthaus verurteilt. Obwohl bei den Gerichtsverhandlungen derT.-Prätendent sich als dem Verschollenen ganz unähnlich,überdies roh und ungebildet erwies, wurde die Agitationfür ihn auch nach seiner Verurteilung noch einige Zeit sowohlin T.-Meetings und Zeitungsartikeln als auch im Parlamentfortgesetzt. Als Orton aber 1884 aus dem Zuchthaus entlassen wurde,war das Interesse für ihn erloschen. Vgl. "Der neue Pitaval",neue Serie, Bd. 10 (Leipz. 1875).

Tichwin, Kreisstadt im russ. Gouvernement Nowgorod, ander Tichwinka (Nebenfluß des Sjas), hat 4 Kirchen, 2Klöster, ein weibliches Gymnasium und (1886) 6526 Einw., derenHauptbeschäftigung im Bau von Flußbarken besteht.

Tichwinsches Kanalsystem, in Rußland, verbindet dieWolga mit der Newa. Die Fahrt geht: Newa, Ladogakanal, Sjaskanal,Sjasfluß, Tichwinka, Eglinosee, Tichwinscher Kanal,Fluß Woltschina, See Somino, Fluß Somina, Woschsee,Fluß Gorün, Tschagadoschtscha, Mologa, Wolga. DieLänge des Verbindungssystems erstreckt sich vom FlußGorün bis zum Sjaskanal 334 km weit, die Länge dereigentlichen Kanäle ist 16 km. Das Tichwinsche Kanalsystemdurchzieht die Gouvernements St. Petersburg, Nowgorod, Jaroslaw aufeiner Strecke von 903 km. Da wegen der vielen kleinen Seen undFlüsse größere Barken nicht passieren können,so werden mehr die wertvollern, aber leichtern Waren transportiert,wie Kolonialwaren, Getreide nur teilweise. Der erste Gedanke zudiesem System gehörte Peter I., doch wurde es erst 1811eröffnet.

Ticino (spr. tit*cht-), Fluß und Kanton, s.Tessin.

Ticinum, antike Stadt, s. Pavia, S. 793.

Ticinus, linker Nebenfluß des Padus imcisalpinischen Gallien, der jetzige Tessin (s. d.). Am T.Niederlage der Römer unter dem Konsul P. Scipio durch dieKarthager unter Hannibal 218 v. Chr.

Tick, s. Tic.

Ticket (engl.), Zettel, Stimmzettel, Billet, z. B.Railway-T., Eisenbahnfahrkarte.

Ticknor, George, Literarhistoriker, geb. 1. Aug. 1791 zuBoston, wurde im Dartmouth College erzogen und zum Juristenvorgebildet, gab aber diesen Beruf auf, ging 1815 nach Europa, woer fünf Jahre lang in London, Göttingen, Paris, Genf,Rom, Madrid und Lissabon verweilte, und wurde nach seinerRückkehr zum Professor der französischen und spanischenSprache sowie der Belles-Lettres an der Harvard-Universitäternannt. Berühmt machte sich T. besonders durch sein nochheute unübertroffenes Werk "The history of Spanish literature"(New York 1849, 3 Bde.; 4. Aufl. 1872; deutsch von Julius, mitZusätzen von Wolf, neue Ausg., Leipz. 1867, 2 Bde.), worin dieResultate 30jähriger Studien in trefflichen, durch Genauigkeitund Fülle ausgezeichneten Darstellungen verwertet sind.Außerdem schrieb T. eine Biographie Lafayettes und desHistorikers Prescott (1863, neue Ausg. 1882). Er starb 26. Jan.1871. Vgl. "The life, letters and journals of George T." (neueAusg., Boston 1876).

Ticul, Ruinenstätte im mexikan. Staat Yucatan, 50 kmsüdlich von Merida, beim Dorf Tekoh, mit merkwürdigenGrabstätten. Der gleichnamige Distrikt hat (1880) 23,648Einw.

Tidemand, Adolf, norweg. Maler, geb. 14. Aug. 1814 zuMandal in Norwegen, bildete sich zuerst auf der Kunstakademie zuKopenhagen und seit 1837 in Düsseldorf bei Th. Hildebrandt undSchadow. Nach Vollendung des Bildes: Gustav Wasa redet in derKirche zu Mora zu den Dalekarliern (1841) wandte er sich nachMünchen, später nach Italien und kehrte dann nachNorwegen zurück. Hier malte er einige Bildnisse für dieUniversität in Christiania und machte Volksstudien in denGebirgsthälern. Von 1846 bis 1848 lebte er wieder zuDüsseldorf, dann abermals in Norwegen und seit 1849 in derRegel im Winter in Düsseldorf, im Sommer in Norwegen. Er starb25. Aug. 1876 in Christiania. Um T. scharte sich ein zahlreicherKreis skandinavischer Künstler. Er wußte freundlicheAnmut, elegischen Ernst, große Naturwahrheit und meisterhafteIndividualisierung mit Großartigkeit der Auffassung zuvereinigen. Seine Farbe ist kräftig, frisch und vongroßem Schmelz, seine Pinselführung breit und markig.Frei von gesuchten Gegensätzen, machen seine Bilder deneinfachen Eindruck der Natur. Er leistete im Volks- und Sittenbildsein Bestes, weniger in Altargemälden. Von seinen Werken sindhervorzuheben: Katechisation

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Tiden - Tieck.

des Küsters in einer Landkirche (1847); Nachmittagsandachtder Haugianer (1848, Kunsthalle in Düsseldorf, wiederholt);norwegisches Bauernleben, ein Cyklus von zehn Gemälden aufZink für den Speisesaal des Schlosses Oskarshall beiChristiania (1851, als Prachtalbum in Lithographien von J. B.Sonderland mit norwegischem und deutschem Text in Düsseldorferschienen); der verwundete Bärenjäger (1856, kaiserlicheGalerie in Wien); die Austeilung des heiligen Abendmahls in einerHütte (1860); der Zweikampf beim Hochzeitsmahl (1864); dieBrautkrone der Großmutter (1865, Galerie zu Karlsruhe); dieFanatiker (1866); vier cyklische Bilder aus dem Volksleben fürdie Kronprinzessin von Dänemark (1870); Abschied einesSterbenden von seiner Familie (1872); der Hochzeitszug, der einenWaldbach durchschreitet (1873), und die drei großenAltargemälde für norwegische Kirchen: die Taufe Christi(1869), die Auferstehung Christi (1871) und Christus alsEinzelfigur (1874). T. hat auch häufig die Figuren aufGemälden norwegischer Landschaftsmaler (Gude,Morten-Müller u. a.) gemalt. Vgl. L. Dietrichson, A. T. hansLiv og hans Vaerker (Christiania 1878-79, 2 Bde.), und "A. T.utvalgte Vaerker" (das. 1878, 24 Radierungen von L. H.Fischer).

Tiden, s. v. w. Gezeiten, s. Ebbe und Flut.

Tidikelt, Oase in Marokko, s. Tuat.

Tidor, eine zu den nördlichen Molukken gehörigeInsel an der Westküste von Dschilolo, hat etwa 150 qkm imUmfang, mehrere Vulkane, ist fruchtbar und gut angebaut und bildetmit 8000 mohammed. Bewohnern den Mittelpunkt eines von denNiederländern abhängigen Sultanats. Die gleichnamigeHauptstadt ist die Residenz des Sultans.

Tidscharet (arab.), Handel; T.-Naziri, Handelsminister;T.-Mehkemesi, Handelstribunal zur Schlichtung der Handelsprozessezwischen osmanischen und fremden Unterthanen.

Tieck, 1) Johann Ludwig, Dichter der romantischen Schule,geb. 31. Mai 1773 zu Berlin als der Sohn eines Sellermeisters,besuchte seit 1782 das damals unter Gedikes Leitung stehendeFriedrichswerdersche Gymnasium, wo er sich eng an Wackenroderanschloß, studierte darauf in Halle, Göttingen und kurzeZeit in Erlangen Geschichte, Philologie, alte und neue Litteraturund kehrte 1794 nach Berlin zurück, wo er sofort alsSchriftsteller auftrat. Es erschienen seine ersten Erzählungenund Romane: "Peter Lebrecht, eine Geschichte ohneAbenteuerlichkeiten" (Berl. 1795, 2 Bde.), "William Lovell" (das.1795-96, 3 Bde.) und "Abdallah" (das. 1796), worauf er, seinenÜbergang zur eigentlichen Romantik vollziehend, die balddramatisch-satirische, bald schlicht erzählende Bearbeitungalter Volkssagen und Märchen unternahm und unter dem Titel:"Volksmärchen von Peter Lebrecht" (das. 1797, 3 Bde.)veröffentlichte. Nachdem er sich 1798 in Hamburg mit einerTochter des Predigers Alberti verheiratet hatte, verweilte er1799-1800 in Jena, wo er zu den beiden Schlegel, Hardenberg(Novalis), Brentano, Fichte und Schelling in freundschaftlicheBeziehungen trat, auch Goethe und Schiller kennen lernte, nahm 1801mit Fr. v. Schlegel seinen Wohnsitz in Dresden und lebte seit 1803teils in Berlin, teils auf dem gräflich Finkensteinschen GutZiebingen bei Frankfurt a. O., wohin er auch nach der Rückkehrvon einer Reise nach Italien, die er 1805 zum Behuf des Studiumsder im Vatikan aufbewahrten altdeutschen Handschriften unternommenhatte, zurückkehrte. Während dieses Zeitraums warenerschienen: "Prinz Zerbino, oder die Reise nach dem gutenGeschmack" (Jena 1799), "Franz Sternbalds Wanderungen" (Berl.1798), ein die altdeutsche Kunst verherrlichender Roman, an welchemauch sein Freund Wackenroder Anteil hatte, und "RomantischeDichtungen" (Jena 1799-1800, 2 Bde.) mit dem Trauerspiel "Leben undTod der heil. Genoveva" (separat, Berl. 1820) sowie das nach einemalten Volksbuch gearbeitete Lustspiel "Kaiser Octavianus" (Iena1804), Werke, worin sich der Autor rückhaltlos derromantischen Richtung hingegeben hatte. Danebenveröffentlichte er eine übertragung des "Don Quichotte"von Cervantes (Berl. 1799-1804, 4 Bde.), die Übersetzung einerAnzahl dem Shakespeare zugeschriebener, aber zweifelhafterStücke unter dem Titel: "Altenglisches Theater" (das. 1811, 2Bde.), eine Bearbeitung des "Frauendienstes" von Ulrich vonLichtenstein (Tübing. 1812) sowie eine Auswahl dramatischerStücke von Rosenplüt, Hans Sachs, Ayrer, Gryphius undLohenstein ("Deutsches Theater", Berl. 1817, 2 Bde.) und gab unterdem Titel: "Phantasus" (das. 1812-17, 3 Bde.; 2. Ausg., das.1844-45, 3 Bde.) eine Sammlung früherer Märchen undSchauspiele, vermehrt mit neuen Erzählungen und demMärchenschauspiel "Fortunat", heraus, welche die deutscheLesewelt wieder lebhafter für T. interessierte. In der Thatwerden Märchen und Erzählungen wie "Der getreue Eckart","Die Elfen", "Der Pokal", "Der blonde Eckbert" etc. schon ihrerformellen Vorzüge wegen ihren dichterischen Wert lange Zeitbehaupten. Das Kriegsjahr 1813 sah den Dichter in Prag; nach demFrieden unternahm er größere Reisen nach London undParis, hauptsächlich im Interesse eines großenHauptwerks Über Shakespeare, das er leider nie vollendete.1818 verließ er dauernd seine ländliche Einsamkeit undnahm seinen Wohnsitz in Dresden, wo nun die produktivste undwirkungsreichste Periode seines Dichterlebens begann. Trotz desGegensatzes, in welchem sich Tiecks geistige Vornehmheit zurTrivialität der Dresdener Belletristik befand, gelang es ihm,hauptsächlich durch seine fast allabendlich stattfindendendramatischen Vorlesungen, einen Kreis um sich zu sammeln, der seineAnschauungen von der Kunst als maßgebend anerkannte. AlsDramaturg des Hoftheaters gewann er namentlich in den 20er Jahreneine bedeutende Wirksamkeit, die ihm freilich durch Kabalen undLügen der trivialen Gegenpartei mannigfach verleidet wurde.Als Dichter bediente er sich seit der Niederlassung in Dresdenbeinahe ausschließlich der Form der Novelle. Die Gesamtheitseiner "Novellen" (vollständige Sammlung, Berl. 1852-54, 12Bde.) erwies sein großes Erzählertalent. In denvollendetsten gab er wahrhafte Kunstwerke, in denen eine wirklichdichterische Aufgabe mit rein poetischen Mitteln gelöst ward;mit zahlreichen andern bahnte er hingegen jener bedenklichenGesprächsnovellistik den Weg, in welcher das epische Elementganz zurücktritt und die Erzählung nur das Vehikelfür die Darlegung gewisser Meinungen und Bildungsresultatewird. Zu den bedeutendsten der erstern Gattung zählen: "DieGemälde", "Die Reisenden", "Der Alte vom Berge", "DieGesellschaft auf dem Lande", "Die Verlobung", "Musikalische Leidenund Freuden", "Des Lebens Überfluß" u. a. Unter denhistorischen haben "Der griechische Kaiser", "Der Tod des Dichters"und vor allen der großartig angelegte, leider unvollendete"Aufruhr in den Cevennen" Anspruch auf bleibende Bedeutung. Inallen diesen Novellen entzückt nicht nur die einfache Anmutder Darstellungsweise, sondern auch die Man-

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Tiedemann - Tiedge.

nigfaltigkeit lebendiger und typischer Charaktere und derTiefsinn der poetischen Idee. Auch in den prosaischern Novellenzeigte T. seine Meisterschaft des Vortrags. Sein letztesgrößeres Werk: "Vittoria Accorombona" (Bresl. 1840),entstand unter den Einwirkungen der neufranzösischen Romantikund hinterließ trotz der aufgewendeten Farbenpracht einenüberwiegend peinlichen Eindruck. Auch Tiecks sonstigelitterarische Thätigkeit war während der DresdenerPeriode eine sehr ausgebreitete. 1826 übernahm er dieHerausgabe und Vollendung der von A. W. v. Schlegel begonnenenShakespeare-Übertragung und gab die hinterlassenen SchriftenHeinrichs v. Kleist (Berl. 1821) heraus, denen die "GesammeltenWerke" desselben Dichters (das. 1826, 3 Bde.) folgten. "Die InselFelsenburg" (Bresl. 1827), "Lenz' gesammelte Schriften" (Berl.1828) sowie "Shakespeares Vorschule" (Leipz. 1823-29, 2 Bde.) etc.wurden mit Vorreden und Abhandlungen von bleibendem Wert begleitet.Aus seiner dramaturgisch-kritischen Thätigkeit erwuchsen die"Dramaturgischen Blätter (Bresl. 1826, 2 Bde.; Bd. 3, Leipz.1852; vollständige Ausg., Leipz. 1852, 2 Tle.). 1841 wurde T.vom König Friedrich Wilhelm IV. nach Berlin berufen, wo er,durch Kränklichkeit zumeist an das Haus gefesselt und durchden Tod fast aller nähern Angehörigen sehr vereinsamt,ein zwar ehrenvolles und sorgenfreies, aber im ganzen sehrresigniertes Alter verlebte und 28. April 1853 starb. Seine"Kritischen Schriften" erschienen gesammelt in 2 Bänden(Leipz. 1848), "Nachgelassene Schriften" in 2 Bänden (das.1855). "Ausgewählte Werke" Tiecks gab Welti heraus (Stuttg.1886-88, 8 Bde.). Tiecks vielfach widerspruchsvolle Natur kannnicht bloß aus der Zwiespältigkeit seiner Bildung, inwelcher sich der Rationalismus des 18. Jahrh. und die mystischeRomantik fortwährend bekämpften, erklärt werden,sondern ist zumeist auch noch auf das Improvisatorische, vomzufälligen Augenblick Abhängende seiner Begabungzurückzuführen, das ihn selten zu reiner Ausgestaltungseiner geist- und lebensvollen Entwürfe gelangen ließ.Vgl. R. Köpke, Ludwig T. Erinnerungen aus dem Leben etc.(Leipz. 1855, 2 Bde.); H. v. Friesen, Ludwig T., Erinnerungen (Wien1871, 2 Bde.); K. v. Holtei, Briefe an Ludwig T. (Bresl. 1864, 4Bde.); Ad. Stern, Ludwig T. in Dresden (in "Zur Litteratur derGegenwart", Leipz. 1879). - Tiecks Schwester Sophie T., geb. 1775zu Berlin, verheiratete sich 1799 mit Aug. Ferd. Bernhardi (s. d.),von dem sie 1805 wieder geschieden wurde, lebte dann inSüddeutschland und mit ihren Brüdern, dem Dichter und demBildhauer, längere Zeit in Rom, später in Wien,München und Dresden. Im J. 1810 schloß sie eine zweiteEhe mit einem Esthländer, v. Knorring, dem sie in dessenHeimat folgte, und starb dort 1836. Sie hat außer Gedichten,z. B. dem Epos "Flore und Blanchefleur" (hrsg. von A. W. Schlegel,Berl. 1822), auch Schauspiele und einige Romane, wie "Evremont"(hrsg. von Ludw. T., das. 1836), geschrieben.

2) Christian Friedrich, Bildhauer, Bruder des vorigen, geb. 14.Aug. 1776 zu Berlin, hatte hier Schadow, dann in Paris David zumLehrer und ward seit 1801 zu Weimar bei der Ausschmückung desNeuen Schlosses beschäftigt. Unter anderm modellierte erGoethes Büste, die er später auch in Marmor für dieWalhalla ausführte. 1805 ging er mit seinem Bruder Ludwig nachItalien, wo er mehrere treffliche Büsten, wie die Alexandersv. Humboldt, und ein Reliefporträt Neckers für dessenGrabmal in Coppet ausführte. Von 1809 bis 1812 hielt er sichin der Schweiz und in München auf, wo er die Büsten desdamaligen Kronprinzen Ludwig, Schellings, F. Jacobis und L. Tiecksfertigte. In Carrara, wo er dann längere Zeit verweilte,entstanden die Büsten Lessings, Erasmus' von Rotterdam, HugoGrotius', Herders, Bürgers, Wallensteins u. a. 1820 wurde erProfefsor der Akademie zu Berlin, wo er die 1829 in Erz gegossenenGruppen von Rossebändigern für den Überbau desköniglichen Museums, Niobe und ihre Kinder, ein Relief lmGiebelfeld des Schauspielhauses, Ifflands Statue im Schauspielhaus,das Standbild König Friedrich Wilhelms II. für Neuruppin,eine Statue Schinkels für die Vorhalle des Museums undzahlreiche durch sorgfältige Durchführung ausgezeichneteBüsten schuf (darunter eine dritte Goethebüste 1820gleichzeitig mit Rauch). T. starb 14. Mai 1851 in Berlin.

Tiedemann, 1) Dietrich, philosoph. Schriftsteller, geb. 3. April1748 zu Bremervörde bei Bremen, 1776 Lehrer am Carolinum zuKassel, 1786 Professor der Philosophie an der UniversitätMarburg, wo er 24. Sept. 1803 starb. Er war ein Gegner derKantschen Philosophie und schrieb unter anderm ein "System derstoischen Philosophie" (Leipz. 1776, 3 Bde.) und in skeptischerHaltung eine Geschichte der Philosophie unter dem Titel: "Geist derspekulativen Philosophie" (Marb. 1791-96, 6 Bde,).

2) Friedrich, Mediziner, geb. 23. Aug. 1781 zu Kassel, studierteseit 1798 in Marburg, Würzburg und Paris und ward 1806Professor der Anatomie und Zoologie zu Landshut. Seine "Anatomiedes Fischherzens" (Landsh. 1809) und seine Untersuchung des Bauesder Strahltiere gehörten wie die "Anatomie der kopflosenMißgeburten" (das. 1813) und die "Anatomie derBildungsgeschichte des Gehirns" (Nürnb. 1816) zu denbedeutendsten Leistungen jener Zeit. 1816 ging T. als Professor derAnatomie und Physiologie nach Heidelberg, wo er eine anatomischeund zoologische Sammlung anlegte. 1849 zog er sich vom Lehramtzurück und lebte dann in Frankfurt und München, wo er 22.Jan. 1861 starb. Er schrieb noch. "Zoologie" (Landsh. u. Heidelb.1808-14, 3 Bde.); "Die Verdauung nach Versuchen" (gemeinschaftlichmit Gmelin, Heidelb. 1826-27, 2 Bde.); "Physiologie des Menschen"(Bd. 1 und 3, Darmst. 1830 und 1836); "Das Hirn des Negers, mit demdes Europäers verglichen" (Heidelb. 1837); "Von denDuverneyschen und Bartholinischen Drüsen des Weibes" (das.1840) ; "Von der Verengung und Schließung der Pulsadern inKrankheiten" (das. 1843); "Von lebenden Würmern und Insektenin den Geruchsorganen des Menschen" (Mannh. 1844); "Geschichte desTabaks" (Frankf. 1854). Mit Reinhold und Treviranus gab er die"Zeitschrift für Physiologie" heraus, von welcher 5 Bände(Darmst. 1825-32) erschienen sind. Vgl. Bischoff,Gedächtnisrede (Münch. 1861).

Tiedge, Christoph August, Dichter, geb. 14. Dez. 1752 zuGardelegen, übernahm 1776 eine Hauslehrerstelle zu Ellrich inder Grafschaft Hohenstein, trat von dort aus in Verkehr mitGöckingk, Gleim, der Gräfin Elisa von der Recke u. a.,ging 1782, von Gleim aufgefordert, nach Halberstadt, wo er 1792Sekretär des Domherrn v. Stedern wurde und dessen Töchterunterrichtete, und zog nach Stederns Tod mit dessen Familie in dieNähe von Quedlinburg. Nach dem Tode der Frau v. Stedern lebteer abwechselnd auf Reisen, in Halle und Berlin, begleitete1805-1808 Frau von der Recke durch Deutschland, die Schweiz undItalien und blieb dann bei derselben als Gesellschafter und zwarseit 1819 in Dresden.

695

Tiedm. - Tiefenmessung von Gewässern.

Hier starb er 8. März 1841. Tiedges Dichterruf wurdebegründet durch das Lehrgedicht "Urania" (Halle 1800, 18.Aufl. 1862), welches auf Kantscher und rationalistischer Grundlageden Unsterblichkeitsglauben mit allem Feuer und allerTrivialität einer durchaus wohlmeinenden, abermittelmäßigen Natur in leichtflüssigen Versenvortrug und daher von der Masse der Halbgebildeten mit Enthusiasmusaufgenommen ward. Unter seinen sonstigen Poesien haben die "Elegienund vermischten Gedichte" (Halle 1803) am meisten Erfolg gehabt.Tiedges "Werke" gab A. G. Eberhardt heraus (4. Aufl., Leipz. 1841,10 Bde.). Vgl. Falkenstein, Tiedges Leben und poetischerNachlaß (Leipz. 1841, 4 Bde.); Eberhardt, Blicke in Tiedgesund Elisas Leben (Berl. 1844). Zu Ehren Tiedges erhielt eine derUnterstützung von Dichtern und Künstlern gewidmeteStiftung in Dresden den Namen Tiedge-Stiftung (1842 gegründet,Vermögen Ende 1888: 657,000 Mk.).

Tiedm., bei naturwissenschaftl. Namen Abkürzungfür Friedr. Tiedemann (s. d. 2).

Tiefbau, Gesamtbezeichnung für die Anlage undUnterhaltung der Schleusen, Wasser- und Gasleitungen, Straßenetc. im Gegensatz zum Hochbau (s.d.); im Bergbau Abbau mit Hilfekünstlicher Wasserhaltung; sonst jeder unter dem Stollengetriebene oder ein in der größten Tiefe unter demStollen stehender Bau.

Tiefbohrungen, von der preußischen Regierung seitetwa 25 Jahren unternommene Erdbohrungen zu wissenschaftlichen undtechnischen Zwecken. Die T. haben zur Kenntnis derjenigengeologischen Bildungen geführt, welche die Grundlage der zuTage tretenden oder durch Straßen- und Bergbau erschlossenenFormationen bilden, sie haben über das Vorkommen und dieVerbreitung abbauwürdiger Mineralien Aufschluß gegebenund manche Thatsachen, welche für die Physik der Erde vonWichtigkeit sind, geliefert. Während noch vor 30 Jahren das548 m tiefe Bohrloch von Grenelle bei Paris und das 671 m tiefe beiLuxemburg niedergebrachte als die tiefsten galten, wurden dieselbenbald übertroffen durch das Bohrloch von Neusalzwerk(Öynhausen), welches 696 m in das Erdinnere drang. Die vompreußischen Bergfiskus ausgeführten Bohrlöchererreichten aber doppelt so große Tiefen, und das tiefsteBohrloch der Erde wurde bei Schladebach (Provinz Sachsen, unweitKötschau) niedergestoßen. Es erreichte in 6 Jahren eineTiefe von 1748,4 m, beginnt mit 280 mm Weite in Dammerde und endetmit 31 mm Weite im Oberdevon. Die Kosten für diese Bohrarbeitbeziffern sich auf 210,000 Mk., wovon allein 100,000 Mk. aufverbrauchte Diamanten zu rechnen sind.

Tiefenfurth, Dorf im preuß. RegierungsbezirkLiegnitz, Kreis Bunzlau, hat eine evang. Kirche, Fabrikation vonSchlesischem Porzellan und Steingut und (1885) 882 Einw.

Tiefenhafen, Hafenort, s. Dagö.

Tiefenmessung von Gewässern (Bathometrie) wird beigeringer Tiefe mit dem Peilstab, bei größerer mit demTiefenlot ausgeführt. Während die Alten sich hinsichtlichdes Meers mit Schätzungen von dessen Tiefe begnügten undannahmen, daß die größten Meerestiefen denhöchsten Erhebungen der Gebirge entsprechen, fing man imMittelalter an, geringere Tiefen mit der Sonde oder dem Senkblei zumessen. Die Lotleinen der Entdecker sollen nur 400 m Längebesessen haben, 1818 aber erreichte John Roß in derBaffinsbai mit einer Tiefseezange von 6 Ztr. Gewicht denMeeresboden bei 1970 m. In eine neue Phase trat die T. mit denunterseeischen Telegraphenkabeln, für welche es vongroßem praktischen Interesse war, die Tiefen der betreffendenMeeresteile kennen zu lernen. Die großartigstenUnternehmungen dieser Art wurden von der nordamerikanischen,besonders aber von der englischen Marine (Lightning-, Porcupine-,Challenger-Expedition) ins Werk gesetzt, denen sich die deutscheGazelle und die nordamerikanische Tuscarora anschlossen. DieMessung größerer Tiefen erfordert besondere Apparate.Für 200-300 m genügt ein gewöhnliches Handlot, bisetwa 2000 m ein Lot von 70-80 kg, welches mittels eines 25 mmdicken Taues herabgelassen u. wieder aufgewunden wird. Fürgrößere Tiefen versagen diese Apparate, es ist nichtmehr möglich, den Moment zu bestimmen, in welchem das Lot denMeeresboden erreicht, und indem das Tau noch beständigabrollt, gelangt man zu ganz abenteuerlichen Resultaten.Größere Sicherheit gewährte zuerst BrookesBathometer (Fig.1), dessen sich Maury bediente. Dasselbe bestehtaus einer durchbohrten Kanonenkugel A, durch welche ein Stab B mitzwei beweglichen Armen C an seinem obern Ende gesteckt ist. DieArme sind, wenn das Instrument hängt, nach oben gerichtet undso mit der Leine a verbunden. An zwei Haken dieser Arme hängtein Band b, welches um die Kugel herumgeht und sie trägt.Stößt der Stab nun auf den Meeresboden, so klappen diebeweglichen Arme zurück, und infolgedessen gleitet das Bandvon den Haken, und die Kugel löst sich los. Der Stabenthält eine kleine mit Talg ausgeschmierte Höhlung undbringt daher beim Heraufziehen Grundproben mit. Zur Erlangunggrößerer Grundproben besitzt der Bulldogapparat ein auszwei klaffenden und beim Aufziehen zusammenklappenden Halbkugelngebildetes Maul; bei Fitzgeralds Apparat schaufelt ein durch eineKlappe sich verschließendes Kästchen die Bodenprobe auf,und bei dem Hydrobathometer besitzt der Stab, auf welchen dasdurchbohrte und später sich ablösende Gewicht geschobenwird, vier durch Ventile sich öffnende und schließendeKammern. Es sind auch Bathometer konstruiert worden, welche dieerreichte Tiefe selbstthätig registrieren, das von Masseyangegebene enthält z. B. ein Schaufelrad, welches beim Sinkendes Instruments in Rotation gerät und dabei auf eingewöhnliches Zählwerk wirkt. Eine sehr wesentlicheVerbesserung der Bathometer rührt von Thomson her,nämlich die Anwendung eines dünnen Stahldrahts an Stelleder bisher gebräuchlichen dickern Leine, welcher im Wassereine geringere Reibung erleidet und deshalb schneller und sichererfungiert. In neuerer Zeit hat man sich aber bemüht, dieLotleine ganz zu vermeiden, was auch in vielen Fällenvortrefflich gelungen ist. Rousset hat ein Bathometer konstruiert(Fig. 2, S. 696), welches aus einer weiten, starkwandigenRöhre besteht, in der sich ein Uhrwerk befindet zurRegistrierung der Anzahl Um-

Fig. 1. Brookes Bathometer.

696

Tieffenbrucker - Tiefsinn.

drehungen einer unter dem Apparat befindlichenmehrflügeligen Schraube. Ein großer Schwimmer am obernEnde des Rohrs treibt den Apparat im Wasser aufwärts, nachdemdurch Aufstoßen auf dem Grund ein Ballastgewicht abgefallenund damit zugleich die vorher arretierte Schraube ausgelöstist. Durch die angegebene Anzahl der Umdrehungen dieser Schraubebeim Aufwärtssteigen wird dann der zurückgelegte Wegbestimmt. Auf ganz andern Prinzipien beruhen das SiemensscheBathometer u. die Lote von Hopfgartner-Arzberger und von WilliamThomson. Siemens ging von dem Satz aus, daß die gesamteGravitation der Erde, wie sie auf ihrer normalen Oberflächegemessen wird, aus den einzelnen Anziehungen aller ihrer Teile sichzusammensetzt, und daß die Anziehung eines jeden gleichenVolumens sich direkt mit der Dichtigkeit und umgekehrt wie dasQuadrat seiner Entfernung vom gemessenen Punkt ändert. Da nundie Dichtigkeit des Seewassers von der des Gesteins bedeutendabweicht, so folgt, daß eine bestimmte Tiefe des Meerwasserseinen merklichen Einfluß auf die Gesamtgravitation habenwird, die an der Oberfläche des Meers gemessen wird. Dashierauf gegründete Bathometer besteht im wesentlichen auseiner senkrechten Quecksilbersäule in einer Stahlröhre,die an beiden Enden tellerartig erweitert ist. Die untereErweiterung schließt mit einem wellig gebogenen dünnenStahlblech, und das Gewicht des Quecksilbers wird balanciert durchdie Elastizität von zwei Spiralfedern, welche auf denMittelpunkt des Bleches aufsetzen und so lang sind wie dieQuecksilbersäule. Das Instrument ist so aufgehängt,daß es stets in vertikaler Lage verharrt. Die Ablesungerfolgt durch einen elektrischen Kontakt, der zwischen dem Endeeiner Mikrometerschraube und dem Mittelpunkt der elastischenScheibe angebracht ist. Mit der Anziehungskraft ändert sichdas Gewicht des Quecksilbers, und die Schwankungen des Instrumentssind so bemessen, daß die durch einen Faden Tiefehervorgebrachte Verminderung der Schwere je einem Grade der Skalaentspricht. Vgl. Siemens, Der Bathometer (Berl. 1877). DasBathometer von Hopfgartner (Fig. 3) lehrt die Meerestiefe findendurch den Druck, den die ganze über ihm ruhendeWassersäule auf Metalldosen ausübt, welcher durchVerschiebung eines Index registriert wird. In dem untern Bügeleines starken Messingrahmens R befindet sich ein Schrauben-gewinde, in welches ein Zapfen Z paßt, der in beliebigerStellung durch eine Kontermutter M festgeklemmt werden kann. Aufdiesem Zapfen befinden sich übereinander drei luftdichtverlötete Metalldosen D, welche unter sich durch massiveVerbindungsstücke V vereinigt sind. Die oberste dieser Dosenträgt einen doppelten Arm A, welcher sich oben ringförmigum einen graduierten Cylinder C schließt, der an dem obernBügel des Rahmens R festsitzt und zwar so, daß dieUmgreifung des Arms um den Cylinder C auf allen Seiten etwasSpielraum hat. An demselben Cylinder ist innerhalb desfensterförmigen Armes A ein Nonius mit großer Reibungverschiebbar, der vor Benutzung des Apparats auf Null einzustellenist. Darauf muß man den obern Teil des Armes A mit der obernKante des Nonius genau in Kontakt bringen. Wird nun der Apparat indas Wasser versenkt, so übt dasselbe einen mit zunehmenderTiefe wachsenden Druck auf die Dosen aus, diese werdenzusammengepreßt und um so mehr, je tiefer der Apparateintaucht; dadurch aber bewegen sie den Arm A und mit ihm denNonius nach unten, der an seiner tiefsten Stelle stehen bleibt,wenn der Druck wieder nachläßt. Man kann also aus demzurückgelegten Weg des Nonius den belastenden Wasserdruck undaus diesem die Höhe der Wassersäule ermitteln.Selbstredend ist dieser Mechanismus durch Umgebung mit einemstarken Metallcylinder vor dem leichten Zerbrechen geschützt.Bei Thomsons Apparat hat die Lotleine (Stahldraht) nur den Zweck,das Bathometer ins Meer herabzulassen und wieder heraufzuholen;gemessen wird mit der Leine nicht. Der Lotkörper, nahezu 1 mlang und 11 kg schwer, ist ein unten offenes Metallrohr, in welchesein Glasrohr eingeschoben ist, dessen innere Wandung mitchromsaurem Silber belegt ist. Mit zunehmender Tiefe wird dasSeewasser mehr und mehr im Innern des Rohrs aussteigen und dadurchdie rote Farbe in eine gelblichweiße verwandeln. Aus derHöhe dieses andersfarbigen Streifens kann man empirisch diegelotete Tiefe bestimmen. Ist indes das Seewasser wenig salzig, wiez. B. das der Ostsee, so wird die Bestimmung der Höhe diesesStreifens unsicher, und man läßt dann durch denerhöhten Wasserdruck eine Lösung von Eisenvitriol in diemit rotem Blutlaugensalz an den Innenwänden bestricheneGlasröhre eintreten, welche durch Bildung von Berliner Blauanzeigt, wie weit die Lösung in der Röhre gestiegen ist.Bei Tiefen von mehr als 500 m werden die Angaben dieses Apparatssehr unsicher.

Tieffenbrucker (Duiffopruggar), Kaspar, der ältestebekannte Verfertiger von Violinen, der daher für den Erfinderder Violine angesehen wird, stammte aus Tirol und ließ sich1510 in Bologna nieder. Nach Wasielewski existieren einigeunzweifelhaft echte Violinen von T. aus den Jahren 1511-19. AufEinladung Franz' I. von Frankreich ging T. 1515 nach Paris,später siedelte er nach Lyon über, wo er gestorbenist.

Tiefländer, s. Niederungen.

Tieflot, s. Senkblei.

Tiefsinn, im Gegensatz zum Witz (s. d.) als derFähigkeit, verborgene Ähnlichkeiten zwischenVerschiedenem, und dem Scharfsinn (s. d.) als der Fähigkeit,verborgene Verschiedenheiten des Ähnlichen zu entdecken, dieGabe, die tiefliegende innere Zusammengehörigkeit scheinbarweit voneinander getrennter und einander fern stehender Gedanken zuergründen, daher er vor allem der Vernunft, wie der Witz derPhantasie und der Scharfsinn dem Verstand beigelegt wird. - Auch s.v. w. Melancholie (s. d.).

[Fig. 2. Roussets Bathometer.]

[Fig. 3 Hopfgartners Bathometer.]

697

Tiefstes - Tier.

Tiefstes, der tiefste Teil eines Grubenbaues.

Tiefurt, Dorf im Großherzogtum Sachsen-Weimar, ander Ilm, 3 km östlich von Weimar, hat eine evang. Kirche, einLustschloß (einst Landsitz der Herzogin Anna Amalia) und 400Einw.

Tiege, Hauptabfluß des großen MarienburgerWerders (zwischen Weichsel und Nogat), entsteht aus zweiFlüssen mit Namen Schwente, die unterhalb Neuteichzusammenfließen und schiffbar werden. Unterhalb Tiegenhofgeht der 7 km lange Weichsel-Haffkanal in die T. und in ihrem Bettbis zur Mündung ins Frische Haff; schiffbare Strecke der T. 22km.

Tiegel, s. Schmelztiegel.

Tiegeldruckpresse findet in der Buchdruckerei in neuerer Zeitviel Verwendung zum Drucken von Accidenzarbeiten. DieKonstruktion derselben beruht im Prinzip auf der derFlachdruckmaschinen (s. Schnellpresse, S. 582).

Tiegelofen, s. Gießerei.

Tiegenhof, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Danzig,Kreis Marienburg, am Eintritt des Weichselhaffkanals in dieschiffbare Tiege und an der Linie Simonsdorf-T. derPreußischen Staatsbahn, 2 m ü. M., hat eine evangelischeund eine kath. Kirche, ein Amtsgericht, eine Zuckerfabrik,Bierbrauerei, Gerberei, Dampfmahl- und Sägemühle,Holzhandel, Schiffahrt und (1885) 2749 Einw.

Tiel, Stadt in der niederländ. Provinz Gelderland,an der Waal, in der sogen. Betuwe, an der EisenbahnElst-Geldermalsen, Sitz eines Bezirksgerichts, hat 2 reformierte,eine lutherische und eine römisch-kath. Kirche, ein Gymnasium,eine höhere Bürgerschule, Fabrikation von Garancin undKrapp, Essig etc., Schiffahrt, noch immer beträchtlichenHandel und (1887) 9341 Einw. T. ist Sitz eines deutschenKonsuls.

Tienschan, Gebirge, s. Thianschan.

Tientje, s. Wilhelmdor.

Tiëntsin, Traktatshafen in der chines. ProvinzPetschili, am Ausfluß des Großen Kanals in den Peiho,45 km vom Meer gelegen, mit 950,000 Einw., gilt als EingangsthorPekings von der Seeseite, ist Sitz verschiedener Konsuln (darunterauch eines deutschen Berufskonsuls), Standort eines vonEuropäern geschulten chinesischen Armeekorps und nichtbloß für den westeuropäischen Handel (der Wert derEin- und Ausfuhr betrug 1887: 7,652,000 Taels), sonderninsbesondere auch für den russisch-chinesischen Landhandel derwichtigste Stapelplatz. Die Zahl der im Hafen von T. 1888 ein- undausgegangenen Schiffe belief sich auf 1140 mit 864,098 Ton. DieHandelsniederlassung der Europäer liegt am Nordufer des Peiho,3 km von der chinesischen Stadt, und enthält großartigeWarenmagazine und schöne Wohnhäuser. Die an derPeihomündung liegenden Takuforts wurden 23. Mai 1858 undwieder 21. Aug. 1860 von den Franzosen und Engländern erobert,worauf die Einnahme von Peking und 24. und 25. Okt. dieBestätigung der Verträge von T. vom 26. und 27. Juni 1858(s. China, S. 20) erfolgte. Seither wurden neue Forts errichtet,ältere umgebaut, ein ausgedehntes befestigtes Lager angelegt,Kruppsche Riesenkanonen aufgestellt, zwei Minensperren vorbereitetund bei T. eine Torpedoflottille stationiert, so daß diefranzösische Flotte 1885 einen Angriff auf T. nicht wagte,sich vielmehr auf die Blockierung der Peihomündungbeschränkte. Hier wurde auch 9. Juni 1885 der Friedeunterzeichnet, wodurch China seine Rechte auf Tongking anFrankreich abtrat.

Tiepolo, Giovanni Battista, italien. Maler, geb. 5.März 1692 (oder 1693) zu Venedig, Schüler von Greg.Lazzarini, bildete sich dann nach Piazzetta, zumeist aber nach P.Veronese, welcher vornehmlich das Vorbild für seinezahlreichen Wand- und Deckengemälde in Fresko wurde. Nachdemer in der Ausschmückung von Kirchen und Palästen inVenedig und auf dem benachbarten Festland eine umfangreicheThätigkeit entfaltet, wurde er 1750 nach Würzburgberufen, wo er während dreier Jahre das erzbischöflicheSchloß (im Treppenhaus der Olymp und die vier Weltteile undim Kaisersaal das Leben Friedrich Barbarossas) mit großenFresken schmückte. 1760 oder 1761 begab er sich an denköniglichen Hof von Spanien, und auch hier entwickelte er eineäußerst fruchtbare Thätigkeit. Er starb 27.März 1769 (oder 1770) in Madrid. T. war der letzteGroßmeister der venezianischen Malerei; seine Gewandtheit imMalen war erstaunlich, die Farbe hell und glänzend, die Formmannigfaltig, aber inkorrekt. Sein Vorbild P. Veronese erreichte eran Tiefe und Durchbildung nicht. Von monumentalen MalereienTiepolos sind außer den genannten das Deckenbild in derKirche der Scalzi (Überführung der Santa Casa nachLoreto), die Geschichte des Antonius und der Kleopatra im PalastLabia, seine glänzendste Schöpfung, die Darstellungen ausdem Alten Testament im erzbischöflichen Palast zu Udine unddie Fresken im Madrider Schloß die bedeutendsten. SeineÖlgemälde zeichnen sich durch geistvolle Charakteristikund ein prächtiges, fein zusammengestimmtes Kolorit aus. Nichtminder geistvoll sind seine Radierungen. Auch seine SöhneLorenzo und Domenico (letzterer der Gehilfe des Vaters bei dessendekorativen Malereien) sind zumeist als geschickte Radiererbekannt. Vgl. Molmenti, Il Carpaccio e il T. (Turin 1885).

Tier, ein meist frei und willkürlich beweglicher,mit Empfindung begabter Organismus, der organischer Nahrung bedarf,Sauerstoff einatmet, unter dem Einfluß derOxydationsvorgänge im Stoffwechsel Spannkräfte inlebendige Kräfte umsetzt und Kohlensäure nebststickstoffhaltigen Zersetzungsprodukten ausscheidet. Währendzwischen leblosen und belebten Körpern (Organismen) einescharfe Grenze leicht zu ziehen ist, während fernerhöhere Tiere und Pflanzen (z. B. Löwe und Eichbaum) alssolche sofort erkannt werden, zeigen die einfachsten OrganismenEigenschaften, die eine sichere Entscheidung über dieZugehörigkeit unmöglich machen und daher auch wohl zurAufstellung eines Zwischenreichs der Protozoen (s. d.) oderProtisten geführt haben. Alle irgendwie zweifelhafte Formensind hiernach ausgeschlossen, und mit dieser Einschränkung istdie oben gegebene Erklärung des Wortes T. haltbar. Sie trifftauch auf den Menschen zu, den als echtes T. zu bezeichnen erst dieletzten Jahrzehnte angefangen haben. Jedes für sich eineabgeschlossene Einheit darstellende T. bezeichnet man alsIndividuum, hat aber deren von verschiedener Ordnung. So sind beimanchen niedern Tieren, z. B. den Korallen, eine Anzahl vonEinzeltieren (Personen genannt) zu einem sogen. Stock (Kolonie)vereinigt, ähnlich wie an einem Baum die Zweige. Ein solcherTierstock ist ein Individuum höherer Ordnung. Bei jeder"Person" unterscheidet man als niedere Individuen die Organe, d. h.Körperteile, die zwar bis zu einem gewissen Gradselbständig sind, aber bestimmte Leistungen für denGesamtorganismus zu verrichten haben. Die Organe finden sich ineinfacher oder mehrfacher Anzahl vor (z. B. jede "Person" hat nureinen Darm, kann aber viele Beine besitzen) und

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Tier (Physiologisches).

zeigen im letztern Fall eine bestimmte Anordnung, je nachdem dasT. strahlig, zweiseitig oder gegliedert ist. Im Körper derhöhern Tiere liegen nämlich die mehrfach vorhandenenOrgane in der Regel so, daß man nur durch EinenLängsschnitt zwei einander gleiche Hälften, die rechteund linke, gewinnen kann, während jeder andreLängsschnitt (also z. B. der, welcher Bauch- undRückenteil sondern würde) ungleiche Teile ergibt. Einsolches zweiseitiges (bilateralsymmetrisches) T. besitzt also nurzwei gleiche (genauer: spiegelbildlich gleiche) Teile(Gegenstücke, Antimeren); ein strahlig gebautes, wie diemeisten Quallen etc., hat dagegen einen solchen Bau, daß mandurch mehrere Schnittebenen je zwei gleiche Teile gewinnen kann,und zerfällt so in mehrere Antimeren. Ist ein T. gegliedert(segmentiert), so wiederholen sich die Organe in der queren, d. h.der auf die Längsachse senkrechten, Richtung derart, daßman durch bestimmte Querschnitte eine Anzahl völlig oderannähernd gleicher Stücke (Folgestücke, Metameren)erhalten kann. So besteht z. B. ein Bandwurm oder ein Regenwurmsowohl aus zwei Antimeren als aus vielen unter sich gleichen(hom*onomen) Metameren, ein Insekt ebenfalls aus zwei Antimeren,aber nur wenigen, noch dazu ungleichen (heteronomen) Metameren;letztere sind entweder auch äußerlich als Segmente(Ringe, Glieder) erkennbar oder treten nur im innern Bau hervor.Man unterscheidet dann meist, aber durchaus nicht immer, einen ausverschmolzenen Segmenten bestehenden Kopf, eine Brust (Thorax,deutlich gegliedert bei Insekten, äußerlich nichtgegliedert bei Wirbeltieren) und einen Hinterleib (Abdomen; bei denSpinnen z. B. während des Eilebens noch deutlich gegliedert,später scheinbar einfach), faßt jedoch die genanntendrei Teile als Stamm im Gegensatz zu den Gliedmaßen (s.unten) zusammen.

Individuen von noch niederer Ordnung als die Organe sind dieZellen, d. h. die einfachsten Einheiten, aus denen derKörper der Tiere (und auch der Pflanzen; die Protisten sindfast alle einzellig) sich aufbaut. Jedes T., auch dasgrößte und komplizierteste, geht aus Einer Zelle, demEi, hervor; letzteres teilt sich im Lauf der Entwickelung in eineAnzahl Zellen, die eine Zeitlang noch gleichartig sein können,bald jedoch ungleich werden (sich differenzieren) und in derverschiedensten Weise zu Geweben zusammentreten (vgl. Zelle,Gewebe, Keimblätter), aus denen wiederum die Organe sichgestalten. Bis zu einem gewissen Grad führen die Zellen nochein selbständiges Leben, sind jedoch, je höher ein T.steht, um so abhängiger von ihren Nachbarn; für denGesamtorganismus haben sie, obwohl in andrer Weise als die Organe,gewisse Leistungen (Funktionen) zu verrichten. Man vergleicht so inpassender Weise das T. mit einem Staat, in welchem die einzelnenBürger durch die Zellen dargestellt sind, während alsOrgane bestimmte Gruppen von Bürgern (Handwerker, Soldatenetc.) bestimmte Funktionen auszuüben haben und ihreverschiedene Verteilung in den Städten und auf dem Landeinigermaßen die Gewebebildung veranschaulicht. Die einzelnenOrgane und Funktionen beim T. lassen sich in zwei Hauptgruppenvereinigen: sogen. pflanzliche (vegetative) und tierische(animale); erstere beziehen sich auf Ernährung und Erhaltungdes Körpers, letztere auf Empfindung und Bewegung.

Bei vielen niedern Tieren besteht der ganze Körper nuraus zwei Zellschichten, einer äußern, derHautschicht (Ektoderm), und einer innern, der Darmwandung(Entoderm). Von letzterer wird ein zur Nahrungsaufnahme undVerdauung dienender Hohlraum, der Magen oder die Darmhöhle,umschlossen, welche durch nur eine Öffnung, den Mund, mit derAußenwelt in Verbindung zu stehen braucht. Auch bei sehrvielen höhern Tieren tritt während der Entwickelung im Eiein Stadium auf, in welchem der ganze Embryo nur diese einfacheForm besitzt (sogen. Gastrula). Zwischen den beiden genanntenSchichten bildet sich jedoch bei weitaus den meisten Tieren einedritte Schicht, das Zwischengewebe (Mesoderm), aus und liefertsowohl die verschiedenen Formen des Skeletts (Bindegewebe, Knorpel,Knochen) als auch die Muskeln u. a. m. Ein innerhalb dieser Schichtauftretender Hohlraum, die Leibeshöhle, veranlaßt,daß ihr äußerer Teil als sogen. Hautfaserschichtin nähere Beziehung zur Haut tritt, während der innereals sogen. Darmfaserschicht sich dem Darm eng anlegt. DieLeibeshöhle ist mit Flüssigkeit (Blut) gefüllt undenthält meist besondere, darin schwimmende Zellen, dieBlutkörperchen, welche gleichfalls vom Mesoderm abstammen. Dieeinzelnen Organe nun verteilen sich auf die genannten Schichten infolgender Weise.

Die vegetativen Organe umfassen im weitesten Sinn dieVorgänge der Ernährung; die durch den Mundaufgenommenen Nahrungsstoffe werden verdaut, und die durch diesenProzeß gebildeten löslichen Stoffe werden zu einerernährenden, den Körper durchdringenden Flüssigkeit,welche in mehr oder minder bestimmten Bahnen zu sämtlichenOrganen gelangt und an dieselben Bestandteile abgibt, aber auch vonihnen die unbrauchbar gewordenen Zersetzungsstoffe aufnimmt und biszu ihrer Unschädlichmachung (s. unten) weiterführt. Dieungelösten Nahrungsbestandteile werden durch den Mund odermeist durch eine besondere Öffnung, den After,ausgestoßen. Gewöhnlich zerfällt dann dieVerdauungshöhle, auch Darmkanal genannt, in drei Abschnitte:Vorder- oder Munddarm (Speiseröhre), Mittel- oder Magendarm(Magen) und Hinter- oder Afterdarm (Darm im engern Sinn). Vondiesen Abschnitten gehört nur der mittlere zum Entoderm,während Vorder - und Hinterdarm Einstülpungen derHautschicht sind und bei manchen Tieren sich auch deräußern Haut gleich verhalten. Bei einigen niedern Tierenhat jedoch der Magen keine selbständige Wandung, vielmehr wirddie Nahrung aus der Speiseröhre in das weicheKörperinnere gedrückt und dort verdaut; bei denhöhern Tieren gestaltet sich dagegen der Verdauungsapparatsehr kompliziert, indem Kauorgane (Kiefer mit Zähnen oder alsAbschnitt der Speiseröhre ein besonderer Kaumagen) sowieDrüsen zur Absonderung verdauender Säfte(Speicheldrüsen, Leber) entstehen. Je nachdem übrigensdie Nahrung rein pflanzlicher oder rein tierischer oder gemischterNatur ist, unterscheidet man Herbivoren (Phytophagen), Karnivoren(Zoophagen) und Omnivoren (Pantophagen). Die von der Darmwandungaus den Speisen aufgenommene Ernährungsflüssigkeit trittnur durch sie hindurch in die Leibeshöhle und erfüllt alsBlut (oft schon mit zelligen Elementen, den Blutkörperchen)die Lücken und Gänge zwischen den verschiedenen Organenund Geweben. Auf einer weitern Stufe umkleiden sich Abschnitte derBlutbahn mit einer besondern Muskelwandung und unterhalten alspulsierende Herzen eine rhythmische und regelmäßigeStrömung des Bluts. Von dem Herzen, als dem Zentralorgan desBlutkreislaufs, aus entwickeln sich dann bestimmt umgrenzteKanäle zu Blutgefäßen, welche bei den Wirbellosenmeist noch mit wandungslosen Lücken wech-

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Tier (Entwickelungsgeschichtliches, geographischeVerbreitung).

seln, bei den Wirbeltieren aber als abgeschlossenesGefäßsystem die Leibesräume durchsetzen. In diesemSystem unterscheidet man vom Herzen abführende Arterien undzum Herzen zurückführende Venen, zu welchen noch dasSystem von Chylus- oder Lymphgefäßen hinzutritt. Allegenannten Organe gehören dem Mesoderm an. Die Atmung, welcheim wesentlichen in der Aufnahme von Sauerstoff und der Abgabe vonKohlensäure durch das Blut besteht, wird im einfachsten Falldurch die gesamte äußere Körperbedeckungausgeführt; auch können innere Flächen, besondersdiejenige des Darmkanals, bei diesem Gasaustausch beteiligt sein.Weiterhin aber treten, und zwar als Teile der Haut- oder derDarmschicht, besondere Atmungsorgane auf, bei der Wasseratmungäußere, möglichst flächenhaft entwickelteAnhänge (Kiemen), bei der Luftatmung Lungen oderLuftröhren (Tracheen). Die Intensität der Atmung steht ingeradem Verhältnis zur Energie des Stoffwechsels. Tiere mitgeringer Sauerstoffaufnahme (Kiemenatmung) verbrennen nur geringeMengen organischer Substanz, setzen nur ein kleines Quantum vonSpannkräften in lebendige Kraft um und produzieren wenigWärme, so daß die Temperatur ihres Körpers von derder Umgebung abhängig bleibt. Dies gilt auch für kleineluftatmende Tiere, welche, wie Insekten, eine bedeutendewärmeausstrahlende Oberfläche besitzen (Kaltblüter).Die höhern Tiere mit energischem Stoffwechsel produzierendagegen viel Wärme, sind durch ihre Körperbedeckung vorrascher Ausstrahlung derselben geschützt und erhalten sicheinen Teil der erzeugten Wärme unabhängig von derTemperatur des umgebenden Mediums als konstante Eigenwärme(Warmblüter). Die von den Atmungsorganen ausgestoßeneKohlensäure zählt zu den Auswurfstoffen des Organismus;andre derartige schädliche Stoffe werden durch besondereExkretionsorgane abgeschieden, von denen die Nieren u.nierenähnlichen Bildungen die wichtigsten sind.

Unter den animalen Verrichtungen fällt zunächst ammeisten die Ortsbewegung in die Augen. Manche Protozoen gelangenohne besondere Organe lediglich durch Zusammenziehung undAusdehnung ihres ganzen Körpers von der Stelle, andre sind mitWimpern, d. h. feinen, hin und her schlagenden Härchen,besetzt und bedienen sich nur dieser als Bewegungsorgane. Wo beiden eigentlichen Tieren Muskeln, d. h. kontraktile Gewebsteile,vorhanden sind, legen sich diese im einfachsten Fall dicht unterdie Haut und bilden mit ihr einen sogen. Hautmuskelschlauch, dessenabwechselnde Verkürzung und Verlängerung den Körperweiterschiebt. Wenn ferner vom Körper ungegliederte odergegliederte Anhänge (Gliedmaßen) ausgehen, so zweigensich besondere Muskeln zu diesen hin ab und befestigen sichentweder an deren Haut oder an ein inneres, dem Mesodermangehöriges und mehr oder minder starres Skelett. Derursprünglich rings geschlossene Hautmuskelschlauch reduziertsich alsdann zuweilen so sehr, daß er für die Bewegungkaum noch in Betracht kommt. Die Gliedmaßen selber sindzuweilen ungegliederte, meist jedoch gegliederte, d. h. inbewegliche Abschnitte zerfallende, Anhänge des Kopfes oderRumpfes. Je nach Bau und Thätigkeit werden sie als Fühler(Antennen), Kieser (Kauwerkzeuge), Geh- und Schwimmbeine sowie alsFlügel bezeichnet und sind in den einzelnen Tiergruppenäußerst verschieden gebaut. Es kann zwar an jedemSegment eines gegliederten Tiers auch ein Paar Gliedmaßenvorhanden sein, doch ist das bei weitem nicht immer der Fall. AlsEmpfindungsorgane sind Nervensystem und Sinneswerkzeuge anzusehen.Ersteres ist entweder strahlig oder zweiseitig gebaut, geht aus derHautschicht hervor, liegt jedoch meist in seinem größernTeil tiefer im Innern des Körpers an möglichstgeschützter Stelle und besteht aus einem oder mehrerenZentralorganen (Ganglien, Nervenknoten) nebst den davonausstrahlenden Nerven. Gewöhnlich unterscheidet man ein imVorderende des Körpers befindliches, aus mehreren Ganglienverschmolzenes sogen. Gehirn (wegen seiner Lage dicht über demSchlund auch Oberschlundganglion genannt) u. eine sich daranknüpfende Ganglienkette, die je nach ihrem Verlauf als Bauch-oder als Rückenmark bezeichnet wird. Die Eindrücke vonder Außenwelt werden von den Sinnesorganen (Auge, Ohr etc.)aufgenommen und mittels der Nerven den Zentralorganenzugeführt; andre Nerven stehen mit den Muskeln in Verbindungund vermögen deren Zusammenziehung zu bewirken. DieFortpflanzung läßt sich überall auf die Absonderungeines körperlichen Teils, welcher sich zu einem demelterlichen Körper ähnlichen Individuum umgestaltet,zurückführen. Indessen ist die Art und Weise dieserNeubildung ungemein verschieden (Teilung, Sprossung, Keimbildungund geschlechtliche Fortpflanzung). Als Ausgangspunkt des sichentwickelnden Organismus hat man die einfache Zelle zu betrachten;der Inhalt derselben erleidet eine Reihe von Veränderungen,deren Endresultat die Anlage und Ausbildung des Embryonalleibesist. Diese Vorgänge sind durch große Mannigfaltigkeitausgezeichnet und schließen nicht immer die Entwickelung desIndividuums ab, sondern liefern vielfach zunächst eine Larve,welche erst durch Metamorphose dem geschlechtsreifen T.ähnlich wird.

Die entwickelungsgeschichtlichen Arbeiten der neuern Zeit habendie zuerst von Cuvier aufgestellte Lehre, nach der es im Tierreichmehrere Hauptzweige oder Typen gebe, gewissermaßen allgemeine"Baupläne", nach denen die zugehörigen Tiere modelliertzu sein scheinen, im allgemeinen bestätigt. Während aberCuvier vier Typen (Wirbeltiere, Weichtiere, Gliedertiere,Radiärtiere) annahm, ist die Zahl derselben jetzt auf siebenoder noch mehr erhöht (s. Tierreich), auch hat man dieVorstellung von der Isolierung eines jeden "Bauplans" aufgegeben,da sich Verbindungsglieder und Verknüpfungen verschiedenerTypen nach mehrfachen Richtungen hin nachweisen ließen.Überhaupt ist man auf Grund der darwinistischen Prinzipienüber die Inkonstanz der Art und ihre allmählicheAbänderung zur Ansicht gekommen, daß die sämtlichenTypen oder, wie sie jetzt richtiger heißen, Tierstämmegemeinsamen Ursprungs sind.

[Geographische Verbreitung.] Wie hiernach das Tierreich als einsich allmählich entwickelndes erscheint, so liegt auch beieinem überblick über die geographische Verbreitung derTiere auf der Erde derselbe Gedanke nahe. Danach ist die heutigeVerteilung der Tiere (auch des Menschen) auf der Oberflächeunsers Planeten nicht von jeher dieselbe gewesen, sondern hat sichdurch das Zusammentreffen von vielen Umständen gerade so undnicht anders gestaltet. Zu berücksichtigen sind, wenn man zueinem Verständnis derselben gelangen will, die geologischenVeränderungen (Senkungen und Hebungen von Land, so daßHalbinseln zu Inseln werden oder Inseln mit dem Festland inVerbindung treten etc.) und die paläontologischen Funde, umaus der frühern Verteilung die jetzige erklären zukönnen, und um in besonders klaren Fällen auch wohlRückschlüsse auf die

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Tier - Tierdienst.

frühere Beschaffenheit der Erdrinde, auf die Anordnung vonWasser und Land u. a. m. wagen zu dürfen. Diegegenwärtige Verbreitung der Tiere bietet vieleSonderbarkeiten dar, die nur durch Zurückführung auffrühere Zustände erklärt werden; z. B.läßt sich die Ähnlichkeit der Fauna (Tierwelt) aufhohen Bergen mit derjenigen der nordischen Gegenden leicht durchdie auch sonst begründete Annahme der sogen. Eiszeitbegreiflich machen, deren über ganz Europa verbreiteteVertreter in der wärmern Gegenwart nur noch an den genanntenkältern Orten zu finden, sonst aber ausgestorben sind. Imübrigen sind noch folgende Thatsachen bemerkenswert. Von denWendekreisen zu den Polen hin nimmt im allgemeinen die Anzahl derArten ab, diejenige der Individuen zu. Die sämtlichen um denNordpol gelegenen Länder haben, was bei derGleichmäßigkeit der Lebensbedingungen nicht auffallenkann, eine ziemlich eintönige Fauna , während weiter nachdem Äquator zu die einzelnen Kontinente in Bezug hierauf meistgroße Verschiedenheiten aufweisen. Doch gilt dies nur vonsolchen Land- und Wassertieren, deren Mittel zur aktiven oderpassiven Wanderung in andere Gegenden gering sind; bei Seetierenhingegen spielen meist Entfernungen keine Rolle, währendeingeschobene Länderstrecken leicht als Barrieren gegen dieVerbreitung wirken (vgl. Wanderung). Bei dem Versuch einerEinteilung der Erdoberfläche nach dem allgemeinen Geprägeihrer Land- und Süßwasserbewohner gelangt man zu 6-8Regionen, welche aber nur einen relativen Ausdruck fürnatürliche große Verbreitungsbezirke geben, weil siesich nicht auf alle Tiergruppen in gleicherweise anwenden lassen.Auch stößt man auf intermediäre Gebiete, welcheEigenschaften der benachbarten Regionen mit einzelnenBesonderheiten verbinden. Diese Regionen sind: 1) diepaläarktische Region: Europa, das gemäßigte Asienund Nordafrika bis zum Atlas; 2) die nearktische Region:Grönland und Nordamerika bis Nordmexiko; 3) dieäthiopische Region: Afrika südlich vom Atlas, Madagaskarund die Maskarenen mit Südarabien; 4) die indische Region:Indien südlich vom Himalaja bis Südchina und bis Borneound Java; 5) die australische Region: Celebes und Lombok, nachOsten bis Australien, und die Südseeinseln; 6) dieneotropische Region: Südamerika, die Antillen undSüdmexiko. - Die vier ersten Regionen haben miteinander eineweit größere Ähnlichkeit als irgend eine derselbenmit der von Australien oder Südamerika; auch hat manNeuseeland als selbständige Region unterschieden und von derpalä- und nearktischen Region eine Zirkumpolarprovinz vongleichem Rang abgegrenzt; einzelne Forscher unterscheiden auch nocheine Mittelmeerprovinz. Bezüglich des relativen Reichtums dereinzelnen Regionen gab Wallace folgende Tabelle:

Region Wirbeltiere Säugetiere Vögel

Familie der Region eigentüml. Gattungen der Regioneigentüml. Prozentverhältnis Gattungen der Regioneigentüml. Prozentverhältnis

Familien Gattungen Gattungen

Paläarktische ... 136 3 100 35 35 174 57 33

Äthiopische ..... 174 22 140 90 64 294 179 60

Indische ........ 164 12 118 55 46 340 165 48

Australische .... 141 30 72 44 61 298 189 64

Neotropische .... 168 44 130 103 79 683 575 86

Nearktische .... 122 12 74 24 32 169 52 31

Jedoch sind wegen der Unsicherheit im Begriff der Gattung undFamilie die angegebenen Zahlen mit Vorsicht aufzunehmen. DieGrenzen der einzelnen Regionen sind ausgedehnte Meere, hoheGebirgsketten oder große Sandwüsten; diese Grenzen habenaber nicht tür alle Tiere gleichen Wert, denn füreinzelne Gruppen bilden sie absolute Hindernisse, während sieandern immer noch Übergänge aus einem Gebiet in das andregestatten. Für ziemlich abgeschlossene Verbreitungsbezirkebraucht man den Ausdruck Verbreitungszentren(Schöpfungszentren), indem man damit der Ansicht Raum gibt,daß dort bestimmte Artengruppen sich ausgebildet und langsamauch in andre Gebiete verbreitet haben. Vgl. Häckel, GenerelleMorphologie (Berl. 1866, 2 Bde.); Gegenbaur, Grundriß dervergleichenden Anatomie (2. Aufl., Leipz. 1878); Rütimeyer,Herkunft unsrer Tierwelt (Basel 1867); Schmarda, GeographischeVerbreitung der Tiere (Wien 1853); Wallace, The Geographicaldistribution of animals (Lond. 1876, 2 Bde.; deutsch, Dresd. 1876);Sclater, Über den gegenwärtigen Stand unsrer Kenntnisseder geographischen Zoologie (deutsch, Erlang. 1876); Semper, Dienatürlichen Existenzbedingungen der Tiere (Leip. 1879, 2Bde.); Marshall, Atlas der Tierverbreitung (Gotha 1888, 9Karten).

Tier, in der Jägersprache der weibliche Hirsch.

Tierarzt, s. Veterinärwesen.

Tierbäder, animalische Bäder, s. Bad, S.221.

Tierce (spr. tihrs oder ters), engl.Flüssigkeitsmaß, = ½ Puncheon (s. d.).

Tierchemie, s. Chemie, S. 980.

Tierçon (franz., spr. tjerssóng),Flüssigkeitsmaß auf Haïti, = 60 Gallons (s.d.).

Tierdienst (Zoolatrie), die Verehrung bestimmternützlicher oder schädlicher Tiere bei niedriger undhöher stehenden Völkern. Man muß hierbei indessenverschiedene Vorstellungskreise unterscheiden. Die niederstenNaturvölker betrachten das Tier als ein mit ihnen auf gleicherStufe stehendes, ja oft als ein sie an Macht überragendesWesen, dem man Verehrung bezeigen müsse, wie denn von einigennordischen Völkern erzählt wird, daß sie denBären um Verzeihung gebeten hätten, wenn sie ihngetötet hatten. In diesem Sinn konnten sie auch ein bestimmtesTier zu ihrem Schutzgeist erwählen (vgl. Fetischismus undTotem), an ein Fortleben der Ahnen in Tierleibern und an eineVerwandlung von Menschen in Tiere (Werwolfssage, s. d.) glauben. Imbesondern wurden wegen ihrer Kraft und Wildheit gefürchteteTiere, wie Löwe, Wolf und Bär, oder solche, die wegenihres unheimlichen Wesens gemieden werden, wie Molche, Eidechsen(Drachen) und Schlangen (s. Schlangendienst), häufiger zumGegenstand einer abergläubischen Verehrung. Einem andernVorstellungskreis, obwohl er aus dem vorigen entstanden sein mag,gehört der T. der alten Ägypter, Semiten und Inder an,welche an göttliche Inkarnationen in Tiergestalt und an eineWanderung der menschlichen Seele durch Tierleiber glaubten (s.Seelenwanderung). Diese Völker stellten ihre Gottheiten daherin Tiergestalt oder wenigstens

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Tiergarten - Tierische Wärme.

mit Tierköpfen versehen dar, pflegten die betreffendenTiere in Tempeln (z. B. die in den Küstenländernwohnenden Semiten gewisse heilige Fische, die Ägypter Katzen,Ibisse u. a., die Inder Schlangen, Krokodile und Affen),erließen Gesetze zu ihrem Schutz, setzten sie nach ihrem Todfeierlich einbalsamiert bei etc. Aus diesenInkarnationsvorstellungen gingen in den späternReligionssystemen die als Attribute der Gottheiten namentlich vonder bildenden Kunst verwerteten heiligen Tiere, wie der Adler desJupiter und Johannes, der Löwe der Rhea und des heil. Markus,der Specht des Mars (Picus) etc., hervor, und ebensoschließen sich daran gewisse Stammsagen (Drache der Chinesen,Wölfin der Römer). Vgl. De Gubernatis, Die Tiere in derindogermanischen Mythologie (deutsch, Leipz. 1874, 2 Bde.).

Tiergarten, s. Wildgärten und ZoologischeGärten.

Tiergeographie, die Lehre von der geographischenVerbreitung der Tiere, s. Tier, S. 699 f.

Tierheilkunde, s. Veterinärwesen.

Tierischer Magnetismus, s. Magnetische Kuren.

Tierische Wärme. Thermometrische Messungen habendargethan, daß zahlreiche Tiere eine ihnen eigne, nurgeringen Schwankungen ausgesetzte und von der Temperatur derAußenwelt ganz unabhängige Körpertemperatur oderEigenwärme besitzen. Dieselbe ist im hohen Norden nichtgeringer als unter den Tropen, und man bezeichnet derartige Tiereals warmblütige oder homöotherme (konstant temperierte)Tiere. Andre Organismen besitzen eine schwankende, wesentlich vonder Temperatur des sie umgebenden Mediums abhängigeTemperatur, man nennt sie kaltblütige oder richtigerpoikilotherme (variabel temperierte) Organismen. Bei ihnen ist dieEnergie der Oxydationsprozesse so gering, daß dieEigenwärme nur wenige Grade höher als die Temperatur derUmgebung ist. Ein ganz eigentümliches Verhalten bieten einigeSäugetiere (Fledermaus, Igel, Murmeltier, Hamster etc.),welche man als Winterschläfer bezeichnet hat; diese sindwährend der wärmern Jahreszeit homöotherm, verfallenaber in der kältern Jahreszeit in einen eigentümlichenErstarrungszustand, in welchem der ganze Stoffwechsel auf einäußerst geringes Maß beschränkt ist, und inwelchem sie sich ganz wie die Kaltblüter verhalten. DieTemperatur des Murmeltiers sinkt dann auf 1,6°. Beim Menschenund den Warmblütern ist die Körperwärme eine derunerläßlichsten Bedingungen für den geregeltenAblauf der wichtigsten Lebensprozesse. Das Experiment hat gezeigt,daß mit einem Absinken der Körperwärme die Energiealler Lebensprozesse ganz wie bei den Winterschläfern erlahmt,und daß auf der andern Seite schon geringe Erhöhungender Eigenwärme bedeutende Gefahren im Gefolge haben, daßbeim Menschen und den Säugetieren sogar der Tod eintritt,sobald die Körperwärme 42-43° C. übersteigt. Diet. W. wird nun in den Geweben des Organismus gebildet, und zwarresultiert sie aus dem ganzen Cyklus von Veränderungen, denman als Stoffwechsel bezeichnet. Ganz besonders müssen wir dieDrüsen und die Muskeln als Hauptquellen der Wärmebezeichnen. Es ist möglich, die durch eine einzigeMuskelkontraktion bewirkte Temperatursteigerung nachzuweisen. Trotzder sehr ungleichen Wärmemengen, welche in den verschiedenenOrganen gebildet werden, verteilt sich die gebildete Wärmeziemlich gleichmäßig über den ganzen Organismus;dieses wird bewirkt durch direkte Berührung der verschiedenenOrgane, weit mehr aber noch mittels einer durch den Blutstromhergestellten wärmeleitenden Verbindung. Auf diese Weiseerreichen die in den einzelnen Organen gebildeten Wärmemengenselbst solche Körperteile, welche für sich gar keineWärme erzeugen. Das Resultat dieser Ausgleichung ist eineannähernd konstante Temperatur des ganzen Organismus.Oxydationen sind nun die verbreiterten, durchaus aber nicht dieausschließlichen Erzeuger der Wärme; Wärme wirdvielmehr bei allen chemischen Prozessen frei, bei denen der Vorratan Spannkraft sich mindert. Dieser Punkt ist deshalb von Bedeutung,weil im tierischen Körper neben Oxydationsprozessenkomplizierte Spaltungsvorgänge eine wichtige Rolle spielen.Die eigne Natur der im Tierkörper verlaufenden Prozesse istdaher von keinem Einfluß auf die Verbrennungswärme; diegebildete Wärme ist vielmehr durch die Anfangs- undEndzustände der Körper gegeben und hängt durchausnicht von den Zwischenstufen ab, welche die Körperdurchlaufen. Das Prinzip von der Erhaltung der Kraft fordert ja,daß bei einem Prozeß, der aus mehreren getrennten Aktenzusammengesetzt ist, eine Wärmemenge entsteht, die derjenigenvöllig gleich ist, welche beim Ablaufen des Prozesses in einemAkt gebildet wird. Folgende Tabelle enthält dieVerbrennungswärme einiger für den Organismusbedeutungsvoller Substanzen:

Wärmeeinheiten

1 Gramm

bei vollständiger Verbrennung bei Verbrennung imOrganismus

Eiweiß ....... 4998 4263

Rindfleisch (frisch) . . . 1567 1427

Rinderfett ...... 9069 9069

Milch .......662 628

Traubenzucker. .... 3277 3277

Kartoffeln ......1013 997

Erbsenmehl .....3936 3941

Weizenmehl ..... 3541 3846

Reis ........ 3813 3761

Gegenüber den durch den Stoffwechsel bewirktenWärmeeinnahmen des Organismus der Warmblüter stehen dieAbgaben von Wärme an die kalte Umgebung. Letztere findenstatt: 1) durch Strahlung von der freienKörperoberfläche. Das Quantum dieser Wärme wirdunter sonst gleichen Verhältnissen um so größersein, je erheblicher die Temperaturdifferenz zwischen demKörper und der umgebenden Luft sich gestaltet. 2) DurchLeitung, und zwar leitet der Körper Wärme a) ankältere Gegenstände, die seine Oberflächeberühren, Luft, Kleidung etc.; b) an die in die Lungengelangende Luft; c) an die in den Verdauungsapparat gelangendenSubstanzen; d) an das in den Lungen und an derKörperoberfläche verdunstende Wasser. Um zu einerungefähren Vorstellung von der Verteilung der Wärmeabgabeauf die verschiedenen Posten zu gelangen, sei angegeben, daßHelmholtz den durch Erwärmung der Nahrung entstandenen Verlustauf 2,6 Proz., den Verlust durch Erwärmung der Atmungsluft auf5,2, denjenigen durch Wasserverdunstung auf 14,7 Proz.schätzt, während er den ganzen Rest durch dieKörperoberfläche zur Verausgabung gelangenläßt.

Da sowohl Wärmebildung als Wärmeabgabe großenSchwankungen ausgesetzt ist, die Eigenwärme aber stetskonstant bleibt, so muß der Organismus überVorrichtungen verfügen, welche seine Temperatur regulieren.Bei der Betrachtung dieser regulatorischen Einrichtungen haben wirzu unterscheiden zwischen solchen, welche auf die Wärmeerzeu-

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Tierkämpfe - Tierkreis.

gung, und solchen, welche auf die Wärmeabgabe einwirken.Von den Einflüssen der ersten Art ist in erster Linie dieNahrungszufuhr zu nennen. In der Kälte ist das Bedürfnisnach Nahrungsaufnahme größer als in der Wärme. Einzweites Mittel dieser Art ist die Muskelarbeit. In der Kältesuchen die Organismen durch vermehrte MuskelkontraktionenWärme zu bilden, in der Wärme vermeiden sie Muskelarbeitam liebsten ganz. Unter den regulatorischen Vorrichtungen, welcheauf die Wärmeausgabe einwirken, kommt in erster Linie der dieäußere Haut und die Lungen passierende Blutstrom inBetracht. Diese Vorrichtung basiert auf der Veränderlichkeitin der Weite der Arterien (s. Blutbewegung), und sie istentschieden der wichtigste Regulator der Eigenwärme. Durcheine Erweiterung der Gefäße in der äußernHaut und den Lungen wird der Wärmezufluß vom Innern desKörpers her vermehrt, durch eine Verengerung verringert. Nunsichert eine nervöse Verbindung einen ursachlichenZusammenhang in der Weite dieser Gefäße und derKörpertemperatur und macht sich derartig geltend, daßdie Gefäße sich erweitern, sobald dieKörperwärme steigt, daß sie sich aber verengern,sobald diese sinkt. Ein andres Prinzip, welches bei derWärmeregulation Anwendung findet, ist die Wärmeabgabe beider Veränderung des Aggregatzustandes vonKörperbestandteilen. Der Organismus macht hiervon beimÜbertritt von Flüssigkeiten in den gasförmigenZustand, also bei der Verdunstung, Gebrauch. Diese findet besondersumfangreich in zwei Organen statt, nämlich in den Lungen undin der äußern Haut. Wie bedeutend die Verdunstung durchdie Lungen ist, kann man schon aus der Beobachtung der ausgeatmetenLuft bei kalter Witterung schließen. Was die Verdunstungdurch die äußere Hnut betrifft, so ist die dichteBekleidung derselben mit Epidermiszellen der Verdunstung nichtgünstig, und der Mechanismus ist hier der, daß beigesteigerter Körperwärme ein Reiz auf dieSchweiß-Zentren (s. Schweiß) ausgeübt wird,daß infolgedessen die Schweißdrüsen durch ihreThätigkeit die Hautoberfläche mit einerFlüssigkeitsschicht überziehen, zu deren VerdunstungWärme vom Körper abgegeben wird. Als dritte dieWärmeabgabe betreffende Regulationsvorrichtung benutzt derOrganismus die Lungenatmung. Diese Vorrichtung basiert auf demPrinzip des Fächers, also darauf, daß ein bewegterLuftstrom die Wärmeabgabe eines Körpers begünstigt,indem er diesen fortwährend mit neuen kältern Luftmassenin Berührung bringt. Steigt die Körperwärme, sovermehren sich die Atemzüge, und die außerordentlichgroße Oberfläche der Lungenbläschen wird jetzt miteinem in beständiger Bewegung begriffenen großen Quantumkühlerer Luft in Berührung gebracht. Es ist übrigensersichtlich, daß auf diese Weise nicht allein die direkteWärmeabgabe, sondern auch die Verdunstungaußerordentlich begünstigt wird. Die Regulierung derKörperwärme mittels der beschriebenenKompensationsvorrichtungen vollzieht sich zumallergrößten Teil, vielleicht ganz, durch Vermittelungdes Nervensystems. Wie die betreffenden Nervenmechanismen gestaltetsind, kann einstweilen nur vermutet werden. Die Existenz eines dieThätigkeit der verschiedenen Regulationsvorrichtungenregelnden Wärmezentrums ist bis jetzt nicht genügendbewiesen.

Die mittlere Körperwärme schwankt beim Menschenzwischen 36,5 und 38° C. Ähnlichen Temperaturen begegnetman bei den Säugetieren; beim Pferd beträgt sie37,5-38,5°, beim Rind 37,5-39,5°, bei Schafen 38-41°,bei Schweinen 38,5-40° und bei Hunden 37,5-39,5° C. Etwashöher liegt die Eigenwärme der Vögel, siebeträgt 39,4-43,9° C. Bei den übrigen Tieren ist dieTemperatur variabel und in der Regel um wenige Grade höher alsdie des umgebenden Mediums. Bei den Warmblütern werdenregelmäßige, von der Lebensweise abhängigeTemperaturschwankungen um 1-1,5° C. wahrgenommen. So zeigensich von der Nahrungsaufnahme abhängige Schwankungen derart,daß ein Minimum der Temperatur etwa gegen Mitternacht beginntund bis 7 Uhr morgens andauert, diesem folgt eine etwa bis 4 Uhrnachmittags anhaltende Periode der steigenden Temperatur, dannkommt ein bis etwa 9 Uhr abends dauerndes Maximum und endlich einePeriode der absinkenden Temperatur. Diese Schwankungen kommen beimHunger in Fortfall. Weitere Schwankungen der Eigenwärmeinnerhalb physiologischer Grenzen hängen von derMuskelthätigkeit ab; durch energische Muskelarbeit wird dieTemperatur nicht selten bis um 1,5° C. vermehrt. Vonmedikamentösen Mitteln bewirken Herabsetzung der tierischenWärmebildung: Chinin, Salicylsäure, Alkohol, Chloroform,Chloral u. a., eine Erhöhung derselben Digitalin. Eineerhöhte Körpertemperatur ist eins der wichtigsten Zeichendes Fiebers (s. d.). Beim Menschen bedient man sich zu Bestimmungender Körperwärme gewöhnlich der Achselhöhle oderauch, wie bei den Tieren, des Mastdarms. Ein Thermometerläßt man hier so lange liegen, bis kein Steigen derQuecksilbersäule mehr wahrgenommen wird, was in der Regel nachzehn Minuten erreicht ist. Regelmäßige, zu bestimmtenTageszeiten wiederholte Temperaturmessungen sind in der neuernMedizin eins der wichtigsten diagnostischen Mittel.

Tierkämpfe (lat. Venationes), Kämpfe von Tierenuntereinander oder von Menschen mit Tieren, gehörten bei denalten Römern zu den beliebtesten Volksbelustigungen. Siefanden zumeist im Zirkus statt und wurden zuerst bei den Spielendes M. Fulvius Nobilior 186 v. Chr. erwähnt. DieTierkämpfer (bestiarii) waren teils Verurteilte undKriegsgefangene, die den durch Hunger, Feuerbrände undStacheln rasend gemachten Tieren schlecht bewaffnet oder ganzwaffenlos entgegengestellt wurden, teils Mietlinge, die wie dieGladiatoren in besondern Schulen geübt und ausreichendbewaffnet waren. Für die Herbeischaffung zahlreicher undseltener Tiere, oft aus den entferntesten Weltgegenden, und diesonstige Ausstattung der Tierhetzen wurde besonders in derKaiserzeit ein unglaublicher Aufwand gemacht. So veranstaltetePompejus einen Tierkampf von 500 Löwen, 18 Elefanten und 410andern afrikanischen Bestien, und Caltgula ließ 400Bären und ebensoviel reißende Tiere aus Afrika sichgegenseitig zerfleischen. Bisweilen wurde dabei durch geeigneteDekoration und Kostümierung ein historischer odermythologischer Vorfall (z. B. wie Orpheus von Bären zerrissenwird) szenisch dargestellt. Erhalten haben sich die T. bis ins 6.Jahrh. - Bei den Griechen waren besonders Wachtel- undHahnenkämpfe (s. Huhn, S. 779) beliebt, wobei von denZuschauern Wetten oft bis zu bedeutender Höhe angestelltwurden. Als T. der neuern Zeit sind die Stiergefechte (s. d.) derSpanier zu bezeichnen.

Tierkohle, durch Verkohlung tierischer Substanzenerhaltene Kohle, besonders Knochenkohle.

Tierkreis (Zodiakus), s. Ekliptik. Über den T. inDendrah s. d. In der christlichen Symbolik ist der T. das Sinnbildder Weisheit Gottes, so namentlich auf Bildern derWeltschöpfung, z. B. im Campo santo

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Tierkreislicht - Tierreich.

zu Pisa (um 1390) und nach Raffaels Zeichnungen in Santa Mariadel Popolo zu Rom, auch häufig an kirchlichen Fassaden des 12.und 13. Jahrh.; in neuerer Zeit von A. v. Heyden dargestellt (inder Kuppel der Nationalgalerie in Berlin).

Tierkreislicht, s. Zodiakallicht.

Tiermalerei, ein Zweig der Malerei, welcher sich mit derDarstellung einzelner oder zu Gruppen vereinigter lebender Tiere inder Freiheit und in Gefangenschaft, in Ruhe und Bewegungbeschäftigt. Isolierte Darstellungen einzelner Tiere undTierstücke kommen bereits auf Kupferstichen und Holzschnittenvon M. Schongauer und A. Dürer vor. Ihre Ausbildung alsselbständige Gattung der Malerei erhielt die T. aber erstdurch die niederländischen Künstler des 17. Jahrh. JanBrueghel der ältere malte Landschaften mit Tieren jeglicherArt (sogen. Paradiese). Rubens, Snyders und Jan Wildens maltenJagden und wilde Tiere im Kampf mit den Menschen oder unter sich.Andre hervorragende Tiermaler des 17. Jahrh. sind M. Hondecoeter(Geflügel), Wouwerman (Pferde), Berchem (Rindvieh und Schafein Landschaften), Paul Potter (Rindvieh und Pferde), A. Cuyp(Pferde und Hunde), Rosa di Tivoli (Schafe, Rinder und Ziegen). Im18. Jahrh. zeichnete sich vornehmlich J. E. Ridinger in derDarstellung von Hirschen, Wildschweinen, Jagden etc. als Maler undRadierer aus. Im 19. Jahrh. nahm die T. einen neuen Aufschwungdurch den Engländer E. Landseer (Pferde, Hunde u. a. m.), dieFranzosen Troyon, Rosa Bonheur und Jacque und die BelgierVerboeckhoven und Verlat. Die bedeutendsten deutschen Tiermaler derneuern Zeit sind die Berliner Steff*ck (Pferde und Hunde), P.Meyerheim (Raubtiere, Affen, exotische Vögel), Brendel(Schafe), Friese (Raubtiere und jagdbares Wild), Hallatz (Pferde),die Düsseldorfer Kröner (jagdbares Wild), Deiker und Jutz(zahmes Geflügel), die Münchener Mali (Schafe undRindvieh), Voltz (Weidevieh), Gebler (Schafe und Hunde), Braith(Rindvieh) und Zügel (Schafe) und der Schweizer Koller. Vgl.auch Idyllenmalerei.

Tiermasken, s. Maske, S. 314.

Tieröl (Hirschhornöl, Knochenöl,Franzosenöl) entsteht bei trockner Destillationstickstoffhaltiger tierischer Substanzen, besonders der Knochen,ist dunkelbraun bis schwarz, dicklich, riecht durchdringendwiderwärtig, empyreumatisch, ist leichter als Wasser,löslich in Alkohol, reagiert alkalisch, gibt an AlkalienBlausäure und Phenol, an Säuren organische Basen (diePyridinbasen, auch Äthylamin etc.) ab und liefert beiwiederholter Rektifikation ein farbloses Öl (Dippels Öl),welches bald wieder gelblich oder braun wird. Dies war als Oleumanimale aethereum offizinell; man benutzte es früher gegenTyphus, als Wurmmittel und zu Einreibungen. Mit 3 TeilenTerpentinöl bildet es das Oleum contra Taeniam Chaberti, einaltes Bandwurmmittel.

Tierpflanzen, s. Zoophyten.

Tierpsychologie, s. Tierseelenkunde.

Tierquälerei, s. Tierschutz.

Tierreich, die Gesamtheit der Tiere. Es läßtsich, weil eine scharfe Grenze zwischen diesen und den Pflanzennicht vorhanden ist, in seinen niedersten Formen von denen desPflanzenreichs nicht trennen, falls man nicht, wie es seitenseiniger Forscher geschieht, die zweifelhaften Wesen zu einembesondern Reich, demjenigen der Protisten, vereinigt und sofür Tier- und Pflanzenreich eine bessere, allerdings reinkünstliche Abgrenzung ermöglicht (vgl. Protozoen undTier). Das T. selbst zerfällt in eine Anzahl großerAbteilungen (Typen, Klassen, Stämme), über deren Anzahlund Umfang man jedoch in Fachkreisen von jeher der verschiedenstenAnsicht gewesen ist. Die erste derartige Einteilung rührt vonAristoteles her, welcher blutführende und blutlose Tiereunterschied; diese beiden Gruppen entsprechen den heutigenWirbeltieren und Wirbellosen (Vertebraten und Evertebraten) undzerfielen jede wieder in vier Klassen, die zum Teil auch jetzt nochals gut begrenzt angesehen werden, nämlich: lebendiggebärende Vierfüßer (mit Einschluß der Wale),Vögel, Eier legende Vierfüßer, Fische; Weichtiere(die heutigen Tintenschnecken), Weichschaltiere (Krebse),Kerftiere, Schaltiere (Schnecken, Muscheln, Echinodermen). Erstgegen Ende des vorigen Jahrhunderts wurde nach 2000jährigemBestehen diese Klassifikation durch Linné beseitigt unddurch sein System von sechs Klassen: Säugetiere, Vögel,Amphibien, Fische, Insekten, Würmer, ersetzt. Natürlicherfuhren hierbei die kleinern Formen der niedern Tiere, da man sienicht oder nicht genügend kannte, keine Berücksichtigung,und so bildete namentlich die Wurmgruppe ein buntes Allerlei, eine"Rumpelkammer" für alle Tiere, welche sonst nichtunterzubringen waren. Bereits nach wenigen Jahrzehnten erlangtedaher die von Cuvier 1812 versuchte neue Einteilung der Tiere nachihrer Gesamtorganisation allgemeinen Beifall; sie schuf viergroße Typen oder Kreise, nämlich die Wirbel-, Weich-,Glieder- und Strahltiere, die ganz unabhängig voneinander nachvier verschiedenen "Bauplanen" gebildet sein sollten. Indessen auchhier vereinigte der unterste Kreis ganz heterogene Elemente in sich(Echinodermen, Cölenteraten, Eingeweidewürmer,Rädertiere und Infusorien), die zum großen Teil sogarnichts weniger denn strahlig gebaut waren. Es wurde daher nach u.nach die Anzahl der "Kreise" von vier auf sieben erhöht, indemman die Glieder- und Strahltiere besser sonderte. Nachdem sodann inden 60er Jahren die darwinistischen Prinzipien allgemeinen Eingangzu finden begonnen hatten, verließ man den Begriff, welcherdem Typus zu Grunde liegt, und spricht in der modernen Zoologie nurnoch von "Tierstämmen", welche, aus gemeinsamer Wurzelhervorgegangen, in ihrer Gesamtheit den Baum des Tierreichsdarstellen. Als solche Stämme faßt man in der Ordnungvon unten nach oben auf: die Protozoen (auch häufig alsbesonderes Reich abgetrennt, s. Protozoen), die Cölenteraten(Schwämme, Korallen, Polypen, Quallen etc.), die Würmer,die Echinodermen (Seesterne, Seeigel etc.), dieGliederfüßler oder Arthropoden (Krebse, Insekten etc.),die Weichtiere (Muscheln, Schnecken etc.), die Wirbeltiere. Dochverhehlt man sich dabei nicht, daß manche isoliert dastehendeGruppen, welche man heute noch einem der genannten Stämmezurechnet, bei genauerer Erforschung ihrer Organisation vielleichteinen besondern Stamm bilden werden, wie man auf der andern Seiteeifrig nach den lebenden oder ausgestorbenen Bindegliedern zwischenden Stämmen sucht. Dieser Auffassung zufolge lassen sich alsodie Tiere in ihrer natürlichen (d. h. auf Blutsverwandtschaftoder auf Abstammung voneinander beruhenden) Anordnung nicht in eineeinfache Reihe, die vom niedersten zum höchsten Tiere reichenwürde, bringen, sondern bilden die Äste, Zweige undZweiglein eines mächtigen Baums, dessen Krone die nochlebenden Tiere ausmachen, während die näher der Wurzelbefindlichen Zweige von der Ausdehnung des Baums in frühernZeiträumen berichten. Wie sich die genannten Stämme imeinzelnen verhalten, ist in den betreffenden Artikelnnachzulesen.

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Tiersage - Tierschutz.

Tiersage, eine Gattung der Sage (s. d.), welche von demLeben und Treiben der Tiere und zwar vorzugsweise derungezählten Tiere des Waldes handelt, die man sich mit Spracheund Vernunft ausgestattet denkt. Die Wurzeln der T. liegen in derNatureinfalt der ältesten Geschlechter, die noch inunbefangenem, sei's freundlichem oder feindlichem, immer nahemVerkehr mit den Tieren standen: aus der harmlosen Freude desNaturmenschen an dem Treiben der Tiere, seiner Beobachtung ihrerbesondern Art und "Heimlichkeit" entsprang die einfacheErzählung dessen, was er an und mit den Tieren erfuhr underlebte, und sie eben bildet das charakteristische Merkmal dieserArt Naturpoesie, die teils in einzelnen konkret gewordenenErscheinungen als Tiermärchen, teils in Verknüpfung undVerschmelzung derselben zu einem dichterischen Ganzen als Tiereposauftritt. Wohl zu unterscheiden ist dieses Tierepos von dergewöhnlichen (Äsopischen oder Lessingschen) Tierfabel,die rein didaktischer Natur ist, indem sie nach kurzerErzählung des Tatsächlichen eine nüchterneVerstandeslehre mit epigrammatischer Schärfe ausspricht (s.Fabel). Das Tierepos ist dagegen von aller lehrhaften undsatirischen Tendenz frei; sein Wesen beruht auf der poetischenAuffassung und naturgetreuen Darstellung des Tierlebens als einesin seiner geheimnisvollen Eigentümlichkeit abgeschlossenen,aber zugleich in den Bereich des Menschlichen erhobenen Daseins.Die Tiere, welche diese Dichtung vorführt, sind nicht nackte,außer aller psychischen Gemeinschaft mit dem Menschenstehende Tiere, noch weniger allegorische Figuren oder inTiergestalt verkleidete Menschen: es sind die Tiere in ihremwirklichen Leben, jedoch mit Gedanken und Sprache ausgestattet undvon Trieben geleitet, denen Absicht und Bedeutung geliehen sind. Indieser Verschmelzung des menschlichen und tierischen Elements liegtdie Bedingung und zugleich der höchste Reiz der T. Daßbei solcher Schilderung der Tierwelt zugleich das gewöhnlicheTreiben der Menschen abgespiegelt wird, ist unleugbar, aberkeineswegs die beabsichtigte Wirkung der Dichtung, die vielmehr,wie das Heldenepos, in ruhiger Breite dahinfließt, ohneweitere Tendenz, als in ungestörter Gemütlichkeit sichauszusprechen. Gelegenheit freilich, satirische Nebenbeziehungenauf bestimmte menschliche Zustände anzubringen, bietet die T.nur allzu reichlich, und sie wurde auch schon frühzeitig vonden Bearbeitern benutzt. Spuren der T. sind schon bei denältesten Völkern nachzuweisen, aber diese ließensie frühzeitig wieder fallen oder wandten sich derdidaktischen Tierfabel (s. oben) zu; eine vollständige epischeDurchbildung erhielt die T. nur bei den mit hervorragendemNatursinn ausgestatteten Deutschen und zwar vorzugsweise bei denFranken. Mit diesen wanderte sie im 5. Jahrh. über den Rhein,wo sie in Flandern und Nordfrankreich Wurzel faßte undgepflegt wurde, bis sie später nach Deutschlandzurückkehrte, um hier im 15. Jahrh. in der niederdeutschenDichtung "Reineke Vos" ihre endgültige Gestalt zu erhalten (s.Reineke Fuchs). Die älteste und echteste T. kennt nureinheimische Tierhelden (mit treffenden, echt deutschen Namen), undder Bär, der König der deutschen Wälder, war auch imGedicht der König der Tiere; erst später (im 12. Jahrh.)trat statt seiner der orientalische Löwe an die Spitze desTierstaats, in den nun auch Affen und andre fremdländischeGeschöpfe eingeführt wurden. Die besten, vollkommenbefriedigenden Aufschlüsse über den Charakter der T. gabJ. Grimm in einer Einleitung zu "Reinhart Fuchs" (1843).

Tiers-argent (franz., spr. tjähr-sarschang), s.Aluminiumlegierungen und Drittel-Silber.

Tiersch, Otto, Musiktheoretiker, geb. 1. Sept. 1838 zuKalbsrieth bei Artern in Thüringen, ward Schüler von J.G. Töpfer in Weimar, später Heinrich Bellermanns, Marx'und L. Erks in Berlin, war mehrere Jahre als Lehrer am SternschenKonservatorium daselbst thätig und ist jetzt städtischerLehrer (für Gesang) in Berlin. T. ist als Musiktheoretikereine interessante Erscheinung, da er den Versuch macht, dieneuesten Errungenschaften der Akustik und Physiologie desHörens für die Harmonielehre zu verwerten, unddemgemäß ein eignes Harmoniesystem aufstellt. SeineSchriften sind: "System und Methode der Harmonielehre" (Leipz.1868); "Elementarbuch der musikalischen Harmonie- undModulationslehre" (2. Aufl., Berl. 1888; "PraktischeGeneralbaß-, Harmonie- und Modulationslehre" (Leipz. 1876);"Praktisches Lehrbuch für Kontrapunkt und Nachahmung" (das.1879); "Lehrbuch für Klaviersatz und Akkompugnement" (das.1881); "Allgemeine Musiklehre" (mit Erk, das. 1885); "Rhythmik,Dynamik und Phrasierungslehre der hom*ophonen Musik" (das. 1886) u.a.

Tierschutz, der Inbegriff aller Anordnungen undBestrebungen, welche zum Zweck haben, den Tieren unnötigeQuälereien zu ersparen. Das Strafgesetzbuch für dasDeutsche Reich bedroht (§ 360, Ziff. 13) "mit Geldstrafe biszu 150 Mk. oder mit Haft denjenigen, welcher öffentlich oderin Ärgernis erregender Weise Tiere boshaft quält oder rohmißhandelt". Zur Verhütung einzelner Arten vonMißhandlungen der Tiere bestehen auch vielfach besonderePolizeivorschriften, wie z. B. bezüglich des Transportskleinerer Haustiere, des Bindens der Füße derselben,bezüglich der Hundefuhrwerke etc. In vielen Fällen ist esschwer zu erkennen, wann eine Handlung wirklich als eine strafbareTierquälerei zu erachten ist; denn der Charakter, das Benehmenu. die Benutzungsweise der verschiedenen Tiere weichen wesentlichvoneinander ab u. machen deshalb eine verschiedene Art in derBehandlung derselben, zumal bei Arbeitstieren, nötig. Um denTieren eine humane Behandlung zu sichern, haben sich allenthalbenTierschutzvereine gebildet, wozu der verstorbene Hofrat Perner inMünchen zuerst die Anregung gegeben hatte. Diese Vereinesuchen Mitglieder in allen Schichten der Bevölkerung zugewinnen und verpflichten dieselben, nicht nur selbst keinerleiTierquälerei zu begehen und von ihren Angehörigen zudulden, sondern auch andre davon abzumahnen und nötigen Fallspolizeiliche Abhilfe zu veranlassen. Da in erster Linie schon beider Erziehung der Kinder darauf hingewirkt werden muß,Mitgefühl für die Leiden der Tiere und Abscheu vor allenHandlungen zu erwecken, welche Tieren jeder Art unnötigeSchmerzen verursachen, suchen diese Vereine durch Schriften undbildliche Darstellung auf die Jugend einzuwirken. Durch dieseTierschutzvereine sind schon manche tierquälerischeMißbräuche bei der Benutzung und Behandlung von Tierenabgestellt worden; ihren Bemühungen ist es unter andermzuzuschreiben, daß mit Fußleiden und andern Gebrechenbehaftete Pferde, anstatt noch länger herumgeplagt zu werden,zum Zweck des Fleischgenusses in Pferdeschlächtereien einenutzbringende Verwendung finden, daß fernerunzweckmäßige Zuggeräte, wie das Doppeljoch, immermehr außer Gebrauch kommen, bessere Schlachtmethodenangewendet werden, nutzlose und unsinnige Operationen, wie Stechenund Brennen des Gaumens sowie Nagelschneiden bei Pferden,Ohrenschneiden bei Hunden etc., immer seltener werden. Es bleibtfür

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Tiers-consolidé - Tierseelenkunde.

den T. übrigens noch ein großes Feld derThätigkeit, wenn er seine Aufmerksamkeit auch fernerhin aufentsprechendere Einrichtungen bei dem Transport der Tiere auf denEisenbahnen, auf Verbesserungen der häufig nochunbeschreiblich schlechten Ställe sowie desunzweckmäßigen, zu schmerzhaften Fußleidenführenden Hufbeschlags etc. richtet. In Deutschland richtetesich die Agitation der Tierschutzvereine in letzter Zeit namentlichgegen die Vivisektion (s. d.). Auch wird eine Abänderung desdeutschen Strafgesetzbuchs in dem Sinn angestrebt, daß zu demBegriff der Tierquälerei nicht mehr das Requisit derÖffentlichkeit oder das Erregen von Ärgernis gehörensoll. Der T. darf jedoch nicht in übertriebeneSentimentalität ausarten, die für zuweilen unvermeidlicheLeiden der Tiere Ausdrücke des tiefsten Bedauerns findet undalles mögliche aufbietet, vermeintliche Tierquälereienabzustellen, während sie für Leiden der Menschen wenigerempfindlich ist. Insbesondere kann der (bei Verleihung vonMedaillen etc.) übertriebene Diensteifer niedererPolizeiorgane, in vielen an und für sich unschuldigenHandlungen Tierquälereien zu erblicken, zuweilen unangenehmwerden und zu lästigen Plackereien führen. Im weiternSinn erstreckt sich der T. auch auf die Verhinderung der Ausrottungoder der zu starken Verminderung gewisser Arten von Tieren,besonders nützlicher Vogelarten, der Fische etc., zu welchemZweck besondere Polizeivorschriften zu erlassen sind. Dem T.gewidmete Zeitschriften erscheinen gegenwärtig in Berlin("Ibis", seit 1872), Darmstadt (seit 1874), Stuttgart (seit 1875),Köln (seit 1877), Guben (seit 1881), Riga (seit 1885), Aarau(seit 1887).

Tiers-consolidé (franz., spr.tjähr-kongsso-), die 30. Sept. 1797 anerkannte 5proz.französische Rente, welche 1802 als "Cinq pour Cent"bezeichnet und 1862 auf Grund der Gesetze vom 1. Mai 1825 und 14.März 1852 in 3, bez. 4½ pour cent de 1852 umgewandeltwurde.

Tierseelenkunde (Tierpsychologie), die Wissenschast vonden geistigen Fähigkeiten der Tiere, welche eigentlich nureinen Teil der allgemeinen Psychologie (s. d.) zu bildenhätte. Die ältern heidnischen Philosophen, wieParmenides, Empedokles, Demokrit, Anaxagoras u. a., waren auchvollkommen überzeugt, daß die Tiere in ganzähnlicher Weise wie der Mensch Schlüsse ziehen undErfahrungen einsammeln; Plutarch schrieb eine Abhandlung überdie Frage, ob die Land- oder Wassertiere klüger seien, undPorphyrios betonte mit strenger Folgerichtigkeit, daß wie imkörperlichen Bau auch im geistigen Leben kein prinzipieller,sondern nur gradweise Unterschiede zwischen Tier und Menschvorhanden seien. Einige alte Philosophen übertrieben dieseErkenntnis sogar, indem Celsus z. B. den Tieren selbst Religion,Sprache und Prophetengabe zuschrieb, worauf Origines sehr richtigbemerkte, daß sich ihre scheinbare Voraussicht nur aufErhaltung ihrer eignen Brut erstrecke. Die unter den Einflußder Kirche geratene Philosophie gewöhnte sich sodann seitDescartes, den Tieren Überlegung und geistiges Leben ganzabzuerkennen und sie für eine Art von Automaten zuerklären, deren Handlungen sich nur nach bestimmten, fürjede Art ein für allemal festgestellten Normen bewegen, dieden sogen. Instinkt (s. d.) der Art ausmachen. Bei dieser Annahmewar das Studium der geistigen Fähigkeiten der Tiereüberflüssig, und obwohl sie nicht unwidersprochen bliebund Rorarius, der Nunzius Papst Clemens' VII., sogar 1654 ein Buchunter dem Titel: "Die wilden Tiere brauchen ihren Verstand besserals der Mensch" veröffentlichte, so bewegten sich doch die zumTeil überaus genauen Beobachtungen der Kunsttriebe niedererTiere, welche Swammerdam, Réaumur, Rösel von Rosenhof,Bonnet, Trembley u. a. im 17. und 18. Jahrh. anstellten, lediglichin der Richtung, das von Gott geordnete wunderbare "Maschinenwerk"darin zu bewundern. Es ist unerhört, was in dieser Richtungbeispielsweise über den mathematischen Instinkt der Bienen beiihrem Wabenbau oder über die angeborne Wissenschaft gewisserTrichterwickler noch in neuerer Zeit zusammenphantasiert wordenist, obwohl solche Kunstwerke, wie Müllenhof gezeigt hat, zumTeil einfach genug entstehen. Eine Richtung zum Bessern zeigtenzuerst die "Allgemeinen Betrachtungen über die Triebe derTiere" (1760) des Hamburger Populärphilosophen HermannReimarus, sofern hier die fest determinierten Triebe von denfreiern geistigen Handlungen unterschieden werden; aber erst dieeingehenden Beobachtungen des Tierlebens durch Forscher undLiebhaber, wie sie Brehm Vater und Sohn, Scheitlin, dieGebrüder Müller und zahlreiche andre Tierfreundeangestellt haben, brachen das alte Vorurteil und bahnten derAusdehnung einer wissenschaftlichen Psychologie auf die Tierwelt,wie sie in Deutschland namentlich Wundt anstrebte, Bahn. Docheröffnete erst das Auftreten Darwins diesen Bestrebungen dierechten Gesichtspunkte, sofern er auf das Werden und Wachsen dergeistigen Fähigkeiten unter den Tieren so gut wie derkörperlichen Formen hinwies und auch hierbei die Wirksamkeitder natürlichen Auslese betonte (s. Darwinismus, S. 570).Seitdem haben sich viele Forscher mit dem größten Erfolgder vergleichenden und experimentellen T. gewidmet, und es istunvergessen, was in dieser Richtung Lubbock, Hermann Müller,Plateau, Forel, Preyer und viele andre Forscher über diegeistigen Fähigkeiten der Insekten und andrer niedern Tiereermittelt haben, indem sie sie teils in ihre gewohnten und teils inneue Bedingungen versetzten. Es hat sich dabei ergeben, daßman ihre geistigen Fähigkeiten zum Teil über- und zumTeil unterschätzt hat. Das sogen. Totstellen der niedern Tierehat sich z. B. als eine nützliche Schrecklähmung (s.Kataplexie), die Selbstamputation der Seesterne, Krebse, Spinnenund Eidechsen, die man früher als Ausfluß eines starkenund heroischen Willens ansah, als bloßer unbewußterReflexakt erwiesen, anderseits haben aber viele Beobachtungen, z.B. diejenigen Preyers an gefesselten Seesternen, gezeigt, daßdie Fähigkeit, sich in neuen und schwierigen Lagenzweckmäßig zu benehmen, selbst bei niedern Tieren nichtgering ist. Ebenso ist das Gedächtnis früh entwickelt,und selbst kopflose Tiere, wie die Muscheln, lernen schnellGefahren vermeiden, wie die Messerscheide (Solen), die sich nachForbes nur einmal durch aufgestreutes Salz aus ihrer Sandröhrehervorlocken läßt, nicht aber zum zweitenmal. Neuere imSinn der Entwicklungslehre angestellte Untersuchungen habenwahrscheinlich gemacht, daß bei den niedern Tieren nur diechemischen Sinne (Geruch und Geschmack) neben dem körperlichenGefühlssinn feiner entwickelt sind, und daß diehöhern Sinne (Gehör und Gesicht) erst auf vielhöhern Organisationsstufen ihre Ausbildung erfahren. DasVorwiegen der chemischen Sinne bis in die Kreise der niedernWirbeltiere hinauf lehrt auch die vergleichende Gehirnkunde, welchedie vorherrschende Entwickelung der sogen. Riechlappen bei allenniedern Wirbeltieren, ja bis zu den untern Klassen der Säugerhin zeigt. Hierzu hat die Paläontologie ferner den Beweiserbracht, daß der vom Gehirn ausgefüllte Hohlraum

Meyers Konv. -Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd.

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Tiers-état - Tiflis.

des Schädels selbst in derselben Familie, z. B. bei dem biszum Eocän zurückverfolgbaren Geschlecht der pferdeartigenTiere (Equiden), ein beständiges Wachstum in der Zeitaufweist, wie denn die Tiere mit sehr unausgebildetem Hirn, z. B.die Faultiere, unter den Säugern auch ein sehr unentwickeltesSeelenleben und große Stumpfheit zeigen. In den höhernAbteilungen, z. B. bei den Affen, ist es namentlich dasGroßhirn, dessen beide Hemisphären eine erheblicheZunahme zeigen, bis sie (beim Menschen) alle übrigenGehirnteile bedecken. Den einzigen wesentlichen Unterschied dertierischen von der menschlichen Intelligenz sucht Vignoli in demMangel des Selbstbewußtseins bei der erstern, doch ist einebestimmte Grenze auch hierin nicht zu ziehen, und man kann nur einstufenweises Wachstum der Fähigkeiten bei den höhernTieren nachweisen. Vgl. Wundt, Grundzüge der physiologischenPsychologie (3. Aufl., Leipz. 1887); Romanes, Die geistigeEntwickelung im Tierreich (das. 1885); Vignolt, Über dasFundamentalgesetz der Intelligenz im Tierreich (das. 1879);Büchner, Aus dem Geistesleben der Tiere (3. Aufl., Berl.1880); über die geistigen Fähigkeiten der Insekten:Fabre, Souvenirs entomologiques (3 Tle., Par. 1879, 1882 u. 1886);Lubbock, Ameisen, Bienen und Wespen (deutsch, Leipz. 1883);Derselbe, Die Sinne und das geistige Leben der Tiere (das. 1889);über höhere Tiere: Scheitlin, Versuch einervollständigen T. (Stuttg. 1840, 2 Bde.); Rennie,Fähigkeiten und Kräfte der Vögel (Leipz. 1839);Derselbe, Baukunst der Vögel (Stuttg. 1847).

Tiers-état (franz., spr. tjähr-setá,der "dritte Stand"), in Frankreich in der Zeit vor 1789 die Massedes Volkes im Gegensatz zum Adel und Klerus als den beidenprivilegierten Ständen.

Tiers-parti (franz., spr. tjähr-, die "drittePartei"), Fraktion in der franz. Deputiertenkammer, welchewährend der Kammersitzung von 1832 bis 1833 entstand und dieHerrschaft des Mittelstandes bezweckte.

Tiersymbolik, s. Symbolik.

Tierwolf, s. Luchs.

Tierzucht, s. Viehzucht.

Tieté, Nebenfluß des Paraná, in derbrasil. Provinz São Paulo, bildet 56 Katarakte, von denender unterste 16 km oberhalb der Mündung liegt und 22 m tiefist.

Tietjens, Therese, Opernsängerin, geb. 18. Juli 1831zu Hamburg von ungarischen Eltern, betrat 1847 das St.Pauli-Aktientheater und wurde im folgenden Jahr am AltonaerStadttheater engagiert, ging 1850 nach Frankfurt a. M., 1851 nachBrünn und wurde 1853 Mitglied des Kärntnerthor-Theatersin Wien. 1858 kam sie als Primadonna der Italienischen Oper nachLondon, wo sie bis zum Frühjahr 1877 als Opern, Konzert- undKirchensängerin eine rege Thätigkeit entfaltete und dochnoch Zeit fand, in Italien, Spanien, Paris und Deutschland (Berlin,Köln, Hamburg) zu singen. Sie starb 3. Okt. 1877 in London.Eine Vertreterin des echt musikalisch-dramatischen Stils,besaß sie ein Organ von wunderbarer Weichheit, andauernderFrische und Mächtigkeit; sie schuf edle, große,klassische Gestalten u. fesselte namentlich durch meisterhafteDeklamation des Recitativs.

Tieuté (spr. tjö-), s. Pfeilgift.

Tiférnum, s. Cittá di Castello.

Tiffin, Stadt im nordamerikan. Staat Ohio, GrafschaftSeneca, 64 km südöstlich von Toledo, in reicherWeizengegend, mit (188^) 7879 Einw.

Tiflis, Gouvernement der russ. StatthalterschaftKaukasien, 40,417 qkm (734 QM.) groß mit (1885) 785,313 Einw.(darunter 24 Proz. Mohammedaner, erstreckt sich zu beiden Seitendes Kuraflusses, im N. bis an den Hauptkamm des Kaukasusgebirges,im S. bis an das armenische Hochland reichend, hat nur in der MitteEbenen, auch Steppen, ist aber im ganzen ein fruchtbaresGebirgsland mit vielem Weinbau, zahlreichen ergiebigenNaphthabrunnen und Mineralquellen. Die gewerbliche Thätigkeitder Bewohner ist nicht unbedeutend, man fabriziert besondersschöne Teppiche und Shawls. Der Handel wird besondersgefördert durch die das Gouvernement mitten durchschneidendePoti-Baku-Eisenbahn sowie durch die über den Kaukasus durchden Engpaß Dariel nach Wladika*wkas führendeTiflisstraße. Deutsche Kolonien befinden sich inAlexandershilf, Elisabeththal, Marienfeld, Katharinenfeld mitzusammen 5000 Einw., zahlreiche Deutsche wohnen außerdem inder Stadt T. und in Neutiflis.

Die gleichnamige Stadt, in einem engen, von kahlen Felseneingeschlossenen, durch Weinpflanzungen, Gebüsch undGartenanlagen verschönerten Kesselthal, zieht sich an beidenUfern der wilden Kura hin, 460 m ü. M., hat (1886) 104,024Einw., meist Armenier, Georgier, Russen, über 2000 Deutsche,ferner Tataren, Perser, Polen, Juden. u. a. Nach Brugsch werdenhier 70 Sprachen gesprochen. Die Stadt ist in Bauart undLebensweise eine interessante Mischung asiatischen undeuropäischen Wesens. Sie zerfällt in vier Teile. Amrechten Flußufer liegen die Altstadt und Seid Abbad mit ganzasiatischem Charakter, Karawanseraien, Bazaren, vielen Kirchen,warmen Quellen, und der nördlich davon außerhalb deralten Stadtmauer von den Russen angelegte Teil, dann das anschönen Plätzen, Kaufläden, Palästen reicheQuartier Sololaki, am linken Ufer das aus einer schwäbischenAnsiedelung entstandene Kuki, der Vergnügungsort der Tifliserund Wohnsitz der meisten Europäer. Daran schließen sichmehrere Vorstädie, worunter das nach den Naphthaquellen an derKura benannte Nawtlug. T. ist Sitz des Statthalters von Kaukasien,des Zivilgouverneurs für das Gouvernement T., der oberstenMilitär- und Regierungsbehörden, eines georgischenPatriarchen und Metropoliten, eines armenischen Erzbischofs undeines deutschen Berufskonsuls; es besitzt 76 Kirchen, darunter 36griechisch-russische, 26 armenische, je 2 protestantische undrömisch-katholische, 2 Klöster, 2 Moscheen, verschiedenehöhere russische Schulen (Gymnasium nebst 2 Progymnasien,Militärschule, Handelsschule, 2 Lehrerseminare u. a.), 2deutsche Schulen, öffentliche Bibliothek, Naturalienkabinett,botanischen Garten, astronomisches und magnetisches Observatorium,Theater, Münze. Von den Industrien der Stadt sinderwähnenswert die Fabrikation von Woll-, Baumwoll- undHalbseidenstoffen, Tapeten, Leder, Salzraffinerie, die Arbeiten inSilberfiligran, Büchsenmacherei und Schwertfegerei. DemHandelsverkehr dienen die Tiflisstraße und diePoti-Baku-Eisenbahn (s. oben), doch hat der Transitverkehr nachPersien durch die seit 1883 eingeführten Zollerhöhungenaufgehört. Europäer und Armenier vertreiben alsGroßkaufleute die europäischen Waren. - Die Stadt, 455n. Chr. gegründet, geraume Zeit Residenz der Könige vonGeorgien, erlitt öfters Verheerungen infolge dervorderasiatischen Völkerbewegungen. Zu Anfang des 17. Jahrh.fiel sie zwar unter türkische Herrschaft, ward aber von demgeorgischen König Rustum (1636-58) wiedererobert undbefestigt. Zu Anfang des 18. Jahrh. bemächtigten sich dieTürken abermals der Stadt, wurden aber 1735 von Schah

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Tigellinus - Tigeraugenstein.

Nadir wieder vertrieben, der den georgischen KönigTheimuras wiederum einsetzte. Dessen Sohn Irakli (Heraklius) hobdie Stadt zu hoher Blüte; aber 1795 vertrieb der Perser AgaMohammed Chan Irakli, legte die Stadt abermals in Asche undschleppte 30,000 Menschen in die Sklaverei. Im November 1799 nahmder russische Generalmajor Lasarus von der Stadt Besitz. 1801 wurdeGrusien zu einem russischen Gouvernement und T. zurGouvernementsstadt erhoben.

Tigellinus, Sophonius, aus Agrigent gebürtig,niedern Standes, ward 39 n. Chr. von Caligula wegen unerlaubtenUmgangs mit Agrippina und Julia verbannt, von Claudiuszurückgerufen, erwarb sich durch die Zucht von Pferdenfür Wettkämpfe das Wohlwollen Neros, an dessen Lasternund Ausschweifungen er teilnahm, und den er zu dengrößten Grausamkeiten antrieb, wurde nach Burrus' Tod 62Praefectus praetorio, diente Nero namentlich bei seiner grausamenVerfolgung der Teilnehmer an der Pisonischen Verschwörung,verriet Nero, als Galba sich gegen denselben erhob, rettete unterGalba sein Leben durch die Gunst des Vinius, ward aber von Otho zumTod verurteilt und tötete sich in Sinuessa.

Tiger (Königstiger, Felis Tigris L., s. Tafel"Raubtiere III"), Raubtier aus der Gattung und der Familie derKatzen, gewöhnlich 1,6 m lang mit 80 cm langem, quastenlosemSchwanz und am Widerrist etwa ebenso hoch. Alte Männchenerreichen eine Gesamtlänge von 2,9 m. Das Weibchen istkleiner. Der T. ist gestreckter, leichter und höher gebaut alsder Löwe, der Kopf ist runder. Die Behaarung ist kurz undglatt und nur an den Wangen bartartig verlängert. Auf demRücken ist die rostgelbe Grundfarbe dunkler, an den Seitenlichter, auf der Unterseite, den Innenseiten der Gliedmaßen,dem Hinterleib, den Lippen und dem untern Teil der Wangenweiß. Vom Rücken aus ziehen sichunregelmäßige, zum Teil doppelte, schwarze Querftreifenin schiefer Richtung nach der Brust und dem Bauch herab. DerSchwanz ist lichter als der Oberkörper, dunkel geringelt; dieSchnurren sind weiß, die rundsternigen Augen gelblichbraun.Der T. findet sich in Asien vom 8.° südl. Br. bis zum53.° nördl. Br., also bis in das südliche Sibirienund vom Kaukasus bis zum untern Amur. Von seinem Hauptsitz, Vorder-und Hinterindien, aus verbreitet er sich durch Tibet, Persien unddie weite Steppe zwischen Indien, China und Sibirien bis zum Araratim W. von Armenien, nach N. bis in die Bucharei und Dsungarei, nachO. vom Baikalsee durch die Mandschurei bis nach Korea an dieMeeresküste. In China findet er sich fast überall, undnur in den höhern Gegenden der Mongolei und in den waldlosenEbenen von Afghanistan trifft man ihn nicht. Ebenso scheint er auchauf den Inseln des Indischen Archipels, mit Ausnahme Javas undSumatras, zu fehlen. Sein Aufenthalt sind ebensowohl Dschangelnoder Rohrdickichte mit Gesträuch wie hochstämmigeWälder, aber immer nur bis zu einer gewissen Höheüber dem Meer. Auch kommt er dicht an Dörfer undStädte heran. Er zeigt die Gewohnheiten der Katzen. SeineBewegungen sind ungemein rasch und ausdauernd; er schleichtunhörbar dahin, macht gewaltige Sätze, klettert gewandtan Bäumen empor und schwimmt über breite Ströme. Erstreift zu jeder Tageszeit umher, am liebsten in den Stunden vorund nach Sonnenuntergang. Der T. ist ein weit gefährlicheresRaubtier als der Löwe. Seine Beute schlangenartigbeschleichend, stürzt er sich pfeilschnell mit einigenSätzen auf dieselbe und schlägt mit seinen Krallenfurchtbare, fast immer tödliche Wunden. Eine verfehlte Beuteverfolgt er als echte Katze nicht weiter. Wild und verwegen, zeigter doch in der Gefahr wenig Mut, und wenn er sich verfolgt sieht,ergreift er fast feig die Flucht. Beim Fortschaffen der Beutebekundet er sehr viel Klugheit und List. Er besitztaußerordentliche Kraft, trägt einen Menschen und selbstein Pferd oder einen Büffel im Rachen fort, und nur diestärksten Säugetiere, wie Elefant, Nashorn,Wildbüffel, sind vor ihm sicher. In Ostindien sind einzelneEngpässe und Schluchten durch seine Räubereienberüchtigt, und aus manchen Ortschaften hat er die Bewohnervöllig vertrieben. Durch große Treibjagden ist er ineinzelnen Gegenden, z. B. auf Ceylon, fast ganz ausgerottet worden;in andern findet er sich aber noch sehr zahlreich vor, namentlichwürde in Gudscharat, wo man nur des Nachts reisen kann, ohneAufbieten von Lanzenträgern, Trommlern und Fackelträgernkaum ein Verkehr möglich sein, und manche Lokalitätensind durch den T. völlig ungangbar geworden. Hat ein T. einmalMenschenfleisch gekostet, so zieht er dasselbe jedem andern vor. Erschwimmt dreist auf Kähne zu und dringt in Ortschaften und vonWachtfeuern umgebene Lager ein, um Menschen zu rauben. AufSingapur, wohin der T. nur durch die Meerenge schwimmend gelangenkann, werden jährlich an 400 Chinesen von Tigern zerrissen,und auf Java beträgt die Zahl der Opfer etwa 300. Die Tigerinträgt 105 Tage und wirft 2-3 Junge. In Indien betrachtet manden T. mit abergläubischer Furcht und sieht in ihm eine Artvon strafendem Gott. Auch in Ostsibirien herrschen ähnlicheVorstellungen, und auf Sumatra erblickt man im T. nur dieHülle eines verstorbenen Menschen und wagt nicht, ihn zutöten. In Indien verbieten einige Fürsten die Tigerjagd,welche sie für sich selbst reservieren. Dagegen thut dieenglische Regierung sehr viel, um den T. auszurotten. Den altenGriechen war der T. wenig bekannt, selbst Aristoteles wußtevon ihm soviel wie nichts. Auch die Römer wurden erst seitVarros Zeit mit dem T. bekannt, und Scaurus zeigte zuerst im J. 743der Stadt einen gezähmten T. im Käfig; später kamenT. häufig nach Rom. Der Kaiser Heliogabalus soll sogargezähmte T. vor seinen Wagen gespannt haben. Nach dem Berichtvon Marco Polo benutzte der Chan der Tatarei gezähmte T. zurJagd. Noch heute lassen indische Fürsten gefangene T. mitandern starken Tieren kämpfen, auf Java auch mitLanzenträgern. Der T. ist zähmbar, bleibt aber stetsgefährlich. Er hält sich gut in der Gefangenschaft undpflanzt sich auch fort. Man hat auch Bastarde von Löwen undTigern erhalten. Die Tigerfelle, welche über England undRußland häufig in den Handel kommen, werdenhauptsächlich zu Pferde- und Schlittendecken benutzt. DieKirgisen benutzen sie zur Verzierung der Köcher undschätzen sie sehr hoch. Das Fleisch soll wohlschmeckend sein,und die Tungusen glauben, daß es Mut und Kraft verleihe; inChina dient es als Arzneimittel. In andern Ländernschätzt man mehr Zähne, Klauen, Fett und Leber. Vgl.Brandt, Untersuchungen über die Verbreitung des Tigers(Petersb. 1856); Fayrer, The royal t. of Bengal (Lond. 1875).

Tigeraugenstein, gelbbraunes, faseriges Mineral, einUmwandlungsprodukt des Krokydoliths, zwischen dessen Fasern Quarzeingedrungen ist, während das Eisen des ursprünglichenMinerals in Eisenhydroxyd verhandelt wurde. T. findet sich in denDoorn- und Griquastadbergen in Südafrika und wird wegen seinerHärte und seines schönen wogenden Lichtscheins zuSchmucksachen mit ebenen Flächen verarbeitet.

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Tigerfink - Tigris.

Tigerfink, s. Astrilds.

Tigerkatze, s. v. w. Ozelot, s. Pantherkatzen, S.659.

Tigerpferd, s. v. w. Zebra.

Tigerschlangen (Pythonidae Dum. et Bibr.), Familie ausder Ordnung der Schlangen und der Unterordnung der nicht giftigenSchlangen, große Tiere mit sehr gestrecktem Körper,mäßig langem, rundem Schwanz, langschnauzigem Kopf,weitem Rachen mit derben Zähnen und rudimentärenHinterextremitäten neben dem After. Die Tigerschlange (Pythonmolurus (Gray. s. Tafel "Schlangen II"), 7-8 m lang, an der vordernHälfte des Oberkopfs mit regelmäßigen Schildern, ander hintern mit Schuppen bedeckt, ist am Kopf grau fleischfarben,auf Scheitel und Stirn hell olivenbraun, auf dem Kopf mitölbraunen Flecken und Streifen, auf dem Rücken hellbraun,auf der Unterseite weißlich, außerdem auf demRücken mit großen, vierseitigen, braunen, dunklergerandeten Flecken versehen. Sie bewohnt Asien von der Küstedes Arabischen Meers bis Südchina und nördlich bis zumHimalaja, auch die Sundainseln. Ebenso groß ist die Gitter-oder Netzschlange (P. reticulatus Gray), auf der MalaiischenHalbinsel und allen Inseln des Indischen Meers. Beide sind soungefährlich wie die amerikanische Riesenschlange, lebenbesonders in der Nähe des Wassers, nähren sich vonkleinen Säugetieren, und nur alte, große Exemplare wagensich an Ferkel und die Kälber der kleinen Hirscharten. Sielegen eine größere Anzahl Eier und bebrütendieselben mehrere Monate. Auch in der Gefangenschaft hat sich dieTigerschlange fortgepflanzt. Man hält sie hier und da gern alsRattenfängerinnen; anderwärts werden sie sehrgefürchtet.

Tigerwolf, s. Hyäne.

Tiglat Pilesar (Tuklat-habalasur), Name zweierassyrischer Könige: 1) T. I., 1130-1100 v. Chr., unternahmEroberungszüge nach Armenien und Syrien. -

2) T. II., 745-727, Sohn Assurnirars II., der Begründer derassyrischen Weltmacht, dehnte die Grenzen des Reichs über Iranbis zum Persischen Golf und nach Arabien aus, unterjochteBabylonien sowie den westlichen Teil des Hochlandes von Iran undvollendete in zahlreichen Feldzügen die Unterwerfung Syriens,setzte nach der Ermordung Pekahs Hosea als König von Israelein, führte viele angesehene Einwohner als Gefangene ab underoberte 732 Damaskus, dessen König Rezin er hinrichtenließ. Die Thaten, welche die Bücher des Alten Testamentseinem König Phul (s. d.) zuschreiben, kommen thatsächlichT. zu.

Tigranes, der Große, König von Armenien, geb.121 v. Chr., aus dem Geschlecht der Arsakiden, bestieg 95 denThron, eroberte Atropatene, Mesopotamien, das nördliche Syrienund Kappadokien, gründete die neue großartigeKönigsresidenz Tigranokerta am Nikephorios und nannte sichKönig der Könige. Als er den Römern die Auslieferungseines zu ihm geflüchteten Schwiegervaters Mithridatesverweigerte, wurde er 69 von Lucullus bei Tigranokerta besiegt undbis Artaxata verfolgt, wo 68 Lucullus durch eine Meuterei in seinemHeer zur Umkehr gezwungen wurde. Nach der zweiten Niederlage desMithridates durch Pompejus unterwarf er sich 66 diesem und empfingArmenien unter römischer Oberhoheit zurück, mußteaber alle Eroberungen abtreten und 6000 Talente zahlen. Er starb36.

Tigre (franz., spr. tihgr), kleiner Reitknecht,Groom.

Tigré (Tigrié), der nördliche TeilAbessiniens, welcher zeitweilig ein eignes Reich bildete und ausden Landschaften Hamasên, Saraë, Adiabo, Schiré,Agamé, Enderta und dem eigentlichen T. besteht. Diehauptsächlichsten Flüsse des Landes sind der Mareb undTakazzé; in Bezug auf seine Bodengestaltung und Produkte s.Abessinien. Die Bewohner des Landes, dem äthiopischen Stammangehörig, unterscheiden sich von ihren südlichenNachbarn, den Amhara, in mancher Beziehung, namentlich auch durchdie Sprache. Dieselbe (Tigrinja; Grammati von. Prätorius,Halle 1872, und von Schreiber, Wien 1886) ist eine Tochtersprachedes Altäthiopischen (Geez), wird aber nicht geschrieben;dagegen wird das ebenfalls dem Geez verwandte Tigrié oderBaose in der Samhara und von den Beni Amer an der Seeküsteunter 16-18° nördl. Br. gesprochen. Hauptstadt von T. istAdua. Das selbständige Reich T. ging 9. Febr. 1855 in derSchlacht von Debela (in Semién) zu Grunde, wo sein letzterHerrscher, Ubié, von Theodoros II. besiegt und um sein Landgebracht wurde. Auch in der Folge blieb T. mit dem Zentralstaat(Amhara) vereinigt. S. Karte "Ägypten etc."

Tigri, Giuseppe, ital. Schriftsteller, geb. 22. Nov. 1806zu Pistoja, widmete sich aus äußern Anlaß demgeistlichen Stand, lebte aber als Abbate ganz den Wissenschaftenund gründete in den 30er Jahren ein Lehrinstitut, welches bis1850 bestand. 1861 machte er eine Reise durch die Schweiz,Deutschland, Holland, Belgien, England und Frankreich, wirkte dannals Inspektor der Schulen von Pistoja und San Miniato und alsStudienprovisor in Caltanissetta, endlich als Bibliothekar derBiblioteca Forteguerri in Pistoja, wo er 9. März 1882 starb.Er schrieb: "Le selve" (1844, 2. Aufl. 1868), ein ausgezeichnetesLehrgedicht über die Pflege des Kastanienbaums, in welchemsich mit dem Lehrhaften fesselnde Naturschilderungen undhistorische Exkurse verbinden, und veröffentlichte die "Cantipopolari toscani", sein Hauptwerk, das in mehreren Auflagen (ambesten, Flor. 1856) verbreitet ist. Nicht geringern Beifall fandsein durch pittoreske Schilderungen ausgezeichneter Roman "Laselvaggia de' Vergiolesi" (1870, 2. Aufl. 1876). SeinLleblingsthema, das Leben der Gebirgsbewohner, behandelte erteilweise auch in den Schriften: "Il montanino toscano volontarioalla guerra dell' indipendenza italiana 1859" (1860), "Volontario esoldato" (1872), "Celestina, bozzetto montanino" (1880) u."Matilde", denen eine historische Novelle in Versen (1881) folgte.Aus Tigris Feder stammt ferner die gekrönte Preisschrift"Contro i pregiudizii popolari etc." (1870); die Reisebeschreibung"Da Firenze a Costantinopoli e Mosca" (1877) u. a.

Tigris, Tiger.

Tigris (v. altpers. tigra, "Pfeil", assyr. Chiddekel,armen. Deklath, arab. Didschle), einer der Hauptströme vonVorderasien, nächst dem Euphrat, mit dem er dasaltberühmte Kulturland Mesopotamien umschließt, dergrößte Fluß in der asiatischen Türkei,entspringt in mehreren Quellflüssen am Südrand derarmenischen Taurusketten in Kurdistan. Der westliche, vorzugsweiseDidschle oder Schatt genannt, entspringt südlich von Charputunweit der großen Biegung des Euphrat, fließt beiDiarbekr vorüber, wendet sich östlich und nimmt in engerGebirgsschlucht bei Til den östlichen Arm, Bohtântschaigenannt, auf, der südlich von Wan entspringt, und in den derdritte Quellfluß, Bitlistschai, mündet. Von nun anbehält der T. im allgemeinen südöstliche Richtungbei. Er fließt zunächst mit bedeutenden Windungen durchdie assyrische Ebene an Mosul und Bagdad vorüber, nähertsich dort dem Euphrat, durch zahlreiche, zum großen Teiltrockne Kanäle mit ihm

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Tiguriner - Tilgner.

verbunden, bis auf ca. 30 km, nimmt in seinem untern Lauf denNamen Amara an und vereinigt sich nach einem Laufe vonungefähr 1500 km bei Korna mit dem Euphrat zu einem einzigenStrom, dem Schatt el Arab (s. d.). Bei der Vereinigung beiderStröme ist der T. weit wasserreicher und reißender alsder Euphrat. Von den zahlreichen Nebenflüssen des T. sind diebedeutendsten: Chabur, die beiden Zab und Diala. Der vereinigteStrom nimmt noch die Kercha und den Kârûn auf. Der T.ist von Mosul an schiffbar (für Kellek, d. h. Flößeaus aufgeblasenen Tierhäuten, von Diarbekr an), hat eineansehnliche Breite und Tiefe, aber auch viele Felsenklippen; dervereinigte Strom ist auch für große Schiffe fahrbar,doch wird die Einfahrt an der Mündung durch Sandbänkesehr erschwert. Die Ufer des T., einst Sitze hoher Kultur undZivilisation, sind jetzt verödet und, mit Ausnahme der OrteDiarbekr, Mosul und Bagdad, fast nur von nomadischen Kurden- undAraberstämmen bewohnt.

Tiguriner, kelt. Volk, welches den helvetischen PagusTigurinus bewohnte. Die T. erscheinen zuerst in Verbindung mit denCimbern, mit denen sie das südliche Gallien verwüsteten;107 v. Chr. schlugen sie am Lemanischen See den Konsul L. Cassius;dann folgten sie 102 den Cimbern nach Osten, drangen aber nicht inItalien ein, sondern kehrten in ihre Heimat zurück, nahmen 58an dem Zug der Helvetier nach dem südlichen Gallien teil,wurden von Cäsar an der Saône geschlagen und zurRückkehr nach der Schweiz gezwungen.

Tikal (Bat), 1) siames. Silbermünze, 15,228 gschwer, 0,928 fein, im Wert von 2,544 Mk.;

2) Gewicht in Siam (= 4 Salung à 2 Fuang = 15,292 g) undin Birma (= 1/100 Pehtha = 16,556 g).

Tikei, Insel, s. Romanzow.

Tiki-Tiki, Zwergvolk, s. Akka.

Tikmehl, s. Arrow-root.

Tikotschin (Tikoczyn), Stadt im russisch-poln.Gouvernement Lomsha, am Narew, mit 3 Kirchen, lebhaftemGrenzverkehr und (1882) 6008 Einw.

Tikuna, Indianerstamm im Innern von Brasilien, welchermit vielen andern größern und kleinern Völkern(Miranha am obern Yapure, Catauaxi am Coury, Botokuden im O. desSão Francisco u. a.) innerhalb des Gebiets der Tupi-Guaraniund der Omagua wohnt. Wahrscheinlich hängen die T. nicht mitjenen zusammen, bilden vielmehr die zersprengten Überresteeines oder mehrerer größerer Stämme. S. Tafel"Amerikanische Völker", Fig. 22 u. 23.

Tikunagift, s. Pfeilgift.

Tilborch, Gillis, niederländ. Maler, geboren um 1625zu Brüssel, Schüler von D. Teniers, wurde 1654 Meisterdaselbst und starb um 1678. Er hat in der Art seines Meisters undCraesbeecks Genrebilder aus dem Bauernleben (Hochzeiten,Wirtshausszenen, Schlägereien u. dgl. m.) gemalt. Hauptwerk:Bauernhochzeit (in Dresden).

Tilburg, Stadt in der niederländ. ProvinzNordbrabant, durch Eisenbahnen mit Breda, Nimwegen, Boxtel undTurnhout verbunden, hat ein Kantonalgericht, eine höhereBürgerschule, einen erzbischöflichen Palast, 4römisch-katholische und eine reform. Kirche, eine Synagoge,starke Tuch- und Wollzeugfabrikation, Gerberei etc. (im ganzenüber 300 Fabriken) und (1887) 32,016 Einw.

Tilbury (engl., spr. tillberi), Art Kabriolett, einleichter zweiräderiger Gabelwagen.

Tilbury (spr. tillberi). Dorf in der engl. GrafschaftEssex, an der Themse, Gravesend gegenüber; dabei das Fort T.,ursprünglich von Heinrich VIII. erbaut. Hier hielt dieKönigin Elisabeth Heerschau über die englische Armee, alsdie spanische Armada England bedrohte. Oberhalb sind seit 1882großartige Docks mit 168 Hektar Wasserfläche und 11 mTiefe gebaut worden.

Tilde (span.), "Strichlein", insbesondere das Zeichen aufdem (spanischen) ñ, z. B. señor (spr.ssénjor).

Tilden, Samuel Jones, amerikan. Staatsmann, geb. 9. Febr.1814 zu New Lebanon im Staat New York, studierte Jura und ward 1841Advokat in New York. Frühzeitig widmete er sich der Politik,wurde bald ein hervorragender Führer der demokratischen Parteiund war viele Jahre Präsident des demokratischen Komitees,eine Stellung, die ihm großen Einfluß gab. Er that sichbesonders 1871 durch Sprengung des "Tammany-Rings" (s. d.) hervor.1874 ward er zum Gouverneur des Staats New York gewählt und1876 von den Demokraten als Gegenkandidat für diePräsidentschaft gegen den Republikaner Hayes aufgestellt. T.siegte zwar, doch kassierte die republikanische Majorität deszur Prüfung der Wahlstimmen berufenen Kongreßausschussesmehrere für ihn abgegebene Stimmen und proklamierte Hayes alsPräsidenten. Auch zum Gouverneur von New York wurde T. 1880nicht wieder gewählt, zog sich ganz vom politischen Lebenzurück und starb 4. Aug. 1886. Seine "Writings and speeches"wurden von Bigelow herausgegeben (New York 1885, 2 Bde.).

Tile Kolup, s. Holzschuh.

Tilguer, Viktor, Bildhauer, geb. 25. Okt. 1844 zuPreßburg, bildete sich auf der Akademie zu Wien und bei denProfessoren Bauer, Gasser und Schönthaler und erhielt nochwährend seiner Studienzeit den Auftrag, die Büste desKomponisten Bellini für das Opernhaus und die Statue desHerzogs Leopold VI. für das Arsenal auszuführen. Durchden Einfluß des französischen Bildhauers Deloye, welcher1873 eine Zeitlang in Wien thätig war, und an den sich T.anschloß, wurde dieser auf den naturalistischen Stil derBarock- und Rokokoplastik geführt, in dessen Formensprache ersich, ähnlich wie R. Begas in Berlin, fortan bewegte. Seineersten hervorragenden Schöpfungen warenPorträtbüsten, unter denen die von Charlotte Wolter(1873, s. Tafel "Bildhauerkunst X", Fig. 12) seinen Namen zuerstbekannt machte. Nachdem er 1874 eine Reise nach Italienunternommen, entfaltete er in Wien eine umfangreicheThätigkeit auf dem Gebiet der Porträt- und dekorativenPlastik. Von seinen durch höchste Lebendigkeit, feinsteIndividualisierung und originelle Komposition ausgezeichnetenPorträtstatuen und -Büsten sind die hervorragendsten:Kaiser Franz Joseph, Kronprinz Rudolf, die Maler Führich,Schönn und Leopold Müller, H. Laube, Bauernfeld, Rubens(für das Künstlerhaus in Wien), von seinen dekorativenArbeiten: die Figuren der Phädra und des Falstaff für dasneue Opernhaus, Triton und Najade (Brunnengruppe in Erz imVolksgarten zu Wien), Brunnen- und Bassinsgruppen für diekaiserlichen Villen in Ischl und im Tiergarten bei Wien, fürden Hochstrahlbrunnen beim Palais Schwarzenberg in Wien (1887) undfür Preßburg (1888). In diesen Figuren, Gruppen undZieraten für Brunnen hat T. eine reiche Phantasie entfaltet,welche auch dem Ausdruck des Monumentalen gerecht wird. FürPreßburg hat T. ein Denkmal des Komponisten Hummelgeschaffen. In neuerer Zeit hat er an Porträtbüsten undGenrestatuetten glückliche Versuche in der Polychromiegemacht. Er ist Professor an der Wiener Kunstakademie, in welcherStellung er zahlreiche

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Tilgungsfonds - Tilly.

Schüler gebildet hat, Mitglied der Berliner Kunstakademieund besitzt die große goldene Medaille der BerlinerKunstausstellung.

Tilgungsfonds (Tilgestamm, engl. Sinking fund), einKapitalfonds, welcher früher in mehreren Staaten zu dem Zweckgebildet worden war, die allmähliche Tilgung derStaatsschulden zu erleichtern. Anfänglich durch eineAusstattung der Staatskasse gegründet und auch durchÜberweisung gewisser Überschüsse vermehrt, solltendiesem Stock alljährlich die ersparten Zinsen abgetragenerSchuldposten so lange zufließen, bis er, um Zins undZinseszins anwachsend, die ganze Schuld in sich aufnehmen und sodie völlige Abtragung bewirken müßte. Ein solcherT. (Sinking fund) wurde 1716 in England durch Rob. Walpoleeingerichtet. Alle getilgten Schuldbriefe sollten als einVermögen der Anstalt betrachtet und derselben fortwährendaus der Staatskasse verzinst werden. Doch wurde dieses Ziel nichterreicht und endlich nach mehreren Wandlungen 1828 der Grundsatzangenommen, daß künftig nur so viel in jedem Jahrgetilgt werden solle, als von den Einkünften nach Bestreitungdes Staatsaufwandes wirklich übrigbleibe. Diesen Grundsatz derfreiern Tilgungsweise hat man heute fast in allen Staatenaufgestellt, in welchen überhaupt Schulden abgetragen werden.Insbesondere wurde man hierzu durch die Thatsache gezwungen,daß häufig neue Anleihen unter ungünstigernBedingungen als denen aufgenommen werden mußten, unterwelchen man tilgte. So wurden in England 1793-1813 für 14Mill. Pfd. Sterl. weniger Obligationen eingelöst, als man nachdem Emissionskurs der kontrahierten Anleihen für den gleichenBetrag zu vertreiben genötigt war. In Frankreich entstand einVerlust von 105 Mill. Fr. am Schuldstamm daraus, daß man imDurchschnitt jeden Frank Rente für 18¾ Fr.zurückkaufte und zugleich bei den neuen Rentenverkäufennur 15¾ Fr. dafür erhielt.

Tilgungsrenten, die zur Amortisation vonHypothekenschulden an landwirtschaftliche Kreditkassen gezahltenBeiträge.

Tilgungsschein, s. Modifikation.

Tilia, Pflanzengattung, s. Linde.

Tiliaceen (lindenartige Gewächse), dikotyle Familieaus der Ordnung der Kolumniferen, Bäume und Sträucher,wenige Kräuter, mit meist wechselständigen Blätternmit freien, meist abfallenden Nebenblättern. Die Blütensind gewöhnlich zwitterig, achsel-, seltener endständig.Die 4 oder 5 Kelchblätter haben klappige Knospenlage und sindhinfällig. Die Blumenblätter stehen in derselben Anzahlabwechselnd mit den Kelchblättern am Grunde des flachen oderstielförmigen Blütenbodens, sind genagelt, ganz oder ander Spitze zerschlitzt, in der Knospenlage dachig, ebenfallsabfallend, bisweilen ganz fehlend. Die meist zahlreichen, durchSpaltung aus 5 oder 10 Grundanlagen hervorgehendenStaubgefäße stehen auf dem Blütenboden, sind allefruchtbar, bisweilen die äußern steril oder auch dieinnern; in manchen Fällen sind sie gruppenweise miteinanderverwachsen. Der oberständige Fruchtknoten besteht aus 2-10quirlständigen Fruchtblättern und hat demgemäß2-10 Fächer, welche bisweilen durch eine sekundäreScheidewand zwei-, seltener durch Querscheidewändemehrfächerig sind. Die Frucht ist entweder eine meistfachspaltige Kapsel oder nicht aufspringend, leder- oder holzartig,oder eine Steinbeere. Die Samen haben ein meist fleischigesEndosperm und in der Achse desselben einen geraden Keimling mitflachen, blattartigen Kotyledonen. Vgl. Bocquillon, Mémoiresur le groupe des Tiliacées. Adansonia VII. Die Familiezählt gegen 300 Arten, von denen die meisten in den Tropen,wenige, wie die Gattung Tilia, in der nördlichengemäßigten Zone einheimisch sind. Von einigen sind diesaftigen Früchte und die ölreichen Samen genießbar.Andre, wie die Linde und Corchorus olitorius, liefern Bastfasern(Jute) und Nutzholz. Fossil sind Arten der Gattungen Tilia L.,Grewia Juss., Apeibopsis Heer u. a. aus Tertiärschichtenbekannt.

Tilla, die in Mittelasien kursierende Goldmünze; diekleine T., in Chiwa und Chokand, hat 12 Tenga, die große T.,in Bochara, 20 Tenga.

Tillandsia L. (Haarananas), Gattung aus der Familie derBromeliaceen, meist kleine Kräuter im heißen Amerika,mit dünnen Stengeln, als Schmarotzer auf Bäumen wachsend.T. usneoides L., besonders in Guayana, hängt mit denfadenförmigen ellenlangen und untereinander verschlungenenLuftwurzeln von den Ästen der Bäume herunter, wieFlechten. Die von der Rinde entblößten Luftwurzelnkommen als braune oder schwarze, bis 22 cm lange Faser (Baumhaar,Caragate, Crin végétal) in den Handel und bilden eintreffliches Surrogat des Roßhaars für Polsterungen.

Tillemont (spr. tilmóng), Sébastien le Nainde, Kirchenhistoriker, geb. 30. Nov. 1637 zu Paris, ward bei denjansenistischen Theologen zu Port Royal gebildet, wo er auch bis zudessen Aufhebung 1679 lebte; dann zog er sich auf sein zwischenVincennes und Montreuil gelegenes Gut T. zurück, wo er 10.Jan,. 1698 starb. Seine Hauptwerke sind die "Mémoiren pourservir à l'histoire ecclésiastique des six primierssiècles" (Par. 1693-1712, 16 Bde.) und "Histoire desempereurs et des audres princes, qui ont regné durant lessix premiers siècles de l'église" (1691-1738, 6 Bde.,unvollendet). Von seiner "Vie de saint Louis" erschien eine neueAusgabe 1846-51, 6 Bde.

Tilletía Tul., Pilzgattung, s. Brandpilze.

Tillicoultry (spr. tillikúhtri), Stadt inClackmannanshire (Schottland), im Thal des Devon, hat bedeutendeWollwarenfabrik und (1881) 3732 Einw.

Tillodoutier, s. Zahnlücker.

Tilly, Johann Tserklaes, Graf von, berühmterFeldherr des Dreißigjährigen Kriegs, geb. 1559 auf demSchloß Tilly in Brabant, ward in einem Jesuitenklostererzogen, trat zuerst in spanische Kriegsdienste, in denen er unterAlexander von Parma seine militärische Schule durchmachte,dann in lothringische, 1598 in kaiserliche Dienste, focht 1600 alsOberstleutnant in Ungarn gegen die Insurgenten und Türken,stieg 1601 zum Obersten eines Wallonenregiments und nach und nachzum Artilleriegeneral auf und erhielt 1610 von Maximilian I. vonBayern die Reorganisation des bayrischen Kriegswesensübertragen. Beim Ausbruch des DreißigjährigenKriegs zum Feldmarschall der katholischen Liga ernannt, gewann er8. Nov. 1620 die Schlacht am Weißen Berg, brach 1621 gegenden Grafen Ernst von Mansfeld auf und verfolgte ihn bis in dieOberpfalz, dann in die Rheinpfalz, wurde 27. April 1622 von demMarkgrafen Georg Friedrich von Baden-Durlach und Mansfeld beiWiesloch geschlagen, besiegte aber dann den erstern 6. Mai beiWimpfen am Neckar, hierauf den Herzog Christian von Braunschweig20. Juni bei Höchst a. M. und eroberte Heidelberg, Mannheimund Frankenthal. Infolge des entscheidenden Siegs 5. und 6. Aug.1623 bei Stadtlohn im Münsterschen

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Tilos - Timäos.

über den Herzog von Braunschweig ward T. vom Kaiser in denGrafenstand erhoben. Er blieb zunächst in Niedersachsenstehen, wo er die gewaltsame Restitution der protestantischenBistümer und Klöster an die katholische Kirche und dieJesuiten ins Werk setzte und den niedersächsischen Kreis zumKampf zwang, schlug 27. Aug. 1626 den DänenkönigChristian IV. bei Lutter am Barenberg, eroberte mit denKaiserlichen unter Wallenstein Schleswig-Holstein und Jütlandund zwang den König 12. Mai 1629 zum Abschluß desFriedens von Lübeck. 1630 an Wallensteins Stelle zumGeneralissimus der ligistischen und kaiserlichen Truppen ernannt,übernahm er die Durchführung des Restitutionsedikts inNorddeutschland und begann zu diesem Zweck die Belagerung vonMagdeburg. Zwar gelang es ihm nicht, Gustav Adolfs Vordringen inPommern zu hindern; aber Magdeburg eroberte er 20. Mai 1631. Dochwar die Eroberung für ihn nutzlos, da der Brand die Stadt ineinen Trümmerhaufen verwandelte. Er konnte sich daher an derNiederelbe gegen den Schwedenkönig nicht behaupten und fiel inSachsen ein, das er plünderte und verwüstete. Hierdurchtrieb er den sächsischen Kurfürsten zum Bündnis mitGustav Adolf, deren vereinigtem Heer er 17. Sept. 1631 in derSchlacht bei Breitenfeld, in welcher der König seineüberlegene Kriegskunst entwickelte, erlag; T. selbst wurdeverwundet, sein Heer löste sich auf. Er eilte hierauf nachHalberstadt, wo er Verstärkungen an sich zog, und brach dannnach dem von den Schweden bedrohten Bayern auf. Bei Verteidigungdes Lechübergangs bei Rain 5. April 1632 ward ihm durch eineFalkonettkugel der rechte Schenkel zerschmettert, und er starbinfolge davon 20. April d. J. in Ingolstadt. T. war von mittlererStatur und hager. Scharfe Gesichtszüge und große, unterbuschigen grauen Wimpern hervorblickende, feurige Augen verrietendie eiserne Härte seines Charakters. Er haßte Aufwandund äußere Ehrenbezeigungen, verschmähte es, sichan der Kriegsbeute zu bereichern, und hielt auch in seinem Heerstrenge Mannszucht. Vor allem war er von kirchlichem Eifer beseelt,die Ausrottung der Ketzerei in Deutschland war ihm Gewissenssache,und er hat dem Kampf den fanatisch-religiösen Charakter mitaufdrücken helfen. Dagegen war er kein roher Wüterich,wie ihn die protestantische Geschichtschreibung darzustellenpflegte. Die neuern katholischen Schriftsteller (O. Klopp, T. imDreißigjährigen Krieg, Stuttg. 1861, 2 Bde., undVillermont, T., Tournai 1859, 2 Bde.; deutsch, Schaffh. 1860) habenT. mit Erfolg von diesem Vorwurf gereinigt, gehen aber in ihrersonstigen Rettung zu weit. Von dem Vorwurf, T. habe dieZerstörung Magdeburgs gewollt, reinigten ihn die ProtestantenHeising ("Magdeburg nicht durch T. zerstört", 2. Aufl., Berl.1855) und Wittich ("Magdeburg, Gustav Adolf und T.", das. 1874). ImJ. 1843 ward ihm in der Feldherrenhalle zu München eine Statue(Modell von Schwanthaler) errichtet.

Tilos (Episkopi, Piskopi, das alte Telos), türk.Felseninsel im Ägeischen Meer, nordwestlich von Rhodos, mitgutem Hafen, Resten der alten Stadt Telos und 800-1000 griech.Einwohnern.

Tilsit, Kreisstadtim preuß. RegierungsbezirkGumbinnen, am Einfluß der Tilse in die Memel und an der LinieInsterburg-Memel der Preußischen Staatsbahn, 10 m ü. M.,hat 4 evangelische (darunter eine runde litauische) und eine kath.Kirche, eine Synagoge, 3 Bethäuser, ein schönes Rathaus,2 neue große Kasernen und (1885) mit der Garnison (einInfanteriebataillon Nr. 41 und ein Dragonerregiment Nr. 1) 22,422Einw. darunter 21,064 Evangelische, 557 Katholiken, 285 sonstigeChristen und 514 Juden. Die Industrie ist besonders wichtig inEisengießerei und Maschinenbau, Hefen- und Spiritus-, Gips-,Kunstwolle-, Chemikalien-, Knochenkohlen-, Seifen-, Kunststein-,Käse-, Schnupftabaks- und Möbelfabrikation, auch befindensich dort 4 Dampfmahl- und 8 Dampfschneidemühlen, 2Ölmühlen, 4 Bierbrauereien, eine Schaumweinfabrik, eineHolzimprägnieranstalt, eine Kalkbrennerei etc. Der Handel,unterstützt durch eine Korporation der Kaufmannschaft, eineReichsbankstelle (Umsatz 1887: 45 1/3 Mill. Mk.) und neben derEisenbahn durch die Schiffahrt auf der Memel, ist besondersbedeutend in Tabak, Holz, Getreide, Steinkohlen, Flachs, Öl,in Schuhwaren etc., auch hat T. besuchte Pferdemärkte. DieStadt ist Sitz eines Landgerichts und eines Hauptzollamtes und hatein Gymnasium, ein Realgymnasium, einen Kunstverein, ein Waisenhausetc. Zum Landgerichtsbezirk T. gehören die neun Amtsgerichtezu Heinrichswalde, Heydekrug, Kaukehmen, Memel, Prökuls,Ragnit, Ruß, Skaisgirren und T. 4 km westwärts von T.fängt die Tilsiter Niederung an, ein fruchtbarer Landstrich imBereich der Mündungsarme der Memel, der sich von N. nach S.80, von O. nach W. 53 km weit ausdehnt und am Kurischen Haff auchden Forst von Ibenhorst (mit Elentieren) umschließt.Geschichtlich merkwürdig ist T. durch den am 7. und 9. Juli1807 von Napoleon I. daselbst abgeschlossenen Frieden zwischenFrankreich und Rußland, bez. Preußen, welch letzteresdie Hälfte seines Gebiets verlor. Vgl. "Aus TilsitsVergangenheit" (2. Aust., Tilsit 1888, 2 Tle.).

Tim, Kreisstadt im russ. Gouvernement Kursk, amFluß T. (Nebenfluß der Sosna), mit 2 Kirchen, Obst-undGartenbau und (1885) 4543 Einw.

Timan (Timansche Tundra), Landstrich im Mesenschen Kreisdes russ. Gouvernements Archangel, beginnt am linken Ufer derPetschora, reicht im W. bis zur Halbinsel Kanin, im N. bis zumEismeer und wird im S. von der Zylma und Pesa begrenzt. In derMitte zieht sich der Timansche Höhenzug, eine bis zu 63 mrelativer Höhe sich erhebende Wasserscheide zwischen derPetschora und Dwina, vom obern Lauf der Wytschegda im GouvernementWologda bis zum Eismeer. Die Tundra ist Moosweide. von Flüssendurchschnitten, voll fischreicher Seen und gehört denSamojeden.

Timanthes, griech. Maler, gebürtig von der InselKydnos, Zeitgenosse des Zeuxis und Parrhasios, berühmt durchsein Gemälde der am Altar stehenden Iphigenia, mit welchem erseinen Nebenbuhler Kolotes von Teos besiegte. Tiefe undBedeutsamkeit der geistigen Auffassung seiner Stoffe zeichneten ihnaus.

Timäos, 1) Pythagoreischer Philosoph aus Lokri, vonwelchem der die Naturphilosophie behandelnde Dialog Platons denNamen führt, lebte gegen 400 v. Chr. und bekleidete in seinerVaterstadt die höchsten Ehrenstellen. Die ihm beigelegte, aberunechte Schrift "Von der Weltseele" wurde (außer in denAusgaben des Platon von Bekker, Hermann etc.) von Gelder (Leid.1836) herausgegeben, übersetzt von C. C. G. Schmidt (Leipz.1835). Vgl. Anton, De origine libelli etc. (Erfurt 1883).

[Wappen von Tilsit.]

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Timavo - Timoleon.

2) Griech. Geschichtschreiber aus Tauromenium, um 290 v. Chr.,wurde vom Tyrannen Agathokles aus Syrakus verbannt. Die Fragmenteseiner Geschichte Siziliens sowie der Geschichte des Kriegs derRömer mit Pyrrhos sammelte Müller in "Historicorumgraecorum fragmenta" (Bd. 1, Par. 1841).

3) Griech. Grammatiker und Sophist, lebte wahrscheinlich im 3.Jahrh. n. Chr. und schrieb ein Platonisches Wörterbuch, wovonnoch ein Teil vorhanden ist (hrsg. von Ruhnken, Leid. 1754 u. 1789;wiederholt von Koch, 2. Aufl., Leipz. 1833).

Timavo (der Timavus der Römer), Fluß imöfterreich. Küstenland, verliert sich als Rekka bei St.Kanzian in den Grotten des Karstes, kommt nach 37 km unterirdischenLaufs bei San Giovanni unfern Duino wieder zu Tage undergießt sich 4 km tiefer in den Golf von Triest.

Timbalan, Inseln, s. Tambilan.

Timbale (franz., spr. tängbáll), Pauke; inder Kochkunst eine runde, schlichte Form von Teig, welche mitRagout, Farce, Maccaroni etc. gefüllt wird.

Timbo, Hauptstadt von Futa Dschallon in Westafrika, inder Nähe der Quellen des Bafing, 758 m ü. M., mit 2500Einw. Nur die Nachkommen der ersten Gründer des Reichsdürfen hier wohnen.

Timbre (spr. tängbr'), nach gewöhnlichemSprachgebrauch s. v. w. Klangfarbe; im engern Sinn die durch dieVerschiedenartigkeit des resonierenden Materials bedingteFärbung des Klanges im Gegensatz zu der durch dieZusammensetzung des Klanges aus Partialtönen bedingten; auchs. v. w. Stempel, Stempelzeichen, daher T.-poste,Postbriefmarke.

Timbuktu (Tumbutu), altberühmte Handelsstadt amSüdrand der Sahara, unter 3° 5' westl. Br. v. Gr., 245 mü. M., nominell zum Fulbestaat Massina gehörig, aberunter dem Einfluß der Tuareg stehend, 15 km nördlich vomNiger, hat über 1 Stunde im Umfang und gegen 1000einstöckige, flach bedachte Thonwohnungen nebst einigenhundert runden Mattenhütten. Die einzigen öffentlichenGebäude von T. sind die drei Moscheen, darunter die 1325 vonManssa Musa angefangene Dschingereber ("große Moschee") imSW. der Stadt, ein stattliches Gebäude von 80 m Länge und59 m Breite mit 12 Schiffen und einem hohen viereckigen Turm. Dieansässige Bevölkerung, die etwa 20,000 Seelen(mohammedanische Neger und Araber) zählt, besteht aus Sonrhai,Arabern, Tuareg, Fulbe, dann Bambarra- und Mandinkanegern.Industrie ist in T. wenig; von einiger Bedeutung ist dagegen derHandel, welcher infolge der großen nördlichen Biegungdes Niger sich hier konzentriert. Der Hafen der Stadt ist das von2000 Sonrhai bewohnte Kabaraam Nordufer des Niger. Frühererstreckte sich ein Arm des Flusses bis an T. heran.Haupthandelsartikel sind: Gold (namentlich von Bambuk und Buregebracht), Kolanüsse, Salz, Elfenbein, Gummi,Straußfedern, Sklaven, von europäischen Manufakturenrotes Tuch, Matratzen, Leibbinden, Spiegel, Messer, Zucker, Mehl,Thee, Korallen etc., von arabischen Waren besonders Tabak, aus TuatDatteln. Die Stadt T. war seit Jahrhunderten ein Rätsel, mitdessen Lösung sich die europäischen Geographen undReisenden beschäftigten, ohne ihr Ziel zu erreichen. Der BriteMungo Park drang 1805 bloß bis zum Hafenort Kabara vor. Lainggelangte zwar 1826 von Tripolis aus nach T., wurde jedoch wenigeTage darauf ausgewiesen und auf der Rückkehr ermordet.Glücklicher war der Franzose Caillié, welcher vonSierra Leone aus das Innere von Afrika bereiste und 20. April bis3. Mai 1828 in T. verweilte, aber, weil er sich seiner Sicherheitwegen verborgen halten mußte, an umfassendern Beobachtungenverhindert wurde. Der erste Europäer, welcher von O. aus bisT. vordrang, war Heinrich Barth, welcher 7. Sept. 1853 daselbstanlangte und, vom Scheich El Bakay freundlich aufgenommen, bis 9.Juli 1854 in der Stadt und Umgegend verweilte. 1880 wurde T. vonLenz, der nur noch einen Schatten von seiner einstmaligenGröße und Bedeutung fand, 1886 dessen Hafenstadt Kabaravon einem französischen Kanonenboot besucht.

Die Stadt T. wurde um 1100 n. Chr. von den Tuareggegründet. Manssa Musa, König des islamitischen ReichsMelli (1311-31), eroberte 1326 auch T., welches sich nun als Teileines mächtigen Reichs schnell vergrößerte und baldein Handelsplatz ersten Ranges wurde. Gegen Ende der RegierungManssa Musas (1329) ward es zwar von dem heidnischen König desNegerstaats von Mossi großenteils zerstört, jedoch schonvon Manssa Sliman von 1335 an wiederhergestellt. Seit seinerWiederherstellung gelangte T., begünstigt durch seine Lage amNordpunkt des Hauptstroms vom Sudân, auf der Grenze zwischendem dicht bevölkerten Süden und dem Karawanenhandeltreibenden Norden, dazu als eine der heiligen Städte des Islamrasch zu hoher Blüte. 1591 fiel es mit den Nigerlandschaftenin die Hände der Marokkaner, bis die Auelimmiden, einmächtiger Zweig der Tuareg, 1780 das große Reich Haussaam Nordufer des Niger gründeten, welchem auch T. unterworfenwurde. Zu Anfang des 19. Jahrh. wanderten die Fulbe in dieNigerlandschaften ein und bemächtigten sich nach dem Zerfallender Reiche im Sudân 1810 auch der Stadt T., die, ohne einemHerrscher zu unterstehen, von den Fulbe und Tuaregunaufhörlich bedroht wird. Vgl. Barth, Reisen inZentralafrika, Bd. 4 (Gotha 1857); Lenz, Timbuktu (Leipz. 1884, 2Bde.).

Timeo Danaos etc. (lat.), s. Danaer.

Times (engl., spr. teims, "die Zeiten"), diegrößte engl. Zeitung, wurde 13. Jan. 1788 von JohnWalter in London gegründet und nimmt seit geraumer Zeit dieStellung des einflußreichsten Weltblattes ein. Sie erscheinttäglich am Morgen, seit 1877 auch auszugsweise in einerWochenausgabe.

Timid (lat.), schüchtern, zaghaft.

Timmene, Negerstamm in Afrika, s. Temne.

Timok, Fluß der Balkanhalbinsel, bildet sich ausdem östlichen Trgovischki-T., der auf der Stara Planina, unddem westlichen Svrlyitschki-T., der auf der Babina Glavaentspringt. Beide vereinigen sich bei Knjaschewatz in Serbien zumT., der nördlich zur Donau fließt, bei Saitschar denMali-T. aufnimmt und in seinem Unterlauf die Grenze (auch diesprachliche) zwischen Serbien und Bulgarien bildet.

Timokratie (griech.), Staatsverfassung, welche diepolitischen Rechte und Pflichten der Bürger nach Maßgabedes Vermögens festsetzt, wie z. B. die Solonische Verfassungin Athen, die Servianische in Rom.

Timoleon, Korinther, geboren um 411 v. Chr., edel undmild, aber von unauslöschlichem Haß gegen alle Tyranneibeseelt, ließ sogar 366 seinen Bruder Timophanes, der sich ander Spitze von 1100 Söldnern der Alleinherrschaftbemächtigen wollte, töten und lebte dann 20 Jahre inZurückgezogenheit. Auf den Hilferuf der Syrakusier 347 miteinem kleinen Heer geworbener Krieger nach Sizilien geschickt,bemächtigte er sich erst der Stadt, 343 auch der Burg vonSyrakus, die er zerstören ließ, stellte dann diedemokratische Verfassung wieder her und leitete die

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Timomachos - Timur.

Stadt mit Gerechtigkeit und Uneigennützigkeit. Er zwangauch die Karthager durch die Schlacht am Krimissos (340) zurRäumung Siziliens, stellte hierauf in den übrigengriechischen Städten Siziliens die republikanische Verfassungwieder her und vereinigte sie mit Syrakus zu einem Bund. Er starb337. Seine Lebensbeschreibung gaben Plutarch u. Cornelius Neposheraus. Vgl. Arnoldt, Timoleon (Gumb. 1850).

Timomachos, griech. Maler, aus Byzanz gebürtig, derDiadochenzeit angehörig, berühmt durch eine Reihe vonBildern aus dem Heroenkreis, wie Medea, Ares, Iphigenia in Tauris,Orestes. Cäsar als Diktator bezahlte für die erstenbeiden Gemälde den hohen Preis von 80 Talenten, um siefür Rom zu erwerben.

Timon, 1) ein durch seinen Menschenhaß bekanntgewordener Athener, war ein Zeitgenosse des Sokrates undbekämpfte mit beißendem Spotte die damals in Atheneinreißende Sittenlosigkeit, allen Umgang mit den Menschenvermeidend. Lukian machte ihn zum Gegenstand eines Dialogs, dernoch erhalten ist. Auch Shakespeare hat von ihm die Charakterpersonseines Stücks "T. von Athen" entlehnt. Vgl. Binder, ÜberT., den Misanthropen (Ulm 1856).

2) Griech. Dichter, um 280 v. Chr. zu Phlius geboren, der sogen.Sillograph (s. Sillen).

Timor, die östlichste und bedeutendste der KleinenSundainseln im Indischen Ozean (s. Karte "Hinterindien"),mißt mit den Nebeninseln (Rotti, Landu, Samao, Kambing)32,586 qkm (592 QM.), ist von Korallenbänken umgeben und hatmeist steile und schwer zugängliche Küsten. Das Innereist der ganzen Länge nach von einer bewaldeten Bergkette (mitGipfeln bis 3604 m) durchzogen, von welcher zahlreiche Bächeherabstürzen. Das Klima ist heiß und an der Küsteungesund. Während des Ostmonsuns herrscht oft anhaltendeDürre, die Regenzeit dauert von November bis April. DieTierwelt begreift Beuteltiere, fliegende Hunde, Papageien,Krokodile, Schlangen u. a. Wichtigste Ausfuhrartikel sind Mais,Sandelholz, Wachs, Schildkröten, Trepang; Gold, Kupfer undEisen werden gefunden. Die Einwohner, deren Zahl auf 600,000geschätzt wird, sind Papua, zum Teil vermischt mit Malaien,Chinesen, Portugiesen, Holländern. Der südwestlichegrößere Teil der Insel gehört den Niederlanden undbildet mit den Inseln Floris, Sumba, Savu, den Solor- undAllorinseln und Rotti die Residentschaft T., 57,409 qkm (1042,6QM.) groß mit 350,000 Einw., worunter 250 Europäer, 1112Chinesen und 33,015 eingeborne Christen. Hauptort ist Kupang amSüdufer der Bai von Kupang mit einem durch das Fort Concordiageschützten Hafen (Freihafen) und 7000 Einw. Derportugiesische Teil umfaßt 16,300 qkm (296 QM.) mit 250,000Einw. und der Hauptstadt Dili (Dehli) an der Nordküste, wo derunter dem Generalgouverneur zu Goa stehende Statthalter residiert.Die ersten portugiesischen Missionäre kamen 1610 nach T. undsicherten Portugal den Besitz, doch setzten sich schon 1688 dieHolländer im südwestlichen Teil fest. DenBekehrungsversuchen der Missionäre tritt hier wie auch sonstin diesen Meeren der sich immer mehr ausbreitende Islam entgegen.Vgl. Bastian, Indonesien, Bd. 2 (Berl. 1885).

Timorlaut, Insel, s. Tenimberinseln.

Timotheos, 1) berühmter griech. Dithyrambendichteraus Milet, jüngerer Zeitgenosse des Philoxenos, gest. 357 v.Chr. Sammlung der Fragmente in Bergks "Poetae lyrici graeci" undmit Übersetzung in Hartungs "Griechischen Lyrikern" (Bd. 6,Leipz. 1857).

2) Athen. Feldherr, Sohn Konons, mit dem er 393 v. Chr. nachAthen zurückkehrte, zeichnete sich im Kriege gegen Sparta, inwelchem er Korkyra eroberte und 375 bei Leukas die spartanischeFlotte vernichtete, aus, ging 364 nach Kleinasien, um denaufständischen Satrapen Ariobarzanes zu unterstützen,eroberte Samos, Sestos und andre Städte, befehligte mitIphikrates im Bundesgenossenkrieg und ward, als er nebst diesem desSturms wegen eine Schlacht vermieden hatte, 355 der Bestechung unddes Verrats angeklagt. Zu 100 Talenten Strafe verurteilt, ging erfreiwillig in die Verbannung nach Chalkis, wo er starb. SeineBiographie hat Cornelius Nepos gegeben. Vgl. Rehdantz, VitaeIphicratis, Chabriae, Timothei (Berl. 1845).

3) Gehilfe und Begleiter des Paulus, aus Lykaoniengebürtig, ward von seiner Mutter, einer Judenchristln, frommerzogen und von Paulus zum Christentum bekehrt, worauf er teils mitdiesem, teils in dessen Auftrag Makedonien und Griechenlandbereiste. Später erscheint er in Ephesos und dann in Romwährend des Paulus Gefangenschaft daselbst. Die Traditionmacht ihn zum ersten Bischof von Ephesos, wo er auch denMärtyrertod erlitten haben soll. Über die beiden an T.gerichteten Briefe des Apostels Paulus s. Pastoralbriefe.

Timothygras, s. Phleum.

Timpani (ital.), Pauken.

Timsahsee ("Krokodilsee"), ein vom Suezkanal (s. d.)durchzogener See in Unterägypten, zwischen dem Ballahsee undden Bitterseen, vor dem Bau des Kanals eine sumpfige Lagune mitbrackigem Wasser, jetzt von schön hellblauer Farbe. AmNordwestende liegt Ismailia (s. d.).

Timur ("Eisen"), auch Timur-Lenk, der "lahme T.", wegenseines Hinkens infolge einer Verwundung genannt, auch mit dem ausTimur-Lenk verstümmelten Namen Tamerlan benannt, geb. 1333 zuKesch unweit Samarkand, wurde von seinem Vater Turgai, Oberhauptdes Stammes Berlas, 1356 zum Emir Kasgan geschickt; mit diesemfocht er gegen Husein Kert von Chorasan (1355). Nach der ErmordungKasgans und dem Tod seines Vaters begab sich T. an den Hof derTschagataiden und wurde von diesen als Lehnsherr der Provinz Keschbestätigt. Später lebte er am Hof Ilias Chodschas vonSamarkand, führte dann ein Abenteurerleben in der Wüste,bis er endlich die zu seiner Verfolgung ausgeschickten TruppenIlias' mit seiner kleinen Schar schlug. Nach Ernennung einesSchattenkönigs, den Kriegen gegen die Tscheten, der Besiegungseines Rivalen und frühern Waffen genossen Husein ließer sich schließlich 8. April 1369 zum Emir Transoxaniensausrufen. Samarkand wurde seine Residenz. Seine Aufmerksamkeitrichtete sich zuerst auf Herstellung der Ruhe im Innern, auf diepolitische Administration und militärische Organisation.Erweiterung der Grenzen seines Landes war dann sein Hauptstreben.Von 1380 an unternahm er 35 Feldzüge nach den verschiedenstenRichtungen. Zuerst unterwarf er ganz Persien, 1386 Georgien; 1394drang er bis Moskau vor, warf nach und nach alle ReicheMittelasiens in Trümmer und eroberte 1398 Hindostan vom Indusbis zur Mündung des Ganges. Vom griechischen Kaiser undmehreren Fürsten Kleinasiens gegen den Sultan Bajesid I. zuHilfe gerufen, brach er 1400 in das türkische Gebiet ein,eroberte Sebaste und schlug bei Cäsarea ein türkischesHeer, wandte sich aber plötzlich gegen den Sultan vonÄgypten, eroberte 1401 Damaskus, zerstörte Bagdad undunterjochte ganz Syrien. Endlich (20. Juli 1402) kam es zwischenihm und

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Tinca - Tinktur.

Bajesid zu einer entscheidenden Schlacht auf der Ebene vonAngora in Natolien, in der 800,000 Mongolen den Sieg über400,000 Türken davontrugen. T. starb, auf einem Zug nach Chinabegriffen, 17. Febr. 1405. Grausam und blutdürstig auf seinengewaltigen Kriegszügen, war er im Frieden ein frommerHerrscher, weiser Gesetzgeber, gerechter Richter, Beschützerder Künste und Wissenschaften. Obwohl er seinen ältestenEnkel zu seinem Nachfolger bestimmt hatte, zerfiel sein Reich dochbald nach seinem Tod. Einer seiner Nachkommen, Babur, eroberte von1498 bis 1519 Hindostan und stiftete das Reich desGroßmoguls. Vgl. Langlès, Instituts politiques etmilitaires de Tamerlan (Par. 1787); Sherif Edin, Histoire deTimur-Bei (übersetzt von Petis de la Croix, das. 1722, 3Bde.).

Tinca, Schleihe.

Tinchebrai (spr. tängschbrä), Stadt im franz.Departement Orne, Arrondissem*nt Domfront, an der BahnlinieMontsecret-Sourdeval, mit Handelsgericht, Fabrikation von Stahl-und Schlosserwaren, Papier, Woll- und Baumwollstoffen etc. und(1881) 2429 Einw.

Tindal, Matthew, engl. Freidenker (s. d.), geb. 1657 zuBear-Ferris in Devonshire, studierte zu Oxford die Rechte, trat zurkatholischen Religion über und erwarb sich dadurch KönigJakobs II. Gunst, kehrte aber unter Wilhelm III. zurprotestantischen Kirche zurück. Gleichzeitig begann er dieGrundsätze des Deismus (s. d.) zu verbreiten. Die HeiligeSchrift nannte er eine Urkunde der natürlichen Religion; dasChristentum, behauptete er, sei so alt wie die Schöpfung, dieKirche eine Institution des Staats. Seine Hauptschrift:"Christianity as old as the creation, or the Gospel a republicationof the religion of nature" (Lond. 1730; deutsch von Lorenz Schmidt,Frankf. a. M. 1741), wurde sehr oft abgedruckt, das Erscheineneines zweiten Teils (der 1750 erschienene ist unecht) aber durchden Bischof von London, Gibson, verhindert. T. starb 1733 in Oxfordals Senior von All Souls' College. Vgl. Lechler, Geschichte desenglischen Deismus (Stuttg. 1841).

Tinea, Motte; Tineïna (Motten), Familie aus derOrdnung der Schmetterlinge, s. Motten. T. favosa, s. v. w.Erbgrind.

Ting, chines. Lusthäuschen, Gartenhäuschen.

Tingel-Tangel, Berliner Ausdruck für Singhallenniedrigster Art mit burlesken Gesangsvorträgen undVorstellungen. Sie erhielten ihren Namen nach dem GesangskomikerTange, der im Triangelgebäude sein lange populärgebliebenes Triangellied zum besten gab.

Tinghai, chines. Stadt, s. Tschouschan.

Tingieren (lat.), eintauchen, färben, mit einemAnstrich von etwas versehen.

Tingis, röm. Kolonie, s. Tanger.

Tinkal, s. Borax.

Tinkana, s. Borax.

Tinktur (lat. Tinctura), weingeistiger oderätherischer Auszug von Pflanzenteilen oder tierischen Stoffen.Man bereitet ihn, indem man die zerschnittenen oderzerstoßenen Substanzen in einer Flasche mit Weingeist oderätherhaltigem Weingeist übergießt und unterUmschütteln etwa 8 Tage, gewöhnlich bei 15°, in einermit durchstochener Blase verschlossenen Flasche stehenläßt, dann auspreßt und filtriert. Tinkturendienen als Arzneimittel, zu Likören und Parfümen. Diewichtigsten Tinkturen sind: Wermuttinktur (Tinctura Absinthii), aus1 Teil Wermutkraut mit 5 Teilen verdünntem Spiritus;Eisenhuttinktur (T. Aconiti), aus 1 Teil Aconitknollen mit 10Teilen verdünntem Spiritus; Aloetinktur (T. Aloës), 1Teil Aloe mit 5 Teilen Spiritus; zusammengesetzte Aloetinktur (T.Aloës composita, Elixirium ad longam vitam), 6 Teile Aloe, je1 Teil Enzian, Rhabarber, Zitwerwurzel, Safran mit 200 Teilenverdünntem Spiritus; bittere T. (T. amara), 2 Teile unreifePomeranzen, je 3 Teile Tausendgüldenkraut und Enzian, je 1Teil Zitwerwurzel und unreife Pomeranzenschalen mit 50 Teilenverdünntem Spiritus; Arnikatinktur (T. Arnicae), ausArnikablüten wie T. Aconiti zu bereiten; aromatische T. (T.aromatica), je 1 Teil Kardamom, Gewürznelken, Galgant, 2 TeileIngwer und 5 Teile Zimt mit 50 Teilen verdünntem Spiritus;Stinkasanttinktur (T. Asae foetidae), aus Asa foetida wie T.aloës zu bereiten; Pomeranzenschalentinktur (T. Aurantii), ausPomeranzenschalen wie T. Absinthii zu bereiten; Benzoetinktur (T.Benzoes), aus Benzoe wie T. Aloës zu bereiten; Kalmustinktur(T. Calami), aus Kalmus wie T. Absinthii zu bereiten;Indischhanftinktur (T. Cannabis indicae), 1 Teil Extractum cannabisindicae in 19 Teilen Spiritus gelöst; Spanischfliegentinktur(T. Cantharidum), 1 Teil Spanische Fliegen mit 10 Teilen Spiritusmaceriert; Spanischpfeffertinktur (T. Capsici), aus SpanischemPfeffer wie die vorige zu bereiten; Bibergeiltinktur (T. Castoreicanadensis und sibirici), aus Bibergeil wie T. Cantharidum zubereiten; Katechutinktur (T. Catechu), aus Katechu wie T. Absinthiizu bereiten; Chinatinktur (T. Chinae), aus brauner Chinarinde wieT. Absinthii zu bereiten; zusammengesetzte Chinatinktur (T. Chinaecomposita, Elixirium roborans Whyttii), 6 Teile braune Chinarinde,je 2 Teile Pomeranzenschalen und Enzianwurzel, 1 TeilZimtkassienrinde mit 50 Teilen verdünntem Spiritus digeriert;Chinoidintinktur (T. Chinoidini), Lösung von 10 TeilenChinoidin in 85 Teilen Spiritus und 5 Teilen Salzsäure;Zimttinktur (T. Cinnamomi), aus Zimtkassie wie T. Absinthii zubereiten; Zeitlosentinktur (T. Colchici), aus Colchic*msamen;Koloquintentinktur (T. Colocynthidis), aus Koloquinten wie T.Cantharidum zu bereiten; Safrantinktur (T. Croci), aus Safran wieT. Aconiti zu bereiten; Fingerhuttinktur (T. Digitalis), aus 1 TeilDigitalisblättern wie T. Aconiti zu bereiten; T. Ferri ..., s.Eisenpräparate; Galläpfeltinktur (T. Gallarum), 1 TeilGalläpfel mit 5 Teilen verdünntem Spiritus; Enziantinktur(T. Gentianae), aus Enzian wie T. Absinthii zu bereiten;Jodtinktur, s. d.; Ipekakuanhatinktur (T. Ipecacuanhae), ausIpekakuanhawurzel wie T. Aconiti zu bereiten; Lobeliatinktur, ausLobeliakraut wie T. Aconiti zu bereiten; Moschustinktur (T.Moschi), 1 Teil Moschus mit 25 Teilen Wasser und 25 Teilenverdünntem Spiritus; Myrrhentinktur (T. Myrrhae), aus Myrrhewie Aloetinktur zu bereiten; Opiumtinktur, s. Opium, S. 407;Pimpinelltinktur (T. Pimpinellae), aus Pimpinellwurzel wie T.Absinthii zu bereiten; Ratanhatinktur (T. Ratanhae), ausRatanhawurzel wie T. Absinthii zu bereiten wässerigeRhabarbertinktur (T. Rhei aquosa), 100 Teile Rhabarber, je 10 TeileBorax und kohlensaures Kali mit 900 Teilen siedendem Wasserübergossen, nach einer Viertelstunde 90 Teile Spiritushinzugefügt, nach fünf Viertelstunden koliert und mit 150Teilen Zimtwasser gemischt; weinige Rhabarbertinktur (T. Rheivinosa), 8 Teile Rhabarber, 2 Teile Pomeranzenschalen, 1 TeilKardamom mit 100 Teilen Jereswein, dann hinzugefügt 12 TeileZucker; Meerzwiebel-

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Tinkturen - Tinte.

tinktur (T. Scillae), aus Meerzwiebelwurzel wie T. Absinthiibereitet; Paratinktur, s. Paraguay-Roux; Krähenaugentinktur(Strychnostinktur, T. Strychni, T. Nucum vomicarum), ausKrähenaugen wie T. Aconiti bereitet; Baldriantinktur (T.Valerianae), aus Baldrianwurzeln wie T. Absinthii bereitet;ätherische Baldriantinktur (T. Valerianae aetherea), 1 TeilBaldrianwurzel mit 5 Teilen Spiritus aethereus bereitet;Ingwertinktur (T. Zingiberis), aus Ingwer wie T. Absinthiibereitet.

Tinkturen, s. Heraldische Farben.

Tinné, Alexine, Afrikareisende, geb. 17. Okt. 1839im Haag, Tochter eines reichen, in England naturalisiertenHolländers, begleitete schon 1856 und 1858 ihre Mutter nachÄgypten, die 1861 ganz dahin übersiedelte, unternahm mitihr und einer Tante 1862 ihre erste große Reise nach demobern Nil bis Gondokoro, wobei auch der Sobat verfolgt ward, imFebruar 1863 von Chartum aus ihre zweite, von Heuglin und Steudnerbegleitet, nach dem Gazellenfluß und Dschur, auf der dieMutter und bald auch die Tante dem Klima zum Opfer fielen, begabsich im Juli 1864 von Chartum über Suakin nach Kairo, besuchte1868 Algerien und Tunis, trat im Januar 1869 von Tripolis aus eineneue Reise nach Innerafrika an, um über Bornu nach dem obernNil vorzudringen, wurde aber auf dem Weg von Mursuk nach Ghat imSommer 1869 von räuberischen Tuareg ermordet. Ihre zweitegrößere Reise nach dem Gazellenfluß ist vonwissenschaftlicher Bedeutung gewesen und beschrieben in den"Transactions of the Historical Society of Lancashire etc.". Bd. 16(Liverp. 1864). Vgl. Heuglin, Die Tinnésche Expedition imwestlichen Nilgebiet 1863-64 (Gotha 1865); Derselbe, Reise in dasGebiet des Weißen Nil etc. (Leipz. 1869).

Tinnevelli (Tirunelweli), Distrikt der britisch-ind.Präsidentschaft Madras, 13,936 qkm (253 QM.) groß mit(1881) 1,699,747 Einw., darunter 81,805 protestantische und 57,129katholische Christen. Hauptort ist Palamkotta, wichtigster HafenTutikorin. Die Stadt T. mit 23,221 Einw. ist Sitz der sehrthätigen protestantischen Mission in Südindien.

Tinnum, Dorf in der preuß. ProvinzSchleswig-Holstein, Kreis Tondern, auf der Insel Sylt, hat einAmtsgericht und (1885) 320 Einw.

Tinnunculus, Rötelfalke, s. Falken, S. 10.

Tinogasta, Stadt in der Argentinischen Republik, ProvinzCatamarca, an der Straße von Catamarca nach Copiapo in Chile,hat bedeutende Ausfuhr von lebendem Vieh und 6000 Einw.

Tinos (Tenos), Insel im Griech. Archipelagus, zum Nomosder Kykladen gehörig, südöstlich von Andros, 204 qkm(3,70 QM.) groß mit (1879) 12,565 Einw., ist ihrer ganzenLänge nach von einer bis 713 m hohen Gebirgskette durchzogenund zwar nicht besonders fruchtbar, aber sehr gut in Terrassenangebaut. Sie enthält Lager von weißem und schwarzgeädertem Marmor, Serpentin, Verde antico, Asbest undChromeisenerz. Die Einwohner treiben Wein- und Seidenbau,Seidenweberei, Steinmetzarbeit und Viehzucht. Sehr stark betriebenwird die Taubenzucht, sowohl wegen des Fleisches als auch wegen desDüngers. In dem fruchtbarsten Teil der Insel ist dieFrankochora, eine Anzahl römisch-katholischer Ortschaften, zubemerken. Die Hauptstadt T., auf der Südküste, ist Sitzeines römisch-katholischen Bischofs, hat 2 kath. Kirchen,einen kleinen Hafen und (1879) 2083 Einw. Nördlich davon liegtdie berühmte Kirche der Panagia Evangelistria, wohin dreiWochen vor Ostern von weither gewallfahrt wird. - Die Insel T.hieß früher Ophlussa, dann Tenos. Als Bundesgenossen derAthener kämpften die Tenier bei Platää gegen diePerser. 1207 kam T. unter die Herrschaft der Ghizi, dann 1390 derVenezianer, denen es aber 1537 von dem türkischen PiratenChaireddin Barbarossa vorübergehend abgenommen wurde. 1718 kamsie von neuem unter türkische Oberhoheit, durch dengriechischen Befreiungskampf aber an Hellas.

Tinte (Dinte), jede zum Schreiben mit der Feder bereiteteMischung. Die gewöhnliche Schreibtinte mußdünnflüssig sein, ohne jedoch zu leicht aus der Feder zufließen oder zu tropfen, sie darf bei längerm Stehenkeinen Bodensatz bilden und nicht dickflüssig, gallertartigwerden. Auf der Feder muß sie zu einem firnisartigenÜberzug, nicht zu einer bröckeligen Masse eintrocknen.Sie darf das Papier nicht mürbe machen, mit dem Alter nichtvergilben, auch die Feder nicht angreifen und daher weder sehrsauer noch kupferhaltig sein. Das Schimmeln läßt sichdurch eine Spur von Karbolsäure leicht verhindern. Da T. nurunter dem Einfluß der Luft verdirbt, so verdienenTintenfässer den Vorzug, welche die Berührung der T. mitder Luft möglichst beschränken, wie die artesischen.Diese enthalten einen eingesenkten Trichter, in den immer nur einesehr geringe Menge T. eintritt, während der Vorrat von derLuft fast vollständig abgeschlossen ist. Auch dieTintenfässer mit vom Boden seitlich emporsteigendem Halse sindempfehlenswert.

Die alte schwarze Galläpfeltinte besteht aus einer mitEisenvitriol versetzten Abkochung von Galläpfeln undenthält gerbsaures und gallussaures Eisenoxydul und Eisenoxyd.Sie bildet keine vollkommne Lösung, vielmehr sind dieEisenoxydsalze nur in der T. suspendiert, und wenn dieEisenoxydulsalze an der Luft vollständig in Oxydsalzeverwandelt sind und sich zu Boden gesetzt haben, so ist die T.unbrauchbar geworden. Das Nachdunkeln beruht auf der Umwandlung derEisenoxydulsalze in schwarze Eisenoxydsalze. Mit der Zeit aber wirddie Gerb- und Gallussäure der letztern durch den Sauerstoffder Luft ebenfalls oxydiert, und die Schrift vergilbt, indem nurEisenoxyd zurückbleibt. Man bereitet die Galläpfeltintedurch Ausziehen chinesischer Galläpfel und Versetzen desAuszugs, welcher 5-6 Proz. Gerbsäure enthalten soll, mit soviel Eisenvitriol, daß von letzterm 9 Teile auf 10 TeileGerbsäure kommen. Frische Galläpfeltinte, welche fast nurgerb- und gallussaures Eisenoxydul enthält, ist sehrblaß und wird vorteilhaft mit Blauholz gefärbt.Alizarintinte (welche mit Alizarin nichts zu thun hat) ist eine mitIndigo gefärbte Galläpfeltinte, zu deren Darstellung manin einer klaren verdünnten Lösung von Indigo inrauchender Schwefelsäure Eisen löst, um Eisenvitriol zubilden, worauf die noch vorhandene freie Säure mitkohlensaurem Kalk fast vollständig neutralisiert wird. Die vomausgeschiedenen schwefelsauren Kalk abgegossene Flüssigkeitwird schließlich mit Galläpfelabkochung versetzt. DieseT. ist völlig klar, seegrün, liefert schön schwarze,fest haftende Schrift, welche tief in das Papier eindringt, wirdaber allmählich auch im Tintenfaß schwarz und bildetzuletzt auch einen Bodensatz. Ihre Säure greift dieStahlfedern ziemlich stark an. Sehr gute Tinten werden mit Blauholzdargestellt. Eine klare Abkochung des Holzes oder eine Lösungvon Blauholzextrakt mit wenig Soda, dann mit chromsaurem Kaliversetzt, gibt eine schön blauschwarze, gut fließendeT., welche schnell trocknet, die Federn nicht angreift und sichtief

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Tinten - Tintenschnecken.

ins Papier zieht. Eine sehr gute Blauholztinte, die unter vielenNamen im Handel ist, erhält man durch Versetzen einer klarenLösung von Blauholzextrakt mit Ammoniakalaun, Kupfervitriolund wenig Schwefelsäure. Diese T. schreibt anfangs gelbrot,wird aber schnell schön samtschwarz und gibt sofort schwarzeSchriftzüge, wenn man sie mit Chromtinte mischt. Auch einfacheLösungen von Nigrosin oder Indulin in Wasser geben guteschwarze Tinten, die nach dem Eintrocknen durch Zusatz von Wassersofort wieder verwendbar gemacht werden können. Alle dieseTinten, namentlich die Galläpfeltinten, versetzt man, um ihnenmehr Konsistenz zu geben, mit etwas Gummi. Zu Kopiertinten eignensich am besten die Galläpfel-, Alizarin- und eigentlichenBlauholztinten. Man macht sie aber konzentrierter und versetzt siemit mehr Gummi und etwas Glycerin.

Das Problem, völlig unauslöschliche Tinten zubereiten, ist noch nicht vollkommen gelöst; wenn man aber aufeinem mit Ultramarin gebläuten Papier schreibt, dessen Farbedurch Betupfen mit Säure zerstört wird, so genügenschon viele unsrer gewöhnlichen Tinten, und auf Papier,welches mit Ultramarin und Chromgelb grün gefärbt ist,genügt jede T., da man die Schriftzüge auf keine Weiseentfernen kann, ohne einen der Farbstoffe zu zerstören.Ausgezeichnet ist die T., mit welcher die Nummern in diepreußischen Staatspapiere eingeschrieben werden. Dieselbe istschwach angesäuerte Galläpfeltinte und enthält nochsalpetersaures Silberoxyd und chinesische Tusche. Es istunmöglich, auf dem oben genannten grünen Papier mitdieser T. Geschriebenes unbemerkbar zu vertilgen. Ist aufweißem Papier Geschriebenes ausgelöscht worden, sogelingt es oft, die Schriftzüge wieder hervorzurufen, wenn mandas Papier in ganz schwache Salzsäure taucht und dann in einekonzentrierte Lösung von gelbem Blutlaugensalz legt. Enthieltdie T. auch nur wenig Eisen, so erscheinen die Schriftzügeblau.

Als rote T. benutzt man Lösungen von Teerfarbstoffen, einemit Gummi versetzte Lösung von Karmin in Ammoniak oder einenmit Sodalösung bereiteten, dann mit Weinstein und Alaunversetzten Kochenilleauszug, welchem noch etwas Gummi und Alkoholzugesetzt wird. Die rote T. der Alten bestand aus einer Mischungvon Zinnober mit Gummilösung. Als blaue T. dient eine mitGummi versetzte Lösung von Anilinblau oder Indigkarmin. Aucheine Lösung von Berliner Blau hält sich sehr gut undgreift die Stahlfedern nicht an, was die durch Auflösen vonBerliner Blau in Oxalsäure bereitete T. in hohem Grade thut.Violette T., unter verschiedenen Namen im Handel, ist eineLösung von Blauviolettanilin in Wasser; grüne T.erhält man durch Lösen von Jodgrün in Wasser, sieist leuchtend blaugrün und kann durch Pikrinsäurenüanciert werden. Gold- und Silbertinte ist eine Mischung vonGummilösung (die etwas Wasserglas enthalten kann) mitBlattgold oder Blattsilber, welches auf einer Porphyrplatte mitHonig zerrieben, ausgewaschen und getrocknet wurde. SympathetischeTinten sind Spielereien, da alle mit denselben ausgeführtenSchriftzüge sichtbar werden, wenn man das Papier stark erhitztoder mit Kohlenpulver reibt oder mit verschiedenen Reagenzienprüft. Verdünnte Kobaltchlorürlösung gibtunsichtbare Schriftzüge, welche beim Erwärmen blau werdenund beim Erkalten wieder verschwinden. Enthält die Lösungauch Nickelsalz, so werden die Schriftzüge grün.Bleisalz- und Ouecksilbersalzlösungen geben unsichtbareSchriftzüge, die durch Schwefelwasserstoff braun oder schwarzwerden. Kupfervitriolschriftzüge werden durch Ammoniakschön blau. Verdünnte Blutlaugensalzlösung eignetsich sehr gut als sympathetische T. auf eisenfreiem Papier. DieSchriftzüge werden durch Eisenoxydsalze blau. Beachtungverdienen solche Tinten für den brieflichen Verkehr mitPostkarten. T. zum Zeichnen der Wäsche muß derwiederholten Einwirkung von Seife, Alkalien, Chlor und Säurenwiderstehen. Am häufigsten wendet man Silbermischungen an, dierecht dauerhafte Schriftzüge liefern, zuletzt aber auch braunwerden und verblassen. Man mischt eine Lösung vonHöllenstein (salpetersaures Silberoxyd) in Ammoniak mit einerLösung von Soda und Gummi in destilliertem Wasser underwärmt die Schriftzüge mit einem Plätteisen, bissie vollständig schwarz geworden sind. Man extrahiert auch dieSchalen der Elefantenläuse (Anakardien) mit einem Gemisch vonÄther und Weingeist und läßt das Filtratverdunsten, bis es die zum Schreiben geeignete Konsistenz hat. DieSchriftzüge werden nach dem Trocknen mit Kalkwasser befeuchtetund erscheinen dann tief braunschwarz. Sehr praktisch istAnilinschwarz, zu dessen Herstellung man ein grünlichgrauesPulver kauft, welches, feucht auf die Wäsche aufgetragen, beimErwärmen über kochendem Wasser den sehr echten Farbstoffliefert. Rote Schriftzüge erhält man, wenn man dieWäsche mit einer Lösung von kohlensaurem Natron undGummiarabikum in destilliertem Wasser befeuchtet, auf dergetrockneten und geplätteten Stelle mit einer Lösung vonPlatinchlorid in destilliertem Wasser schreibt und die getrocknetenSchriftzüge mit einer Lösung von Zinnchlorür indestilliertem Wasser sorgfältig nachzieht. Waren, welche derchemischen Bleiche unterworfen werden sollen, stempelt man miteiner innigen Mischung von Eisenvitriol, Zinnober undLeinölfirnis. Auf Weißblech schreibt man mit einerLösung von Kupfer in Salpetersäure und Wasser.Pflanzenetiketten schreibt man auf blank gescheuertes Zinkblech miteiner Lösung von gleichen Teilen essigsaurem Kupferoxyd undSalmiak in destilliertem Wasser. Die Schriftzüge werden baldtiefschwarz und haften sehr fest. T. zur Bezeichnung kupferner undsilberner Geräte bereitet man durch Kochen von Schwefelantimon(Spießglanz) mit starker Ätzkalilauge. Überlithographische Zeichen- oder Schreibtinte s. Lithographie. Vgl.Andreae, Vollständiges Tintenbuch (5. Aufl. v. Freyer, Weim.1876); Lehner, Tintenfabrikation (3. Aufl., Wien 1885).

Tinten, in der Malerei die Abtönungen einer Farbenach der hellern oder dunklern Seite.

Tintenbaum, s. Semecarpus.

Tintenbeerstrauch, s. Ligustrum.

Tintenfisch, s. Tintenschnecken und Sepie.

Tintenschnecken (Kopffüßer, Cephalopoda Cuv.,fälschlich Tintenfische, hierzu Tafel "Tintenschnecken"), dieam höchsten entwickelte Klasse der Mollusken (s. d.) oderWeichtiere, verdanken ihren deutschen Namen der Eigenschaft, alsVerteidigungmittel eine tintenartige Flüssigkeitauszuspritzen, welche das Wasser trübt und die Tiere denBlicken ihrer Feinde entzieht; wissenschaftlich heißen sieKopffüßer, weil man die Arme, welche rund um den Kopfangebracht sind, früher für den umgewandelten undvierteiligen Fuß der Schnecken und Muscheln ansah. ZumVerständnis des Baues der T. kann man sich das Tier als eineSchnecke vorstellen, welche im Verhältnis zur Längeaußerordentlich hoch und in normaler Lage mit dem Kopf nachunten gerichtet ist.

Tintenschnecken.

Gemeiner Vielfuß (Octopus vulgaris). 1/30.

Zum Artikel »Tintenschnecken«.

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Tintenschnecken.

Infolge davon ist die Bauchseite sehr schmal, der Rückenhingegen sehr umfangreich; von letzterm ist aber bei manchen Formender hintere Teil heller als der vordere und erscheint so, zumalwenn das betreffende Tier auf ihm ruht, leicht als Bauchseite, waser in Wirklichkeit nicht ist. Der Kopf mit den Armen ist vom Rumpfmehr oder weniger deutlich abgesetzt; bei den Oktopoden ist erwegen der mächtigen Arme so groß, daß der Rumpf,welcher alle Eingeweide birgt, mehr als Anhängsel erscheint.Die Arme stehen im Kranz um die Mundöffnung, sindaußerordentlich muskulös und mit zahlreichenSaugnäpfen oder auch Haken versehen. Sie dienen zum Kriechenund Schwimmen sowie zum Ergreifen der Beute. Bisweilen ist zwischenihrer Basis eine Haut ausgespannt, welche die Bewegungenbegünstigt; im übrigen sind zum Schwimmen vielfach nochzwei Flossen an den Seiten des Körpers vorhanden. Auf derhintern, in der natürlichen Lage des Tiers untern Flächebefindet sich als eine Hautfalte der sogen. Mantel, welcher einegeräumige Höhle abschließt; in diese mündenDarm, Niere und Genitalien aus, auch liegen in ihr die Kiemen. Dasfür die letztern nötige Atemwasser wird in dieMantelhöhle durch einen weiten Spalt aufgenommen, dagegen nachdessen Verschluß durch eine enge Röhre wiederausgestoßen. Diese, der sogen. Trichter, entspricht demvordern Teil des Fußes der Schnecken und veranlaßt,wenn das Wasser plötzlich durch sie entleert wird, mittels desRückstoßes die Bewegung des Tiers mit dem Rückenvoran durch das Wasser. Viele T. sind vollkommen nackt, andrebergen in einer besondern Tasche des Mantels eine flache, feder-oder lanzettförmige Platte ("Schale") aus Chitin, die bei derSepie ziemlich umfangreich und durch Kalkablagerungen hart ist(daher im gewöhnlichen Leben "Sepienknochen", os sepiae); nochandre haben eine äußere Schale, welche nur ausnahmsweisedünn und einfach kahnförmig (Argonauta), in der Regelspiralig gewunden und durch Querscheidewände in eine Anzahlhintereinander liegender Kammern geteilt ist. Das Tier bewohnt nurdie vordere größte Kammer; die übrigen sind mitLuft gefüllt, werden aber von einem Fortsatz desTierkörpers durchzogen (s. Ammoniten). In der glatten,schlüpfrigen Haut liegen mit Pigment gefüllte kontraktileZellen (Chromatophoren, s. d.), welche, von dem Nervensystem unddem Willen der Tiere abhängig, ein lebhaftes Farbenspielbedingen. Zur Stütze der Muskulatur und zum Schutz desNervenzentrums und der Sinnesorgane dient ein inneresKnorpelskelett im Kopf (dieses besteht aus den für dieMollusken typischen, hier aber häufig ganz miteinanderverschmolzenen drei Ganglienpaaren). An den Seiten des Kopfesbefinden sich zwei mächtige Augen, die fast so kompliziertgebaut sind wie die der Wirbeltiere. Gehör- und Geruchorganesind gleichfalls vorhanden. Der Mund ist mit hornigem Ober- undUnterkiefer in Gestalt eines Papageienschnabels und mit einer Zunge(Radula), welche zahnartige Platten und Haken zum Einziehen derNahrung trägt, bewaffnet. Der Darm ist ziemlich kurz,Speicheldrüsen und Leber sind sehr groß. AlsAtmungsorgane dienen ein oder zwei Paare federförmiger Kiemen.Das Gefäßsystem ist sehr entwickelt und besteht auseinem muskulösen Herzen nebst Arterien, Venen und Kapillaren.Die Gefäße, welche das Blut zu den Kiemen führen,sind gewöhnlich ebenfalls kontraktil (Kiemenherzen). Das Blutenthält kristallisierbares Hämocyanin, welches gleich demHämoglobin der Wirbeltiere die Aufnahme des Sauerstoffsbesorgt. Doch findet sich in ihm nicht wie bei dem letztgenanntenEisen, sondern Kupfer vor, welches auch die bläuliche Farbedes Bluts veranlaßt. Als Nieren fungieren traubigeAnhänge der Kiemenarterien. Ein andres Exkretionsorgan ist deroben erwähnte Tintenbeutel, welcher in den Darm ganz dicht amAfter ausmündet; sein Produkt bei der Sepie dient alsMalerfarbe. Die Geschlechter sind bei den T. getrennt.Männchen und Weibchen unterscheiden sich zuweilen in ihrerGestalt wesentlich (Argonauta. s. Papiernautilus). Ersteres erzeugtfür feine Samenfäden in einem besondern Abschnitt derGeschlechtswerkzeuge komplizierte, über 1 cm lange Patronen(sogen. Needhamsche Maschinen), welche im Wasser platzen. Die Eierwerden in einem unpaaren Ovarium produziert und dann nachUmhüllung mit Eiweiß und Kapseln entweder einzeln oderin Trauben und Schläuchen an allerlei Gegenständeangeheftet. Die Begattung erfolgt vielfach in der Art, daßein dazu besonders eingerichteter Arm des Männchens dieSamenpatronen in die weibliche Geschlechtsöffnungüberträgt. Bei einigen Arten löst sich dieser Armnach seiner Füllung mit Samen vom Körper los und schwimmteinige Zeit im Meer umher, um schließlich auch in dieMantelhöhle des Weibchens zu geraten. Bei seiner Entdeckungwurde er für einen Eingeweidewurm (Hectocotylus octopodisCuv.), später sogar für das ganze Männchen derTintenschnecke gehalten; jetzt weiß man, daß es einabgelöster, sogen. hektokotylisierter Arm ist. DieEntwickelung der T. erfolgt direkt, so daß das junge Tier,wenn es das Ei verläßt, schon bis auf dieGröße den Alten gleich ist.

Die T. sind ohne Ausnahme Bewohner des Meers, und zwar leben siesowohl an den Küsten als in großen Tiefen und auf deroffenen See. Sie kriechen und schwimmen sehr behende und entfaltennamentlich in einigen Formen eine im Verhältnis zurGröße ungeheure Körperkraft. Von den Wirbellosensind es wohl die gewaltigsten und klügsten Raubtiere. Imallgemeinen bleiben sie ziemlich klein, jedoch erreichen die Formender Tiefsee, von denen sich freilich nur selten Exemplare an dieOberfläche verirren und so gefangen werden, enorme Dimensionen(s. Kraken). Viele T. werden gegessen, auch wird der Farbstoff desTintenbeutels sowie der "Sepienknochen" (s. oben) technischbenutzt. Nach der Anzahl der Kiemen teilt man die T. inTetrabranchiata (Vierkiemer) und Dibranchiata (Zweikiemer),letztere wieder in Octopoda (Achtarmer) und Decapoda (Zehnarmer)ein. Die Oktopoden, mit acht Armen, die an ihrer Basis durch eineHaut verbunden sind, mit kurzem, rundlichem Körper, ohneinnere Schale und meist auch ohne Flossenanhänge, zerfallen inzwei Familien: Philonexidae d'Orb., mit dem Argonauten oderPapiernautilus (s. d.) und Octopodidae d'Orb., zu welcher unterandern der Pulpe oder Vielfuß (Octopus, s. Tafel) und dieMoschuseledone (Eledone Leach) gehören. Die Dekapoden besitzenaußer den 8 Armen noch 2 lange, tentakelnartlge Fangarme,ferner 2 Flossen und eine innere Schale. Hierher gehören dieGattungen Loligo (Kalmar), Sepia (Sepie), Spirula (Posthorn), diefossilen Belemniten etc. Die Vierkiemer besitzen vier Kiemen in derMantelhöhle, zahlreiche zurückziehbare Tentakeln am Kopfund eine vielkammerige Schale; sie sind in der Gegenwart durch dieeinzige Gattung Nautilus L. vertreten. Zu derselben Familie(Nautilidae Ow.) gehören auch die Gattungen O1thoceras Breyn.,Lituites Breyn. (s. Tafel "Silurische Formation")

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Tintenstifte - Tipperary.

und Clymenia Münst. (s. Tafel "Devonische Formation"),während die Familie Ammonitidae Ow. die Gattungen Goniatitesde Haan (s. Tafeln "Devonische Formation" und "SteinkohlenformationI"), Ceratites de Haan (s. Tafel "Triasformation I") und AmmonitesBreyn. (s. Tafel "Juraformation I") umfaßt (s. Ammoniten). -Die T. sind sowohl wegen der großen Mannigfaltigkeit derFormen als auch wegen der Häufigkeit des Vorkommens fürdie Erkenntnis versteinerungsführender Schichten wesentlich.Die Vierkiemer traten schon im Silur mit Nautilen undGeradhörnern, im Devon auch mit Goniatiten auf; von allendiesen Formen überlebten nur die echten Geradhörner,Goniatiten und Nautilen das paläozoische Zeitalter, dochstarben Orthoceras und Goniatites in der Trias aus. Dafür abererscheinen nun außer den bereits in der Trias wiederaussterbenden Ceratiten die Ammoniten, die sich schon in genannterFormation, mehr noch im Jura und ebenso noch in hohem Grad in derKreide (hier außer durch normale Formen auch durchNebenformen: Baculites, Ancyloceras, Toxoceras, Crioceras, s. Tafel"Kreideformation") entwickeln, aber mit dem Schluß der Kreide(des mesozoischen Alters) ihr Ende erreichen; es bleibt alsofür Tertiär- und Jetztzeit nur Nautilus. Die Zweikiemerbeginnen in der Trias mit belemnitenartigen Tieren, echteBelemniten und ihre Nebengenera sind äußerst häufigin Jura und Kreide (Bejemnites, Rhynchoteuthis, s. Tafeln"Juraformation I" und "Kreideformation"); die ganze Familie aberstirbt mit der Kreide aus, während die ebenfalls im Juraauftretenden Kalmare und Sepien bis jetzt zugenommen haben.Spirula, Octopus haben keine, Argonauta hat nur tertiärefossile Repräsentanten. Vgl. Ferussac und d'Orbigny, Histoirenaturelle des Céphalopodes (Par. 1835-45); Verany,Mollusques méditerranéens. Bd. 1: Céphalopodes(Genf 1847-51); Bronn-Keferstein, Klassen und Ordnungen desTierreichs; Bd. 3: Cephalopoden (Leipz. 1869).

Tintenstifte, s. Bleistifte, S. 24.

Tintern Abbey (spr. äbbi). Abteiruine inMonmouthshire (England), im malerischen Thal des Wye, im 13. Jahrh.erbaut.

Tintillo (spr. -tilljo), s. Spanische Weine.

Tinto, Küstenfluß in Spanien, s. RioTinto.

Tinto (vino tinto), dunkler span. Wein, wie der T. vonAlicante, der T. di Rota, der Inselburgunder (s. Madeirawein)etc.

Tintoretto, eigentlich Jacopo Robusti, genannt il T.("das Färberlein", nach dem Handwerk seines Vaters), ital.Maler, geb. 1519 zu Venedig, war anfangs Schüler Tizians,schlug jedoch bald eine eigne Richtung ein, welche durch seinenWahlspruch: "Von Michelangelo die Zeichnung, von Tizian die Farbe"deutlich bezeichnet ist, wie in der That auch eine Anzahl seinerWerke das Streben zeigt, die Größe des florentinischenStils mit den Vorzügen seiner heimatlichen Schule zuverbinden. T. ist der Chorführer der zweiten Generation dervenezianischen Malerschule, welche sich in äußerlicherBravourmalerei, in prunkhafter und massenhafter Komposition undschwierigen Perspektiven gefiel. T. überlud seineKompositionen oft mit nicht zur Sache gehörigen, theatralischgespreizten Figuren und wandte gern glänzendeBeleuchtungsgegensätze an. Sein Kolorit ist wirkungsvoll, warmund tief, wenn er sich die Zeit zu sorgsamer Arbeit ließ,aber roh und grob, wo er durch schnelle Improvisationen und zumStaunen redende Bewältigung großer Flächen wirkenwollte. Viele seiner Gemälde, insbesondere die Bildnisse, inwelchen er Tizian am nächsten kam, haben übrigens durchNachdunkeln viel von ihrer ursprünglichen Farbenprachteingebüßt. Er starb 31. Mai 1594 in Venedig. Von denWerken seiner frühern Zeit, in welchen er Tizian nahestand,sind der Sündenfall und der Tod Abels (in der Akademie zuVenedig), Venus, Mars und Amor (im Palast Pitti zu Florenz), dieAnbetung des Kalbes und das Jüngste Gericht (in Santa Mariadell' Orto in Venedig), das Wunder des heil. Markus (in derAkademie daselbst, eins seiner vollendetsten Werke), die Hochzeitzu Kana (in Santa Maria della Salute) und die großeKreuzigung (in der Scuola di San Rocco daselbst) hervorzuheben,welches Gebäude überhaupt 56 Gemälde von TintorettosHand aufzuweisen hat. Seine sinkende Meisterschaft bezeugen dieBilder im Dogenpalast, insbesondere das kolossale Paradies.Zahlreiche Gemälde von ihm befinden sich in den Galerien zuParis, London, Dresden, Berlin, Wien, Madrid, Florenz und Venedig.- Sein Sohn Domenico, ebenfalls il Tintoretto genannt (1562-1637),leistete im Porträtfach Tüchtiges, malte aber auchMythologisches und Historisches, unter anderm das Seegefechtzwischen den Venezianern und Kaiser Otto (im großen Ratssaalzu Venedig). Vgl. Janitschek in Dohmes "Kunst und Künstler"(Leipz. 1876).

Tione, Marktflecken in Südtirol, an der Sarca, imThal Giudicarien, Sitz einer Bezirkshauptmannschaft und einesBezirksgerichts, mit (1880) 1876 Einw., welche Seidenzucht undGerberei betreiben.

Tippecanoe (spr. tippekanu), Fluß im nordamerikan.Staat Indiana, ergießt sich oberhalb Lafayette in den Wabash.An seinen Ufern schlug General Harrison 5. Nov. 1811 die vonElskwatawa, dem "Propheten", geführten Indianer.

Tippen (Dreiblatt, Zwicken), ein in Deutschland sehrverbreitetes Kartenglücksspiel. Man spielt es unter 3-6Personen mit 32, bei noch mehr Teilnehmern mit 52 Blättern.Der Kartengeber setzt 3 Marken Stamm, gibt jedem Spieler 3Blätter zu 1 und wirft dann ein Trumpfblatt auf. Steht nur derStamm, so müssen alle Spieler "mitgehen", und wer keinen Stichbekommt, zahlt Bête (was im Pot steht). Sobald Bêtesteht, darf der Spieler, welcher auf einen Stich nicht rechnet,passen; hat jemand aber gute Karten, so sagt er: "ich gehe mit"oder "tippt" mit dem Finger auf den Tisch. Für jeden Sticherhält man den dritten Teil des stehenden Satzes. Manmuß Farbe bedienen oder trumpfen.

Tippera, fruchtbarer und dicht bevölkerter Distriktin der britisch-ind. Provinz Bengalen, an der Mündung desMegnaarmes des Brahmaputra, 6451 qkm (117 QM.) groß mit(1881) 1,519,338 Einw. und dem Hauptort Comillah. Östlichdavon liegt das unter britischer Oberhoheit stehendeT.-Hügelland (Hill T.), welches auf 10,582 qkm (192 QM.) nur95,637 Einw. (größtenteils halbe Wilde) zählt.

Tipperáry, 1) Binnengrafschaft in der irischenProvinz Munster, umfaßt 4297 qkm (78 QM.) mit (1881) 199,612Einw., von denen 95 Proz. römisch-katholisch sind. DerFluß Suir durchfließt den Hauptteil der Grafschaft, dendie Silvermine Mountains (694 m) von dem an den Shannon grenzendenTeil trennen. Der Südwesten ist gebirgig (Galtymore 919 m,Knockmealdown 795 m), aber das Innere nimmt eine Ebene ein, diewegen ihrer Fruchtbarkeit als Goldene Aue (Golden Vale) bezeichnetwird. Von der Oberfläche sind (1888) 16 Proz. Ackerland, 67Wiesen und Weiden, 2,6 Proz. Wald. An Vieh zählte man

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Tippu Sahib - Tirard.

1881: 28,987 Pferde, 244,029 Rinder, 205,850 Schafe und 74,540Schweine. Steinkohlen werden gewonnen; Kupfer, Zink und Blei kommenvor. Die Industrie ist ohne Bedeutung. Die Grafschaft zerfälltin zwei Ridings mit den Hauptstädten Nenagh und Clonmel. -

2) Stadt in der Goldenen Aue der irischen Grafschaft gleichesNamens, an einem Nebenfluß des Suir, hat eine Lateinschuleund (1881) 7274 Einw.

Tippu Sahib, Sultan von Maissur, geb. 1751, folgte seinemVater Haider Ali (s. d.) 10. Dez. 1782 in der Regierung, focht mitGlück gegen die in Südindien sich befestigendenEngländer und schloß mit ihnen im März 1784 einenVertrag, wonach sie sein Reich räumen mußten. Er legtesich hierauf den Titel eines Padischahs bei, durch welchen er eineSouveränität über alle Fürsten Hindostansbeanspruchte, und seine Hofhaltung wurde eine der glänzendstenin Indien. Im Dezember 1789 verbündeten sich dieEngländer mit seinen Nachbarn, eroberten 1790 und 1791 mehrerefeste Plätze in Maissur, schlossen T. im Februar 1792 inseiner Hauptstadt Seringapatam ein und zwangen ihn zu einemfür ihn höchst nachteiligen Friedensschluß. T.schloß hierauf einen geheimen Bund mit Frankreich gegenEngland. Dieses aber kam ihm im Februar 1799 mit derKriegserklärung zuvor, und T. fiel 4. Mai d. J. bei derErstürmung von Seringapatam durch die Engländer. SeinerFamilie ward die Festung Vellor, später Kalkutta zum Wohnortund eine jährliche hohe Pension angewiesen, die 1860abgelöst wurde; jetzt ist die Familie in der Bevölkerungaufgegangen. Vgl. "The history of Tippoo Sultan, written by MirHussain Ali Khan" (übersetzt von Miles, Lond. 1844).

Tippu-Tipp (Tippo-Tib), eigentlich Hamed bin Mohammed,arab. Großkaufmann und Pflanzer, früher auchSklavenhändler am obern Congo, welcher an diesem Flußoberhalb der Stanleyfälle die Stationen Kibonge, Riba Riba undKasongo (die letzte, etwas abseits vom Congo oberhalb Njangwegelegen, ist die Hauptstation) nebst zahlreichen andern kleinenHandelsposten besitzt, gegenwärtig auch als Gouverneur derStation Stanley Falls im Dienste des Congostaats steht. T. wurdeuns zuerst durch Cameron bekannt, dem er 1874 bei seinerDurchquerung Afrikas über den Lualaba bis nach Utotera (5°südl. Br. und 25° 54' östl. L. v. Gr.) das Geleitgab. Als Stanley 1876 seine denkwürdige Entdeckungsreise denCongo abwärts machte, lieh ihm T. seinen wertvollen Beistand,namentlich zur Überwindung der Stanleyfälle. Schon zujener Zeit war T. ein höchst einflußreicher Mann,seitdem wuchs sein Einfluß noch mehr, wiewohl ihn seineHandelsunternehmungen in große Abhängigkeit von denindischen Händlern an der ostafrikanischen Küstebrachten, die ihn das Anerbieten Stanleys bei dessen Zug zu EminPascha, in die Dienste des Congostaats zu treten und Stanley beiseinem Unternehmen zu unterstützen, bereitwilligst annehmenließ. Nach einem Anfang 1887 abgeschlossenen Vertrag nahm T.die Würde eines Gouverneurs des Congostaats am obern Congogegen einen Monatsgehalt von 30 Pfd. Sterl. an, mit derVerpflichtung, das ihm unterstellte Gebiet gegen alle Angriffe vonArabern und Eingebornen zu schützen, unterhalb Stanley Fallsselbst keinen Sklavenhandel zu betreiben, auch diesen Handel vonandrer Seite in aller Weise zu verhindern. Ein Beamter desCongostaats wurde ihm als Resident beigegeben, um T. zuüberwachen. T. verpflichtete sich ferner, für StanleysExpedition zu Emin Pascha von den Stanleyfällen undzurück 600 Träger gegen eine Zahlung von 6 Pfd. Sterl.für den Mann zu beschaffen. Mit diesen Trägernbeabsichtigte Stanley, die von Emin Pascha aufgespeicherten 75 Ton.Elfenbein im Wert von 60,000 Pfd. Sterl. zur Küste zu bringenund damit die von der ägyptischen Regierung ihm für seinUnternehmen vorgestreckte Summe zurückzuzahlen. Stanleyschloß diesen Vertrag mit T. in Sansibar ab und nahm diesenmit 40 seiner Leute von dort zur Congomündung und dann mit derExpedition den Congo aufwärts bis zur Aruwimimündung mit,T. ging darauf zu den Stanley Falls, um diese 26. Aug. 1886 von denArabern zerstörte Station wieder einzurichten; indessenerfüllte er sein Versprechen, Träger für Stanley zustellen, erst nach dessen Rückkehr von Emin Pascha zum LagerBunalya am Aruwimi, und auch da sandte er nur 100 Mann.

Tipton (spr. tippton), Stadt in Staffordshire (England),bei Dudley, hat Kohlen- und Eisengruben, Gießereien,Kettenschmieden, Maschinenbau und (1881) 30,013 Einw.

Tipuani, Bergdorf im Departement La Paz der RepublikBolivia, am Ostabhang der Binnenkordillere, 580 m ü. M.,bekannt durch seine Goldwäscherei.

Tipula, Schnake, Bachmücke; Tipulariae(Mücken), Familie aus der Ordnung der Zweiflügler, s.Mücken.

Tiraboschi (spr. -ski), Girolamo, ital.Litterarhistoriker, geb. 28. Dez. 1731 zu Bergamo, bei den Jesuitenin Monza gebildet, nahm die geistlichen Weihen und lehrte inMailand und Novara an niedern Schulen, bis er die Professur derRhetorik an der Brera zu Mailand erhielt; 1770 wurde er Abt undOberbibliothekar beim Herzog Franz II. von Modena. Hier benutzte erdie ansehnlichen litterarischen Hilfsmittel, die ihm zu Gebotestanden, zur Ausarbeitung seiner berühmten "Storia dellaletteratura italiana" (Modena 1772-82, 14 Bde.; 2. Ausg. 1787-93,16 Bde.; Flor. 1805-12, 20 Bde.; am besten Mail. 1822-26, 16 Bde.;deutsch im Auszug von Jagemann, Leipz. 1777-81, 6 Bde.), einesWerkes von erstaunlicher Gelehrsamkeit, Genauigkeit undVollständigkeit, das von den ersten Anfängenwissenschaftlicher Bildung in Italien bis zum Beginn des 18. Jahrh.reicht und den gesamten Schriftschatz in allen seinen Zweigenbehandelt. T. starb als Ritter (cavaliere) und herzoglicher Rat 3.Juni 1794 auf seinem Landgut bei Modena. Von seinen übrigenSchriften sind die "Biblioteca Modenese" (Modena 1781-1786, 5 Bde.)und die "Memorie storiche Modenesi^ (das. 1793, 6 Bde.) namhaft zumachen.

Tirade (franz.), ein längerer deklamationsartigerWorterguß, weitschweifiger Wortschwall; in der Musik eineVerzierungsmanier, bestehend aus einer Anzahlstufenmäßig aufeinander folgender schneller Noten, dieein größeres Intervall ausfüllen.

Tirailleure (franz., spr. -ra[l]jöhre), inaufgelöster Ordnung kämpfende Mannschaften der Infanterie(Plänkler, Schützen); vgl. Schwärmen.

Tirailleurfeuer, s. Schießen.

Tirana, 120 m hoch und sehr schön gelegene Stadt imtürk. Wilajet Skutari, westlich von Durazzo, um 1600 n. Chr.gegründet, hat einen großen Bazar, viele Moscheen undGärten, eine kath. Kirche und 22,000 meist mohammedan.Einwohner.

Tirano, Flecken in der ital. Provinz Sondrio, im Veltlin,an der Adda, mit einigen Palästen aus dem 16. Jahrh.,besuchten Märkten, Weinbau und (1881) 3036 Einw. Unweit amEingang in das Thal Poschiavo (Puschlav) die berühmteWallfahrtskirche Madonna di T. aus weißem Marmor.

Tirard (spr. -rár), Pierre Emmanuel, franz.Mi-

720

Tiraspol - Tiro.

nister, geb. 27. Sept. 1827 zu Genf von französischenEltern, lernte die Goldarbeiterkunst, begab sich 1846 nach Parisund erhielt hier eine Anstellung in der Verwaltung derStraßen und Brücken. Doch nahm er 1851 wieder seineEntlassung und begründete ein Exportgeschäft fürBijouterie- und Goldschmiedewaren, das einen guten Fortgang hatte.An der Politik nahm er regen Anteil und schloß sich derradikalen Partei an. Nach dem Sturz des Kaiserreichs 4. Sept. 1870ward er Maire des sechsten Arrondissem*nt von Paris. Bei demAusbruch des Aufstandes vom 18. März 1871 wurde er zumMitglied der Kommune erwählt, sagte sich aber bald von ihr losund ging nach Versailles, um zwischen der Nationalversammlung undder Kommune eine friedliche Vermittelung zu versuchen, was jedocherfolglos blieb. Seit 8. Febr. 1871 Mitglied derNationalversammlung und seit 1876 Deputierter, schloß er sichden radikalen Republikanern an. Er war vom März 1879 bisNovember 1881 und vom Januar bis August 1882 Minister fürHandel und Ackerbau, vom August 1882 bis März 1885Finanzminister und vom Dezember 1887 bis April 1888 und wieder seit21. Febr. 1889 Ministerpräsident. Auch ist er Senator.

Tiraspol, Kreisstadt im russ. Gouvernement Cherson, amDnjestr und an der Eisenbahn von Odessa nach Jassy, hat eine in derNähe befindliche Festung, 4 Kirchen (darunter eine derAltgläubigen), 2 Synagogen und (1887) 24,898 Einw. DieIndustrie besteht in Getreidemüllerei (Dampfmühle),Gartenbau, Talgsiederei, Lichte- und Tabaksfabrikation.

Tiraß, Decknetz zum Fang von Wildgeflügel.

Tiratelli, Aurelio, ital. Maler, geb. 1842 zu Rom, warseit 1856 Schüler der St. Lukas-Akademie und widmete sichanfangs der Plastik. Nachdem er unter andern das Denkmal desmexikanischen Gesandten Baron Guerra auf dem Campo santo zu Romgeschaffen, wandte er sich seit 1873 der Landschafts-, Genre- undTiermalerei zu. Von seinen durch sorgfältige Detailbehandlungund Lebendigkeit der Darstellung ausgezeichneten Gemälden,deren Motive er ausschließlich Rom und seiner Umgebungentnimmt, sind hervorzuheben: Viehmarkt in der römischenCampagna, ein Eisenbahnunglück, Landleute auf einem vonBüffeln gezogenen Wagen (Museum zu Triest), Ernte in derCampagna, Erntewagen in der römischen Campagna, eineOchsenherde auf der Landstraße, Büffelkampf in derCampagna und eine Büffelversammlung an einem Sumpf.

Tire, Stadt im asiatisch-türk. Wilajet Aidin, amKütschük Menderes, 55 km südöstlich von Smyrna,mit welchem es durch Eisenbahn verbunden ist, mit etwa 13,000Einw.

Tireboli, Stadt im asiatisch-türk. Wilajet Tarabozon(Trapezunt), 82 km westlich von Trapezunt am Schwarzen Meergelegen, mit 2-3000 meist türk. Einwohnern, Post, Telegraphund einer verfallenen Festung. T. ist das antike, von Griechen ausMilet im 8. Jahrh. v. Chr. gegründete Tripolis.

Tiree (Tyree, spr. tirrih), Insel der innern Hebriden,zur schott. Grafschaft Argyll gehörig, 70 qkm groß mit2730 Einw. Ben Haynish (132 m) ist der höchste Punkt; etwa derdritte Teil der Insel ist angebaut. Vorzüglicher Marmor wirdgebrochen.

Tire-haut! (franz., spr. tir-oh), Zuruf, um bei der Jagdauf vorbeistreichendes Federwild aufmerksam zu machen.

Tires (engl., spr. teirs), eiserne oder stählerneRadkränze für Lokomotiven- u. Eisenbahnwagenräderetc.

Tiresias, s. Teiresias.

Tiret (franz., spr. tirä), Bindestrich,Gedankenstrich.

Tirguschu (rumän. Tirgu-Jiu, Targulu-Jiuliu),Hauptstadt des rumän. Kreises Gorschi, am Schiul (Jiu), Sitzdes Präfekten und eines Tribunals, hat 5 Kirchen, eineNormalschule und 3712 Einw.

Tirhaka (ägypt. Talhaka), dritter äthiop.König von Ägypten, schlug 701 v. Chr. den assyrischenKönig Sanherib bei Altaku, wodurch er das Reich Juda von denAssyrern befreite, wurde aber 672 von dem König von Assyrien,Assarhaddon, vertrieben und versuchte vergeblich, Ägyptenwiederzuerobern.

Tirhala, Stadt, s. Trikkala.

Tirlemont (spr. tirl'mong, vläm. Thienen), Stadt inder belg. Provinz Brabant, Arrondissem*nt Löwen, an derGroßen Geete, Knotenpunkt an der EisenbahnBrüssel-Lüttich, früher befestigt, seit demMittelalter sehr zurückgegangen, hat eine schöne gotischeLiebfrauenkirche (1298 gegründet), die Kirche St.-Germain (12.Jahrh.), eine Bibliothek, ein Kommunalcollège, Fabrikationvon Dampfmaschinen, Flanell, wollenen Strümpfen, Leder,Zucker, Öl etc., Getreide- und Wollhandel und (1888) 15,315Einw. Hier 16. März 1793 Sieg der Franzosen unter Dumouriezüber die Österreicher.

Tirmentau, westlicher Gebirgszug des Urals imGouvernement Ufa, Kreis Sterlitamak; 3 km vom Dorf Chasina ist ineinem der Felsen eine große Höhle, welche Lepechinbeschrieben hat.

Tirnau (ungar. Nagyszombat), königliche Freistadt imungar. Komitat Preßburg, an der Waagthalbahn, mit 9römisch-kath. Kirchen (darunter der 1389 erbaute Dom),mehreren Klöstern, einer evang. Kirche und (1881) 10,830deutschen, slowakischen und ungar. Einwohnern, die Gewerbe, Handelund Weinbau treiben. T. hat eine Zuckerfabrik, eine kath.Lehrerpräparandie, ein kath. Obergymnasium, ein kath. Seminar,ein Bezirksgericht, ein großes Militärinvalidenhaus mitSpital und Irrenanstalt, ein Komitatsspital, ein Theater und einDenkmal zur Erinnerung an die 14. Dez. 1848 gefallenenHonvéds. Bis 1773 bestand hier eine Universität.

Tirnowa (d. h. Dornburg), Kreishauptstadt in Bulgarien,an der Jantra, zwischen höchst abenteuerlich geformtenKalkfelsen erbaut, ehemals die Hauptstadt des Landes, Ausgangspunktmehrerer Straßen über den Balkan, hat Moscheen, mehrerebyzantin. Kirchen, Bäder, bedeutenden Zwischenhandel und(1887) 11,314 Einw. (meist Bulgaren). Von der früher lebhaftenWebindustrie hat sich nur die Fabrikation groben Tuches, fernerFärberei sowie Seidenzucht erhalten.

Tiro (lat.), junger Soldat, Rekrut; überhauptAnfänger, Neuling; daher Tirocinium, der erste Feldzug einesSoldaten; die erste Probe in einer Sache; auch Titel vonLehrbüchern für Anfänger.

Tiro, Marcus Tullius, röm. Gelehrter, geboren um 94v. Chr., anfänglich Sklave, seit 54 Freigelassener des Cicero,dem er durch besondere Gelehrsamkeit und Geschicklichkeit eingeschätzter Begleiter und Gehilfe wurde. Nach Ciceros Tod zoger sich auf ein kleines Landgut bei Puteoli zurück, wo er,fast hundertjährig, 5 n. Chr. starb. Von seinen Schriften sinduns nur einzelne Bruchstücke erhalten. Er gab die WerkeCiceros heraus, sammelte und veröffentlichte dessen Witzworteund schrieb eine Biographie desselben, welche Plutarch im "LebenCiceros" benutzt hat. Außerdem verfaßte er eine Schriftüber den lateinischen Sprachgebrauch und eine großeEncyklopädie unter dem Titel: "De variis atque promiscuisquaestionibus". Am bekanntesten aber ist T.

TIROL

Maßstab 1: 1.100,000

Die Sitze der Bezirkshauptmannschaften sind unterstrichen.

721

Tirol (Bodenbeschreibung, Bewässerung, Klima).

wegen der Erfindung der altrömischen Kurzschrift, die manseitdem 16. Jahrh. als die Tironischen Noten bezeichnet. DasAlphabet der Tironischen Stenographie ist gebildet durchVerkürzung und Vereinfachung der römischenMajuskelzeichen. In der Verbindung miteinander erfahren dieTironischen Buchstaben mancherlei Modifikationen undVerschmelzungen, für einige Vokale besteht eine einfachesymbolische Bezeichnung an dem vorangehenden Konsonantenzeichen.Als Abkürzungen benutzt, stehen die TironischenBuchstabenzeichen für häufig vorkommende Wörter, undzwar werden durch Benutzung kleiner diakritischer Merkmale, durchAnsetzen von Endungszeichen u. dgl. aus einem einzigenalphabetischen Zeichen oft viele Abkürzungen dieser Artgebildet. Bei der Mehrzahl der nicht auf solche Weisegekürzten Wörter geschieht die notwendige Vereinfachungdurch Buchstabenauslassen, in dessen Vornahme eine systematischeRegelmäßigkeit nicht erkannt werden kann. Das geschickteVerwerten des Punktes und der verkleinerten Buchstaben alsNebenzeichen liefert weitere Mittel zur Kürzung, die auch imzusammenhängenden Satz ihre Anwendung findet (Schriftprobe s.auf Tafel "Stenographie"). Aus zahlreichen Stellen der altenAutoren wissen wir, daß Geschwindschreiber (notarii) mit denTironischen Noten öffentliche Reden und Verhandlungenwörtlich aufnahmen. Unter den Kaisern ward das TironischeNotensystem als Lehrgegenstand in den Schulen vorgetragen. Mit demSinken des römischen Reichs schwand auch die Kenntnis derTironischen Noten, doch erlebten diese unter den Karolingern nocheine Nachblüte, ehe sie ganz der Geschichte anheimfielen.Unsre Kenntnis der Tironischen Noten beruht teils auf ganzen Werkenoder einzelnen Abschnitten in Tironischen Zügen, die sicherhalten haben, teils auf lexikonähnlichen Lehrbüchern.Die ältesten Handschriften dieser Art stammen aus dem 8.Jahrh. n. Chr. Vgl. Engelbronner, De M. T. Tirone (Amsterd. 1804);Mitzschke, M. T. Tiro (Berl. 1875); Egger, Latini sermonisvetustioris reliquiae selectae (Par. 1843); Kopp, Palaeographiacritica (Mannh. 1817); Schmitz im "Panstenographikon" Leipz.(1869-74); Lehmann, Quaestiones de notis Tironis et Senecae (das.1869); Mitzschke, Quaestiones Tironianae (Berl. 1875); Rueß,Über die Tachygraphie der Römer (Münch. 1879);Zeibig, Geschichte und Litteratur der Geschwindschreibkunst (2.Aufl., Dresd. 1878); Lehmann, Das Tironische Psalterium derWolfenbüttler Bibliothek (Leipz. 1885).

Tirol (hierzu Karte "Tirol"), österreich. Kronland,gefürstete Grafschaft, grenzt mit Einschluß vonVorarlberg (s. d.) westlich an die Schweiz und Liechtenstein,nördlich an Bayern, östlich an die österreichischenKronländer Salzburg und Kärnten, südlich an Italienund umfaßt ohne Vorarlberg 26,690 qkm (484,73 QM.), mitVorarlberg aber 29,293 qkm (531,99 QM.). T. ist das gebirgigsteLand Österreichs und hat Anteil an dem nördlichen,mittlern und südlichen Zug der Alpen. Die nördlicheGebirgsmasse beginnt mit den Vorarlberger (Algäuer) Alpen unddem Bregenzer Wald, welche sich vom Bodensee bis zum Lech hinziehen(Rote Wand 2705 m, Hochvogel 2589 m, Arlberg mit Paß 1797 m)und in den Nordtiroler Alpen mit dem Wettersteingebirge (Zugspitze2960 m), dem Karwändelgebirge (2736 m) und dem Solstein (2655m) ihre Fortsetzung finden. Den nordöstlichsten Teil Tirols,jenseit des Inn, erfüllen die Kitzbühler Alpen (Breithorn2496 m) und das denselben nördlich vorlagernde Kaisergebirge(2375 m). Die Zentralzone der Alpen beginnt in T. mit demRätikon (Scesaplana 2963 m) und den nördlichenAusläufern der Rätischen Alpen (Albuinkopf 3313m), setztsich in dem gletscherreichen Massiv der Ötzthaler Alpen(Wildspitze 3776 m), in der Stubaier Gruppe (Zuckerhütl 3508m) und den Sarnthaler Alpen (Hirzer 2781 m) fort. DerBrennerpaß scheidet diesen westlichen Teil von demöstlichen Zug der Zentralalpen, dem Zillerthaler Gebirgsstock(Hochseiler 3506 m) und den Hohen Tauern (s. d.), von welchen sichan der Tiroler Grenze noch die Dreiherrnspitze und derGroßvenediger erheben. Dem südlichen Alpenzuggehören in T. an die Gruppen des Ortler (s. d.), deshöchsten Bergs des Landes und der Monarchie (3905 m), desAdamello und der Presanella (3547 m), die Brentagruppe (3179 m),die westlichen Trientiner Alpen; dann östlich vom Etschthaldie Lessinischen Alpen (Cima Dodici 2331 m), die SüdtirolerDolomitalpen (Vedretta Marmolata 3494 m), die Fassaner undAmpezzaner Alpen, endlich an der Grenze gegen Kärnten dieKarnischen Alpen. Die wichtigsten Alpenpässe in T. sind: dasReschenscheideck, der Brenner, der Arlberg, das Stilfser Joch,Finstermünz, Tonale, die Ehrenberger Klause, der Scharnitz-und Achenpaß (diese drei nach Bayern), der Strub-, Thurn- undGerlospaß (diese drei nach Salzburg). Die Hauptthälersind: das Ober- und Unterinnthal, das Etsch- und Eisack- und dasPusterthal. Unter den Nebenthälern sind besonders dasÖtz-, Wipp- und Zillerthal, Fleimser, Fassa- und GrödnerThal, Sulzberg und Nonsberg, Giudicarien und Valsuganahervorzuheben. Das nördliche T. gehört zu demFlußgebiet des Rheins und der Donau, zu letzterm auch deröstliche Teil des Pusterthals, aus welchem die Drau nachKärnten übertritt. Alles übrige gehört zumGebiet des Adriatischen Meers. Der Rhein empfängt ausVorarlberg die Ill, während die Bregenzer Ache in den Bodenseedirekt mündet. Der Inn betritt das Land bei Finstermünzund verläßt es unterhalb Kufstein, nachdem er dieRosana, den Ötzbach, Sill und Ziller aufgenommen. Ganz im N.Tirols entspringen der Lech und die Isar, die aber bald nach Bayernübergehen. Der Hauptfluß des südlichen T. ist dieEtsch (Adige), die links die Passer, den Eisack und den Avisio,rechts den Noce aufnimmt und bei Borghetto in das Venezianischeübertritt. Außerdem sind von Flüssen zu nennen: imSW. die Sarca, im SO. die Brenta. Unter den Seen sind der Boden-und der Gardasee, deren Spiegel nur zum Teil zu T. gehören,die größten; außer diesen beiden gibt es nurkleinere Seen, z. B. der Achensee, der Brennersee, der See vonCaldonazzo, der Loppiosee. Die berühmtesten der zahlreichen(123) Mineralquellen sind die von Rabbi, Prags, Maistatt, Innichen,das Brennerbad und das Mitterbad im Thal Ulten. Das Klima Tirolsist sehr verschieden, indem die zentrale Gebirgskette eineKlimascheide bildet. Nördlich von derselben ist die Temperaturvorherrschend rauh und kalt; südlich von der Zentralkette,namentlich im Etschthal, erreicht die Sommerwärme oft eineunerträgliche Höhe. Die mittlere Jahrestemperaturbeträgt in Innsbruck +8° C., in Bludenz +8½°C., in Lienz +7½° C., in Trient dagegen +12,6° C. Imnördlichen T. beträgt der Regenniederschlaggewöhnlich 88-122 cm im Jahr, in Südtirol etwa 94 cm. Dieniedrigern Striche des Innthals, wie das Zillerthal, habenergiebiges Ackerland; im Etschthal erinnert schon die ganze Naturan Italien, und hier ist der Boden überaus fruchtbar.

Die Bevölkerung von T. betrug mit Einschluß

722

Tirol (Bevölkerung, Naturprodukte, Bergbau, Industrie).

von Vorarlberg 1869: 885,789, 1880: 912,549, ohne dasselbe 1869:782,753, 1880: 805,176 Seelen und zeigt eine sehr geringe Zunahme(jährlich etwas über ¼ Proz.); für Ende 1887wird die Zivilbevölkerung von T. mit 805,728 (hierzuMilitär ca. 8140 Mann), für Vorarlberg mit 110,525(Militär ca. 130 Mann), zusammen mit 916,253 Bewohnern (hierzuMilitär ca. 8270 Mann) berechnet. Auf 1 qkm kommen imDurchschnitt 31 Einw. (in Vorarlberg 41). Von der Bevölkerunggehören 60 Proz. der deutschen, 40 Proz. der italienischenNation an. Am weitesten zieht sich die deutsche Bevölkerung ander Etsch hinab. Die herrschende Religion ist die katholische, dieProtestanten bilden bis jetzt nur wenige kleine Gemeinden; ihreZahl betrug 1880: 2190, die der Juden 542. Die geistige Bildung desTirolers ist infolge klerikaler Einflüsse weit hinter seinerBildungsfähigkeit zurückgeblieben. Ein gemeinsamerCharakterzug des Volkes ist Anhänglichkeit an das Vaterlandund kirchlicher Sinn. Infolge der geringen Produktivität desBodens sucht eine bedeutende Anzahl der Bewohner (etwa 33,000) ihrFortkommen zeitweilig oder dauernd in der Fremde; in den letztenJahren hat die Auswanderung auch nach überseeischenLändern, namentlich in Welschtirol, größereAusdehnung gewonnen.

Die Bodenproduktion Tirols ist wegen der gebirgigenBeschaffenheit vorwiegend auf Waldwirtschaft und Viehzuchtbeschränkt; doch wird, wo nur möglich, auchKörnerbau betrieben. Die produktive Bodenflächebeträgt 81,69 Proz. des Gesamtareals. Nach Kulturgattungenverteilt sich die produktive Bodenfläche folgendermaßen:Ackerland 6,23 Proz., Weinland 0,54, Wiesenland 8,21, Gärten0,21, Weiden 5,83, Alpen 32,51, Wald 46,18, Seen, Teiche 0,29 Proz.Was zunächst das Grasland betrifft, so läßt dieKultur der Wiesen an Düngung und Bewässerung zuwünschen übrig, dagegen ist die Art der Heugewinnung undAuftrocknung ausgezeichnet. Überwiegend sind die Alpenweiden,auf welchen das Vieh den Sommer über gehalten wird. Dergesamte Ertrag an Grasheu beläuft sich auf etwa 11 Mill. metr.Ztr. In der Bewirtschaftung der Äcker herrschen großeVerschiedenheiten. In Nordtirol überwiegt dieEggartenwirtschaft mit langjähriger Grasnutzung, in Vorarlbergdie freie Wirtschaft. Eigentümlich ist die Feldwirtschaft inSüdtirol, wo es für Feldprodukte nur schmale Ackerbeetezwischen den Reben- oder auch Maulbeerbaumpflanzungen gibt, welchemeist einem sehr bunten Zwischenfruchtbau gewidmet sind. DieProdukte des Ackerbaues in T. sind: Weizen (250,000 h.), Roggen(435,000), Gerste (185,000), Hafer (140,000), Mais (420,000 hl),letzterer in Südtirol Hauptfrucht, aber auch in Nordtirol, z.B. im obern Inn- und Lechthal, vertreten; fernerHülsenfrüchte (37,000 hl), Buchweizen (125,000 hl),Kartoffeln (1,120,000 hl), besonders in Vorarlberg,Futterrüben (340,000 metr. Ztr.), Klee (180,000 metr. Ztr.Heu), Flachs (10,000 metr. Ztr.), insbesondere im Ötzthal,Hanf (2000 metr. Ztr.) in Vorarlberg, Tabak (8000) metr. Ztr.) umRoveredo, Zichorie (2200 metr. Ztr.) in Vorarlberg, etwas Mohn,Kürbisse etc. Die Obstkultur ist in Nordtirol meist auf dienicht großen Gärten beschränkt; das Kernobst wirdzu Obstwein (Cider) und das Steinobst zur Branntweinerzeugungverwendet. In Südtirol ermöglichen die Lage undTemperatur die Kultivierung edler Obstsorten, von denen neben derTraube auch Pfirsiche, Aprikosen, Mandeln, Zitronen (am Gardasee),Orangen, edlere Apfelsorten, besonders bei Bozen (Hauptsorte derweiße Rosmarinapfel), feine Birnen, Kirschen,Granatäpfel etc. gezogen werden. Das Erträgnis an Obstbeläuft sich durchschnittlich in T. auf 90,000 metr. Ztr.Kernobst, 40,000 metr. Ztr. Steinobst, 14,000 metr. Ztr. Nüsseund Mandeln und 14,500 metr. Ztr. Kastanien. Der Ölbaum wirdin T. mit Erfolg nur in den südlichsten Teilen um Arco undRiva gezogen; auch die Kultur der Maulbeerbäume ist aufSüdtirol beschränkt. Der Weinbau ist ebenfalls aufSüdtirol und kleine Teile des Pusterthals und Vorarlbergsbeschränkt. Die Weine sind in Deutschtirol vorwiegendweiß und schiller, in Welschtirol rot, würzig und beiguter Behandlung wertvoll. Als die vorzüglichsten Sortengelten die von Isera bei Roveredo und der Traminer.Durchschnittlich beträgt die Weinernte 260,000 hl. Dengrößten Teil der produktiven Bodenfläche Tirolsnehmen die Waldungen ein, von denen über 10 Proz. aufStaatsforsten kommen. Eine der Haupterwerbsquellen ist für T.ferner die Viehzucht. Nach der Zählung von 1880 gab es:

in Tirol in Vorarlberg

Pferde 14307 2680

Esel, Maulesel und Maultiere 4844 25

Rinder 420169 61115

Schafe 246436 12312

Ziegen 102017 12090

Schweine 45961 9684

Bienenstöcke 38962 5927

Der Stand der Pferde ist ein sehr geringer und nur im Pusterthalvon größerer Bedeutung; dagegen ist das Rindvieh sehrreich und durch mehrere vorzügliche Rassen vertreten. DerErtrag an Milch beläuft sich auf 4,3 Mill. hl, jener an Butterauf 85,000 metr. Ztr., an Käse auf 211,000 metr. Ztr. Zubesserer Verwertung der Milchprodukte tragenMolkereigenossenschaften bei. Die Seidenraupenzucht wird inSüdtirol stark betrieben, hat aber durch Raupenkrankheit unddurch den Druck der italienischen Konkurrenz sehr gelitten(jährlicher Kokonsertrag ca. 14,000 metr. Ztr.). Die Jagd,eine Lieblingsbeschäftigung der Tiroler, ist nicht mehr soergiebig wie früher. Steinböcke, Wildschweine und Hirschesind fast ausgerottet, Gemsen und Rehe selten, nur Hasen undGeflügel noch in größerer Menge vorhanden.

Der Bergbau und Hüttenbetrieb, ehemals in Nordtirol vonhoher Bedeutung, hat fast seine ganze Wichtigkeit verloren.Für Eisen bestehen 3 Bergwerke und 2 Hochöfen (zu Jenbachund Pillersee), für Kupfer eine ärarischeSchmelzhütte zu Brixlegg und ein Privatwerk zu Prettau. DieHüttenproduktion belief sich 1887 auf 80 kg Silber, 2717 metr.Ztr. Kupfer und 13,425 metr. Ztr. Roheisen. Außerdem wirdBleierz (7881 metr. Ztr.), Zinkerz (22,152 metr. Ztr.),Schwefelkies (18,000 metr. Ztr.) und Braunkohle (zu Häring,dann zu Wirtatobel in Vorarlberg, zusammen 254,230 metr. Ztr.)gefördert. Der Wert aller Verkaufsprodukte des Berg- undHüttenbetriebs war 592,500 Gulden. Hierzu kommt der Betriebder Saline zu Hall mit einer Produktion von 140,500 metr. Ztr. Salzim Wert von 1,114,000 Guld. Sonstige Produkte des Bodens sind:Asphalt, Farberde, Gips, Kreide, Quarz, Marmor (bei Laas undPredazzo), Serpentin, Amethyste, Granate (Ötzthal undZillerthal) u. a. In industrieller Beziehung zeichnet sich vorallem Vorarlberg (s. d.) durch regen Gewerbfleiß aus;Südtirol hat mit vorwiegender Seidenindustrie auch in dieserRichtung den Charakter einer italienischen Landschaft; imübrigen Land bilden Innsbruck und Bozen hervorragendeMittelpunkte industriellen Betriebs. Die Metallindustrie ist durchdie Werke zu Jenbach und Piller-

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Tirol (Handel, Verkehrswesen etc.; Geschichte).

see vertreten, welche Gußwaren und Stahl erzeugen.Außerdem werden Maschinen (Innsbruck und Jenbach),Kleineisenwaren (im Stubaier Thal), Sensen und Sicheln, Nägelund Drahtstifte, Nadeln (Fügen), Kupfertiefwaren und Bleche(Brixlegg), Messing (Achenrain), leonische Waren (Stans) ingrößerer Menge erzeugt. Ferner gibt es Fabriken fürSteingut (Schwaz), für Zement (Kirchbichel u. a.), fürMarmorarbeiten, dann Glashütten, Fabriken fürSchießpulver, Dynamit, Bleiweiß, Seife und Kerzen,Bierbrauereien, Branntweinbrennereien, Fabriken fürkonservierte Früchte u. Gemüse (Bozen), fürKaffeesurrogate, Teigwaren, Tabaksfabriken (Sacco und Schwaz). DerTextilindustrie dienen, abgesehen von der bedeutenden VorarlbergerBaumwollindustrie, mehrere Baumwollspinnereien und -Webereien, dannFabriken für Schafwollwaren, Filz, Zwirn und Bänder inNordtirol. Hierzu kommt die Seidenindustrie von Südtirol mitden zahlreichen Seidenfilanden und Spinnereien (50,000 Spindeln)und mehreren Seidensamtfabriken (Ala). Andre in T. vertreteneIndustriezweige sind: die Gerberei (namentlich in Roveredo), dieSumachbereitung, die Fabrikation von Papier, Holzstoff undCellulose, die Holzschnitzerei als Hausindustrie (besonders imGrödner Thal), die Glasmalerei (Innsbruck), die Stickerei,Spitzenklöppelei, Handschuhfabrikation u. a. Die Lage Tirolszwischen Deutschland und Italien und die Vorteile wohlerhaltenerKunststraßen und Eisenbahnen begünstigen den Handel mitdem In- und Ausland wie auch den Transithandel. Das Land wird vonder Linie Kufstein-Ala (Brennerbahn) mit der durch das Pusterthalführenden Seitenlinie Franzensfeste-Lienz-Marburg, dann vonden Staatsbahnlinien Salzburg-Wörgl und Innsbruck-Lindau(Arlbergbahn) durchzogen. Die Gesamtlänge der Eisenbahnenbeläuft sich in T. und Vorarlberg auf 745 km.Wasserverkehrswege bilden: der Inn von Hall bis zur Grenze (86 km),der Rhein von Geißau bis zur Einmündung in den Bodensee(5 km), die Etsch von Branzoll bis zur Grenze (105 km).Außerdem werden der Boden-, der Garda- und der Achensee mitDampfschiffen befahren.

Für den Unterricht sorgen: die Universität zuInnsbruck, 16 theologische Lehranstalten, 9 Obergymnasien, einRealgymnasium, 2 Oberrealschulen, 2 Unterrealschulen, 4 Lehrer- und3 Lehrerinnenbildungsanstalten; ferner 5 Handelslehranstalten, 31Gewerbeschulen, 3 landwirtschaftliche Lehranstalten, eineHebammenlehranstalt, 16 weibliche Arbeitsschulen und 28 sonstigeLehr- und Erziehungsanstalten (meist in geistlichen Händen);endlich 3 Bürger-, 1705 öffentliche und 59 privateVolksschulen. Der für T. bestehende Landtag (Vorarlbergbesitzt seine eigne Landesvertretung) besteht aus demFürsterzbischof von Salzburg, den Fürstbischöfen vonTrient und Brixen, 4 Abgeordneten der Äbte und Pröpste,dem Rektor der Innsbrucker Universität, 10 Abgeordneten desGroßgrundbesitzes, 13 der Städte, Märkte undIndustrialorte, 3 der Handels- und Gewerbekammern (zu Innsbruck,Bozen und Roveredo) und 34 Vertretern der Landgemeinden, zusammenaus 68 Landtagsmitgliedern. In den Reichsrat entsendet T. 18Abgeordnete. In kirchlicher Beziehung ist das Land unter dasErzbistum Salzburg (bis zur Ziller) und die Bistümer Brixenund Trient verteilt. Das Wappen von T. (s. Tafel"Österreichisch-Ungarische Länderwappen") bildet imsilbernen Feld ein aufrechter roter Adler mit gekröntem, nachrechts gewandtem Kopf, der von einem Lorbeerkranz umgeben ist, undmit silbernen Kleestengeln auf den ausgebreiteten Flügeln(vgl. Busson, Der Tiroler Adler, Innsbr. 1879). Administrativ istdas Land in 4 Städte mit selbständigem Statut und 24Bezirkshauptmannschaften eingeteilt, wovon ^3[?] auf Vorarlbergentfallen. Sitz der Statthalterei ist Innsbruck. Für dieRechtspflege bestehen: ein Oberlandesgericht zu Innsbruck, 5Gerichtshöfe erster Instanz und 67 Bezirksgerichte. Diepolitische Einteilung von T. (jene von Vorarlberg s. d.) zeigtfolgende Tabelle:

Bezirke

Areal Bevölkerung 1880

in QKil. in QM

Städte:

Innsbruck 0,3 - 20537

Bozen 0,7 - 10641

Roveredo 8 0,1 8864

Trient 18 0,3 19585

Bezirkshauptmannschaften:

Ampezzo 369 6,7 6340

Borgo 729 13,2 43139

Bozen 1734 31,5 65812

Brixen 1203 21,8 26547

Brunek 1835 33,3 35509

Cavalese 765 13,9 23297

Cles 1166 21,2 49594

Imst 1705 31,0 23334

Innsbruck 2101 38,1 54970

Kitzbühel 1164 21,1 23138

Kufstein 1042 18,9 29953

Landeck 1918 34,8 24772

Lienz 2150 39,5 30846

Meran 2398 43,5 58209

Primiero 415 7,5 10983

Reutte 1096 19,9 16137

Riva 350 6,2 24495

Roveredo 708 12,9 52007

Schwaz 1654 30,0 26742

Tione 1230 22,3 36368

Trient 931 16,9 83357

Zusammen: 26690 484,7 805176

Vgl. Beda Weber, Das Land T. (Innsbr. 1837-1838, 3 Bde.; 2.Aufl. als "Handbuch für Reisende in T.", 1853); Staffler, T.und Vorarlberg, statistisch und topographisch (das. 1839-46, 2Bde.); Schneller, Landeskunde von T. (das. 1872); Schaubach, Diedeutschen Alpen, Bd. 2, 4 u. 5 (2. Aufl., Jena 1866-67); Zingerle,Sitten, Bräuche etc. des Tiroler Volks (2. Aufl., Innsbr.1871); Hörmann, Tiroler Volkstypen (Wien 1877); Jüttner,Die gefürstete Grafschaft T. und Vorarlberg (das. 1880);Egger, Die Tiroler und Vorarlberger (Teschen 1882); Bidermann, DieNationalitäten in T. (Stuttg. 1886); "Spezial-Ortsrepertoriumvon T." (hrsg. von der statistischen Zentralkommission, Wien 1885);Grohmann, Tyrol and the Tyrolese (2. Aufl., Lond. 1877);Schilderungen von Steub, Noë u. a.; Reisehandbücher vonMeyer ("Deutsche Alpen"), Bädeker, Trautwein, Amthor, Meureretc.

Geschichte.

T. wurde ursprünglich von rätischen, den Etruskernoder Rasenna verwandten Stämmen bewohnt, zu welchen auchKelten hinzutraten. Vom Bodensee und den Lechquellen nordwärtshausten die keltischen Vindelizier. Unter Kaiser Augustus erobertenes die Römer und öffneten es dem Verkehr. Mit dem 2.Jahrh. begannen die Einfälle germanischer Stämme,insbesondere der Alemannen. Schon im 4. Jahrh. fand hier dasChristentum Eingang, für welches das Bistum Trient und wenigspäter das in Seben errichtet wurde; letzteres wurde im 11.Jahrh. nach Brixen verlegt. Nach dem Sturz desabendländischen

46*

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Tirol (Geschichte).

Kaisertums kam T. unter die Herrschaft der Ostgoten, nach derenZertrümmerung der nördliche Teil des Landes von denBojoaren (Bayern), der südliche von den Langobarden besetztward. Dann ward T. fränkische Provinz, in Gaue geteilt, derenNamen sich erhalten haben, wie Vintschgau (Finsgowe), Thal Passeyer(Passir), Zillerthal (Cillarestal), Pusterthal (Pustrissa),Innthal, Norithal (das innere T. um den Brenner herum) mit derGrafschaft Bozen, und von Grafen verwaltet. Nach dem Aussterben deskarolingischen Hauses nahmen es die wieder emporgekommenenbayrischen Herzöge zum Teil in Besitz. Außer dengeistlichen Fürsten von Brixen und Trient bewahrten ihreUnabhängigkeit die Grafen von T., welchen der Vintschgau undein Teil des Engadin gehörte. Ihre Stammburg war SchloßT. oberhalb Meran (früher Maias). Schon seit 1001 werdenGrafen von T. erwähnt, doch beginnt eineregelmäßige Succession erst seit Albrecht I. um 1110.Einer seiner Nachfolger, Albrecht IV. (1202-53), erwarb 1248 dieGrafschaft Andechs im Oberinnthal bei dem Aussterben derHerzöge von Meran, welche diesen Titel als Markgrafen des amMeer liegenden Istrien führten und sich von Friedrich I. vonDießen (gest. 1020) ableiteten. Die übrigen Besitzungendieses Geschlechts in Oberbayern, wo Andechs am Starnberger Seelag, im Norithal (um Brixen) und Pusterthal wurden von denHerzögen von Bayern und den Bischöfen von Brixenokkupiert. Das Gebiet einer dritten Familie, nämlich derHerren von Eppan, welche angeblich zum Geschlecht der Welfengehörten, erwarben in 12. Jahrh. die Bischöfe von Trient,wie z. B. die Grafschaft Bozen. Diesem Stift war auch dieGrafschaft Matrei zugefallen, während das Zillerthal schonseit dem 11. Jahrh. zum Erzstift Salzburg gehörte. Ein viertesGeschlecht, die Grafen von Heimföls-Lurenfeld, seit dem 12.Jahrh. Grafen von Görz genannt, war imtirolisch-kärntnischen Pusterthal reich begütert. AlsAlbrecht IV. von T. 1253 starb, teilten seine Schwiegersöhne,die Grafen Meinhard I. von Görz und Gebhard von Hirschberg,die kaum vereinigte Erbschaft; jener erhielt die Besitzungen derGrafen von T., dieser die der Grafen von Andechs. Doch fiel dieErbschaft Gebhards durch Kauf wieder an Meinhard II., Enkel desletzten Grafen von T., welcher 1282 von Kaiser Rudolf I. dieReichsunmittelbarkeit des nun in seinen Besitzverhältnissengeschlossenen Landes zuerkannt erhielt, das nunmehr den Namen T.(Etschland und Innthal) zu führen begann. Meinhards II. EnkelHeinrich, Herzog von Kärnten und Graf von T., hinterließeine Erbtochter, Margarete Maultasch, welche zuerst mit Johann vonLuxemburg und dann mit dem Markgrafen Ludwig von Brandenburg,Kaiser Ludwigs ältestem Sohn, vermählt war und nach demTod ihres Sohns Meinhard 1363 das Land an die Herzöge vonÖsterreich abtrat. 1364 bestätigte der Kaiser dieseGebietsveränderung im Vertrag zu Brünn, und 1369erkannten sie auch die bayrischen Herzöge im SchärdingerVergleich an. Bei der Teilung der habsburgischen BrüderAlbrecht III. u. Leopold III. (1379) fiel T. an Herzog Leopold, der1386 bei Sempach fiel. Bei der Teilung von 1406 überkam seinjüngster Sohn, Herzog Friedrich IV. (mit der leeren Tasche),das Land samt den schwäbischen Vorlanden in ziemlicherVerwirrung, die sich durch den Konflikt, in den Friedrich mit demKonstanzer Konzil und dem Kaiser Siegmund 1415 geriet, nochsteigerte. Während Friedrich im Gebirge umherirrte, suchtesich sein Bruder Ernst von Steiermark des Landes zubemächtigen; doch kam 1416 eine Versöhnung zwischen denBrüdern zu stande, und die Grafschaft T. erhielt der HerzogFriedrich zurück, der nun mit Hilfe des Landvolks denwiderspenstigen Adel demütigte. Von nun an erhielten dieStädte und das Landvolk gleiche politische Rechte mit den zweivornehmen Ständen (Landtag zu Meran 1433). Unter seinem SohnSiegmund, dem "münzreichen", aber durch verschwenderischeFreigebigkeit stets geldbedürftigen Herrscher, blühte derBergbau in T. auf, zumal die Silbergruben von Schwaz ergabenunermeßliche Ausbeute. Dieser Fürst ist besondersbekannt durch den Kirchenstreit, der 1455 zwischen ihm und demBischof von Brixen, Nikolaus von Cusa, wegen der Vogtei überdas Nonnenkloster Sonnenburg im Pusterthal sich entspann und 1464resultatlos endete. Da Siegmund kinderlos war, übergab er dieGrafschaft 1490 seinem Neffen, dem König Maximilian I., dersie 1504 durch das Zillerthal, Kufstein, Kitzbühel,Rattenberg, das kärntnische Pusterthal zwischen Ober-Drauburgund Lienz, ferner gegen Italien durch die Reichsvikariate Ala,Avia, Mori, Brentonico, das Grenzgebiet von Covolo (Kofel) undPudestagno (Peutelstein), ferner Riva und Roveredovergrößerte und ihr den Titel gefürstete Grafschaftbeilegte. Ferdinand I. trat der Reformation entgegen, die seit 1522im Land Eingang gefunden hatte, unterdrückte zwar 1525 denBauernaufstand, den in Brixen Michael Geißmayer angestiftethatte, mußte aber die freie Predigt nach dem Wort Gottesgestatten. Erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrh. warddurch das Zusammenwirken des katholischen Adels und der Regierungin Innsbruck bewirkt, daß T. von den Protestanten verlassenwurde. Nach Ferdinands I. Tod (1564) übernahm sein zweiterSohn, Erzherzog Ferdinand, der Gemahl der schönen PhilippineWelser von Augsburg, die Regierung; da Ferdinand keineerbberechtigten Söhne hinterließ, so fiel nach seinemTod (1594) das Land wieder an die kaiserliche Familie, bis 1602Rudolf II. seinen Bruder Maximilian zum Regenten bestellte. Nachdessen Tode trat (1618) Erzherzog Leopold aus der steirischen Linieein, der Gatte Claudias von Medici, welche nach seinem Ableben alsVormund des Sohns die Grafschaft verwaltete (1632-46). Auf Claudiafolgten noch ihre beiden Söhne, zuerst Ferdinand Karl, dannFranz Siegmund, der 1665 starb. Mit ihm erlosch die steirischeNebenlinie in T., und dieses wurde jetzt wieder von Wien ausregiert. Kaiser Leopold I. stiftete 1673 die Universität zuInnsbruck. Im spanischen Erbfolgekrieg (1703) unternahm Max Emanuelvon Bayern eine Expedition nach T., die anfangs gelang, bald aberdurch die Tapferkeit des Landsturms den Bayern ebenso verderblichward wie den Franzosen, die unter Vendôme von Italien her bisTrient vorgedrungen waren. Durch denReichsdeputationshauptschluß von 1803 erhielt Kaiser FranzII. die geistlichen Fürstentümer Brixen und Trient. ImFrieden zu Preßburg fiel T. an Bayern; 11. Febr. 1806erfolgte die Übergabe. Die Einmischung der neuen Regierung inviele Dinge, welche die Wiener Hofräte bisher klüglichunberührt gelassen, die bedeutenden Geldverluste, welche dieEntwertung der das Land überschwemmenden Bankozettelverursachte, die Störung des altgewohnten Absatzes in denErbländern, die Einführung neuer Steuern und dieKonskription, die Auflösung der Tiroler Landschaft, dieBeseitigung selbst des Namens "T.", namentlich aber dieVerminderung der Feiertage und Klöster: dies alles erzeugte imLand eine

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Tiroler Grün - Tisch.

den Bayern sehr feindliche Stimmung und bereitete den heimlichenAufforderungen Erzherzog Johanns und Hormayrs in Wien zum Aufstandeinen günstigen Boden. So entzündete sich im April 1809jener Volkskrieg unter den Helden Andreas Hofer (s.d.), Speckbacheru. a., nach dessen unglücklichem Ende im Wiener Frieden von1809 T. in drei Teile zerrissen ward: Welschtirol mit Bozen fiel andas Königreich Italien, Oberpusterthal an Illyrien, und dasübrige blieb bei Bayern. Nach dem Fall des französischenKaiserreichs 1814 wurde das ganze Land wieder mit Österreichvereinigt. Durch das Patent vom 24. März 1816 stellte KaiserFranz die Verfassung in etwas veränderter Gestalt wieder her.T. fügte sich weniger gern als die andern deutschenKronländer in den durch das Februarpatent von 1861 (s.Österreich, S. 521) in Österreich geschaffenen Zustand;eine Adresse der alttiroler Partei vom 15. Febr. 1861 hattegeradezu die Aufrechterhaltung der alten ständischenGliederung verlangt. Dazu weigerte sich der italienischeSüden, den Landtag zu beschicken, und verlangte eineAbtrennung der italienischen Bezirke von den deutschen. DieAbneigung der Massen, namentlich auf dem Land, gegen die neueOrdnung der Dinge wuchs noch, als das Patent vom 8. April imPrinzip die Gleichstellung der Protestanten aussprach. Doch hattedie Adresse des allein aus Vertretern von Deutschtirolzusammengesetzten Landtags, welcher auf Antrag desFürstbischofs von Brixen an den Kaiser die Bitte richtete, dieAusübung des öffentlichen Gottesdienstes, die Bildungkirchlicher Gemeinden, den Erwerb von Realbesitz den Protestantenin T. nicht zu gestatten, keinen Erfolg. Die Sistierung derVerfassung nach Schmerlings Sturz 1865 rief in T. keineoppositionelle Kundgebung hervor, weil die Regierung T. in Absichtauf das Protestantenpatent bedeutende Zugeständnisse machte.So wurde durch das Gesetz vom 7. April 1866 die Bildungprotestantischer Gemeinden von der Einwilligung des Landtagsabhängig gemacht. Daher gab sich für dieWiederherstellung der verfassungsmäßigen Zustände1867 in dem Landtag Tirols geringe Sympathie zu erkennen; indessenerfolgte doch der Beschluß, den Reichsrat zu beschicken. Dieliberalen österreichischen Gesetze über Kirche und Schulestießen in T. natürlich auf große Abneigung und imLandtag auf Opposition. Alle Versuche des verfassungstreuenMinisteriums, eine liberale Mehrheit durch Neuwahlen zum Landtag zuerreichen, waren vergeblich. Auch nach dem Eintritt derWelschtiroler in den Landtag (1875) blieb die Mehrheit ultramontanund protestierte ebenso wie die Bischöfe immer wieder gegendie konfessionslose Schule und für die Glaubenseinheit. Vgl.v. Hormayr, Geschichte der gefürsteten Grafschaft T.(Tübing. 1806-1808, 2 Bde.); Egger, Geschichte Tirols (Innsbr.1872-80, 3 Bde.); über einzelne Perioden: A. Huber, Geschichteder Vereinigung Tirols mit Österreich (das. 1864); v. Hormayr,T. und der Tiroler Krieg von 1809 (2. Aufl., Leipz. 1845); A.Jäger, Zur Vorgeschichte des Jahrs 1809 in T. (Wien 1852); "T.unter der bayrischen Regierung" (Aarau 1816); A. Jäger,Geschichte der landständischen Verfassung Tirols (Innsbr.1880-1885, 2 Bde.) und andre Werke des Verfassers; Streiter,Studien eines Tirolers (für die neuere Zeit, Leipz. 1862);"Archiv für Geschichte und Altertumskunde Tirols" (Innsbr.1864-68); "Acta Tirolensia" (das. 1886 ff.); "Zeitschrift desFerdinandeums für T." (das., seit 1825).

Tiroler Grün, s. Berggrün.

Tiroler Weine, im allgemeinen eher leichte als geistige,wenig saure Weine, denen es an Parfüm, häufig anKörper, meist an Haltbarkeit fehlt. Man gewinnt Rot- undWeißweine, erstere besonders im Etschthal, letztere in derUmgegend von Trient und Roveredo, wo auch vorzüglicheLikörweine bereitet werden. Man unterscheidet Leiten- oderCollinenweine von den Anhöhen und den Buchten der Berge, reichan Alkohol und Körper, von angenehmem Geschmack undstärkendem Weingeruch, und Bodenweine aus der Tiefebene, ohneBoukett, dick und nicht haltbar. Die vorzüglichsten WeineTirols sind: der Isera, weiß und rot, voll Geist und Feuer,der braune Vin santo oder Pasqualino, der köstlicheweiße Terlaner, voll Feuer und Süße, derdunkelrote Natalino, ein Strohwein von Roveredo, der dunkelbraune,lieblich süße Muscato bianco, der dunkel rubinroteTraminer und der Marziminer von Ala und Tramin, letztererfeingeistig und körperreich, dem Veltliner ähnlich, derSeeburger von Brixen, die Weine von Glanig und Leitach, wo der vonVergil besungene Lieblingswein des Kaisers Augustus wuchs, derKalterer Seewein, Maddalena etc.

Tironische Noten, s. Tiro.

Tirschenreuth, Bezirksamtsstadt im bayr. RegierungsbezirkOberpfalz, an der Waldnab und an der Linie Wiesau-T. der BayrischenStaatsbahn, 500 m ü. M., hat 4 Kirchen, ein Schloß, einWaisenhaus, ein Amtsgericht, ein Forstamt, Porzellan-, Tuch- undZementziegelfabrikation, eine Dampfschneidemühle und (1885)2829 meist kath. Einwohner. T. ist Geburtsort des GermanistenSchmeller.

Tirschtiegel, zwei Städte im preuß.Regierungsbezirk Posen, Kreis Meseritz, durch die Obra getrennt:Alt-T., mit kath. Kirche und (1885) 965 meist kath. Einwohnern;Neu-T., mit evangelischer und altluther. Kirche und Synagoge und(1885) 1502 meist evang. Einwohnern. T. hat ein Amtsgericht, einJohanniterkrankenhaus u. starken Hopfenbau. Nahebei dasSchloß T.

Tirso (im Altertum Torsus), der bedeutendste Flußder Insel Sardinien, entspringt im nordöstlichen Teilderselben, fließt südwestlich und mündet in denGolf von Oristano; 135 km lang.

Tirso de Molina, Dichter, s. Tellez.

Tiryns, sehr alte Stadt in Argolis, südöstlichvon Argos, der Sage nach Sitz des Perseus und Herakles und vonlykischen Kyklopen mit riesigen (Steine von 3 m Länge und 1 mDicke), zum Teil noch erhaltenen Mauern, in welchen Kammern undüberdeckte Gänge ausgespart sind, befestigt, was auforientalische Einflüsse deutet. In T. erhielt sich die alteachäische Bevölkerung im Gegensatz zur dorischen inArgos. Darum stete Feindschaft, welche 465 v. Chr. mit derZerstörung der Stadt durch die Argiver endete. Die Ruinen,durch die Ausgrabungen Schliemanns 1884 bis 1885 bekannt, welchedie Fundamente einer Fürstenburg aus Homerischer Zeitbloßgelegt haben, heißen heute Paläa Nauplia. Vgl.Schliemann und Dörpfeld, Tiryns (Leipz. 1885).

Tisane (franz.), s. Ptisane.

Tisch, in der Turnkunst (s. d.) ein zu Übungen desgemischten Sprunges verwendetes, nur auf wenigen Turnplätzeneingeführtes, hier aber sehr beliebtes Turngerät, etwa 2m lang, 1 m breit, die Platte mit dichter Polsterung versehen, dieFüße mit Ständern in Röhren zum Stellen inverschiedene Höhe (zwischem 1¼ und 1¾ m). Wegenseiner Größe springt man an ihm gern mit dem starkfedernden Schwungbrett (Tremplin). Vgl. J. K. Lion, DieTurnübungen des

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Tischbein - Tischreden.

gemischten Sprunges (2. Aufl., Leipz. 1876). Eine Abart desTisches ist der weit kleinere Kasten (Springkasten), den diepreußische Militärgymnastik zu den Übungen desVoltigierens an Stelle des Pferdes (s. d.) eingeführt, aberwieder abgeschafft hat.

Tischbein, deutsche Künstlerfamilie: JohannValentin, geb. 1715 zu Haina in Kurhessen, malte Landschaften undDekorationen und starb 1767 als Hofmaler in Hildburghausen. JohannHeinrich, der ältere, Bruder des vorigen, geb. 3. Okt. 1722 zuHaina, ging 1743 nach Paris, wo er sich bei Vanloo bildete, 1748nach Venedig, dann nach Rom und ward 1752 Kabinettsmaler desLandgrafen von Hessen-Kassel, später Professor an derKunstakademie zu Kassel, wo er 22. Aug. 1789 starb. Er entlehnteseine Stoffe meist der Mythologie. Seine Zeichnung ist im ganzenkorrekt; das Nackte verrät das Studium der Antike, dieGewänder sind im großen Stil behandelt. Viele seiner vomGeiste des Rokokostils erfüllten Arbeiten finden sich imSchloß Wilhelmshöhe bei Kassel. Auch seine BrüderJohann Jakob, gest. 1791 in Lübeck, und Anton Wilhelm, gest.1804 als Hofmaler in Hanau, erwarben sich einen Namen, jener durchTierstücke, dieser durch historische Darstellungen undGenrebilder. Johann Heinrich, der jüngere, Neffe der vorigen,geb. 1742 zu Haina, gest. 1808 als Inspektor der Galerie zu Kassel,stach vieles nach Joh. Heinr. T., dem ältern, und schrieb eine"Abhandlung über die Ätzkunst" (Kassel 1808).

Sein Bruder Johann Heinrich Wilhelm, der Neapolitaner genannt,geb. 15. Febr. 1751 zu Haina, der bedeutendste der Familie, bildetesich unter Leitung seiner Oheime Joh. Heinr. und Joh. Jakob T. undwar dann zu Hamburg, in den Niederlanden, in der Schweiz, seit 1782zu Rom und seit 1787 in Neapel thätig, wo er 1790 als Direktorder Malerakademie angestellt ward; doch kehrte er bald darauf nachDeutschland zurück und lebte abwechselnd in Hamburg und Eutin,wo er 26. Juli 1829 starb. Von seinen Arbeiten sind hervorzuheben:Konradin von Schwaben und Friedrich von Österreich wird beimSchachspiel das Todesurteil verkündigt; Christus und dieKindlein, für die Ansgariikirche zu Bremen; der wütendeAjax, die Kassandra von der Statue der Pallas wegreißend.Unter den von ihm herausgegebenen und zum Teil mit Radierungenausgestatteten artistischen Werken sind zu erwähnen:"Têtes de différents animaux, dessinéesd'après nature" (Neap. 1796, 2 Bde.), "Sir Will. Hamilton'scollection of engravings from antiques vases" (das. 1791-1809, 4Bde.) und sein berühmtestes Werk: "Homer, nach Antikengezeichnet", mit Erläuterungen von Heyne (Heft 1-6,Götting. 1801-1804) und Schorn (Heft 7-11, Stuttg. 1821-23).Seine Selbstbiographie wurde von Schiller ("Aus meinem Leben",Braunschw. 1861, 2 Bde.) herausgegeben. Vgl. Alten, Aus TischbeinsLeben (Leipz. 1872).

Johann Friedrich August, Sohn Joh. Valentin Tischbeins, geb.1750 zu Maastricht, als Familienporträtmaler ausgezeichnet,bereiste Frankreich und Italien, ward dann Hofmaler in Arolsen undlebte hierauf einige Zeit in Holland, seit 1795 aber zu Dessau undward 1800 Ösers Nachfolger als Direktor der Akademie zuLeipzig. Er starb 1812 in Heidelberg. Sein Sohn Karl Ludwig, geb.1797 zu Dessau, wurde in Dresden gebildet, ging 1819 nach Italien,ward 1825 Professor der Zeichenkunst an der Universität Bonnund 1828 Vorsteher einer Zeichenschule und Aufseher über diefürstlichen Sammlungen zu Bückeburg, wo er 13. Febr. 1855starb. Beifall fand sein Besuch Egmonts bei Klärchen sowieseine Ansichten von Städten, z. B. Bonn, Frankfurt, Leipzig.Vgl. Michel, Étude biographique sur les T. (Lyon 1881).

Tischendorf, Lobegott Friedrich Konstantin von, bekanntdurch seine Arbeiten für Kritik des Bibeltextes, geb. 18. Jan.1815 zu Lengenfeld im Vogtland, studierte zu Leipzig Theologie undPhilologie und habilitierte sich 1839 daselbst, bereiste, umMaterialien zu einer Textreform des Neuen Testaments zu sammeln,einen großen Teil Europas und den Orient. Nach seinerRückkehr erhielt er 1845 eine außerordentliche, 1859eine ordentliche Professur der Theologie zu Leipzig. 1853 und 1859unternahm er zwei neue Reisen nach dem Orient, besonders nachÄgypten und dem Sinai, von welcher er viele wertvolleHandschriften, insonderheit eine griechische Bibel aus dem 4.Jahrh., mit zurückbrachte (vgl. seine beiden Reisewerke:"Reise in den Orient", Leipz. 1845-1846, 2 Bde., und "Aus demHeiligen Lande", das. 1862). Er starb 7. Dez. 1874. Seine Arbeitenbetreffen hauptsächlich die neutestamentliche Textreform, so:die Ausgabe des "Codex Ephraemi Syri" (Leipz. 1843 u. 1845) und des"Codex Friderico-Augustanus" (das. 1846); die "Monumenta sacrainedita" (das. 1846; nova collectio 1855-71, 6 Bde.); "EvangeliumPalatinum ineditum" (das. 1847); "Codex Amiatinus" (das. 1850 u.1854); "Codex Claromontanus" (das. 1852); "Fragmenta sacrapalimpsesta" (das. 1854); "Codex Sinaïticus" (Petersb. 1862, 4Bde.; Handausgabe, Leipz. 1863, faksimiliert); das "NovumTestamentum Vaticanum" (das. 1867). Nach seinem Tod setzten O. v.Gebhardt und R. Gregory seine neutestamentlichen Arbeiten fort.Auch lieferte T. mit der Zeit 20 Ausgaben des neutestamentlichenTextes (8. größere Ausg., Leipz. 1869-1872, 2 Bde.;hiernach eine kleinere 1873), eine kritische Ausgabe derSeptuaginta (7. Aufl., das. 1887, 2 Bde.) sowie Ausgaben der "Actaapostolorum apocrypha" (das. 1851), der "Evangelia apocrypha" (das.1853, 2. Aufl. 1877) und der "Apocalypses apocryphae" (das. 1866).Seine Lösung der Frage: "Wann wurden unsre Evangelienverfaßt?" (Leipz. 1865, 4. Aufl. 1866) wurde von der Kritikfast einstimmig für einen verunglückten Versucherklärt. Vgl. Volbeding, Konstantin T. (Leipz. 1862).

Tischgelder werden im deutschen Heer den am gemeinsamenMittagstisch teilnehmenden Leutnants gezahlt; auchPortepeefähnriche, Offizieraspiranten im Besitz desReifezeugnisses zum Fähnrich können T. erhalten, jedochnicht im Feld.

Tischnowitz, Stadt in der mähr.Bezirkshauptmannschaft Brünn, an der Schwarzawa und derEisenbahn Brünn-T., mit Bezirksgericht, Schloß,Tuchweberei, Gerberei und (1880) 2589 Einw. Dabei T.-Vorkloster,mit einer Basilika (von 1238), Zucker- und Papierfabrik und 1205Einw.

Tischreden, Unterhaltungen oder Äußerungenberühmter Männer bei Tisch über Gegenstände derKunst, der Wissenschaft, des Lebens etc. Schon aus dem Altertumfinden sich T. in Xenophons und Plutarchs Symposien; ambekanntesten aber sind die Luthers: "Colloquia, so er in vielenJahren gegen gelahrten Leuten, auch fremden Gästen und seinenTischgesellen geführet" (zuerst hrsg. von Rebenstock, 1571; ambesten von Förstemann, Leipz. 1844-48, 4 Tle.; Auszug, das.1876). Es finden sich in diesen T. neben sinnreichen Bemerkungen,namentlich über einzelne Punkte der Glaubens- und Sittenlehre,auch zahlreiche kernhafte Späße. Auch

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Tischri - Tissiérographie.

die T. ("Table-talk") des englischen Dichters S. T. Coleridge(s. d.) verdienen Erwähnung.

Tischri (Tisri, hebr.), der erste Monat desbürgerlichen und der siebente des Festjahrs der Juden, hat 30Tage und fällt meist in den September unsers Jahrs. Der 1. und2. T. ist jüdisches Neujahr, der 10. Versöhnungstag, 15.bis 22. Laubhüttenfest.

Tischrücken und Tischklopfen. Mit ersterm Wortbezeichnet man die drehende und fortrückende Bewegung, inwelche ein Tisch versetzt wird, wenn mehrere um den Tisch herumsitzende oder stehende Personen ihre Hände darauf legen, wobeidurch Berührung der kleinen Finger eine Art von Kette gebildetwird. Versuche dieser Art wurden zuerst in den Vereinigten Staatenvon Nordamerika gemacht (s. Spiritismus); nachdem aber ein Aufsatzin der "Allgemeinen Zeitung" vom 4. April 1853 davon Kunde gegeben,wurde das Tischrücken auch diesseit des Atlantischen Ozeansfast allerorten in Gesellschaften mit Erfolg versucht, erregtegroßes Aufsehen und beschäftigte eine Zeit hindurchGelehrte und Ungelehrte. Damit verband sich bald das sogen.Tischklopfen, ein Frag- und Antwortspiel, bei welchem der Tischdurch Erheben und Aufstampfen eines Fußes je nach Abrede Jaoder Nein, die Buchstaben des Alphabets oder die Zahlen bezeichnenmußte. Ähnliche Künste waren schon bei Griechen undRömern im Gebrauch, indem man zur Erforschung der Zukunftgeweihte Dreifüße in Bewegung brachte, und unter demKaiser Valens gab ein derartiges Verfahren den Anlaß zugroßartigen Zaubereiprozessen. Auch im jetzigen China undIndien sind entsprechende magische Operationen seit uralten Zeitenim Gebrauch. Da nun die Antworten auf vorgelegte Fragen nur voneiner intelligenten Macht gegeben werden können, so schriebman sie und bald auch das gesamte Tischrücken der Einwirkungvon Geistern zu. Eine Reihe von Halbgelehrten suchte nachgreifbarern Kräften, und in einer unendlichenBroschürenlitteratur wurden bald die Elektrizität, baldder Magnetismus, bald das Nervenfluidum oder das "magischeGeisteswirken" für diese Erscheinungen verantwortlich gemacht,während andre alles für plumpen Betrug ansahen. Faradayzeigte, daß beide Annahmen falsch seien und beimTischrücken lediglich Selbsttäuschung im Spiel sei,insofern, wie er durch zu diesem Zweck von ihm konstruierteDynamometer bewies, Personen, die ihre Hände auf den Tischlegen, bald beginnen, im Sinn sogen. ideomotorischer Bewegungen (s.d.) unbewußt einen beträchtlichen Druck auszuüben,der nur in eine bestimmte Richtung gelenkt zu werden braucht, umselbst schwere Tische in Gang zu bringen. Die Spiritisten haltennatürlich an ihrer Theorie fest, und ihre herumreisendenApostel lassen es auch nicht mehr bei dem Tischrückenbewenden, sondern pflegen (wie z. B. Home und Slade) amSchluß ihrer Sitzungen schwebende und fliegende Tische zuzeigen (vgl. Spiritismus). Die schreibenden Tischchen (s.Psychograph) werden durch die aufgelegte Hand einzelner Personen(Medien) in Bewegung gebracht, und zu Guadalupe erschien 1853 diein dieser Weise von einem Stuhl verfaßte Novelle "Juanita".Noch in neuerer Zeit hat sich Crookes bemüht, experimentell zubeweisen, daß die "Medien" tatsächlich im stande seien,eine Verminderung, resp. Gegenwirkung der Schwerkraft zu leisten.Vgl. Crookes, Der Spiritualismus und die Wissenschaft (Leipz.1873); Wallace, Eine Verteidigung des modernen Spiritualismus (das.1875).

Tisi, Benvenuto, Maler, s. Garofalo.

Tisiphone, eine der Erinnyen (s. d.).

Tisri, s. Tischri.

Tissandier (spr. -ssangdjeh), Gaston, Gelehrter, geb. 21.Nov. 1843 zu Paris, widmete sich vorwiegend der Chemie und leitete1864-74 das Versuchslaboratorium der Union nationale. In dieserZeit beschäftigte er sich auch mit meteorologischen Arbeiten,und 1868 unternahm er von Calais aus mit Dufour seine ersteLuftballonfahrt. Seitdem stieg er mit seinem Bruder Albert mehr als20mal auf, entwich auch 1870 mittels eines Ballons aus dembelagerten Paris und machte 1875 mit Croce-Spinelli und Sivel zweiFahrten, von denen die eine 23 Stunden dauerte und die andre,wesentlich zum Zweck spektroskopischer Untersuchungen unternommen,in eine Höhe von 8600 m führte und den beiden BegleiternTissandiers das Leben kostete. T. ist Vizepräsident derfranzösischen Luftschiffergesellschaft und Professor desPolytechnischen Vereins. Er schrieb außer vielenBeiträgen für die 1873 von ihm gegründeteZeitschrift "Nature": "L'eau" (1867, 4. Aufl. 1878); "La houille"(1869); "Les fossiles" (1874); "Merveilles de la photographie"(1874); "Voyages aériens" (1870; deutsch in Masius'"Luftreisen", Leipz. 1872); "En ballon pendant le siége deParis" (1871); "Simples notions sur les ballons" (1876);"L'héliogravure" (1875); "Histoire de la gravuretypographique" (1875); "Histoire de mes ascensions" (1878); "Legrand ballon captif à vapeur de M. Giffard" (1879); "Lesmartyrs de la science" (1879); "Observationsmétéorologiques en ballon. Resumé de 25ascensions aérostatiques" (1879); "Histoire des ballons etdes aéronautes célèbres" (1887) etc.

Tissaphérnes, pers. Satrap in Lydien, schloß413 v. Chr. mit den Spartanern ein Bündnis, stand im Streitzwischen Artaxerxes Mnemon und seinem Bruder Kyros auf desKönigs Seite, ließ nach der Schlacht bei Kunaxa 401 dieAnführer des griechischen Hilfsheers hinterlistig ermorden underhielt deshalb eine Königstochter zur Ehe und dieStatthalterschaft des im Kampf gefallenen Kyros. Als er dieionischen Städte in Kleinasien dem König zu unterwerfenversuchte, riefen jene die Spartaner zu Hilfe, und er ward vondiesen unter Agesilaos 395 am Paktolos besiegt und infolgedessenseiner Strategie entsetzt. Sein Nachfolger Tithraustes ließihn später hinrichten.

Tisserand (spr. tiß'rang), Felix, Astronom, geb.15. Jan. 1845, studierte seit 1863 an der Normalschule in Paris,promovierte 1868, trat als Adjunkt in die Sternwarte ein und wurdebei der Reorganisation des astronomischen Dienstes durch Leverrier1873 zum Direktor des Observatoriums und zum Professor derAstronomie in Toulouse ernannt. 1874 ging er mit Janssen nach Japanzur Beobachtung des Durchganges der Venus durch die Sonne und 1882zu demselben Zweck nach Martinique. Er schrieb: "Note surl'interpolation" (1869); "Détermination des orbites desplanètes 116 et 117" (1871); "Sur la recherche de laplanète perdue 99" (mit Loewy, 1872); "Sur le mouvement desplanètes autour du soleil d'après la loiélectrodynamique de Weber" (1872); "Sur les étoilesfilantes" (1873); "Observations des taches du soleil àToulouse en 1874 et 1875" (1876); "Traité de mecaniquecéleste" (1888 ff.) etc.

Tissiérographie, ein von Tissier zu Paris zuerstangewandtes Verfahren, Kupferstiche auf den lithographischen Steinüberzudrucken und die Zeichnung hoch zu ätzen, umdieselbe in der Buchdruckpresse gleichzeitig mit Typensatz druckenzu können. Der Stein wird auf die Höhe derBuchdrucklettern zuge-

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Tissot - Titan.

richtet, der Überdruck in gewöhnlicher Weise (s.Typolithographie) gemacht und dieser mit einer Mischung vonrektifiziertem Holzessig, Salzsäure und Alkohol so langegeätzt, bis die erforderliche Tiefe erlangt ist, wobei dieZeichnung während des Tieferätzens an den Seiten durchFirnislagen vor dem Unterfressen durch das Ätzwassergeschützt werden muß.

Tissot (spr. -sso), 1) Simon (Samuel) André, Arzt,geb. 20. März 1728 zu Grancy bei Lausanne, studierte in Genfund Montpellier, ließ sich als Arzt in Lausanne nieder,leitete 1780-83 die Klinik in Pavia und starb 15. Juni 1797 inLausanne. Von seinen Schriften (Laus. 1783-95, 15 Bde.; Par. 1809,8 Bde.; deutsch, Leipz. 1784, 7 Bde.) sind besonders diepopulären hervorzuheben: "L'onanisme" (Laus. 1760, fast inalle europäischen Sprachen übersetzt) und "Avis au peuplesur sa santé" (das. 1761). Vgl. Eynard, La Vie de S. A. T.(Par. 1839).

2) Pierre François, franz. Schriftsteller, geb. 10.März 1768 zu Versailles, ein eifriger Revolutionär undspäter ein Parteigänger Napoleons, widmete sich seit 1799ganz der Litteratur, hielt seit 1810 am Collège de Francevielbesuchte Vorlesungen über lateinische Poesie, welche 1821verboten wurden, schrieb unter der Restauration für dieTagesblätter: "Constitutionnel", "Minerve", "Pilote", "Gazettede France", von denen er letzteres auch dirigierte, nahm 1830 seineVorlesungen wieder auf, erhielt 1833 einen Sitz in der Akademie undstarb 7. April 1854. Seinen zahlreichen Schriften fehlte es wederan der eleganten Form noch an bedeutendem Inhalt; nur leiden sieöfters an Oberflächlichkeit. Am meisten gerühmtwerden seine "Études sur Virgile, comparé avec tousles poètes épiques et dramatiques des anciens et desmodernes" (Par. 1825-30, 4 Bde.; 2. Aufl. 1841, 2 Bde.).Außerdem schrieb er: "Bucoliques de Virgile, traduites envers" (1800); "Trophées des armées françaisesdepuis 1792 jusqu'en 1815" (1819, 6 Bde.); "De la poésielatine" (1821); "Poésies érotiques" (1826, 2 Bde.);"Souvenirs historiques sur Talma" (1826); "Histoire complètede la Révolution française" (1833-36, 6 Bde.);"Histoire de Napoléon" (1833, 2 Bde.) u. a. Die"Mémoires de Carnot" gab er nach dessen Manuskripten heraus(1824).

3) Victor, franz. Schriftsteller, geb. 1845 zu Freiburg in derSchweiz, war längere Zeit Hauptredakteur der "Gazette deLausanne" und ließ sich 1874 in Paris nieder. Von hier ausbereiste er Deutschland und Österreich undveröffentlichte über diese Länder seine inFrankreich von der Lesewelt verschlungenen Schmähschriften:"Voyage au pays des milliards" (1875), "Les Prussiens en Allemagne"(1876) und "Voyage aux pays annexées" (1876) sowie "Vienneet la vie viennoise" (1878), denen sich später anschlossen:"Les mystères de Berlin" (1879), "Voyage au pays desTziganes" (1880), "La Russie rouge" (Roman, 1880), "L'Allemagneamoureuse" (1884), "La police secrète prussienne" (1884),"De Paris à Berlin" (1886) u. a.

Tissotgummi (Dextringummi), s. Dextrin.

Tisza (spr. tissa), 1) Koloman T. von Borosjenö,ungar. Staatsmann, geb. 16. Dez. 1830 zu Geszt im Biharer Komitataus einer reichbegüterten adligen calvinistischen Familie,studierte die Rechte und ward 1855 zum Hilfskurator des Szalontaerhelvetischen Kirchendistrikts gewählt. Er trat bei der durchdas Protestantenpatent vom 1. Sept. 1859 hervorgerufenen Bewegungzuerst als öffentlicher Redner auf, ward 1861 fürDebreczin Mitglied des Reichstags, schloß sich hier derBeschlußpartei an und übernahm 1865 mit Ghyczy dieFührung des linken Zentrums, bildete jedoch 1875, als dieDeákpartei infolge persönlicher Zerwürfnisse undder finanziellen Verwirrung zerfiel, eine neue "liberale Partei"aus dem größten Teil der Deákpartei und demlinken Zentrum, welche, da sie die Majorität besaß, dieRegierung übernahm. T. trat in das neue Ministerium Wenkheimals Minister des Innern ein, übernahm aber 21. Okt. 1875 nachdem glänzenden Sieg der neuen Partei bei den Reichstagswahlenden Vorsitz im Kabinett, welches er mit staatsmännischemGeschick leitete. Er verstand es mit großer Geschicklichkeit,die Ungarn für den neuen Ausgleich mit Österreichgünstig zu stimmen, die Besorgnisse und Klagen über dieOrientpolitik Andrássys zu beschwichtigen, die Abneigunggegen die Okkupation Bosniens zu vermindern und die Mehrheit desReichstags immer wieder um sich zu scharen. Hierdurch erlangte erauf die Politik der Gesamtmonarchie großen Einfluß undfreie Hand für die rücksichtslosen Maßregeln zurMagyarisierung Ungarns, welche zu den schreiendstenUngerechtigkeiten, so gegen die siebenbürgischen Sachsen,führten. Bei allen Neuwahlen behauptete er die Mehrheit, undselbst die Finanzschwierigkeiten erschütterten seine Stellungnicht. Im Februar 1887 vertauschte er selbst das Innere mit demFinanzportefeuille. Vgl. Visi, Koloman T. (Budapest 1886).

2) Ludwig, Graf T. de Szeged, Bruder des vorigen, geb. 12. Sept.1832 zu Geszt, ward 1861 Mitglied des Reichstags, 1867 Obergespandes Biharer Komitats, 1871-73 Kommunikationsminister, nach derKatastrophe von Szegedin (1879) zum königlichen Kommissarfür dessen Wiederaufbau ernannt und nach der Vollendungdesselben 1883 in den Grafenstand erhoben.

Tisza-Eszlár (spr. tissa-éßlar),Großgemeinde im ungar. Komitat Szábolcs, an derTheiß, mit (1881) 2175 meist ungar. Einwohnern, bekannt durchden im Sommer 1883 geführten Prozeß gegen mehrerejüdische Einwohner, die beschuldigt wurden, einChristenmädchen, Esther Solymossy, 1. April 1882 rituellgeschlachtet zu haben; die Angeklagten wurden 3. Aug. 1883 vomGericht in Nyiregyháza freigesprochen.

Tisza-Füred (spr. tissa-), Markt im ungar. KomitatHeves, unweit der Theiß, mit reform. Pfarrei, (1881) 6846ungar. Einwohnern und regem Gewerbfleiß, erlangte alseinziger Übergangspunkt an der obern Theiß im J. 1849strategische Wichtigkeit.

Titan, Beiname des Helios (s. Titanen).

Titan Ti, Metall, findet sich mit Sauerstoff verbunden(Titansäureanhydrid) als Rutil, Anatas und Brookit, welchedrei Mineralien aus Titansäureanhydrid bestehen, aberungleiche Kristallgestalt besitzen, ferner als titansauresEisenoxydul mit Eisenoxyd im Titaneisenerz, als titansaurer Kalk imPerowskit, als titansaurer Kalk mit kieselsaurem Kalk im Titanit,in geringer Menge in vielen Silikaten, in den meisten Eisenerzen,im Basalt und andern Felsarten, in der Ackererde und in denMeteorsteinen. Aus Fluortitankalium durch Kalium abgeschieden,bildet T. ein dunkelgraues, schwer schmelzbares Pulver, welchesbeim Erhitzen an der Luft mit großem Glanz verbrennt und sichleicht in erwärmter Salzsäure löst; das Atomgewichtist 50,25. Von seinen Oxyden ist Titansäureanhydrid TiO2,welches auch künstlich in den drei Formen, in denen es in derNatur vorkommt, dargestellt werden kann, am wichtigsten. T. wurde1789 von Gregor im Titaneisenerz entdeckt.

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Titaneisenerz - Tities

Titaneisenerz (Ilmenit, Kibdelophan, Crichtonit,Washingtonit), Mineral aus der Ordnung der Anhydride, findet sichin rhomboedrischen Kristallen, auf- oder eingewachsen, in Drusenund rosettenförmigen Gruppen (Eisenrosen), auch derb inkörnigen und schaligen Aggregaten, in einzelnen Körnern(Iserin) oder als Sand (Menaccanit); es ist eisenschwarz,undurchsichtig, mitunter magnetisch, von halb metallischem Glanz;Härte 5-6, spez. Gew. 4,56-5,21. T. wird von einigen alsisomorphe Mischung von Titanoxyd mit Eisenoxyd, von andern alstitansaures Eisenoxydul mit Eisenoxyd FeTiO3 + nFe2O3 betrachtet.Ein oft bedeutender Gehalt an Magnesium (bis 14 Proz. MgO)erscheint dann als Vertreter des zweiwertigen Eisens. T. findetsich besonders als mikroskopischer Gemengteil in vielen Gesteinen(Melaphyr, Dolerit, Diabas, Gabbro), kommt auch in Hohlräumenvieler Silikatgesteine und auf sekundärer Lagerstättevor. Grosse Kristalle (bis zu 8 kg schwer) liefern Norwegen undNordamerika, die Eisenrosen stammen vom Gotthard. Sande werden ingroßer Menge (bis 30 m mächtig) in Kanada gefunden, ingeringerer auf der Iserwiese in Böhmen, in Cornwallis.Sonstige Fundorte sind: Aschaffenburg, Frankfurt, Hanau, Chemnitz,Gastein, Bourg d'Oisans, Mijask etc. Hin und wieder wird T. aufEisen verschmolzen.

Titanen, in der griech. Mythologie das dritteGöttergeschlecht, die Söhne und Töchter des Uranosund der Gäa: Okeanos, Köos, Kreios, Hyperion, Japetos undKronos, sodann Theia, Rhea, Themis, Mnemosyne, Phöbe undTethys. Als Uranos seine Söhne, die Hekatoncheiren (oderCentimanen) und Kyklopen, in den Tartaros geworfen, erhoben sich,von Gäa aufgereizt, die T. gegen den Vater, entmannten ihn undübergaben dem Kronos die Herrschaft. Gegen diesen und dieherrschenden T. begann aber später Zeus (s. d.) im Verein mitseinen Geschwistern den Kampf. Derselbe (Titanomachie) wurde inThessalien geführt, von den T. vom Othrys, von den Kronidenvom Olympos herab. Erst nach zehn Jahren siegte Zeus dadurch,daß er die Kyklopen und Hekatoncheiren aus dem Tartarosbefreite. Die T. wurden hierauf selbst in den Tartaros geworfen unddie Hekatoncheiren zu ihren Wächtern gesetzt. Dieser Kampf istzu unterscheiden von dem der olympischen Götter gegen diehimmelstürmenden Giganten (s. d.). In der späternMythologie werden alle von den T. abstammenden Gottheiten, z. B.Helios, Selene, Hekate, Prometheus etc., mit diesem Namenbezeichnet, bis man zuletzt T. und Giganten identifizierte und derName Titan nur noch an dem Sonnengott haftete. Vgl. Schömann,De Titanis Hesiodeis (Greifsw. 1846); Mayer, Die Giganten und T. inder antiken Sage und Kunst (Berl. 1887).

Titania, die Elfenkönigin, Gemahlin des Oberon.

Titanit (Sphen, Ligurit, Braun- und Gelbmenakerz,Greenovit), Mineral aus der Ordnung der Silikate mit Titanatenetc., findet sich in monoklinen, säulenartigen undtafelförmigen, oft zu Zwillingen verwachsenen Kristallen, auf-oder eingewachsen, auch derb in schaligen Aggregaten. T. ist gelb,braun, grün, am seltensten rot, meist undurchsichtig oderdurchscheinend, glasglänzend; Härte 5-5,5, spez. Gew. 3,4-3,6. Er besteht aus kieselsaurem und titansaurem Kalk CaSiTiO5,gewöhnlich mit einem geringen Eisen- und Mangangehalt undfindet sich auf Klüften hornblendehaltiger Silikatgesteine,besonders verbreitet aber als accessorischer, bisweilen nurmikroskopisch erkennbarer Bestandteil hornblendehaltiger Gesteine,des Syenits, Phonoliths, Trachyts etc.; auch aufErzlagerstätten. Größere Kristalle kommen vomGotthard, aus Tirol, der Dauphine und dem Ural. Kleinere gelbe undbraune sind mit den genannten Gesteinen weitverbreitet; fernerführen T. die Auswürflinge am Laacher See und an derSomma. Die durchsichtigen grünen Varietäten (Sphen)werden mitunter als Schmucksteine verschliffen.

Titcomb, Timothy, Pseudonym, s. Holland 2).

Titel (lat.), Bezeichnung des Amtes, der Würde unddes Ranges einer Person, daher Standes-, Ehren-, Amtstitel (s.Titulatur); ferner bezeichnet T. Aufschrift eines Buches,Kunstwerkes etc.; im juristischen Sinn einen gesetzlichen Grund,aus dem jemand ein Recht zusteht (Rechtstitel), sowie die einzelnenKapitelüberschriften in den Gesetzsammlungen; im Budget diemit fortlaufenden Nummern bezeichneten Einzelgruppen von Einnahmenund Ausgaben.

Titel, Markt im ungar. Komitat Bács-Bodrog,Dampfschiffstation am rechten Theißufer, gegenüber derBegamündung, mit (1881) 3321 serbischen und deutschenEinwohnern, Hafen und Schiffbau. T. war ehemals der Hauptort desTschaikistenbataillons.

Titer, s. Titre.

Tithon, s. Juraformation, S. 330.

Tithonos, im griech. Mythus Sohn des Laomedon, Bruder desPriamos und Gemahl der Eos (s.d.). Diese raubte ihn wegen seineraußerordentlichen Schönheit und erbat sich von ZeusUnsterblichkeit für ihn. Da sie aber vergaß, zugleich umewige Jugend für ihn zu bitten, so schrumpfte T. nach und nachganz zusammen, so daß er sich nicht mehr rühren konnteund nur seine Stimme noch fort und fort wisperte, wie eine Cikade,in welche ihn die spätere Sage auch endlich noch verwandeltwerden läßt.

Titicacasee (Laguna de Chucuito), größterGebirgssee Südamerikas, im südöstlichen Teil vonPeru und im westlichen Teil von Bolivia, zwischen denKüstenkordilleren und den bolivischen Andes, einer derhöchst gelegenen Landseen der Erde (3824 m ü. M.), ist150 km lang, 60 km breit und 8300 qkm (151 QM.) groß, bis zu218 m tief und sehr fischreich. Der Spiegel schwankt je nach denjährlichen Regenmengen (1875-82 fiel er 2,67 m, seitdem ist erabermals im Steigen). Seine Ufer sind holzlos, meist vonSchilfdickichten umgeben, aber reich an prächtigenGrabmälern mit zum Teil vertrockneten Leichen einerausgestorbenen Menschenrasse. Im N. empfängt der Seezahlreiche Bergströme; sein einziger Abfluß und zwar zumAullagassee (3700 m) ist der schiffbar gemachte Rio Desaguadero ander Südwestspitze. Große Landzungen zerschneiden den T.in mehrere Teile, die nur durch schmale Kanäle miteinander inVerbindung stehen. Er wird mit Dampfbooten befahren undenthält zahlreiche kleine Inseln, von welchen die amsüdlichen Ende gelegene, zu Bolivia gehörige InselTiticaca die merkwürdigste ist. Dieselbe hat eine Menge zumTeil großartiger Überreste altperuanischer Baukunst undtrug ehedem einen prächtigen und berühmten Sonnentempel,dessen reiche Schätze die Priester bei der Eroberung Perusdurch die Spanier in den See versenkt haben sollen. Von hohemInteresse ist der von Alex. Agassiz geführte Nachweis einermarinen Krustaceenfauna in diesem hoch gelegenenSüßwassersee. Vgl. "Proceedings of the American Academyof Arts and Sciences" (1876); Pentland, The laguna de Titicaca(Lond. 1848).

Tities (lat.), eine der drei ältesten Tribus (s. d.)in Rom, welche aus den unter Titus Tatius sich mit den Römernvereinigenden Sabinern gebildet wurde.

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Titio - Tivoli.

Titio ("Feuerbrand"), Gelehrter, s. Brant.

Titisee, See im Schwarzwald, östlich vom Feldberg,849 m ü. M., 2 km lang und 15 m tief; dabei ein Gasthaus, dasals Sommerfrische besucht wird.

Titlis, das Haupt einer der drei Gebirgsgruppen imöstlichen Flügel der Berner Alpen (3239 m), nahezu derDreiländerstein der Kantone Unterwalden, Uri und Bern. SeinRücken, eine breite, mit ewigem Schnee bedeckte Kuppe,heißt der Nollen. Er wurde schon 1739 von Engelberg auserstiegen und galt längere Zeit als höchste Alpenspitze.Eine kühne Ausstrahlung, die Gadmerflühe (3044 m), wendetsich nach der Aare hin; eine firnbelastete Felsmauer verbindet denT. mit den wilden Zacken der Großen und KleinenSpannörter (3205, resp. 3149 m), die sich nach der Reußhin verzweigen. Diese ganze Bergwelt ist von der nochgroßartigern Gruppe des Dammastocks (s. d.) durch denSustenpaß, von der dritten Gruppe durch die Surenengeschieden. Als Haupt dieser Gruppe ist der Uri-Rothstock (2932 m)von dem Blackenstock (2922 m), dem Engelberger Rothstock (2820 m),den Wallenstöcken (2595 m) und andern Trabanten umstellt, undweiter nach N. hin nehmen Brisen, Ober- und Nieder-Bauen undbesonders das Buochser Horn (1809 m) schon voralpines Geprägean. Dem Buochser Horn gegenüber erhebt sich das Stanser Horn(1900 m), der Schlußpfeiler eines vom T. ausstrahlendenBergzugs, der am Engelberger Joch ansetzt und die Thäler derEngelberger Aa und der Sarner Aa scheidet. Ein Panorama vom T.zeichnete Imfeld (Zürich 1879).

Titre (franz., spr. tihtr), s. v. w. Titel (s. d.), dannUrkunde, Schein; der Feingehalt der Münzen sowie derFeinheitsgrad der Seide; auch bei der Maßanalyse (s. Analyse,S. 527) gebraucht (Titer). Daher titrieren, den Feinheitsgrad derSeide feststellen; eine Maßanalyse ausführen.

Titriermethode, s. Analyse, S. 527.

Tittmoning, Stadt im bayr. Regierungsbezirk Oberbayern,Bezirksamt Laufen, an der Salzach, hat 2 kath. Kirchen, einKollegiatstift, ein Amtsgericht, 2 Eisenhämmer, Tuchmacherei,Gerberei, 8 Mahl- und eine Sägemühle,Landesproduktenhandel und (1885) l423 Einw.

Titular (lat.), jemand, der mit dem Titel eines Amtesbekleidet ist, ohne die damit verbundenen Funktionen zu verrichten,gewöhnlich nur in Zusammensetzungen vorkommend, wie Titularratetc.

Titulatur (lat.), die Beilegung des einer Person ihremStand gemäß zukommenden Prädikats. Vgl. R. Stein,Titulaturen und Kurialien bei Briefen, Eingaben etc. (Berl.1883).

Titurel, Held aus der Sage vom heil. Gral (s. d.),Parzivals Urgroßvater. In der Geschichte der deutschen Poesiewird unterschieden: der "Ältere T.", Bruchstücke einerDichtung von Wolfram von Eschenbach (s. d.), welche die Geschichtevon Schionatulander und Sigune behandelt, und der "JüngereT.", die Fortsetzung von Wolframs Gedicht von Albrecht vonScharfenberg (s. d.).

Titus, apostol. Gehilfe des Paulus, welchen er als einenHeidenchristen, der unbeschnitten geblieben war, auf denApostelkonvent nach Jerusalem begleitete; später erscheint erim Auftrag des Paulus in Korinth. Die Legende macht ihn zum erstenBischof in Kreta, wozu der neutestamentliche Brief an T., einer dersogen. Pastoralbriefe (s. d.), Veranlassung gab.

Titusbogen, ein zu Ehren der Besiegung der Juden durchKaiser Titus vom römischen Senat errichteter, einthorigerTriumphbogen an der Ostseite des Palatin, welcher im J. 81 geweihtwurde. Der Bogen ist 15½ m, die Attika 4½ m hoch. DieInnenwände des Durchganges und die Friese über derBogenwölbung auf beiden Seiten sind mit Reliefsgeschmückt, welche den Triumphzug des Kaisers und den Opferzugdarstellen (s. Tafel "Bildhauerkunst IV", Fig. 14).

Titus Flavius Vespasianus, röm. Kaiser, derältere Sohn des Kaisers Vespasianus, geb. 41 n. Chr., wurde amHof Neros mit Britannicus erzogen und widmete sich zunächstder bürgerlichen Laufbahn, versäumte aber auch nicht, alsTribun in Germanien und Britannien die üblichen Kriegsdienstezu leisten. Als sein Vater 67 nach Palästina geschickt wurde,um die Empörung der Juden zu unterdrücken, begleitete ihnT. und wurde von jenem, als er 69 Palästina verließ, umdie Kaiserwürde anzutreten, mit der Fortführung desKriegs beauftragt. T. beendete denselben durch die Eroberung undZerstörung Jerusalems 70. Nachdem er mit seinem Vater einenglänzenden Triumph gefeiert hatte, wurde er von Vespasian zumTeilnehmer an der Regierung ernannt. Er hielt sich als solchernicht völlig frei von dem Vorwurf der Ausschweifung und sogarder Grausamkeit; allein alle hierauf gegründeten Besorgnissewurden durch die Güte und Milde völlig widerlegt, welcheer sofort bewies, als er nach Vespasians Tod 79 den Thron bestiegenhatte. Von da an war sein Bestreben fortwährend daraufgerichtet, andern Freundlichkeiten und Wohlthaten zu erweisen, undwenn ihm dies an einem Tag nicht gelungen war, so pflegte er amAbend zu seinen Freunden zu sagen, daß er einen Tag verlorenhabe. Indessen wurde das Glück seiner Regierung, das ihm denNamen "Lust und Liebe des Menschengeschlechts" ("amor et deliciaegeneris humani") erwarb, durch mehrere schwereUnglücksfälle getrübt, die er indes auf alle Art zumildern suchte, nämlich durch den Ausbruch des Vesuvs 24. Aug.79, durch welchen die Städte Herculaneum, Pompeji undStabiä verschüttet wurden, durch eine drei Tage und dreiNächte wütende Feuersbrunst in Rom und durch eine Pest,welche eine große Menge Menschen hinwegraffte. Außerdemist von seiner kurzen Regierung noch zu erwähnen, daß erzum Besten des Volkes ein alle frühern an Bequemlichkeit undGeräumigkeit übertreffendes Badehaus, die nach ihmbenannten, noch jetzt in Trümmern vorhandenen Thermen des T.,bauen ließ. Er starb 13. Sept. 81. Eine vortrefflicheMarmorstatue des Kaisers befindet sich im Louvre zu Paris. Vgl.Beulé, T. und seine Dynastie (deutsch, Halle 1875).

Tituskopf (Frisur à la Titus), die in Frankreichzur Zeit des Konsulats aufgekommene Mode, die Haare gekürztund zu lauter Löckchen verwirrt zu tragen. Als die Lockennachher schlichter getragen wurden, hieß die Frisur àla Caracalla.

Titusville (spr. teitoswill), Stadt im NW. desnordamerikan. Staats Pennsylvanien, am Oil Creek, mit 1859erbohrten Petroleumquellen u. (1880) 9046 Einw.

Tityos, in der griech. Mythologie ein erdgeborner Rieseauf Euböa, Vater der Europa. Da er sich (auf Veranlassung derHera) an der Leto vergriffen hatte, ward er von Artemis und Apollonmit Pfeilen oder von Zeus mit dem Blitzstrahl erlegt, und in derUnterwelt, wo er über neun Hufen Landes ausgestreckt liegt,hacken zwei Geier seine immer wieder wachsende Leber (den Sitz dersinnlichen Begierde) aus.

Tiverton (spr. tiwwertön), Stadt in Devonshire(England), am Ex, mit Schloßruine (14. Jahrh.), Lateinschule,Armenhaus (1517 gestiftet), Fabrikation von Spitzen und Wollwarenund (1881) 10,462 Einw.

Tivoli, Stadt in der ital. Provinz Rom, in schö-

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Tixtla - Tizian.

ner Lage am Fuß der Sabinerberge und am Teverone (Anio),welcher hier die berühmten, seit 1835 jedoch teilweise durcheinen Tunnel abgelenkten Wasserfälle bildet (s. Anio), mit Romdurch Dampftramway verbunden, ist Sitz eines Bischofs, hat engeStraßen, mehrere Kirchen und (1881) 9730 Einw. T. ist dasalte Tibur (s. d.), der Lieblingssommersitz der römischenPatrizier, von dessen zahlreichen Überbleibseln vor allen die2 km außerhalb des heutigen T. gelegenen großartigenTrümmer der Villa des Kaisers Hadrian (mit Resten desPalastes, eines Theaters, einer Palästra, einer Bibliothek,eines Stadiums etc.) zu erwähnen sind. In der Stadt selbstbefindet sich auf der Felswand über dem Aniofall der sogen.Sibyllentempel, eine runde Cella mit einem äußern Kreisvon kannelierten korinthischen Säulen; nahe dabei steht einzweiter, viereckiger Tempel (jetzt Kirche San Giorgio). Unterhalbdes Wasserfalls befinden sich Ruinen mehrerer antiker Villen (desQuintus Varus u. a.). Von den neuern Bauten ist namentlich dieVilla d'Este, ein schöner Renaissancebau (von 1551) mitmalerischen Parkanlagen und Wasserwerken, bemerkenswert. Seitneuester Zeit wird die reiche Wasserkraft des Teverone zuelektrischer Beleuchtung der Stadt und zu industriellen Anlagenausgenutzt. 9 km westlich, am Dampftramway Rom-T., liegen starkbesuchte, schon in der römischen Kaiserzeit benutzteSchwefelbäder (24° C.), Bagni delle Acque Albule, und 6 kmwestlich die malerische alte Aniobrücke Ponte Lucano mit demRundgrab der Familie Plautia. - T. ist auch beliebte Bezeichnungvon Vergnügungsorten mit Gartenanlagen, Schauspiel etc.

Tixtla (T. de Guerrero), Hauptstadt des mexikan. StaatsGuerrero, 1380 m ü. M., mit (1880) 6139 Einw., dient denreichen Bewohnern von Acapulco als Aufenthaltsort während derungesunden Jahreszeit. In der Nähe Silbergruben.

Tiza, s. Boronatrocalcit.

Tizian, eigentlich Tiziano Vecellio, der Hauptmeister dervenezian. Malerschule und Vollender einer neuen koloristischenRichtung, geb. 1477 zu Pieve di Cadore in Friaul, kam noch alszehnjähriger Knabe nach Venedig, um sich daselbst der Malereizu widmen. Als seine Lehrer werden der Mosaikmaler Zuccato, dannGentile Bellini genannt; doch muß er später auch beiGiovanni Bellini gelernt und sich nach Giorgione weitergebildethaben. Man erfährt zuerst von seiner Thätigkeit um 1507,wo er neben Giorgione die jetzt verschwundenen Fresken am Fondacodei Tedeschi in Venedig ausführte. 1511 malte er mit Dom.Campagnola Fresken in der Scuola del Santo in Padua, dann inVicenza, kehrte aber 1512 nach Venedig zurück. Nachdem ereinen Antrag, in die Dienste Leos X. zu treten,zurückgewiesen, nahm ihn der Rat gegen Verleihung eineseinträglichen Maklerpatents in seinen Dienst. In der Folge kamT. in intime Beziehungen zu Alfons von Ferrara (1516 reiste er daserste Mal dahin), für den er dessen Porträt, ferner dasVenusfest und das Bacchanal (alle drei in Madrid) und Ariadne aufNaxos (in der Nationalgalerie zu London) malte. In Ferraraschloß er auch Freundschaft mit Ariosto, den er zuwiederholten Malen porträtierte. Auch zu Federigo von Mantuatrat er um 1523 in nahe Beziehungen; er malte für ihn dieGrablegung (Paris). 1518 entstand eins seiner Hauptwerke, dieHimmelfahrt Maria (sogen. Assunta) in der Akademie zu Venedig, 1523das Altarbild für die Kirche San Niccolò (Madonna mitsechs männlichen Heiligen, jetzt im Vatikan) und 1526 einandres Meisterwerk dieser Periode, die Madonna des Hauses Pesaro(Santa Maria de' Frari in Venedig). In das Jahr 1527 fälltseine Bekanntschaft mit Pietro Aretino, dessen Porträt erfür Federigo Gonzaga malte. 1530 schuf er den MärtyrertodPetri für San Giovanni e Paolo (1867 durch Feuersbrunstzerstört). 1532 begab er sich im Auftrag Federigo Gonzagasnach Bologna, wo gerade Kaiser Karl V. verweilte; er malte damalsletztern zweimal. T. wurde hierauf 10. Mai 1533 zum Hofmaler Karlsund zum Grafen des lateranischen Palastes sowie zum Ritter vomGoldenen Sp*rn ernannt. Der hierauf folgenden Zeit entstammen dieBildnisse Franz' I. und Isabellas von Este; etwas späterfallen die der Geliebten Tizians (Wien, Belvedere), dann die vonEleonore Gonzaga und ihrem Gatten Francesco Maria (Florenz,Uffizien). Nachdem er 1537 seiner Fahrlässigkeit wegen inbetreff des versprochenen Bildes sein Maklerpatent zu gunstenPordenones verloren hatte, malte er in Fresko die dem Rat schonlange versprochene, nur noch in Fontanas Stich erhaltene Schlachtbei Cadore (im großen Ratssaal). 1539 nach Pordenones Toderhielt er sein Maklerpatent zurück, 1541 ward er nach Mailandzu Karl V. berufen; 1545 ging er, nachdem schon früher, seit1542, Paul III. den Plan gefaßt hatte, T. nach Rom zu ziehen,dahin, wo er glänzend aufgenommen wurde. Er malte damals dasPorträt des Papstes, dann die berühmte Danae(Nationalmuseum zu Neapel). Auf der Rückreise nach Venedigbesuchte er Florenz. 1548 ward er nach Augsburg zu Karl V. berufenund malte daselbst Porträte (das Karls V. in Madrid, das zuMünchen etc.). Er kehrte bald wieder nach Venedig zurück,ward aber 1550 abermals nach Augsburg berufen, um das PorträtPhilipps II. von Spanien zu malen. Für diesen war er auch nachseiner Rückkehr nach Venedig 1551 außerordentlich vielbeschäftigt. 1566 ward er in die florentinische Akademieaufgenommen. Er starb 27. Aug. 1576 in Venedig, fast 100 Jahre alt,an der Pest und ward in der Kirche Santa Maria de' Fraribeigesetzt. Der durch die flandrische Schule beeinflußtekoloristische Realismus der Venezianer gelangte durch T. auf seineHöhe; in seiner Auffassung nicht so durchgeistigt und idealwie Raffael und Michelangelo, hat er vor den Römern undToscanern die unvergleichliche malerische Kraft voraus und kommtRaffael in der Schönheitsfülle gleich, Michelangelo inder dramatischen Lebendigkeit der Komposition nahe. T. ist dergrößte Kolorist der Italiener und versteht seinenFiguren zugleich den vornehmen Charakter zu geben, der seine eignenLebensgewohnheiten und die seiner Stadtgenossen kennzeichnet.Obwohl er sich nicht an die Antike anschloß, so ist er dochzu einer verhältnismäßig ähnlichen Wirkunggelangt, indem sich die Ruhe des Daseins, die edle, in sichbefriedigte Existenz in seinen Werken ebenso spiegelt. Ganzvermochte er sich übrigens nicht den Einwirkungen der andernitalienischen Schulen zu entziehen, und zwischen seinenspätesten Arbeiten, worunter die Dornenkrönung Christi inMünchen hervorragt, und seinen frühern, deren edelstesErzeugnis der Zinsgroschen in Dresden ist, besteht einbeträchtlicher Unterschied. Er wurde später bewegter inder Haltung der Figuren, leidenschaftlicher im Ausdruck derKöpfe, energischer im Vortrag. Seine Historienbilder tragenmehr oder weniger etwas Porträtmäßiges, freilich ingroßartiger Auffassung, an sich; es gibt deren, welche zu denedelsten und unvergänglichsten Erzeugnissen der Kunstgehören, während andre sich mit einer mehräußerlichen Wirkung be-

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Tjalk - Tlaxcala.

gnügen. Die höchste Befriedigung gewähren seineBildnisse, welche die vornehme Erscheinung der venezianischen Weltmit vollster Treue widerspiegeln und den vollkommensten Ausdruckdes venezianischen, von höchster Prachtliebe und sinnlicherGlut erfüllten Lebens darstellen. Zugleich war er alsLandschaftsmaler sehr bedeutend, die Landschaft spielt in vielenseiner Gemälde in ihrer großartig-poetischen Auffassungeine Hauptrolle; Poussin und Claude Lorrain haben sich nach seinemVorbild entwickelt. Die Zahl seiner Schöpfungen istaußerordentlich groß, besonders aus den letzten 40Jahren seines Lebens, wo er zahlreiche Schüler zu Hilfe nahm.Aus der ersten Periode seines Schaffens, die etwa bis 1511 reichtund seine Jugendentwickelung umfaßt, sind noch zu nennen: dieKirschenmadonna, in der kaiserlichen Galerie zu Wien, nebst zweiandern Madonnen daselbst, und die irdische und himmlische Liebe, inder Galerie Borghese zu Rom, Tizians schönstes allegorischesBild, ausgezeichnet in der Behandlung des Nackten. Vonhervorragenden Schöpfungen der zweiten, etwa bis 1530reichenden Periode erwähnen wir noch die Auferstehung, in derKirche San Nazaroe Celso in Brescia (1522); die Ruhe auf der Fluchtund die Madonna mit dem Kaninchen, im Louvre zu Paris; die nur miteinem Pelz bekleidete Eleonora Gonzaga von Urbino, in derkaiserlichen Galerie zu Wien; das Bildnis derselben im PalazzoPitti zu Florenz, weltberühmt unter dem Namen La Bella diTiziano, das herrlichste Frauenporträt des Meisters; diesogen. Venus von Urbino, in den Uffizien zu Florenz, und die sogen.Geliebte Tizians bei der Toilette, im Louvre zu Paris. Zu denHauptwerken der letzten Periode seines Schaffens zählen nochdas Martyrium des heil. Laurentius, in der Jesuitenkirche zuVenedig; der Tempelgang Mariä, in der Akademie daselbst; dieAusstellung Christi, in der kaiserlichen Galerie zu Wien; dieDornenkrönung, im Louvre; das Abendmahl, im Escorial; Venusmit Amor, in den Uffizien zu Florenz; die sogen. Madrider Venus(eine ruhende Schöne mit ihrem Geliebten); die Danae, imMuseum zu Neapel; Jupiter und Antiope, im Louvre; das ReiterbildnisKarls V., in der Galerie zu Madrid (1548 in Augsburg begonnen);Papst Paul III. (1545, im Museum zu Neapel); der Admiral GiovanniMoro, im Berliner Museum. Von Tizians Selbstbildnissen sinddiejenigen im Museum zu Berlin und in der kaiserlichen Galerie zuWien die schönsten, von den Bildnissen seiner Tochter Laviniasind dasjenige mit der über dem Haupt emporgehobenenFruchtschüssel (Museum zu Berlin) und die beiden in derDresdener Galerie (um 1555 und 1565) die vorzüglichsten. Dieältere Litteratur über T. ist überholt durch Croweund Cavalcaselle, T., Leben und Werke (deutsch von Jordan, Leipz.1877, 2 Bde.). Vgl. auch Lafenestre, La vie et l'oeuvre du Titien(Par. 1886).

Tjalk, kuffartig gebautes, kleines Fahrzeug mit einemMast und besonders großem Gaffelsegel und Schwertern; an derNordseeküste im Gebrauch.

Tjeribon, Insel, s. Tscheribon.

Tjost,s. Turnier.

Tjukalinsk, südlicher Kreis des westsibir.Gouvernements Tobolsk, in welchem viel Ackerbau getrieben wird, undauf dessen zahlreichen und großen Seen sich unzähligeWasservögel befinden, die einen großartigen Handel inTaucher- und Schwanenbälgen hervorgerufen haben. Jährlichkommen 10,000 Schwanenbälge und 100,000 Greben (die Brustfelleder Steißfüße) in den Handel. Die Kreisstadt T.hat (1885) 3907 Einw.

Tjumen, Bezirksstadt im sibir. Gouvernement Tobolsk,rechts an der für Dampfer fahrbaren Tura, 275 kmwestsüdwestlich von der Stadt Tobolsk, mitregelmäßigen Straßen aus schönen, meisthölzernen Häusern, 11 Kirchen aus Stein, 2 Klöstern,einer Moschee, einer Kreisschule und 2 Pfarrschulen und (1885)15,590 Einw., welche in mehr als 100 gewerblichen Etablissem*ntseine außerordentlich rege Thätigkeit entfalten.Hauptprodukte sind namentlich: Leder (Juften),Talg, Seife, Glocken,Eisengußwaren, Handschuhe, Gewebe, Netze, Matten,Töpferwaren. Seit 1885 steht die Eisenbahn von Jekaterinenburgbis hierher (350 km) in Betrieb und schließt sich hier an denSibirischen Trakt (s. d.) an, der über Omsk, Tomsk,Krasnojarsk und Irkutsk nach Kiachta führt. Bei T. beginntauch der Wasserverkehr nach Tobolsk auf dem Irtisch, diesenabwärts bis zur Mündung des Ob und von diesem auf dem Tombis Tomst. Die für Ostsibirien bestimmten Waren gehen auf demLandweg nach Krassnojarsk und von hier auf dem Jenissei hinunternach Jenisseisk und weiter nach Turuchansk. Eine andreWasserstraße ist die von T. vermittelst des Ob und Irtischnach Semipalatinsk. In T. wird jährlich im Januar seit 1845eine große Messe (Basiliusmesse) abgehalten, deren Umsatz 1Mill. Rubel beträgt, aber durch die Messe zu Irbit immer mehrverliert.

Tjutschew, Fjodor Iwanowitsch, russ. Dichter, geb. 23.Nov. (a. St.) 1803 im Kreis Brjansk des Gouvernements Grodno,studierte in Moskau, erhielt 1822 eine Stelle im Ministerium desAuswärtigen zu Petersburg, war dann längere Zeit bei derrussischen Gesandtschaft in München und (seit 1838) in Turinthätig, wurde 1844 der Person des Reichskanzlers attachiertund erhielt 1857 endlich das Präsidium des Komitees fürauswärtige Zensur in Petersburg übertragen; starb indieser Stellung 15. Juli (a. St.) 1873. Seine Gedichte, diegesammelt in Petersburg 1868 erschienen, zeichnen sich durchGedankentiefe, Wärme des Gefühls und Formvollendungvorteilhaft aus; eine Auswahl derselben wurde von H. Noé insDeutsche übertragen (Münch. 1861). T. hat sich auch alsÜbersetzer, namentlich deutscher Dichter, wie Heine, Goethe,Schiller u .a., verdient gemacht.

Tl, in der Chemie Zeichen für Thallium.

Tlacotálpam, Stadt im mexikan. Staat Veracruz, amEnde einer Lagune, deren Zugang durch die 50 kmsüdöstlich von Veracruz gelegene Barre von Alvaradogesperrt wird, mit lebhaftem Verkehr und (1882) 5939 Einw.

Tlálpam (San Agostino de las Cuévas),hübsche Landstadt, 15 km südlich von Mexiko, am Fußdes Gebirges, beliebter Sommeraufenthalt, mit zahlreichen Villenund 6200 Einw. (mit Umgebung); wird zum Pfingstfest, besonders umder Hasardspiel willen, von Tausenden besucht. Bis 1831 war T.Hauptstadt des Staats.

Tlalpujáhua, Stadt im mexikan. Staat Michoacan, amFuß des Cerro de Gallo, 2435 m ü. M., mit (1880) 9823Einw. im Munizipium; die Silberbergwerke waren einst berühmt.Hier begann unter Pfarrer Morelos die erste Revolution gegenSpanien; hier ließ Hidalgo die erste Kanone gießen, dieer gegen die Spanier gebrauchte.

Tlaxcala, Binnenstaat der Republik Mexiko, ist auf dreiSeiten von Puebla umgeben und hat ein Areal von 3902 qkm (70,9 QM.)mit (1882) 138,988 Einw. T. bildet einen Teil der Hochebene vonAnahuac. Die wichtigsten Produkte des Landbaues sind: Mais, Weizen,Gerste, Hafer, Hülsenfrüchte, Maguey,

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Tlemsen - Tobler.

Piment und Früchte aller Klimate. Eisenstein, Silber, Blei,Kupfer und Steinkohlen kommen vor, werden aber noch wenigausgebeutet. Die gleichnamige Hauptstadt, 2225 m Ü. M, 25 kmnördlich von Puebla, an der Eisenbahn, hat eine höhereSchule, etwas Wollindustrie und (1880) 4300 Einw. (zur Zeit ihresGlanzes zählte sie 100,000). - T. bildete in deraltmexikanischen Zeit eine oligarchische Republik mit ungefähr500,000 Einw. Bei der Eroberung Mexikos durch die Spanier schlossensich die Tlaxcalaner, ein Aztekenstamm, nachdem sie vergeblichWiderstand versucht, treu an Cortez an, welcher daher der Republikeine gewisse Selbständigkeit unter spanischer Oberherrschaftverschaffte.

Tlemsen (bei den Franzosen Telemcen), Stadt in Algerien,Departement Oran, 44 km vom Mittelländischen Meer entfernt,auf drei Seiten von tiefen Schluchten umgeben, hat (1881) 25,370Einw., davon 10,033 Europäer und Juden. T. hat aus seineralten Blütezeit nur einige schöne Moscheen aufzuweisen,es ist aber durch günstige klimatische Verhältnisse,zahlreiche Neuschöpfungen der Franzosen (Museum, Bibliothek)und namentlich durch seine großartigen Ölbaumpflanzungenund Weinberge eine Perle Algeriens. Südwestlich von T. liegtMansura mit den 1318 erbauten großartigen, jetzt in Ruinenliegenden Wasserwerken. - T. war im Mittelalter eine blühendeStadt und die Residenz der auf die Almorawiden folgenden maurischenDynastie Beni Zian; aber es war schon verfallen, als die Franzosenes 1836 besetzten. Im Frieden von Tafna (1837) wieder freigegeben,wurde es 1841 aufs neue genommen; im März 1842 und im Oktober1845 fanden hier nochmals harte Kämpfe zwischen den Franzosenund Abd el Kader statt.

Tlepolemos, im griech. Mythus Sohn des Herakles und derAstyoche, mußte als Mörder seines Oheims Likymnios ausArgos fliehen und ließ sich in Rhodos nieder, wo er dieStädte Lindos, Jalysos und Kameiros baute. Er beteiligte sicham Zug nach Troja, ward aber von Sarpedon getötet.

Tlinkit (Thlinkit), Indianerstamm, s. Koloschen.

Tlumacz (spr. -maz), Stadt in Ostgalizien, Station derStaatsbahnlinie Stanislau-Husiatyn, Sitz einerBezirkshauptmannschaft und eines Bezirksgerichts, mitBranntweinbrennerei und (1880) 5062 Einw.

Tmesis (griech.), Trennung eines zusammengesetzten Wortesdurch etwas dazwischen Geschobenes (z. B. wo gehst du hin?für: wohin gehst du?).

Toast (engl., spr. tohst), geröstete Brot-,namentlich Weißbrotschnitte zum Thee; dann fast in alleneuern Sprachen übergegangene Bezeichnung für Trinkspruch(s. Gesundheittrinken).

Tobágo (Tabago), britisch-westind. Insel,nächst Trinidad die südlichste der Kleinen Antillen, istvulkanischen Ursprungs, bis 650 m hoch, teilweise bewaldet undungemein fruchtbar. T. hat ein Areal von 385 qkm (6,99 QM.) mit(1887) 20,335 Einw. Zucker und Rum sind die wichtigsten Produkte,und auch die Viehzucht ist ziemlich ansehnlich. Den Wert derAusfuhr schätzt man auf (1887) 32,907 Pfd. Sterl., die Einfuhrauf 23,118 Pfd. Sterl. Die frühereRepräsentativverfassung wurde 1877 aufgehoben. Scarborough,auf der Südostküste, mit gutem Hafen ist Hauptstadt. - T.wurde 1498 von Kolumbus entdeckt. In der Folge war esvorübergehend (1632-l677) von Niederländern besetzt, dannabwechselnd im Besitz der Franzosen und Engländer, bis es 1803endgültig in den der Engländer kam.

Tobarra, Stadt und Badeort in der span. Provinz Albacete,an der Eisenbahn Madrid-Cartagena, mit besuchten Schwefelquellenund (1878) 7219 Einw.

Több, Hohlmaß, s. Kojang.

Tobe, Längenmaß, s. Taka.

Tobelbad, Badeort in Steiermark, 10 km südwestlichvon Graz, in einem von waldigen Bergen umgebenen Thal, mit zweiThermen von 25 und 30° C., die besonders bei Frauenkrankheiten,Nervenleiden etc. gebraucht werden.

Toberentz, Robert, Bildhauer, geb. 4. Dez. 1849 zuBerlin, besuchte die dortige Kunstakademie und arbeitete dann zweiJahre in Schillings Atelier zu Dresden. Damals entstanden einüberlebensgroßer Perseus und mehrere Büsten.Nachdem T. von 1872 bis 1857 in Italien studiert hatte, brach er,nach Berlin zurückgekehrt, mit seiner ältern Richtung,die sich im Rauchschen Idealstil bewegt hatte, und arbeitete in derWeise von R. Begas im engen Anschluß an die Natur. Die erstendieser Arbeiten waren die Marmorfigur einer Elfe und ein Faun mitAmor, denen 1878 die Bronzefigur eines ruhenden Hirten (in derBerliner Nationalgalerie) folgte. 1879 wurde er als Leiter einesder mit dem schlesischen Museum verbundenen Meisterateliers nachBreslau berufen, wo er unter anderm einen monumentalen Brunnenfür Görlitz schuf.

Töderich, s. Lolium.

Tobias, ein apokryphisches Buch des Alten Testaments, imGriechischen Tobit genannt. Letzteres ist der Name des Vaters,ersteres derjenige des Sohns. Beide zusammen bilden dieHauptpersonen in einem durchaus romanhaften Familiengemälde,welches wahrscheinlich innerhalb des ersten vorchristlichenJahrhunderts entstanden ist. Übrigens ist das Buch verschiedenbearbeitet worden, und namentlich ist der Text in der Septuagintaälter und besser als derjenige der Vulgata, dem Luther inseiner Übersetzung folgte. Die neueste kritische Bearbeitunglieferte Fritzsche (Leipz. 1853), Erklärungen außerdemReusch (Freiburg 1857), Sengelmann (Hamb. 1857) und Gutberlet(Münster 1877).

Tobiasfisch, s. Sandaal.

Tobitschau, Städtchen in der mähr.Bezirkshauptmannschaft Prerau, unweit der March, mit einemSchloß, 2 Kirchen, einer Synagoge und (1880) 2479 slaw.Einwohnern, war nebst dem benachbarten Dorf Roketnitz 15. Juli 1866der Schauplatz eines Gefechts zwischen Österreichern (BrigadeRothkirch) und Preußen unter General v. Hartmann, in welchemdas 5. preußische Kürassierregiment 18 Kanonen eroberte,und infolge dessen Benedek auf seinem Rückzug nach Ungarn dieMarchlinie aufgeben mußte.

Toblach, Marktflecken in Tirol, BezlrkshauptmannschaftBruneck, 1204 m ü. M. im sogen. Toblacher Feld, derWasserscheide zwischen Drau und Rienz, im Pusterthal an derSüdbahnlinie Marburg-Franzensfeste gelegen, Ausgangspunkt insAmpezzothal, mit großem Eisenbahnhotel, neuer Kirche und(1880) 1064 Einw. Unfern der kleine Toblacher See. Vgl. Noë,T.-Ampezzo (3. Aufl., Klagenf. 1883).

Tobler, 1) Titus, schweizer. Sprachforscher undPalästinaforscher, geb. 25. Juni 1806 zu Stein im KantonAppenzell, studierte zu Wien, Würzburg und Paris undließ sich dann in seiner Heimat als Arzt nieder, widmete sichaber nebenbei mundartlichen Studien und publizistischen Arbeiten.Die Frucht der erstern war sein "Appenzellerischer Sprachschatz"(Zürich 1837), dem sich später die "Alten Dialektprobender deutschen Schweiz" (St. Gallen 1869) anschlossen. 1840 nahm erseinen Wohnsitz zu Horn im Kanton Thurgau, wo er 1853 zum Mitglieddes eid-

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Tobol - Toce.

genössischen Nationalrats gewählt ward. AlsFrüchte seiner vier Reisen nach dem Orient (die erste 1835,die letzte 1865 unternommen) erschienen: Lustreise ins Morgenland"(Zürich 1839, 2 Bde.); "Golgatha, seine Kirchen undKlöster" (St. Gallen 1851); "Topographie von Jerusalem undseinen Umgebungen" (Berl. 1853-54, 2 Bde.); "Denkblätter ausJerusalem" (Konst. 1853); "Dritte Wanderung nach Palästina"(Gotha 1858); "Nazareth in Palästina" (Berl. 1868) u. a.Außerdem veröffentlichte er noch: "Bibliographiageographica Palaestinae" (Leipz. 1867); "Itinera et descriptionesterrae sanctae ex saeculo VIII., IX., XII. et XV." (das. 1874) u.a. Seit 1871 in München wohnhaft, starb er daselbst 21. Jan.1877. Vgl. Heim, Titus T. (Zürich 1879).

2) Adolf, roman. Philolog, geb. 24. Mai 1835 zu Hirzel im KantonZürich, Sohn des dortigen Pfarrers Salomon T. (gest. 1875 inZürich), der sich durch die epischen Dichtungen: "Die EnkelWinkelrieds" (Zürich 1837) und "Kolumbus" (das. 1846) einenlitterarischen Namen gemacht hat, studierte in Bonn, wo er 1857promovierte, lebte dann in Rom, in Toscana und Paris, bis er 1861eine Stelle an der Kantonschule zu Solothurn erhielt. Im J. 1867habilitierte er sich an der Universität zu Bern, folgte abernoch in demselben Jahr einem Ruf als Professor der romanischenSprachen nach Berlin, welche Stelle er, seit 1881 auch Mitglied derdortigen Akademie der Wissenschaften, noch jetzt bekleidet. Erveröffentlichte: "Bruchstücke aus dem Chevalier au Lyon"(Soloth. 1862); "Italienisches Lesebuch" (2. Aufl., das. 1868);eine Ausgabe des altfranzösischen Dichters Jehan de Condet(Stuttg. 1860); "Mitteilungen aus altfranzösischenHandschriften" (Leipz. 1870); "Die Parabel von dem echten Ring" (2.Aufl., das. 1884); "Vom französischen Versbau alter und neuerZeit" (2. Aufl., das. 1883); "Vermischte Beiträge zurfranzösischen Grammatik" (das. 1886) und zahlreicheAbhandlungen in Zeitschriften etc. - Sein Bruder Ludwig T., geb.1827, seit 1872 Professor der germanischen Philologie an derUniversität zu Zürich, schrieb außer Abhandlungenin Zeitschriften: "Über die Wortzusammensetzung" (Berl. 1868)und gab "Schweizerische Volkslieder" (Frauenf. 1882-84, 2 Bde.)sowie mit F. Staub das "Schweizerische Idiotikon" (das. 1885 ff.)heraus.

Tobol (kirgis. Tabul), Fluß im westlichen Sibirien,entspringt auf den südlichen Ausläufern des Ural undfließt in nordöstlicher Richtung dem Irtisch zu, in dener bei Tobolsk fällt. Mit dem Eintritt in das GouvernementTobolsk wird er schiffbar, doch ist er von Ende Oktober bis EndeApril mit Eis bedeckt. Er ist ungemein fischreich.

Tobolsk, russ. Gouvernement in Westsibirien,nördlich vom Eismeer, westlich vom europäischenRußland begrenzt, umfaßt 1,377,776 qkm (25,022 QM.) mit(1885) 1,313,392 Einw. (neun Zehntel Russen und Nachkommenderselben oder Sibiriaken, darunter an 60,000 Verbannte, und 75,000Tataren, Bucharen, Ostjaken, Wogulen und Samojeden). Der Religionnach unterschied man 1,134,149 griechische Katholiken, 53,804Mohammedaner, 6427 römische Katholiken, 4850 Lutheraner etc.Die Zahl der Eheschließungen war 1885: 10,114, der Gebornen71,049, der Gestorbenen 51,053. Hauptfluß ist der Ob (s. d.)mit seinen Nebenflüssen Tobol und Irtisch. Gemäßigtist das Klima nur im S., im N. friert es fast jede Nacht im Jahr.Unter Anbau stehen 2,579,000 Hektar, hauptsächlich werdenHafer und Weizen gebaut, dann Roggen, Gerste, Kartoffeln. DerViehstand wurde 1884 auf 2,647,594 Stück geschätzt.Fabriken sind zahlreich in den Städten; in erster LinieGerbereien, Talgsiedereien, Branntweinbrennereien, Mahlmühlen,Kartoffelsirupfabriken, Eisengießereien, Schiffswerften u.a., 1880 im ganzen 1093 Betriebe mit 5066 Arbeitern und einemProduktionswert von 5,958,164 Rubel. An Lehranstalten gab es 1885:331 Elementarschulen, 12 Mittelschulen, 5 Spezialschulen mitzusammen 11,343 Lernenden. Die Spezialschulen sind: ein geistlichesSeminar, eine Feldscher-, eine Hebammen-, eine Navigations-, eineHandwerkerschule. Der Handel ist bedeutend, wird aber von einemkleinen Kreis von Händlern als Monopol ausgebeutet. - Diegleichnamige Hauptstadt, an der Mündung des Tobol in denIrtisch, ziemlich gut und regelmäßig, meist aus Holzerbaut, hat einen Umfang von 12 km und besteht aus der niedriggelegenen, periodisch vom Irtisch überschwemmten neuern unternStadt und der ältern, schon 1589 gegründeten obern Stadtauf einem steilen Uferhügel, zu welchem 290 Stufenhinaufführen. Die letztere gewährt mit ihrenFestungswerken und der Kathedrale einen imposanten Anblick. T. istSitz des Gouverneurs und der obersten Behörden desGouvernements, hat viele Kirchen, ein theologisches und einSchullehrerseminar, ein Gymnasium, eine Militär- und andreSchulen, ein Arsenal, Theater und Arbeitshaus und (1885) 20,175Einw. (darunter viele Deutsche, die hier eine lutherische Kirchehaben). Europäische Waren werden von den Märkten vonNishnij Nowgorod und Irbit hierhergebracht. T. ist Stapelplatzfür alles für Rechnung der Krone abgeliefertePelzwerk.

Toboso, El, kleine Stadt in der span. Provinz Toledo, inder Mancha, mit (1878) 1798 Einw., berühmt durch DonQuichottes "Dulcinea von T."

Tobsucht (Furor maniacus), einzelnes Symptom in der Ketteeiner bestimmten Geisteskrankheit, z. B. dem Säuferwahnsinn(s. Delirium tremens) oder der Melancholie, der Verrücktheit,oder eine selbständige, in sich abgeschlosseneSeelenstörung von mehr oder weniger regelmäßigemtypischen Verlauf. Vgl. Manie.

Tocaima, Stadt im Staat Cundinamarca dersüdamerikan. Republik Kolumbien, am Rio Bogotá, 408 mü. M., mit Salzquelle, Kupfer- und Goldgruben und (1870) 6021Einw. Eine 29 km lange Eisenbahn verbindet T. mit Jirardot.

Tocantins, Fluß, s. Tokantins.

Toccata (ital.), einer der ältesten Namen fürInstrumentalstücke, speziell für Tasteninstrumente, undursprünglich von Sonata, Fantasia, Ricercar etc. nichtverschieden. Die ältesten Tokkaten für Orgel sind die vonC. Merulo 1598 herausgegebenen, aber jedenfalls sehr vielfrüher geschriebenen für die Orgel. Sie beginnen in derRegel mit einigen vollen Harmonien, allmählich setzt sich mehrund mehr Läuferpassagenwerk an, und kleine fugierteSätzchen werden eingestreut. Die moderne T. ist ebenfalls nochdurchaus ein Stück für Tasteninstrumente und hat keinweiteres charakteristisches Merkmal, als daß sie durchgehendssich in kurzen Notenwerten bewegt und ziemlich vollstimmig gesetztist (vgl. die Bachschen Orgeltokkaten, die SchumannscheKlaviertokkata etc.).

Toccato (ital., franz. toquet), bei Trompetenchörendie vierte Stimme, welche in Ermangelung der Pauken die beidenTöne derselben gewissermaßen als Grundstimme anzugebenhat.

Toce (spr. tohtsche, Tosa), Fluß in der ital.Provinz Novara, entspringt in den Lepontinischen Alpen an derSchweizer Grenze, bildet einen berühmten

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Tockieren - Tod.

Wasserfall (100 m hoch, 24 m breit, mit drei Absätzen),durchfließt das Thal von Ossola und mündet bei Pallanzain den Lago Maggiore; 76 km lang.

Tockieren (v. ital. toccare, "berühren"),Bezeichnung für eine Art der Malerei, wobei die Farbe nichtverschmolzen, sondern in deutlich sichtbaren und kurz behandeltenPinselstrichen aufgetragen wird; daher s. v. w. mit derben undfetten Strichen skizzenähnlich malen.

Tocopilla (spr. -pillja), Hafenort im TerritoriumAntofa*gásta des südamerikan. Staats Chile, 22° 10'südl. Br. In der Nähe sind Kupfergruben.

Tocqueville (spr. tockwil), Charles Alexis Henri MauriceCérel de, franz. Publizist, geb. 29. Juli 1805 zu Verneuil(Seine-et-Oise), studierte die Rechte, ward 1826 zumInstruktionsrichter und 1830 zum Hilfsrichter ernannt und 1831 nachden Vereinigten Staaten von Nordamerika gesandt, um das dortigeGefängniswesen kennen zu lernen. Als Früchte dieser Reiseerschienen: "Système pénitentiaire auxÉtats-Unis et de son application en France" (Par. 1832, 2Bde.; 3. Aufl. 1845) und später das gedankenreiche,epochemachende Werk "De la démocratie n Amérique"(das. 1835, 2 Bde.; 15. Aufl. 1868), für welches er denMontyonpreis erhielt, 1836 Mitglied der Akademie der moralischenund politischen Wissenschaften und 1841 der Académiefrançaise ward. Nachdem er seit 1839 in derDeputiertenkammer auf seiten der dynastischen Opposition und nachder Februarrevolution von 1848 in der Konstituante und Legislativegewirkt, trat er 2. Juni 1849 als Minister des Auswärtigen insKabinett, zog sich aber nach dem Staatsstreich 1851 vomöffentlichen Leben zurück und starb 16. April 1859 inCannes. Er schrieb noch: "Histoire philosophique du règne deLouis XV" (Par. 1846, 2 Bde.) mit der Fortsetzung: "Coup d'oeil surle règne de Louis XVI" (2. Aufl. 1850); "L'ancienrégime et la révolution" (das. 1856, 7. Aufl. 1866;deutsch, Leipz. 1857 u. 1867). Gesammelt erschienen seine Werke in9 Bänden (Par. 1860-65). Vgl. Jaques, A. de T. (Wien1876).

Tocuyo, 1)(Nuestra Señora de la Concepcion de T.)Stadt in der Sektion Barquisimeto des Staats Lara derBundesrepublik Venezuela, in einem schönen Gebirgsthal amFluß T., 629 m ü. M., gelegen, hat eine höhereSchule, Wollweberei, Schafzucht, Woll- und Salzhandel u. (1883)15,383 Einw.; wurde 1545 erbaut. -

2) (San Miguel de T., spr. -kujo) Ort im venezuelan. StaatFalcon, nahe der Mündung des schiffbaren T. in das KaribischeMeer, in fieberschwangerer Gegend. Bei der Mündung des FlussesSteinkohlenlager.

Tod, das endgültige Aufhören des Stoffwechselsund der sonstigen Lebensthätigkeiten in einem Individuum, zumUnterschied von einem durch äußere Hindernisse, die sichwegschaffen lassen, erzwungenen zeitweisen Stillstand (s.Anabiotisch und Scheintod). Da die ununterbrochene Aufnahme vonSauerstoff den hauptsächlichsten Lebensreiz darstellt, soergibt die Lähmung der Atmungs- und Blutumlaufszentren dienächste Todesursache bei den zusammengesetzten und höhernTieren; man sagt, jemand hat ausgeatmet, oder sein Herz stehtstill, um den Eintritt des Todes zu bezeichnen. Man muß dabeiden natürlichen T. von dem gewaltsam herbeigeführtenunterscheiden. Mit dem erstern Namen bezeichnet man auch den durchKrankheiten und innere Ursachen herbeigeführten T., obwohl dieKrankheiten oft sehr gewaltsam wirkende Todesursachen liefern (z.B. Erstickung bei Halskrankheiten, Vergiftung bei Cholera undähnlichen Infektionskrankheiten) und strenggenommen nur derinfolge von Altersschwäche eintretende T. als dernaturgemäße Abschluß des Lebens zu bezeichnenwäre. Ein solcher T. tritt, wie Preyer bemerkt hat, niemalsbei denjenigen niedersten Wesen ein, die sich durch beständigeZweiteilung vermehren; der T. wurde erst eine Notwendigkeitfür zusammengesetzte Wesen, deren Organe sich abnutzen, unddie Begrenzung der Lebensdauer (s. d.) ist, wie schon Goetheausdrückte, eine Zweckmäßigkeitseinrichtung: derKunstgriff der Natur, immer neues und frisches Leben zu haben. Mankann den örtlichen T., d. h. das Absterben einzelner Organe(s. Brand), unterscheiden vom allgemeinen T. Auch beim allgemeinenT. erfolgt das Absterben der sämtlichen Körperteile nichtmit Einem Schlag, sondern mehr oder weniger allmählich; esgehen seinem Eintritt Zeichen voran, welche dessen Annäherungverkünden. Das Stadium, in welches diese Zeichen fallen,heißt Todeskampf oder Agonie. Man nannte es einen Kampf, weiles manchmal mit Symptomen von Aufregung, Schmerzen undKrämpfen verknüpft ist. Aber sehr häufigverläuft es still und geräuschlos (Todesschlaf) auch beikräftigern Körpern. Die Erscheinungen der Agonie sind injedem Fall gemischt aus den Symptomen der Krankheit, welche demLeben ein Ende macht, und aus den Zeichen der fortschreitendenLähmung des Nervensystems. Aufregungssymptome, von welchen dieKrankheit begleitet war, verschwinden nach und nach, dasDenkvermögen ist meist vermindert oder aufgehoben. Gegen dieUmgebung zeigen sich Sterbende, selbst wenn sie noch beiBewußtsein sind, meist gleichgültig. Häufiger fehltdas Bewußtsein, manchmal kehrt dasselbe in den letztenMomenten wieder, und die relative Ruhe nach den vorausgegangenenSchmerzen und Krämpfen wird vom Sterbenden als physischesBehagen empfunden. Der erfahrene Beobachter erkennt in der Ruhe dasFortschreiten der Lähmung. Die verschiedenen Organe sterben ineiner bestimmten, ziemlich regelmäßigen Reihenfolge ab.War das Bewußtsein noch erhalten, so überlebt es dieSinne. Der Geruchs- und Geschmackssinn scheinen zuerst zuverschwinden. Darauf erlischt meist der Gesichtssinn; dieSterbenden klagen nicht selten über einen Nebel vor den Augenoder rufen nach Licht. Für Gehörseindrücke geben sienoch Zeichen des Verständnisses, wenn das Auge schon vonDunkel umhüllt ist. Der Gefühlssinn ist bald schonfrühzeitig sehr verringert, bald verschwindet er erst zuletzt.Nicht selten fühlen Sterbende die Kälte, welche von untenan aufwärts über den Körper fortschreitet.Allmählich verlieren die Muskeln die Fähigkeit, demWillen zu gehorchen. Der Körper sinkt im Bett herab undstreckt sich lang aus; die vorher vielleicht im Krampfzusammengezogenen Gliedmaßen lösen sich; dieGesichtszüge werden hängend, der Unterkiefer fälltherab, und dadurch öffnet sich der Mund; die Augenlidersinken, ohne sich zu schließen. Die Hornhaut des Auges wirdglanzlos und matt (gebrochenes Auge); das Auge wird starr undfixiert nicht mehr. Die Schläfe sinken ein, die Nase wirdspitz und scheint verlängert. Das ganze Gesicht erscheintlänger, das Kinn spitzer und hervorragender; das Gesicht istgelblich, mitunter bläulich gefärbt, kühl,häufig mit kaltem Schweiß bedeckt (HippokratischesGesicht). Das Atmen geschieht langsam, selten und mühevoll,die Atemzüge werden ungleich, auf mehrere oberflächlichefolgt ein tiefer; kurz vor dem T. werden sie immer seltener und,einzelne Schluchzer oder Seufzer ausgenommen, immer leiser. Da dieschwa-

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Tod - Toda.

chen Muskeln nicht mehr durch Husten den Schleim aus denBronchien entfernen können, so tritt hörbares Rasseln desSchleims in den Luftwegen ein, welches bei denunregelmäßigen Atembewegungen als Todesröchelnbezeichnet wird. Auch die Zusammenziehungen des Herzens werdenunzulänglich, die Arterien immer schwächer gefüllt,die Pulsschläge häufiger, aber schwächer, zuletztunfühlbar. Die Haut verliert wegen mangelhafter Füllungder Blutgefäße ihre Röte und Elastizität. DieWärme ist, wenn dem T. Fieber vorausging, im Innernerhöht und steigt sogar über diejenige Höhe hinaus,welche sie während des Lebens hatte. Dabei fühlen sichjedoch das Gesicht, besonders Nasenspitze und Ohren, sowieHände und Füße meist kühl an. Waren dieKranken während des Todeskampfes fieberlos, so sinkt dieWärme auch objektiv während desselben. Es istunmöglich, auf Minuten genau den Moment des Todes anzugeben.Gewöhnlich sieht man die letzte Atembewegung, welchenatürlich in einer Exspiration besteht, als Schluß desLebens an; doch ist es sicher, daß zahlreiche Organe desKörpers noch über diesen Moment hinaus eine Füllevon Lebenserscheinungen darbieten. Das Herz arbeitet z. B. manchmalnoch eine geraume Weile, die Muskeln kontrahieren sich noch aufdirekte Reizung, die Baucheingeweide bewegen sich noch längereZeit, die auf der Oberfläche gewisser Schleimhäutesitzenden Flimmerzellen stellen ihre sehr lebhaften Bewegungenoftmals erst 48 Stunden nach dem letzten Atemzug ein. Es handeltsich daher beim T. um einen allmählichen Austritt dereinzelnen Gewebe aus dem Lebensverband, eine Erscheinung, die demVerständnis um vieles näher gerückt wird, wenn manden Organismus als einen Zellenstaat auffaßt, in demsämtliche Glieder ein gleichberechtigtes Einzeldaseinführen und erst durch das Aufhören des Blutumlaufsgewissermaßen einzeln verhungern, weshalb man sie auch durchfernere Durchleitung sauerstoffhaltigen Bluts außerhalb desKörperverbandes längere Zeit zum Fortarbeiten veranlagenkann. Etwa 8-12 Stunden nach erfolgtem T. erscheinen an denniedriger liegenden Körperteilen blaurote Flecke(Totenflecke), welche von der mechanischen Senkung des Blutsherrühren. Bei Rückenlage der Leiche erscheinen dieTotenflecke am Rücken, bei Gesichtslage im Gesicht, auf Brustund Bauch. Häufig kommen jedoch auch an obernKörperstellen Totenflecke vor, namentlich bei blutreichenLeichen. Die Leichenkälte tritt zu verschiedener Zeit(½-24 Stunden, durchschnittlich 6-12 Stunden) nach dem T.ein, je nach der Temperatur des Sterbenden und des umgebendenMediums, namentlich auch je nachdem der Tote im Bett gelassen wirdoder nicht. Ein weiteres und sehr entscheidendes Zeichen desabsoluten Todes ist die Toten- oder Leichenstarre, welche durch dasGerinnen eines Blutbestandteils verursacht wird. Während dieLeiche unmittelbar nach dem T. völlig weich zu sein pflegt,macht diese Biegsamkeit der Gliedmaßen allmählich einervon den obern nach den untern Teilen fortschreitenden ErstarrungPlatz. Sie beginnt immer an den Kinnladen und am Hals, geht dann amRumpf abwärts auf die Arme und endlich auf die Beine, zuletztauf die innern Teile über und verschwindet auch wieder inderselben Reihenfolge. In der Regel stellt sich die Totenstarrebinnen 6-12, selten erst nach 24 Stunden, noch seltener bereitswenige Minuten nach dem T. ein, doch will man bei gewaltsamem T.,z. B. auf Schlachtfeldern, häufig eine augenblicklicheintretende und den Körper in seiner letzten Gliederanspannungfesthaltende Totenstarre beobachtet haben. Nachdem dieselbe 24-48Stunden angehalten hat, verschwindet sie wieder; selten vergeht siefrüher, bisweilen währt sie 5-6 Tage. Mit dem Ende derTotenstarre fällt der Anfang der Fäulnis zusammen, welchesich weiterhin durch den Leichengeruch, durch die grünlicheFärbung der Haut und durch die Gasentwickelung im Körperverrät. Alle diese Erscheinungen treten je nach der Temperaturund Feuchtigkeit des umgebenden Mediums, nach derKörperkonstitution, nach der Art der vorausgegangenenKrankheit wenige Stunden bis eine Woche und länger nach dem T.ein. Über die Unterscheidung des Todes vom Scheintod s. d.Vgl. Weismann, Die Dauer des Lebens (Jena 1882); Götte,Über den Ursprung des Todes (Hamb. 1883). Der T. spielt imVolksglauben eine eigentümlich bedeutsame Rolle (s.Totensagen). Die Naturvölker glauben nicht an einennatürlichen und wirklichen T., sondern halten das Sterbenfür eine Wirkung böser Geister oder Hexen, was sich auchbei den Kulturvölkern noch in der Personifikation des Todesals Totengenius (Thanatos der Griechen), Sensenmann und Freund Heinder Germanen ausspricht. Die griechischen Künstler stelltenden T. (Thanatos), den Sohn der Nacht, den Bruder des Schlafes,zumeist auf Grund einer freundlichen Auffassung dar, als ernstenJüngling mit gesenkter Fackel, eine Vorstellung, welche derDarstellung der griechischen Dichtkunst, die in dem "starrherzigen"Gott des Todes einen dunkelgewandeten, schwertbewehrtenOpferpriester der Unterwelt erblickte, allerdings nicht entsprach.Doch gehören jene Darstellungen der bildenden Kunst meist derspätern griechischen Zeit an. Man findet sie vorwiegend aufattischen Grabsteinen, Vasen u. dgl. Vgl. Lessings Abhandlung "Wiedie Alten den T. gebildet" und Robert, Thanatos(Winckelmanns-Programm, Berl. 1879). Die späternrömischen Dichter schilderten den T. als einzähnefletschendes Ungeheuer, das mit blutigen Nägelnseine Opfer zerfleischt. In der ernsten, finstern Auffassung einesunheilvollen Dämons findet sich auch die geflügelteGestalt des Todes auf etruskischen Vasen und Sarkophagen. Auch dieKunst des Mittelalters gab dem T. die schreckhafte Gestalt einesUngeheuers mit Fledermausflügeln, besonders in Italien. InDeutschland trat der T. in den ersten Darstellungen derTotentänze (s. d.) in der Mehrzahl auf. Es waren anfangszusammengeschrumpfte Leichname, später erst entfleischteGerippe, aus denen dann der Knochenmann der neuern Kunst entstandenist. Sense und Sichel wurden nach Offenbar. Joh. 14,4 seinAttribut, wozu sich später das Stundenglas gesellte. Vgl.Wessely, Die Gestalten des Todes und des Teufels in derdarstellenden Kunst (Leipz. 1876); Schwebel, Der T. in deutscherSage und Dichtung (Berl. 1877).

Toda (Tuda, Tudavar), Drawidastamm in den Nilgiri umUtakamand herum. Sie sind Hirten, deren einziger Reichtum in ihrenHerden besteht, und zerfallen in fünf Kasten, die nichtuntereinander heiraten, nämlich Peiky, Pekkan, Kuttam, Kumaund Tody. Es herrscht Polyandrie. Die Frau wird gekauft undgehört den Brüdern einer Familie gemeinschaftlich; dieKinder werden nach der Reihenfolge ihrer Geburt den Brüdernvom ältesten abwärts zugeschrieben. Man hat zweiLeichenzeremonien, ein "grünes" und ein "dürres"Begräbnis. Bei dem grünen Begräbnis wird der Toteverbrannt und die Asche gesammelt, bei dem dürren, daszwölf Monate später stattfindet, wurden früher soviele Büffel

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Todaustragen - Todesstrafe.

geschlachtet, daß die englische Regierung die sinnloseVerschwendung durch Verbote beschränkte. Dem Priester desDorfs liegt die Pflege und das Melken der Kühe ob; außerden Priestern gibt es noch drei heilige Einsiedler. Man glaubt anböse Geister und verehrt eine heilige Büffelschale, unterder man sich den

höchsten Gott Hiriadeva vorstellt. Vgl. Metz, DieVolksstämme der Nilagiris (Basel 1857); Marshall,Aphrenologist amongst the Todas (Lond. 1873).

Todaustragen (Tod austreiben),uraltes Volksfestheidnischen Ursprungs, dessen Feier am Sonntag Lätare(Todsonntag) oder Iudika sich hier und da noch in der Lausitz, inSchlesien und Böhmen erhalten hat, früher aber auch inMeißen, Thüringen, Franken, in der Pfalz und im Odenwaldüblich war. Es bildet einen Teil des Maifestes (s.d.) undbesteht darin, daß eine den Tod vorstellende Strohfigur unterAbsingen von Liedern umhergetragen und dann ins Wasser geworfenoder verbrannt wird. Der Tod ist hier eine christliche Einkleidungdes heidnischen

Winterriesen, der vor der Gottheit des Frühjahrs weichenmuß. Mitunter war mit dem T. auch ein kleiner dramatischerWettstreit zwischen Sommer und Winter verbunden. Vgl.v.Reinsberg-Düringsfeld, Das festliche Jahr (Leipz. 1863).

Toddy, Getränk aus Branntwein, Zucker, Eis undWasser, ähnlich dem Grog, in Schottland, England, Schwedenetc. beliebt (Sling enthält dazu noch etwas geriebeneMuskatnuß); auch s.v.w. Palmwein.

Todea Willd., Farngattung aus der Familie derOsmundaceen. Eine baumbildende Art dieser Gattung mit 3 m hohem und60 cm dickem Stamm sowie schönen, ca.2 m breiten,doppeltfiederteiligen Blättern ist T. barbara Moore, die inNeuholland, Neuseeland und Südafrika wächst.

Todesengel, christliches Bild, durch welches der Tod alsein Genius dargestellt wird, der die Seele

aus diesem zu einem bessern Leben hinüberführt, demgriechischen Hermes, welcher als Psychopompos die Seelen derAbgeschiedenen nach dem Hades geleitet, entsprechend.

Todeserklärung, die richterliche Erklärung,daß eine verschollene Person als verstorben anzusehen sei (s.Verschollenheit).

Todeslinderung , s. Euthanasie.

Todesstrafe, die Hinrichtung eines Verbrechers zurSühne begangenen Unrechts. Je nachdem diese Hinrichtung inmehr oder weniger schmerzhafter Weise vollzogen wurde, unterschiedman im ältern Strafrecht zwischen geschärfter(qualifizierter) und einfacher T. Nach dem Strafsystem derpeinlichen Gerichtsordnung Karls V. waren als geschärfteTodesstrafen der Feuertod, das Pfählen, das Rad, dasVierteilen und das Säcken oder Ertränken in Übung,während die Strafen des Stranges und des Schwertes sowie diemilitärische Strafe der Kugel oder des Arkebusierens als dieleichtern und einfachen Arten der T. galten. Die moderneStrafgesetzgebung kennt nur die einfache T., welche in den meistenStaaten, namentlich auch nach dem deutschen Strafgesetzbuch, durchEnthauptung und zwar meistens mittels des Fallbeils, in England,Österreich und Amerika durch Erwürgen am Galgen, inSpanien durch Bruch der Halswirbel (Garrotte) und im Staat New Yorkseit 1889 durch die Anwendung von Elektrizität vollzogen wird.Die Öffentlichkeit der T., welche früher allgemeinüblich war, besteht nur noch ausnahmsweise, z. B. inFrankreich; sonst wird dieselbe regelmäßig in einemumschlossenen Raum vollzogen (sogen. Intramuranhinrichtung), soseit 1869 auch in England. Nach der deutschenStrafprozeßordnung müssen dazu zwei Gerichtspersonen,ein Beamter der Staatsanwaltschaft, ein Gerichtsschreiber und einGefängnisbeamter zugezogen werden. Der Ortsvorstand hatzwölf Personen aus den Vertretern oder aus andern achtbarenMitgliedern der Gemeinde abzuordnen, um der Hinrichtungbeizuwohnen. Außerdem ist einem Geistlichen von demReligionsbekenntnis des Verurteilten und dem Verteidiger sowie nachErmessen des die Vollstreckung leitenden Beamten auch andernPersonen der Zutritt zu gestatten. Der Leichnam des Hingerichtetenist den Angehörigen desselben auf ihr Verlangen zur einfachen,ohne Feierlichkeit vorzunehmenden Beerdigung zu verabfolgen. Anschwangern oder geisteskranken Personen darf die T. nichtvollstreckt werden. Ihre Vollstreckung ist überhaupt nurzulässig, nachdem die Entschließung des Staatsoberhauptsergangen ist, von dem Begnadigungsrecht keinen Gebrauch machen zuwollen. Als militärische T., die in Fällen desKriegsrechts aber auch gegen Zivilisten zur Anwendung kommt, istdieStrafe des Erschießens gebräuchlich. Über dieZulässigkeit der T. an und für sich ist, seitdem Beccariafür ihre Abschaffung eingetreten, also seit mehr denn 100Iahren, Streit. Wenn dabei vielfach Unklarheit herrscht, so kommtdies besonders daher, weil man oft zwei Fragen nicht gehörigauseinander hält: die rechtsphilosophische, ob dem Staate dasRecht zusteht, dem Staatsbürger zur Sühne begangenenUnrechts das Recht auf die Existenz abzusprechen, und dierechtspolitische, ob es, wofern man und zwar wohl mit Recht dieerste Frage bejaht, zweckmäßig sei, von ebendiesem Rechtnoch Gebrauch zu machen. Auch die zweite Frage glaubt dieherrschende Ansicht bei dem dermaligen Stand unsrer Zivilisationzur Zeit noch nicht verneinen zu können. Abgeschafft war dieT. vor der Herrschaft des norddeutschen Strafgesetzbuchs in Anhalt,Bremen, Oldenburg und im Königreich Sachsen; sie ist es nochin Rumänien, Holland, Portugal, in der Schweiz und in einigennordamerikanischen Staaten; vorübergehend war sie inÖsterreich abgeschafft. Einzelne Schweizer Kantone habenindessen die T. neuerdings wieder eingeführt. Im norddeutschenReichstag hatte sich 1870 die Mehrheit für die Abschaffung derT. entschieden, und nur um das Zustandekommen des Strafgesetzbuchsnicht zu gefährden, entschloß man sich bei dementschiedenen Widerstand der Regierungen endlich doch fur dieBeibehaltung der T. Das deutsche Reichsstrafgesetzbuch bedroht mitder T. den vollendeten Mord, außerdem aber noch den alsHochverrat strafbaren Mord und den Mordversuch, welche an demKaiser, an dem eignen Landesherrn oder während des Aufenthaltsin einem Bundesstaat an dem Landesherrn dieses Staats verübtworden sind. Auch ist in dem Reichsgesetz vom 9. Juni 1884über den verbrecherischen und gemeingefährlichen Gebrauchvon Sprengstoffen bestimmt, daß derjenige, welchervorsätzlich durch Anwendung von Sprengstoffen Gefahr fürdas Eigentum, die Gesundheit oder das Leben eines andernherbeiführt, mit Zuchthaus, wenn aber durch solcheHandlungsweise der Tod eines Menschen herbeigeführt wordenist, mit dem Tod bestraft werden soll, wofern der Thäter jenenErfolg voraussehen konnte.Das deutsche Militärstrafgesetzbuchendlich bedroht

auch die schwersten Militärverbrechen, wie Kriegsverrat,Fahnenflucht, Feigheit vor dem Feinde, Thätlichkeiten gegenVorgesetzte im Felde und militärischen Aufruhr vor dem Feind,mit dem Tod. Vgl. Deutsches Strafgesetzbuch, § 13, 32, 80 und211; Deutsche

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Todfall - Toggenburg.

Strafprozeßordnung, § 485 f.; DeutschesMilitärstrafgesetzbuch, § 58, 63, 73, 84, 97, 107 f.,133, 159; Mittermaier, Die T. (Heidelb. 1862); Hetzel, Die T. (das.1870); v. Holtzendorff, Das Verbrechen des Mordes und die T. (das.1875); Pfotenhauer, Aphorismen über die T. (Bern 1879);Carfona, La pena di morte (Neap. 1884).

Todfall, s. Baulebung.

Todi, Stadt in der ital. Provinz Perugia (Umbrien), ander Mündung der Naja in den Tiber, mit (teilweise nochetruskischen) Mauern umgeben, Bischofsitz, hat eine gotischeKathedrale, eine nach Bramantes Entwurf erbaute Renaissancekirche,ein schönes Stadthaus und ein altes Regierungsgebäude,Gymnasium, technische Schule, Seminar, reicheWohlthätigkeitsanstalten und (1881) 3306 Einw. T. ist das alteumbrische Tuder, später römische Kolonie.

Tödi, das Haupt der Glarner Alpen (3623 m), auf derGrenzscheide der Kantone Glarus, Uri und Graubünden, hat einenach O. flach abfallende Firndecke und zwei Spitzen, den vordern,rundlichen Glarner T. und den südlichen, auf GraubündnerGebiet liegenden Piz Rusein. Ihn umstehen in zweiParallelzügen, die durch ein Firnmeer verbunden sind, derBifertenstock (3426 m), der Düssistock (3262 m) und der PizTgietschen (Oberalpstock, 3330 m), der Claridenstock (3264 m), dasScheerhorn (3296 m), die Große Windgelle (3189 m) etc.Zwischen Düssistock und Scheerhorn zieht sich derHüfigletscher, aus dem der Kärstelenbach entspringt, insMaderanerthal hinab. Einer kleinern Schneemulde, die zusammen mitdem Abfluß des am Piz Tgietschen lagernden Brunifirns,zwischen Tödi und Bifertenstock lagert, entspringt derBifertenfirn, der wie der Claridenfirn in den Hintergrund desLinththals sich hinabsenkt. Die natürliche Abgrenzung dieserganzen Bergwelt bilden Klausen-, Kreuzli- und Kistenpaß. DenReigen der schwierigen Aszensionen im Tödigebieteröffnete Pater à Spescha, der 1788 den Stockgron, 1799den Piz Tgietschen erstieg. Auch die übrigen Gipfel wurdenseitdem erobert; den höchsten (Piz Rusein) bestieg als ersterReisender Dürler (August 1837). Die Besteigung des T. erfolgtgewöhnlich von der Klubhütte am Grünhorn (2451rn).

Todleben, s. Totleben.

Tödlichkeit von Körperverletzungen, s.Tötung.

Todmorden, Stadt in Yorkshire (England), an der Grenzevon Lancashire, am Calder, hat Baumwollwarenfabriken,Maschinenbauwerkstätten, Kohlengruben und (1881) 23,862Einw.

Todos los Santos (Bahia de T.), 1) Bai an derWestküste der Halbinsel Niederkalifornien in Mexiko, unter30° 45' nördl. Br., mit Zollhaus. -

2) Hafen in Argentinien, s. San Blas 1).

Todos Santos, Hafenort an der Westküste derHalbinsel Kalifornien in Mexiko, unter dem Wendekreis, mit Zollhausund (1880) 1209 Einw.

Todsünden, nach 1. Joh. 5, 16 und 17 solcheSünden, welche den geistigen Tod, d. h. den Verlust desGnadenstandes, zur Folge haben, nach Petrus Lombardus: Hochmut,Geiz, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid und Trägheit desHerzens; einen anerkannten Katalog derselben gibt es nicht. S.Sünde.

Todt..., s. Tot...

Todtnau, Stadt im bad. Kreis Lörrach, an der Wieseund am Fuß des Feldbergs, seit dem Brand von 1876größtenteils neuerbaut, 650 m ü. M., hat eine kath.Kirche, eine Bezirksforstei, Baumwollspinnerei und -Weberei,Bürsten-, Holzstoff-, Zunder- und Papierfabrikation und (1885)1756 Einw.

Tostlund, Dorf in der preuß. ProvinzSchleswig-Holstein, Kreis Hadersleben, hat eine evang. Kirche, einAmtsgericht und (1885) 657 Einw.

Toga (lat.), das Nationalkleid der freien Römer imFrieden, wodurch sie als Togati sich von allen Nichtrömernunterschieden, bestand aus einem einzigen, 4 m langen und 2½m breiten Stück Zeug, das so getragen ward, daß man deneinen Zipfel über die linke Schulter nach vorn warf, den obernRand über den Rücken zog, den andern Zipfel aber unterdem rechten Arm durchzog (so daß derselbe frei blieb) unddann über die linke Schulter warf (vgl. Abbildung). Unter demrechten Arm bis zur linken Schulter entstand dabei ein Bausch, denman als Tasche (sinus) gebrauchte. Im Krieg knüpfte man, bevordas Sagum (s. d.) die allgemeine militärische Kleidung wurde,die T. unter der Brust gürtelähnlich fest (CinctusGabinus). In der spätern Zeit trug man unter der T. die Tunika(s. d.) unmittelbar auf dem Körper. Die T. war von Wolle undweißer Farbe (t. alba), bei gemeinen Leuten und bei derTrauer dunkel (pulla). Die höhern Magistratspersonen bis zuden kurulischen Ädilen trugen eine mit einem Purpurstreifeneingefaßte T. (t. praetexta, s. Tafel "Kostüme I", Fig.6), ebenso die Knaben bis zum 17. Jahr, die Mädchen bis zuihrer Verheiratung. Vom vollendeten 17. Jahr an trugen dieJünglinge die einfache, unverbrämte T., die T. virilisoder T. pura. Besondere Staatskleider waren die T. picta. eine T.von Purpur, mit goldenen Sternen verziert, die der Triumphatoranlegte, sowie die mit eingestickten Palmzweigen geschmückteT. palmata (trabea). Die T. candida wurde von den Bewerbern umStaatsämter getragen und war glänzend weiß (s.Candidatus); die Angeklagten trugen eine dunkle T. (t. squalida).Im Sommer trug man die T. rasa, eine abgeschorne T. von dünnemZeug; im Winter eine wollene (t. pinguis). Auch Fremden konnte dasRecht, die T. zu tragen, durch Senatsbeschluß alsAuszeichnung erteilt werden, wie es z. B. das gesamte römischeGallien erhielt, das daher Gallia togata hieß. Unter denKaisern begann die T. die Tracht der geringern Leute und Sklaven zuwerden. Die Frauen nahmen die Palla (s. d.) an, und die T. wurdedas Kleid der wegen Ehebruchs geschiedenen Frauen undBuhldirnen.

Toggenburg, ehemals eine Grafschaft der Schweiz, dievoralpine Thalstufe der Thur umfassend, deren Besitzer (Grafen vonT.) zu den reichsten und angesehensten Dynasten des Landesgehörten. Nach dem Erlöschen des Geschlechts (1436) fieldie Grafschaft an die Freiherren von Raron, die sie 1469 an den Abtvon St. Gallen verkauften. Infolge der Religionsspaltung entstandeine Menge von Zerwürfnissen zwischen Stift und Landschaft, sodaß die Zuricher und Berner, von den Toggenburgern angerufen,mit den katholischen Orten handgemein wurden

[Römer in der Toga.]

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Togianinseln - Tokar.

(Toggenburger oder Zwölferkrieg von 1712). Neuausgebrochene Feindseligkeiten wurden 1755 und 1759 beigelegt. 1803wurde das Ländchen dem Kanton St. Gallen zugeteilt. Eszerfällt in die vier Bezirke Ober-, Neu-, Alt- und Unter-T.,von denen Alt-T. (11,721 Einw.) vorherrschend katholisch, die dreiandern, mit 43,887 Einw., vorherrschend protestantisch sind. DieHauptindustrie ist Baumwollspinnerei (s. Sankt Gallen, S. 283). Dieoberste Thalgemeinde ist Wildhaus, der Geburtsort Zwinglis. BeiEbnat-Kappel (640 m) beginnt die "Toggenburger Eisenbahn" undführt thalabwärts über Wattwyl, Lichtensteg undandre Orte bis nach Wyl, wo sie in die Zürich-St. Galler Linieeinmündet (560 m). Vgl. Wegelin, Geschichte der Landschaft T.(St. Gallen 1857); Hagmann, Das T. (Lichtensteg 1877).

Togianinseln (Tadjainseln, Schildpattinseln), Gruppe vonetwa 500 Eilanden in der Tominibai an der Ostküste vonCelebes, 677 qkm (12,2 QM.) groß, stark bewaldet, unbewohnt,aber wegen des Schildkrötenfanges und der Fischereihäufig besucht; gehört zur niederländischenResidentschaft Menado.

Togo ("jenseit der Lagune"), deutsche Kolonie an derSklavenküste von Westafrika (s. Karte bei "Guinea"), zwischen1° 10' (New Sierra Leone) und 1° 30' östl. L. v. Gr.(Gum Koffi), doch zieht sich die östliche Grenzlinienordostwärts bis 1°40', ein Areal von 1300 qkm (23,6 QM.).Am Meer liegen die Handelsplätze Lome, Bagida und Porto Seguroauf einem schmalen, niedrigen und hafenlosen Küstenstreifen;dahinter zieht sich eine Strandlagune hin, welche in der Lagune T.sich nach N. erweitert, jedoch in weit geringerm Maß, als dieEngländer, welche sie Avonlagune nennen, früher angaben.In die Lagune mündet von N. her der Hahofluß. Dassogleich zu Hügeln von 40-60 m Hohe aufsteigende Land istaußerordentlich reich an Ölpalmen und andernFruchtbäumen; nur der kleinste Teil des Landes ist angebautmit Kassawen, Mais, Bataten, Ananas u. a., das übrige ist mitRohr, hohem Gras und Buschdickicht, aus dem einzelne Bäumehervorragen, bestanden. Vierfüßige Tiere sindaußer Affen selten; vereinzelt gibt es Leoparden, dagegen istdie Vogelwelt überreich, und die Lagunen sind voll vonFischen. Die Bevölkerung, etwa 40,000 Köpfe und durchwegNeger, beschäftigt sich an der Küste fastausschließlich mit Handel; weiter nach dem Innern zu fertigtman kunstreiche Gefäße, Leder und Zeuge. Die aus Binsengeflochtenen Hütten sind rund oder viereckig, in jedem Ortaber gleichförmig gebaut und, wie Straßen undPlätze, sehr rein gehalten. Jedes Dorf enthält eineGerichtshalle, ein Palaver- und ein Fetischhaus. Der Hauptort T. amöstlichen Ufer der gleichnamigen Lagune hat 2000-3000 Einw.,das heilige Be zählt 2000 Seelen, außerdem werden noch10 Orte mit je 1000 Seelen genannt. Das Gebiet von T. wurde Ende1884 unter deutschen Reichsschutz gestellt und für dasselbeein deutscher Reichskommissar mit dem Sitz in Klein-Popo ernannt.Das Budget der Kolonie bezifferte sich 1888/89 auf 107,000 Mk.Einnahme und 178,000 Mk. Ausgabe. T. wurde 1887 von Henricibesucht, und 1888 ging Wolf ab, um das Hinterland zu erforschen.Vgl. Zöller, Das Togoland und die Sklavenküste (Stuttg.1885); Krümmel, Togoland (Weim. l887); Henrici, Das deutscheTogogebiet (Leipz. 1888).

Tográi, Muajjad ed-din el Hosein ibn 'Ali, arab.Dichter des 11. und 12. Jahrh., war Wesir desSeldschukkenfürsten Mas' ud ibn Mohammed und wurde nach dessenBeseitigung durch seinen Bruder Mahmud 1119 oder 1121 getötet.Er ist einer der hervorragendsten Elegiker und kontemplativenLyriker; am berühmtesten ist seine "Lâmije" (auf lreimendes Gedicht), welche wiederholt herausgegeben undübersetzt ist (unter andern v. Ruco*cke, Oxford 1661; Reiske,Dresd. 1756; Frähn, Kasan 1814).

Tohu wabohu (hebr., "wüst und leer"), nach 1. Mos.1, 2 Bezeichnung eines wüsten Durcheinander.

Toilette (franz., spr. toa-), ursprünglich ein Tuch(toile), das man über den Putztisch der Damen breitete; danndas ganze zum Putz notwendige Gerät, insbesondere neben demSpiegel der Tisch (Putztisch, Nachttisch), auf welchem alle dieseGeräte sich befinden; endlich der weibliche Putz selbst inallen seinen Details, daher T. machen, sich vollständigankleiden, putzen.

Toise (spr. toahs'), die franz. Klafter, Normaleinheitdes altfranzösischen Längenmaßes. Die alte T. hatte6 alte Pariser Fuß = 1,949 m; die neue (metrische, t.usuelle), zu 2 m, wurde als Übergang vom alten zum neuenMaßsystem eingeführt. Der ihr zu Grunde liegende, nochjetzt in Paris aufbewahrte Maßstab hieß T. duPérou (weiteres bei Gradmessungen). Vgl. Peters, ZurGeschichte und Kritik der Toisenmaßstäbe (Berl.1886).

Tokâd, Hauptstadt eines Sandschak im türk.Wilajet Siwas in Kleinasien, unweit des Jeschil Irmak, 620 m hoch,auf drei Seiten von Bergen umgeben, hat eine alte Citadelle, einenverfallenen Palast sowie eine Brücke und eine Moschee aus derSeldschukkenzeit, sonst meist unansehnliche Häuser, vieleMoscheen sowie mehrere christliche Kirchen und Klöster. T. istSitz eines armenischen Erzbischofs und war früher alsKarawanenstation wie durch lebhaften Handel und Industrie vonBedeutung. Bemerkenswert sind die dortigen Kupferschmelzen undKupferschmieden, welche ihr Erz von Maaden Kapur an der Quelle deswestlichen Tigris erhalten. Die Einwohnerzahl beträgt etwa45,000 Seelen (26,000 Türken, 15,0000 Armenier, der RestGriechen und Juden). Im Altertum lag 6 km nordöstlich von T.das pontische Komana; T. selbst ist das byzantinische Eudokia.

Tokadille, ein aus Italien stammendes, dem Puffverwandtes Spiel, wird von zwei Personen mit je 15 (auch 16)Steinen gespielt, nach Regeln, die auf denen des Puffs beruhen,aber ungleich verwickelter sind und mehr Abwechselung bieten alsdieser.

Tokantins, großer Fluß in Brasilien,entspringt als Rio das Almas auf den Hochgebirgen im S. der ProvinzGoyaz, durchströmt diese und die Provinz Pará innördlicher Richtung, hat mehrere Wasserfälle undStromschnellen, erweitert sich unterhalb Cameta zum RioPará, empfängt hier einen Nebenarm des Amazonenstroms,den Paranau, der die Insel Marajo vom Festland trennt, undmündet unterhalb Pará oder Belem in den AtlantischenOzean. Er ist 2612 km lang, wovon 220 km auf den Rio Parákommen; die Schiffahrt auf dem T. ist seit 1867 allen Nationenfreigegeben. Regelmäßige Dampfschiffahrt ist 650 kmaufwärts im Gang; oberhalb der Wasserfälle sind weitere650 km bis zu den Schnellen von Itaboca schiffbar. Seinbedeutendster, ihn an Ausdehnung übertreffender Zuflußist der Araguaia, welcher an der Sierra de Santa Martha entspringtund in einem breiten Parallelthal zu dem des T. nach N.fließt, um sich nach 2600 km langem Lauf und nach Bildung dergroßen Flußinsel Santa Anna oder Bannanal beiSão João das Duas Barras mit jenem zu vereinen.

Tokar, Stadt mit kleinem Fort in Nubien, südlich vonSuakin in einer Oase, in der sich der Fluß Barka

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Tokay - Tokio.

in unzählige Bewässerungskanäle verzweigt; in denFeldern in der Umgebung sind zur Zeit der Aussaat und der der Erntemehr als 20,000 Arbeiter thätig. Nach der Niederlage von HicksPascha sollte die Besatzung des Forts durch Baker Pascha entsetztwerden, dieser wurde jedoch 4. Febr. 1884 geschlagen, und erstGeneral Graham konnte nach einer Niederlage der Mahdisten T., dasinzwischen kapituliert hatte, aber vom Feind wieder geräumtwar, 1. März erreichen. Das Fort wurde aufgegeben.

Tokay (Tokaj), Markt im ungar. Komitat Zemplin, am Bodrog(unweit der Mündung in die Theiß), Station derUngarischen Staatsbahn, mit Viehzucht, Fischerei, berühmtemObst- und Weinbau und (1881) 4479 Einw. Die nord- undnordostwärts liegenden Tokayer Berge, der südliche Teilder Hegyalja (s. d.), liefern 34 Sorten trefflicher Weine. Dieedelsten (fünf Sorten) werden bei Tarczal, Talya, Mád,Lißka, Kisfaludy, Zsadany gewonnen, und zwar: ordinärerTischwein, ohne Süße, aus den ihrer Trockenbeerenberaubten Trauben; Szamorodner, aus Trauben ohne Auslese derTrockenbeeren, wenig süßer, kräftiger, feurigerWein; Mászláser oder gezehrter Wein (ein-, zwei- unddreibuttig), aus Trauben mit Zusatz von Trockenbeeren,süß, mild, höchst geistig; Ausbruch oderMuskateller, wie der vorige, aber mit fünf oder mehr ButtenTrockenbeeren auf ein Faß (zehn Butten Wein). Was aus diesemGemisch durch den eignen Druck von selbst abfließt, bildetdie Essenz, den süßesten, duftigsten, geistigsten undwohlschmeckendsten aller Weine. Der Tokayer Weinbau hat sich seitGründung der T.-Hegyaljaer Weinbaugesellschaft ungemeingehoben. Der Gesamtertrag beträgt jährlich ca. 97,500 hl.Bei T. fanden 1848 mehrere Gefechte zwischen demösterreichischen Armeekorps unter Schlik und den Ungarnstatt.

Tokelauinseln, s. Unioninseln.

Tokio (spr. tokjo; auch Tokei, spr. toke,"Osthauptstadt"), Hauptstadt des japan. Reichs und seit 1868dauernde Residenz des Mikado, vordem Jedo (Yeddo) genannt, liegtunter 35° 40' uördl. Br. und 139° 47' östl. L. v.Gr. am nordwestlichen Ende der seichten Jedobucht und amSüdrand einer fruchtbaren Ebene, welche der Tonegawa mitverschiedenen seiner Nebenflüsse, der Sumidagawa sowiezahlreiche Kanäle durchschneiden. Sie wurde von Iyeyasu (s.Japan, S. 165) angelegt, 1598 zur Residenz gemacht und durch ihnund seine Nachfolger, die Shogune aus dem Haus Tokugawa, zu einerder umfang- und menschenreichsten Städte der Welt, welche zurZeit ihrer größten Blüte auf einem Areal von 75 qkmgegen 2 Mill. Einw. hatte. Von Jedo aus regierten die Shogune dasLand. Um das Schloß (O-Shiro), welches sich in der Mitte derStadt auf niedrigem, künstlichem Hügel erhob, und seinevielen Nebengebäude und Parkanlagen waren Festungswerke mitRingmauern und schweren Thoren sowie drei Systeme Wallgräbenangebracht, an deren Seiten sich die ausgedehnten Yashikis oderResidenzen des Feudaladels (der Daimios oder Fürsten desLandes, welche hier mit großem Gefolge jedes zweite Jahrwohnen mußten) befanden; dann folgte die eigentliche Stadtmit den Wohnungen der Gewerbtreibenden und Kaufleute. DieRevolution von 1868, welche dem Shogunat mit seinem kompliziertenFeudalsystem ein Ende machte und die unbeschränkte Macht desMikado wiederherstellte, brachte der Stadt große Verluste.Die Yashikis der Daimios verödeten, häufige Brändekamen hinzu und zerstörten ganze Stadtteile mit ihren leichtgebauten, dicht aneinander gereihten Holzhäusern.Allmählich aber erholte sich T. wieder, neues Leben floßihr durch den Verkehr mit dem Ausland und als Regierungssitz zu, sodaß die Stadt Ende 1887 wieder 982,043 Einw. zählte. Inder Nähe des Sumidagawa, welcher den westlichen Stadtteildurchfließt, liegt der erste Bahnhof. Seit 1872 erreicht manvon hier aus auf dem 30 km langen Schienenweg in einer Stunde denHafen Yokohama. Vom Bahnhof aus führt eine weite Straße,Shimbashi-dori genannt, nordwärts nach dem schönen ParkUyeno hin über Nihonbashi, die Sonnenaufgangsbrücke, vonder aus man die Entfernungen berechnet und den riesigen Kegel desFujiyama schaut. Shimbashidori, die wichtigste und schönsteVerkehrsstraße von T., wurde nebst vielen Seitenstraßenin fremdem Stil mit zweistöckigen, feuersichernBacksteinhäusern angelegt, nachdem eine großeFeuersbrunst den Stadtteil zerstört hatte. Am 5. Mai 1873brannte auch das O-Shiro nieder. Der Mikado residierte seitdem imYashiki eines ehemaligen Daimio, so daß seine Wohnung vielbescheidener war als die neuen großen Backsteinbauten derenglischen und deutschen Gesandtschaft. Inzwischen ist seine neueResidenz an Stelle des alten Schlosses vollendet u. im Januar 1889von ihm bezogen worden. In T. wohnen die fremden Gesandten u.Konsuln, wo sie wollen, Ausländer in japanischem Dienst in denihnen überwiesenen ehemaligen Yashikis oder neuen Holzbautenauf Yashikigrund, fremde Kaufleute aber und Gewerbtreibende nur ineinem bestimmten Stadtteil. Die Stadt hat Gasbeleuchtung und mancheandre europäischen Städten nachgebildete Einrichtung.Für den Straßenverkehr ist an Stelle der Sänfteseit 20 Jahren hier wie in ganz Japan die Shinrikisha getreten, einKarren, den ein oder zwei sich in, resp. vor die Schere spannendeKulis ziehen, während der Passagier über der Achse aufeinem Rohrsitz mit kutschenartigen Rück- und Seitenlehnensitzt. In ihren ein- oder zweistöckigen, meist nur 7 m hohenHolzhäusern, deren Gemächer möbellos mitBinsenmatten bedeckt und durch leichte Schiebewände getrenntsind, gleichen sich alle japanischen Städte. Das Licht dringtvon der Straße oder dem Hof her matt ein durch diePapierscheiben, womit man die Quadrate der Schieberrahmenüberzogen hat. In diesen japanischen Häusern ist diePetroleumlampe eingeführt, während für dieBekleidung und

[ Situationsplan von Tokio.]

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Tokkieren - Toledo.

Ausstattung des noch nicht ganz europäisierten Japaners vonfremden Artikeln zuerst Filzhut und Regenschirm Eingang fanden.Seit der neuen politischen Einteilung Japans 1871 bildet die Stadtmit ihrer nächsten Umgebung ein besonderes Territorium, dasTokiotu, mit ca. 1½ Mill. Einw.

Tokkieren, s. Tockieren.

Toko, Pfefferfresser, s. Tukan.

Tököly (Tökely), Emmerich, Graf von,ungar. Magnat, geb. 1656 auf dem Schloß Käsmark imZipser Komitat, Sohn des protestantischen Grafen Stephan von T.,welcher, der Beteiligung an der Verschwörung der ungarischenMißvergnügten gegen den Kaiser Leopold I. beschuldigt,1671 seiner Güter für verlustig erklärt, in seinemSchloß Likawa belagert ward und während der Belagerungstarb. Emmerich T. floh nach Siebenbürgen, erhielt vomGroßfürsten Apafi den Oberbefehl über ein denaufständischen Ungarn zu Hilfe gesandtes Truppenkorps, drangbis Österreich und Schlesien vor, ließ sich von derPforte gegen das Versprechen eines jährlichen Tributs zumFürsten von Ungarn ernennen, auf dem Landtag zu Kaschau 1682von den Ständen als König huldigen und zog 1683 mit demGroßwesir Kara Mustafa vor Wien, ward von diesem 4. Okt. 1685auf verräterische Weise zu Großwardein verhaftet und inKetten zu dem Sultan nach Adrianopel gebracht, jedoch Anfang 1686in Freiheit gesetzt und für seine weitern Operationen mit 9000Mann türkischer Truppen unterstützt. Aber in Ungarnselbst fand er bei seiner Rückkehr nur wenig Anhänger, sodaß er 1688 bei Großwardein von demösterreichischen General Heusler geschlagen wurde. Hierauf vomSultan zum Großfürsten von Siebenbürgen erhoben,drang er mit 16,000 Mann hier ein und schlug Heusler im September1689 bei Zernest, mußte sich aber vor dem Markgrafen vonBaden in die Walachei zurückziehen. Er wohnte auch späterallen Kämpfen der Pforte gegen Österreich bei undübte bedeutenden Einfluß auf den Sultan aus. Nach demAbschluß des Friedens on Karlowitz (26. Jan. 1699) lebte er,von der Amnestie ausgeschlossen, aber vom Sultan mit einer Pensionund Gütern reich ausgestattet und zum Fürsten von Widdinernannt, meist zu Konstantinopel. Er starb 13. Sept. 1705 aufseinem Landgut bei Ismid.

Tola, 1) Gold- und Silbergewicht in Ostindien,ursprünglich das Gewicht der Bombay-, resp. Siccarupie von179-179½ englischen Troygrän = 11,599-1l,642 g; wird inBombay in 100 Goonze à 6 Chows, in Kalkutta in 12 Maschaà 8 Röttihs (Ruttees) à 4 Dhan eingeteilt;

2) Normal- oder neues Bazargewicht in Kalkutta, à 16 Anna= 180 englischen Troygrän = 11,664 g. Seine Oberstufen Sihrund Maund bilden das Handelsgewicht.

Tolam, Gewicht, s. Maund.

Toland, John, engl. Freidenker, geboren um 1670 zuRedcastle in Irland von katholischen Eltern, trat 1687 zu denPresbyterianern über, studierte in Glasgow, Edinburg undLeiden Theorie und Philosophie, veröffentlichte 1696 in Londoneine Schrift: "Christianity not mysterious", in welcher er imAnschluß an Locke darzuthun suchte, daß das Christentumvernunftmäßig sei, und welche alsbald von Henkers Handverbrannt wurde. Darauf politischen Studien zugewandt,veröffentlichte er 1699 die Gesamtausgabe der Werke Miltonsmit Biographie des Dichters, welche ihm abermals Angriffe zuzog,gegen die er sich in der Schrift "Amyntor" verteidigte. 1701bereiste er Deutschland, fand hier an der Kurfürstin Sophievon Hannover und der philosophischen Königin Sophie Charlottevon Preußen Gönnerinnen und richtete dann an letztereseine "Letters to Serena" (1704), in denen er den Glauben an einenaußerweltlichen Gott und eine individuelle Unsterblichkeitaufgibt. Er bereiste 1709 abermals Deutschland und Holland undstarb 1722 in Putney bei London. Von seinen Schriften sind noch zuermähnen: "Adeisidaemon" (1709); "Nazarenus, or jewish,gentile and mohametan christianity" (1718); "Pantheisticon" (1720).Vgl. Berthold, John T. und der Monismus der Gegenwart (Heidelb.1876).

Toldy (ursprünglich Schedel), Franz, bedeutendsterungar. Literarhistoriker, geb. 10. Aug. 1805 zu Ofen, studierteMedizin, praktizierte dann einige Zeit als Bezirksarzt in Pest,wandte sich aber bald ganz der Litteratur zu, in der er schonfrüh (namentlich mit Übersetzungen) zu wirken begonnenhatte. Von einer größern Reise, die ihn nach Berlin,London und Paris führte, 1830 zurückgekehrt, wurde erMitglied der ungarischen Akademie und 1835 Sekretär derselben,welches Amt er bis 1861 führte. Von 1833 bis 1844 lehrte erals außerordentlicher Professor der Diätetik an derPester Universität; 1836 gründete er dieKisfaludy-Gesellschaft; 1861 erhielt er die Professur derungarischen Litteratur an der Hochschule zu Pest. Er starb daselbst10. Dez. 1875. Seine Hauptwerke sind: "Handbuch der ungarischenPoesie" (Pest 1828, 2 Bde.), durch welches die ungarische Dichtungzum erstenmal in umfassenderer Weise in die deutsche Litteratureingeführt wurde; dann in ungarischer Sprache die unvollendete"Geschichte der ungarischen Nationallitteratur" (das. 1851-53, 3Bde.) und "Geschichte der ungarischen Poesie" (das. 1854, 3. Aufl.1875; deutsch von Steinacker, 1863). - Sein Sohn Stephan, Publizistund dramatischer Dichter, geb. 4. Juni 1844 zu Pest, studiertedaselbst Jurisprudenz, wirkte einige Zeit als Ministerialbeamterund schrieb politische Broschüren, einen Roman und mehrereBände Novellen in französischer Richtung, auch Dramen,von denen die Lustspiele: "A jó hajafiak" ("Die gutenPatrioten") und "Az uj emberek" ("Neue Menschen") mit Erfolgaufgeführt wurden. Seit 1875 Redakteur des Journals "NemzetiHirlap", starb er 6. Dez. 1879 in Budapest.

Toledo, 1) span. Provinz in der Landschaft Neukastilien,grenzt im N. an die Provinzen Avila und Madrid, im O. an Cuenca, imS. an Ciudad-Real, im W. an Caceres und hat einen Flächenraumvon 15,257 qkm (277,1 QM.). Die Provinz wird im S. von den Montesde T., im N. von der Sierra de San Vicente, einer Parallelkette derSierra de Gredos, durchzogen, im übrigen ist sie eben oderhügelig und gehört zum Becken des Tajo, welcher dieProvinz quer durchschneidet und hier den Guadarrama und Alberchevon N., dann kleinere Zuflüsse von S. her aufnimmt. DerSüdosten der Provinz gehört mit dem Giguela zumFlußgebiet des Guadiana. Die Bevölkerung betrug 1878:335,038 Seelen (22 pro Quadratkilometer) und wurde 1886 auf 358,000Seelen geschätzt. Der Boden ist sehr fruchtbar, aber wenigangebaut und liefert hauptsächlich Getreide, Öl und Wein.Die Viehzucht ist ansehnlich, Schafwolle und Wachs sind wichtigeProdukte. Auch Salinen, Eisengruben und Mineralquellen sindvorhanden. Die Industrie ist von geringer Bedeutung, sie liefertLeder, Töpferwaren u. a. Auch der Handel ist wenig entwickelt.Die von Madrid nach S. und W. auslaufenden Eisenbahnen durchziehendie Provinz. Dieselbe umfaßt zwölf Gerichtsbezirke(darunter Madridejos, Ocana, Talavera de la Reina).

Tolentino - Tollens.

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Die gleichnamige Hauptstadt liegt malerisch auf einem zum Tajoschroff abfallenden Berg, von doppelten, getürmten Mauernumgeben, ist durch eine Zweigbahn nach Castillejo mit der BahnMadrid-Alicante verbunden und gewährt mit ihren 26 Kirchen,zahlreichen Klostergebäuden, ihren alten Thoren, Brückenund einer Unzahl von Türmen einen imposanten Anblick. DasInnere bildet ein Gewirr krummer und ungleich hoch liegender, aberreinlicher Gassen. Das ansehnlichste Gebäude ist dieKathedrale, eine der großartigsten gotischen Kirchen, 113 mlang, 57 m breit, mit einem großen, 90 m hohen Turm,fünf von 88 Pfeilern getragenen Schiffen, 40 Seitenkapellen,prachtvollen Grabmälern, zahlreichen Kostbarkeiten undKunstschätzen. Die Bibliothek des Domkapitels besitzt vieleseltene Handschriften. Der im höchsten Teil der Stadt gelegeneAlkazar ist 1887 abgebrannt. Bemerkenswert sind noch: dieschöne gotische Kirche San Juan de los Reyes (von 1477) unddas anstoßende ehemalige Franziskanerkloster mit herrlichemKreuzgang, der ehemalige Inquisitionspalast (jetztRegierungsgebäude), der Palast der Vargas, das Stadthaus, dasHospital mit dem Grabmal seines Gründers, Kardinals Tavera, 2Thore von arabischer Bauart, 2 hoch gespannte Brücken. ImMittelalter hatte T. gegen 2000,000, jetzt hat die tote, verlasseneStadt nur noch (1886) 19,775 Einw. Nahe am Tajo liegt diegroße königliche Waffenfabrik, in welcher dieberühmten Toledoklingen, jetzt meist die Waffen für dieArmee, verfertigt werden. Außerdem liefert T. Seiden-, Gold-und Silberstoffe (Kirchenparamente) und führt berühmtenMarzipan aus. T. hat eine Zentralschießschule und ist Sitzdes Gouverneurs und eines Erzbischofs, der den Titel eines Primasvon Spanien führt. Hier spricht man das reinste Spanisch(Castellano). Die 1498 gestiftete Universität ist eingegangen.T. hieß zur Römerzeit Toletum, war ein befestigter Ortder Karpetaner im tarrakonensischen Spanien, wurde späterrömische Kolonie, war schon frühzeitig durch seineStahlwarenfabrikation berühmt und zu der Zeit Cäsars einstarker Waffenplatz. Unter den Westgoten war es eine Zeitlang(576-711) Residenz der Könige und wurde bedeutendvergrößert. Unter der Herrschaft der Mauren (seit 714)bildete es längere Zeit ein eignes Reich. 1085 eroberte AlfonsVI. von Kastilien die Stadt und das Reich und machte erstere zuseiner Residenz. In der Folge war T. der Hauptsitz der Inquisition.Vgl. Gamero, Historia de la ciudad de T. (Tol. 1863).

2) Stadt im nordamerikan. Staat Ohio, am Maumee, 7 km oberhalbdessen Mündung in den Eriesee, hat stattliche Kirchen undSchulen, ein Irrenhaus, eine Besserungsanstalt, einstädtisches Gefängnis, großartige Industrie (Bauvon Dampfmaschinen, Eisenbahnwagen, Maschinen undlandwirtschaftlichen Geräten, Sägemühlen,Schreinerwerkstätten, Kornmühlen), lebhaften Handel,namentlich mit Getreide, und (1880) 50,137 Einw.

Tolentino, Stadt in der ital. Provinz Macerata, amChienti und am östlichen Abhang des Apennin, vonaltertümlicher Bauart, hat eine Brücke von 1268, einSeminar, eine technische Schule, Industrie in Leder,Eisenguß- und Wollwirkwaren und (188l) 4114 Einw. - T. istdas alte Tolentinum im Picenterland und merkwürdig durch denhier 19. Febr. 1797 zwischen Frankreich und Papst Pius VI.abgeschlossenen Frieden, in welchem letzterer Avignon undVenaissin, Bologna, Ferrara und die Romagna an ersteres abtrat,sowie durch den am 2. und 3. Mai 1815 erfochtenen Sieg derÖsterreicher unter Bianchi über die Neapolitaner unterMurat, infolge dessen letzterer den Thron von Neapel verlor.

Toleránz (lat.), Duldung, insbesonderereligiöse, welche den von der Staatskirche abweichendenGlaubensgenossen ungehinderte Religionsübung sichert, wie siez. B. innerhalb des Christentums gegen die Wiedertäufer,Unitarier, Deutschkatholiken, Freien Gemeinden, aber auch gegen dieBekenner andrer Religionen, in den christlichen Ländernnamentlich gegen die Juden, geübt wird. Früher wurden diestaats-, privat- und kirchenrechtlichen Verhältnisse solchertolerierten Bekenntnisse in den einzelnen Staaten oft durchbesondere Toleranzedikte (Toleranzpatente) geordnet, wie z. B. inPreußen in Ansehung der Freien Gemeinden durch dasToleranzedikt Friedrich Wilhelms IV. vom 30. März 1847. InÖsterreich wurde durch das Toleranzeditt Josephs II. von 1781den Protestanten Religionsfreiheit gewährt. - ImMünzwesen ist T. s. v. w. Remedium (s. d.).

Tolfa, Flecken in der ital. Provinz Rom, KreisCivitavecchia, hat Alaungruben (bei T. und bei dem nahegelegenenAllumiere), die, im l5. Jahrh. entdeckt, früher noch reichernErtrag lieferten, und (1881) 3103 Einw.

Tolima, 1) Staat der südamerikan. RepublikKolumbien, umfaßt 47,700 qkm (866,3 QM.) mit (1881) 230,891Einw. Das Land, vom obern Magdalenenstrom durchflossen und von denbeiden Hauptketten der Kordilleren Kolumbiens eingefaßt,gehört meist dem gemäßigten Klima an; das Thal istreich an Produkten (Tabak, Kakao, Zuckerrohr, Mais), die Viehzuchtbedeutend, der Bergbau aber trotz großen Reichtums an Gold,Silber, Kupfer etc. vernachlässigt. Hauptstadt ist Neiva.

2) Pik von T., vulkanischer Gipfel der mittlern Kordillere vonKolumbien, im NW. von Ibagué, 5584 m hoch, höchsterGipfel der Andes nördlich vom Äquator.

Toli-Monastir, türk. Stadt, s. Monastir 1).

Tolkemit, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Danzig,Landkreis Elbing, am Frischen Haff, hat eine kath. Kirche, einenHafen, Störfischerei, Kaviarbereitung, starken Drosselfang,Böttcherei, Töpferei, Schiffahrt und (1885) 2847Einw.

Toll, Karl, Graf von, russ. General, geb. 1778 zu Reval,trat 1796 in die russische Armee ein, machte 1799 Suworows Feldzugmit, kam 1805 in den Generalstab, focht bei Austerlitz, dann gegendie Türken, war 1812 Generalquartiermeister Kutusows, 1813Barclay de Tollys, ward auf dem Schlachtfeld von LeipzigGeneralleutnant, 1823 Generaladjutant des Kaisers und Chef desGeneralstabs der ersten Armee und 1825 General der Infanterie. Andem Feldzug von 1829 gegen die Türken nahm er als Chef desGeneralstabs den ruhmvollsten Anteil. Durch den Sieg 11. Juni beiKulewtscha erwarb er sich die Grafenwürde. Im polnischenFeldzug von 1831 stand er abermals als Stabschef dem GeneralDiebitsch zur Seite, übernahm nach dessen Tode dasinterimistische Kommando und leitete beim Sturm auf Warschau 7.Okt. nach Paskewitsch' Verwundung die Operationen des letztenentscheidenden Schlachttags. Hierauf ward er in den russischenReichsrat berufen und 1833 zum Oberdirigenten der Wasser- undWegekommunikationen und der öffentlichen Bauten ernannt. Erstarb 5. Mai 1842 in Petersburg. Vgl. Bernhardi,Denkwürdigkeiten aus dem Leben des Grafen von T. (2. Aufl.,Leipz. 1866, 4 Bde.).

Tollens, Henrik Caroluszoon, niederländ. Dichter,geb. 24. Sept. 1780 zu Rotterdam, ward

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Tollense - Tollwut.

Kaufmann, widmete sich daneben der Poesie, zog sich 1846 aufsein Landgut zu Rijswijk zurück, wo er 21. Okt. 1856 starb.Seine Erstlingsarbeiten waren mehrere Komödien und einbürgerliches Trauerspiel: "Konstanten", welche er jedochspäter nicht in seine Werke aufnehmen wollte. Daraufveröffentlichte er: "Idyllen en minnezangen" (1801-1805);"Gedichten" (1808-15, 3 Bde.); "Tafereel van de overwintering derNederlanders op Nova Zembla" (1816; deutsch, Amsterd. 1871);"Romanzen, balladen en legenden" (1818); "Nieuwe gedichten" (1821)und "Laatste gedichten" (1848-53). Eine Gesamtausgabe seiner Werkeerschien Leeuwarden 1876, 12. Bde. T. war eine Zeitlang derbeliebteste holländ. Dichter, vorzüglich desMittelstandes; 1860 ward ihm zu Rotterdam ein Standbilderrichtet.

Tollense, Nebenfluß der Peene, entspringt oberhalbPrillwitz in Mecklenburg-Strelitz, durchfließt denTollensesee (11 km lang, 2 km breit), tritt nach Pommern überund mündet bei Demmin; sie ist auf 45 km für kleineFahrzeuge schiffbar.

Tollgerste, s. v. w. Lolium temulentum.

Tollheit, s. v. w. Geisteskrankheit, besonders eine mitAufregungszuständen verbundene Form, daher Tollhaus, s. v. w.Irrenhaus; im engern Sinn ist T. s. v. w. Tollwut.

Tollkerbel, f. Conium.

Tollkirsche, s. Atropa.

Tollkrankheit (Darmgicht), Bienenkrankheit, bei der jungeBienen, welche eben erst die Zelle verlassen haben, von den Wabenauf das Bodenbrett des Stockes herabfallen, sich zum Fluglochherauswälzen und dann auf der Erde wie rasend umherlaufen, bissie unter krampfhaften Zuckungen sterben. Verursacht wird die T.durch schädliche Bestandteile der genossenen Nahrung. Bemerktman der T. ähnliche Erscheinungen an den Flugbienen, so liegtoffenbar Vergiftung durch gewissenlose Menschen vor; aus Vorsichtesse man nicht Honig aus Stöcken, an denen man T. wahrnimmt.Durch Füttern gesunden Honigs mildert und beseitigt man dasÜbel. Der T. nicht unähnlich ist die Flugunfähigkeit(Maikrankheit), bei welcher die Trachtbienen aus dem Fluglochherauskommen, auf die Erde niederstürzen, wo sie wie irrsinnigumherlaufen, bis sie ermattet liegen bleiben und verenden. Ursachedieser Krankheit ist ein Schimmelpilz (Mucor Mucedo) in denEingeweiden der Bienen. Füttert man gesunden Honig, dem maneinige Tropfen Saticylspiritus beimischte, so beseitigt man dieKrankheit nach und nach.

Tollkraut, s. Datura und Alropa.

Tollkühnheit unterscheidet sich von Feigheit (s.d.), welche die drohende Gefahr überschätzt, vonTapferkeit (s. d.), welche dieselbe richtig, und von Verwegenheit(s. d.), welche sie unterschätzt, dadurch, daß sie jenegar nicht schätzt, sondern ihr blind entgegengeht.

Tollrübe, s. Bryonia.

Tollwurm (Lyssa), die vom Zungenbeinkörper in dieZunge des Hundes sich fortsetzende Bandmasse, welche früher,besonders von Jägern, als Ursache der Tollkrankheit angesehenund deshalb jungen Hunden häufig ausgeschnitten wurde.

Tollwut (Wutkrankheit, Hundswut, Wasserscheu, Lyssa,Rabies canina), eine Krankheit, welche vermutlich ursprünglichbei Hunden, vielleicht auch bei Wölfen und Füchsenentsteht, gewöhnlich aber infolge von Ansteckung zum Ausbruchgelangt. Sie überträgt sich auf Menschen, alleSäugetiere und Vögel, wird indes fastausschließlich durch Hunde, bisweilen auch durch Katzen undzwar durch Biß verbreitet, während eine Ansteckung durchandre Tiere weniger zu fürchten ist, da diese in der Krankheitnicht beißen. Die T. der Hunde kommt in zwei Formen, alsrasende und stille Wut, vor; nicht selten geht die erste in diezweite über, meist aber besteht die eine Form des Leidenswährend der ganzen Dauer desselben. Beide Formen sindgleichmäßig ansteckend, und die eine kann die andrehervorrufen. Die T. beginnt mit verändertem Benehmen derHunde; die Tiere werden mürrisch, hastig, weniger folgsam undverkriechen sich oft. Der Appetit ist vermindert, und bald wird dieAufnahme von Nahrungsmitteln ganz verschmäht. Dagegen zeigtsich gewöhnlich eine Neigung, ungenießbareGegenstände zu benagen und selbst herabzuschlucken. Auchplätschern die wutkranken Hunde zuweilen mit der Zunge inkaltem Wasser. Die Ansicht, daß die Hunde in der T. Scheu vordem Wasser hätten, ist unrichtig. Die Neigung, zubeißen, ist zunächst am meisten gegen andre Hunde undgegen Katzen gerichtet. Nicht selten werden aber auchgrößere Haustiere und Menschen schon in der ersten Zeitder Krankheit angegriffen. Im weitern Verlauf der T. streben dieHunde, sich aus ihrem etwanigen Gewahrsam zu befreien und von derKette loszumachen. Sie laufen ohne erkennbare Veranlassung fort,schweifen nicht selten in entfernte Gegenden, kehren aber zuweilennoch an demselben oder am folgenden Tag wieder zurück. Sieverkriechen sich dann an abgelegenen Orten, um nach kurzer Ruheabermals zu entlaufen. Gegen ihnen bekannte Personen benehmen siesich oft freundlich, während sie fremde Personen und Tiereanfallen. Sie beißen gewöhnlich Menschen und Tiere nurein- oder einigemal, worauf sie weiterlaufen. Zuweilen ist aber dieBeißwut so groß, daß der Hund auf alles, was ihmin den Weg kommt, losfährt und selbst in lebloseGegenstände sich mit den Zähnen einige Zeit langfestbeißt. Die meisten wutkranken Hunde sind schwerabzuwehren, weil sie sich gegen die gewöhnlichen Abwehrmittelunempfindlich zeigen. Die Stimme ändert sich zu einemMittelding zwischen Bellen und Heulen. Es tritt Schwäche undLähmung des Unterkiefers und des Hinterteils sowieallmählich zunehmende Abmagerung des Körpers ein. Aus demoffen stehenden Maul fließt zäher Schleim. Die Hundeziehen sich nach dunkeln Orten zurück oder verkriechen sich inihren Behältern. Die Lähmung des Körpers nimmt zu,u. der Tod erfolgt in der Regel nach 5 -7 Tagen. Über elf Tagesah man bis jetzt keinen Hund bei T. leben bleiben. Bei derrasenden Wut tritt unter den vorstehenden Erscheinungen besondershervor: die große Unruhe, die Neigung zum öfternEntlaufen, die große Beißsucht, das häufigeeigentümliche Bellen und die kürzere Dauer der Krankheit.Bei der stillem Wut sind sehr bemerkenswert: die Lähmung(Herabhängen) des Unterkiefers, Schwäche und Lähmungdes Hinterteils, mehr ruhiges Verhalten, geringere Beißsucht,das Verkriechen an dunkeln Orten und im allgemeinen einelängere Krankheitsdauer. Die Meinung, daß tolle Hundeimmer geradeaus laufen, den Schwanz hängen lassen oder ihnzwischen die Beine ziehen, und daß bei ihnen Speichel aus demMaul abfließt, ist irrig. Erst später, wenn dieKreuzlähmung sich einstellt, hängt der Schwanz schlaffherab, das Maul aber ist bei tollen Hunden mehr trocken als feucht.Das eigentümlichste und wichtigste Zeichen der T. ist dieVeränderung der Stimme und der Art des Bellens. Die Tönesind bald höher, bald tiefer als im gesunden Zustand, immeretwas rauh und heiser, und der erste Anschlag des Bellens gehtallemal in ein kurzes Geheul über.

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Tollwut.

Die Ursachen der primären Erzeugung der T. sind nichtbekannt; ist eine solche überhaupt möglich, so erfolgtsie jedenfalls sehr selten, sekundär entsteht die Krankheitdurch Einimpfung des Speichels, an welchen das Kontagiumhauptsächlich gebunden ist, in die Bißwunde. Bei hoherEntwickelung der Krankheit findet sich das Kontagium aber auch imBlut, Harn und andern Säften des Hundes. Die Verdauungsorganeund die unverletzte Haut scheinen keine besondereEmpfänglichkeit für dasselbe zu besitzen. Das Kontagiumist fix, hängt sich auch an Instrumente, Kleidungsstückeetc. an und behält einige Zeit seine Wirksamkeit. BeiWiederkäuern und Schweinen entsteht T. immer nur durch denBiß eines tollen Hundes, Fuchses oder andernfleischfressenden Tiers, das Kontagium kann aber auch vonPflanzenfressern auf andre Tiere und auf den Menschenübertragen werden. Der Ausbruch der Krankheit erfolgt nach demBiß bei Hunden zwischen der 4. und 6. Woche, selten nach 3-6Tagen oder nach 8-16 Wochen, ganz ausnahmsweise noch später.Nicht jeder Biß eines tollen Hundes erzeugt T., besondersdann nicht, wenn die Zähne durch den Pelz des gebissenen Tiersoder durch dicke Kleider des Menschen abgewischt, von Speichelbefreit werden. Zuweilen wird auch das Kontagium durch reichlichfließendes Blut fortgespült, oder es fehlt bei dembetreffenden Individuum die Disposition. Die Behandlung wutkrankerHunde und Katzen ist wegen der damit verbundenen Gefahr in denmeisten Ländern gesetzlich verboten, übrigens aucherfolglos. Es kommt hauptsächlich darauf an, die Krankheit undihre Folgen zu verhüten. Dies geschieht am wirksamsten durchmöglichst hohe Hundesteuer. Nach dem deutschenViehseuchengesetz ist von jedem Fall von T. der Polizei sofortAnzeige zu machen. Hunde, welche der T. verdächtig sind, sindsofort zu töten oder bis zu polizeilichem Einschreitenabgesondert in einem sichern Behältnis einzusperren.Letzteres, soweit es ohne Gefahr geschehen kann, besonders dann,wenn der verdächtige oder an der T. erkrankte Hund einenMenschen oder ein Tier gebissen hat. Ist die T. festgestellt, soist der Hund sofort zu töten, ebenso alle Hunde und Katzen,welche von demselben gebissen worden sind. Ist ein erkrankter oderverdächtiger Hund frei umhergelaufen, so ist die Festlegungaller Hunde des gefährdeten Bezirks für drei Monateanzuordnen. Dasselbe gilt für Katzen. Kadaver toller Hundesind vorsichtig an abgelegenem Ort mindestens 2 m tief zuvergraben. Die Berührung mit der bloßen oder gar mitverletzter Hand ist sorgfältig zu vermeiden. Alles, was mitdem tollen Hund in Berührung gekommen war oder von ihmbesudelt wurde, ist zu verbrennen oder auszuglühen.Größere Massen von Geifer, Blut etc.übergießt man mit starker Seifensiederlauge,Chlorkalklösung oder Schwefelsäure. Die Hundehütteist zu verbrennen, der Stall gründlich zu reinigen und zudesinfizieren, und niemals darf vor Ablauf von zwölf Wochenein neuer Hund in denselben gebracht werden. Pferde, Rinder,Schafe, Ziegen, Schweine, Vögel, die von einem wutkranken Tiergebissen wurden, sind sobald wie möglich tierärztlicherBehandlung und zugleich einer Beaufsichtigung zu unterwerfen. Kommtdie Krankheit zum Ausbruch, so ist der Polizei Anzeige zuerstatten, welche das Tier töten läßt. Die Kadaversind wie die der Hunde zu behandeln, sie sind ohne Abhäutungtief zu vergraben oder durch Chemikalien, resp. hohe Hitzegradeunschädlich zu machen. Ein Ersatz des Wertes der aufpolizeiliche Anordnung getöteten Tiere findet nicht statt. DieGesetzgeber haben sich gegenüber dieser Frage von demGesichtspunkt leiten lassen, daß die T. nach ihrem Ausbruchnur wenige Tage besteht, stets zum Tod führt und deshalb nichtwie Rotz und Lungenseuche längere Zeit verheimlicht werdenkann. In Preußen erkrankten und fielen an T. oder wurdendeshalb getötet 1884-85: 352, 1885-86: 326, 1886-87: 386Hunde. Die steigende Zahl der getöteten Hunde, welche mittollkranken in nähere Beziehung gekommen oder von solchengebissen worden waren (759, 822, 1247), zeigt, daß dieseMaßregel eine ihrer Wichtigkeit entsprechende Beachtunggesunden hat. Von den tollwutkranken ortsangehörigen Hundenentfällt ein so großer und beständig steigenderProzentsatz (bis 86,79 Proz.) auf die östlichen Provinzen, undvon diesen ist wieder ein so großer Teil von herrenlosumherschweifenden tollwutkranken Hunden gebissen worden, daßman wohl annehmen darf, die steigende Verbreitung der T. in denöstlichen preußischen Provinzen sei auf stets erneuteEinschleppung aus Rußland zurückzuführen.Jedenfalls aber ist der Verbreitung der Seuche in diesen Provinzenförderlich, daß hier häufiger als anderwärtsviele nutzlose, schlecht gepflegte und wenig beaufsichtigte Hundegehalten werden. Ferner sind von 1884 bis 1887 in Preußen anT. erkrankt und gefallen, bez. getötet worden: 23 Pferde, 348Rinder, 80 Schafe und 52 Schweine.

Beim Menschen entsteht die T. ebenfalls nur nach dem Bißeines wutkranken Fleischfressers (Hund, Wolf, Fuchs, Katze) undzwar nach 2-6 Wochen, auch wohl nach einigen Monaten, so daßdie Wunde längst geheilt sein kann, wenn die Krankheitausbricht. Im ersten Stadium derselben sind die Kranken sehrunruhig, ängstlich und matt, sie verlieren den Appetit, klagenüber Übelkeit und Gliederschmerzen, und es stellt sichleichtes Fieber mit Durst und Verstopfung ein. Eitert die Wundenoch, so nimmt sie ein häßliches Ansehen an; war siebereits geheilt, so wird sie wieder schmerzhaft, und dieSchmerzenziehen sich nach dem Stamm hin. Bald entsteht Steifigkeitin Hals und Nacken, namentlich beim Schlingen; der Kopf wirdeingenommen, das Gesicht blaß, der Blick matt, der Puls vollund beschleunigt. Allmählich oder plötzlich entwickeltsich nun das zweite Stadium mit immer heftigern und häufigernAnfällen mit krampfhaften Bewegungen, großer Angst,Verzweiflung, Wut und meist nur geringer Störung desBewußtseins. Die Kranken haben das Bedürfnis zubeißen, und manche laufen unruhig hin und her. Sie habenheftigen Durst, aber Widerwillen gegen jedes Getränk. Mituntertritt schon beim Anblick des Getränks oder doch nachGenuß von wenig Wasser das Gefühl heftigerZusammenschnürung im Hals oder ein Wutanfall ein, währendfeste Speisen noch geschlungen werden können. Im drittenStadium, etwa 1-2 Tage später, tritt Lähmung ein, derSpeichel läuft aus dem Mund oder in den Schlund und erregtErstickungsnot, der Atem wird schnell und röchelnd, der Pulsklein, die Stimme rauh und heiser, und der Tod erfolgt in einemAnfall oder ruhig nach einem solchen. Dies Stadium dauert nurwenige Stunden, und so verläuft die ganze Krankheit in 3Tagen, oft in 24 Stunden. Die Sektion ergibt nichts Besonderes, nurdie Schwellung der Milz und der lymphatischen Gebilde istbemerkenswert. Die Prognose der ausgebrochenen T. ist ganzungünstig, dagegen sind überhaupt nur wenige Bisse einestollen Hundes ansteckend, die Mehrzahl der Gebissenen erkranktnicht. In Preußen starben 1884-87 an T.

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Tolmezzo - Tolstoi.

sechs Personen. Die Behandlung muß mit energischemAusblutenlassen der Wunde durch tiefe Einschnitte und aufgesetzteSchröpfköpfe, Ätzungen der Wunde mit Alkalien undrauchender Salpetersäure beginnen. Kleinere, vielfachzerfleischte Glieder sind zu amputieren. Außerdem ist eineumsichtige, beruhigende psychische Behandlung unendlich wichtigerals alle Arzneien. In der Diät ändere man wenig und lassenur die bei jeder Wunde schädlichen Dinge vermeiden. Gegen dieKrankheit selbst sind allerlei Mittel empfohlen worden, die sichaber als nutzlos erwiesen haben. Man beschränkt sich daher aufMorphiumeinspritzungen und Chloroformeinatmungen, sucht beiWutanfällen zu verhindern, daß der Kranke sich oderandern schaden kann, und wendet dabei möglichst geringen Zwangan. Alles, was den Kranken erregen könnte, namentlich auch dasAufdringen von Flüssigkeiten, ist zu vermeiden. Als Ersatz desGetränks sind nasse Brotkrume, Apfelsinenscheiben,Eisstückchen, Klystiere zu empfehlen, doch nur dann, wenn siekeine Krämpfe erregen. In neuerer Zeit hat Pasteur auftheoretische Annahmen hin ein Impfverfahren ersonnen, welches dieEmpfänglichkeit für das unbekannte Wutgift selbst beischon gebissenen Personen beseitigen soll und bei Tieren, auch inmehreren Fällen bei Menschen erprobt wurde. Er arbeitet mitdem getrockneten Rückenmark tollwutkranker Kaninchen undbenutzt dies zu präventiven Impfungen. Dabei erreichte er,daß ein geschütztes Tier ohne Schaden mit solchemfrischen Rückenmark geimpft werden konnte, welches beiungeschützten Tieren in sieben Tagen T. erzeugte. Thatsacheist, daß alle Personen, welche Pasteur geimpft hat, dieImpfung ohne Schaden ertrugen, und daß keine derselben,obwohl sie von verdächtigen Hunden gebissen worden waren, anT. erkrankte. Ein Urteil über den wahren Wert dieser Impfungenläßt sich aber bis jetzt nicht fällen, denn erstensist die Methode nicht frei von erheblichen Einwänden, fernerist bei mehreren der geimpften Personen sehr zweifelhaft, ob derHund, welcher sie biß, wirklich an T. litt, endlich lehrt dieErfahrung, daß viele Menschen, welche von unzweifelhaftwutkranken Tieren gebissen wurden, niemals an T. ertranken. Vgl.Johnen, Die Wutkrankheit (Düren 1874); Zürn, DieWutkrankheit der Hunde (Leipz. 1876); Rueff, Die Hundswut (Stuttg.1876); Fleischer, Die Tollwutkrankheit (Elbing 1887); Reder, DieHundswut (in der "Deutschen Chirurgie", Stuttg. 1879); Billings,Fourteen days with Pasteur (New York 1886).

Tolmezzo, Distriktshauptstadt in der ital. Provinz Udine,im Gebirge nahe dem Tagliamento, mit Ringmauern, stattlicherKirche, altem Schloß und (1881) 1658 Einw.; einer derregenreichsten Orte Europas (jährlich 2437 mm).

Tolna, ungar. Komitat, am rechten Donauufer, wirdsüdlich vom Komitat Baranya, westlich von Sümeg,nördlich von Veszprim und Weißenburg und östlichvon der Donau begrenzt, ist 3643 qkm (66,17 QM.) groß, ebenund sehr fruchtbar, im W. bergig und hügelig, in denöstlichen Teilen dagegen morastig. Das Komitat, welches derSárviz (mit dem Sárviz- oder Palatinalkanal) undseine Nebenslüsse Kapos und Sió durchströmen,erzeugt viel Getreide, Wein, Obst, Tabak etc. Ausgedehnte Wiesenund Hutweiden begünstigen die Viehzucht; in der Donau wirdbeträchtlicher Hausenfang betrieben. Die Einwohner (1881:234,643) sind meist Ungarn und katholisch. Sitz des Komitats istSzegszárd. Der Markt T., an der Donau, hat ein Kastell, eineDampfschiffstation und (1881) 7723 Einw. Vgl. "Beschreibung derHerrschaft T." (Wien 1885).

Tolosa, 1) Bezirksstadt in der span. Provinz Guipuzcoa,an der Bahnlinie Madrid-Irun, mit Papier-, Waffen- undWollzeugfabriken, Zink- und Bleigruben und (1878) 7488 Einw. -

2) Stadt, s. Toulouse.

Tölpel, Pflanze, s. v. w. Raps.

Tölpel (Sula Briss.), Gattung aus der Ordnung derSchwimmvögel und der Familie der T. (Sulidae), schlank gebauteVögel mit langem, geradem, an den Seiten komprimiertem, sehrstarkem und in eine wenig herabgekrümmte Spitze ausgehendemSchnabel, sehr langen Flügeln, langem, keilförmigemSchwanz, niedrigen, stämmigen Füßen, nacktemGesicht und nackter Kehle. Der T. (weißer Seerabe,Bassansgans, Sula bassana Gray), 98 cm lang, 190 cm breit, mitAusnahme der braunschwarzen Schwingen erster Ordnung weiß,auf Oberkopf und Hinterhals gelblich überflogen, mit gelbenAugen, bläulichem Schnabel, grünen Füßen undschwarzer, nackter Kehlhaut, bewohnt alle nördlichen Meere vomWendekreis bis zum 70.° nördl. Br., kommt vereinzelt indie Nähe Norddeutschlands, Hollands und Frankreichs, ist aberam häufigsten auf Island, den Färöern, Orkaden undHebriden, an der amerikanischen Küste und im nördlichenTeil des Stillen Ozeans, fliegt vortrefflich, schwimmt wenig, ruhtnachts auf Felsen an der Küste, ist auf dem Land sehrunbeholfen und fast hilflos. Andern Vögeln gegenüber ister zänkisch und bissig. Er erbeutet seine Nahrung, indem erauf das Wasser herabstürzt und dabei taucht. Die T. sammelnsich zur Brutzeit auf Inseln in unzähligen Scharen, nistendicht nebeneinander und legen nur je ein weißes Ei. DieJungen werden gegessen, nach Edinburg auf den Markt gebracht, aucheingesalzen.

Tolstoi, 1) Peter Andrejewitsch, Graf, hervorragenderDiplomat in der Zeit Peters d. Gr., geb. 1645, hielt sich, um dasSeewesen zu studieren, 1698 in Italien auf, wirkte als Gesandterlängere Zeit in der Türkei, setzte 1717 die Auslieferungdes auf österreichisches Gebiet geflüchteten ZarewitschAlexei durch und nahm während der Regierung Katharinas I. dieerste Stelle neben Menschikow ein, dessen Opfer er wurde; 1727geheimer Umtriebe angeklagt, wurde er in den äußerstenNorden des europäischen Roland verbannt, wo er 1729 starb.

2) Peter Alexandrowitsch, Graf, russ. Feldherr und Diplomat,geb. 1761, focht unter Suworow gegen die Türken und Polen,befehligte 1805 das russische Landungskorps in Norddeutschland,führte 1813 ein Korps in Bennigsens Armee, nahm an derBelagerung von Dresden teil und erzwang dann HamburgsÜbergabe. Zum General der Infanterie ernannt, erhielt er nachNikolaus' Thronbesteigung die Leitung der Militärkolonien und1831 den Oberbefehl über das Reserveheer, mit welchem er diePolen schlug. Er starb 1844 in Moskau als Präsident desDepartements für die Militärangelegenheiten imReichsrat.

3) Alexei Konstantinowitsch, Graf, der bedeutendste russ.Dramatiker der Neuzeit, zugleich ausgezeichneter Lyriker undEpiker, geb. 24. Aug. 1818 zu St. Petersburg, verbrachte seineJugend meist in Kleinrußland, wo ihn die schöne Natursowie die eigentümlichen Sitten und die reiche historischeVergangenheit des Volkes mächtig anregten. Schon als Kindlernte er, von seinem Oheim A. Perowskij bei seinen Reisen insAusland stets mitgenommen, Welt und Menschen kennen und hatte sichunter anderm auch des Wohlgefallens Goethes zu erfreuen, derdem

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Tolteken - Tolubalsam.

phantasievollen Knaben eine große Zukunft prophezeite.Nach Beendigung der häuslichen Erziehung studierte er inMoskau und übernahm nach Vollendung seiner Studien einenkleinen Posten bei einer russischen Gesandtschaft in Deutschland.Die diplomatische Karriere sagte ihm jedoch nicht zu; schon nachkurzer Zeit jenen Posten aufgebend, begab er sich auf Reisen nachDeutschland, Frankreich und Italien und begann nach seinerRückkehr seine litterarische Thätigkeit. Seine erstenVersuche bestanden in lyrischen Gedichten, die durch das in ihnenausgesprochene tiefe Gefühl, durch die originellen Wendungen,die Frische und Schönheit der Naturschilderungen und dieinnige Liebe zum Volk große Beachtung fanden. Dem allgemeinenpatriotischen Aufschwung folgend, trat T. während desKrimkriegs 1853-56 in das aktive Heer, zog sich aber sofort nachBeendigung des Feldzugs wieder ins Privatleben zurück, um aufseinen Gütern in der Nähe von St. Petersburg und imGouvernement Tschernigow ganz der Dichtung zu leben. Er starb inder Blüte seiner Kraft 28. Sept. 1875. "T. war eingroßer, originaler Dichter, eine tief humane Natur",heißt es von ihm in einem von Turgenjew geschriebenenNekrolog. Neben vielen lyrischen Gedichten (in Auswahl mit denenNekrassows deutsch von Jessen, Petersb. 1881), von denen manche inglücklichster Weise den Ton des Volksliedes treffen,müssen in erster Reihe genannt werden die epischenErzählungen: "Die Sünderin" (1858) u. "Der Drache"(1875); der vortreffliche historische Roman "FürstSerebrennyi" (deutsch, Berl. 1882), das Drama "Don Juan", eineinteressante, durchaus originale Variation des bekannten Stoffes,und die dramatische Trilogie: "Der Tod Iwans des Schrecklichen","Zar Fjodor Joannowitsch" u. "Zar Boris" (1876). Einevollständige Sammlung seiner lyrischen und epischen Dichtungenerschien 1878.

4) Leo Nikolajewitsch, Graf, russ. Romanschriftsteller, geb. 28.Aug. (a. St.) 1828 im Gouvernement Tula auf der Besitzung seinesVaters, Jasnaja Poljana, erhielt daselbst eine gute häuslicheErziehung und bezog 1843 die Universität Kasan, um dortorientalische Sprachen zu studieren. Es zog ihn jedoch wiederzurück in die Einsamkeit und Stille des Dorfs, so daß erdie Universität, die Studien aufgebend, bald verließ;dort bildete er sich als Autodidakt weiter aus. Bei einer Reise inden Kaukasus fand er am militärischen Leben Gefallen und tratplötzlich 1851 in das Heer ein. Man nahm ihn als Offizier indie 4. Batterie der 20. Artilleriebrigade am Terek auf, wo er biszum Beginn des türkischen Kriegs (1853) blieb. Währenddesselben befand er sich bei der Donauarmee des FürstenGortschakow, beteiligte sich am Gefecht an der Tschernaja underhielt 1855 das Kommando über eine Gebirgsbatterie. NachBeendigung des Kriegs nahm er seinen Abschied, hielt sich mehrereJahre abwechselnd in St. Petersburg und Moskau auf und zog sichendlich 1861 wieder auf sein väterliches Gut Jasnaja Poljanazurück, wo er seitdem in größterZurückgezogenheit lebte. Durch seine beiden großartigenRomane: "Krieg und Frieden" (1865-68, 4 Bde.) und "Anna Karenin"(1875-78, 3 Bde.), von denen der erstere die Zeit derNapoleonischen Kriege behandelt, der andre in der russischenGegenwart spielt, hat sich T. einen Ehrenplatz in der modernenrussischen Litteratur erworben. Er ist ein vortrefflicherErzähler, der die echte epische Ruhe besitzt und die Sprachemeisterhaft handhabt. Außer den genannten Romanen sind alsbedeutsame Werke noch zu verzeichnen (seit Anfang der 50er Jahre):"Kindheit und Jugend", "Die Kosaken", "Kriegsgeschichten","Sebastopoler Erzählungen" (während des Kriegsgeschrieben), "Polikuschka", "Familienglück"; die Skizze "DerTod des Iwan Iljitsch" (deutsch in "Tolstois neueErzählungen", Leipz. 1887); das dramatische Sittengemälde"Die Macht der Finsternis" (deutsch von Scholz, Berl. 1887) u. a.In den letzten Jahren ist T. mehr und mehr einem religiösenMystizismus anheimgefallen, wie z. B. sein Aufsehen erregendes Buch"Worin besteht mein Glaube" (deutsch von Sophie Behr, Leipz. 1885)zeigt. Gesamtausgaben seiner meist auch ins Deutscheübersetzten Werke erschienen 1880 und 1887. Sonst ist T. nochauf dem Gebiet der Volkspädagogik, auch litterarisch,thätig gewesen.

5) Dimitri Andrejewitsch, Graf, russ. Staatsmann, geb. 1823,ward beim Marineministerium angestellt, 1865 Oberprokurator desheiligen Synod und 1866 Minister der Volksaufklärung. Erzeigte sich als ein fanatischer Vorkämpfer des orthodoxenRussentums. Die mitunter gewaltsame Bekehrung derGriechisch-Unierten zur russischen Staatskirche, die Unterordnungder Katholiken Rußlands unter das römisch-katholischeKollegium in Petersburg, die Russifizierung der polnischen Schulenwaren sein Werk. Im Unterrichtswesen begünstigte er denKlassizismus, machte sich aber durch seine Feindschaft gegen dieVolksschule und seine kleinliche Bevormundung derUniversitäten verhaßt und erhielt daher 1880 unterLoris-Melikow seine Entladung. Auf Betrieb Katkows ernannte ihnKaiser Alexander 1882 zum Präsidenten der Akademie derWissenschaften und 1883 zum Minister des Innern. Er leitete diesAmt ganz im Geiste des Zaren streng reaktionär und starb 7.Mai 1889 in Petersburg. Er schrieb eine Geschichte der FinanzenRußlands bis Katharina II. (1847) und "Le catholicisme romainen Russie" (1863-64); von dem letztern Werk erschien 1877 einerussische Bearbeitung.

Tolteken (Tolteca), amerikan. Volksstamm, wanderte im 4.oder 5. Jahrh. von einem nördlichern Land, Huehuetlapallan,aus in Anahuac ein und gründete hier um die Mitte des 7.Jahrh. die Stadt Tollan (Tula). Durch Eroberung und friedlicheÜbereinkunft erweiterten die T. bald ihr Gebiet und gelangtenauf eine ziemlich hohe Stufe der Kultur, welche im allgemeinen dasGepräge der spätern aztekischen trägt, und vonwelcher großartige Bauten in Anahuac noch Kunde geben. Im 4.Jahrh. seines Bestehens stand ihr Reich auf der höchsten Stufeseiner Macht, seitdem sing es infolge unglücklicher Kriege undungünstiger Naturereignisse an zu sinken. Unter dem KönigTopiltzin (Mitte des 11. Jahrh.) wurde das Land durch Hungersnotund Krankheit entvölkert, und die übriggebliebenensiedelten sich teils in benachbarten Landschaften an, teilsverschmolzen sie mit den Chichimeken, die 100 Jahre späterhier einwanderten, bis die Azteken (s. d.) an ihre Stelle traten.Vgl. Valentini, The Olmecas and the Tultecas (Worcester 1883).

Tolú, Stadt im Staat Bolivar der südamerikan.Republik Kolumbien, am Golfo de Morrosquillo, mit verfallenenFestungswerken, Aussuhr von Palmöl, Getreide, Holz, Tolubalsamund (1870) 3013 Einw.

Tolubalsam (Opobalsam), harzig-balsamische Substanz,welche von dem in Südamerika heimischen Baum Myroxylontoluifera H. B. Kth. aus Einschnitten in den Stamm gewonnen wird,ist srisch terpentinartig, braungelb, durchsichtig, erstarrt mitder Zeit kristallinisch und gibt dann ein gelbliches Pulver. Erriecht feiner als Perubalsam, schmeckt

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Toluca - Tomek.

aromatisch, wenig kratzend, löst sich in Alkohol undÄther und besteht aus einem Kohlenwasserstoff, Tolen, Harzen,Benzoesäure und Zimtsäure. Man benutzt den T. alsRäuchermittel und zur Bereitung eines aromatischen Sirups. DerT. wurde zuerst durch Monardes bekannt, scheint aber noch langeeine Seltenheit geblieben zu sein und findet sich erst im 17.Jahrh. in deutschen Apothekertaxen.

Tolúca (Toloccan), Hauptstadt des mexikan. StaatsMexiko, 2680 m ü. M. gelegen, hat eine schöne Kathedrale,Theater, höhere Schule, Seifen-, Schminke- undKerzenfabrikation, bedeutende Schweinezucht, Handel mitWürsten und Schinken und (1880) 11,376 Einw. Südwestlichdavon liegt der 4570 m hohe Nevado de T. (Xinantecatl), einausgebrannter Vulkan mit einem Kratersee in der Höhe von 4090m.

Toluidin, s. Toluol.

Toluidinblau, s. Anilin.

Toluifera, s. Myroxylon.

Toluol (Methylbenzol, Benzylwasserstoff) C7H8 findet sichim leichten Steinkohlenteeröl und wird daraus durchfraktionierte Destillation gewonnen, entsteht auch bei trocknerDestillation des Kampfers, Tolubalsams, Drachenbluts etc., beiBehandlung eines Gemisches von Monobrombenzol und Methylbromürmit Natrium etc. Das aus Steinkohlenteer gewonnene T. des Handelsist ein Gemisch von Benzol und T. in Verhältnissen, wie sieden Zwecken der Industrie entsprechen. Reines T. bildet einefarblose, dem Benzol sehr ähnliche Flüssigkeit vom spez.Gew. 0,882, riecht angenehm aromatisch, löst sich nicht inWasser, wenig in Alkohol, leicht in Äther, erstarrt noch nichtbei -20°, siedet bei 111° und brennt mit leuchtenderFlamme; mit Chromsäure liefert es Benzoesäure, mitkonzentrierter Salpetersäure zwei isomere NitrotoluoleC7H7NO2, ein kristallisierbares (Paranitrotoluol), welches bei54° schmilzt und bei 237° siedet, und ein flüssiges(Orthonitrotoluol) vom spez. Gew. 1,163, welches bei 227°siedet und nach Bittermandelöl riecht. Bei Behandlung mitreduzierenden Substanzen liefert das Gemisch der Nitrotoluole zweiToluidine C7H7.NH2, von welchen das Paratoluidin farblose Kristallebildet, bei 45° schmilzt und bei 198° siedet, währenddas flüssige Orthotoluidin (Pseudotoluidin) vom spez. Gew. 1,0nicht bei -20° erstarrt und bei 199° siedet. Dies Toluidinwird durch Chlorkalklösung violett gefärbt, ersteresnicht. Die Toluidine entsprechen dem Anilin und verhalten sichdemselben sehr ähnlich, bilden namentlich auch mit SäurenSalze. Aus salzsaurem Orthotoluidin scheidet Eisenchlorid einenblauen Körper (Toluidinblau) ab. Die Toluidine spielen einewichtige Rolle bei der Darstellung der Anilinfarben (vgl. Anilin),das T. ist der Ausgangspunkt für die Darstellung vielerVerbindungen, z. B. der Benzoesäure, des künstlichenIndigos etc.

Tölz, Flecken und Bezirksamtshauptort im bayr.Regierungsbezirk Oberbayern, am Austritt der Isar aus den Alpen undan der Linie Holzkirchen-T. der Bayrischen Staatsbahn, 671 mü. M., hat eine evangelische und 4 kath. Kirchen, einFranziskanerkloster, ein Kriegerdenkmal zur Erinnerung an den Siegder deutschen Landsknechte bei Pavia (1525), deren FührerGeorg Frundsberg und Kaspar Winzerer in T. geboren waren,elektrische Beleuchtung, ein Amtsgericht, Holzhandel,Flößerei, Kreidebrüche, Zementfabrikation,Ziegelbrennerei und (1885) 3796 Einw. Dabei das Bad Krankenheil mitmehreren jod- und schwefelhaltigen, doppeltkohlensaurenNatronquellen von 7,5-9° C., welche besonders gegenskrofulöse Leiden, Anschwellungen der Leber und Milz,chronische Gebärmutterentzündung, chronische Katarrhe derNase, des Rachens und des Kehlkopfes, Leiden der Harnwerkzeuge undchronische Hautkrankheiten empfohlen werden. Vgl. Höfler, BadKrankenheil zu T. (2. Aufl., Freiburg 1889); Derselbe, Führervon T. und Umgebung (5. Aufl., Münch. 1886); Letzel, DerKurgast von Krankenheil (Tölz 1888).

Tom., Abkürzung für Tomus (s. d.).

Tomahawk (spr. -hahk), die Streitaxt der nord-amerikan.Indianer, gilt als Symbol des Kriegs; daher den T. begraben, s. v.w. Frieden halten.

Toman (Tomaund, Tomond), pers. Goldmünze,ursprünglich dem Dukaten gleich, wird in 10 Kran à 2Panabat à 10 Schahi (4 Schahi = 1 Abassi) eingeteilt undenthält gesetzmäßig 3,376 g fein Gold im Wert von9,419 Mk.

Tomaschek, Johann Wenzel, Musiklehrer und Kompon ist,geb. 17. April 1774 zu Skutsch in Böhmen, erhielt den erstenViolin- und Gesangunterricht in Chrudim, besuchte dann die Schuledes Klosters Iglau und bezog die Universität Prag, um dieRechte zu studieren, wandte sich aber bald ganz der Musik zu undwurde, nachdem er sich durch eingehende theoretische Studienweitergebildet, der angesehenste Musiklehrer Prags. Schülervon ihm sind: Dreyschock, Kittel, Schulhoff u. a. T. war auch einfleißiger und gediegener Komponist; im Druck erschienen vonihm eine Orchestermesse, Kantaten, Lieder, eine Symphonie, einKlavierkonzert, ein Streichquartett, ein Trio, fünfKlaviersonaten und andre Klavierstücke. Er starb 3. April 1850in Prag.

Tomaschow, 1) Stadt im russisch-poln. GouvernementPetrokow, an der Pilitza und der Bahnlinie Koluszki-Ostrowez, hateine protestantische und eine kath. Kirche, viele Tuchfabriken und(1885) 16,349 Einw. -

2) Kreisstadt im russisch-poln. Gouvernement Lublin, mitPorzellanfabrik, regem Grenzverkehr mit Österreich und (1885)5784 Einw.

Tomate, s. Lycopersicum.

Tombak, s. Messing; weißer T., s. v. w.Weißkupfer.

Tombara, s. Neubritannia-Archipel, S. 70.

Tombigbee River (spr. tombiggbi riwwer), Fluß imnordamerikan. Staat Alabama, vereinigt sich nach einem Laufe von730 km mit dem Alabama zum Mobile River (s. d.) und ist bisColumbus (Mississippi) 670 km oberhalb Mobile schiffbar. SeinHauptzufluß ist der Black Warrior River, der bis Tuscaloosafahrbar ist.

Tombola (ital.), ein in Italien übliches Lottospiel,bei welchem die Lose aus einer Trommel gezogen werden; wirdnamentlich bei Volksfesten von der auf öffentlichenPlätzen versammelten Volksmenge gespielt.

Tombuktu, Stadt, s. Timbuktu.

Tomé (El T.), Hafenstadt im südamerikan.Staat Chile, Provinz Concepcion, an der Nordseite derTalcahuanabai, hat eine Wolltuchfabrik, Schiffswerfte und (1875)3529 Einw.

Tomek, Wáclaw Wladiwoj, böhm. Historiker,geb. 31. Mai 1818 zu Königgrätz, seit 1850 Professor ander Universität in Prag, ging 1882 an die neue tschechischeUniversität daselbst über, war 1861-66 Mitglied desböhmischen Landtags und des österreichischen Reichsratsund ist seit 1885 Mitglied des Herrenhauses. Er schrieb aufPalackys Betrieb eine vortreffliche Geschichte Prags (1855 ff., Bd.1-7). Von seinen übrigen Büchern sind noch zu nennen:"Deje zemr ceské" (1843); "Deje mocnáestviRakouského" (1845); "Dejepis university Prazske" (1848);"Zák-

748

Tomi - Ton.

lady starého mistopisu Prazského" (1865); dann"Geschichte Böhmens in übersichtlicher Darstellung"(deutsch vom Verfasser, Prag 1864-65); "Die GrünbergerHandschrift" (übersetzt von Maly, das. 1859); "Handbuch derösterreichischen Geschichte" (das. 1859, nur Band 1); "JohannZizka" (deutsch, das. 1881).

Tomi, im Altertum Stadt in Untermösien, am PontusEuxinus, bekannt als Verbannungsort des Dichters Ovid; das jetzigeConstanza (s. d.).

Tomleschg, Thal, s. Hinterrhein.

Tommaseo, Niccolò, ital. Schriftsteller, geb. 1802zu Sebenico in Dalmatien, studierte zu Padua die Rechte, folgteaber seiner Neigung für die Litteratur, war seit 1827 inFlorenz journalistisch thätig und ging 1833 nach Frankreich.Im folgenden Jahr veröffentlichte er seine Schrift "Dell'educazione" (1834), die binnen zwei Jahren drei Auflagen erlebte,ferner die politische Schrift "L'Italia" (1835) und einen Roman:"Il duca d'Atene" (1836). Von 1838 an lebte er in Venedig, wo einJahr vorher sein trefflicher "Kommentar zu Dante" erschienen war,und wo er weiterhin seine "Nuovi scritti" (1839-1840, 4 Bde.) und"Studj critici" (1843, 2 Bde.) sowie seine große, mit Rechtberühmte Sammlung "Canti popolari toscani, corsici, illirici,greci" (1843, 2 Bde.) veröffentlichte. Auch ließ er eineBearbeitung der auf die Geschichte Frankreichs im 16. Jahrh.bezüglichen Gesandtschaftsberichte (1838, 2 Bde.) erscheinenund gab die "Lettere di Pasquale de' Paoli" (1846) heraus. Seinestreng katholische Gesinnung hinderte ihn nicht, sich 1848 zurliberalen und nationalen Partei zu bekennen. Infolge seinesfreimütigen Auftretens mit Manin verhaftet, aber vom Volkegewaltsam befreit und als Minister des Unterrichts mit Manin an dieSpitze der provisorischen Regierung gestellt, verließ er dieStadt vor dem Einzug der Österreicher und begab sich nachKorfu, wo eine Krankheit seine Erblindung zur Folge hatte. 1852veröffentlichte er zu Mailand seinen sehr interessantenpsychologischen Roman "Fede e bellezza", der mehrmals neu aufgelegtwurde. 1854-59 lebte er in Turin, von da an zu Florenz, wo er 1.Mai 1874 starb. Von seinen weitern Publikationen sindhervorzuheben: "Le lettere di Santa Caterina di Siena" (1860, 4Bde.); eine Sammlung seiner politischen Schriften: "Il secondoesiglio" (1862, 3 Bde.); "Sulla pena di morte" (1865) und "Nuovistudj su Dante" (1865). Äußerst verdienstvoll ist sein"Dizionario di sinonimi della lingua italiana" (7. Aufl. 1887, 2Bde.), geschätzt auch sein "Leben Rosminis" und sein"Dizionario estetico" (neue Aufl. 1872). T. war einer derangesehensten Schriftsteller seiner Zeit, vielseitigen und lebhaftbeweglichen Geistes und von großem Einfluß alsKritiker. Vgl. Bernardi, Vita e scritti di Niccolò T. (Turin1874); K. Hillebrand in der "Allgemeinen Zeitung" (Mai 1874).

Tommaso, ital. Maler, aus Modena, daher T. da Modenagenannt, malte um 1352 in Treviso (im Dominikanerkloster) eineReihe von Wandbildern der berühmtesten Mitglieder desDominikanerordens, sodann im Dom des Lünettenfresko desGekreuzigten. Weitere Spuren von ihm finden sich in Prag, wohin er1357 durch Karl IV. berufen worden sein soll. Eine Madonna und einEcce hom*o befinden sich auf dem Karlstein bei Prag.

Tompa, Michael, ungar. Dichter, geb. 29. Sept. 1819 zuRimaszombat im Gömörer Komitat, studierte daselbst und inSáros-Patak und ward 1845 protestantischer Seelsorger zuBeje im Gömörer Komitat, 1848 Feldgeistlicher in derHonvédarmee und 1852 Pfarrer zu Yamva (GömörerKomitat), wo er bis an das Ende seines Lebens wirkte. Sein erstesselbständiges Werk war: "Néprgék,Népmondák" ("Volksmärchen, Volkssagen", Pest1846). In demselben Jahr zeichnete die Kisfaludy-Gesellschaft seinekomische poetische Erzählung "Szuhay Mátyás" miteinem Preis aus und wählte ihn zu ihrem Mitglied. 1847erschien die erste Ausgabe seiner Gedichte. In den Jahrenunmittelbar nach der Revolution gab er der damaligengedrückten Stimmung und den von der politischen Gewalt nochverpönten Hoffnungen in mit großem Beifall aufgenommenenallegorischen Gedichten Ausdruck, wegen deren er sich 1852 vor demKriegsgericht in Kaschau zu verantworten hatte. 1858 wurde er vonder Akademie zum Mitglied gewählt, 1868 erhielt er fürseine Dichtungen den großen akademischen Preis (200 Dukaten).Kurz darauf starb er 30. Juli 1868. Eine Gesamtausgabe seinerDichtungen erschien in 5 Bänden (Pest 1881).

Tomsk, russ. Gouvernement in Westsibirien, zwischen denGouvernements Tobolsk, Semipalatinsk und Jenisseisk und derMongolei, 847,887 qkm (15,398 QM.) groß mit (1885) 1,960,064Einw. (meist Russen und deren Nachkommen), darunter 994,246Griechisch-Katholische, 64,545 Heiden (Tataren, Kalmücken,Bucharen, Ostjaken u. a.), 29,179 Mohammedaner, 6659Römisch-Katholische, 4501 Juden u. a. Die Zahl der Verbanntenbeträgt 30,000. Das Gouvernement wird im SO. vom Altaiausgefüllt, hat weiter nach N. große Steppen (vgl.Baraba), Wälder und Moräste und wird seiner ganzenLänge nach vom Ob durchflossen. Das Klima ist im S.gemäßigt, im N. rauh. Gebaut werden: Hafer, Weizen,Roggen, Gerste, Kartoffeln. Haupterwerb ist Viehzucht, manzählte 1883: 982,115 Pferde, 821,027 Rinder, 930,915 meistgrobe Schafe, 216,032 Schweine. Leider treten zuweilen Viehseuchenauf. Die Hüttenwerke im Altai lieferten früheraußerordentliche Mengen von Metall (1851: 655,240 kgsilberhaltige Golderze, 362,872 kg goldhaltige Silbererze und4,096,478 kg Kupfer), die Produktion ist aber sehr bedeutendheruntergegangen; es ist daher eine Anzahl von Werken bereitsaufgegeben, was zum großen Teil an der Mißwirtschaftder Kronbeamten liegt; die Privatunternehmungen gedeihen weitbesser. Die Ausbeute betrug 1880: 2427 kg Gold, 10,135 kg Silber,1,058,274 kg Blei, 470,516 kg Kupfer und 713,383 kg Gußeisen.Zwei große Märkte werden jährlich zu Susunk (KreisBarnaul) und zu Wosnesensk (Kainsk) abgehalten. An Lehranstaltensind vorhanden 1885: 9 Mittelschulen mit 1372 Schülern, 5Fachschulen mit 403 Schülern, 254 Elementarschulen mit 8956Schülern. Die Hauptstadt T., am Tom, ist Sitz des Gouverneurs,eines griechischen Bischofs, einer Schuldirektion, hat viele zumTeil recht stattliche Regierungsgebäude, einen russischenBazar, zahlreiche chinesische Kaufläden, 9 griechischeKirchen, 2 Klöster, eine lutherische und einerömisch-katholische Kirche, mehrere Moscheen, eingroßartiges (1887 eröffnetes)Universitätsgebäude, Seminar, Gymnasium, höhereTöchterschule, Bibliothek, naturwissenschaftliches Museum und(1885) 36,742 Einw., welche Gerberei, Seifensiederei,Talgschmelzerei u. a. sowie lebhaften Handel mit Getreide, Lederund Pelzwaren betreiben, wozu die Lage am Sibirischen Trakt dieStadt besonders befähigt.

Tomus (lat.), Band, Teil eines Buches.

Ton (spr. tönn), Handelsgewicht in England und denVereinigten Staaten Nordamerikas, à 20 Ztr. à 112Pfd. = 1016,046 kg; in Nordamerika oft nur

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Ton - Tonart.

zu 2000 Pfd. T. of shipping, Schiffslast, nach Gewicht 2000Pfd., oft das gewöhnliche T.; nach Raum = 400 engl.Kubikfuß = 1,132 cbm; in New York und New Orleans nach Warenusanzmäßig, z. B. 20000 Pfd. schwere Güter, 1830Pfd. Kaffee in Säcken etc.

Ton, in der Musik ein Klang von konstanter Tonhöhe(s. Schall, S. 391); auch s. v. w. Ganzton (s. d.) oder Tonart(besonders Kirchenton). In der Malerei versteht man unter T.(Farbenton) die sämtlichen in einem Gemälde angewendetenFarben in ihrem Verhältnis zu einander und nach ihremGesamteindruck.

Tonalá, Hafenstadt im mexikan. Staat Chiapas, aneinem Haff des Stillen Ozeans, dessen Einfahrt nur Schiffen von 3 mTiefe zugänglich ist, mit (1880) 6702 Einw.

Touale, Berg und Paß an der Grenze Tirols(Sulzberg-Thal) und der ital. Provinz Sondrio, ersterer 2690,letzterer 1874 m hoch. Über den Paß, welcher befestigtist, führt eine der wichtigsten Militärstraßen ausTirol nach dem Veltlin. Hier 1799 und 1809 Treffen zwischenTirolern und Franzosen; auch in den Jahren 1848, 1859 und 1866 kames daselbst öfters zu Gefechten.

Tonalit, gemengtes kristallinisches Gestein, ausPlagioklas, Quarz, Hornblende und Biotit bestehend, bildet denMonte Adamello, südlich von Tonale (daher T.).

Tonalität (franz.), ein Begriff der modernenMusiktheorie, der sich nicht völlig mit "Tonart" deckt,sondern in seiner Bedeutung weit über die Grenzen der letzternhinausreicht. T. ist die eigentümliche Bedeutung, welche dieAkkorde dadurch erhalten, daß sie auf einen Hauptklang, dieTonika, bezogen werden. Während die ältere Harmonielehre,welche im wesentlichen von der Tonleiter ausgeht, unter "Tonika"den dieselbe beginnenden und schließenden Ton versteht,muß die neuere Harmonielehre, welche nichts andres ist alsdie Lehre von der Auffassung der Akkorde im Sinn von Klängen,einen Klang (Dur- oder Mollakkord) als Tonika aufstellen. So istdie C dur-T. herrschend, wenn die Harmonien in ihrer Beziehung zumC dur-Akkord verstanden werden; z. B. die Folge:

[s. Graphik]

ist im Sinn einer Tonart der ältern Harmonielehre gar nichtzu begreifen, obgleich niemand behaupten kann, daß siefürs Ohr unverständlich ist. Im Sinn der C dur-T. istsie: Tonika - Gegenterzklang - Tonika - schlichter Terzklang -Tonika, d.h. es sind der Tonika nur nahe verwandte Klängegegenübergestellt (vgl. Klangfolge). Ein Klang wird alsHauptklang aufgestellt: entweder durch direkte Setzung,wiederholten Anschlag, breite Darlegung (z. B. der F moll-Akkord zuAnfang der Sonata appassionata von Beethoven), oder auf indirektemWeg, indem ein Schluß zu ihm gemacht wird; das letzteregeschieht, indem einem seiner verwandten Klänge derUntertonseite einer der Obertonseite folgt oder umgekehrt (s.Tonverwandtschaft). Bei derartigen Folgen, z. B. F dur-Akkord - Gdur-Akkord || oder As dur-Akkord - G dur-Akkord || oder Gdur-Akkord - F moll-Akkord ||, ist der übersprungene C dur-oder C moll-Akkord das Verständnis der beiden Akkordevermittelnd und tritt deshalb gern danach als schließenderAkkord auf. Diese Ausprägung der T. durch eine ArtSchlußfolgerung kann ein Tonstück beginnen, wird abernoch viel häufiger im weitern Verlauf zur Anwendung gebracht,wenn die Tonikabedeutung auf einen andern Klang übergehen soll(s. Modulation). Die eigentümliche Thatsache, daßkonsonante Akkorde unter Umständen ganz dieselbe Wirkung undBedeutung für die harmonische Satzbildung haben wiedissonante, daß z. B. in C dur der Unterdominante (fac) meistohne Änderung des Effekts die Sexte (d) beigegeben werden kannund der Oberdominante (ghd) ebenso die Septime (f), findet ihreErklärung nur im Prinzip der T. Denn im strengsten Sinnkonsonant, d. h. schlußfähig, keine Fortsetzung(Auflösung) verlangend, ist eigentlich immer nur ein einzigerKlang, die Tonika; die Bedeutung der übrigen ist durch ihreVerwandtschaft mit dieser bedingt.

Tonart, in der Mufik die Bestimmung des Tongeschlechts(ob Dur oder Moll) und der Tonstufe, auf welcher ein Stückseinen Sitz baben soll. Statt unsrer heutigen beidenTongeschlechter nahmen die Alten (Griechen, Römer, Araber,Inder, das Abendland im Mittelalter) deren eine größereZahl an (vgl. Kirchentöne); über die Bedeutung dieserverschiedenen Oktavengattungen wie der Tonleitern überhauptvgl. Tonleiter. Jede Oktavengattung kann beliebig transponiertwerden, d. h. dieselbe Intervallenfolge kann von jedem Ton ausgebracht werden; schon die Griechen hatten 15 Transpositionsskalen,die Kirchentöne wurden freilich lange Zeit nur in die Quarteund erst später auch in die Quinte transponiert. DieEinführung noch mehrerer Transpositionen im 16.-17. Jahrh. warschon das Anzeichen des Unterganges der alten Lehre. Die heutigenTranspositionen der beiden Grundskalen (C dur und A moll) sind:

1) in die Oberquinte (G dur E moll) mit 1 # (vor F)

2) - - Unterquinte (F dur, D moll) mit 1 b (vor H)

3) - - 2. Oberquinte (D dur, H moll) mit 2 # (vor F, C)

4) - - 2. Unterquinte (B dur, G moll) mit 2 b (vor H, E)

5) - - Obersexte (A dur, Fis moll) mit 3 # (vor F, C, G)

6) - - Untersexte (Es dur, C moll) mit 3 b (vor H, E, A)

7) - - Oberterz (E dur, Cis moll) mit 4 # (vor F, C, G, D)

8) - - Unterterz (As dur, F moll) mit 4 b (vor H, E, A, D)

9) - - große Oberseptime (H dur, Gis moll) mit 5 # (vor F,C, G, D, A)

10) - - große Unterseptime (Des dur, B moll) mit 5 b (vorH, E, A, D, G)

11) - - übermäßige Oberquarte (Fis dur, Dismoll) mit 6 # (vor F, C, G, D, A, E)

12) - - übermäßige Unterquarte (Ges dur, Esmoll) mit 6 b (vor H, E, A, D, G, C)

13) - - chromatische Obersekunde (Cis dur, Ais moll) mit 7 #(vor F, C, G, D, A, E, H)

14) - - chromatische Untersekunde (Ces dur, As moll) mit 7 b(vor H, E A, D, G, C, F)

Der verschiedene Charakter der Tonarten ist kein leerer Wahn,hängt aber nicht, wie man hier und da lesen kann, von derungleichartigen Temperatur der Töne ab (nämlich C dur alsam reinsten gestimmt gedacht), sondern ist eine ästhetischeWirkung, die in der Art des Aufbaues unsers Musiksystems ihreErklärung findet. Dasselbe basiert auf der Grundskala dersieben Stammtöne A-G, und die beiden diese vorzugsweisebenutzenden Tonarten C dur und A moll erscheinen als schlichte,einfache, weil sie am einfachsten vorzustellen sind. Die Ab-

750

Tonbestimmung - Tongaarchipel.

weichungen nach der Obertonseite (#-Tonarten) erscheinen alseine Steigerung, als hellere, glänzendere, die nach derUntertonseite (b-Tonarten) als Abspannung, als dunklere,verschleierte; die erstere Wirkung ist eine dur-artige, dieletztere eine moll-artige. Dazu kommt die Verschiedenheit derästhetischen Wirkung der Dur-Tonarten und Moll-Tonartenselbst, welche in der Verschiedenheit der Prinzipien ihrerKonsonanz wurzelt; Dur klingt hell, Moll dunkel. Die Dur-Tonartenmit Kreuzen haben daher einen potenzierten Glanz, wie dieMolltonarten mit Been potenziert dunkel sind; eigenartigeMischungen beider Wirkungen sind das Helldunkel der Dur-Tonartenmit Been und die fahle Beleuchtung der Molltonarten mit Kreuzen.Die Wirkung wächst mit der Zahl der Vorzeichen. GeringeModifikationen erleidet der Charakter der Tonarten durch diegrößere oder geringere Schwierigkeit, mit der dieeinzelnen Tonarten von den Instrumenten hervorgebracht werden. DieTonarten mit viel Vorzeichen klingen am besten beim Klavier;dagegen machen manche Tonarten den Instrumenten mit teilweisegebundener Intonation besondere Schwierigkeiten. Die Posaunenstehen in Es dur, haben daher eine natürliche Abneigung gegen#-Tonarten; umgekehrt stehen Flöte und Oboe in D dur, d. h.sie haben Abneigung gegen B-Tonarten. Auch die Streichinstrumentesind zufolge der Stimmung der leeren Saiten als in G-, resp. D-oder A dur stehend anzusehen, d. h. sie begegnen in den B-Tonartengrößern Schwierigkeiten. Die Schwierigkeiten derApplikatur belasten in einer ganz ähnlichen Weise dieVorstellung wie die des Systems der Notenschrift, und Es durerscheint daher den Posaunisten, D dur den Flötisten, Oboistenund Violinisten als eine besonders einfache Tonart.

Tonbestimmung, die mathematische Bestimmung derTonhöhenverhältnisse, die Feststellung der relativenSchwingungszahlen oder Saitenlängen, welche den einzelnenmusikalischen Intervallen zukommen. Der Schwingungsquotient ist dergenaue mathematische Ausdruck des Verwandtschaftsverhältnisseszweier Töne, z. B. der Schwingungsquotient 9:8 für dengroßen Ganzton c:d; 10:9 für den kleinen Ganzton d:e;16:15 für den großen Halbton e:f; 25:24 für denkleinen Halbton f:fis; 5:4 für die (reine) große Terzc:e; 6:5 für die kleine Terz c:es; 256:225 für dieverminderte Terz dis:f; 64:81 für c:e als vierte Quinteaufgefaßt c (g d a) e (mit Ignorierung der Oktavversetzungen)etc. Eine Tabelle der wichtigsten denkbaren Tonwerte im Umfangeiner Oktave, von e ausgehend und nach diesem die akustischen Werteder übrigen Töne bestimmend, findet sich in Riemanns"Musiklexikon" (3. Aufl., Leipz. 1887).

Tonbridge (spr. tönnbriddsch), s. Tunbridge.

Tonbuchstaben, s. Buchstabentonschrift.

Tondern (Tönder), Kreisstadt in der preuß.Provinz Schleswig-Holstein, an der Widaue, Knotenpunkt der LinienElmshorn-Heide-Ribe der Schleswig-Holsteinischen Marsch- undTingleff-T. der Preußischen Staatsbahn, hat eine schöneevang. Kirche, ein Schullehrerseminar, ein Amtsgericht, einHauptsteueramt, Bierbrauerei, Viehmärkte, Fettviehausfuhr und(1885) 3516 fast nur evang. Einwohner. 1639 fand man bei dembenachbarten Ort Galhus im Schlamm ein großes goldenes, mitFiguren verziertes Horn und 1734 ein zweites. Diese sogen.Tondernschen Hörner, welche 1802 aus der Kunstsammlung zuKopenhagen entwendet wurden, waren Schau- und Luxusstücke. DieRunenschrift des einen Horns gehörte dem angelsächsischenAlphabet an und war, aus dem 6. Jahrh. stammend, die ältestebekannte.

Tondeur (spr. tongdör), Alexander, Bildhauer, geb.1829 zu Berlin, besuchte seit 1848 die dortige Akademie und bildetesich dann unter Bläsers Leitung weiter aus. Nachdem er sichvon 1852 bis 1854 in Wien aufgehalten, begab er sich auf ein Jahrnach Paris und 1856 nach Rom, wo eine verwundete Venus entstand,die von der Iris zum Olymp getragen wird, worauf eine Marmorgruppeder Mutterliebe folgte. 1858 begann er in Berlin eine ausgedehnteThätigkeit namentlich in allegorischen und mythologischenGestalten. Dieser Art sind eine Borussia als Brunnenfigur mit denvier Hauptflüssen Preußens, Frühling, Sommer undHerbst als dekorative weibliche Gewandfiguren, ein Triton in derMuschel und zwei der kolossalen Städtefiguren in der BerlinerBörse, die Vasen zum Andenken an den dänischen und an dendeutsch-österreichischen Krieg, eine Gruppe: Tag und Nacht,Pan, der eine Wasser schöpfende Nymphe überrascht, vonfeiner Empfindung und großer Sorgfalt der Ausführung(1867), die beiden Bronzestatuen Bülows und Blüchers amPostament der großen Kölner Reiterstatue FriedrichWilhelms III. von Bläser, mehrere Büsten und zweiRestaurationen von Reliefs der pergamenischen Gigantomachie (s.Tafel "Bildhauerkunst III", Fig. 8, 9).

Tondruck, s. Lithographie, S. 837.

Tonelada, Schiffslast, Tonne, Stückmaß inSpanien und Spanisch-Amerika, à 20 Quintales = 920,186 kg;die neue Tonelada metrica = 1000 kg; in Portugal und Brasilienfür trockne Waren à 54 Arroba, fürFlüssigkeiten à 60 Almud; in Brasilien beiSchiffsfrachten s. v. w. englisch Ton; in Argentinien und UruguayGetreidemaß, = 10,29 hl.

Tonfall, s. Kadenz.

Tongaarchipel (Freundschaftsinseln), eine zumsüdlichen Polynesien gehörige Inselgruppe im StillenMeer, unter 18-22° südl. Br., südöstlich von denFidschi- und südlich von den Samoainseln, umfaßt imganzen 32 größere Inseln und ungefähr 150 kleinereEilande mit einem Gesamtflächenraum von 997 qkm (18 QM.). Diemeisten der Inseln sind niedrig, haben Korallenfelsen zur Grundlageund sind mit einer dicken, fruchtbaren Erdschicht bedeckt; nureinzelne sind hoch, gebirgig und vulkanischen Ursprungs. Dieumgebenden Riffe erschweren den Zugang zu den meisten Inseln, dochhaben einige derselben schöne Häfen. Das Klima istangenehm und gesund, nur finden häufig Erderschütterungenstatt. Das Pflanzenreich liefert Pisange, Brotfruchtbäume,Yams, Kokos- und andre Palmen, Zuckerrohr, Bambus, Baumwolle,Feigen, Citrusarten, Papiermaulbeerbäume etc. Das Tierreichist vertreten durch Schweine, Hunde, Ratten, das gewöhnlicheHausgeflügel, Papageien, Reiher, Tropikvögel undSchildkröten. Der Archipel ist aus drei Gruppenzusammengesetzt. In der nördlichen, 205 qkm (3,7 QM.)großen Hafulu-Hu-Gruppe ist Vavau (145 qkm mit über 3000Einw.) die größte Insel; auf Amarpurai (Fanulai) undLette(Bickerton) sind thätige Vulkane, letzteres hatte 1854einen heftigen Ausbruch, das erstere ist seit der Eruption von 1846nur noch eine Masse von Felsentrümmern. Die mittlere Gruppeumfaßt die Namukagruppe (37 qkm), die Kotuinseln, Tofoa (55qkm), 854 m hoch und mit einem thätigen Vulkan, das kleinere(11 qkm), aber 1524 m hohe Kao und die aus sechs Inseln und 6-8Inselchen bestehende Hapaigruppe, 68 qkm (1,2 QM.). Zursüdlichen Gruppe gehören Pylstaart, das 174 qkm

750a

Zum .Artikel »Tongking«.

TONGKING.

Maßstab 1:2.500 000.

ÖSTL. HINTERINDIEN

Maßstab 1:18.000 000.

HUÉ.

1:600000

HA-NOI.

1:300000

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Tongern - Tongking.

(3,2 QM.) große Eua und die bedeutendste aller Inseln,Tongatabu, 430 qkm (7,8 QM.) mit ca. 9000 Einw. Die Zahl derEinwohner betrug 1884: 22,937, darunter 350 Engländer, 63Deutsche, 13 Amerikaner, 11 Franzosen. Die Tonganer (22,000)gehören zu den Polynesiern (s. Tafel "Ozeanische Völker",Fig. 22) und übertreffen an Bildungsfähigkeit die meistenBewohner der benachbarten Inselgruppen. Sie treibensorgfältigen Landbau, sind geschickte und unternehmendeSeeleute und beweisen bei dem Bau ihrer Häuser und Boote wiebei der Verfertigung ihrer Gerätschaften, Waffen (Keulen,Bogen und Pfeile) und Kleider (Stoffe aus Papiermaulbeerbaum)ziemliche Kunstfertigkeit. Sie sind jetzt zum Christentum bekehrt.Schon 1797 kamen Missionäre aus London auf Tongatabu an, dreiwurden ermordet, die andern kehrten zurück; seit 1822siedelten sich Methodisten an. Auf den südlichen Inseln habenfranzösische Missionäre dem Katholizismus Eingangverschafft. Etwa 5500 Kinder besuchen Schulen; von höhernBildungsanstalten existieren eine Industrieschule und einGymnasium. Die ganze Gruppe bildet seit Anfang dieses Jahrhundertsein einheitliches Reich unter einem König, dem einegesetzgebende Versammlung zur Seite steht. Residenz des Königsund Sitz der Regierung ist Nukualofa auf Tongatabu. Am 1. Nov. 1876schloß König Georg I. einen Freundschaftsvertrag mit demDeutschen Reich. Die Gruppe gehört zum Bezirk des deutschenKonsuls in Apia. Der Handel befindet sich zum großen Teil inden Händen der Deutschen Handels- und Plantagengesellschaft,welche die meisten Waren von Apia einführt. Die Einfuhr(Baumwoll- und Wollwaren, Eisenwaren, Getreide, Bauholz, Konservenetc.) betrug 1887: 3,171,553 Mk., davon deutsch 1,181,300, englisch1,691,864 Mk., die Ausfuhr (Kopra und etwas Kaffee, Schwämme,Wolle) 3,148,933 Mk., davon deutsch 2,377,384, englisch 704,160 Mk.Der englische Handel wächst auf Kosten des deutschen. DieInselgruppe wurde 1887 besucht von 74 Schiffen von 28,264 Ton.,darunter 34 deutschen von 19,468 T. Die deutschen Postdampferlaufen den T. auf der Fahrt von Sydney nach Apiaregelmäßig an. Die Inseln wurden 1643 von Tasmanentdeckt und von Cook, der sie 1773 und 1777 genauer erforschte,wegen des sanften und gutwilligen Charakters der EingebornenFreundschaftsinseln (Friendly Islands) benannt. Die Flagge s. aufTafel "Flaggen I". Vgl. Mariner, Account of the Tonga Islands(Lond. 1814, 2 Bde.; deutsch, Weim. 1819); Meinicke, Die Inseln desStillen Ozeans (Leipz. 1875); Jung, Der Weltteil Australien, Bd. 3(Leipz. 1883).

Tongern, Hauptstadt eines Arrondissem*nts in der belg.Provinz Limburg, am Geer, Knotenpunkt an der EisenbahnLüttich-Hasselt, hat eine alte Kathedrale (13. Jahrh.), einAthenäum, ein Tribunal, Strohhutfabriken und (1888) 8763 Einw.T. ist die älteste Stadt Belgiens (das alte Aduatuca) und warschon im 4. Jahrh. Sitz eines Bischofs, welcher im 6. Jahrh. nachMaastricht und 720 nach Lüttich übersiedelte.

Tongeschlecht (Klanggeschlecht), die Unterscheidung einesAkkords oder einer Tonart (Tonalität) als Dur oder Moll.Während Tonarten mit verschiedenen Vorzeichen nurverschiedenartige Transpositionen derselben Tonreihe sind, ist dieAuffassung von Klängen oder Tonarten verschiedenenTongeschlechts eine prinzipiell verschiedene. Man vergleicht Durdem männlichen, Moll dem weiblichen Geschlecht.

Tongking (hierzu Karte "Tongking"), französischesSchutzgebiet in Hinterindien, grenzt im N. an China, im W. an dieLaosstaaten und Siam, im S. an Anam, im O. an den Golf von T.benannten Teil des Südchinesischen Meers und hat ein Areal von90,000 qkm (1635 QM.), nach andern aber 165,200 qkm (3000 QM.) mit10-12 Mill. Einw., worunter 400,000 einheimische Christen. Das Landist zum Teil gebirgig, teils durchaus ebenes Alluvium und wird inseiner ganzen Länge von dem aus Jünnan kommenden Songkadurchzogen, der mehrere größere Flüsse (Schwarzerund Klarer Fluß) aufnimmt und, ein großes,vielverzweigtes Delta bildend, in zahlreichen Armen in die Bai vonT. mündet und mit dem zweiten Fluß Tongkings, demThai-binh oder Bak-ha, durch drei künstliche Kanäle undandre Abzweigungen in Verbindung steht. Den Südendurchfließt der gleichfalls aus Jünnan kommende Ka, denNorden der noch sehr wenig bekannte Tam. Die Wälder der Bergesind reich an allerhand Nutzholz; dort hausen Elefanten, Tiger,Büffel, Rhinozerosse. Der Mineralreichtum ist ein sehrgroßer; Gold- u. Silberbergwerke werden seit langer Zeit inprimitiver Weise ausgebeutet, Kohlen, Kupfer, Quecksilber, Eisen,Zink, Blei aber gar nicht abgebaut. Im Tiefland wird viel Reisgebaut (1½ Mill. Hektar sind damit bestellt); außerdemwerden gewonnen und in den Handel gebracht: Zimt, Tabak, Indigo,Mais, Baumwolle, Zuckerrohr, Bohnen, Rizinus, Drachenblut,Sternanis, Erdnüsse, wohlriechende Harze. Als Haustiere werdengehalten: Schweine, Hühner, Büffel, Rinder, aber nurwenige Pferde und Elefanten. Eine Hauptbeschäftigung bildetder Fang von Fischen und Krokodilen; der Schwanz der letztern wirdsehr geschätzt. Schiffahrt wird eifrig betrieben und in dembaumlosen Flachland Ziegelbrennerei. In den Städten Hanoi undNamdinh werden geschnitzte Möbel, Lackarbeiten, eingelegtePerlmutterarbeiten, Kleiderstoffe angefertigt. Der Buchdruck vonHanoi, dem Sitz tongkingesischer Gelehrsamkeit, ist berühmt.Der Handel auf dem Songkai mit Jünnan ist sehr bedeutend, erwird auf 3½ Mill. Frank geschätzt. Für denAußenhandel ist Haiphong, an einem Nordarm des Deltas,Hauptplatz; 1880 schätzte man den dortigen Handel auf 20 Mill.Fr., während der Kriegsjahre sank derselbenaturgemäß, stieg darauf aber schnell und betrug 1886bei der Einfuhr 28,8, bei der Ausfuhr 9,1 Mill. Fr. Der Handel,vornehmlich der Geldhandel, ist zum großen Teil in denHänden der Chinesen, von denen 10,000 in T. leben. In neuesterZeit wurden Differentialzölle eingeführt, welche diefranzösischen Provenienzen sehr begünstigen. Um denBinnenverkehr zu heben, sind Eisenbahnen von Hanoi nach Haiphongund Quang-Yen, auch über Namdinh nach Anam und von Hanoi nachLangson geplant. Eine Gesellschaft mit einem Kapital von 1½Mill. Fr. hat sich in Frankreich gebildet, um die öffentlichenArbeiten zu übernehmen. Sie hat auch eine wöchentlicheDampferlinie zwischen Haiphong und Hongkong eingerichtet. InHaiphong bestehen ein englisches und ein französischesBankinstitut. Die wichtigsten Orte sind die Hauptstadt Hanoi unddie Hafenstadt Haiphong. Das erstere ist Sitz derfranzösischen Verwaltungsbehörden. T. hat von 1883 bis1885 dem Mutterland an 327 Mill. Fr. gekostet, wozu noch 685,000Fr. für ein submarines Kabel kommen. Jetzt gewährtFrankreich einen jährlichen Zuschuß von 30 Mill. Fr.Nach dem Budget von 1888 belaufen sich für Anam und T. dieEinnahmen auf nur 17,321,000, die Ausgaben auf 17,034,620 Fr., wozuaber noch die Ausgaben für Krieg u. Marine mit zusammen38,055,000 Fr. kommen.

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Tongoi - Tonmalerei.

Geschichte. Ein französischer Waffenhändler, Dupuis,machte 1870 den französischen Gouverneur von Kotschinchinadarauf aufmerksam, daß der Rote Fluß eine trefflicheWasserstraße nach der chinesischen Provinz Jünnan bilde.Daher wurde 1873 der Schiffsleutnant Garnier nach T. geschickt, derHanoi besetzte und die Eroberung von T. begann, aber 31. Dez. 1873von den Piraten der Schwarzen Flagge überfallen undgetötet wurde. Gemäß einem Vertrag mit Anamräumten die Franzosen 1874 die besetzten Plätze gegen dieZusicherung freien Handels und des Schutzes der Missionen. Alschinesische Piraten den Handel störten und eine friedlicheVerständigung zwischen Frankreich und China, das dieOberhoheit über T. beanspruchte, daran scheiterte, daßdie französische Regierung 1883 den sogen. BourréeschenVertrag nicht genehmigte, schickte letztere den KommandantenRivière mit Truppen nach T., um es von neuem zu besetzen.Auch dieser wurde 19. Mai bei einem Ausfall aus Hanoi von denSchwarzen Flaggen getötet und nun die Absendung einergrößern französischen Streitmacht beschlossen, umT. völlig in französische Gewalt zu bringen, wofürder Vertrag mit Anam 25. Aug. 1883 Frankreich freie Hand gab. Nacheinigen mißglückten Vorstößen erstürmtendie Franzosen unter Courbet 16. Dez. Sontai und nahmen unterGeneral Millot 12. März 1884 Bacninh ein, womit sie das Deltades Roten Flusses in Besitz hatten. China verzichtete im Vertragvon Tientsin (11. Mai 1884) auf T., räumte es aber nichtschnell genug, so daß die eilig vorrückenden Franzosenvon den chinesischen Truppen bei Bakle zurückgewiesen wurden,worauf Frankreich mit China Krieg begann (s. China, S. 23). In T.wurden die Chinesen aus dem Land selbst vertrieben, brachten denFranzosen aber, als dieselben über die Grenze vordrangen, 24.März 1885 bei Langson eine empfindliche Niederlage bei.Dennoch trat China am 1. April 1885 T. ab und zog seine Truppenzurück, worauf die französische Regierung die SchwarzenFlaggen unterdrückte. Vgl. Thureau, Le Tonkin (Par. 1883);Millot, Le Tonkin (das. 1888); Bouinais, Tonkin-Anam (2. Aufl.,das. 1886); Deschanel, La question du Tonkin (das. 1883); Gautier,Les Français au Tonkin (das. 1884); "L'affaire du Tonkin,par un diplomat" (1888); Lehautcour, Les éxpeditionsfrançaises au Tonkin (1888, 2 Bde.); Scott, Frankreich undT. 1884 (deutsch, Ilfeld 1885).

Tongoi, Hafenstadt im südamerikan. Staat Chile,Provinz Coquimbo, Ausgangspunkt einer ins Minenrevier von Ovalleführenden Eisenbahn, hat Kupferschmelzen und (1875) 1533Einw.

Tongrische Stufe, s. Tertiärformation, S. 601.

Tonic Solfa Association, in England weitverbreiteteGesellschaft zur Ausübung des a cappella-Gesangs in akustischreiner Stimmung, die sich einer besondern Notierungsart mit denSilben Do Re Mi Fa So La Si bedient. Erfinder der TonicSolfa-Methode ist der anglikanische Geistliche John Curwen (gest.1880), der auch eine "Grammar of vocal music founded on the TonicSolfa Method" herausgab und eine Zeitung: "The Tonic SolfaReporter" (seit 1851), redigierte. Die Tonic Solfa-Methode hat diegrößte Ähnlichkeit mit dem in Deutschland fürVolksschulen zur Anwendung gekommenen Ziffernsystem (1 2 3 4 5 6 7für die Dur-Tonleiter) und ist eine Wiederbelebung derGuidonischen Solmisation, aber mit sieben Silben statt mitsechs.

Tonika (ital.), nach gewöhnlichem Sprachgebrauch derTon, nach welchem die Tonart benannt wird, d. h. in C dur c, in Gdur g etc. Die neuere Harmonielehre versteht indes unter T. denDreiklang der T., d. h. in C dur den C dur-Akkord, in C moll den Cmoll-Akkord etc. Vgl. Tonalität.

Tonisch (vom lat. Tonus, s. d.), stärkend, spannend;tonische Mittel (Tonica), Arzneimittel, welche den Tonus, dasSpannungsvermögen der Muskeln und Nerven, vermehren sollen,also stärkende Mittel, besonders China,Eisenpräparate.

Tonkabohnen, s. Dipteryx.

Tonkakampfer, s. Kumarin.

Tonkunst, s. Musik.

Tonleiter, nach der ältern Musiklehre identisch mitTonart (s. d.). Seit aber die neuere Theorie die Terzverwandtschaftder Töne und Klänge erkannt hat (s. Tonverwandtschaft),erscheint es als Willkür, z. B. den E dur-Akkord und Asdur-Akkord als nicht zur C dur-Tonart gehörige Klänge zubetrachten. Der Begriff der Tonart ist daher zu dem derTonalität (s. d.) erweitert worden, während die T. alsAkkord der Tonika mit Durchgangstönen erscheint:

Dur-Tonleiter ^[s. Bildansicht]

Moll-Tonleiter ^[s. Bildansicht]

Wie der tonische, kann aber auch jeder andre Akkord, der tonalenHarmonik mit Durchgangstönen auftreten; soll dieTonalität scharf ausgeprägt bleiben, so werden dieDurchgänge so gewählt werden müssen, daß dieder Tonika angehörigen Töne bevorzugt werden. Die dannzum Vorschein kommenden Skalen sind die alten Kirchentöne(oder griechischen Oktavengattungen); die Skala der Dominante:

mixolydisch ^[s. Bildansicht]

die Skala der Unterdominante:

lydisch: ^[s. Bildansicht]

und so fort. Vgl. Riemann, Neue Schule der Melodik (Hamb.1883).

Tonmalerei, Gattung von Musik, derenhauptsächlichster Zweck darin besteht, mittels der TonspracheZustände und Begebnisse zu schildern, welche der Sinnen- undErscheinungswelt entnommen sind. Die Frage über Berechtigungund Zulässigkeit der T. gehört zu den unentschiedenstenauf dem Gebiet der Ästhetik der Tonkunst. Unbedingt verworfenwird die T. von den Vertretern der sogen. strengenKlassizität, wiewohl nicht abzuleugnen ist, daß, wie dieMeister des 17. Jahrh., so auch alle klassischen Tondichter des 18.und 19. Jahrh., z. B. Bach, Händel, Haydn, Mozart, Beethoven,Weber, Schubert, Spohr u. a., die T. mit Vorliebe gepflegt haben.Jenen gegenüber stehen diejenigen, welche der Tonkunstgeradezu einen begrifflich erklärbaren Inhalt zu vindizierenund zu diesem Behuf die Ausdrucksfähigkeit derselben extensivund intensiv zu vervollkommnen streben, als die entschiedenstenAnhänger der T.; nur verfallen diese wieder in eingefährliches Extrem, indem sie in Komposition und Kritik einerrealistischen Richtung huldigen, die nur in Ausnahmefällen mitder

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Tonna - Tonsur.

Tonkunst ein ersprießliches Bündnis einzugehenvermag. Die Musik kann allerdings der realen Außenweltangehörige Dinge nicht in jener konkreten Weise schildern wieDichtkunst und bildende Kunst. Dagegen vermag sie gerade nach jenerSeite hin, wo die beiden genannten Künste ihrer Natur nachmehr oder minder lückenhaft bleiben, nicht nur ergänzendaufzutreten, wie in der Vokalmusik und im Drama, sondern auch alsunabhängige Kunst in den Formen der reinen Instrumentalmusikdie Vorgänge des innersten Gefühlslebens wiederzugeben,insofern erst durch sie die mit der poetischen Grundideeverknüpften Seelenstimmungen zur vollkommenen undkünstlerisch-selbständigen Erscheinung gebracht werdenkönnen. Die Musik kann und soll demnach nicht das wiedergeben,was das Auge sieht und der Geist denkt, sondern nur die hierauserwachsenden Empfindungen, die Seelenbilder in ihrer zeitlichenForm. So stellt die Tonkunst die im Innern fortlebendeAußenwelt dar, und die T. würde alsdann richtiger alsmusikalische Stimmungsmalerei zu bezeichnen sein. Dies hatBeethoven wohl erwogen, wenn er der Pastoralsymphonie die Wortevorausschickte: "Mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei". Ja,selbst da, wo Beethoven eine scheinbar ganz materielle T. gibt, wieam Schluß des zweiten Satzes (Nachtigallengesang,Wachtelschlag und Kuckuckruf) und im letzten Satz (Schilderung desGewitters), offenbart sich eine so schöne geistigeBedeutsamkeit, daß darin nur eine symbolische Auffassung derNatur und im letztern Fall nur der durch die Schilderung deräußern Hergänge in der Natur hervorgerufeneStimmungston zur Darstellung gelangt. Eine solche symbolischeAuffassung aber ist es überhaupt, die der T. ihren innernkünstlerischen Wert verleiht, indem sie die Vorstellung desGegebenen bei hörbaren Vorgängen durch ähnlicheKlangwirkung nachahmt (wie z. B. Marschner das Heulen desSturmwindes in "Hans Heiling"), bei sichtbaren auch analogeTonformen wiedergibt, wie sich z. B. in einigen Messen die Worte:"et descendit de coelis" in absteigender und "ascendit de coelum"in aufsteigender Tonfolge komponiert finden. Am leichtesten sindsolche Vorkommnisse zu schildern, welche einen gewissen Rhythmus insich tragen. Die T. fand in F. David und Berlioz und in neuesterZeit namentlich in Liszt, Raff, zum Teil auch in R. Wagner, alsovorzugsweise in den Anhängern der sogen. Programmmusik (s.d.), ihre hauptsächlichsten Vertreter.

Tonna, Amtsgericht, s. Gräfentonna.

Tonnage (franz., spr. -ahsch), Schiffsladung,Tonnengeld.

Tonnay-Charente (spr. tonnä-scharangt), Stadt imfranz. Departement Niedercharente, Arrondissem*nt Rochefort, an derCharente, über welche eine Drahtbrücke führt, und ander Eisenbahn Rochefort-Angoulême, hat einen Hafen, welchereinen Annex des Hafens von Rochefort (s. d. 1) bildet und einenWarenverkehr von 163,000 Ton. aufweist, Fabrikation vonSeilerwaren, Schiffbau, bedeutenden Handel mit Branntwein und(1881) 2256 Einw.

Tonne, großes Faß; dann Maß und Gewichtfür trockne Dinge, als Handelsgewicht in Deutschland = 1000kg. Schiffs- oder Seetonne, Schiffsfrachtgewicht, = 1000 kg;über Registertonne s. Schiffsvermessung; in Schweden, Norwegenund Dänemark ist T. Feldmaß: die schwedische T. Landes(Tonnstelle) = 49,366, die norwegische = 39,379, die dänische= 55,162 Ar. Eine T. Goldes bedeutet eine Summe von 100,000Thlr.

Tonneau (spr. -noh, T. de mer, T. metrique), inFrankreich Gewicht = 1000 kg, an Raum = 42 Pariser Kubikfuß =1,440 cbm, als Getreidemaß = 15 Hektol.; in Marseille nachder Ware verschieden, = 900 Liter Öl, 18 Kisten à 25Flaschen Wein etc.

Tonneins (spr. tonnängs, Stadt im franz. DepartementLot-et-Garonne, Arrondissem*nt Marmande, an der Garonne und derSüdbahn (Bordeaux-Toulouse), hat eine reformierteKonsistorialkirche, ein Hengstedepot, eine Tabaksfabrik, Handel mitHanf, Wein etc. und (1886) 5447 Einw.

Tonnengehalt eines Schiffs, s. Schiffsvermessung.

Tonnengeld, eine nach dem Tonnengehalt (Tragkraft)bemessene, von Seeschiffen, insbesondere solchen fremder Flagge,beim Einlaufen in die Häfen erhobene Abgabe (s.Zuschlagszölle).

Tonnengewölbe, s. Gewölbe, S. 311.

Tonnenkilometer, s. Kilometer.

Tonnenmühle, s. Wasserschnecke.

Tonnensystem, s. Exkremente, S. 966 f.

Tonnerre (spr. tonnähr), Arrondissem*ntshauptstadtim franz. Departement Yonne, am Armançon und an derEisenbahn Paris-Dijon, hat eine schöne Kirche (St.-Pierre),ein Coll`ege, ein Spital (mit dem Grabmal des Ministers Louvois),Bibliothek, Fabrikation von Webwaren, Zement, Schokolade,vorzüglichen Weinbau, Steinbrüche und (1886) 4774Einw.

Tönning (Tönningen), Stadt in der preuß.Provinz Schleswig-Holstein, Kreis Eiderstedt, Knotenpunkt derLinien Jübek-T. der Preußischen Staats- undNeumünster-T. der Westholsteinischen Eisenbahn, hat eineevang. Kirche, ein Amtsgericht, ein Landratsamt, ein Hauptzollamt,einen Hafen, eine Schiffswerfte, Eisengießerei undMaschinenbau, ansehnliche Fettviehausfuhr nach undSteinkohleneinfuhr aus England und (1885) 3248 evang. Einwohner. T.wurde 1644 befestigt und in der Folge wiederholt von den Dänenerobert, die 1714 die Festungswerke schleiften.

Tönnisstein, Kurort im preuß. RegierungsbezirkKoblenz, Kreis Mayen, zur Gemeinde Kell gehörig, unweit derStation Brohl der Linie Kalscheuren-Bingerbrück derPreußischen Staatsbahn, mit Kurhaus und einem gegenchronische Katarrhe wirksamen alkalischen Säuerling. In derNähe der schon den Römern bekannte SäuerlingHeilbrunnen.

Tönsberg, älteste Stadt Norwegens, schon umsJahr 871 gegründet, im Amt Jarlsberg und Laurvik belegen, ander Eisenbahn Drammen-Skien, mit 4913 Einw., ist in der neuern Zeitder Mittelpunkt einer bedeutenden Schiffahrt mit dem Auslandgeworden. Ihr gehört vornehmlich der größte Teilder norwegischen Flotte, die jedes Jahr im Monat März nach demEismeer auf Walfischfang ausgeht, an. T. selbst besaß 1885:139 Fahrzeuge von 61,242 Ton., die angrenzenden Distrikte 344Fahrzeuge von 89,496 T. Der Wert der Einfuhr betrug 1885: 882,500und der der Ausfuhr 295,000 Kronen. T. ist Sitz eines deutschenKonsuls. Unweit der Stadt liegen die dicht bevölkerten undreichen Inseln Nöterö und Tjömö. In derUmgegend finden sich mehrere in der Landesgeschichte berühmteOrte, z. B. das Slotsfjeld mit den Überresten dermittelalterlichen Burg Tönsberghus und der Edelhof Jarlsberg,sonst Söheim genannt.

Tonschluß, s. v. w. Kadenz.

Tonschnitt, s. Holzschneidekunst, S. 682.

Tonsillae (lat.), in der Anatomie s. v. w. Mandeln (s.d.); Tonsillotomie, Exstirpation derselben.

Tonsur (lat.), die geschorne Stelle auf dem Scheitel alsEhrenzeichen des katholischen Priesterstandes.

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd.

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Tontinen - Topana.

Büßende ließen sich schon früh das Hauptganz kahl scheren; von ihnen nahmen die Mönche diese Sitte an,und von diesen ging sie im 6. Jahrh. auf alle christlichenGeistlichen über, denen sie 633 auf der vierten Synode zuToledo gesetzlich vorgeschrieben ward. Man unterschied aber einkahl geschornes Vorderhaupt als T. des Apostels Paulus von derkreisförmigen Platte auf dem Scheitel, der T. des ApostelsPetrus. Jene war in der griechischen Kirche sowie in etwas andrerForm, als T. des Jacobus, bei den Briten und Iren üblich,diese in der abendländischen Kirche Priestern und Mönchengemein. Die eben erst in den geistlichen Stand Eingetretenen tragensie im Umfang einer kleinen Münze, die Priester im Umfangeiner Hostie, die Bischöfe noch größer, und bei demPapst bleibt nur ein schmaler Kreis von Haaren über der Stirnstehen.

Tontinen, Anstalten, welche gegen Entgelt Einzahlungenunter der Verpflichtung annehmen, dieselben mit Zinsen nach Ablaufbestimmter Zeit denjenigen der Einleger, welche dann noch am Lebensein werden, als Kapital oder Rente zurückzugewähren. Sieerhielten ihren Namen nach ihrem Erfinder, dem italienischen ArztLorenzo Tonti, welcher auf Veranlassung des Kardinals Mazarin 1653die erste Tontine in Paris einrichtete. Sie hatten vornehmlich inden romanischen Ländern großen Anklang gefunden. InFrankreich wurde das Tontinengeschäft bald nach seinerErfindung vom Staat betrieben, verwickelte denselben aber in argeFinanzschwierigkeiten und wurde deshalb wieder aufgegeben; dieletzte größere Tontine wurde 1759 eingerichtet. Die T.,welche sehr verschieden gestaltet sein können, gehörennicht zu den Versicherungsanstalten, wenn nicht der Unternehmer einRisiko dabei zu tragen hat (z. B. wenn die Auszahlungen in Form vonLeibrenten bis zum Tode des letzten Überlebenden erfolgen).Die oft und noch neuerdings versuchte Verbindung der T. mit einerLotterie ist auch in romanischen Staaten meistens ausdrücklichverboten, z. B. in Italien. Vgl. Versicherung. - Tontineheißt auch ein französisches Kartenglücksspiel, dasmit der vollständigen Whistkarte von 12-15 Personen gespieltwerden kann.

Tonus (lat., "Spannung"), eine während des Lebensbestehende schwache, unwillkürliche, aber vom Nervensystemabhängige Kontraktion der Muskulatur Während manfrüher den T. als eine automatische Funktion auffaßte,haben neuere Beobachtungen ergeben, daß er reflektorischerNatur sei, und daß die Muskeln erst infolge einer gewissenSpannung in tonische Kontraktion geraten. Da der Muskel in letztermZustand unzweifelhaft einen größern Stoffverbrauchaufweist als im Zustand der Ruhe, so dürfte der T. fürdie Erhaltung und Regulierung der Körperwärme eine hoheBedeutung besitzen. Von außerordentlichem Wert ist der T.für die Mechanik der Ortsveränderung; durch den T. wirdes nämlich ermöglicht, daß bei der Arbeit derMuskeln sofort eine Annäherung der Befestigungspunkte bewirktwird, ohne daß erst Zeit und Kraft zur Anspannung desschlaffen Muskels erforderlich wären. Nach dem Tod erlischtder T., und infolgedessen erscheinen die Gesichtszüge derLeichen welk und schlaff.

Tonverwandtschaft, ein moderner musikalischer Begriff,welcher sich auf die Zusammengehörigkeit der Töne zuKlängen bezieht. Verwandt im ersten Grade, direkt verwandtsind Töne, welche einem und demselben Klang angehören (s.Klang). Mit c im ersten Grad verwandt sind g, f, e, as, a und es,denn c:g gehört dem C dur-Akkord oder C moll-Akkord an, c:fdem F dur-Akkord oder F moll-Akkord, c:e dem C dur-Akkord oder Amoll-Akkord, c:as dem As dur-Akkord oder F moll-Akkord, c:a dem Fdur-Akkord oder A moll-Akkord, c:es dem As dur-Akkord oder Cmoll-Akkord. Im ersten Grad verwandte Töne sind konsonant(vgl. Konsonanz). Verwandt im zweiten Grad sind Töne, welchenicht demselben Klang angehören, daher nicht direktaufeinander bezogen werden, sondern durch Vermittelung vonVerwandten ersten Grades. Es ist müßig, Verwandtedritten und vierten oder noch fernern Grades anzunehmen, da alleTöne, welche nicht direkt verwandt sind, gegeneinanderdissonieren. Die verschiedene Qualität der Dissonanzenhängt allerdings von der Art der Vermittelung ab, welche dasVerständnis des Intervalls ermöglicht; diese Vermittelunggeschieht aber nicht durch Töne, sondern durch Klänge, sodaß die Klangverwandtschaft in Frage kommt. Töne, die imersten Grad verwandten Klängen angehören, sind leichtergegeneinander verständlich als solche, die auf im zweiten Gradverwandte Klänge bezogen werden müssen. Im ersten Gradverwandte Klänge sind: 1) solche gleichartige (beide Dur oderMoll), von denen der Hauptton des einen im ersten Grad verwandt istmit dem Hauptton des andern; 2) solche ungleichartige, von deneneiner der Wechselklang eines Akkordtons des andern ist, d. h.für den Durakkord der Mollklang (Unterklang) des Haupttons,Quinttons und Terztons, für den Mollakkord der Durklang desHaupttons, Quinttons und Terztons, also allgemein:Hauptwechselklänge (Ober- und Unterklang desselben Tons),Quintwechselklänge und Terzwechselklänge; dazu kommennoch die Leittonwechselklänge. Mit dem C dur-Akkord sind alsoim ersten Grad verwandt der G dur-, F dur-, E dur-, As dur-, Adur-, Es dur-, F moll-, C moll-, A moll- und E moll-Akkord; mit demA moll-Akkord dagegen der D moll-, E moll-, E moll-, Cis moll-, Cmoll-, Fis moll-, E dur-, A dur-, C dur- und F dur-Akkord. Alleübrigen sind nicht direkt verständlich, sondernbedürfen der Vermittelung oder nachträglichenErklärung. Da die Tonartenverwandtschaft abhängt von derVerwandtschaft der Toniken (Hauptklänge), so sind alle dieTonarten mit C dur, resp. A moll im ersten Grad verwandt, derenTonika einer der Klänge ist, welche hier als im ersten Gradverwandt mit dem C dur-, resp. A moll-Akkord aufgeführt sind.Im zweiten Grad verwandt mit der C dur-Tonart sind dagegen z. B. Ddur, B dur, H dur, Des dur, D moll, H moll und alle noch fernerstehenden; mit der A moll-Tonart: G moll, H moll, B moll, Gis moll,G dur, B dur etc.

Tonwechselmaschine, s. Pistons.

Tooke (spr. tuk), 1) Thomas, engl. Nationalökonom,geb. 1774 zu St. Petersburg als der Sohn des Historikers WilliamT., erwarb sich als Teilnehmer eines großen Handelshausesreiche Erfahrungen im Handels- und Finanzwesen. Von 1820, wo er dieberühmte Merchant's petition in favour of free tradeverfaßte, war er bis zu seinem Tod, 1858, an allenkommerziellen Enqueten und an der Gesetzgebung auf allen Gebietenwirtschaftlicher Natur beteiligt. Er veröffentlichte einesechsbändige "History of prices" (Lond. 1838-57, Bd. 5 u. 6von Newmarch bearbeitet), welche den englischen Handel von 1793 bis1856 schildert; "Inquiry into the currency principle" (1844); "Onthe bank charter act of 1844" (1855).

2) J. Horne, Schriftsteller, s. Horne Tooke.

Toowoomba, s. Tuwumba.

Top (Topp), s. Takelung.

Topana, eine Wurzel, s. Bunium.

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Topas - Topelius.

Topas, Mineral aus der Ordnung der Silikate(Andalusitgruppe), kristallisiert in säulenförmigen,rhombischen Kristallen, auch derb in mangelhaft ausgebildetenIndividuen (Pyrophysalit), in parallelstängeligen Aggregaten(Pyknit, Stangenstein), losen Kristallen und abgerolltenStücken auf sekundärer Lagerstätte. T. ist seltenfarblos und wasserhell, gewöhnlich gelblichweiß bisgelb, auch braun, rötlichweiß bis rot,grünlichweiß bis grün, mitunter violblau (dieseFarben bleichen aber am Tageslicht aus), durchsichtig biskantendurchscheinend, glasglänzend. Er phosphoresziert beimErhitzen mit gelblichem oder bläulichem Schimmer und besitztbesonders interessante thermoelektrische Eigenschaften. Härte8, spez. Gew. 3,51-3,57. Er besteht aus Aluminiumsilikat mit einemanalog zusammengesetzten Kieselfluoraluminium 5 Al2SiO5 +Al2SiFl10. Sehr reich sind die Kristalle an mikroskopischenFlüssigkeitseinschlüssen, darunter flüssigeKohlensäure. Durch Glanz und Durchsichtigkeit ausgezeichneteredler T. findet sich in Sibirien (Kristalle von über 10 kgGewicht), am Schneckenstein in Sachsen, zu Rozna in Mähren mitBergkristall, Turmalin, Steinmark oder Lithionglimmer ingranitischen Gesteinen, in Brasilien (Brasilian) inChloritschiefer. Außerdem führen die Zinnerzlagerstattendes Erzgebirges und Cornwalls T. ; auf sekundärerLagerstätte findet er sich oft mit andern Edelsteinen inBrasilien, auf Ceylon, in Aberdeen. Der Pyrophysalit stammt ausnorwegischen Graniten und Gneisen, der Pyknit aus denZinnerzlagerstätten von Altenberg in Sachsen und aus einemMagneteisenlager bei Durango in Mexiko (s. Tafel "Edelsteine", Fig.1-3). Die schönen Varietäten des Topases, namentlich diewasserhellen (Pingos d'agoa, Wassertropfen), die gelbroten und diedunkel gelbbraunen, sind Edelsteine zweiten Ranges. In Brasiliensollen jährlich gegen 900 kg gewonnen werden. Die gelbrotenglüht man vorsichtig in geschlossenen Gefäßen,wodurch sie lichtrot (gebrannte Topase, brasilische Rubine) werdenund im Preis bedeutend steigen. Die lichtbläulichen undgrünlichen Varietäten gehen als Aquamarin. SonstigeHandelsnamen sind den Fundorten entlehnt, da dieselben meistcharakteristische Farbenvarietäten liefern. So wird derbläuliche sibirischer oder taurischer T., der goldgelbebrasilischer T., der safrangelbe indischer T., der blaßweingelbe sächsischer T. oder Schneckentopas (vomSchneckenstein) und, wenn er eine grünliche Farbe hat, wohlauch sächsischer Chrysolith genannt. Orientalischer T. istbräunlichgelber Korund, böhmischer T. Citrin, die gelbgefärbte Varietät des Bergkristalls, zu welchem auch diegrauwolkigen Rauchtopase gehören. Gelblicher Flußspatführt ebenfalls den Namen T. Mit dem T. der Alten ist unserMineral wahrscheinlich nicht identisch. Die schlechtern Sorten desTopases dienen als Surrogat des Schmirgels.

Topasfels, auf wenige Lokalitäten beschränktesGestein von breccienartigem Aussehen, besteht aus Quarz und Topas,in körnigem Gemenge wechselnd mit Lagen von Turmalin; in diezahlreichen Drusenräume ragen Quarz- und Topaskristalle mitfrei ausgebildeten Enden hinein. Außerdem beteiligen sichnoch ein dem Steinmark ähnliches Mineral und Glimmer an derZusammensetzung. Das Gestein bildet z. B. den als Topasfundortbekannten Schneckenstein bei Auerbach im sächsischen Vogtland,wo es gangförmig im Glimmerschiefer auftritt. VerwandteGesteine werden von mehreren Zinnerzlagerstättenbeschrieben.

Topazolith, gelbe Varietät des Granats (s. d.).

Tope (aus sanskr. Stupa, "Tumulus"), die einfachste Formder Kultusdenkmäler des Buddhismus,grabhügelähnliche Gebäude, in denen, in kostbarenKapseln verschlossen, Reliquien Buddhas und seiner Schüleraufbewahrt wurden. Sie sind in halbkugelförmiger Ausbauchungaus Steinen errichtet und ruhen auf einem terrassenartigen, inspäterer Zeit bisweilen hoch emporgeführten Unterbau,manchmal von einem Kreise schlanker Säulen umgeben und mitbesonderer Portalanlage versehen; die Krone bildet ein Schirm. DieHalbkugel soll eine Wasserblase vorstellen, womit Buddha denmenschlichen Leib vergleicht. Dergleichen Denkmäler sind ingroßer Anzahl über Indien bis Afghanistan hinein undgegen Norden bis ins südliche Sibirien verbreitet. Auf Ceylonund in Vorderindien heißen sie Dagopa (ausDhâtugôpa, "Reliquienbehälter"). Vgl. Ritter, DieStupas (Berl. 1838); Wilson, Ariana antiqua (2. Ausg., Lond. 1861);Cunningham, The Bhilsa Topes (das. 1854); Köppen, Die Religiondes Buddha, Bd. 1, S. 535 ff. (Berl. 1859).

Topeka, Hauptstadt des nordamerikan. Staats Kansas, amKansasfluß, mit Gelehrtenschule (Lincoln College),Töchterschule, Staatenhaus, Mühlen, Gießereien,Eisenbahnwerkstätte und (1880) 15,452 Einw. In der NäheKohlen- und Eisengruben. T. wurde 1854 gegründet.

Topelius, Zachris, finnisch-schwed. Dichter undSchriftsteller, geb. 14. Jan. 1818 auf Kuddnäs Gaard beiNykarleby, wurde, nachdem er bei Runeberg Privatunterrichtgenossen, Student in Helsingborg, promovierte 1840 und redigiertevon 1842 bis 1860 die "Helsingfors Tidningar". worin er seineersten Gedichte und Novellen brachte. 1852 wurde er Lektor derGeschichte am Gymnasium in Wasa, 1854 außerordentlicherProfessor der finnischen Geschichte an der UniversitätHelsingborg, 1863 Ordinarius, endlich 1876 Professor derallgemeinen Geschichte daselbst, von welcher Stellung er 1878 mitdem Titel Staatsrat zurücktrat. T. ist nächst Runebergder angesehenste Dichter Finnlands; er hat sich mit Glück inallen Zweigen der Poesie bewegt, und überall begegnet maneinem milden, frommen Sinn in einer vollendeten Form. In der Lyrik("Ljungblommor", Stockh. 1845-54; "Sånger", 1861; "Nya blad",1870) ist er am glücklichsten, wenn er seinen patriotischenund religiösen Stimmungen Worte leiht. Seine bekanntestenSchauspiele sind: "Efter femtio år" ("Nach 50 Jahren",Stockh. 1851), das reich an Effekt ist, aber Gustavs Zeit mit zuschwarzen Farben malt, und "Regina af Emmerits" (1854). 1861 gab ereine Sammlung seiner "Dramatiska dikter" heraus (neue Ausg. 1881).Am populärsten wurde er durch seine Novellen undKinderbücher. Unter den erstern ragt besonders hervor:"Fältskärns berättelser" ("Erzählungen einesFeldschers", Stockh. 1858-67, 5 Bde.; deutsch, Leipz. 1880), einCyklus romantischer Schilderungen aus Finnlands und SchwedensGeschichte von Gustav II. Adolf bis Gustav III. Die spätern"Sagor" (1847-52, 4 Sammlungen) und "Läsning för barn"(1865-84, 6 Bücher; ins Finnische, Norwegische, Engl. u.Deutsche übersetzt) machten ihn zum Liebling der Jugend. Seinfür die Volksschulen Finnlands geschriebenes "Naturens bok"erlebte sieben schwedische und fünf finnische Auflagen. Aufdem Boden strenger Wissenschaft stehen seine Vorlesungen etc. undseine "Geschichte des Kriegs in Finnland" (1850). Als anziehenderSchilderer seiner Heimat endlich erscheint er in den Werken:"Finland

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Topete y Carballo - Topik.

framstäld i teckningar" (1845-52) und "En resa i Finland"(1873; deutsch von Paul, Helsingf. 1885). T.' Popularitätberuht auf seinem reinen, für alles Gute und Edle warmenGefühl und den zu gleicher Zeit frischen und wehmütigenNaturtönen, welche durch seine Dichtungen gehen. In deutscherÜbersetzung erschienen neuerdings von ihm sechs Novellen: "AusFinnland" (Gotha 1888, 2 Bde.).

Topete y Carballo (spr. i karwalljo), I. B., span.Admiral, geb. 24. Mai 1821 zu Tlacotalpa in Yucatan, trat 1835 indie Marine, befehligte 1860 im Kriege gegen Marokko die spanischeFlotte, zeichnete sich dann in dem Kriege gegen Peru aus, war 1867Konteradmiral und Hafenkapitän von Cadiz und nahmhervorragenden Anteil an der Revolution vom September 1868. Aufseinem Schiff Saragossa ward die Flagge der Empörung zuerstaufgepflanzt. Er ward als Marineminister Mitglied derprovisorischen Regierung vom 8. Okt. 1868, geriet jedoch alsBeförderer der Thronkandidatur des Herzogs von Montpensierwiederholt mit Prim in Streit, nach dessen Tod er wenige Tage dasPräsidium des Kabinetts innehatte. 1871-72 war T. Minister derKolonien, im Juni 1872 wieder wenige Tage und vom 4. Jan. bis 13.Mai 1874 Marineminister. Hierauf zog er sich in das Privatlebenzurück und starb 31. Okt. 1885 in Madrid.

Topfbaum, s. Lecythis.

Topfbraten, in Thüringen und Sachsen beliebtesGericht, zu dessen Herstellung Zunge, Niere, Herz, Rüssel,Ohrwange und etwas Schwarte eines frisch geschlachteten Schweinsgekocht und mit einer braunen Zwiebelsauce gedämpftwerden.

Topfen, s. Quark.

Töpfer, 1) Johann Gottlob, Organist, geb. 4. Dez.1791 zu Niederroßla in Thüringen, besuchte dasGymnasium, dann das Lehrerseminar in Weimar, wo er zugleich unterDestouches und A. E. Müller gründliche Musikstudienmachte, wurde 1817 Seminarmusiklehrer, 1830 Stadtorganist daselbst;starb 8. Juni 1870. Seine Bedeutung beruht auf seinen Schriftenüber die Orgel, durch welche er vielfach reformatorischgewirkt hat. Die hauptsächlichsten sind: "Die Orgel, Zweck undBeschaffenheit ihrer Teile" (Erf. 1843); "Theoretisch-praktischeOrganistenschule" (das. 1845); "Lehrbuch der Orgelbaukunst" (Weim.1856, 4 Bde.; 2. Aufl. von Allihn, 1888) etc. Als Komponist trat ermit einer großen Orgelsonate, einem Konzertstückfür Orgel, einer Kantate: "Die Orgelweihe", einem Choralbuch(4. Aufl., Weim. 1878), kleinen Orgelstücken u. a. hervor.

2) Karl, Lustspieldichter, geb. 26. Dez. 1792 zu Berlin,debütierte als Schauspieler in Strelitz, ging dann nachBreslau, Brünn und 1815 an das Hofburgtheater zu Wien. Danebenversuchte er sich auch in Lustspielen, von denen "Der beste Ton" u."Freien nach Vorschrift" von der Kritik günstig aufgenommenwurden. 1820 ließ er sich als Schriftsteller in Hamburgnieder, wo er 22. Aug. 1871 starb. Von seinen späternStücken hat besonders "Rosenmüller und Finke" Glückgemacht. Seine dramatischen Produkte, welche als "Lustspiele" (neueAusg., Leipz. 1873, 4 Bde.) erschienen, entbehren zwar jedespoetischen Gehalts, zeichnen sich aber durch theatralischeWirksamkeit und eine gewisse Sorgfalt in der Durchführung aus.Auch "Erzählungen und Novellen" (Hamb. 1842-44, 2 Bde.)veröffentlichte T.

Töpferei (Häfnerei), ehemals zünftigesHandwerk, welches sich mit Verfertigung irdener Ware, seltener mitder Fabrikation feinerer Arbeiten, zuweilen auch mit derHerstellung irdener Öfen und in neuerer Zeit an manchen Ortenauch mit der Fabrikation architektonischer Verzierungen, Basreliefsetc. beschäftigt. S. Thonwaren.

Töpfererz, s. Alquisoux.

Töpferscheibe, s. Thonwaren, S. 663.

Töpferthon, s. Thon.

Töpffer, Rudolf, Maler und Novellist, geb. 31. Jan.1799 zu Genf, Sohn des Malers Wolfgang Adam T. (gest. 1847),widmete sich der Kunst, ging aber wegen eines Augenleidens bald zumLehrfach über, gründete 1825 ein Pensionat, das er bis zuseinem Tod leitete, wurde 1832 zum Professor an der Genfer Akademieernannt und starb 8. Juni 1846. Von seinen Novellen fanden denmeisten Beifall die "Nouvelles genevoises" (Par. 1845; deutschunter andern von Zschokke, Aarau 1839 u. Stuttg. 1885); ferner"Voyages en zigzag" (1844); "Nouvelles voyages en zigzag" (1854);"Nouvelles et mélanges" (1840); "La bibliothèque demon oncle" (1843; deutsch, Leipz. 1847) und "Rose et Gertrude"(1845; deutsch, Hildburgh. 1865). Für seinekünstlerischen Arbeiten bediente er sich nur des Stifts; aberdie Genrezeichnungen und Karikaturen, womit er seine humoristischenReisebeschreibungen, wie die "Voyages en zigzag" , illustrierte,sind voll Wahrheit, Reiz und Satire. Namentlich gehörenhierher seine sechs kleinen Romane in Bildern, die in der"Collection des histoires en estampes" (mit französischem u.deutschem Text, Genf 1846-47, 6 Bde.) gesammelt erschienen. Vgl.Rambert. Écrivains nationaux suisses, Bd. 1 (Genf 1874);Relave, La vie et les oeuvres de T. (Par. 1886); Blondel undMirabaud, Rodolphe T. (das. 1887).

Topfgießerei, die Herstellung gußeisernerKochgeschirre.

Topfhelm, s. Helm.

Topfpflanzen, die in Töpfen kultivierten Pflanzen imGegensatz zu den Freilandpflanzen, welche im freien Landherangezogen werden.

Topfstein (Lavezstein, Giltstein, Lavezzi, Pierreollaire), meist graugrünes Gestein, aus einem Gemenge vonChlorit, Talk, auch Serpentin und gelegentlich Quarz sowiekohlensauren Verbindungen bestehend, ist lokal mit Serpentinen,Talk- und Chloritschiefern eng verknüpft, kommt in den Alpen(Chiavenna), in Norwegen und Nordamerika vor und eignet sich durchseine Weichheit, welche Schneiden und Drehen gestattet, sowie durchseine Feuerbeständigkeit zur Herstellung von Töpfen,Ofenplatten etc.

Top-Hane (türk.), Zeughaus, Arsenal; Name einerVorstadt in Konstantinopel.

Topik (griech.), bei den Alten die Lehre von derAuffindung des Stoffes zum Zweck der rhetorischen Behandlung irgendeines Gegenstandes; insbesondere die systematische Zusammenstellungallgemeiner Begriffe und Sätze (Topen, lat. loci communes),die beim Ausarbeiten von Reden als Richtschnur oder Leitfadenfür die Auffindung und Wahl zweckmäßigerBeweisgründe dienen sollten. Die T. wurde von den späterngriechischen Rhetorikern und Grammatikern sowie von den Römernmit Vorliebe behandelt, z. B. von Cicero in seinen Schriften: "Deinventione" und "Topica"; doch war sie im ganzen ein bloßerSchematismus, insofern man derselben nicht die logischen Kategorienzu Grunde legte, sondern gewisse allgemeine Dispositionenaufstellte, um zur Auffindung des Stoffes zu gelangen. ImMittelalter verlor sie sich in leere Spielereien, und in neuererZeit hat man eine besondere Behandlung der-

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Topin - Torda-Aranyos.

selben als unersprießlich ganz aufgegeben. In derGrammatik ist T. die Lehre von den Stellen, welche den einzelnenWörtern im Satz und den Sätzen in der Periode zukommen.Biblische T. oder Topologie, eine Theorie der Grundsätze, nachdenen der Theolog bei der Wahl und Behandlung der biblischenBeweisstellen zu verfahren hat.

Topin (spr. -päng). Marius, franz.Geschichtschreiber, geb. 25. Dez. 1838 zu Aix, Neffe Mignets,besuchte das dortige Lyceum und das in Gap und war 1856-70 in derVerwaltung der Steuern thätig. Während der Belagerung vonParis 1870-71 befehligte er ein Bataillon Nationalgarde undgründete 1872 mit Mitchell den "Courrier de France". 1873übernahm er die Redaktion der "Presse" und verteidigte dasMinisterium Broglie, da er bonapartistisch gesinnt ist. Er schrieb:"Le cardinal de Retz, son génie, ses écrits" (1864,3. Aufl. 1872); "Histoire d'Aigues-Mortes" (1865); "L'Europe et lesBourbons sous Louis XIV" (1867, 3. Aust. 1879); "L'homme au masquede fer" (1869, 3. Aufl. 1870), welche Werke von der Akademie mitPreisen gekrönt wurden; "Louis XIII et Richelieu" (1876),ebenfalls preisgekrönt, und "Romanciers contemporains"(1876).

Topinambur, s. Helianthus.

Topisch (griech.), örtlich, im Gegensatz zuallgemein, z. B. topische Schmerzen, topische Arzneien, topischeRecidive bösartiger Geschwulste.

Töpler, August, Physiker, geb. 7. Sept. 1836 zuBrühl a. Rhein, studierte in Berlin Chemie und Physik, wurdeChemiker, dann Dozent an der landwirtschaftlichen Akademie zuPoppelsdorf bei Bonn, 1864 Professor an der polytechnischen Schulezu Riga. Er widmete sich indes hauptsächlich der Physik undwurde 1868 als Professor der Physik nach Graz berufen, von wo er1876 in derselben Eigenschaft an das Polytechnikum zu Dresdenübertrat. T. zeigte sich besonders geschickt in Auffindungneuer Beobachtungsmethoden und Konstruktion neuer Apparate. Seine"Optischen Studien nach der Methode der Schlierenbeobachtung" (Bonn1865) zeigten, wie man eine ganze Reihe von Erscheinungen, welchesich sonst der Beobachtung entziehen, sichtbarmachen kann. Ebensomachte er die stroboskopischen Scheiben zur Beobachtungschwingender Körper nutzbar. Er konstruierte eineQuecksilberluftpumpe, welche gar keine Hähne verlangt unddadurch einen großen Vorzug vor der Geißlerschen hat,gegen welche sie allerdings den Nachteil erheblichgrößerer Dimensionen besitzt. Gleichzeitig mit Holtzkonstruierte T. eine wesentlich auf denselben Prinzipien beruhendeElektrisiermaschine, welche sich durch die Anwendung vonMetallbelegungen von derjenigen von Holtz unterscheidet und vondieser zurückgedrängt wurde, in der letzten Zeit abersich allgemeinere Anerkennung verschaffte, seit T. ihr durchAnwendung einer großen Anzahl von Scheiben eine frühernicht geahnte Stärke gab. Durch eine Anzahlmathematisch-physikalischer Arbeiten, so über dieFundamentalpunkte eines optischen Systems, über die Zerlegungzusammengesetzter Schwingungen u. a. m., hat sich T. ebenso alsgediegener Theoretiker bewiesen.

Töpliz, 1) Badeort in Böhmen, s. Teplitz. -

2) Badeort in Krain, unfern Rudolfswerth, mit warmen Quellen(34-38° C.) und (1880) 363 Einw. Vgl. Radics, Das Mineralbad T.(Wien 1878).

Topo, Feldmaß in Peru, = 5000 QVaras = 35,9128Ar.

Topographenkorps, eine in Rußland zum Zweck derLandesvermessung 1822 errichtete und 1877 reorganisierte Truppe miteinem Etat von 9 Generalen, 75 Stabs- und 370 Oberoffizieren,welche sich aus den Topographenunteroffizieren derTopographenabteilung ergänzen, nachdem dieselben einendreijährigen Kursus auf der Topographenschule in St.Petersburg mit Erfolg durchgemacht haben.

Topographie (griech.), Ortsbeschreibung mitmöglichst genauem Eingehen auf alle Einzelheiten, welche dasGelände bietet, seien sie von der Natur oder durch Kunstgeschaffen. Die Gewinnung eines möglichst genauen Kartenbildeseines Landes ist der Zweck der topographischen Aufnahme desselben,die in den europäischen Staaten durch die topographischeAbteilung der Generalstäbe in Maßstäben von1:20,000 bis 1:25,000 erfolgt, während die topographischenKarten teils in denselben, teils in kleinern Maßstäbenherausgegeben werden (s. Landesaufnahme).

Topologie (griech.), Ortslehre, Ortskunde.

Topolya (spr. topolja), Markt im ungar. KomitatBács-Bodrog, an der Bahnlinie Budapest-Semlin, mit (1881)9500 ungar. Einwohnern, Weinbau, Schloß undBezirksgericht.

Toponomastik (griech., topographische Onomastik),geographische Namenkunde, s. Onomatologie.

Topp, Toppnant, s. Takelung

Topuszko (spr. topúss-), Kurort imkroatisch-slawon. Komitat Agram, an der Glina, mitSchlammbädern und zahlreichen gegen Gicht und Rheuma wirksamenindifferenten Thermen (60° C.), deshalb das kroatische"Gastein" genannt. Vgl. Hinterberger, Die Thermal- undSchlammbäder zu T. (Wien 1864).

Torcello (spr. -tschello), Insel in den Lagunen vonVenedig, 9 km nordöstlich von der Stadt gelegen, mit wenigenvon der ehemaligen bedeutenden Stadt T. erhaltenen Gebäuden,unter denen besonders der Dom im Basilikensystem aus dem 7. Jahrh.und die Kirche Santa Fosca, ein Zentralbau aus dem 9. Jahrh.,Erwähnung verdienen. Das gegenwärtige Dorf T. hat nur 128Einw.

Torda (Thorenburg), Stadt im ungar. Komitat Torda-Aranyosund Station der Ungarischen Staatsbahn, am linken Ufer des Aranyos,mit Franziskanerkloster, 9 Kirchen (2 römisch-katholische,eine lutherische, eine reformierte, eine unitarische, einegriechisch-unierte und 3 griechisch-nichtunierte), schönemneuen Komitatshaus und (1881) 9434 ungarischen und rumän.Einwohnern, die Getreide- und Weinbau und Viehzucht betreiben. T.,Sitz des Komitats und eines Gerichtshofs, hat ein unitar.Untergymnasium, bedeutende Viehmärkte, ein großes, schonseit Römerzeiten bekanntes Salzbergwerk, mehrere Salzteichemit einem Solbad und mitten in der Stadt Reste der ehemaligenThorenburg. In der Nähe von T., wo sich viele römischeAltertümer finden und einst die römische Kolonie Pataissa(Salinä) stand, ist die wild romantische Tordaer Schlucht (320m tief und 25 km lang), die einen 30 km langen Kalkzug von oben bisunten quer durchschneidet, und durch deren Mitte, fast die ganze6-20 m breite Sohle einnehmend, der Bach Kerekes fließt. ImS. die pittoresken Toroczkóer Kalkfelsen und der malerischgelegene, einst von Deutschen gegründete, jetzt vonunitarischen Ungarn bewohnte Ort Toroczkó (Eisenmarkt).

Torda-Aranyos (spr. -áranjosch), ungar. Komitat inSiebenbürgen, grenzt an die Komitate Arad, Bihar, Klausenburg,Maros-Torda, Kis-Küküllö, Unterweißenburg u.Hunyad, umfaßt 3370 qkm (61,2 QM.), wird vom Aranyos undseinen Nebenflüssen bewäs-

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Tordalk - Torf.

sert, ist besonders im W. durch Ausläufer des Bihargebirgessehr gebirgig (Muntje le mare 1828 m) und hat (1881) 137,031ungarische und rumän. Einwohner, die meist Berg- und Ackerbau,Viehzucht und Holzhandel betreiben. T. ist reich an Edelmetallenund Mineralschätzen und wird von der Ungarischen Staatsbahn(Klausenburg-Kronstadt) durchzogen. Sitz des Komitats ist Torda.

Tordalk, s. Alk.

Torell, Otto Martin, Naturforscher, geb. 5. Juni 1828 zuWarberg, studierte in Lund Medizin und Naturwissenschaften, machtegrößere wissenschaftliche Reisen in Europa, unternahm1858 mit Nordenskjöld eine Reise nach Spitzbergen und besuchte1859 Grönland und 1861 abermals mit NordenskjöldSpitzbergen. Inzwischen war er in Lund zum Adjunkten der Zoologieund zum Intendanten des zoologischen Museums ernannt worden, 1866erhielt er die Professur der Zoologie und Geologie in Lund, und1871 wurde er Chef der geologischen Untersuchung Schwedens inStockholm. Die wissenschaftlichen Ergebnisse seiner Reisen, seineStudien über die Eiszeit und die Tiefseefauna publizierte erin den Schriften der Universität Lund und der Akademie derWissenschaften zu Stockholm.

Torelli, 1) Giuseppe, Violinspieler, geboren um 1650 zuVerona, gest. 1708 als Konzertmeister in Ansbach, war mit Corelli(s. d.) der bedeutendste Vertreter der Instrumentalmusik des 17.Jahrh. und gilt als der Schöpfer des noch bis zu HändelsZeit in Gebrauch gebliebenen Concerto grosso, derjenigen Form, auswelcher die moderne Orchestersymphonie hervorgegangen ist.

2) Achille, ital. Lustspieldichter, geb. 5. Mai 1844 zu Neapel,erhielt seine Ausbildung in einem Privatinstitut und schrieb mit 16Jahren seine erste Komödie: "Chi muore, giace". womit er einenTuriner Staatspreis gewann. Weniger glücklich waren ein paarweitere Versuche: "Il buon vecchio tempo", "Cuore e corona", "Primadi nascere"; besser gefiel das Lustspiel "Il precettore delrè" (später betitelt: "Una corte nel secolo XVII"),dessen Aufführung der ältere Dumas beiwohnte, der demjungen Dichter eine glänzende Laufbahn verkündigte. Mit"La missione della donna" und "La verita" (1875) errang T. wiederPreise; auch "Gli onesti" fand Anerkennung. 1866 kämpfte T.als Freiwilliger im italienischen Heer und erlitt in der Schlachtbei Custozza einen Sturz vom Pferd. Einen außerordentlichenTriumph feierte er darauf (1867) mit seinem Lustspiel "I mariti".Den Erwartungen, welche dies Stück für Torellis Begabungerweckte, vermochte er mit den spätern Leistungen nichtvöllig zu entsprechen; doch errang er noch manchen Erfolg, somit "La fragilità" (1868), "La moglie" (1870), "Nonnascelerata" (für die Ristori geschrieben, 1870); ganz besondersaber erfreuten sich "Triste realtà" (1871) und "Il coloredel tempo" (1875) ehrenvoller Aufnahme. Dagegen blieben "Consalvo"(1872), "La fanciulla" (1873), "La contessa di Berga" (1874),"Mercede" (1878), "Scrollina" (1880) u. a. ohne Wirkung. Der grelleWechsel von Erfolgen und Mißerfolgen wirkteeinigermaßen verdüsternd auf das Gemüt des Dichtersund nährte eine Empfindlichkeit, die auch in seiner lyrischenSammlung "Schegge" zum Ausdruck kommt.

Toreno, Don José Maria Queypo de Llana Ruiz deSaravia, Conde de, span. Staatsbeamter und Geschichtschreiber, geb.1786 zu Oviedo, nahm Anteil an der Erhebung der spanischen Nationgegen die Franzosen 1808 und erwarb sich schon damals alsUnterhändler des Bündnisses zwischen Spanien und Englandsowie als Deputierter bei den Cortes 1810 und 1812 den Ruf einesgewandten Diplomaten und Staatsmannes. Nach der RückkehrFerdinands VII. 1814 flüchtete er nach Frankreich und kehrteerst 1820 in sein Vaterland zurück. Infolge derWiederherstellung der absolutistischen Regierungsgewalt 1823abermals verbannt, lebte er in Paris, kehrte 1832 nach Spanienzurück, gewann bald bedeutenden politischen Einfluß undtrat 1834 als Finanzminister in das Kabinett. Im April 1835übernahm er das Portefeuille des Auswärtigen und diePräsidentschaft des Kabinetts. Doch führtenAufstände, die seine reaktionären Maßregelnhervorriefen, schon im September seinen Sturz herbei. In denCortes, die 18. Febr. 1840 zusammentraten, und in die er alsMitglied der Prokuratorenkammer gewählt worden war, zeigte ersich wieder als entschiedener Moderado. Nach dem bald darauferfolgenden Sturz der Moderadospartei begab er sich wieder nachParis, wo er 16. Sept. 1843 starb. Als Schriftsteller gewann ervornehmlich durch seine "Historia del levantamiento, guerra yrevolucion de España" (Madr. 1835-37, 5 Bde.; Par. 1838, 3Bde.; deutsch, Leipz. 1836-38, 5 Bde.) Ruf.

Toreros (fälschlich Toreadores, span.), alle amStiergefecht Beteiligten.

Toreutik (griech., lat. Caelatura), die Bildnerei inMetallen, zur Unterscheidung von Skulptur (sculptura), der Arbeitin Stein, Thon und Holz. Man denkt bei T. vorzugsweise an dieBearbeitung des Metalls mit scharfen Instrumenten, an dasZiselieren, das Herausschlagen oder Treiben der Formen mittelsBunzen, doch unter Umständen auch an ein teilweisesGießen in Formen. Die Künstler in dieser Arbeitheißen Toreuten.

Torf, Aggregat pflanzlicher Substanzen in verschiedenemGrade der Zersetzung, mit erdigen Materialien gemischt. In denersten Stadien der Bildung läßt der T. die Struktur derPflanzen noch deutlich erkennen; bei tiefer greifender Zersetzungentsteht ein hom*ogener, wenigstens bei Betrachtung mitunbewaffnetem Auge strukturloser Körper. Nicht selten sind ineinem und demselben Torflager die untern Schichten, als dieältern und die dem größern Druck ausgesetzten, inder Zersetzung weiter vorgeschritten (reifer) als die obern(unreifen). Wo die Bodenbeschaffenheit die Ansammlungstagnierender, seichter Wasser gestattet, werden dieselben durchgesellig auftretende Pflanzen überwuchert, die dann ihrerseitswiederum die Wasser vor schneller Verdunstung schützen. Soentsteht ein Mittelzustand zwischen Land und Wasser: die Moore(Lohden der Oberpfälzer, Ried in Schwaben und Thüringen,Moos in Bayern). Es setzt demnach die Torfmoorbildung zunächstbeckenartige Einsenkungen des Bodens oder Kommunikationen mitbenachbarten Flüssen und Seen sowie einen undurchlässigenUntergrund voraus. Dieser wird entweder von fettem, schlammigemThon (dem Knick der Norddeutschen) oder von einemeigentümlichen Mergel (Wiesenmergel, Alm in Südbayern)gebildet. Auch auf spaltenfreien Gesteinen, die ein Versinken desWassers nicht gestatten, und namentlich auf solchen, welche beiihrer Verwitterung einen undurchlassenden Thon liefern, könnenMoore entstehen. Ferner müssen die klimatischen Bedingungeneiner schnellen Verdunstung des Wassers entgegenarbeiten, wie inregen- und nebelreichen Gegenden, weshalb namentlich diegemäßigten Zonen die eigentliche Hei-

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Torf (Entstehung der Torfmoore).

mat der Moore bilden, während sie sich in der heißenZone auf hoch gelegene Plateaus und auf undurchdringlicheWälder beschränken. Außer durch dieatmosphärischen Niederschläge, beziehen die Moore dasWasser aus Seen, Schnee- und Eisfeldern, aus Flüssen, welchletztere sie oft saumartig umziehen. Ferner können Landseenmit flachen Ufern der Vermoorung unterliegen. Von denUferrändern aus zieht sich eine das Wasser überwucherndeVegetation immer tiefer in den See hinein; schwimmende Vorpostenwerden abgerissen, bilden bewegliche Inseln, auf denen sich einereiche Sumpfflora ansiedelt, bis die Masse zu schwer wird und zuBoden sinkt, um durch Wiederholung des Spiels eine immermächtigere, das Wasser allmählich verdrängendeSchicht zu bilden, die sich endlich mit der vom Ufer herfortschreitenden Moorbildung vereinigt. So besitzt der Federsee inOberschwaben heute nur noch eine Wasseroberfläche von 256Hektar, während er noch gegen das Ende des vorigenJahrhunderts 1100 Hektar groß war. Das Steinhuder Meer inSchaumburg-Lippe ist von 5400 auf 3600 Hektar reduziert. Auch derKochelsee, der Chiemsee u. a. sind in einem solchenVertorfungsprozeß begriffen. Die Pflanzen, die zur Vermoorungführen, sind solche, welche in großer Anzahl derIndividuen vorkommen und stark wuchern, besonders aber verfilzteWurzeln treiben: die Heiden (Calluna vulgaris und Erica tetralix),Riedgräser (Carex-Arten), Wollgräser (Eriophorum),Scirpus, Juncus, ganz besonders Nardus stricta, von Moosen Hypnum-und Sphagnum-Arten, endlich in hoch gelegenen Lokalitäten dieZwergkiefer (Pinus Pumilio). Je nach der hervorragenden Beteiligungeinzelner der genannten Pflanzen an der Moorbildung unterscheidetman Wiesen- (Grünlands-) Moore und Heide- (Moos- oder Hoch-)Moore. In erstern dominieren die Carex- und Eriophorum-Arten;bisweilen tritt auch Hypnum in großer Menge auf, währendSphagnum fehlt. Ihr Hauptsitz sind die Ufer der Flüsse undSeen und zwar namentlich (den Bedürfnissen der aufbauendenPflanzen entsprechend) derer mit kalkhaltigem Wasser. Sieumsäumen die Wasserbehälter, vom Trocknen aus zum Nassenhin immer weiter wachsend. Dieser Richtung des Wachsensentsprechend, besitzen sie eine flache, mitunter selbst nach demInnern zu eingesenkte Oberfläche. Ihre Torflager sindgewöhnlich nur 1-2 m mächtig, selten bis 3 m, ganz selten6 m und mehr. Hierher zählen viele norddeutsche Torflager, dieDonau- und Isarmoore, die vertorfenden Seen etc. Die zweite Art derMoore bildet sich in Mulden und Becken, in denen sich etwas Wasseransammelt, das zunächst Kolonien von Sphagnum entstehenläßt, auf denen sich dann besonders Erica und Callunaansiedeln. Bei günstigen Wässerungsverhältnissenimmer größere und größere Kreise schlagend,gibt sich hier die Richtung der Ausbreitung durch eine Wölbungzu erkennen, deren Gipfelpunkt im Innern bis zu 10 m höherliegen kann als der Rand, eine Eigenheit der Erscheinung, aufwelche der Name Hochmoor hinweist. Die solchergestalt gebildetenund zusammengesetzten Moore, die sich in Norddeutschland, dannnamentlich auch in den mittel- und süddeutschen Gebirgenfinden, besitzen meist stärkere Torflager als die Wiesenmoore,und es werden aus der Emsgegend Mächtigkeiten bis zu 11 m, ausSüdbayern solche von 7,5 m und darüber, aus dem Jura bis12 m angegeben. Endlich kommen Moore von gemischtem Charakter vor,indem bald Inseln mit Wiesenmooren in Hochmooren, bald mitHochmooren in Wiesenmooren auftreten. - In schon abgebautenTorflagern pflegt der T. nachzuwachsen, wenn mit der Entfernung derTorfmasse nicht zugleich auch die Ursachen zur Moorbildunghinweggenommen wurden. Nur wo (natürliche oderkünstliche) Entwässerung und (natürliche oderkünstliche) Änderung des wasserundurchlassendenUntergrundes in einen durchlassenden vorliegt, unterbleibt dasNachwachsen, wie denn die sogen. Fehnkolonien (s. d.) nur dortdurchführbar sind, wo eine gründliche Entwässerungund eine sorgfältige Entfernung der torfbildenden Massestattfinden. - Bei der Umwandlung der abgestorbenenPflanzensubstanz in T. liefern zunächst dieProteinkörper, Dextrin und Stärke unter Einfluß vonSauerstoff Kohlensäure, Schwefelwasserstoff,Phosphorwasserstoff, Ammoniak und Humussäuren. Langsamerzersetzt sich die Holzfaser zu einer erst gelben (Ulmin),später braunen Masse (Humin), während der Gehalt derPflanzen an Kieselsäure und unlöslichen Mineralsalzenunverändert in das Zersetzungsprodukt übergeht. Durcheigne Schwere und durch den Druck nachwachsender Generationensinken die Massen zusammen, verdichten sich und unterliegen einerstetig fortschreitenden Umsetzung, als deren gasige Hauptproduktesich Kohlensäure und Kohlenwasserstoffe bilden, währenddie Masse selbst schwärzer, hom*ogener und reicher anKohlenstoff wird. Die Gasexhalationen rufen mitunter in derzähflüssigen Masse Aufblähungen hervor, welche, wenndas Magma den Rand übersteigt, zu Moorausbrüchenführen können. Übrigens ist die großewasseraufsaugende Kraft des Torfs ebenfalls oft die Ursache solcherAufblähungen und Ausbrüche. Das Produkt desVertorfungsprozesses, der T., besitzt keine bestimmte chemischeZusammensetzung und ist auch in seinen physikalischen Eigenschaftenje nach dem Grad, bis zu welchem die Umsetzung sich bereitsvollzogen hat, bedeutend verschieden. So ist der T. baldschlammartig, bald dicht, hellgelb, dunkelbraun oder pechschwarz.Oberflächlich getrocknet, kann er 50-90 Proz. Wasser aufnehmenund gibt dasselbe in trockner Luft nur sehr allmählich ab,verliert aber diese Eigenschaft, sobald er vollkommen ausgetrocknetist. Bei Abschluß der Luft erhitzt, gibt der T.Kohlensäure, Kohlenoxyd, Kohlenwasserstoffe, Ammoniak, Teerund Wasser; beim Verbrennen liefert er eine Asche, die arm anAlkalien ist, thonigen Sand, Magnesium- und Calciumsulfat sowieEisenoxid neben wenig Phosphorsäure und Chlor enthält.Für die quantitative Zusammensetzung ergeben sich folgendeungefähre Grenzwerte: Kohlenstoff 40-60 Proz., Wasserstoff4-6,5, Sauerstoff 25-35, Stickstoff 1-6, Asche 1-15 Proz.Benennungen einzelner Varietäten des Torfs sind, solange sichdie komponierenden Pflanzen erkennen lassen, diesen entnommen, so:Konferventorf (wesentlich aus Konferven gebildet), Moostorf(Sphagnum), Wiesentorf (Ried- und Wollgräser, Binsen),Heidetorf (Erica tetralix), Holztorf (Wurzel- und Stammteile vonWeiden, Erlen etc.). Auch die Aufhäufung von Tangen soll zurBildung von T. (Meertorf) führen; doch ist für mehreresogen. Meertorfe die Zusammensetzung ausSüßwasserpflanzen nachgewiesen und ihr heutigesVorkommen am Meeresgrund oder am Ufer in einem tiefern Niveau alsdie Meeresoberfläche als Folge von Senkungserscheinungenerkannt worden. Andre Benennungen bezeichnen den Zustand, inwelchem sich die in Zersetzung begriffenen Substanzen befinden. Soläßt der Rasentorf, gewöhnlich die oberste Deckeder Moore bildend, die Reste noch deutlich ernennen, die nur einegelbe bis braune Farbe

Torf (Gewinnung).

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angenommen haben. Ihn unterteufend und die untersten Lageneinnehmend, tritt häufig Pechtorf auf, schwärzlichbraunbis dunkelschwarz, strukturlos, auf der Schnittflächewachsglänzend. Die ungefähre Mitte zwischen beiden,zugleich aber auch stark mit Erdteilen gemengt, hält dieTorferde. Der Fasertorf ist eine dem Pechtorf ähnliche Masse,von Pflanzenteilen, die einen geringen Grad der Zersetzung zeigen,durchzogen. Im Papiertorf ist unvollkommen zersetzte Pflanzenmassein dünne, leicht voneinander abzuhebende Lagen geteilt. DerBaggeroder Schlammtorf endlich stellt frisch einen Brei dar,welcher mit Netzen gebaggert oder geschöpft wird, getrocknetaber fest und kompakt ist. Als gelegentliche Bestandteile findensich im T., außer Fragmenten noch nicht vollkommen zersetzterVegetabilien, menschliche und tierische Reste. Erstere befindensich meist in einem sehr vollkommnen Erhaltungszustand. Besondershervorzuheben sind außer den vertorften Pfahlbauten Knochenvom Riesenhirsch, vom Bos primigenius und Elephas primigenius, weildieselben für ein sehr hohes, bis in die Diluvialperiodezurückreichendes Alter der betreffenden Moore zeugen,während die meisten Torfbildungen jüngern Datums sind unddem Alluvium angehören. Unter den mineralischenEinschlüssen sind Eisenkies und Strahlkies sowie als seltenereKupferkies, Zinkblende und sonstige Reduktionsprodukte aus Sulfatenzu nennen. Die erstgenannten geben durch gelegentliche Oxydationdie Veranlassung zur Bildung von Gips, Bittersalz, Alaun,Glaubersalz und besonders Eisenvitriol, welcher bisweilen insolchen Mengen dem T. beigemengt ist, daß er aus demselbengewonnen wird (Vitrioltorf). Ferner ist Blaueisenerde ziemlichhäufig, seltener Kochsalz, letzteres nur in tief gelegenen,dem Meer benachbarten Mooren. Die Verbreitung der Torfmoore istzunächst in Deutschland eine sehr bedeutende. Altpreußenbesitzt 260 QM. Moorland, die drei 1866 erworbenen Provinzen 132,Mecklenburg 10, Oldenburg 20, Bayern 12, die Reichslande und dasübrige Süddeutschland etwa 25 QM., so daß gegen 4,6Proz. der gesamten Oberfläche Deutschlands vom Moor bedecktsind. Besonders tragen dazu bei das norddeutsche Tiefland, dieHochplateaus Bayerns und Oberschwabens und die Rücken derGebirge Süd- und Mitteldeutschlands (Schwarzwald, rheinischeGebirge, Rhön, Harz, Thüringer Wald, Fichtelgebirge,Erzgebirge, Riesengebirge). Auch in der nördlichen Schweiz, amSüdabhang der Alpen, in den Tiroler, Salzburger undKärntner Alpen bis nahe zur Schneegrenze kommen Moore vor; 10Proz. des irischen Landes sind von ihnen bedeckt. Ebenso zahlreichsind sie in Schottland, Skandinavien, Rußland. Asien ist arman T.; aus Afrika ist keine echte Torfbildung bekannt. Dagegen sinddie Moore in Nordamerika stark verbreitet, und auch inSüdamerika werden viele aus den Anden beschrieben.

Gewinnung des Torfs.

(Hierzu Tafel "Torfbereitung".)

Die Gewinnungsweise des Torfs richtet sich nach derphysikalischen Beschaffenheit desselben. Der Stechtorf wird mittelsHandspaten oder besonderer Maschinen in Stücke vonregelmäßiger Ziegelform gestochen, an der Luftgetrocknet und als Loden von 314-525 mm Länge, 52-78 mm Dickeund 105-157 mm Breite in den Handel gebracht. Das Abstechen desTorfs geschieht entweder horizontal oder vertikal. Beimhorizontalen Torfstich arbeitet man in der Weise, daß einBrett neben den Rand der Torfgrube gelegt wird, welches vom Rand soweit absteht, als die Lange der Loden beträgt; hierauf werdenmit einem scharfen herzförmigen Spaten der Länge undBreite nach vor dem Brette die Loden abgestochen; nachentsprechendem Weiterrücken des Bretts wird dann das ebenbeschriebene Verfahren wiederholt. Ein zweiter, niedriger stehenderArbeiter hebt die Torfstücke in 78-105 mm Dicke ab, legt siein einen bereit stehenden Schubkarren und fährt sie nach denTrockenplätzen. Beim vertikalen Torfstich sticht der Arbeiteram Rande der Grube mit einem scharfen, mit zwei rechtwinkeligenSeitenkanten versehenen Spaten (s. Textfig. 1) im Torfboden auf dieLänge eines Ziegels nieder, schneidet dann mittels einesStecheisens das Torfstück an der untern Seite ab und bringt esspäter mittels des Schubkarrens zum Trockenplatz. Bei dieserHandarbeit müssen die Moore vorher genügendentwässert werden; geschieht letzteres nicht, und mußder T. unter Wasser gestochen werden, so benutzt man besondereStechmaschinen. Der auf vorstehend beschriebene Art gewonnene T.enthält oft noch 80-90 Proz. Wasser und wird in Haufen, aufHiefeln oder auf Stellagen getrocknet, wobei der T. mindestens zweiMonate im Freien bleibt und bei andauerndem Regenwetter sehrgroße Verluste erleidet. Bei dem Trocknen auf Hiefeln werdendie Torfloden, nachdem sie einige Tage auf dem Boden gelegen haben,auf kleine, zugespitzte Holzstäbe aufgesteckt, welch letzterean etwa 2 m hohen Pfählen angebracht sind. Beim Trocknen aufStellagen werden die Loden auf einem mit Dach versehenenLattengerüst ausgebreitet und getrocknet. Dies letztereVerfahren wird bei weniger konsistentem T. angewendet. Erdiger,schlammiger T., welcher wegen mangelnden Zusammenhangs kein Stechenzuläßt, wird gewöhnlich durch Schöpfen miteisernen Eimern, deren Ränder geschärft sind, und derenBöden aus einem Stück groben Zeugs bestehen, gewonnen(Baggertorf). Die Masse wird auf den geebneten Erdboden gegossen,wo sich noch Wasser abscheidet, und dann in breiförmigemZustand in einen flachen Raum, der durch ausrecht stehende Bretterabgegrenzt ist, gebracht. Wenn der T. hier eine genügendeKonsistenz erreicht hat, wird er in Formen gebracht, resp.zerschnitten. Das Austrocknen wird wohl hierbei noch dadurchbefördert, daß man die Masse durch Schlagen mitKnütteln oder Dreschflegeln bearbeitet, oder daßArbeiter mit Brettern, welche sie sich an die Füßegeschnallt haben, darauf herumtreten. Modell- oder Streichtorf undBacktorf werden gewonnen, indem man die Torfmasse inunregelmäßigen Stücken aus der Torfgrube nimmt,durch Schlagen mit Hölzern oder Treten mit denFüßen oder mit Zusatz von Wasser durcheinander mengt unddann in entsprechende Formen bringt. Besser als dieser Handtorf mitseinem geringen spezifischen Gewicht, wodurch großeFeuerungsanlagen bedingt werden, und seiner Neigung, beim Transportzu zerbröckeln, ist der Maschinentorf, dessen Substanz aufirgend eine Weise verdichtet wird. Man preßt die Torfmasseentweder, nachdem sie zerkleinert und in Öfen getrocknet ist(Trockenpreßmethode, System Exter-Gwynne), oder, sobald dieMasse aus

[Fig. 1. Spaten zum Torfstechen.]

Torfgewinnung.

Fig. 1. Torfmaschine für Pferdebetrieb von Schlickeysen;Fig. 2 u. 3 die beiden obern Messer derselben.

Fig. 2.

Fig. 3.

Fig. 7. Zweiwellige Torfmaschine von Grotjahn und Picau.

Fig. 4. Torfmaschine für Dampfbetrieb von Schlickeysen.Längendurchschnitt.

Fig. 5. Torfmaschine für Dampfbetrieb von Schlickeysen.Querschnitt.

Fig. 6. Torfmaschine von Clayton, Son and Howlett.

Fig. 8 u. 9. Wander-Torf-Aufbereitungsmaschine von Cohen undMoritz. Seiten- und Stirnansicht.

Zum Artikel »Torf«.

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Torf (Gewinnung).

dem Moor kommt, in geeignete Formen (Naßpreßmethode,System Koch und Mannhardt) und erhält auf diese Weise denPreßtorf. Bei Gewinnung von Schlämmtorf nach dem SystemChalleton wird die rohe Torfmasse zwischen Messerwalzenzerkleinert, mittels eines Bürstenapparats und unterZufluß von Wasser durch ein Sieb getrieben und in andernApparaten noch weiter zerkleinert. Der Schlamm gelangt dann inGefäße, in denen sich die schweren mineralischenBeimengungen absetzen, und hierauf in Bassins, durch welche dasWasser absickern kann. Wenn die Torfmasse dann genügendkompakt geworden ist, wird dieselbe in Ziegel geformt. Siebtorfnach System Versmann wird gewonnen, indem man die rohe Torfmasse ineinen Trichter von Blech bringt, welcher am Umfang mit kleinenLöchern versehen ist. In dem Trichter bewegt sich ein eisernerKonus, welcher um seine Peripherie herum ein schneckenartiggewundenes Messer trägt. Dieses Messer schneidet den T. feinund drückt ihn in feinen Strähnen durch die seitlichenLöcher des Trichters, während die gröbern Teile dieuntere Trichteröffnung passieren. Unter Maschinentorf imengern Sinn (kondensierter oder verdichteter T.) begreift man allediejenigen Torfsorten, bei denen die Torffasern durch maschinelleVorrichtungen zerrissen und wieder miteinander vermengt werden, sodaß ein möglichst hom*ogenes Produkt entsteht, und wobeidas Verdichten des Torfbreies ohne Anwendung von Torfpressen vorsich geht. Man unterscheidet hierbei noch, ob die Herstellung desTorfs mit oder ohne Wasserzufluß erfolgt. Das Formen desTorfs geschieht von Hand, oder es werden durch die Maschineprismatische Stränge gebildet, welche nach den üblichenDimensionen zerschnitten werden. Eine besondere Art desMaschinentorfs ist der Kugeltorf, bei welchem der durch dieMaschine hergestellte Torfbrei in besondern Vorrichtungen zufaustgroßen Kugeln geformt wird. Die Herstellung vonkondensiertem oder verdichtetem Maschinentorf ist wohl als diebisher rationellste und jetzt am meisten verbreitete Methode zubezeichnen. Nach einer andern Methode der Torfzubereitung wird derT. auf einer Zentrifugalmaschine entwässert, in Breiverwandelt, getrocknet, gemahlen und in heißen Pressenkomprimiert. Im bayrischen Kolbermoor und Haspelmoor wird die zubearbeitende Parzelle von der Vegetation befreit, geebnet,gepflügt und geeggt und der abgelöste T. lufttrockengemacht. Dann sammelt man ihn mit einem Schneepflug, bringt ihn ineine Zerkleinerungsmaschine, aus dieser in den Trockenofen und miteiner Temperatur von 50-60° in die Presse, welche ihn indunkelbraune, glänzende Ziegel verwandelt. Fig. 1 der Tafelzeigt eine Torfmaschine für Pferdebetrieb von Schlickeysen.Die an der stehenden Welle W befestigten Schneckenflügel S, Ssind schraubenförmig gestaltet und umfassen nicht den ganzenKreisumfang, wie sich aus Fig. 2 und 3, welche die beiden obernMesser, resp. Flügel darstellen, ergibt. Das obere Messer istmit einem Schaber B versehen, welcher die am innern Umfang desBottichs hängen gebliebenen Torffasern abschabt und denMessern zuführt. Damit sich die Torfmasse nicht festsetzt,sind mehrere Eisenstäbe E, E quer durch den Bottichhindurchgezogen. Der den untern Teil des Bottichsabschließende Boden O ist mit der Welle W fest verbunden.Wenn nun die Torfmasse oben in den Bottich eingeschüttet wird,so muß bei entsprechender Drehung der Welle W die Massezerrissen, durcheinander gemengt, durch das untere Messer derAusgangsöffnung, vor welcher sich die Form F befindet,zugedrängt werden und aus dem Mundstück in einemfortlaufenden Strang austreten. Um das unbequeme Aufgeben des rohenTorfmaterials in die hohen Bottiche zu vermeiden, konstruierte manTorfmaschinen mit liegender Schneckenwelle, wobei aber dasEigengewicht des Torfs beim Nachschieben der Torfmasse nicht mehrbehilflich ist. Fig. 4 und 5 zeigen eine solche Maschine fürDampfbetrieb von Schlickeysen. Die Konstruktion der Messer ist ausder Zeichnung ersichtlich. Zu erwähnen ist die unterhalb desTrichters T liegende Speisewalze W, welche durch Zahnräder imentgegengesetzten Sinn mit der Messerwelle S bewegt wird, sodaß hierdurch Messer und Speisewalze das Material aus demTrichter nach unten ziehen. Derartige Maschinen liefern beigeeignetem Rohmaterial in 10 Arbeitsstunden 10-15,000 Loden. Die inFig. 6 dargestellte Maschine ist von Henry Clayton Son and Howlettin London, Atlas Works. Bei dieser wird die Torfmasse in denvertikal stehenden Trichter T gegeben und durch Bewegung derFlügel an der im Trichter befindlichen vertikalen Welle nachunten gedrückt, wo sie in den horizontal liegenden Cylindereintritt. Aus letzterm wird die Masse durch die Formengepreßt und tritt daselbst in mehreren glatten Strängenaus. Diese Stränge werden dann von Brettern aufgenommen unddurch das mit sechs eingespannten Drähten verseheneSchneidegatter G in Stücke zerschnitten. Die Torfmasse wirddurch eine besondere Aufzugsvorrichtung vermittelst der Trommel Knach oben geschafft. Diese Maschine hat etwa 5-6 Pferdekräftefür ihre Bewegung nötig und liefert pro Tag 60-100,000Loden frischen T. Da der T. häufig mit wenig oder gar nichtvermoderten Pflanzenteilen durchsetzt ist, welche sich an dieMesser ansetzen und dadurch Verstopfungen undBetriebsstörungen herbeiführen, konstruierte manTorfmaschinen mit zwei nebeneinander liegenden Wellen, derenSchraubenflächen aneinander vorbeigleiten und sich gegenseitigreinigen. In Fig. 7 ist eine derartige Maschine von Grotjahn undPicau dargestellt. Die bis jetzt beschriebenen Maschinen zurHerstellung von Maschinentorf stellen den T. ohne besonderevorherige Beimengung von Wasser her. Von Cohen und Moritz ist eineWandertorfaufbereitungsmaschine (Fig. 8 und 9) konstruiert, beiwelcher der T. durch Zusatz von Wasser zu einer breiartigen Masseverarbeitet wird. Dieselbe enthält mehrere nebeneinanderliegende horizontale Cylinder, in welchen sich je eineSchneckenwelle bewegt. Diese Schneckenwellen werden durchZahnräder vermittelst der Riemenscheibe K durch eineLokomobile getrieben. In dem zur Aufnahme des Rohmaterialsdienenden Trichter T befindet sich ein Rührwerk, durch welchesdie Torfmasse mit dem zugepumpten Wasser gemischt wird. DieseMaschinen sind mit Rädern versehen und auf Schienen soaufgestellt, daß ihre Fortbewegung zu gewissen Zeiten auf denSchienen neben dem Arbeitskanal her erfolgen kann. Bei geringerTiefe der Torfgrube wird der ausgestochene T. direkt in denTrichter geworfen, dagegen wird bei tiefer liegenden Torflagern dieTorfmasse durch einen Elevator E noch dem Trichter geführt.Der auf diese Weise gewonnene Torfbrei wird dann durch Karren demTrockenterrain zugeführt. Bei der Kugeltorffabrikation wirdder T. zu einer breiartigen Masse verarbeitet und dann durch eineHebevorrichtung nach der Formmaschine gehoben. Diese Form bestehtaus einer oder mehreren Trommeln von Holz oder Metallblech (s.Textfig. 2), welche um Achsen rotieren und an der innern Seite mitSchraubengängen ver-

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Torfbeere - Torgau.

sehen sind. In eine solche Trommel wird nun mittels einer imTrichter T rotierenden Schraube der Torfbrei geschoben. Jeder aufdiese Weise während einer Umdrehung vorgeschobene Teil wirdbei der Drehung in den Schraubengängen zu einer Kugel geformt,verläßt am Ende der Trommel dieselbe und rollt auf einerschiefen Ebene nach dem Trockenraum.

Der fertige T. enthält im lufttrocknen Zustand oft noch bis30 Proz. Wasser, das bei der Verbrennung verdampft werden mußund den Heizeffekt des Torfs herabzieht. Um letztern zuerhöhen, wird der T. in verschieden konstruiertenDarröfen getrocknet. Nach Karsten sind bei Siedeprozessen2½ Gewichtsteile T. = 1 Gewichtsteil Steinkohle. Nach Vogelist die Verdampfungskraft von lufttrocknem Fasertorf mit 10 Proz.Wasser 5,5 kg, von Maschinentorf mit 12-15 Proz. Wasser 5-5,5 kgund von Preßtorf mit 10-15 Proz. Wasser 5,8-6,0 kg. Um den T.besser verwerten zu können, verkohlt man ihn und zwarnamentlich, seitdem er durch die neuen Gewinnungsmethoden in einehom*ogenere, dichtere Masse verwandelt werden kann. Die Verkohlungin Meilern oder Haufen geschieht in ganz ähnlicher Weise wiebei Holz, man hat aber auch besondere Verkohlungsöfenkonstruiert. Der T. findet in seiner durch die neuen Gewinnungs-und Bearbeitungsmethoden wesentlich verbesserten Gestalt auchausgedehnte technische Verwendung. Die Torfkohle kommt in ihremspezisischen Wärmeeffekt der Holzkohle sehr nahe, doch stehtsie in ihrer Brauchbarkeit hinter derselben zurück. Sie gibtwegen ihrer geringen Dichtigkeit und des großen Aschengehaltskein intensives Feuer, ist leichter zerdrückbar und daher inSchachtöfen nicht gut verwendbar, während sie in Herd-,Pfannen- und Kesselfeuerungen mit vielem Erfolg benutzt werdenkann. Aus verdichtetem T. dargestellte Kohle dürfte fürHüttenwerke sehr wichtig werden, wenn es gelingt, sie billiggenug herzustellen. Torfgasfeuerungen sind in verschiedenenIndustriezweigen für Puddel- und Schweißöfen,für Glashüttenbetrieb, zum Brennen von honwaren, Ziegelnetc. angewendet worden. Ferner unterwirft man T. der trocknenDestillation, um Leuchtgas, Paraffin, Photogen etc. zu gewinnen.Auch hat man versucht, den im T. enthaltenen Stickstoff (bis 3,8Proz.) in die Form von Ammoniak überzuführen. WeitereAnwendung findet der T. bei der Papierfabrikation und zwarversuchsweise als Surrogat zur Pappenfabrikation, ferner alsDungmittel, als Streumaterial in Viehställen etc. Vgl.Torfstreu. Vgl. Wiegmann, Über die Entstehung, Bildung und dasWesen des Torfs (Braunschw. 1837); Grisebach, Über die Bildungdes Torfs in den Emsmooren (Götting. 1846); Senft, Die Humus-,Marsch-, Torf- und Limonit-Bildungen (Leipz. 1862); Sendtner, DieVegetationsverhältnisse Südbayerns (Münch. 1854);Vogel, Der T., seine Natur und Bedeutung (Braunschw. 1859);Derselbe, Praktische Anleitung zur Wertbestimmung vonTorfgründen etc. (Münch. 1861): Dullo, Torfverwertung inEuropa (Berl. 1861); Schenck, Rationelle Torfverwertung (Braunschw.1862); Schlickeysen, Mitteilungen über die Fabrikation vonPreßtorf (Berl. 1864); Wentz, Lintner und Eichhorn, DerKugeltorf (Freising 1867); Breitenlohner, Maschinenbacktorf(Lobositz 1873); Hausding, Industrielle Torfgewinnung undTorfverwertung (Berl. 1876); Derselbe, Die TorfwirtschaftSüddeutschlands und Österreichs (das. 1878); Birnbaum,Die Torfindustrie etc. (Braunschw. 1880); Stiemer, Der T. (Halle1883).

Torfbeere, s. v. w. Vaccinium Oxycoccus.

Torfmoor, s. Torf.

Torfmoos, s. Sphagnum.

Torfstreu und Torfmull, aus der Faserschicht, welche ineiner Stärke von 0,5 m den Brenntorf in den Heidemoorenbedeckt, auf besondern Maschinen dargestellte Fabrikate. Der Moos-oder Fasertorf wird getrocknet und auf dem Reißwolf, einerrotierenden, mit Spitzen besetzten Trommel, welcher ein ebenfallsmit Spitzen besetztes Brett gegenübersteht, oder auf derTorfmühle, die einer Kaffeemühle ähnlich ist,zerkleinert und dann durch Siebe in die faserige Torfstreu und denpulverigen Torfmull getrennt. Erstere dient in der Landwirtschaftals Ersatz der Strohstreu, ist billiger als diese, saugt dieFlüssigkeit kräftiger auf und liefert vortrefflichenDünger. Man macht daraus für die Tiere ein Lager von12-15 cm Höhe und ersetzt täglich die feucht gewordenenTeile durch neues Material. Der Torfmull eignet sich vortrefflichzum Desinfizieren von menschlichen Exkrementen und wird vielfach inStreuklosetten angewandt. Er bindet etwa das Zwölffache seinesGewichts an Fäkalstoffen und liefert dabei eine trockne,geruchlose Masse, die sich vortrefflich als Dünger eignet.Schmutzwasser, durch Torfftreu filtriert, liefern ein klaresFiltrat, welches bei reichlichem Luftzutritt nicht mehrfäulnisfähig ist. Torfstreu wird auch mitKarbolsäure, Jodoform, Sublimat imprägniert und alsVerbandmittel benutzt. Mit Kalkmilch imprägniert, dientTorfstreu als Füllmaterial für Zwischendecken,außerdem dient sie zu Isolierzwecken für Eishäuser,zu Umhüllungen von Dampfleitungen, zur Konservierung vonFleisch und Fischen, in der Gärtnerei zu verschiedenen Zweckenetc. Das Aufsaugungsvermögen des reinen Fasertorfs ist sogroß, daß er das neunfache Gewicht an Wasserabsorbiert, einzelne Proben mit 20 Proz. Feuchtigkeit absorbiertensogar bis 19,7 Teile Wasser. Torfstreu enthält im lufttrocknenZustand 88 Proz. organische Substanz (mit 0,6- 3,2 Proz.Stickstoff), 2 Proz. Asche (mit 0,08 Proz. Kali, 0,09 Proz.Phosphorsäure) und 10 Proz. Wasser. Vgl. Mendel, Die Torfstreu(Brem. 1882); Haupt, Torfstreu als Desinfektions- undDüngemittel (Halle 1884); Fürst, Die Torfstreu (Berl.1888).

Torgau, Kreisstadt und Festung im preuß.Regierungsbezirk Merseburg, liegt an der Elbe, über welchezwei Brücken (darunter eine Eisenbahnbrücke) führen,und an den Linien Halle-Guben und T.-Pratau der PreußischenStaatsbahn. Die Festung (seit 1811) besteht aus acht Bastionen,zwei Lünetten, dem Brückenkopf, dem Fort Zinna und demsogen. Neuen Werk (seit 1866). Das auf einem Felsen an der Elbelie-

[Fig. 2. Formmaschine für Kugeltorf.]

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Torgel - Tornados.

gende Schloß Hartenfels (von Johann Friedrich demGroßmütigen erbaut) dient jetzt als Kaserne. Von den 3Kirchen (2 evangelische und eine katholische) ist die Stadtkirchemit Gemälden von Lukas Cranach und dem Grabstein der Katharinavon Bora, von sonstigen Gebäuden das altertümlicheRathaus und das Zeughaus bemerkenswert. Die Bevölkerungbeträgt (1885) mit der Garnison (ein Infanterieregiment Nr.72, ein Pionierbataillon Nr. 3 und eine Abteilung FeldartillerieNr. 19) 10,988 Seelen, meist Evangelische, welche Wagen-,Handschuh-, Thonwaren-, Zündschnur-, Dungmittel-, Zigarren-,Mostrich-, Biskuit- und Mineralwasserfabrikation, Bierbrauerei,Dampfschneidemüllerei, Kalk- und Ziegelbrennerei, Schiffahrtund Getreidehandel betreiben. T. hat ein Landgericht, ein Gymnasiumund eine Sammlung sächsischer Altertümer. In derNähe das königliche Hauptgestüt Graditz (s. d.). ZumLandgerichtsbezirk T. gehören die 16 Amtsgerichte zu Belgern,Dommitzsch, Düben, Eilenburg, Elsterwerda, Herzberg, Jessen,Kemberg, Liebenwerda, Mühlberg, Prettin, Schlieben,Schmiedeberg, Schweinitz, T. und Wittenberg. - T. war häufigSitz der sächsischen Kurfürsten. Hier wurde im März1526 das Torgauer Bündnis zwischen Sachsen und Hessen gegendie katholischen Reichsstände geschlossen. Auchverfaßten hier Luther und seine Freunde 1530 die TorgauerArtikel, die Grundlage der Augsburgischen Konfession, und 1576 wardzur Beilegung der kryptocalvinistischen Streitigkeiten hier dasTorgauische Buch (s. Konkordienformel) veröffentlicht. In derNähe von T., bei Süptitz, wurden 3. Nov. 1760 dieÖsterreicher unter Daun von Friedrich d. Gr. geschlagen(Denkmal daselbst). 1811 ward T. auf Napoleons I. Befehl befestigt,hielt Ende 1813 eine dreimonatliche Belagerung durch Tauenzien ausund kapitulierte erst 10. Jan. 1814. T. fiel 1815 an Preußen.1889 wurden die Rayongesetze aufgehoben. Vgl. Grulich,Denkwürdigkeiten der altsächsischen Residenz T. aus derZeit der Reformation (2. Aufl., Torg. 1855); Knabe, Geschichte derStadt T. bis zur Reformation (das. 1880).

Torgel, Fluß in Esthland, entspringt alsWeißensteinscher Bach auf dem Südabhang des esthnischenLandrückens, empfängt einen Abfluß des FellinschenSees und fließt in südwestlicher Richtung, an der StadtPernau vorbei, dem Rigaer Meerbusen zu.

Torgoten, s. Kalmücken.

Tories (spr. tóris), Mehrzahl von Tory (s.d.).

Torino, ital. Name von Turin.

Torjaer Stinkberg (auch Berg Büdös), im ungar.Komitat Háromszék (Siebenbürgen), nordwestlichvon Kézdi-Vásárhely, 1071 m ü. M., eineder hervorragendsten Naturmerkwürdigkeiten Ungarns. Aus denSpalten und Höhlen des vielfach zerrissenen und obenverwitterten Trachyts entströmen ununterbrochen Gase,namentlich Schwefelwasserstoffes, dessen Geruch schon von weitemwahrnehmbar ist. Von den drei Höhlen (Stink-, Alaun- undMörderhöhle) wird nur die erstere vom Volk zu Kurzwecken(bei Rheuma, Gicht und Augenleiden) benutzt. In diese kann man nurdann ohne Gefahr eintreten, wenn der Kopf sich über derGasschicht befindet, tiefer verliert man sofort die Besinnung. AmFuß des Bergs sind acht Mineralquellen, die als Heilquellendienen.

Torlonia, röm. Fürstenfamilie, deren Reichtumder Bankier Giovanni T. (geb. 1754 zu Siena, gest. 25. Febr. 1829in Rom) begründete; er kaufte das Herzogtum Bracciano underlangte 1809 die Herzogswürde. Diese ging auf seinenältesten Sohn, Marino T. (1796-1865), über, jetzigerInhaber ist sein Enkel Herzog Leopold T., geb. 25. Juli 1853, bis1888 Bürgermeister (sindaco) von Rom. Der dritte Sohn, DonAlessandro, Fürst von Civitella-Cesi, Musignano, Canino,Farnese und Fucino, Marchese di Roma Vecchia und Torrita, geb. 1.Juni 1800, erwarb durch die Pacht der Salz- und Tabaksregie in Romund Neapel und günstige Anleihen ein ungeheures Vermögen,das er zur Errichtung von wohlthätigen Anstalten, zum Bau vonTheatern, zur Trockenlegung des Fuciner Sees (1852-75) und derAnlegung des wertvollen Museo T. in Trastevere verwendete; er starb7. Febr. 1886 in Rom. Seine Titel und Besitzungen gingen auf seineeinzige Tochter, Anna Maria (geb. 8. März 1855), und derenGemahl, den Fürsten Giulio Borghese (geb. 19. Dez. 1847),über.

Tormentilla L. (Tormentill), Gattung aus der Familie derRosaceen, nur durch die Vierzahl der Teile der Blumenkrone und desKelchs von Potentilla verschieden, kleine, ausdauernde Kräuterin Mitteleuropa, mit fiederigen Blättern und einzelnenBlüten in Zweiggabeln. T. erecta L. (Potentilla T. Schrank,Ruhr-, Blut- und Rotwurz), mit cylindrischem bis knolligem,knotigem, hinten wie abgebissenem, dunkel rotbraunem Rhizom, bis 30cm langem, fast niederliegendem, oberwärts sparrig verzweigtemStengel, meist dreizähligen Blättern, großenNebenblättern, einzeln stehenden, langgestielten, gelbenBlüten und kahlen, fast glatten Früchtchen, wächstbesonders auf feuchtem Boden in Nord- und Mitteleuropa. Das Rhizomenthält Chinovasäure, Tormentillgerbsäure,Tormentillrot, ist als Rhizoma Tormentillae offizinell undgehört zu den kräftigsten einheimischen adstringierendenMitteln.

Tormes, Fluß in der span. Provinz Salamanca,entspringt am nördlichen Abhang der Sierra de Gredos,fließt vorherrschend nordwestlich, durchströmt dasreizende Thal von Bohoyo und El Barco und fällt unterhalbFermoselle an der portugiesischen Grenze links in den Duero; 230 kmlang.

Torna, ehemaliges ungar. Komitat am rechtenTheißufer, zwischen dem Hernád und Sajó,umfaßte 619 qkm (11,22 QM.) und (1869) 26,176 Einw. Seit 1881bildet es, mit Ausnahme von sieben zu Gömörgehörigen Gemeinden, mit Abauj das neue Komitat Abauj-T. (s.d.). Hauptort war der Markt T. (Turnau), jetzt im Komitat Abauj-T.,mit (1881) 1470 ungar. Einwohnern und Ruinen des historischmerkwürdigen Schlosses T. (Bebek).

Tornados (span.), Name von Wirbelstürmen, welchezwar an Stärke den gewaltigsten Orkanen Westindiens, desIndischen und Chinesischen Meers oft gleichkommen, aber einenverhältnismäßig kleinern Raum umfassen und auch vongeringerer Dauer sind. Ihr Durchmesser sinkt von einigen Meilen oftbis auf einige tausend Fuß herab. Sie kommen amhäufigsten in den östlichen Staaten Nordamerikas und ander Westküste von Afrika als sogen. Landtornados vor, bewegensich in der Regel von SW. nach NO. über die Erdoberflächefort und richten oft ungeheure Verheerungen an. Seetornados trifftman am häufigsten in dem Bereich und der Nachbarschaft derRegion der Kalmen (s. d.); sie sind hier außerordentlichheftig und sehr gefährlich für die

[Wappen von Torgau.]

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Tornberg - Torpedo.

Schiffe. Die T. werden von einem sehr kräftigenaufsteigenden Luftstrom gebildet, welcher in der Höhe seineWasserdämpfe verdichtet. Auf diese Weise entsteht überden T. regelmäßig die Sturmwolke, eine kleine schwarzeWolke, das sogen. Ochsenauge, welche rasch zunimmt und sich nachoben hin trichterförmig erweitert. Sie bilden einerseits denÜbergang zu den Tromben oder Windhosen (s. Trombe), anderseitszu den Cyklonen oder eigentlichen Wirbelstürmen (s. Wind).Vgl. Reye, Die Wirbelstürme, T. und Wettersäulen (Hamb.1872).

Tornberg, Karl Johan, schwed. Orientalist, geb. 23. Okt.1807 zu Linköping in Ostgotland, studierte von 1826 an zuUpsala Theologie und orientalische Sprachen, habilitierte sich 1835daselbst als Dozent des Arabischen, setzte 1836-38 seineSprachstudien noch in Paris unter Sacy, Jaubert undQuatremère fort und wurde 1844 außerordentlicher, 1850ordentlicher Professor der morgenländischen Sprachen an derUniversität zu Lund, wo er 6. Sept. 1877 starb. Er gab heraus:Ibn el Vardis "Fragmenta libri Margarita mirabilium" (mit lat.Übersetzung, Ups. 1835-45, 2 Bde.); "Primordia dominationisMurabitorum" (aus dem "Kartas" genannten Buch, das. 1839); IbnChaldunis "Narratio de expeditionibus Francorum in terras Islamismosubjectas" (das. 1840); Ibn abi Zer' Fesanos "Annales regumMauritaniae" (im Arabischen "Roudh el Kartas", mit lateinischerÜbersetzung und Noten, das. 1843-1846, 2 Bde.) und Ibn alAthirs umfangreiches "Chronicon, quod perfectissimum dicitur" (imArabischen: "Kamil Ette warikh", Leid. 1851-74, 13 Bde.). T.schrieb außerdem: "De linguae Aramaeae dialectis" (Ups.1842), beschrieb die "Codices arabici, persici et turcicibibliothecae Upsaliensis" (das. 1849) und die "Codices orientalesbibliothecae Lundensis" (Lund 1850) und lieferte wichtigeBeiträge zur arabischen Münzenkunde in "Symbolae ad remnumariam Muhammedanorum" (Ups. 1846-1856, 3 Tle.) und "Numi cufici"(das. 1848).

Torneà (spr. tórneo), Stadt im finn.Gouvernement Uleaborg, am linken Ufer des hier in den BottnischenMeerbusen mündenden Torne-Elf, der schwedischen StadtHaparanda gegenüber, mit (1885) 1015 Einw. 75 kmnördlicher liegt der Berg Awasaksa (s. d.). T. ist Sitz einesdeutschen Konsuls.

Torneutik (griech.), Dreher-, Drechslerkunst.

Tornister (im mittelalterlichen Latein turnicella),Hauptbestandteil des Gepäcks der Fußsoldaten, meistviereckiger Behälter, aus einem Holzgestell mit wasserdichtemÜberzug von Fellen oder präpariertem Segeltuch bestehend,wird an zwei Riemen oben auf dem Rücken getragen, dient nebstdem Brotbeutel zum Fortschaffen der nicht am Körperbefindlichen Ausrüstungsstücke des Soldaten.

Toro (Bocas del T.), Bezirk des Staats Panama, s.Chiriqui.

Toro, Bezirksstadt in der span. Provinz Zamora, rechts amDuero (mit schöner Brücke) und an der EisenbahnMedina-Zamora, mit (1878) 7754 Einw.

Torontál, ungar. Komitat, längs der Maros undTheiß, wird von diesen Flüssen, der Donau und vomKomitat Temes begrenzt, umfaßt 949 qkm (172,4 QM.), ist eben,sehr fruchtbar, hat viele Sümpfe und Moräste und (1881)530,988 Einw. (Deutsche, Serben, Ungarn und Rumänen), welcheAckerbau und Viehzucht, lebhaften Handel und Schiffahrt treiben,und wird von der Szegedin-Temesvárer Bahnlinie sowie vomBegakanal durchschnitten. Komitatssitz ist die StadtGroß-Becskerek.

Torónto, Hauptstadt der britisch-amerikan. ProvinzOntario, an der westlichen Nordküste des Ontariosees und aneinem vortrefflichen, durch ein Fort beschützten Hafengelegen, ward 1794 (unter dem Namen York) angelegt und nahm 1834den jetzigen indianischen Namen an, der "Versammlungsort" bedeutet.T. ist jetzt eine der blühendsten Städte Nordamerikas,mit stattlichen öffentlichen Gebäuden undPrivathäusern, aber flacher, reizloser Umgebung. Es istHauptsitz der höhern Bildungsanstalten Kanadas. Es hat eine1827 gegründete Universität mit Sternwarte und Museum, 3theologische Colleges, 2 Arznei- und eine Tierarzneischule, eineLehrerbildungsanstalt, ein Gymnasium und 2 Museen. Unter denzahlreichen Kirchen zeichnen sich die anglikanische und katholischeKathedralen aus. Andre öffentliche Gebäude sind: deroberste Gerichtshof Kanadas (Osgoode hall), das Stadthaus, Zollamt,die Börse, eine große Markthalle, ein Kristallpalastfür landwirtschaftliche Ausstellungen, ein Krankenhaus undeine Irrenanstalt. Der Handel blüht ungemein, indem Torontosgünstige Lage es zum Haupthafen der westlichen DistrikteKanadas gemacht hat (Wert der Einfuhr 1887: 21 Mill., der Ausfuhr3,2 Mill. Doll.). Die Stadt hat Möbelfabriken,Gießereien, Brennereien, Brauereien, Korn- undPapiermühlen. Die Bevölkerung wuchs 1817-81 von 1200 auf86,415 Seelen. T. ist Sitz eines deutschen Konsuls.

Toropez, Kreisstadt im russ. Gouvernement Pskow, an derToropa, mit vielen griechisch-russ. Kirchen, 2 Klöstern,zahlreichen Gerbereien u. (1887) 6811 Einw.

Torossen, s. Eis, S. 399.

Torpeder, der Mann, welcher den Torpedo handhabt; s.Torpedo, S. 768.

Torpedo, Zitterroche, s. Rochen.

Torpedo (hierzu Tafel "Torpedos"), ein mit Explosivstoffgefüllter, namentlich zum Zerstören feindlicher Schiffedienender Apparat, nach dem Zitterrochen benannt. David Bushnell(geb. 1742 zu Connecticut, gest. 1826 in Georgia) baute 1776 einsteuerbares submarines Boot, mit dessen Hilfe man eine Holzschraubein den Rumpf des feindlichen Schiffs schrauben und an diese ein mitPulver gefülltes Gefaß hängen konnte, das inbestimmter Zeit durch ein Uhrwerk zur Explosion gebracht wurde.Diese Erfindung hatte aber so wenig Erfolg wie die BushnellschenTreibtorpedos, welche, mit dem Strom gegen die feindlichen Schiffetreibend, durch den Anstoß an dieselben explodieren sollten.Robert Fulton konstruierte 1797 ebenfalls ein unterseeisches Boot,machte mit demselben 1801 im Hafen von Brest gelungeneSprengungsversuche, wandte sich aber, da er keine Anerkennung fand,1804 nach England und begleitete eine Expedition nach Boulogne, umdie dort liegende französische Flotte durch Seeminen, die manCatamaran ("Floß", daher "Catamaran-expedition") nannte, zuzerstören. Die mit 40 Fässern Pulver gefülltenCatamarans sollten durch ein Uhrwerk zu bestimmter Zeitentzündet und durch den Strom gegen die feindlichen Schiffegeführt werden, hatten aber nur einen sehr geringen Erfolg.1806 nach Amerika zurückgekehrt, veröffentlichte Fultonin seinem Buch "T. war, or submarine explosions" (1807) noch vieleProjekte, welche zum Teil erst in neuerer Zeit verwirklicht wurden.Samuel Colt (Erfinder des Revolvers) sprengte 1842 mehrereverankerte Schiffe und 1843 ein solches, das mit 5 Seemeilen Fahrtlief, mittels elektrischer Zündung aus einer Entfernung von 5Seemeilen in die Luft. In dem T. wurde durch eine Vorrichtung beider Berüh-

Torpedos.

Fig. 4. Torpedoboot mit Stangen-Torpedo.

Fig. 1. Kontakt-Torpedo.

Fig. 8. Auslegen von Kontakt-Torpedos.

Fig. 5. Elektrisch steuerbarer Fisch-Torpedo.

Fig. 2. Chemisch wirkender Zünder des Kontakt-Torpedos.

Fig. 3. Treib-Torpedo.

Fig. 6. Durchschnitt. a Lancierrohr b Torpedolager c Kessel dMaschine e Raum für Offiziere f Raum für Mannschaft gSchraube h Revolverkanonen i Kommandotürme k Reserveschraube lBeiboot m Masten mit Segeln, nur zur Überführung nachChina n Podest für Schnellfeuerkanonen o Schnellfeuerkanonen pLuke oberhalb der Maschine q Ventilator r Luken zum Maschinen- undKesselraum s Bugruder

Fig. 7. Grundriß

Fig. 6 u. 7. Hochsee-Torpedoboot, für die chinesischeRegierung erbaut.

Zum Artikel »Torpedo«.

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Torpedo (Defensiv- und Offensivtorpedos).

rung mit dem Schiffsboden ein metallischer Kontakthervorgebracht, der den richtigen Augenblick für dieZündung am Land signalisierte. Die hierbei benutztenLeitungsdrähte (so viel bekannt, die ersten submarinen Kabel)waren durch eine Mischung von Asphalt und Wachs isoliert. 1848führten Himly und Werner Siemens zum Schutz gegen diedänische Flotte eine Hafensperre in Kiel aus. Es wurdenausgepichte, mit 20 Ztr. Pulver gefüllte Fässer, inwelche zwei Leitdrähte geführt waren, derenVerbindungsdraht in Schießbaumwolle lag, 6 m tief verankert.Am Strand waren zwei Beobachtungsstellen angelegt, von denen ausdas Passieren einer Mine beobachtet wurde. Im Krimkrieg verwendeteman elektrische, vom Land aus zu zündende Grundminen (auf demGrund liegend) und Stoß- oder Kontaktminen, die durch denAnstoß des Schiffs zur Explosion gebracht werden sollten. DerZünder der letztern bestand aus einer mit Schwefelsäuregefüllten Glasröhre, bei deren Zerbrechen sich dieSäure über ein Gemisch von chlorsaurem Kali und Zuckerergoß, wodurch dieses und somit die Mine zur Explosiongebracht wurde. Über den Zünder war eine Schutzkappe ausBlei geschraubt (s. Tafel, Fig. 1 u. 2, Kontakttorpedo undZünder desselben). Ihre allgemeine Einführung alsKriegsmittel und ihre heutige Bedeutung verdanken die Torpedos demamerikanischen Bürgerkrieg. Im Februar 1862 fanden dieNordstaaten die erste Torpedosperre im Savannahfluß; imOktober d. J. organisierten die Südstaaten das ersteTorpedokorps, anfänglich unter Leitung von F. M. Maury, dannunter dem General Rains. Von den sich jetzt andrängendenzahllosen Torpedoerfindungen fanden folgende vorzugsweiseVerwendung: Die Pfahl-, Rahmen- oder Gerüstminen zur Sperrungvon Hafeneinfahrten waren auf eingerammtem Pfahlwerk befestigteSprengkörper mit 12½ kg Pulver, deren Zünder durchAnstoß funktionierte. Die Treib- oder Faßtorpedos warenverpichte, mit 40 bis 60 kg Pulver gefüllte Fässer, meistmit mehreren Kontaktzündern, zuweilen auch mit Uhrwerkversehen, die mit angehängtem Ballast unter derOberfläche schwammen und durch den Strom gegen dieBlockadeschiffe getrieben wurden. Der auf beifolgender Tafeldargestellte Treibtorpedo (Fig. 3) hat einenPerkussionszünder, welcher erst funktioniert, wenn die Minezum Stillstand kommt; dann wird durch den Strom die Schraube mitFlügeln in Drehung versetzt, wodurch das aus der Drehachseverschiebbare Gewinde so weit fortgleitet, bis die Hahnsicherungfrei wird; sofort schlägt der Hahn herunter auf einZündhütchen und bringt dieses und die Mine zur Explosion.Da die Treibminen nicht selten den eignen Schiffen gefährlichwurden, wenn sie der Gegenstrom bei eintretender Flutzurückführte, so wendete man zur Sperrung der Häfenvielfach schwimmende Torpedos an, die, am Grund verankert, durcheinen Schwimmer von Korkholz getragen wurden. Nach der Konstruktionvon Singer war das mit der Basis nach oben gekehrteMinengefäß von der Form eines abgestumpften Kegels durcheinen lose aufliegenden Deckel geschlossen, welcher herunterfiel,sobald die Mine beim Anstoß eines Schiffs sich nach einerSeite neigte; im Herunterfallen löste er die Hemmung einesSchlaghahns aus, der nun eine Zündpille durch Schlagentzündete, worauf die Mine explodierte. Durch das Bewachsenmit Muscheln wurde aber der Mechanismus aller kompliziertenZündvorrichtungen häufig sehr bald in seiner Gangbarkeitgestört, die Schwimmkraft der Minen vermindert und dadurchihre zeitgerechte Explosion fraglich. Eine furchtbare Waffe warendie Uhrwerktorpedos oder Höllenmaschinen, gewöhnlicheWarenkisten, mit Pulver gefüllt und mit einem Uhrwerkversehen, das zu bestimmter Zeit die Explosion bewirkte. DieKohlentorpedos waren gußeiserne Gefäße, durchBestreichen mit Teer und Bekleben mit Kohlengruß dengroßen Kohlenstücken täuschend ähnlichgemacht. Sie wurden, mit Pulver gefüllt, unter Kohlen gemischtund explodierten in der Kesselfeuerung der Dampfschiffe, die dannsofort versanken. Durch solche Kisten- und Kohlentorpedos istwahrscheinlich eine große Anzahl Schiffe der Nordstaatenzerstört worden, deren spurloses Verschwinden nur soerklärt werden kann. Außer den genannten kamen nochelektrische Minen mit 20-30 Ztr. Pulver erfolgreich zur Verwendung.Bei diesen wurden die mit Guttapercha und geteertem Hanf isoliertenLeitungsdrähte durch einen dünnen Platindraht(Glühdraht) verbunden, welcher in einem mit Knallquecksilberoder Mehlpulver gefüllten Zünder steckte.

Hatten die bisherigen Torpedos mit Erfolg ausschließlichder Verteidigung gedient, so lag es nahe, dieselbe Waffe auch beimAngriff zu verwenden, und man löste die Aufgabe nach FultonsVorschlag, indem man an der Spitze langer Stangen einen T. mitKontaktzünder befestigte und denselben unter den Boden desfeindlichen Schiffs schob (s. Tafel, Fig. 4). Hierzu bediente mansich der Ruderboote oder kleiner Dampfbarkassen und besondersfür diesen Zweck erbauter eiserner Dampfboote in Zigarrenform,die ihrer Kleinheit wegen Davids genannt wurden. Auch BushnellsIdee der unterseeischen Boote trat wieder ins Leben; 17. Febr. 1864wurde im Hafen von Charleston der Hausatonic durch ein solchesgänzlich zerstört, mit ihm aber auch das Boot. Nachsolchen Erfolgen traten alle Staaten dem Torpedowesen näher.Überall wurden Kommissionen zur Prüfung des Vorhandenen,Ausführung von Versuchen und entsprechenden Neukonstruktioneneingesetzt. Man teilte die Torpedos in Defensiv- undOffensivtorpedos und nannte erstere Seeminen, letztere kurzwegTorpedos. Die im amerikanischen Krieg so viel verwendetenTreibtorpedos verwarf man in Rücksicht auf die Gefahr, die siebei eintretendem Rückstrom oder bei Offensivbewegungen deneignen Schiffen bringen, gänzlich. Alle Seeminen wurdenverankert und mit Auftrieb versehen, so daß sie in bestimmterWassertiefe schwimmend erhalten wurden. Die Zündung der Minenerfolgte durch Kontakt- oder durch elektrische Zünder. Jene,die Stoßminen, haben den Vorzug großer Einfachheit;aber ihr gefahrvolles Auslegen und Wiederaufnehmen sowie dieSperrung der Ausfahrt auch für die eignen Schiffe mußtenihre Verwendung auf den zu beiden Seiten für den eignenVerkehr freizulassenden Teil des Fahrwassers beschränken,während in dem durch sie nicht gesperrten WasserBeobachtungsminen so tief versenkt wurden, daß die Fahrt auchbei Ebbe für die größten Schiffe frei blieb. Diealleinige Verwendung von elektrischen Beobachtungsminen ist beigrößerer Zahl durch die Kabelleitung (zwei Drähtefür jede Mine) nicht nur sehr kostspielig, sondern auch inBezug auf sichere Beobachtung kaum durchführbar. Alle bisjetzt bekannt gewordenen Vorrichtungen zur Bestimmung desAugenblicks, wann sich ein Schiff über einer der Minenbefindet, sind kompliziert und bei Nacht, Nebel und Pulverdampfnicht zu gebrauchen. Den Apparaten liegt die Idee zu Grunde, durchden Schnittpunkt zweier Visierlinien den Moment zu bestimmen, wannsich ein

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Torpedo (ältere und neuere Konstruktionen).

Schiff über der Mine befindet. Bei den meisten Apparatensind zwei Meßtische aufgestellt, deren Abstand als Basisfür das Beobachtungsdreieck genügend groß seinmuß. Auf jeder der beiden Meßtischplatten, auf denendie ausgelegten Minen durch Punkte bezeichnet sind, steht einFernrohr, und es handelt sich nun darum, dem Fernrohr an derZündstation die Bewegungen des andern synchronistischmitzuteilen, zu welchem Zweck beide Meßtische durch eineelektrische Leitung verbunden sind. Durch dieselbe wird mit Hilfemechanischer Einrichtungen auf der Zündstation ein Zeiger oderLineal parallel der Fernrohrachse der andern Station bewegt. Bildennun die Verbindungslinie der beiden senkrechten Fernrohrachsen unddie Visierlinien der beiden Fernrohre das wirklicheBeobachtungsdreieck, so wird durch das synchronistisch bewegteLineal auf der Zündstation stets ein jenem ähnlichesDreieck dargestellt, und wenn die in die See fallende Spitze desDreiecks auf einen Minenpunkt fällt, so ist der Momentfür die Stromschließung der Zündbatterie und dieExplosion der Mine gekommen. In Deutschland ist ein derartigerApparat von Siemens und Halske im Gebrauch. Aus allem diesen gehthervor, daß nur eine solche Zündeinrichtung der Minenbefriedigen konnte, welche die Vorteile des Kontakt- undelektrischen Zünders ohne deren Nachteile vereinigt. Dies warbereits 1866 vom österreichischen Obersten v. Ebener erkanntworden, und es gelang ihm, eine solche Vorrichtung herzustellen,bei welcher durch den Stoß des Schiffs dieStromschließung der Leitung selbstthätig in der Weiseerfolgte, daß eine federnde Pufferstange beim Anstoßein Rad in Bewegung setzte, wodurch zunächst dieStromschließung, sodann aber die Einschaltung derZündpatrone in den Stromkreis stattfand. War nun dieZündbatterie am Land eingestellt, so erfolgte die Explosion;andernfalls ging der Puffer nach Einwirkung des Schiffs aufdenselben wieder zurück, ohne daß eine Entzündungeintrat. Diese Minen gestatteten also die freie Durchfahrt, solangedie Zündbatterie am Land nicht eingeschaltet war, ganz wie dieBeoachtungsminen und verhielten sich nach deren Einschaltung wieStoßminen. Wegen der Kompliziertheit der mechanischenEinrichtung sind diese Minen indes nicht mehr in Verwendung.Vorteilhafter erwies sich der Hertzsche elektrische Zünder,der beliebig lange in Wirksamkeit bleibt, aber erst dann inThätigkeit tritt, wenn durch den Anstoß eines Schiffsseine Kohlenzinkelemente mit einer erregenden Flüssigkeit inVerbindung gebracht werden; die Entzündung erfolgt aber auchdann nur, wenn noch ein Leitungsdraht zum Meeresboden führt.Das gefahrlose Auslegen dieser Minen ist dadurch gesichert,daß erst nach einstündigem Liegen im Wasser dieelektrische Batterie des Zünders wirkungsfähig wird;inzwischen bleibt jedes Berühren des Torpedos ohne Erfolg. DieGefahr des Aufnehmens ist vollständig beseitigt, sobald derDraht vom Meeresboden gehoben oder durchschnitten ist. Zu diesemZweck vereinigt man die Drähte einer größern Anzahlvon Minen an einem außerhalb ihrer Wirkungssphäreliegenden und nur dem Eingereihten bekannten Punkte. Diese Minen,deren spezielle Einrichtung geheimgehalten wird, bilden inDeutschland den Schwerpunkt der Küstenverteidigung durchTorpedos. Seitdem man die Seeminen, statt mit Ketten und Steinenoder gewöhnlichen Ankern, mit Drahttauen und Pilz- oderSaugankern, die sich im Grund festsaugen, verankert, werdendieselben weniger leicht durch Strömungen fortgerissen. Manlegt die Stoßminen in zwei oder mehr Reihen (Treffen)schachbrettförmig hintereinander an, so daß ein Schiffdie Sperre nicht passieren kann, ohne auf eine Mine zustoßen.

Der Spierentorpedo besitzt noch die alte Konstruktion, nurwendet man häufig auch bei ihm die elektrische Zündungan. Ende der 60er Jahre wurde von den Gebrüdern Harvey einOffensivtorpedo konstruiert, der aus einem kupfernen, mit Holzbekleideten trapezoidischen Kasten besteht; an demselben sindmehrere in einen Ring zusammenlaufende Leinen so befestigt,daß der T. beim Schleppen um 45-60°, je nach derschnellern Fahrt, querab vom Schiff ausschert. Man manövriertso, daß das feindliche Schiff über die Schleppleinelaufen muß, bei deren Anziehen der T. gegen den Schiffsbodenstößt, in welchem Augenblick die Explosion beiKontaktzündern von selbst erfolgt, oder man zündet durchElektrizität. Zur Verhütung vorzeitiger Explosionen istder Zündmechanismus durch einen Vorstecker arretiert, den manmittels einer Leine herauszieht, wenn der T. weit genug vom Schiffabgetrieben ist. Der Harvey-T. kann nur bei Tage gebraucht werden,und im Geschwaderkampf können Feind wie Freund auf den T.auflaufen, zumal wenn im Melée und Pulverdampf die Schiffeschwer zu unterscheiden sind. Aus diesen Gründen ist derHarvey-T. in den meisten Marinen wieder außer Gebrauchgekommen oder höchstens auf die Fälle beschränkt,wenn einzelne Schiffe auf Kreuzungen ausgehen.

Fulton stellte 1814 Versuche an, mit Geschützen unterWasser zu schießen, um Schiffen unter der Wasserlinie einenLeck beizubringen, und hat bis in die neueste Zeit Nachahmergefunden, von denen aber keiner Erfolg erreichte; der Widerstanddes Wassers ist so bedeutend, daß die Geschwindigkeit derGeschosse in rapider Weise abnimmt. Man kann von einemGeschoß unter Wasser nur dann befriedigende Wirkung erwarten,wenn die dasselbe bewegende Kraft nicht bloß einmal, wie beimGeschütz, sondern auf eine gewisse Zeit dauernd wirkt. 1730soll Desaguliers Boote unter Wasser mit Raketen zerstörthaben; 1862 schoß Hunt aus 30,5 cm Geschützen Raketen;1874 machte Weir in New York unter Wasser Versuche mit einer Raketevon 2,31 m Länge, 30,5 cm Durchmesser und 111 kg Gewicht,wovon auf den Treibsatz 35 kg und die Sprengladung 34 kg kamen; sieging mit etwa 4,5 m Geschwindigkeit, hatte aber infolge ihresLeichterwerdens durch Verbrennen des Satzes eineunregelmäßige Flugbahn. 1872 wurde von Lay einelektrisch steuerbarer Fischtorpedo in Zigarrenform (s. Tafel, Fig.5) konstruiert, dessen treibende Kraft durch das Verdunstenflüssiger Kohlensäure erzeugt wird, wovon der T. 200-250kg enthält. Das Ausströmen der Kohlensäure ist auf 6Atmosphären Druck geregelt, so daß derSchraubenpropeller die gleiche Geschwindigkeit behält. Durchein sich aus dem T. abwickelndes Kabel mit zweiLeitungsdrähten bleibt derselbe mit dem Land in Verbindung.Der galvanische Strom setzt einen komplizierten Mechanismus inBewegung, durch den das Öffnen und Schließen einesDreiwegehahns für das Ausströmen der Kohlensäure unddurch Anziehen von zwei Elektromagneten das Steuern bewirkt wird.Durch die Elektromagnete werden zwei Kolben bewegt, von denen jedermit einer Seite der Ruderpinne verbunden ist. Der Gang des Torpedosim Wasser ist durch zwei auf seinem Rücken stehende Stäbesichtbar gemacht. Außer sehr großer Kompliziertheit hatdieser T., der von der ägyptischen Regierung angenommen ist,unter vielen andern noch den Nachteil, daß dieHerstellungskosten eines Exemplars

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Torpedo (Fischtorpedo, Torpedoboote).

30,000 Mk. betragen. Der Smithsche T. (1872) ist dem vorigenähnlich; er wird durch den Druck flüssigen Ammoniaksbewegt und mittels galvanischen Stroms gesteuert. Alle diese undandre Offensivtorpedos werden von dem 1867 vomösterreichischen Kapitän Lupis und dem IngenieurWhitehead in Fiume erfundenen Fischtorpedo übertroffen,welcher wegen seiner vorzüglichen Leistungen von fast allenKriegsmarinen eingeführt worden ist. Ein WhiteheadscherFischtorpedo ist ca. 4,5 m lang, bei einem größtenDurchmesser von 0,5 m; er besitzt kreisrunde Querschnitte und istan beiden Enden scharf zugespitzt. Sein Gewicht beträgt ca.300 kg. Als treibende Kraft dient in eine besondere Abteilung desTorpedos bis zu 100 Atmosphären Spannung eingepumpte Luft, diebei ihrem Ausströmen eine Maschine treibt, durch welche zweivierflügelige Schrauben gedreht werden, die hintereinandersitzen und sich gegeneinander bewegen, um das Drehen des Torpedoszu verhüten. Um das Schiff in bestimmter Tiefe unter derWasserlinie zu treffen, hat der Fischtorpedo eine Einrichtung,durch welche er auf eine bestimmte Wassertiefe gestellt werdenkann, und die, auf ein horizontales Ruder wirkend, die Wassertiefewährend der ganzen Dauer der Bewegung reguliert; ein zweites,senkrecht stehendes Ruder dient zur Innehaltung der Richtung invertikaler Ebene. Der vorderste Teil des Torpedos enthält dieSprengladung, die durch einen beim Anstoß funktionierendenZünder entzündet wird. Vier radial am Kopf sitzendescharfe Messer verhindern bei schiefem Auftreffen an derSchiffswand das Abgleiten. Die Geschwindigkeit des Torpedos wirdvor seinem Ablassen durch Stellung der Ventile bestimmt: werdendiese ganz geöffnet, so erreicht er in der ersten Sekunde eineGeschwindigkeit von etwa 13 m und läuft fast 2 Seemeilen; beieiner Anfangsgeschwindigkeit von 6,5 m erreicht er 2 Seemeilen(3710 m). Mit der Geschwindigkeitsabnahme wachsen die Schwankungenund nimmt die Treffsicherheit ab. Die Fischtorpedos wurdenfrüher aus Stahl, jetzt der bessern Konservierung halber ausPhosphorbronze hergestellt. Ein T. kostet ca. 7500 Mk. DieFischtorpedos wurden zuerst aus unter Wasser, im Bug und Heck inder Symmetrieebene des Schiffs fest eingebauten Lancierrohrenabgelassen, derart, daß die durchlaufene Bahn in derverlängerten Mittellinie des Schiffs lag. Auch dieEinführung von über Wasser befindlichen Lancierrohrenänderte an letzterm Umstand nichts, so daß die dem T. zugebende Richtung demselben lediglich mit dem Schiff selbst erteiltwerden konnte, was bei bewegtem Wasser und sich schnell bewegendemZielobjekt mit geringen Treffchancen verknüpft ist.Infolgedessen hat man zur Zeit zum Abschießen vonFischtorpedos geschützartige Apparate, sogen. Torpedokanonen,in Anwendung gebracht, welche, auf Deck stehend und um ein Pivotdrehbar, in ähnlicher Weise das Ziel zu nehmen gestatten wiegewöhnliche Geschütze. Das Abschießen des Torpedosaus dem Lancierrohr, resp. der Kanone geschah zuerst und geschiehtbei den ältern Apparaten auch jetzt noch mittels komprimierterLuft; in neuester Zeit bringt man zu dem Zweck auchSchießpulver zur Anwendung, welches man in der Torpedokanonehinter dem als Geschoß fungierenden Torpedo zur Verbrennungbringt. Wenn der T. das Lancierrohr oder die Torpedokanoneverläßt, stößt ein äußerlichvorstehender Daumen gegen eine Knagge, hierdurch wird einentsprechender Hahn geöffnet, und nun beginnt die durchkomprimierte Luft betriebene Maschine ihre Thätigkeit. Die inder vordern Spitze des Torpedos untergebrachte Sprengladung bestehtaus feuchter Schießbaumwolle. Obgleich der Fischtorpedo zurZeit an Bord von fast allen größern Kriegsschiffengeführt wird, so findet derselbe seine Hauptanwendung doch aufden sogen. Torpedobooten (Fig. 6 u. 7), deren fastausschließliche Bewaffnung derselbe bildet. Fast alleKriegsmarinen besitzen größere oder kleinereTorpedobootflottillen, darunter Deutschland die mit am bestenorganisierten. Die Boote sind aus Stahl gebaut und haben eineLänge von ca. 40 m, die jedoch in neuester Zeit im Interesseeiner größern Ladefähigkeit (entweder um mehrTorpedos nebst Munition, ein größeres Kohlenquantum odereine anderweitig vollkommnere Armierung, bestehend inSchnellfeuerkanonen oder Revolvergeschützen, mitführen zukönnen) keineswegs die Maximallänge repräsentiert.Ihre scharfe Form und die bedeutende Kraft ihrer Maschinengestatten denselben, Geschwindigkeiten von 20 Knoten unddarüber zu erreichen. Derartig hohe Geschwindigkeitenbefähigen die Torpedoboote bei besondern Gelegenheiten,speziell wenn es nicht darauf ankommt, ihren immerhin nur geringenKohlenvorrat vorzeitig zu erschöpfen, unter andern auch zuEkläreurdiensten und sind bei der Ausübung ihres Angriffsauf feindliche Schiffe unerläßlich. Letztern hat mansich in der Weise vorzustellen, daß eine größereAnzahl von Booten entweder unter dem Schutz eines Geschwaders vongrößern Schlachtschiffen oder von geeigneten Punkten derKüste aus, vorzugsweise des Nachts, dem feindlichen Schiff soschnell als möglich auf Schußweite nahe zu kommen sucht.Dieses Manöver hat deswegen die Chance des Gelingens fürsich, weil das feindliche Schiff seine Aufmerksamkeit nicht aufsämtliche angreifenden Boote gleich wirksam ausüben kann;während es sich gegen einige derselben verteidigt, wird daseine oder andre Boot Gelegenheit finden, seinen T. zu lancieren.Die Verteidigungsmittel größerer Kriegsschiffe gegeneinen Angriff von Torpedobooten bestehen in schnell feuernden undRevolverkanonen, deren Aufstellung an Bord so beschaffen ist,daß das Schiff nach allen Richtungen hin feuern kann. Beieinem nächtlichen Angriff wird dabei auch die weitere Umgebungdes Schiffs mittels elektrischen Bogenlichts erleuchtet, dessenReflektoren so eingerichtet sind, daß sie, um eine vertikaleAchse drehbar, den ganzen Horizont abzusuchen gestatten. Um nunihrerseits in dem Leuchtkegel des elektrischen Strahls nicht zufrüh als Torpedoboote erkannt zu werden, sind diese überWasser in allen ihren Teilen mit einer nicht reflektierendenschwarzen Farbe gestrichen. Gelingt es einem Torpedoboot, innerhalbder Schußweite der schnell feuernden Kanonen im elektrischenLichtkegel unbemerkt zu bleiben, so ist die Chance gegeben, bis zumnächsten Beleuchtetwerden bis auf Torpedoschußweiteheranzukommen. Hieraus ergibt sich, wie große Anforderungenan die Aufmerksamkeit eines einen Torpedobootsangriff erwartendenSchiffs gestellt werden, und daß anderseits die vonTorpedobooten verzeichneten günstigen Erfolge zum Teil derUnaufmerksamkeit des angegriffenen Schiffs zuzuschreiben sind. Beider Blockade von feindlichen Häfen, deren VerteidigungTorpedobooten obliegt, tritt häufig der Fall ein, daßdie blockierenden Schiffe ankern müssen. Diese umgeben sichalsdann mit sogen. Torpedoschutznetzen aus starkem Stahldraht,welche an Spieren in einer gewissen Entfernung vom Schiff insolcher Weise ausgebracht werden, daß der unter Wasserbefindliche Teil des Schiffs vollkommen durch die Netze

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Torpedobatterie - Torre Annunziata.

maskiert wird. Ein auf das Schiff lancierter T. wird durch dasNetz aufgefangen und kommt nicht in unmittelbarer Nähe derleicht verletzbaren Teile des Schiffsbodens zur Explosion, sodaß die Möglichkeit, durch dieselbe zum Sinken gebrachtzu werden, nur gering ist. Zum Sperren der Häfen und Reedenmit Minen bedient man sich besonderer Boote, Minenleger undMinenprahme; letztere dienen nur zum Transport, erstere zumAuslegen der Minen, zu welchem Zweck sie Kräne zumAufhängen der Minen und Anker haben müssen, die inneuerer Zeit meist korrespondierend an beiden Bordwändenstehen, oder man benutzt hierzu das Bugspriet oder auch einenKranbalken am Heck (Fig. 8). - Über die gegen die Minenanzuwendenden Schutzmittel hat man noch wenig Erfahrungen. DieLeitungsdrähte von elektrischen Minen wird man durchSchleppanker und Dreggen aufzufischen suchen und zerschneiden; manwird Ketten und Taue über den Grund ziehen, um die Minenselbst aufzufischen oder zur Explosion zu bringen, zu welchem Zweckman kleine Boote vorschickt. Der Verteidiger aber wird sichhiergegen dadurch sichern, daß er die Minensperre in denBereich des wirksamen Geschützfeuers legt und vor dieselbeeine Kettensperre zieht. Hat man von der Lage der Minen Kenntnis,so wird man zwischen dieselben Minen (Gegen- oder Quetschminen) zulegen suchen oder hineintreiben, um durch deren Explosion dieExplosion der Sperrminen zu veranlassen. Man glaubt sogar, sich mitschweren Geschossen einen Weg durch die Minensperreerschießen zu können. Auch will man, wie imRettungswesen, mit einem Geschoß eine Leine über dieSperre schießen und beim Zurückziehen derselben Minenzerstören. Gegen Angriffe mit Spierentorpedos ist dieWachsamkeit der beste Schutz. In den meisten Marinen hat manfür den Dienst mit Torpedos besondere Torpedokorps errichtet;in denselben ist der Torpederleutnant ein Verwaltungsoffizier,Obertorpeder und Torpeder sind Deckoffiziere erster und zweiterKlasse, der Obertorpedersmaat ist Sergeant und der TorpedersmaatUnteroffizier. Vgl. "Die Torpedos und Seeminen in ihrerhistorischen Entwickelung" (Berl. 1878); "Submarine warfareoffensive and defensive" (New York 1869); "Des explosions au seinde l'eau" und "Études sur les effets des explosionssous-marines" in der "Revue maritime" (Par. 1877); Ehrenkrook, DieFischtorpedos (Berl. 1878); Derselbe, Geschichte der Seeminen undTorpedos (das. 1878); Sleeman, Torpedos and Torpedo warfare (2.Aufl., Lond. 1889); "Das Torpedowesen in der deutschen Marine"(Berl. 1884).

Als Landtorpedos hat man Sprengkörper bezeichnet, wie siezuerst im nordamerikanischen Bürgerkrieg bei der Verteidigungvon Charleston, dann auch 1870 bei der Verteidigung von Parisbenutzt wurden, hölzerne oder eiserne, mit Sprengladungversehene und auf Wegen, Defileen etc. oberflächlich in dieErde vergrabene Gefäße, deren Zünder durch denFuß der darüber hinschreitenden Truppen inThätigkeit trat. Weitere Ausbildung erhielten die Landtorpedosdurch Zubovits. Er konstruierte fliegende Torpedos mit 2 kgSprenggelatine, die von den Feldtruppen mitgeführt werden,Torpedos für feldmäßige Befestigung mit 10 kg undsolche für beständige Befestigungen mit 15-50 kgSprenggelatine. Seine Tritttorpedos explodieren beim Betreten derStelle, wo sie vergraben sind, die Berührungstorpedos beimWegräumen gewisser Hinderungsmittel (zurückgelasseneWagen etc.), Beobachtungstorpedos bringt ein Beobachter mit Hilfevon Abzugsdrähten im geeigneten Moment zum Spielen,während die selbsttätigen Torpedos durch einen uhrartigenRegulator zur bestimmten Zeit zur Explosion gebracht werden. DiesSystem ist von mehreren Staaten angenommen worden. Lufttorpedos(Aerobomben) sind Luftballons, welche mit Sprengstoffen geladeneGefäße oder Geschosse über eine feindliche Festungtragen und in dieselbe niederfallen lassen sollen.

Torpedobatterie, Kombination mehrererUnterwasserlancierrohre für Fischtorpedos, welche von zweifest miteinander verbundenen Pontons aus gleichzeitig gehoben,geladen und unter Wasser gesenkt werden können. Dieselben sindzur Verteidigung von Hafeneinfahrten bestimmt, bis jetzt jedochnoch im Stadium des Versuchs.

Torpedoboot, s. Torpedo, S. 767.

Torpedogranaten, von Krupp für den 21 cm Mörserhergestellte 6 Kaliber lange Gußstahlgranaten, welche eineSprengladung von 48 kg prismatischen Pulvers aufnehmen; aus ihnensind die jetzt in allen Artillerien gebräuchlichen Granatenmit brisanter Sprengladung aus Schießwolle, Dynamit, Melinitetc. hervorgegangen, welche aus 15 und 21 cm Mörsernverschossen werden.

Torpid (lat.), schwer erregbar, empsindungslos.

Tórpor (lat., Torpidität), krankhaftverminderte Erregbarkeit und Beweglichkeit, Stumpfsinn.

Torquatus, s. Manlius 2) und 3).

Torquay (spr. torkih), Stadt in Devonshire (England),steigt terrassenförmig vom Meer an und wird von belaubtenHöhen mit zahlreichen Villen eingefaßt. Es ist eine alteStadt, wie die Ruine der Torabtei und die Tor Moham-Kirche, beideaus dem 14. Jahrh., beweisen, ist aber erst seit Anfang des 19.Jahrh. als beliebter Badeort wichtig geworden. T. hat einenKursaal, ein Museum, einen Zufluchtshafen für Jachten und(1881) 24,767 Einw. Dabei Kent's Hole, eine Höhle, in derzahlreiche Werkzeuge aus der Steinzeit und die Knochenvorweltlicher Tiere gefunden wurden.

Torquemada (spr. -ke-), 1) Johannes de (Turrecremata),Vertreter des Papalsystems, geb. 1388 zu Valladolid und schon alsKnabe dem Dominikanerorden übergeben. Seit 1431 magister sacripalatii in Rom, nahm er an dem Baseler Konzil teil, erklärtesich hier gegen die immaculata conceptio, aber auch gegen den vonder Majorität verfochtenen Satz von der Überordnung desKonzils über den Papst. Ihm verlieh für seine dem StuhlPetri erwiesenen Dienste Eugen IV. den Titel eines "defensor fidei"sowie den Kardinalshut. Er starb 1468 in Rom. Unter seinenSchriften sind zu nennen: "Quaestiones Evangeliorum de tempore etsanctis", ein Kommentar zum Dekret Gratians etc. Vgl. Lederer, Derspanische Kardinal Joh. v. T. (Freiburg 1879).

2) Thomas de, span. Generalinquisitor; s. Inquisition, S.971.

Torquieren (lat.), krümmend drehen (z. B. Tabak);martern, peinigen, plagen.

Torr. et Gray, bei botan. Namen Abkürzung fürJ. Torrey, Arzt in New York. Gray, s. Gray 6). FloraNordamerikas.

Torre Annunziata, Stadt in der ital. Provinz Neapel,Kreis Castellammare, am Golf von Neapel, Knotenpunkt derEisenbahnen Neapel-Salerno und Cancello-Gragnano, hat bedeutendeFabrikation von Maccaroni, Fischerei, einen Hafen, in welchem 1886:2566 Schiffe mit 127,904 Ton. einliefen, Ausfuhr von Teigwaren,Mehl und Steinen, Einfuhr von Getreide und Wein und (1881) 20,060Einw.

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Torre del Greco - Torstensson.

Torre del Greco, Stadt in der ital. Provinz Neapel, amGolf von Neapel und an der Eisenbahn Neapel-Salerno, hat mehrereKirchen, zahlreiche Landhäuser, ansehnlichen Schiffbau,Fischerei und Korallenfang, Fabrikation von Korallenwaren, Weinbau,Schiffahrt und (1881) 21,588 Einw. T. ist der Hauptsitz derKorallenfischer des Mittelmeers. Es wurde vom Kaiser Friedrich II.auf den Ruinen römischer Bauten gegründet, litt sehr oftdurch Erdbeben und Ausbrüche des Vesuvs, so insbesondere 1631,1794 und 1872. Unweit östlich das Kloster Camaldoli (dellaTorre) am Hang des Vesuvs.

Torre de Moncórvo, Stadt in der portug. ProvinzTraz os Montes, Distrikt Braganza, unweit der Mündung desSabor in den Douro gelegen, mit Kastell, Seidenweberei und (1878)2040 Einw.

Torrefaktion (lat.), Dörrung, Röstung (derErze).

Torre Maggiore (spr. maddschore), Stadt in der ital.Provinz Foggia, Kreis San Severo, hat einen ehemals herzoglichenPalast, ein berühmtes ehemaliges Cassinenserkloster und (1881)8234 Einw.

Torrenssee (Lake Torrens), großer Salzsumpf inSüdaustralien, westlich von und zum Teil parallel mit derFlinderskette und durch einen nur 31 km breiten Isthmus von demnördlichsten Ausläufer des Spencergolfs getrennt. EinProjekt, den See mit diesem zu verbinden, kam nicht zurAusführung, da der T., wie nachgewiesen wurde, zu hoch liegt,um vom Meer aus hinlänglich mit Wasser gefüllt zu werden.Die höchst öden Ufer sind nur an der Ostseite vonViehzüchtern besetzt.

Torre Pellice (spr. pellihtsche. La Tour), Flecken in derital. Provinz Turin, Kreis Pinerolo, am Pellice und der EisenbahnTurin-T., Hauptort der Waldensergemeinden, hat ein Lycealgymnasium,Tuch- und Baumwollmanufaktur, Seidenspinnerei und (1881) 2840Einw.

Torres Novas, Stadt in der portug. Provinz Estremadura,Distrikt Santarem, am Almondo und der Eisenbahn Lissabon-Oporto,hat Leinenindustrie und (1878) 8065 Einw.

Torresstraße, Meerenge zwischen der Yorkhalbinseldes Australkontinents und Neuguinea, welche das Arasurameer mit demKorallenmeer verbindet. Sie ist durch zahlreiche Inseln: Prince ofWales, Horn, Thursday (s. d.), Booby, Banks, Mulgrave u. a., sowiedurch unzählige Korallenriffe, welche sich weit nach O. hinerstrecken, fast verschlossen. Zwischen den Riffen führenschmale Kanäle hindurch, der bedeutendste der Prince ofWales-Kanal, welcher von den Postdampfern zwischen Batavia undBrisbane benutzt wird. Der südlichere Teil heißtEndeavourstraße (s. d.). Der erste, welcher die Straßebefuhr, war Torres (1606); Cook besuchte sie 1770, aber erst 1802fand Flinders einen sichern Weg durch dieselbe.

Torres Vedras, Stadt in der portug. Provinz Estremadura,Distrikt Lissabon, am Sigandro und der Bahnlinie Lissabon-T., mitaltem Schloß, 4 Kirchen. Weinbau und (1878) 4926 Einw. In denLinien von T. auf einem Höhenrücken behauptete sichWellington im Winter 1810 auf 1811 gegen die Franzosen unterMasséna.

Torrevieja, Stadt in der span. Provinz Alicante, amMittelländischen Meer, durch Zweigbahn mit der LinieAlicante-Murcia verbunden, mit Hafen, starkem Export des in denSalinen der Provinz gewonnenen Salzes (jährlich aegen 800,000metr. Ztr.) und (1878) 8165 Einw. T. ist Sitz eines deutschenKonsuls.

Torricelli (spr. -tschelli), Evangelista, Mathematikerund Physiker, geb. 15. Okt. 1608 zu Piancaldoli, studierte etwaseit 1628 in Rom unter Castelli, ging 1641 zu Galilei nach Florenz,um diesem bei der Ausarbeitung seiner "Discorsi" zu helfen, undward 1642 Professor der Mathematik und Physik in Florenz, wo er 25.Okt. 1647 starb. Er schrieb: "Trattato del moto" (vor 1641) und gabin seinen "Opera geometrica" (Flor. 1644) die Gesetze vomAusfluß der Flüssigkeiten aus Gefäßen(Torricellis Lehrsatz, s. Ausflußgeschwindigkeit). Er erfand1643 das Barometer und erkannte die unregelmäßigenSchwankungen desselben, verfertigte zuerst einfache Mikroskope undverbesserte die Fernrohre. Vgl. J. R. v. Mayer, Die TorricellischeLeere (Stuttg. 1876).

Torricellische Leere und Röhre, s. Barometer.

Tórrington, alte Stadt in Devonshire (England), amTorridge, südöstlich von Bideford, hat Fabrikation vonHandschuhen und (1881) 3445 Einw.

Torsellino (lat. Tursellinus), Orazio, Gelehrter, geb.1545 zu Rom, trat 1562 in den Jesuitenorden, ward Rektor derKollegien in Florenz und Loreto; starb 6. April 1609 in Rom. SeinWerk "De usu particularum latini sermonis" (Rom 1598) ward zuletztvon Hand (Leipz. 1829-45, 4 Bde.) bearbeitet.

Torshok, Kreisstadt im russ. Gouvernement Twer, an derTwerza und der Eisenbahn Ostaschkow-Rshew, eine der ältestenStädte Rußlands und früher Festung, hat 30 Kirchen(darunter eine schöne Kathedrale), ein festungsartig gebautesMönchskloster zum heil. Jephrem, ein geistliches Seminar, einLehrerseminar, berühmte Fabrikation von Lederwaren,Wachsbleichen, lebhaften Handel u. (1885) 14,574 Einw.

Torsion (lat., Drillung, Verdrehung), dieVeränderung, welche ein Stab oder Faden erleidet, wenn beideEnden desselben in entgegengesetzter Richtung gedreht werden.Während die Längenachse hierbei unverändert bleibt,werden alle Längsfasern in eine schraubenförmige Lagegebracht und dabei gedehnt. Dadurch entsteht eine Spannung in demtordierten Körper, die Torsionselastizität, welchedenselben in seine ursprüngliche Beschaffenheitzurückzuführen sucht. Die zurückdrehende Komponentedieser Spannung ist nach Coulomb und Wertheim proportional demDreh- oder Torsionswinkel, ferner der vierten Potenz des Radius vomDraht und umgekehrt proportional der Länge desTorsionskörpers. - T. in der Botanik, s.Drehwüchsigkeit.

Torsionsfestigkeit, s. Festigkeit, S. 177.

Torsionswage, s. Drehwage.

Torso (ital., "Strunk"), in der Kunstsprache der Rumpfeiner Bildsäule, welcher Kopf, Arme und Beine fehlen.Berühmt ist der im Vatikan und zwar in der Belvedere genanntenAbteilung der Museen aufgestellte T. des Herakles ("T. vomBelvedere"), welcher unter Papst Julius II. beim Campo di Fioregefunden worden ist, ein Werk des Bildhauers Apollonios (s. d. 4).Von hervorragender Bedeutung ist auch der T. des sogen. Ilioneus inder Münchener Glyptothek.

Torstensson, Linnard, Graf zu Ortala, schwed. Feldherr imDreißigjährigen Kriege, geb. 17. Aug. 1603 zu Torstenain Schweden, ward in seinem 15. Lebensjahr Page Gustav Adolfs, kam1630 als Kapitän der Leibkompanie mit dem König nachDeutschland, ward bei dem Sturm auf Wallensteins Lager beiNürnberg 3. Sept. 1632 gefangen, im Februar 1633ausgewechselt, stand dann beim schwedischen Heer in Livland, kehrte1635 nach Deutschland zurück, machte bis 1639 unter dem HerzogBernhard von Weimar und Banér alle Feldzüge mit undblieb dann als Reichsrat in Schweden bis 1641. Nach BanérsTod mit dem Oberbefehl über die Armee

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd.

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Torsus - Tory und Whig.

in Deutschland betraut, drang er, wiewohl durch Gichtleidenstets an die Sänfte gefesselt, im Mai 1642 durch Sachsen inSchlesien ein, nahm Glogau und Schweidnitz, rückte inMähren ein und eroberte Olmütz. Erzherzog Leopold undPiccolomini zwangen ihn jedoch zum Rückzug nach Sachsen, wo er2. Nov. d. J. auf der Ebene bei Breitenfeld einen blutigen, aberglänzenden Sieg erfocht und dann Leipzig nahm. Um sein Heerdurch die Besatzungen Schlesiens und Pommerns zu verstärken,ging er mit demselben im Frühjahr bis nach Frankfurt a. O.zurück, eilte dann wieder über die böhmische Grenze,bedrohte Prag und entsetzte das bedrängte Olmütz. Infolgevon Dänemarks Kriegserklärung an Schweden im Dezember1643 nach Holstein berufen, eroberte er, mit Ausnahme der FestungenRendsburg und Glückstadt, die ganze Halbinsel. Darauf nachDeutschland zurückgekehrt, schlug er 6. März 1645 denkaiserlichen General Hatzfeld bei Jankau, vereinigte sich sodannmit dem Fürsten Rakoczy von Siebenbürgen, eroberte imFluge ganz Mähren, drang bis an die Donau vor und nahm dieSchanzen an der Wolfsbrücke vor Wien. Um in Mähren festenFuß zu fassen, begann er alsdann die Belagerung vonBrünn; allein der hartnäckige Widerstand dieses Platzes,die Verheerungen, welche eine pestartige Seuche unter seinenTruppen anrichtete, und der Friede Rakoczys mit dem Kaisernötigten ihn im August zum Rückzug nach Böhmen. VonKrankheit erschöpft, legte er den Oberbefehl in die Händedes Generals Wrangel nieder und begab sich zurück nachSchweden. Von der Königin Christine 1647 zum Grafen zu Ortalaernannt, starb er 7. April 1651 in Stockholm. Vgl. Watts dePeyster, Eulogy of T. (New York 1872).

Torsus, Fluß, s. Tirso.

Tort (lat. tortum), eine jemand absichtlichzugefügte Beleidigung; Unrecht, Verdruß, Unbilde.

Törteln, Kartenspiel, s. Tatteln.

Torticollis (lat.), s. v. w. Schiefhals (s. d.).

Tórtola, britisch-westind. Insel, zu denJungferninseln (s. d.) gehörig, 64 qkm (1,67 QM.) großmit 4000 Einw., erzeugt Zucker, Baumwolle und Kaffee. Hauptort istRoadtown.

Tortona, Kreishauptstadt in der ital. ProvinzAlessandria, unfern der Scrivia, an der EisenbahnMailand-Novi-Genua, mit welcher sich hier die LinieTurin-Alessandria-Piacenza kreuzt, ist Sitz eines Bischofs undeines Handelsgerichts, hat eine sehenswerte Kathedrale (mitinteressantem antiken Sarkophag), ein Theater, Reste alterFestungswerke (1799 von den Franzosen geschleift), ein Gymnasium,eine Notariatsschule, ein Seminar, eine technische Schule,Seidenspinnerei, Fabrikation von Baumwollwaren, Hüten, Lederund Ackerbauwerkzeugen und (1881) 7147 Einw. - T. ist das antikeDertona. Von Kaiser Friedrich Barbarossa 1155 erobert undzerstört, ward es von den Mailändern wieder aufgebaut.1796 den Franzosen übergeben, wurde es 1799 von denÖsterreichern zwar wiedererobert, aber infolge der Schlachtvon Marengo aufs neue geräumt.

Tortonische Stufe, s. Tertiärformation, S. 601.

Tortosa, befestigte Bezirksstadt in der span. ProvinzTarragona, am Ebro (mit Schiffbrücke) und an der BahnlinieValencia-Tarragona, hat eine Kathedrale, 3 Forts, Fabrikation vonPorzellan, Steingut, Seife, Papier, Leder etc., Seesalzgewinnung,lebhaften Handel (mit Öl, Salz etc.) und (1878) 24,057 Einw.T. ist Bischofsitz.

Tortrix, Wickler; Tortricina, Familie aus der Ordnung derSchmetterlinge, s. Wickler.

Tortúga (Tortue, "Schildkröte"), 1) westind.,zur Republik Haïti gehörige Insel an der NordküsteHaïtis, 35 km lang, bewaldet und fruchtbar, aber unbewohnt.-

2) Eine der Inseln unter dem Wind, in Westindien, 90 km von derKüste von Venezuela, 60 qkm groß und unbewohnt.

Tortúgas ("Schildkröten"), Gruppe vonKoralleninselchen im Golf von Mexiko, am westlichen Ende des Riffsvon Florida, zwei mit Leuchttürmen und einem Fort (Jefferson)der Vereinigten Staaten.

Tortur (lat., Marter, Folter, harte oder peinlicheFrage), im frühern Strafverfahren Erregung körperlicherSchmerzen, um vom Angeschuldigten Geständnisse zu erpressen.Im römischen Reich wurde die T. anfangs nur gegen Sklaven,später auch gegen Freie und zwar zuerst beiMajestätsverbrechen angewendet. In Deutschland fand die T.durch das römische Recht und durch das Beispiel deritalienischen Praxis Eingang, gelangte aber bei dem Aberglauben undder religiösen Intoleranz des 16. und 17. Jahrh. zurausgedehntesten Anwendung, indem sie zu einem furchtbaren Mittelward, Schuldige und Unschuldige zum Geständnis zu bringen. Manverfolgte im blinden Eifer, die göttliche Vorsehungnachzuahmen, die Verbrecher als Sünder, und der grausame Sinnder Zeit mit dem Aberglauben im Bund und mit der T. in der Handbelegte eine unglaubliche Menge Unschuldiger als Zauberer und Hexenmit den ungerechtesten Strafen. Mittel der T., welche mehrere Gradehatte, waren z. B. Peitschenhiebe bei ausgespanntem Körper,Zusammenpressen der Daumen oder der Beine mittelsSchraubstöcke mit abgestumpften Spitzen (spanische Stiefel,spanischer Bock), Ausrecken des Körpers auf einer Bank oderLeiter, Brennen in der Seite oder an den Nägeln. Bevor man zurT. selbst schritt, wurde häufig mit derselben unter Vorzeigungoder Anlegung der Folterwerkzeuge gedroht (sogen. Territion). Diepeinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 suchte zwar dieT. zu beschränken, indem niemand ohne hinreichendeVerdachtsgründe gefoltert werden sollte; auch sollte dasGeständnis nur dann gültig sein, wenn es nichtwährend der Marter, sondern erst, wenn der Scharfrichter mitderselben nachgelassen, zu Protokoll erklärt und zwei oderdrei Tage nachher vor gehörig besetztem Gericht wiederholt(Urgicht) worden sei. Indessen war damit doch nur wenig Sicherheitgegen die Erpressung unwahrer Aussagen und Geständnissegeboten, zumal die T. fortgesetzt, gesteigert und wiederholt werdendurfte, wenn der Gepeinigte das Geständnis, zu dem erwährend der T. sich bereit gezeigt, nachmals verweigerte oderzurücknahm. Wie in Deutschland, fand die T. auch in Frankreichund in andern europäischen Ländern, am wenigsten in dennördlichen, Eingang. Schon im 16. Jahrh. erhoben sich Stimmengegen die T.; aber erst Thomasius, Beccaria, Voltaire, Sonnenfels,J. Möser vermochten der Überzeugung von ihrerUnmenschlichkeit allgemeine Geltung zu verschaffen. Zuerst (1740und 1754) wurde die T. in Preußen abgeschafft, dann in Baden1767, Mecklenburg 1769, Sachsen und Dänemark 1770,Österreich 1776, Frankreich 1789, Rußland 1801, Bayern,Württemberg 1809, in Gotha ausdrücklich erst 1828 und inHannover 1840. Vgl. Wächter, Beiträge zur deutschenGeschichte (Tübing. 1845).

Torus (lat.), Pfühl, Polster; Ehebett; der Wulst ander Basis der ionischen Säule (s. Säule, S. 350); in derBotanik der Blütenboden (s. Blüte, S. 70).

Tory und Whig (engl., im Plural Tories und Whigs), alteParteinamen der engl. Aristokratie,

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Törzburg - Toscana.

welche bis zur neuesten Zeit die beiden Hauptgegensätze inden politischen Ansichten derselben repräsentierten. DerUrsprung der beiden Namen geht in die ersten Zeiten der Stuartszurück. Mit dem Namen Tories bezeichnete man ursprünglichkatholische Räuberbanden, welche zur Zeit des Kampfes Karls I.gegen das Parlament unter dem Vorwand royalistischer GesinnungIrland plündernd durchzogen, und diese Bezeichnung wurde etwaseit 1680 auf die Anhänger des Herzogs von York, der als dergeheime Beschützer der irischen Rebellen galt, dann auf dieHofpartei überhaupt übertragen. Die Ableitung des Wortesist nicht sicher. Der Name Whig (abgeleitet von whigamore, einerBezeichnung der westschottischen Bauern wegen eines Instruments u.Rufs [whigam], mit dem sie ihre Pferde antrieben) galt seit demEdinburger Aufstand von 1648, dem sogen. Whigamoreraid, fürdie schottischen Covenanters; dann wurden die Anhängerrepublikanischer Tendenzen in Schottland die "wilden Whigs"genannt, und seit 1680 begann die Partei des Hofs ihre für dieFreiheiten der Nation kämpfenden Gegner als Whigs zubezeichnen. Seit der Berufung Wilhelms III. von Oranien 1688,namentlich aber seit der Thronbesteigung des Hauses Hannover 1714erlangten die Whigs das Übergewicht u. behaupteten eswährend der Regierungen Georgs I. und Georgs II. im Kabinettwie im Parlament. In dieser Zeit veränderte sich aberallmählich die Stellung der beiden Parteien. Die Tories hattenbisher noch immer an die Wiederherstellung der königlichenRechte in dem von den Stuarts beanspruchten Umfang, viele von ihnenwohl auch an die Restauration der vertriebenen Dynastie gedacht.Als aber diese unmöglich geworden war, fügten sie sich indie Umstände und wurden die Vertreter des einmal Bestehenden,also der bischöflichen Kirche und der neuen Dynastie, derSinekuren, der bisherigen parlamentarischen Formen und derSchutzzölle. Die eifrigsten Gegner aller Neuerungen nennt manHochtories (high-tories). Die Whigs dagegen, dem Fortschritthuldigend, wirkten für Emanzipation der Dissenters, Katholikenund Juden und in staatlicher Hinsicht für freisinnigereEntwickelung der politischen Institutionen gegenüber derUnduldsamkeit des starren Aristokratismus. Seit 1782 wechseltenfast stets Tory- und Whigministerien miteinander ab; zu ersterngehörten die Ministerien: Pitt, Portland, Castlereagh,Goderich, Wellington, Peel, Aberdeen, Derby, zu letztern: Fox,Canning, Grev, Melbourne, Russell und Palmerston. Infolge derneuern großen Reformen haben jedoch, zumal durch dasAuftreten von neuen Parteibildungen, der Radikalen, Adullamiten,Homerulers etc., die Namen T. und W. ihre aktuelle Bedeutungeingebüßt. Als Liberale und Konservative werden auch inEngland jetzt die sich hauptsächlich bekämpfendenParteien bezeichnet, so daß die Namen T. und W. nur nochhistorische Bedeutung haben. Vgl. Kebbel, History of torysm fromthe accession of Mr. Pitt to Beaconsfield (Lond. 1885).

Törzburg, Karpathenpaß im ungar. KomitatFogaras, südwestlich von Kronstadt, an der Grenze vonSiebenbürgen und Rumänien, der eine tiefe, breiteEinsattelung zwischen den Felswänden des Königssteins undBucsecs bildet; mit Grenzzollamt und Kontumazanstalt in Ober-T.Nordwestlich hiervon Dorf Unter-T. mit dem Felsenschloß T.(Dietrichsburg), das 1377 an Stelle der hölzernen Burg derDeutschen Ordensritter erbaut wurde.

Tosa, Fluß, s. Toce.

Tosca, trachytischer Tuff, s. Trachyte.

Toscana, vormaliges ital. Großherzogtum, fast inder Mitte Italiens, jetzt Landschaft (comuartimento) desKönigreichs Italien, grenzt an die Landschaften Rom, Umbrien,die Marken, Emilia und Ligurien und umfaßt die Provinzen:Arezzo, Florenz, Grosseto, Livorno, Lucca, Massa-Carrara, Pisa undSiena mit 24,053, nach Strelbitsky 24,062 qkm (437,01 QM.) Arealund (1881) 2,208,869 Einw. (näheres s. unter den einzelnenProvinzen und Italien). - T. ist das alte Tuscien oder Etrurien (s.d.). Nach dem Untergang des weströmischen Reichs (476 n. Chr.)herrschten in dem Land zwischen dem Macrafluß und dem TiberOstgoten, dann Griechen, endlich Langobarden. Während derHerrschaft der letztern stand es unter Lehnsherzögen, die zuLucca residierten; Karl d. Gr. machte T. 774 zu einerfränkischen Provinz und setzte Markgrafen ein. MarkgrafBonifacius II., zugleich Graf von Modena, Reggio, Mantua undFerrara, der reichste und mächtigste Fürst in Italien,hinterließ 1052 einen minderjährigen Sohn, Friedrich,für den seine Mutter Beatrix die Regierung führte, undals er 1055 starb, folgte ihm sein Stiefvater Georg derBärtige von Niederlothringen. Beatrix und noch mehr ihreTochter Mathilde, Markgräfin von Tuscien, waren eifrigeAnhängerinnen des Papstes, und letztere vermachte nebst ihrenübrigen Besitzungen 1115 auch T. dem römischen Stuhl. Indem hierauf entbrennenden Streit zwischen Kaiser und Papst um dieMathildische Erbschaft ging die politische Einheit und diefürstliche Macht unter, und die städtischen GemeinwesenFlorenz, Siena, Pisa, Lucca, Arezzo u. a. rissen alle Gewalt in T.an sich. Unter diesen erlangte Florenz die größte Machtund vereinigte im 14. und 15. Jahrh. den größten Teilvon T. mit seinem Gebiet. Und als in Florenz die Familie Medici zurHerrschaft kam, gewann sie damit auch die Herrschaft von T. Am 1.Mai 1532 erhob der Kaiser Karl V. seinen spätern Eidam,Alexander von Medici, zum erblichen Herzog von Florenz. DessenNachfolger Cosimo I. (1537-74) vergrößerte sein Gebiet1555 durch die Erwerbung Sienas und wurde 1569 von Papst Paul V.zum Großherzog von T. ernannt und in dieser Würde seinNachfolger Franz (1574-87) vom Kaiser (1576) bestätigt.Derselbe hatte dann seinen Bruder Ferdinand, bisher Kardinal, zumNachfolger. Unter den folgenden Herzögen, Cosimo II. (gest.1621), Ferdinand II. (gest. 1670) und Cosimo III. (gest. 1723),sank der Staat schon sichtlich. Gemäß dem Wiener Friedenvon 1735 fiel T. nach dem Tode des letzten Medici, Giovanni Gasto(1737), an den Herzog Franz Stephan von Lothringen, Gemahl MariaTheresias von Österreich und nachmaligen Kaiser Franz I. Ihmfolgte 1765 sein zweiter Sohn, Großherzog Leopold, unterdessen aufgeklärter Regierung das zu einerösterreichischen Sekundogenitur erklärte Land durch weiseReformen und vorzügliche Sorge um geistige und materielleEntwickelung zu hoher Blüte gelangte. Als Leopold 1790 Kaiserward, folgte ihm in T. sein zweiter Sohn, Ferdinand III., der imSinn seines Vaters regierte. 1793 trat er der Koalition gegenFrankreich bei, schon 1795 aber schloß er einenNeutralitätsvertrag mit letzterm. Dessenungeachtet besetzteBonaparte 1796 Livorno. 1797 ward der Abzug der Franzosen mit 1Mill. Frank erkauft; aber schon im März 1799 rücktendieselben, nachdem sie nochmals 2 Mill. Fr. erpreßt hatten,wieder in T. ein und nötigten den Großherzog, das Landzu verlassen. Im Frieden von Lüneville 1801 mußtederselbe T. gegen Salzburg abtreten; T. aber, das zu

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Toscana - Toschi.

einem Königreich Etrurien umgeschaffen ward, erhielt 21.März der Infant Ludwig von Parma. Durch den Vertrag vonFontainebleau vom 27. Okt. 1807 zwischen Frankreich und Spanienward Etrurien von letzterm gegen das nördliche Portugal anFrankreich abgetreten und durch Dekret vom 24. März 1808 mitdemselben vereinigt. Am 2. März 1809 erhielt NapoleonsSchwester Elisa Bacciocchi den Titel einer Großherzogin vonT. Nach dem Sturz Napoleons I. erhielt Ferdinand 1814 T.zurück, dazu den ehedem zu Neapel gehörigen Stato degliPresidj, die Ensel Elba und die Anwartschaft auf die Erbfolge inLucca. Ferdinand III. starb 18. Juni 1824; ihm folgte sein SohnLeopold II., welcher, von seinem Minister, dem Grafen Fossombroni,unterstützt, im Sinn seines Großvaters und Vaters zuregieren sich bemühte. Straßenbauten, großartigeArbeiten zur Entwässerung der Maremmen, Erweiterung des Hafensvon Livorno, Industrieausstellungen, Reorganisation desStudienwesens zeugten von dem Eifer und der Einsicht der Regierung,durch die T. sich in geistiger und materieller Kulturaußerordentlich hob. Seit dem Tod Fossombronis (1844) abermachte sich bald der reaktionäre EinflußÖsterreichs fühlbar. Infolge der Abdikation des HerzogsKarl von Lucca ergriff der Großherzog von T.,gemäß der Wiener Kongreßakte vom 9. Juli 1815, am11. Okt. 1847 von Lucca Besitz und trat Fivizzano an Modena,Pontremoli an Parma ab. Die Nachwirkungen der PariserFebruarrevolution rissen auch T. von dem Weg der Reform auf den derRevolution. Schon vorher, unterm 17. Febr., hatte derGroßherzog eine liberale Konstitution proklamiert. Es folgtender Erlaß eines neuen Preßgesetzes (21. Mai), dieKreierung von Ministerien des Kultus und Unterrichts (5. Juni) unddie Eröffnung der Kammern (26. Juni), ohne daß dierevolutionäre Partei befriedigt worden wäre. Das neueMinisterium Capponi ergriff im Auftrag der Kammern strengereMaßregeln; als aber bei einem am 25. Aug. ausbrechendenAufstand zu Livorno, wo Guerrazzi (s. d.) der Hauptführer derBewegung war, das Militär gemeinschaftliche Sache mit denAufständischen machte und in Florenz selbst das Volk sicherhob, warf sich der Großherzog eingeschüchtert derdemokratischen Partei in die Arme und berief ein MinisteriumMontanelli-Guerrazzi, flüchtete aber 23. Jan. 1849 nach Gaeta.Schon 8. Febr. setzte die Deputiertenkammer eine provisorischeRegierung ein, welche eine Konstituierende Versammlung von 120Mitgliedern einberief, und proklamierte 15. Febr. die Republik. Die25. März eröffnete Nationalversammlung übertrug am27. Guerrazzi die exekutive Gewalt in Form der Diktatur.Gleichzeitig aber begann zu Florenz die Gegenrevolution, unddieselbe siegte mit Hilfe der herbeigezogenen Truppen und derNationalgarden so schnell, daß bereits 11. und 12. April dieRepublik beseitigt war. Von Florenz aus verbreitete sich dieGegenrevolution schnell über das Land. Eine Deputation begabsich nach Gaeta, um Leopold zur Rückkehr einzuladen; dieserernannte 1. Mai von Gaeta aus den Generalmajor Serristori zu seinemaußerordentlichen Kommissar und berief am 24. ein neuesMinisterium unter der Präsidentschaft Baldasseronis. Schon 11.Mai ward nach zweitägigem Widerstand Livorno, das bisher nochWiderstand geleistet hatte, von den Österreichern unterd'Aspre besetzt, und am 25. rückten dieselben in Florenz ein.Der Großherzog proklamierte bei seiner Rückkehr 28. Julizwar eine umfassende Amnestie, schloß aber 27. April 1850 mitÖsterreich eine Militärkonvention, der zufolge 10,000Mann Österreicher bis auf weiteres in T. bleiben sollten. 1851wurde mit Rom ein Konkordat über Modifikation derLeopoldinischen Gesetze abgeschlossen, welches der Kircheunumschränkte Freiheit gewährte und den Staat in ihrenDienst stellte; durch Dekret vom 8. Mai 1852 wurde die Konstitutionvom 17. Febr. 1848 außer Geltung gesetzt und die Herstellungder unumschränkten Souveränität verkündigt. Dieösterreichischen Truppen räumten T. erst im Frühjahr1855. Der Ausbruch des Kriegs zwischen Österreich undFrankreich im Frühjahr 1859 riß auch T. in den Strudelder Begebenheiten hinein. Nachdem Leopold 24. April eineAufforderung zum Anschluß an Sardinien abgelehnt, brach am27. ein Aufstand in Florenz aus, welcher den Großherzogveranlaßte, das Land zu verlassen. Es ward sofort eineprovisorische Regierung eingesetzt und der König von Sardinienzum Diktator ausgerufen. Derselbe lehnte zwar die Diktatur ab,übernahm dagegen am 30. das Protektorat über T. undernannte seinen Gesandten in Florenz, Boncompagni, zumaußerordentlichen Generalkommissar während der Dauer desUnabhängigkeitskriegs. Der Großherzog Leopold II.entsagte durch Abdikationsurkunde vom 21. Juli dem Thron zu gunstenseines ältesten Sohns, Ferdinands IV., und dieser erließsofort eine Proklamation an die Toscaner, welche Aufrechthaltungder Verfassung und Anerkennung der Rechte der Nation verhieß.Sie verhallte aber wirkungslos. Die Landesversammlung, die 11. Aug.zusammentrat, beschloß am 16. die Thronentsetzung des HausesLothringen und den Anschluß Toscanas an das KönigreichSardinien. Letzterer erfolgte hierauf auf Grund der allgemeinenAbstimmung vom 11. und 12. März 1860 am 22. März. Am 16.April hielt Viktor Emanuel in Florenz seinen Einzug. Ein 17. Febr.1861 erschienenes Dekret Viktor Emanuels hob auch den letzten Restder Autonomie Toscanas auf und machte dasselbe vollständig zueinem Teil des neuen Königreichs Italien. Die entthrontegroßherzogliche Familie lebt in Österreich. Vgl.Galluzzi, Istoria del granducato di T. sotto il governo della casaMedici (Flor. 1787, 5 Bde., u. öfter); Ricasoli und Ridolfi,T. ed Austria (das. 1859); A. Zobi, Storia civile della T. dal 1737al 1848 (das. 1850-52, 5 Bde.); Napier, Florentine history (Lond.1847, 6 Bde.); v. Reumont, Geschichte Toscanas seit dem Ende desflorentinischen Freistaats (Gotha 1876-77, 2 Bde.); v. Wurzbach,Die Großherzoge von T. (Wien 1883).

Toscana, Ludwig Salvator von, s. Ludwig 47).

Toscanella, Stadt in der ital. Provinz Rom, KreisViterbo, an der Marta, mit etruskischen Gräbern,mittelalterlichen Mauern und Türmen, zwei kunstgeschichtlichbedeutenden Kirchen (San Pietro und Santa Maria, letztere von 1206)und (1881) 3573 Einw.

Toscanisches Meer, s. Tyrrhenisches Meer.

Toschi (spr. tóski), Paolo, ital. Kupferstecher,geb. 7. Juni 1788 zu Parma, machte seine Studien unter Bervic inParis und gewann hier besonders Ruf durch eine Radierung desEinzugs Heinrichs IV. nach Gerard. 1815 fertigte er die Zeichnungzu dem Stich nach der Kreuztragung von Raffael, welchem der Stichnach der Kreuzabnahme von Daniel da Volterra folgte. BeideBlätter gelten als Hauptwerke der neuern Kupferstechkunst.1819 kehrte T. in seine Vaterstadt zurück und ward hierDirektor der Akademie der schönen Künste, die er neuorganisierte. Zu seinen gelungensten Stichen gehören nochAlbanis Venus und Adonis und Lo spasimo di Sicilia nach RaffaelsGe-

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Tosi - Totenbestattung.

mälde in Madrid, Correggios Madonna della Scodella und dieBlätter nach dessen Fresken im Kloster San Paolo zu Parma, anwelchen seine Schüler mit thätig waren. T. starb 30. Juli1854.

Tosi, Pietro Francesco, Sänger und Gesanglehrer,geboren um 1650 zu Bologna, gestorben um 1730 in London, wirkteanfangs als Sänger in Dresden und an andern italienischenBühnen Deutschlands und von 1692 an, nachdem er seine Stimmeverloren, als Gesanglehrer in London. Er hinterließ einGesanglehrbuch von höchster Bedeutung: "Opinioni de' cantoriantichi e moderni o sieno osservazioni sopra il canto figurato",welches in verschiedene Sprachen übersetzt wurde. Einedeutsche Bearbeitung dieses epochemachenden Werkes ist die"Anleitung zur Singekunst" von J. F. Agricola (s. d. 5).

Tosken, Volksstamm, s. Albanesen.

Töß, ein im voralpinen Gebiet des schweizer.Kantons Zürich entspringender Fluß, der innordwestlicher Richtung dem Rhein zufließt und fast auf demganzen 49 km langen Lauf durch sein enges, waldiges Thal im Dienstindustrieller Etablissem*nts steht. Auch das Dorf T., beiWinterthur, an der Bahnlinie Winterthur-Bülach-Koblenz, mit(1888) 3388 Einw., einst Sitz eines Dominikanerklosters, istFabrikort geworden. Das Tößthal wird von der BahnlinieWinterthur-Wald durchzogen. Vgl. Geilfus, Das Tößthal(Zürich 1881).

Tossefta (Tosifta, chald., "Zusatz, Ergänzung"), einder Mischna (s. Talmud) ähnliches Sammelwerk aus 60 Traktatenund 452 Abschnitten, den von der authentischen Mischnadifferierenden, größtenteils in dieselbe nichtaufgenommenen religiös-gesetzlichen Stoff des rabbinischenJudentums nebst umfangreichen haggadischen Bestandteilen (s.Haggada) enthaltend. Die T. ergänzt und berichtigt die Mischnaund ist eine Fundgrube für Bibelexegese, Archäologie u.a. Ausgaben besorgten Zuckermandel (Pasewalk 1880) undFriedländer (Preßb. 1889 ff.); einzelne Teilebearbeitete Schwarz (Karlsr. 1879-82).

Tössuh, Längenmaß, s. Tussoo.

Tost, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Oppeln,Kreis T.-Gleiwitz, an der Linie Oppeln-Borsigwerk derPreußischen Staatsbahn, 268 m ü. M., hat eineevangelische und eine kath. Kirche, eine Synagoge, eine Burgruine,eine große Korrigendenanstalt, ein Amtsgericht, eineDampfbrauerei, eine große Flaschenstrohhülsenfabrik u.(1885) 2434 meist kath. Einw.

Tostedt, Dorf im preuß. RegierungsbezirkLüneburg, Landkreis Harburg, an der Linie Harburg-Bremen derPreußischen Staatsbahn, hat eine evang. Kirche, einAmtsgericht, Bienenzucht und (1885) 1081 Einwohner.

Tosto (ital.), eilig, geschwind.

Tot, ein in bergmännischer Beziehung gebrauchterAusdruck für Unnutzbares, z. B. totes Feld, einunbauwürdiges Grubenfeld; dann bedeutet das Wort so viel wievollständig, z. B. tot gasen, Erze völlig fein gasen, totrösten, geschwefelte Erze durch Röstung vollständigvon Schwefel befreien.

Total (lat.), ganz, vollständig.

Totalisator, s. Wettrennen.

Totalität (neulat.), Gesamtheit, kommt alsEigenschaft jedem Ding zu, insofern dasselbe als vollständigerKomplex seiner einzelnen Teile in ihrem notwendigen Zusammenhangaufgefaßt wird.

Totalreflexion und Totalreflektometer, s. Brechung, S.375.

Totalschade (Totalverlust), im Versicherungswesen derSchade, welcher durch Verlust des ganzen versicherten Werteseintritt, im Gegensatz zum Partialschaden (s. d.).

Totana, Bezirksstadt in der span. Provinz Murcia, an derSierra de España, mit schönen Orangengärten,großen Töpfereien und (1878) 9648 Einw.

Totanus, Wasserläufer.

Tote Hand (Manus mortua), Bezeichnung der Kircherücksichtlich des Besitzes unbeweglicher Güter, dieregelmäßig nicht wieder veräußert werdendürfen und somit für den öffentlichen Verkehrgewissermaßen abgestorben sind; dann s. v. w. Mortuarium, s.Baulebung.

Tote Konten, in der Buchhaltung (s. d., S. 565) s. v. w.Sachkonten.

Totem, das Handzeichen der kanadischen Indianer, dessensich die Häuptlinge statt der Namensunterschrift bedienen,meist in einem rohen Bilde des Tiers bestehend, von dem sie denNamen tragen (schleichende Schlange, Otter etc.). Daher Totemismus,nach Lubbock die bei den Indianern sich vorfindende Verehrungsinnlich wahrnehmbarer Wesen, über die der Mensch keine Machtbesitzt (z. B. Himmelskörper, Tiere, Flüsse etc.), undderen Gunst er durch Opferspenden und Geschenke zu erwerben sucht,also eine Mittelstufe zwischen Fetischismus und Religion.

Totenamt, Gottesdienst zu Ehren eines Verstorbenen; inder katholischen Kirche s. v. w. Seelenmesse (s. Messe undRequiem).

Totenbestattung, die mit religiösen Gebräuchenverbundene Übergabe menschlicher Leichname an die Elemente,sofern nicht durch Einbalsamierung und Beisetzung in Gebäudendie Verwesung künstlich verhindert werden soll. Die Bestattungin freier Luft auf Reisiglagern u. dgl. findet sichhauptsächlich in der Südsee; bei seefahrendenVölkern weitverbreitet ist dagegen die Bestattung auf einemkleinen, den Wellen ausgesetzten Kahn (Einbaum) gewesen, der dieVorstellung zu Grunde lag, daß der Leichnam zur jenseit desMeers belegenen Heimat zurückkehren müsse. DieCharonsmythe ist ein Nachklang dieser auch im alten Europaweitverbreiteten Bestattungsart. Doch hat man solche"Wikinger-Begräbnisse" in großen Schiffen auch inErdhügeln der skandinavischen Länder angetroffen. Amallgemeinsten und oft nebeneinander üblich sind aber überden ganzen Erdball das Begräbnis, sei es in bloßer Erdeoder in Felsen- und Steingräbern, und die Verbrennung derToten. Dabei bestanden ursprünglich gewisse allgemeineGebräuche: die Versorgung der Toten mit Speise und Trank,woraus sich Totenopfer, -Schmäuse und ähnliche Zeremonienentwickelten, ferner die Beigabe der Waffen, Ehrenzeichen, dieNachfolge von Gattin, Sklaven, Schlachtroß etc.,Gebräuche, die auf der Vorstellung beruhten, daß derTote in bisheriger Weise weiterlebe, Speise, Waffen, Bedienung etc.bedürfe. Die hiermit zusammenhängenden, zum Teil sehrgrausamen Gebräuche der Naturvölker waren selbst bei denhalbgesitteten Bewohnern des alten Europa noch im Schwange,namentlich bei Begräbnissen von Fürsten undHäuptlingen, die man mit ihrem ganzen Hofstaat begrabenfindet; Marco Polo traf sie im Mittelalter noch in Asien so weit inÜbung, daß dem Toten alle dem Zug begegnenden Leute insGrab folgen mußten; sie sind jetzt noch bei afrikanischenHäuptlingen und selbst in Indien (Witwenverbrennung) im Gange.In den meisten Ländern fand dagegen eine Art Ablösung derMenschenopfer statt, indem statt des Lebens einige Tropfen Blut,ein Finger oder das Haar (s. Trauerverstümmelung) geopfertwurden oder statt der Menschen (wie

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Totenbestattung (Leichenverbrennung).

in Japan) thönerne oder metallene Puppen mit ins Grabgelegt wurden. Hier und da, wie in Dahome und beinordamerikanischen Indianern, wurden sogar den bereits begrabenenHäuptlingen noch Botschafter und Diener durch Ermordung amGrab nachgesandt. Mit diesen Ideen über das Fortleben imEinklang findet man bereits bei Naturvölkern einenverhältnismäßig außerordentlichen Luxus beider T., dem Toten werden seine wertvollsten Waffen undSchmuckstücke, die besten Kleider etc. mitgegeben, bei denfortgeschrittenern Stämmen selbst Gold und Edelsteine. Dieältesten Kulturvölker trieben diesen Luxus auf dieSpitze. Bei den Ägyptern wohnten die Lebenden inLehmhütten, die Toten in Palästen. Die Reichern dachtenschon im Leben daran, sich ein prächtiges, behaglichesGrabgewölbe zu bauen, und die Behandlung der Leichen (s.Mumien) verschlang große Summen. Die Mumiensärge wurden,wie die neuern Ausgrabungen gezeigt haben, oft mit gutenPorträten der Toten in Wachsmalerei versehen, außerdemgab man hier, wie bei vielen andern Völkern, den Toten Masken(s. d.) als Schutzmittel mit. Auch die Meder und Assyrer verwandtenauf prächtige Grabmäler große Summen, und auf denGipfel stieg dieser Gräberluxus bei den kleinasiatischenFürsten, wie denn das Mausoleum (s. d.) zu Halikarnassos derganzen Gattung prächtiger Grabdenkmäler den Namen gegebenhat. In den letzten Jahren sind mehrere solcher kleinasiatischerPrachtgrabmäler bekannt gemacht worden. Auch bei Griechen undRömern maß der Volksglaube der Art der Bestattung einenEinfluß auf das Los der Verstorbenen im jenseitigen Lebenbei, indem man wähnte, der unbestattete Tote müssehundert Jahre ruhelos an den Ufern des Styx umherirren. Darumhielten es die Überlebenden für eine Pflicht derHumanität, jedem irgendwo gefundenen Toten wenigstens durchAufwerfen von drei Handvoll Erde zur Ruhe zu verhelfen. Bei denSpartanern wurden die Toten auf den Schilden hinausgetragen, undalles Leichengepränge war durch die Gesetze verpönt. Beiden Athenern aber fanden feierliche Leichenbegängnisse stattund zwar unter dem Geleit der in schwarze Gewändergehüllten Verwandten und Freunde, von Klageweibern(penthetriae, praeticae), Musikchören und seit Solons Zeitauch von Lobrednern. Vor der eigentlichen Bestattung ward der Totedreimal gerufen, dann zur Erde gesetzt, wo liebende Hand seinAntlitz bedeckte und seine Augen schloß. Auch ward ihm einStück Geld (Obolos) als Fahrlohn für Charon (s. d.) inden Mund und ein Stück aus Honig und Mehl bereiteten Kuchenszur Beschwichtigung des Kerberos (s. d.) in die Hand gegeben. Vordem Trauerhaus ward der Persephone, der Königin desTotenreichs, ein Opfer dargebracht. Ein den Verwandten im Hausbereitetes Leichenmahl (perideipnon, lat. silicernium, Visceratio)beschloß die Trauerfeier. Nach vollendeter T. wurde das Haussorgfältig gereinigt. Noch zu Platons Zeiten wurden dieLeichen häufig beerdigt; aber mit Verbreitung des Glaubens,daß die Seele einer Reinigung bedürfe, um in dieWohnungen der Seligen zu gelangen, ward später, ungefährseit dem Beginn des 4. Jahrh. v. Chr., das Verbrennen allgemeinerGebrauch. Auch bei den Römern waren feierlicheLeichenbegängnisse üblich und später sogar mitblutigen Gladiatorenkämpfen verbunden. Seit dem Ende derRepublik wurde bei ihnen die Verbrennung allgemein und Kolumbarienzur gemeinsamen Aufbewahrung der Asche erbaut, nur ganz kleineKinder und vom Blitz erschlagene Personen wurden stets beerdigt undnicht verbrannt. Der Leiche folgten außer einem Mimen, derGang und Gebärde des Verblichenen nachahmte, die Klageweiber,welche noch jetzt in manchen Teilen Italiens im Gang sind. DerLuxus der Begräbnisse stieg in den Kaiserzeiten so hoch,daß er durch Gesetze eingeschränkt werden mußte,weil man Schiffsladungen mit Spezereien verbrannte. Bei derBeerdigung wurde der Leichnam in Särgen aus Holz, Thon oderStein (s. Sarkophag) ins Grab gesenkt oder in gemauerten oder ausdem Felsen gehöhlten Grabkammern beigesetzt. Bei derLeichenverbrennung wurde die Asche des Verstorbenen in einer Urneaufbewahrt und in dem Grabmal beigesetzt (s. Urne und Grabmal). Beiden Völkern des Orients war und ist die T. im allgemeineneinfacher. Ja, die Perser sollen, damit durch Begraben eines Totendie von Ormuzd rein geschaffene Erde nicht verunreinigt werde,früher ihre Toten den Hunden und Raubvögeln vorgeworfenhaben, was bei den Gebern in Indien noch heute Brauch ist (s.Parsen). Bei den alten Hebräern wurden alle menschlichenLeichname als unrein angesehen, daher die Beschleunigung der T. undAnlegung der Totenäcker möglichst fern von den Wohnungender Lebendigen. Doch war auch die Leichenverbrennung bei den Judenüblich, wie man aus Jer. 34, 5 und andern Bibelstellenersieht. Es war, wie bei den Römern, die vornehmere, weilkostspieligere Begräbnisform. Bei den Christen wurden dieToten, schon aus Opposition gegen das Heidentum, von jeherbeerdigt, nie verbrannt, wobei wohl der früh ausgebildeteGlaube an die Auferstehung des Leibes mitgewirkt haben mag.Überall, wo das Christentum und der Mohammedanismus sichausgebreitet haben, schafften sie die heidnische Leichenverbrennungab, so später bei den Germanen, und noch Karl d. Gr. verbotden Sachsen jene bei Todesstrafe. Seitdem das Christentumherrschende Religion geworden, beging man die T. feierlich mitGesang von Hymnen auf Tod und Auferstehung, woran sich späterbei weiterer Ausbildung der kirchlichen Zeremonien Totenopfer,Seelenmessen, Exequien nebst Almosenspenden und Leichenmahlzeitenanschlossen. Särge machten die Deutschen in vorchristlicherZeit einfach aus einem Baumstamm, indem sie ihn durchschnitten, dieeine Hälfte aushöhlten und die andre als Deckel benutzten(Baumsärge, Totenbaum). Holzsärge in Kastenform, nebendenen auch Steinsärge (Sarkophage) vorkommen, wurden seitEinfuhrung des Christentums häufiger. Aus dem Reliquienkultusmit seinen Heiligengerippen entwickelte sich seit dem 4. Jahrh. diegefährliche Unsitte, Geistliche, Patrone,Kirchenwohlthäter und angesehene Personen überhaupt inden Krypten der zum gottesdienstlichen Gebrauch benutzten Kirchen,ja in diesen selbst beizusetzen, ein Verfahren, gegen welchesanfangs die Konzile von Prag, Arles, Meaux etc. eiferten, bis esetwa seit 1000 überall unbeanstandet blieb und erst seithundert Jahren völlig aufgehört hat. Seitdem findet dieT. allgemein auf den Begräbnisplätzen statt, die sich nurnoch auf den Dörfern zuweilen im unmittelbaren Umkreis derOrtskirche befinden, in neuerer Zeit aber mehr und mehraußerhalb der Ortschaften angelegt wurden (s.Begräbnisplatz).

[Leichenverbrennung.] In neuerer Zeit ist die Bestattungsfragevom sanitären Standpunkt der Gegenstand zahlreicherErörterungen gewesen. Nachdem 1849 Jak. Grimm in eineröffentlichen Rede die Vorzüge und die Erhabenheit deraltgermanischen Feuerbestattung geschildert, hat sich eine langsaman-

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Totenblume - Totengericht.

wachsende Agitation für dieselbe erhoben, zumal ingroßen Städten und Gebirgsländern, woselbst dieAnlegung der Friedhöfe sanitäre und andre Schwierigkeitenbereitet. Erfahrene Ärzte, wie der Oberstabsarzt Trusen, Bocku. a., machten schon lange in Deutschland Propaganda für dieVerbrennung; italienische und schweizerische Ärzte schlossensich bald ihnen an. Der 1869 zu Florenz tagende internationaleKongreß der Ärzte faßte eine dafüreintretende Resolution, und die 1. Dez. 1870 in Florenzstattgefundene feierliche Verbrennung des auf der Reiseverstorbenen Radscha von Kelapur auf großem Scheiterhaufennach indischem Ritus regte das Interesse in weitern Kreisen an. InItalien beschäftigten sich seitdem die Ärzte Pini, Rota,Ayr, Anelli, Amati, Gorini und sehr viele andre mit der Frage, unddie Professoren Polli in Mailand und Brunetti in Paduakonstruierten besondere Öfen, in denen die Verbrennung schnellund möglichst wenig kostspielig vorgenommen werden kann. DurchMittel, welche der Kaufmann Alb. Keller aus Zürich bei seinem1874 in Mailand erfolgten Tod aussetzte, konnten diese Versuche ingroßartigem Maßstab durchgeführt werden, undMailand erbaute die erste Verbrennungshalle (1875), der solche zuLodi, Cremona, Varese, Rom, Como, Brescia, Padua, New York,Washington und Philadelphia folgten. In Deutschland erwarb sichinsbesondere Reclam Verdienste um die Popularisierung des immernoch manchem Widerspruch, namentlich von orthodoxer Seite,begegnenden Gedankens; Kinkel u. a. traten dafür ein, dieIngenieure Pieper und Siemens in Dresden beschäftigten sichmit der Konstruktion praktischer Verbrennungsöfen, und seit1877 hat auch Gotha eine Verbrennungshalle, in welcher 1878 dieerste Verbrennung einer Leiche ausgeführt wurde. DieRegierungen haben sich bisher meistens ablehnend verhalten, kaumdaß einzelne die Verbrennung fakultativ gestattet haben. 1889waren Verbrennungsöfen in Thätigkeit: in Italien 23,Amerika 10, je einer in Stockholm, Kopenhagen, London, Paris,Gotha, Zürich, und bis 1. Aug. 1888 wurden verbrannt: in Gotha554, in Italien 998, in Amerika 287, in Schweden 39, in England 16,in Frankreich 7, in Dänemark 1 Person. Es ist sehrwahrscheinlich, daß man in Zukunft zu diesem System der T.allgemein übergehen wird, denn es besitztaußerordentliche sanitäre Vorzüge und kann in einerdie Pietät und das ästhetische Gefühl völligzufriedenstellenden Weise ausgeführt werden. Das einzigegewichtige Bedenken (Vernichtung der Spuren eines an demVerstorbenen ausgeübten Verbrechens) könnte wohl durchdie Einführung der allgemeinen Leichenschau gehoben werden. Inder neuesten Zeit haben sich in vielen großen StädtenVereine zur Agitation für die Leichenverbrennung gebildet,deren Organisation von Mailand ausging. Von der neuerdings sehrangeschwollenen Litteratur über die Verbrennung der Toten seinur erwähnt: J. Grimm, Über das Verbrennen der Leichen(Berl. 1850); Trusen, Die Leichenverbrennung (Bresl. 1855);Wegmann-Ercolani, Über Leichenverbrennung (4. Aufl.,Zürich 1874); Küchenmeister, Die Feuerbestattung (Stuttg.1875); Pini, La crémation en Italie et àl'étranger de 1774 etc. (Mail. 1884); Thompson, Die moderneLeichenverbrennung (deutsch, Berl. 1889); über die T.überhaupt vgl. Weinhold, Die heidnische T. (Wien 1859); DeGubernatis, Storia popolare degli usi funebri indoeuropei (Mail.1873); Tegg, The last act, the funeral rites of nations (2. Aufl.,Lond. 1878); Sonntag, Die T., Totenkultus alter und neuer Zeit(Halle 1878); Wernher, Bestattung der Toten in Bezug auf Hygieneetc. (Gießen 1880).

Totenblume, s. Calendula.

Totenbrocken, s. Schwanenhalseisen.

Totenbuch der alten Ägypter, s. Hieroglyphen (S.521) und Totengericht.

Totenfest, das feierlich begangene Andenken der Toten. Inder ältern christlichen Kirche pflegten die Freunde undVerwandten eines Toten den Jahrestag seines Todes durch eineKommunion zu begehen (s. Requiem). Später hielt man füralle in einer Gemeinde während eines Jahrs Gestorbenen einegemeinsame Totenfeier. Die katholische Kirche bestimmte dazu dasFest Allerseelen (s. Allerseelen), die griechische die Sonnabendeder 2., 3. und 4. Fastenwoche und den Sonnabend vor Pfingsten, wozuin der russischen Kirche noch das Gedächtnis aller im Kriegegefallenen Soldaten 21. Okt. kommt. In der protestantischen Kirchefeiert man das T. meist am letzten Sonntag des Kirchenjahrs.

Totenflecke, s. Tod, S. 736.

Totengericht, eine den alten Ägyptern zugeschriebeneSitte, Gericht zu halten über einen Verstorbenen, ehe erbegraben wurde. 42 Männer prüften sein Leben und seineThaten; vor ihnen konnte jedermann den Verstorbenen anklagen. Warder für gerecht erfunden, so erfolgte die feierlicheBestattung; wurde er für schuldig erklärt, so durfte ernicht begraben werden, sondern wurde im Hause seiner Verwandtenaufgestellt. Die Richter versammelten sich nahe bei dem SeeMöris, über welchen die Leichen in einem Kahn an dasjenseitige Ufer gebracht wurden. So lauten die Angaben Diodorsüber ein T., welches bei den alten Ägyptern bestandenhaben soll. Indessen wird sein Bericht durch die mit derEntzifferung der Hieroglyphen erschlossene altägyptischeLitteratur nicht bestätigt, vielmehr scheint derselbe aufeinem Mißverständnis zu beruhen. Das T. ist weniger eineSitte der alten Ägypter als ein Glaubensartikel ihres heiligenBuches, ein Kapitel in dem sogen. Totenbuch, welches in vielenExemplaren auf Papyrus erhalten und in den Museen zu finden ist.Der betreffende Text ist in der Regel durch eine Vignetteerläutert, welche die "Halle der zwiefachen Wahrheit", d. h.der Wahrheit und der Lüge, darstellt, in welcher Osiris, derFürst der Unterwelt, thront; vor ihm sitzen die 42 Beisitzerdes Gerichts, eine Straußfeder auf dem Haupt und ein Schwertin der Hand. Vor diese tritt der Verstorbene hin und spricht seineBeichte. Wir sehen ferner eine große Wage mit einem überdem Zünglein sitzenden Hundsaffen, auf der man die Thatenabwägt, deren Symbol das Herz des Verstorbenen ist,während ein Bildnis der Göttin der Wahrheit (Maat) aufder andern Schale als Gewicht dient. Letztere führt denVerstorbenen herzu, damit er zeige, ob er mit Wahrheit oder mitLüge behaftet kommt. Nicht selten ist der Verstorbene von zweiGöttinnen der Wahrheit umgeben, von denen die eineschützend die Hände erhebt, während die andregebieterisch Rechenschaft zu heischen scheint; manchmal werdendieselben durch Isis und Nephthys oder Hathor vertreten. DerVerstorbene tritt herzu, die Götter Anubis, derschakalköpfige, und Horus, der sperberköpfige, stehenprüfend an der Wage, während der ibisköpfige Thothvor ihnen das Ergebnis auf seiner Schreibtafel verzeichnet. Hat derVerstorbene in der Halle der Doppelwahrheit vor Osiris bestanden,so stehen ihm die Pforten der unterirdischen Welt offen,während der, welcher nicht bestanden hat, ihren mannigfachenSchrecken überliefert wird. Derselbe Gedankengang

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Totengräber - Totensagen.

findet sich in der indischen, persischen, griechischen undrömischen Mythologie, wo gewöhnlich der erste Mensch(Manu) oder der erste König (Minos oder Rhadamanthys) oder derGott der Unterwelt (Hades) als Totenrichter fungiert. DieDarstellung des Erzengels Michael mit der Seelenwage aufaltdeutschen Gemälden beruht auf einem ähnlichenGedankengang.

Totengräber, s. Aaskäfer.

Totenhalle, Totenhaus, s. Leichenhaus.

Totenkäfer, s. Tenebrionen.

Totenkopf (Caput mortuum), s. Englischrot.

Totenkopf (Acherontia Atropos Ochs.), Schmetterling ausder Familie der Schwärmer (Sphingidae), 11,5 cm breit, mitkurzen, dicken Fühlern, sehr kurzen Tastern, schwachentwickelter Rollzunge und plumpem Hinterleib von 19,5 mmQuerdurchmesser, auf dem dicht braun behaarten, blaugrauschimmernden Thorax mit ockergelber, einem Totenkopf ähnlicherZeichnung und auf dem gelben, schwarz geringelten Hinterleib mitbreiter, blaugrauer Längsstrieme. Die Vorderflügel sindtiefbraun, schwarz und ockergelb gewölkt mit zwei gelblichenQuerbinden, die Hinterflügel ockergelb mit zwei schwarzenQuerbinden. Der T. erzeugt, wenn er gereizt wird, einen pfeifenden,schrillenden Ton, indem er aus einer sehr großen Saugblase imVorderteil des Hinterleibs Luft durch eine Rüsselspalteausstößt. Er findet sich in Süd- und Mitteleuropa,Afrika, auf Java und in Mexiko, bei uns einzeln, vorübergehendund örtlich im Herbste. Die 13 cm lange, grünlichgelbe,schwarz-blau punktierte Raupe, mit blauen Winkelzeichnungen auf demRücken, findet sich bei uns im Juli und August aufKartoffelkraut, Teufelszwirn, Stechapfel und verpuppt sich in derErde. In Mittel- und Norddeutschland pflanzt sich der T. nichtfort, die dort gefundenen Raupen müssen von zugeflogenenWeibchen herrühren.

Totenköpfchen, Vogel, s. Fliegenfänger.

Totenleuchten, im Mittelalter auf Kirchhöfen(Begräbnisplätzen) errichtete Säulen mitlaternenartigen Aufsätzen, in welchen ewige Lampen brannten.Eine mit Reliefs aus der Leidensgeschichte Christi geschmückteTotenleuchte von 1381 findet sich vor der Stiftskirche zuKlosterneuburg.

Totenmasken, s. Maske, S. 314.

Totenmesse, s. Requiem.

Totenmyrte, s. Vinca.

Totenopfer, s. Totenbestattung.

Totenorgel, s. Orgelgeschütz.

Totensagen. An die schon den rohesten Naturvölkerngeläufigen Vorstellungen vom Fortleben nach dem Todknüpfen sich eine Menge abergläubischer Gebräuche,Vorstellungen und Sagen, die sich zum Teil aus dem grauestenAltertum bis auf unsre Tage erhalten haben und jetzt durch denSpiritismus (s. d.) von neuem belebt werden. Man meint, daßdie Seele, nachdem sie in Gestalt eines Wölkchens,Schmetterlings, einer Schlange etc. dem Mund entflohen, in ihremneuen Zustand doch nicht ohne alle irdischen Bedürfnisse sei,auf deren Befriedigung verschiedene Bestattungszeremonien (s.Manendienst, Menschenopfer und Totenbestattung) abzielen. So werdendie Fenster des Sterbezimmers geöffnet, um der Seele freieBahn zu gewähren, und bei der Toteneinkleidung und -Einbettungbestimmte Rücksichten und wohl auch Vorsichtsmaßregelngegen das Wiederkommen angewendet. Zu den einmaligen Pflichtenkommen dauernde; es opferten die Römer z. B. den Verstorbenenvon jeder Mahlzeit, indem sie von Speise und Trank etwas auf denBoden schütteten; die Katholiken lassen Messen für dieSeelenruhe lesen, und auch durch zu vieles Weinen darf der Tote,der die Thränen im Krüglein sammeln muß, nichtgestört werden. Waren derartige Pflichten und Abfindungenversäumt worden, so glaubte man, daß der Tote keine Ruhehabe und die Nachgebliebenen beunruhige; so z. B. breiten dieSamoaner, wenn ein in der Ferne Verstorbener kein ordentlichesBegräbnis erhalten, ein Tuch aus und betrachten das ersteTier, z. B. ein Insekt, welches sich darauf setzt, als dieumherirrende Seele, der dann die vorgeschriebenenBegräbniszeremonien erwiesen werden. Auch Menschen, die nichtausgelebt haben und ermordet oder hingerichtet wurden, finden keineRuhe, bis der Mörder entdeckt ist, bei dessen Annäherungihre Wunden von neuem aufbrechen (s. Bahrrecht), oder bis ihreVerbrechen gesühnt sind. Aber auch unerfüllte kirchlicheund bürgerliche Verpflichtungen rauben die Grabesruhe; die vorder Hochzeit gestorbene Braut besucht den Bräutigam in dergriechischen, von Goethe umgedichteten Sage, die Wöchnerin dasnachgelassene Kind. Besonders häßlich ist die noch immersehr verbreitete Sage von den im Grab weiterlebenden Vampiren (s.d.), die ihren Angehörigen das Blut aussaugen, bis sie ihnennachfolgen, wenn nicht besondere Vorsichtsmaßregeln gegen ihrWiederkommen getroffen werden. Sind die Toten befriedigt, so ziehensie in ein besseres Land (Elysium), welches in der Unterwelt oderda, wo die Sonne zur Ruhe geht, gedacht wird. Manche Völkererzählten von einer Toteninsel, zu der ein Fährmann(Charon) die Verstorbenen hinüberfährt, wo sie dann unterdem milden Zepter eines Totenkönigs ein schattenhaftes Daseinführen; anderwärts müssen sie einen Berg der Seligen(s. Glasberg) ersteigen. Aus dem Jenseits können sie nur durchbesondere Totenbeschwörer (s. Nekromantie) oder durchspiritistische Veranstaltungen zurückgerufen werden, um denLebenden Auskünfte, Orakel, Ratschläge etc. zu erteilen.Nur am Allerseelentag kommen sie freiwillig als langer "Zug desTodes", die Kinder in weißen Hemdchen unter Führung undObhut der Totenmutter (Frau Holle), zur Erde, besuchen eine einsamgelegene, um Mitternacht erleuchtet erscheinende Kirche, worin derverstorbene Pfarrer Gottesdienst abhält, und die Gräber,auf welche dann vielfach brennende Lichter gestellt werden. Sowurde schon im heidnischen Rom ein besonderes Laren- undLemurenfest gefeiert, bei welchem man besondere Totenspeisenauftrug, weil dann die Unterwelt offen stand und die Totenscharenweise die Wohnungen besuchten. In Rußland trägtman noch heute am Allerseelentag Speise und Trank auf dieGräber. Man spricht auch von besondern Vorzeichen, die einerbestimmten Person den baldigen Tod verkünden sollen, von einemAnpochen des Todes an der Thür, von dem Ruf des Uhu alsTotenvogel, von einer Totenuhr (s. Klopfkäfer), von einemfreiwilligen Anschlagen der Glocken, wenn ein hoher Geistlichersterben soll, von dem mahnenden Erscheinen einer weißen Frau(s. d.) in verschiedenen Fürstenhäusern, von einemVoraussehen des künftigen Leichenzugs (s. Zweites Gesicht),und in Dänemark nennt man gewisse Lähmungserscheinungenden Totengriff, gleichsam das erste Anpacken des Todesdämons.Überhaupt wurde der Tod früh personifiziert und alsDämon gedacht, der mit dem Erkrankten ringt und ihn endlichniederwirft. In Seuchezeiten wollte man ihn als von Ort zu Ortziehenden oder auf lahmem Klepper durch das Stadtthor einziehendenPestmann erblickt haben, der die

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Totenschau - Totentanz.

zum Tod Erwählten bloß mit seinem starren Blick ansahoder sie anblies, um sie sofort auf das Sterbebett zu werfen. DasMittelalter war besonders reich an bildlichen Darstellungen vom"Triumph des Todes", zu denen Allegorie und Sage den Stofflieferten (s. Totentanz). Eine reiche Fülle von T. findet mangesammelt bei Henne-Am Rhyn, Die deutsche Volkssage (2. Aufl., Wien1879).

Totenschau (Leichenschau), die polizeiliche odergerichtliche Besichtigung einer Leiche. Die erstere, dieAusstellung der Leichen verunglückter Personen oder vonSelbstmördern behufs Rekognoszierung, wurde zuerst in Parisorganisiert, wo man die Leichen in der Morgue öffentlich zurSchau stellte. In Berlin wurden von 1953 Leichen Erwachsener,welche 1856 bis 1866 in Polizeigewahrsam gelangten, 10 Proz., von4314 Leichen, welche 1876-85 ausgestellt wurden, 8,2 Proz.unerkannt begraben. In dem in Berlin 1886 neuerrichtetenöffentlichen Leichenschauhaus liegen die Leichen ingekühlten Räumen bei 0-2°, welche durch Glasscheibenvon den für das Publikum bestimmten Räumen getrennt sind.Das Haus enthält außerdem Zimmer für bekannteLeichen, für Obduktionen, polizeiliche und gerichtlicheUntersuchungen, für den wissenschaftlichen Unterricht in dergerichtlichen Medizin und Chemie, Räume zur Aufbewahrung undzum Verbrennen der Kleider der Leichen, Sargmagazin etc. Die T. zurFeststellung des Todes wird an solchen Orten vorgenommen, anwelchen die Polizei die Ausstellung eines Totenscheins vom Arztfordert; der letztere (Totenbeschauer, Schauarzt) hat sich von demerfolgten Ableben zu überzeugen und sein Urteil über dieTodesart abzugeben. Die T. zur Feststellung der Todesart wird vondem in der Regel beamteten Arzt auf polizeiliche oder gerichtlicheAnordnung vorgenommen, um zu bestimmen, ob an der Leiche schon beibloßer Besichtigung die Todesart erkannt werden kann(Strangmarke Erhängter etc.), oder ob dieselbe durch Sektionermittelt werden muß. Im letztern Fall wird die gerichtlicheObduktion (s. d.) von der Gerichtsbehörde, nach der deutschenStrafprozeßordnung von der Staatsanwaltschaft, verfügtund von zwei Ärzten ausgeführt, die über den Befundein Obduktionsprotokoll (Fundschein, Fundbericht, Visum repertum,Parere medicum) aufnehmen. Zur Erlangung einer zuverlässigenStatistik über die Todesarten, zur Gewinnung derMöglichkeit eines klaren Einblicks in die tödlicheKrankheit, zur Aufdeckung von Verbrechen, zur Zerstreuung allerBesorgnisse vor dem Lebendbegrabenwerden ist die allgemeineEinführung der T. eventuell mit nachfolgender Sektion dringendwünschenswert, Vorurteil und falsch verstandene Pietäthaben aber diesen Fortschritt bisher verhindert.

Totenstarre, s. Tod, S. 736, und Muskeln, S. 937.

Totentanz, seit dem 14. Jahrh. in Aufnahme gekommenebildliche Darstellungen, welche in einer Reihe von allegorischenGruppen unter dem vorherrschenden Bilde des Tanzes die Gewalt desTodes über das Menschenleben veranschaulichen sollen.Ursprünglich ward dieser Stoff zu dramatischer Dichtung undSchaustellung benutzt und in kurzen, meist vierzeiligenWechselreden zwischen dem Tod und anfangs 24 nach absteigenderRangfolge geordneten Personen verarbeitet. Wahrscheinlich war darinden sieben makkabäischen Brüdern mit ihrer Mutter undEleasar (2. Makk. 6, 7) eine hervorragende Rolle zugeteilt, und esfand die Aufführung an deren Gedächtnisfest zu Paris imKloster der unschuldigen Kindlein (aux Innocents) statt; daher derin Frankreich von alters her übliche lateinische Name ChoreaMachabaeorum (franz. la danse Macabre). In Paris war bereits 1407die ganze Reihe jener dramatischen Situationen nebst dendazugehörigen Versen an die Kirchhofsmauer des genanntenKlosters gemalt, und hieran schlossen sich bald weitere Malereien,Teppich- und Steinbilder in den Kirchen zu Amiens, Angers, Dijon,Rouen etc. sowie seit 1485 auch Holzschnitt- und Druckwerke, welchedie Bilder und Inschriften wiedergaben. Noch erhalten ist dertextlose, aber die Dichtung illustrierende T. in der Abteikirchevon La Chaise-Dieu in der Auvergne, dessen erster Ursprung in das14. Jahrh. hinausreichen mag. Reime und Bilder des Totentanzesverpflanzten sich von Frankreich aus auch nach England; diemannigfaltigste und eigentümlichste Behandlung aber ward ihmin Deutschland zu teil, wo er mit wechselnden Bildern und Versen indie Wand- und Büchermalerei überging. Eine Darstellung ineiner Kapelle der Marienkirche zu Lübeck, deren niederdeutscheReime teilweise erhalten sind, zeigt den T. noch in seinereinfachsten Gestalt: 24 menschliche Gestalten, Geistliche und Laienin absteigender Ordnung, von Papst, Kaiser, Kaiserin, Kardinal,König bis hinab zu Klausner, Bauer, Jüngling, Jungfrau,Kind, und zwischen je zweien derselben eine springende odertanzende Todesgestalt als verschrumpfte Leiche mit umhüllendemGrabtuch; das Ganze durch gegenseitig dargereichte undgefaßte Hände zu einem einzigen Reigen verbunden undeine einzelne Todesgestalt pfeifend voranspringend (vgl."Ausführliche Beschreibung und Abbildung des Totentanzes inder Marienkirche zu Lübeck", Lüb. 1831). Aus dem 14.Jahrh. (vielleicht von 1312) rührt der jetzt verwischte T. imKreuzgang des Klingenthals, eines ehemaligen Frauenklosters derKleinstadt Basel (Bilder und Reime bei Maßmann: "BaselerTotentänze", Stuttg. 1847) her. Hier ist die Zahl der Personenum einige neue, aus den niedern Ständen genommene vermehrt,auch das Ganze in einzelne Paare aufgelöst. Ein andrerwiederholt gedruckter T. mit 37 tanzenden Paaren ("der doten dantzmit figuren") zeigt sowohl in den Figuren als in den StrophenNachahmung der erwähnten französischen Danse Macabre.Seit der Mitte des 15. Jahrh. werden die Bilder des Totentanzesimmer mehr vervielfältigt, während die Verse wechselnoder ganz weggelassen werden, und zuletzt gestalten sich beide,Bilder und Verse, völlig neu. Zunächst ward der T. vonKleinbasel nach Großbasel, vom Klingenthal an dieKirhofsmauer des Baseler Predigerklosters (nicht vor der Mitte des15. Jahrh.) übertragen, wobei Zahl und Anordnung der tanzendenPaare dieselbe blieben, aber am Anfang ein Pfarrer und ein Beinhausund am Ende der Sündenfall hinzugefügt wurden,während die das Ganze beschließende Person des Malersvielleicht erst Hans Hug Kluber, welcher 1568 das Bildrestaurierte, anhängte. Bei dem Abbruch der Kirchhofsmauer1805 ist das Original bis auf geringe Fragmente zu Grunde gegangen;doch haben sich Nachbildungen nebst den Reimen erhalten, namentlichin den Handzeichnungen Em. Büchels (bei Maßmann a. a.O.). Der zum Volkssprichwort gewordene "Tod von Basel" gab neuenAnstoß zu ähnlichen Darstellungen, obschon dieDichtkunst den Stoff ganz fallen ließ. So ließ HerzogGeorg von Sachsen noch 1534 längs der Mauer des drittenStockwerks seines Dresdener Schlosses ein steinernes Relief von 24lebensgroßen Menschen- und 3 Todesgestalten ausführen,ohne Reigen oder tanzende Paare und nach Auffassung wie nachAnordnung durchaus neu

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Totenuhr - Totes Rennen.

und eigentümlich. Dieses Bildwerk ward bei dem großenBrand von 1701 stark beschädigt, aber wiederhergestellt undauf den Kirchhof von Neustadt-Dresden übertragen (abgebildetbei Nanmann: "Der Tod in allen seinen Beziehungen", Dresd. 1844).Von der Baseler Darstellung abhängig ist das aus dem 15.Jahrh. herrührende Gemälde in der Predigerkirche zuStraßburg, welches verschiedene Gruppen zeigt, aus derenjeder der Tod seine Opfer zum Tanz holt (abgebildet bei Edel: "DieNeue Kirche in Straßburg", Straßb. 1825). Aus denJahren 1470-90 stammt der T. in der Turmhalle der Marienkirche zuBerlin (hrsg. von W. Lübke, Berl. 1861, und von Th.Prüfer, das. 1876). Einen wirklichen T. malte von 15I4 bis1522 Nikolaus Manuel an die Kirchhofsmauer des Predigerklosters zuBern, dessen 46 Bilder, die jetzt nur noch in Nachbildungenvorhanden sind, bei aller Selbständigkeit ebensowohl an denBaseler T. wie an den erwähnten "doten dantz mit figuren"erinnern. Eine durchaus neue und künstlerische Gestalt erhieltaber der T. durch H. Holbein d. j. Indem dieser nicht sowohlveranschaulichen wollte, wie der Tod kein Alter und keinen Standverschont, sondern vielmehr, wie er mitten hereintritt in den Berufund die Lust des Erdenlebens, mußte er von Reigen undtanzenden Paaren absehen und dafür in sich abgeschlosseneBilder mit dem nötigen Beiwerk, wahre "Imagines mortis", wieseine für den Holzschnitt bestimmten Zeichnungen genanntwurden, liefern. Dieselben erschienen seit 1530 und als Buch seit1538 in großer Menge und unter verschiedenen Titeln undKopien (neue Ausg. von F. Lippmann, Berl. 1879). Holbeins"Initialbuchstaben mit dem T." wurden in Nachschnitten vonLödel neu herausgegeben von Ellissen (Götting. 1849).Daraus, daß Hulderich Frölich in seinem 1588erschienenen Buch "Zween Todtentäntz, deren der eine zu Bern,der andre zu Basel etc." dem T. am Predigerkirchhofgrößtenteils Bilder aus Holbeins Holzschnittenunterschob und Mechel sie in sein Ende des vorigen Jahrhundertserschienenes Werk "Der T." aufnahm, entstand der doppelte Irrtum,daß man auch den ältern wirklichen T. im Predigerklosterfür ein Werk Holbeins hielt und des letztern "Imagines"ebenfalls T. benannte. Im Lauf des 16., 17. und 18. Jahrh.entstanden noch andre Totentänze in Chur(erzbischöflicher Palast mit Benutzung der HolbeinschenKompositionen), Füssen, Konstanz, Luzern, Freiburg und Erfurt,und Holzschneide- wie Kupferstecherkunst nahmen den Stoff wiederauf, dessen sich auch die Dichtkunst wieder bemächtigte, z. B.Bechstein ("Der T.", Leipz. 1831). Auch in neuester Zeit hat manwieder Totentänze gezeichnet, so namentlich A. Rethel und W.Kaulbach. Vgl. Peignot, Recherches sur les danses des morts (Par.1826); Douce, Dissertation on the dance of death (Lond. 1833);Langlois, Essai sur les danses des morts (Rouen 1851, 2 Bde.);Maßmann, Litteratur der Totentänze (Leipz. 1841); W.Wackernagel, Der T. (in "Kleine Schriften", Bd. 1, das. 1874);Wessely, Die Gestalten des Todes etc. in der darstellenden Kunst(das. 1877). Die reiche Litteratur findet sich verzeichnet in den"First proofs of the universal catalogue of books on art" (Lond.1870).

Totenuhr, s. Klopfkäfer.

Totenvogel, s. Eulen, S. 906.

Toter Winkel, s. Bestreichen.

Totes Gebirge, Gebirgsgruppe der Salzkammergutalpen,durch die Ausseer Niederung vom Kammergebirge geschieden, mit demQuellengebiet der Traun und Steyr, eine Hochebene mit denauffallendsten Kontrasten, meist kahl und zerrissen, dazwischen mitschönen Alpen, am Nordende im Großen Priel 2514 m hoch.S. Karte "Salzkammergut".

Totes Kapital, s. v. w. müßig liegendes,keinen Gewinn abwerfendes Kapital (s. d.).

Totes Meer, 1) (in der Bibel Salzmeer, Meer derWüste, der Asphaltsee der Griechen und Römer, arab. BachrLût, "Lots Meer") Landsee im asiatisch-türk. WilajetSurija (Syrien), an der Südostgrenze Palästinas, ist 76km von N. nach S. lang und 3½-16 km breit und wird durch diean der Ostküste hervortretende Halbinsel Lisân ("Zunge")in zwei Becken geteilt (s. Karte "Palästina"). Es wird im O.und W. von steil abfallendem Hochtafelland begleitet, welches sich700-800 m über den Wasserspiegel erhebt, und von welchem sichviele Thalschluchten (Wadis) herabziehen, in denen sich einigeVegetation zeigt, während die sonstige Umgebung meist sterilist. Die beiden Becken sind von verschiedener Tiefe; währenddiese im nördlichen Becken in der Mitte meist über 300 m(größte Tiefe unter 31° 36' nördl. Br. 399 m)und im gesamten Durchschnitt 329 m beträgt, scheint sie imsüdlichen Becken nirgends über 3,6 m zu messen. Dochschwankt der Seespiegel je nach der Jahreszeit und scheint imallgemeinen im Sinken begriffen zu sein. Das Wasser ist ziemlichhell und klar, aber so mit Mineralien gesättigt, daßhineingeworfenes Salz sich nicht mehr auflöst und weder Fischenoch Schaltiere darin existieren können. Die salzigenBestandteile (etwa 25 Proz.) sind Chlormagnesium, Chlorcalcium undChlornatrium; dieselben verleihen dem Wasser ein spezifischesGewicht von 1,166, so daß dasselbe weit größereLasten als das gewöhnliche Seewasser trägt und dermenschliche Körper darin nicht untersinkt. Jene Salze werdendurch Verdunsten des Wassers in Gruben in Menge gewonnen. Der Bodendes Sees besteht aus Sand, unter welchem sich eine Lage von Asphalt(Judenpech) befinden soll, der zuweilen in großenStücken durch das Wasser aufgespült wird. Nach andernstammt der Asphalt von einer Breccie am Westufer des Sees her. DasTote Meer liegt 394 m unter dem Spiegel des Mittelmeers und ist dietiefste bekannte Einsenkung der ganzen Erde. Es empfängt anseinem Nordende den Jordan (s. d.), außerdem mehrereBäche, von denen die bedeutenden vom östlichen Hochlandkommen. Ein sichtbarer Abfluß ist nicht vorhanden, und wenntrotzdem das Niveau des Sees immer ziemlich gleichbleibt, sorührt dies nur von der überaus starken Verdunstung her.Wegen der tiefen Lage des Sees herrscht im Bereich desselben eineaußerordentliche Wärme, welche die Verdunstung sehrbefördert. Nach der biblischen Sage entstand das Bassin desToten Meers, welches einst die fruchtbare Ebene Siddim mit denStädten Sodom und Gomorrha einnahm, durch einen Schwefelregen(vulkanische Eruption). Vgl. Lynch, Bericht über dieExpedition der Vereinigten Staaten nach dem Jordan und dem TotenMeer (deutsch, Leipz. 1850); Hull, Memoir on the geology andgeography of Arabia Petraea etc. (Lond. 1886); Luynes, Voyaged'exploration à la Mer Morte (Par. 1871-76, 3 Bde.). -

2) S. Karkinitischer Meerbusen.

Totes Papier (franz. Valeur morte), ein Wertpapier,welches an der Börse zwar eingeführt ist, aber fast garnicht gehandelt wird.

Totes Rennen (engl. Dead heat), ein Rennen, in welchemzwei oder mehrere Pferde so zu gleicher Zeit das Ziel passieren,daß ein Richter nicht im stande ist, den Sieger zuermitteln.

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Tote Wechsel - Totpunkt.

Tote Wechsel, s. v. w. eigne Wechsel.

Totfall (unrichtig Todfall), s. Baulebung.

Tóth, 1) Koloman, ungar. Dichter, geb. 30. Juni1830 zu Baja im Bács-Bodroger Komitat, veröffentlichte1854 die erste Sammlung seiner Gedichte, die durch patriotischeTendenz und Gemütlichkeit beliebt wurden, und denen dannmehrere ähnliche Sammlungen aus seiner Feder folgten. Erschrieb auch verschiedene Dramen, von welchen "Egykirályné" ("Eine Königin") einen Preis derAkademie davontrug und "A nök az alkotmányban" ("Frauenim konstitutionellen Leben") mit großem Erfolgaufgeführt wurde. T. wurde 1860 von der Kisfaludy-Gesellschaftund 1861 von der Akademie zum Mitglied gewählt. Er starb 4.Febr. 1881 in Pest.

2) Eduard, ungar. Dramatiker, geb. 1844 zu Putnok imGömörer Komitat, widmete sich dem Kaufmannsberuf, wirktespäter als Schauspieler und Theaterdichter beiProvinzbühnen, wurde jedoch erst bekannt, als er 1871 mitseinem Volksstück "A falu roszsza" ("Der Dorflump", deutschvon A. Sturm) einen vom Pester Nationaltheater ausgeschriebenenPreis gewann. Er erhielt infolgedessen eine Anstellung an diesemTheater, starb aber schon 27. Febr. 1876. Andre namhafteStücke von ihm sind das zweite preisgekrönteVolksstück, "A kintornás családsa" ("Die Familiedes Leiermanns"), und das erst nach seinem Tod aufgeführteDrama "A tolonc" ("Der Schübling"), dessen Stoff gleichfallsdem Volksleben entnommen ist. T. zeichnete sich durch originelleErfindung und poetisches Gemüt aus, war aber noch nicht zurvollen Beherrschung der dramatischen Form durchgedrungen.

Totilas, König der Ostgoten, ward 541 auf den Thronerhoben, eroberte in kurzer Zeit das von Belisar den Gotenentrissene Italien wieder, 546 nach hartnäckiger Belagerungauch Rom, verlor es 547 wieder an Belisar, nahm es aber 549 zumzweitenmal ein und machte es zu seiner Hauptstadt. Auch Sizilien,Sardinien und Corsica brachte er wieder an das Gotenreich, erlittaber im Juli 552 bei Tagina gegen Narses eine Niederlage, inwelcher er selbst fiel.

Totis (ungar. Tata, lat. Theodatum), Markt im ungar.Komitat Komorn, Station der Ungarischen StaatsbahnlinieBudapest-Bruck, in ungemein quellenreicher Umgebung, besteht aus T.(Oberstadt) und Tóváros (Seestadt) an einem 4 km imUmfang messenden fischreichen See, mit Schloß u. Park desGrafen Esterhazy, großem Kastell, vielen Teichen, Klostersamt Gymnasium, Kapuzinerkloster, Bezirksgericht, großenMarmorbrüchen, römischen Altertümern und (1881) 6507Einw., welche Spiritus-, Steingut- und Lederfabrikation und Weinbautreiben.

Totlaufen, sich, sagt man von einem Gesims, welches aneinem Vorsprung endigt, ohne sich um denselben herumzuziehen (mitdemselben zu verkröpfen); auch von einem Gang oder einerStraße, die an einem Ende keinen Ausweg haben.

Totleben (Todleben), Eduard Janowitsch, Graf von, russ.General, geb. 20. Mai 1818 zu Mitau als Sohn eines angesehenenGroßhändlers, ward erst auf der Kadettenschule in Riga,dann 1832-36 auf der Ingenieurschule in Petersburg gebildet, trat1837 als Unterleutnant in das Geniekorps, kämpfte 1847-50 imKaukasus, nahm als Stabshauptmann an den Belagerungen derTschetschenzenfestungen Salti und Tschoch teil und war dann 1854als Oberstleutnant an der Seite des Generals Schilder-Schuldner beider Belagerung von Silistria thätig. Darauf nach der Krimbeordert, erwarb er sich durch schnelle Herrichtung vonVerteidigungswerken auf der Südseite von Sewastopol, welcheallein die lange Verteidigung ermöglichte, einen weitberühmten Namen. Am 20. Juni 1855 am Fuß verwundet,mußte er seine Wirksamkeit einstellen und ward dann zumGeneralleutnant und Generaladjutanten des Kaisers sowie 1860 zumDirektor des Ingenieurdepartements im Kriegsministerium ernannt.Außerdem ward er Adjunkt des Großfürsten Nikolausdes ältern als Generalinspektor des Geniewesens. 1877 ward ererst im September auf den Kriegsschauplatz nach Bulgarien berufenund mit der Oberleitung der Belagerungsarbeiten vor Plewna betraut,nach dessen durch ihn bewirktem Fall in den Grafenstand erhoben,mit der Zernierung der bulgarischen Festungen und im April 1878 mitdem Oberbefehl in der Türkei beauftragt. 1879 wurde erGeneralgouverneur von Odessa, 1880 von Wilna und starb 1. Juli 1884in Bad Soden. Er schrieb "Défense de Séwastopol"(Petersb. 1864 ff.; deutsch von Lehmann, Berl. 1865 bis 1872, 2Bde.). Vgl. Brialmont, Le général comte T.(Brüssel l884); Krahmer, Generaladjutant Graf T. (Berl.1888).

Totliegendes, s. v. w. Rotliegendes, s.Dyasformation.

Totma, Kreisstadt im russ. Gouvernement Wologda, an derSuchona, mit Lehrerseminar, weiblichem Progymnasium und (1885) 3412Einw. Dabei Salzquellen, deren eine jährlich 75,000 Pud Salzliefert.

Totnes, altes Städtchen in Devonshire (England), amDart, mit (1881) 4089 Einw. Dabei Serge- und Wollwarenfabriken.

Totonicapan, Hauptstadt des gleichnamigen Departements imzentralamerikan. Staat Guatemala, liegt auf einer gut angebautenHochebene und hat 25,000 Einw., meist Indianer, die sich nebenAckerbau mit Fabrikation von Wollzeugen, Töpferwaren undmusikalischen Instrumenten beschäftigen.

Totpunkt, diejenige Stellung gewisser Mechanismen, inwelcher eine eingeleitete Kraft keine Bewegung hervorzubringenvermag. Sehr verbreitete Mechanismen mit Totpunkten sind diegewöhnlichen Kurbelgetriebe. An jeder Drehbank oderNähmaschine mit Fußbetrieb (Trittbrett, Lenkstange undKurbel) lassen sich zwei Stellungen finden, von welcher aus dieMaschinen mit dem Trittbrett allein nicht in Bewegung gesetztwerden können, vielmehr dazu einer Nachhilfe mit der Hand amSchwungrad etc. bedürfen. Es sind das die Totpunkte desKurbelmechanismus, welche eintreten, wenn die Lenkstange und dieKurbel in einer geraden Linie liegen. Die Lenkstange zieht oderdrückt hierbei nur in radialer Richtung an der Kurbel, sodaß eine senkrecht zur Kurbel (also tangential zumKurbelkreis) gerichtete Komponente, durch welche allein eineKurbelbewegung möglich ist, nicht auftreten kann. DieTotpunkte müssen in der Technik einerseits häufigunschädlich, können aber anderseits geradezu nutzbargemacht werden. Das erstere ist der Fall z. B. bei allen durchKurbelantrieb in Bewegung gesetzten Maschinen (Dampf-,Heißluft-, Gaskraft-, Wassersäulenmotoren,Fußdrehbänken, Bohrmaschinen, Spinnrädern,Nähmaschinen etc.), und zwar werden die Totpunkte entwederdurch Schwungräder oder dadurch überwunden, daßmehrere gleiche Mechanismen mit abwechselnd eintretenden Totpunktenangewendet werden, wobei sie sich gegenseitig über dieTotpunte hinweghelfen (z. B. bei den Zwillingsdampfmaschinen).Nützliche Verwendung finden die Totpunkte be-

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Totreife - Toul.

sonders bei der Mehrzahl der durch Klemmung wirkendenBefestigungen und Verschlüsse, z. B. bei Gürtelschnallen,Feststellvorrichtungen für Rouleausschnüre,Hosenträger, Strumpfbänder etc. sowie bei Handschuh-,Portemonnaie- und Flaschenverschlussen etc.

Totreife, der Zustand der Getreidekörner, in welchemdieselben auf dem stehenden Halm völlig hart sind.

Totrokan (das antike Transmarisca), Kreishauptstadt inBulgarien, an der Donau, zwischen Silistria und Rustschuk, mitExport von Rohprodukten und Holz und (1881) 7164 Einw. (vieleRumänen).

Totschlag, die widerrechtliche Tötung einesMenschen, welche zwar mit Vorsatz, aber nicht mit Überlegungausgeführt wird. Durch das Vorhandensein derTötungsabsicht unterscheidet sich das Verbrechen von derfahrlässigen Tötung (s. d.), durch den Mangel derÜberlegung von dem Verbrechen des Mordes (s. d.). Der T. istdie im Affekt begangene absichtliche, widerrechtliche Tötung,welche, weil durch die leidenschaftliche Erregung dasBewußtsein des Thäters als getrübt erscheint, mitgeringerer Strafe bedroht ist als der Mord. Das deutscheReichsstrafgesetzbuch bestraft den Totschläger mit Zuchthausvon 5-15 Jahren. Dabei gilt es als Straferhöhungsgrund, wennder T. an einem Verwandten aufsteigender Linie, oder wenn er beiUnternehmung einer strafbaren Handlung verübt wurde, um einder Ausführung der letztern entgegentretendes Hindernis zubeseitigen, oder um sich der Ergreifung auf frischer That zuentziehen. Als strafmilderndes Moment wird es dagegen angesehen,wenn der Totschläger ohne eigne Schuld durch eine ihm odereinem Angehörigen zugefügte Mißhandlung oderschwere Beleidigung von dem Getöteten zum Zorn gereizt undhierdurch auf der Stelle zur That hingerissen worden war. In diesemFall erscheint der bloße Versuch des Totschlags, welchersonst mit Strafe bedroht ist, nicht als strafbar. Es soll auch inebendiesem Fall, oder wenn sonstige mildernde Umständevorliegen, nur auf Gefängnisstrafe von sechs Monaten bis zufünf Jahren erkannt werden. Vgl. Deutsches Strafgesetzbuch,§ 212 ff. - Das österreichische Strafgesetzbuchbezeichnet als T. die nicht absichtliche, aber als Folge einersonstigen absichtlichen Feindseligkeit erscheinende Tötung undbedroht die im Affekt begangene absichtliche Tötung sogar mitTodesstrafe. Vgl. Österreichisches Strafgesetzbuch § 140ff.

Tottenham, nördliche Vorstadt von London, 9 km vonder Londonbrücke, mit Diakonissenanstalt und (1881) 46,441Einw.

Totum (lat.), das Ganze.

Tötung (Tötungsverbrechen, Homicidium), dasVerbrechen desjenigen, welcher widerrechtlicherweise den Tod einesandern Menschen verursacht. Hiernach fällt also der Selbstmordnicht unter den Begriff der strafbaren T., ebensowenig die T. imKrieg nach Kriegsrecht oder die rechtmäßige T. eines zumTod Verurteilten und die T. im Fall der Notwehr (s. d.). Ebenso istdie Abtreibung der Leibesfrucht, welche ein erst im Werdenbegriffenes Menschenleben zerstört, hier auszuscheiden. Jenachdem nun der Tötende mit oder ohne Absicht handelte, wirdzwischen vorsätzlicher und fahrlässiger (kulposer) T.unterschieden. Letztere wird nach dem Strafgesetzbuch des DeutschenReichs (§ 222) mit Gefängnis bis zu drei Jahren und, wennder Thäter zu der Aufmerksamkeit, welche erfahrlässigerweise aus den Augen setzte, vermöge seinesAmtes, Berufs oder Gewerbes besonders verpflichtet war, mitGefängnis bis zu fünf Jahren bestraft. Bei dervorsätzlichen T. wird je nach der Verschiedenheit desThatbestandes wiederum zwischen Mord (s. d.), Totschlag (s. d.) undKindesmord (s. d.) unterschieden. Dazu kommt noch die T. imZweikampf (s. d.) und die T. eines Einwilligenden, welch letzterenach dem deutschen Strafgesetzbuch (§ 216), wofern derThäter durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangendes Getöteten zur That bestimmt worden war, mit Gefängnisvon 3-5 Jahren geahndet wird. Das österreichischeStrafgesetzbuch dagegen behandelt die T. eines Einwilligenden nichtals ein besonderes Vergehen. In allen diesen Fällen mußaber der Tod die zurechenbare Folge einer Handlung des Thäterssein. Die frühern Einteilungen in absolut und relativ, innotwendig und zufällig, in per se und per accidenstödliche (letale) Verletzungen sind heutzutage für denBegriff der T. indifferent, und die Unterscheidungen, welche dieältere Doktrin mit Rücksicht hierauf in Ansehung derTödlichkeit (Letalität) von Verletzungen machte, werdennicht mehr berücksichtigt. Die sogen. tödlicheKörperverletzung endlich, bei welcher der Tod des Verletztendie nicht beabsichtigte Folge der Verletzung ist, fällt nichtunter den Begriff der T., sondern unter den derKörperverletzung (s. d.). Vgl. Deutsches Strafgesetzbuch,§ 2l1-222, 237 f.; Österreichisches, § 134-143, 335;Französisches, Art. 195-304, 319, 321-329; Brunnenmeister, DasTötungsverbrechen im altrömischen Recht (Leipz.1887).

Tot verbellen, das Anbellen eines verendeten Wildes durchden Schweißhund.

Touage (franz., spr. tu-ahsch), s. Tauerei.

Touchant (franz., spr. tuschang), ruhrend, bewegend;Touche, Berührung, Neckerei, Beleidigung (s. Tusch);touchieren, tastend berühren, untersuchen; in Rührungversetzen; beleidigen.

Toucouleurs (Tukulör), ein von den Franzosen denBewohnern des untern und mittlern Senegal beigelegter Name, den mandavon hat ableiten wollen, daß hier eine Mischung derverschiedenfarbigen Dscholof, Mandingo und Fulbe stattgefunden hat,während derselbe viel wahrscheinlicher von Tukurol, dem altenNamen des Landes, herstammt. Die Portugiesen nannten schon im 16.Jahrh. die Eingebornen Tacurores. Unter dem Einfluß des Islamerwuchs hier die Theokratie der Torodo, welche im 18. Jahrh. ihreHerrschaft über das ganze Senegalbecken ausdehnte und unterOthman Dar Fodie das große Fulbereich zwischen Niger undTsadsee gründete. Sie haben den Franzosen häufig denentschiedensten Widerstand entgegengesetzt, doch wurde diesen beider Feindseligkeit der einzelnen Stämme gegeneinander dieUnterwerfung leicht gemacht.

Toucy (spr. tußi), Stadt im franz. DepartementYonne, Arrondissem*nt Auxerre, an der Ouanne und der EisenbahnTriguères-Clamecy, mit Schloß, Fabrikation vonWollenstoffen, Gerberei, Handel mit Vieh und Eisenwaren und (1881)2125 Einw.

Toujours (franz., spr. tuschuhr), alle Tage, immer.

Toul (spr. tuhl), Arrondissem*ntshauptstadt und Festungzweiter Klasse im franz. Departement Meurthe-et-Moselle, an derMosel und am Marne-Rheinkanal, Station der BahnlinieParis-Avricourt (mit Abzweigung nach Frenelle la Grande), hat eineim 15. Jahrh. vollendete gotische Kathedrale mit zwei schönenTürmen, ein ansehnliches Stadthaus (früherBischofspalast), Collège, Sekundärschule fürMädchen, Bibliothek und (1886) 7610 (Gemeinde 10,459) Einw.,welche etwas Industrie (Stickerei, Hutfabrikation etc.) und Handeltreiben. Seit 1871 ist die Festung T. durch einen Gürtel vonForts in einer Ausdehnung von

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Toulon.

35 km, darunter das starke Fort St.-Michel nordwestlich derStadt, erweitert worden. T. ist Geburtsort des Marschalls GouvionSaint-Cyr. - T., das Tullum Leucorum der Römer, Hauptstadt desgallischen Stammes der Leuci, ist eine sehr alte Stadt undgehörte unter den fränkischen Merowingern und Karolingernzum fränkischen Königreich Austrasien. 612 wurde derKönig Theuderich von Austrasien von Theoderich von Burgund beiT. besiegt. 870 fiel T. an das Deutsche Reich, wurde dann voneignen Grafen regiert und fiel nach deren Erlöschen 1136 anLothringen, blieb aber deutsche Reichsstadt, über welche dieHerzöge von Lothringen nur das Schirmrecht ausübten. ImJ. 1552 ward die Stadt vom König Heinrich II. von Frankreichinfolge seines Bundes mit dem Kurfürsten Moritz von Sachsengegen Karl V. nebst Metz und Verdun besetzt und mit diesenBistümern im Westfälischen Frieden 1648 definitiv anFrankreich abgetreten. Das um 410 gegründete Bistum T. bestandbis 1807. Im Krieg von 1870 ward T. 16. Aug. vom 4. deutschen Korpsvergeblich berannt, vom 12. Sept. an vom 13. Korps unter demGroßherzog von Mecklenburg förmlich belagert, da es dieeinzige Eisenbahn vom Rhein nach Paris sperrte, u. am 23. nach nurachtstündigem Bombardement mit schwerem Geschütz zurKapitulation gezwungen. Vgl. Thiery, Histoire de la ville deT.(Toul 1841, 2 Bde.); Daulnoy, Histoire de la ville et citéde T. (das. 1887 ff.); Pimoden, La réunion de T. à laFrance (Par. 1885); v. Werder, Die Unternehmungen der deutschenArmee gegen T. im J. 1870 (Berl. 1875).

Toulon (spr. tulong, T. sur Mer),Arrondissem*ntshauptstadt im franz. Departement Var, nächstBrest der wichtigste Kriegshafen Frankreichs, Festung ersten Rangesund Hauptstation der französischen Mittelmeerflotte, liegt amFuße steil abfallender Berge im Grund einer tiefen Bai desMittelländischen Meers, deren Eingang südlich durch dieHalbinsel Cépet geschlossen wird. Die eigentliche alte Stadtmit ihren engen Straßen hat, seit infolge des Dekrets von1852 die Schanzmauern an der nördlichen Seite demoliertwurden, durch Erweiterung und Verschönerung sehr gewonnen. Dieneue Umfassungsmauer zieht sich nun weiter hinaus undschließt ein neues Stadtviertel mit breiten Straßen undschönen Bauten ein. Die wichtigsten Straßen sind: derBoulevard, die Bahnhofsavenue, der Cours Lafayette mitPlatanenallee, die Straße des Chaudronniers u. a.Hervorragende Gebände sind: die romanische KathedraleSte.-Marie Majeure (1096 gegründet), die Kirchen St.-Louis,St.-François de Paule und St.-Pierre, das protestantischeBethaus (Maison Puget), das Stadthaus am Hafen, das neue Theaterund das Justizpalais. T. zählt (1886) 53,941 (Gemeinde 70,122)Einw. Abgesehen von den umfangreichen Werkstätten desMarinearsenals (s. unten), gibt es nur wenige industrielleEtablissem*nts; auch der Handel ist hauptsächlich auf dieApprovisionierung der Marine beschränkt, weshalb auch derVerkehr von Handelsschiffen ein sehr geringer ist (1887 sind 273beladene Schiffe mit 78,672 Ton. eingelaufen). T. steht durch dieEisenbahn Marseille-Nizza mit dem französisch-italienischenVerkehrsnetz, dann durch regelmäßigeDampfschiffahrtslinien mit den Häfen des Mittelmeers inVerbindung. Der Hafen ist einer der sichersten, welche es gibt, undwird durch zahlreiche Forts, Batterien und feste Türme, welchedie umliegenden Höhen und Vorgebirge krönen,geschützt; mehrere Leuchttürme sichern die Einfahrt. Erumfaßt die Darse vieille und die Darse neuve, welche denKriegshafen bilden, und östlich davon den kleinenHandelshafen, vor welchem ein durch zwei Molen zu schützenderäußerer Hafen mit Docks angelegt werden soll. ZumKriegshafen gehört das Marinearsenal, welches, 1680 nachVaubans Plänen erbaut, aus einer Reihe von Etablissem*ntsbesteht, welche 270 Hektar einnehmen und 13,000 Arbeiterbeschäftigen. Den Eingang bildet ein monumentales Thor (von1738) mit Statuen von Mars und Bellona. Den Hof des Arsenalsumgeben das große Magazin (für die Materialien zum Bauund zur Ausrüstung der Schiffe), die Seilerei, dieEisenguß- und Hammerwerke, der Uhrpavillon mit denGebäuden für die Direktion, das Marinemuseum mit Modellenaller Arten von Fahrzeugen, der Waffensaal, die Waffenschmiede,Feilerei und Modellkammer. Zwischen dem alten und neuen Hafenbassindes Kriegshafens liegt eine Insel, welche durch eine drehbareBrücke über den Verbindungs-

[Karte der Umgebung von Toulon.]

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Toulon - Toulouse..

kanal mit dem Festland zusammenhängt und drei Docks, dasBagno und das Marinehospital enthält. Das Bagno wurde 1682unter Colberts Verwaltung hergestellt und dient jetzt als Depotfür die nach Cayenne und Neukaledonien zu deportierendenVerbrecher. An den Kriegshafen schließt sich westlich, durchden Quai de la Garniture (mit Magazinen) von demselben getrennt,das Hilfsarsenal von Castigneau mit einem Bassin an, welches mitdem Kriegshafen durch einen Kanal in Verbindung steht. DiesesArsenal umfaßt eine Bäckerei, Fleischerei, eineEisengießerei, Hammerwerke, große Viktualienmagazineund Kohlendepots. Noch weiter westlich ist das neue Bassin vonMissiessy (mit Magazinen) hinzugekommen. In dersüdöstlichen Vorstadt Mourillon endlich liegt ein drittesArsenal, welches große Magazine für Schiffbauholz undMetalle sowie verschiedene Werkstätten undSchiffbauplätze enthält. Zu den Marine-Etablissem*ntsgehört auch das unter Ludwig XIV. erbaute Marinehospital mitnaturhistorischem Kabinett; einen Annex desselben bildet dasHospital von St.-Mandrier auf der Halbinsel Cépet. Beiletzterm befindet sich ein botanischer Garten und in der Nähesüdöstlich eine Pyramide zum Andenken an den AdmiralLatouche-Tréville und westlich das Quarantänelazarett.T. hat ein Lyceum, eine hydrographische Schule, Normalschule,Sekundärschule für Mädchen, eineMarineartillerieschule, eine Munizipalbibliothek (16,000Bände), ein Museum, ein Observatorium, eine Börse, eineFiliale der Bank von Frankreich und ist der Sitz einesMarinepräfekten, eines Marinetribunals, der Direktion derMarineartillerie, eines Handelsgerichts und mehrerer Konsulatefremder Staaten. In der Vorstadt Mourillon befinden sichSeebäder. Schöne Punkte in der Umgebung sind das FortLamalgue mit prächtiger Aussicht, der nördlichaufsteigende Berg Faron (521 m), die westlich gelegene HalbinselSicié mit der Stadt La Seyne (s. d.), dem hoch gelegenenalten Ort Six Fours mit uralter Kirche und dem VorgebirgeSicié mit Wallfahrtskirche, endlich im S. die HalbinselCépet (s. oben). - T. bestand schon im Altertum alsgriechische Kolonie Telonion (Telo Martius), war damals schon einbedeutender Ort und namentlich durch seine Färbereienberühmt. Im 10. und 12. Jahrh. litt die Stadt sehr durchEinfälle der Sarazenen. Sie teilte dann die Schicksale derProvence. 1524 nahm sie der Connétable von Bourbon und 1536Karl V. ein. Ludwig XIV. ließ durch Vauban die Stadt starkbefestigen. Während des spanischen Erbfolgekriegs wurde sie1707 von den Verbündeten unter dem Herzog Viktor Amadeus vonSavoyen und dem Prinzen Eugen zu Land sowie von derenglisch-holländischen Flotte zur See bombardiert undgroßenteils in Asche gelegt, aber nicht erobert. 1744erfochten die Engländer zwischen T. und den HyèrischenInseln einen Seesieg über die spanisch-französischeFlotte. Während der ersten französischen Revolution erhobsich die Bevölkerung von T. im Juli 1793 gegen den Konvent undübergab, nachdem der Konvent die Stadt geächtet und einrepublikanisches Heer sie eingeschlossen hatte, imEinverständnis mit der Besatzung die Stadt 29. Aug. an dievereinigte englisch-spanische Flotte unter dem Admiral Hood. Daraufward sie tapfer verteidigt, aber hauptsächlich infolge derEroberung des Forts Mulgrave durch Bonaparte gelang es denRepublikanern, die Engländer und Spanier 19. Dez. 1793 zumAbzug zu zwingen. Hierauf rückten die Konventstruppen in dieStadt, und die Konventskommissare Barras, Fréron und derjüngere Robespierre verhängten über sie einfurchtbares Strafgericht. 3000 Menschen wurden hingewürgt; dieEinwohnerzahl sank von 28,000 auf 7000 herab. Vgl. Teissier,Histoire des divers agrandissem*nts et des fortitications de laville de T. (Par. 1874); Lambert, Histoire de T. (Toul. 1886ff.).

Toulouse (spr. tuluhs'), Hauptstadt des franz.Departements Obergaronne, ehemals Hauptstadt von Languedoc, 133 mü. M., in fruchtbarer, aber einförmiger Ebene, an derhier bereits schiffbaren Garonne, am Canal du Midi und an derEisenbahn von Bordeaux nach dem Mittelmeer gelegen, die hier nachAlbi, Foix, Bayonne und Auch abzweigt, ist der natürlicheMittelpunkt des ganzen obern Garonnebeckens, zu welchemAriége und l'Hers sowie auch der Tarn vor seinerAbschwenkung nach NW. hinleiten; zugleich ist es der wichtigstePunkt an der alten historischen Straße vom Mittelmeer zumOzean. Dieser Lage verdankt T. sein hohes Alter, die großeRolle, die es stets in der Geschichte gespielt hat, und seinejetzige Blüte. Die Stadt ist mit der auf dem linken niedernUfer der Garonne gelegenen Vorstadt St.-Cyprien durch eine1543-1626 erbaute Brücke sowie durch zweiHängebrücken verbunden und bietet mit ihreneinförmigen roten Backsteinhäusern und im allgemeinenengen Straßen keinen malerischen Anblick, hat aber namentlichdurch die an Stelle der alten Wälle getretenen Boulevards undAlleen sowie durch die neuen in der innern Stadt ausgeführtenStraßen ein modernes, großstädtisches Aussehengewonnen. Zentrum der Stadt ist der Kapitolsplatz. Von den Kirchensind besonders zu erwähnen: die Kathedrale St.-Etienne; diegroße fünfschiffige romanische Kirche St.-Saturnin(St.-Sernin) mit Krypte und 64 m hohem Turm; die Jakobinerkircheaus dem 14. Jahrh. (jetzt Dominikanerkirche) mit dazugehörigem Kloster (jetzt Unterrichtsgebäude); die KircheDalbade (ehemalige Malteserkirche) in frühgotischem Stil mitreichem Renaissanceportal. Unter den übrigen Gebäudensind die hervorragendsten: das Stadthaus (Kapitol genannt) mitmehreren schönen Sälen, darunter der Salle des Illustresund dem Festsaal der poetischen Blumenspiele (Jeux floraux); dasehemalige Augustinerkloster, welches mit seinen Kreuzgängengegenwärtig als Antikenmuseum und Gemäldegalerie benutztwird; der Justizpalast, mehrere schöneRenaissancegebäude, das große Theater, zweiSpitalgebäude aus dem 11. Jahrh. Die Zahl der Einwohnerbeträgt (1886) 123,040 (Gemeinde 147,617). Die Stadt hat sehrbedeutende Industrie, darunter an Staatsanstalten eineArtilleriewerkstätte, eine Pulver- und eine Tabaksfabrik,ferner Fabriken für Sicheln, Wagenfedern und Feilen, Wagen,Maschinen, Parkette, Papier, chemische Produkte etc. sowiezahlreiche Mühlen. Von großer Wichtigkeit ist auch derHandel, besonders mit Getreide, Mehl, Wein, Bauholz, Marmor,Branntwein, Wolle, Tuch, Vieh etc. Für den Lokalverkehr dienteine Pferdebahn; auch ist die Stadt mit einer ältern und einerneuen Wasserleitung versehen. T. hat Fakultäten fürRechte, philosophisch-historische undmathematisch-naturwissenschaftliche Disziplinen (zusammen mit 1100Studierenden), eine freie katholische Universität, ein Lyceum,ein Collège, eine Tierarzneischule, ein großes undkleines Seminar, eine Normalschule, eine Kunstschule, einKonservatorium der Musik, ein Taubstummen- und Blindeninstitut,eine Akademie der Wissenschaften wie auch andre gelehrteGesellschaften, eine öffentliche Bibliothek von 60,000Bänden, ein reichhaltiges Kunst- und Antikenmuseum, einenaturhistorische Sammlung, eine Sternwarte, einen botanischenGarten, 3 Thea-

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Toupet - Touristenvereine.

ter, ein Irrenhaus, eine Börse und eine Filiale der Bankvon Frankreich. T. ist der Sitz der Präfektur, einesErzbischofs (von T. und Narbonne), eines protestantischenKonsistoriums, eines Appell- und Assisenhofs, einesHandelsgerichts, einer Handelskammer und des 17.Armeekorpskommandos. - Zur Zeit der Römer hieß T.Tolosa, war die Hauptstadt der Volcae Tectosages und schon im 2.Jahrh. v. Chr. eine reiche Handelsstadt und Mittelpunkt deswesteuropäischen Handels. In dem heiligen Teich desgroßen Nationalheiligtums war der ungeheure Schatz von 15,000Talenten versenkt, durch dessen Raub der Prokonsul Cäpio dasAurum Tolosanum sprichwörtlich machte. Trotz mehrfacherEroberungen und Plünderungen war es auch im 4. Jahrh. n. Chr.noch immer eine durch Handel, Reichtum und Wissenschaftenblühende Stadt. 413 von den Westgoten eingenommen, wurde sienun Residenz der Könige des westgotischen Reichs, bis AlarichII. sie 507 an den Frankenkönig Chlodwig verlor. Von da anwurde sie durch fränkische Grafen verwaltet und ward 631Residenz der Herzöge von Aquitanien (s. d.). 721 wurden dieAraber von Eudo von Aquitanien bei T. besiegt. Nach dem Untergangder Selbständigkeit Aquitaniens (771) war T. 778 wieder Sitzeiner Grafschaft, deren Dynastengeschlecht die Landschaften Quercy,Albigeois sowie Teile der Graffch asten Auvergne und Aquitanien undder Provence mit T. vereinigte. Die Grafen von T. führtenmeist den Namen Raimund (s. Raimund von St.-Gilles), ihre Machtging in den Albigenserkriegen zu Grunde. Des letzten Grafen,Raimunds VII., einzige Tochter, Johanna, vermählte sich mitLudwigs IX. Bruder, dem Grafen Alfons von Poitiers, dem sie T.zubrachte. Als dieser 1271 nach einer kinderlosen Ehe starb,vereinigte Philipp III. die Grafschaft T. für immer mit derKrone Frankreich, nur den Titel eines Grafen von T. verlieh LudwigXIV. seinem dritten Sohn von der Montespan, Louis Alexandre deBourbon, Grafen von T. (geb. 6. Juni 1678, gest. 1. Dez. 1737). Inder Nacht vom 16. zum 17. Mai 1562 wurden in T. gegen 4000Hugenotten ermordet. Am 10. April 1814 erfocht die vereinigtebritisch-spanische Armee unter Wellington bei T. einen Siegüber die Franzosen unter Soult. Vgl. Catel, Histoire descomtes de T. (Toul. 1623); "T. Histoire, archéologiemonumentale, facultés, etc." (das. 1887); Jourdan, Panoramahistorique de T. (2. Aufl., das. 1877).

Toupet (franz., spr. tupa), Haarbüschel, Bezeichnungeiner namentlich gegen Ende des vorigen Jahrhunderts üblichenMode, die unmittelbar über der Stirn befindlichen Haare, auchdie der Perücke, rückwärts in die Höhegekämmt und gekräuselt zu tragen.

Tour (franz., spr. tuhr), Umlauf, Umdrehung, z. B. einerWelle; Wendung (beim Tanz etc., auch in der Rede); Spaziergang,Rundfahrt, Reise (daher Tourist, Vergnügungsreisender);gewandt ausgeführter Streich; falsche Haarfrisur.

Tour (La T. du Pin, spr. tuhr du pang),Arrondissem*ntshauptstadt im franz. Departement Isère, ander Bourbre und der Eisenbahn Lyon-Grenoble, mit Lein- undSeidenweberei, Fabrikation von Handschuhen und Posamentierwaren und(1886) 3197 Einw.

Tour, Abbé de la, Pseudonym, s.Charrière.

Touraine (spr. turähn), ehemalige franz. Landschaft,von Orléanais, Berry, Poitou und Anjou begrenzt,umfaßte das jetzige Departement Indre-et-Loire und einen Teildes Departements Vienne. Sie bildete seit 941 eine besondereGrafschaft, kam 1045 an die Grafen von Anjou, dann an diePlantagenets und 1204 unter Philipp II. August an die Krone, ward1360 zum Herzogtum erhoben und mehrmals an nachgebornefranzösische Prinzen verliehen, aber 1584 nach dem Tode desHerzogs Franz von Alençon, des Bruders Heinrichs III.,wieder mit der Krone vereinigt. Wegen ihrer Fruchtbarkeit ward dieLandschaft der Garten Frankreichs genannt. Vgl. Bourassé, LaT., son histoire et ses monuments (Tours 1855); Carré deBusserolle, Dictionnaire géographique, historique etbiographique de l'Indre-et-Loire et de l'ancienne province de T.(das. 1878-84, 6 Bde.).

Tourcoing (spr. turkoang), Stadt im franz. DepartementNord, Arrondissem*nt Lille, Knotenpunkt der EisenbahnenLille-Mouscron und Somain-Menin, nahe der belgischen Grenze,Schwesterstadt von Roubaix, mit dem es immer mehr verwächst,mit Collège, Gewerbekammer, Filiale der Bank von Frankreich,zahlreichen Spinnereietablissem*nts für Schafwolle, Baumwolle,Flachs und Seide (zusammen 400,000 Spindeln), Wollkämmereien,Webereien, Färbereien, Fabriken für Möbelstoffe,Teppiche und Wirkwaren, Seife, Maschinen und Zucker, lebhaftemHandel und (1886) 41,183 (Gemeinde 58,008) Einw. An hervorragendenBauwerken ist die Stadt arm. Hier 17. und 18. Mai 1794 Sieg derFranzosen unter Pichegru über die Österreicher undEngländer unter Clerfait.

Tourenzähler, Apparat zum Zählen derUmdrehungen von Wellen, Rädern etc.

Touristenvereine (Gebirgsvereine) sind solche, derenArbeitsfeld vorwiegend sich auf Mittelgebirge oder Vorberge derHochalpen erstreckt, während Alpenklubs (vgl. Alpenvereine)sich ausschließlich mit Hochgebirgen befassen; strengeGrenzen lassen sich jedoch nicht ziehen. Die meisten T. sind inZweigvereine (Sektionen) gegliedert, die über einVereinsgebiet zerstreut sind, und die durch eine Zentralgewaltzusammengehalten werden. Jede Sektion arbeitet selbständig;alle aber erstreben gemeinsam für ihr Gebiet das gleiche Ziel.Verkehrserleichterungen, Erschließung und Verschönerungvon Aussichtspunkten und neuen Partien, Hebung der Regsamkeit undWohlfahrt der Gebirgsbewohner; ferner pflegen sie kleinerepopulärwissenschaftliche Forschungen und gemeinsame Tourenetc. Fast jeder Touristenverein gibt eigne Jahresberichte heraus;mehrere lassen vierteljährlich, monatlich oder halbmonatlichZeitschriften, außerdem Karten, Panoramen, Jahrbücher,Spezialführer u. dgl. erscheinen. Die Summe, welche durch dieKassen aller Touristen- und Alpenvereine zusammengenommen ins Landfließt, beläuft sich pro Jahr auf ca. 400,000 Mk.,ungerechnet die großen Umsätze, welche sie indirekthervorrufen. Im Deutschen Reich bestehen zur Zeit über 40 T.mit ca 27,000 Mitgliedern (ohne die Sektionen des Deutschen undÖsterreichischen Alpenvereins mit ca. 8000 Mitgliedern) undzwar: Schwarzwaldverein (Freiburg i. Br., seit 1864, reorganisiert1882, 2000 Mitglieder), Taunusklub (Frankfurt a. M., seit 1868,reorganisiert 1882, 1000 Mitgl.), Vogesenklub (Straßburg i.E., 1876, 3000 Mitgl.), Rhönklub (Fulda, 1876, 2000 Mitgl.),Freigerichtenbund (Maisenhaus, 1876), Gebirgsverein für dieSächsisch-Böhmische Schweiz (Dresden, 1877, 1500 Mitgl.),Vaterländischer Gebirgsverein Saxonia (Dresden 1879),Spessarttouristenverein (Hanau, 1879), Gebirgsverein Rathewalde(1879), Gebirgsverein Lusatia (Zittau, 1880, 1200 Mitgl.),Thüringerwaldverein (Eisenach, 1880, 2600 Mitgl.), Verein derSpessartfreunde (Aschaffenburg, 1880, 500 Mitgl.), GebirgsvereinOybin (1880), Schlesischer Gebirgsverein für das

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Tourn. - Tournai.

Riesengebirge (Hirschberg, 1880, 4000 Mitgl.), Heideklub(Dresden, 1880), Gebirgsverein für die Grafschaft Glatz(Glatz, 1881, 950 Mitgl.), Taunusklub Wetterau (Nauheim-Friedberg,1881), Gebirgsverein für Öderan im Erzgebirge (1881),Verband vogtländischer Touristenvereine (Plauen, 1881, 1000Mitgl.), Vogelsberger Höhenklub (Schotten, 1881, 1000 Mitgl.),Verschönerungsverein für das Siebengebirge (Bonn etc.,1881), Touristenverein Annaberg-Buchholz (1881), RheinischerTouristenklub (Mainz, 1882), Odenwaldklub (Erbach, 1882, 1200Mitgl.), Rhein- und Taunusklub (Wiesbaden, 1882), Im Spreegebiet(Bautzen, 1882), Oberes Spreethal (Neusalza, 1882), Verband derGebirgsvereine des Eulen- und Waldenburger Gebirges (Reichenbach i.Schl., 1882/83, 500 Mitgl.), Gebirgsverein Charlottenbrunn in denSudeten (1882), Bayrischer Waldverein (Bodenmais, 1883, 500Mitgl.), Verschönerungsverein Naturfreund (Meißen, 1881,400 Mitgl.), Verein Wendelsteinhaus (München, 1881),Schweidnitzer Gebirgsverein (1883), WürttembergischerSchwarzwaldverein (Stuttgart, 1884), der Harzklub (Goslar, 1887,mit 2400 Mitgl. in 23 Zweigvereinen), Westerwaldklub (Selters),Eifelverein (Trier); ferner T. in Offenbach, Stettin, Köln,Kassel, Potsdam, Bingen, Hannover etc. DieÖsterreichisch-Ungarische Monarchie zählt über 25 T.mit ca. 20,000 Mitgliedern ohne folgende 3 alpine Vereine:Sektionen des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins (ca.7000 Mitgl.), Österreichischer Alpenklub (ca. 600 Mitgl.),Società degli Alpinisti Tridentini (ca. 500 Mitgl.) undzwar: Österreichischer Touristenklub (Wien, 1869, ca. 10,000Mitgl.), Steirischer Gebirgsverein (Graz, 1869, 2000 Mitgl.),Ungarischer Karpathenverein (Käsmark, 1873, 3000 Mitgl.),Kroatischer Gebirgsverein (Agram, 1874, 450 Mitgl.),Lehrer-Touristenklub (Wien, 1874), Galizischer Tatraverein (Krakau,1874, 2200 Mitgl.), Verein der Naturfreunde (Mödling, 1877,400 Mitgl.), Nordböhmischer Exkursionsklub(Böhmisch-Leipa, 1878, 1350 Mitgl), Gebirgsverein für dieBöhmische Schweiz (Tetschen, 1878, 350 Mitgl.), BöhmischeErzgebirgsvereine (Karlsbad, Görkau, Oberleutensdorf,Brüx, Komotau, Joachimsthal, Teplitz, Eger, Marienberg etc.,seit 1879, ca. 2000 Mitgl.), Böhmischer Riesengebirgsverein(Hohenelbe, 1880, 600 Mitgl.), SiebenbürgischerKarpathenverein (Hermannstadt, 1880, 1500 Mitgl.), SannthalerAlpenklub (Cilli, 1880), Gebirgsverein in Gmünd inKärnten (1880), Gebirgsverein der mährisch-schlesischenSudeten (Gräfenberg, 1881, 1600 Mitgl.), Alpenklub Salzburg(1881), Verein zur Förderung des Fremdenverkehrs (Graz, 1881),Touristenverein Hermagor in Kärnten (1882), Plattenseeverein(1883), Società degli Alpinisti Triestini (Triest, 1883),Mittelgebirgsverein in Aussig in Böhmen (1883), DeutscherBöhmerwald-Bund (1884), Deutscher Gebirgsverein für dasJeschken- und Isergebirge (Reichenberg in Böhmen, 1884, 600Mitgl.); ferner kleinere alpintouristische Privatkreise in Graz undWien. In der Schweiz besteht außer dem Schweizer Alpenklubnur der Club jurassien (Neuchâtel, 1868). In Frankreichaußer dem Club Alpin Français, der sich auch mit denPyrenäen und dem Atlas Algeriens beschäftigt, und derSociété Ramond in Bagnères de Bigorre(Oberpyrenäen, seit 1865): Société des Touristesdu Dauphiné (Grenoble, 1875, 650 Mitgl.), Club AlpinInternational (Nizza, 1879, mehr ein Cercle fürKurgäste). In Italien außer dem Club Alpino Ita1iano undder Società Alpina Friulana (Udine, l874); Circulo Alpinodei Sette Comuni (Asiago), Club dei Monti Berici, Club Alpino diGarafa*gnana. In andern Ländern: Club Alpin Belge(Brüssel, 1883), Norske Turistforening (Christiania, 1868,2000 Mitgl.), Associacio d'excursions Catalana (Barcelona, 1878,500 Mitgl.), Himalaya-Club (Kalkutta, 1880), AppalachianMountain-Club (Boston, 1876, 700 Mitgl.), Rocky Mountain-Club(Philadelphia, 1876), Alpine Club of Massachusetts (Williamstown,1863), Krimscher Gebirgsklub (Odessa, 1889). Für das DeutscheReich besteht seit 1883 ein Verband deutscher T. (Zentralsitz inFrankfurt a. M.), dem etwa 27 Vereine mit ca. 24,000 Mitgliedernangehören. Organ des Verbandet ist die Zeitschrift "DerTourist" (Berl., seit 1887). Man kann auch in gewissem Sinn dielokalen Verschönerungsvereine unter die Gebirgsvereine, bez.T. rechnen, zumal sie, wie z. B. derzeit 1843 bestehende Verein zuWiesbaden, neben dem Londoner Alpine Club (von 1857 bis 1861 unterdem Namen The Englishmen's Playground) zu den Vorläufernunsrer gesamten touristischen Vereinsbewegung zu zählen sind.Vgl. Köhler, Die touristischen Vereine der Gegenwart (Eisen.1884); Nicol, Das touristische Vereinswesen (Wiesb. 1886).

Tourn., bei botan. Namen Abkürzung fürTournefort (s. d.).

Tournachon (spr. -schóng), Schriftsteller, s.Nadar.

Tournai (spr. turnä, vläm. Doornick),Hauptstadt eines Arrondissem*nt und ehemalige Festung in der belg.Provinz Hennegau, an beiden Ufern der Schelde, Knotenpunkt derEisenbahnen nach Gent, Brüssel, Valenciennes, Lille und Douai,hat sieben Vorstädte, breite Kais, regelmäßigeStraßen, eine Kathedrale romanischen Stils aus dem 12. Jahrh.mit fünf Türmen, Gemälden von Jordaens, Rubens,Gallait u. a. und dem reichen Reliquienschrein des heil.Eleutherius, ersten Bischofs von T., die Kirche St.-Brice mit demGrabmal des Frankenkönigs Childerich und viele andre Kirchenund Kapellen, einen alten, neuhergestellten Belfried und einStadthaus mit öffentlichem Garten. Den Marktplatzschmückt das von Dutrieux modellierte Bronzestandbild derPrinzessin Maria von Epinoy (s. unten). Die Bevölkerungzählte 1888: 34,805 Seelen. Die wichtigsten Industriezweigesind: Fabrikation von Teppichen, Leinen-, Wollen- undBaumwollenstoffen, Porzellan, Fayence und Bronzewaren, Mützen-und Strumpfwirkerei, Gerberei und Brauerei. Der lebhafte Handelwird durch die schiffbare Schelde begünstigt. T. hat eingeistliches Seminar, Athenäum, Industrieschule,Lehrerinnenseminar, eine Kunstakademie, öffentlicheBibliothek, ein naturhistorisches Museum, eine Entbindungsanstalt,ein Theater. Es ist Sitz eines Bischofs und eines Tribunals. - T.hieß im Altertum Civitas Nerviorum, Turris Nerviorum oderTornacum, ward im 5. Jahrh. den Römern von den Frankenabgenommen und teilweise zerstört, aber bald wieder aufgebautund bis Chlodwig Sitz der merowingischen Könige. Spätergehörte es zu Flandern, seit Philipp dem Schönen zuFrankreich, bis es im Frieden von Madrid 1526 an die spanischenNiederlande kam. Während der niederländischen Unruhenward es 1581 von dem Herzog von Parma belagert, aber von derPrinzessin Maria von Evinoy tapfer verteidigt. 1667 von Ludwig XIV.erobert, wurde es im Aachener Frieden von 1668 förmlich anFrankreich abgetreten. Ludwig XIV. ließ die Festungswerkedurch Vauban ansehnlich verstärken; dessenungeachtet ward derPlatz 1709 von den Kaiserlichen unter Prinz Eugen und Marlboroughwieder erobert und im Frieden von

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Tournantöl - Tours.

Utrecht mit den österreichischen Niederlanden vereinigt,doch erhielten die Holländer kraft des Barrieretraktats dasBesatzungsrecht. Als Joseph II. 1781 den Barrieretraktat aufhob,wurde auch T. geschleift. Hier wurden 19. Mai 1794 dieEngländer unter dem Herzog von York von den Franzosen unterPichegru geschlagen. T. fiel nun an Frankreich, wurde im erstenPariser Frieden von 1814 an Holland abgetreten und kam 1830 anBelgien. Vgl. Bourla, T.-guide, histoire etc. (Tourn. 1884);Cloquet, T. et Tournaisis (Lille 1885).

Touruantöl, s. Olivenöl.

Tourné (franz.), umgedreht, umgeschlagen!substantivisch: das als Trumpf aufgeschlagene Kartenblatt.

Tournebroche (franz., spr. turn'brósch),Bratenwender.

Tournedos (franz., spr. turn'doh), Lendenbratenschnitzel,welche vor dem Braten in einer Marinade von Provenceröl,Zitronensaft, Pfeffer etc. mariniert worden sind und mitBéarner, Scharlotten- oder Tomatensauce serviert werden. T.à la Rossini, berühmtes Gericht, zwei Lendenschnitzel,zwischen welchen Trüffel- und Gänseleberschnitteliegen.

Tournée (franz.), Rundreise (besondersamtliche).

Tournefort (spr. turnfor), Joseph Pitton de, Botaniker,geb. 5. Juni 1656 zu Aix, studierte bei den Jesuiten daselbst, ward1683 Professor der Botanik am königlichen Pflanzengarten inParis, bereiste von 1700 bis 1702 auf Kosten der RegierungGriechenland und Kleinasien, worüber er in "Voyage au Levant"(Par. 1717, 3 Bde.; deutsch, Nürnb. 1776) berichtete, und vonwo er über 1300 neue Pflanzenarten mitbrachte. Er starb alsProfessor der Medizin am Collège de France 28. Nov. 1708 inParis. Das in seinen "Institutiones rei herbariae" (Par. 1700, 3Bde.; neue Aufl. von A. de Jussieu, Lyon 1719, 3 Bde.) aufgestelltePflanzensystem, welches 22 Klassen umfaßte und sich aus denBau der Blumenkrone gründete, fand trotz der geringenBerücksichtigung der natürlichen Verwandtschaft wegen derHandlichkeit des Buches in der Zeit vor Linné allgemeineAnerkennung. Auch war T. der erste vor Linné, welcher denSchwerpunkt der beschreibenden Botanik in die Charakteristik derGattungen verlegte, wobei er freilich die spezifischenVerschiedenheiten innerhalb der Gattungen als Nebensachebehandelte. Von seinen übrigen Werken sind noch zu nennen:"Histoire des plantes qui naissent aux environs de Paris" (Par.1698; 2. Aufl. von Jussieu, 17.25); "Éléments debotanique" (Lyon 1694, 3 Bde. mit 489 Tafeln); "Traité de lamatière médicale" (Par. 1717, 2 Bde.).

Tournesollappen, s. v. w. Bezetten (s. d.).

Tournesolpflauze, s. Crozophora.

Tournieren (franz.), drehen, wenden, z. B. im Kartenspiel(s. Skat); in der Kochkunst die Manipulation, mittels welcher maneine Speise ohne Rühren mit der Sauce mischt oder eineFlüssigkeit erhitzt, ohne daß sie am Boden desGefäßes gerinnt; eine tournierte Suppe oder Sauce istmit Ei vermischt, welches durch Kochen geronnen ist. Auch s. v. w.Drechseln, Drehen, daher das Ausschneiden oder Abdrehen vonRüben, Kartoffeln u. dgl. in Form von Kugeln etc. beimGarnieren großer Fleischschüsseln.

Tourniquet (franz., spr. turnikeh. Aderpresse), chirurg.Instrument zum Zusammenpressen von Arterien, um Verblutung beiAmputationen und sonstigen Blutungen zu verhüten. Dasselbebesteht (s. Figur) in einem Polster, welches oberhalb der Blutung(beim Bein in der Schenkelbeuge, beim Arm nahe derAchselhöhle) auf den Hauptstamm der Arterie gesetzt und miteinem 1 m langen Band mittels Knebels oder Schnalle um das Gliedbefestigt wird. - T. heißt auch eine drehbare Barriere(Drehkreuz) vor Billetschaltern etc.

Tournois (franz., spr. turnoa), altfranzösische,nach der Stadt Tours benannte Münzwährung, nach welcherbis 1795 und 1796 ganz Frankreich mit Einschluß der Kolonienrechnete. Der Livre t. hatte 20 Sous à 12 Deniers und standum 1¼ Proz. im Wert niedriger als der heutige Frank, indem81 Livres t. 80 Frank galten.

Tournon (spr. turnóng), Arrondiffementshauptstadtim franz. Departement Ardeche, am Rhone, über welchen zweiHängebrücken nach der Stadt Tain hinüberführen,an der Eisenbahn Givors-La Voulte, hat ein Lyzeum, eine Bibliothek,ein Schloß, Seidenfilanden, Weinhandel und (1886) 3793Einw.

Tournüre (franz., spr. turn-), gewandtes Benehmen;auch s. v. w. Cul de Paris.

Tournus (spr. turnüh), Stadt im franz. DepartementSaône-et-Loire, Arrondissem*nt Mâcon, an derSaône und der Eisenbahn Dijon-Lyon, hat eine Abteikirche,St.-Philibert, aus dem 11. und 12. Jahrh., ein Denkmal des hiergebornen Malers Greuze (von Falguière), ein Handelsgericht,Collège, Fabrikation von Rübenzucker, Maschinenbau,Seiden- und Weinbau und (1886) 4201 Einw.

Tourons (franz., spr. turóng), feines Gebäckaus Eiweißschnee, Zitronensaft und Mehl, welches noch warm umein fingerdickes rundes Holz gewunden wird.

Tours (spr. tuhr), Hauptstadt des franz. DepartementsIndre-et-Loire und ehemalige Hauptstadt der Provinz Touraine, infruchtbarer Ebene am linken Ufer der Loire, über welche eine434 m lange, steinerne Brücke nebst zweiHängebrücken führt, wichtiger Eisenbahnknotenpunkt(Linien über Vendôme nach Paris, nach Orléans,Vierzon, Châtellerault, Poitiers, Sables d'Olonne, Nantes, LeMans), ist von Boulevards (an Stelle der alten Festungswerke)umgeben und hat sich im S. durch neue Stadtteile bis zum Ufer desCher erweitert. Die schöne Rue Royale teilt die Stadt in zweifast gleiche Teile. Die hervorragendsten Gebäude sind: diegotische Kathedrale (mit zwei 70 m hohen Türmen undprächtigem Portal), die Kirchen St.-Julien (mit schönenFresken) und St.-Martin (mit zwei schönen Türmen), dererzbischöfliche Palast, die Präfektur, dasJustizgebäude, das Rathaus und das Theater. Am Platz vor derBrücke

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV.Bd

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Tourtia - Towarczy.

das Denkmal Descartes' (von Nieuwerkerke). Die Stadt zählt(1886) 59,585 Einw., welche Industrie in Woll- und Seidenstoffen,Teppichen, Chemikalien etc., eine große Buchdruckerei, Wein-und Gemüsebau und starken Handel treiben. T. hat ein Lyceum,eine Vorbereitungsschule für Medizin und Pharmazie, einSeminar, eine Maler- und Zeichenschule, Gewerbeschule,öffentliche Bibliothek (40,000 Bände), ein Gemälde-und Skulpturenmuseum, Antiquitäten-, Naturalien- undmineralogisches Kabinett, einen botanischen Garten, eineIrrenanstalt und mehrere gelehrte Gesellschaften. Es ist der Sitzdes Präfekten, eines Erzbischofs, eines Assisenhofs und einesHandelsgerichts. 1853 ward hier ein großes römischesAmphitheater aufgefunden. - T. hieß zur RömerzeitCäsarodunum, später Turones und war die Hauptstadt derTurones, kam dann unter westgotische und nachher unterfränkische Herrschaft und stand bis in das 11. Jahrh. untereignen Grafen. 732 siegte Karl Martell in der Nähe von T.über die Araber. 853 wurde die Stadt von den Normannengeplündert und verbrannt. Karl VII. und Ludwig XI. residiertenoft und gern in der Umgegend, letzterer im Schloß Plessislès T. König Heinrich III. verlegte 1583 das Parlamenthierher, wodurch die Stadt außerordentlich wuchs. Auch wurdenhier die französischen Generalstaaten mehrmals zusammenberufensowie mehrere Konzile abgehalten. 1870 war T. vom 11. Sept. bis 10.Dez. Sitz der Delegation der Regierung der Nationalverteidigung. Am19. Jan. 1871 ward es vom Generalleutnant v. Hartmann besetzt. Vgl.Giraudet, Histoire de la ville de T. (Tours 1874, 2 Bde.);Grandmaison, T. archéologique (das. 1879).

Tourtia, s. Kreideformation, S. 183.

Tourville (spr. turwil), Anne Hilarion de Contentin, Grafvon, franz. Seeheld, geb. 24. Nov. 1642 auf dem SchloßTourville bei Coutances (La Manche), trat 1656 in denMalteserorden, kämpfte ruhmvoll gegen die Barbaresken, nahm1660 Dienste in der französischen Marine, ward 1667Schiffskapitän und befehligte von 1672 bis 1674 einLinienschiff im Kriege gegen die Holländer und Spanier imMittelländischen Meer. 1675 diente er erst unter dem Chevalierde Valbette, dann unter Duquesne; auf der Rückkehr von Agosta,wo er mit Auszeichnung gefochten, nach Frankreich vernichtete er1677 bei Palermo zwölf Schiffe der holländisch-spanischenFlotte. 1680 zum Generalleutnant der Seetruppen ernannt,bombardierte er 1682, 1683 und 1688 Algier und nahm 1684 an derBeschießung Genuas teil. 1689 zum Vizeadmiral desLevantischen Meers erhoben, befehligte er 1690 mit d'Estréesdie Flotte, welche die Unternehmung Jakobs II. in Irlandunterstützte. Als Oberbefehlshaber der im Kanal aufgestelltenfranzösischen Flotte errang er in der Seeschlacht bei BeachyHead in der Nähe der Insel Wight im Juli 1690 den Siegüber die aus 112 Segeln bestehende britisch-holländischeFlotte. Um die beabsichtigte Landung der Jakobiten an derbritischen Küste zu ermöglichen, mußte er 29. Mai1692 auf der Höhe des Kaps La Hougue die 88 Segel starkebritisch-holländische Flotte unter dem Admiral Russell mit 44Schiffen angreifen, geriet aber zwischen zwei Feuer und wardgeschlagen. 1693 zum Marschall von Frankreich erhoben, nahm er imJuni beim Kap St.-Vincent von einer britisch-holländischenHandelsflotte 27 Handels- und Kriegsfahrzeuge weg undzerstörte 45 bei der Verfolgung. Er starb 28. Mai 1701. Die"Mémoires de T." (Amsterd. 1758, 3 Bde.) sind unecht. Vgl.Delarbre, T. et la marine de son temps (Par. 1889).

Toury (spr. turi), Dorf im franz. DepartementEure-et-Loir, Arrondissem*nt Chartres, an der EisenbahnParis-Orléans, ward gelegentlich der Operationen desGenerals v. d. Tann und des Großherzogs von Mecklenburg gegendie französische Loirearmee genannt. Nach T. ging 10. Nov.1870 der Rückzng v. d. Tanns, und hier vereinigte derGroßherzog einige Tage später seine Armeeabteilung.

Toussaint, Gertruide, s. Bosboom.

Toussaint-Langenscheidtsche Unterrichtsmethode, s.Langenscheidt u. Sprachunterricht, S. 185.

Toussaint l'Ouverture (spr. tussängluwärtühr), Obergeneral der Neger auf Haïti, geb.1743 als Sklavenkind auf einer Pflanzung des Grafen Noéunweit des Kaps François, erwarb sich als Kutscher einesPlantagenaufsehers durch Benutzung von dessen Bibliothek einegewisse Bildung. Als im August 1791 die erste Negerempörungauf Haïti ausbrach, brachte T. seinen Herrn auf das Festlandvon Amerika in Sicherheit und nahm dann bei dem Negerheer Dienste.Als dasselbe in spanische Dienste gegen die franzöfsischeRepublik trat, wurde er zum spanischen Obersten ernannt; doch ginger 1794 mit einem Teil der Armee zu den Franzosen über undward vom Konvent für seine Verdienste bei der Vertreibung derSpanier und der Unterdrückung eines Mulattenaufstandes (1795)zum französischen Brigadegeneral, 1797 zum Divisions- undendlich zum Obergeneral aller Truppen auf Haïti ernannt. Erstellte Ordnung und Disziplin wieder her, machte sich aber 1800unabhängig und ließ sich zum Präsidenten aufLebenszeit ernennen. Leclerc, der 1801 mit einem französischenHeer landete, zwang ihn zur Kapitulation. Nachdem er hierauf einigeZeit auf seinem Gut gelebt, ward er 1802 plötzlich verhaftetund nach Frankreich in das Fort Joux bei Besançon gebracht,wo er 27. Juli 1803 starb. Vgl. Gragnon-Lacoste, T. L. (Par. 1877);Schölcher, Vie de T. L. (das. 1889).

Tout (franz., spr. tu), das Ganze, Alles.

Tout comme chez nous (franz.), ganz wie bei uns.

Tovar, serb. Gewicht, = 100 Oken.

Tovar, deutsche Kolonie in der südamerikan. RepublikVenezuela, eine Tagereise westlich von Caracas, am südlichenAbhang des Küstengebirges gelegen, ward 1843 auf einem von derFamilie Tovar unentgeltlich abgetretenen Terrain gegründet,zählt aber jetzt nur noch 20-30 Familien.

Tow (spr. toh), engl. Name für Werg. Die in allendeutschen Handelsnotizen vorkommenden Towgarne sind aus Flachswerggesponnen.

Towarczy (slaw., "Kamerad"), früher in Rußlandund Polen aus dem kleinen Adel hervorgegangene Soldaten, die wederzu den Offizieren noch Unteroffizieren gehörten u. zuverschiedenen Malen als Truppe im brandenburgisch-preußischenHeer, zuerst 1675 als zwei Kompanien Reiter, vorkommen. Um inPreußen die große Zahl kleiner adliger Grundbesitzer inden ehemals polnischen Provinzen, welche mangelnder Bildung undMittel wegen nicht als Offiziere, ihrer Standesvorurteile wegenaber auch nicht als Gemeine zu verwerten waren, unterzubringen,versuchte man Ende vorigen Jahrhunderts eine mit Lanzen bewaffneteReitertruppe aus ihnen zu bilden und wandelte 1800 das RegimentBosniaken in T. um. Den Plan, sie den Husaren zuzuteilen,vereitelte das Jahr 1806; nachdem die T. 1807 tapfer mitgefochten,wurden sie nach dem Friedensschluß wegen Abtretung ihrerKantone in Ulanen umgewandelt.

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Tower - Trabea

Tower (engl., spr. tauer), die Gesamtbezeichnung füreinen ausgedehnten Komplex von Türmen, Festungswerken,kirchlichen und profanen Gebäuden in der Altstadt von London,dessen Geschichte mit derjenigen der englischen Krone selbstfür lange Jahrhunderte eng verbunden ist. Der ältesteTeil dieser merkwürdigen Festung ist der sogen. weißeTurm (White T.), den Wilhelm der Eroberer durch den Bischof Gundulfvon Rochester errichten ließ; daß dies auf Grundlageälterer römischer oder angelsächsischer Anlagengeschehen sei, ist nicht zu erweisen. Weitere Werke wurden unterWilhelm II. Rufus und Stephan hinzugefügt, unter denen dieinnere Reihe der Befestigungsanlagen im wesentlichen vollendetwurde. Später hat sich besonders Heinrich III., der den T.1217 in seine Hände bekam, des Ausbaues derselben angenommenund durch seinen Architekten Adam von Lamburn die äußereReihe der Werke entwerfen und zum größten Teilausführen lassen; einzelne Gebäude, so die jetzige St.Peterskirche, sind noch später unter Eduard I.hinzugefügt worden. Seit den ersten normännischenKönigen war der T. Residenz der englischen Könige, diesich oft genug hierher vor drohenden Gefahren zurückzogen unddie Festung durch eine ständige Besatzung unter einemConstable (das Amt war zuerst der Familie de Mandeville anvertraut)schützten, zugleich aber auch Schatzkammer, Sitz der oberstenBehörden und ein sicheres Staatsgefängnis, das dieGefangenen oft genug nur verließen, um auf einem offenenPlatz innerhalb der Festung, dem Tower-hill, ihr Leben unter demBeil des Henkers zu beschließen. Hier wurde Johann ohne Landvon seinen Baronen belagert, hier Richard II. zum Verzicht auf dieKrone gezwungen, hier Heinrich VI. ermordet und der Herzog vonClarence im Wein ertränkt, hier starben Eduard V. und seinBruder Richard von York eines geheimnisvollen Todes. Zu denGefangenen des Towers gehören die erlauchtesten Namen derenglischen Geschichte, und unter den Enthaupteten von Tower-hillsind Graf Warwick, der letzte Plantagenet, Bischof Fisher vonRochester und Sir Thomas More, Anna Boleyn, Katharina Howard undJane Grey, der Protektor Somerset und Elisabeths Günstling,Graf Essex, Sir Walter Raleigh und Graf Strafford, Algernon Sidneyund der Herzog von Monmouth, der natürliche Sohn Karls II. Alskönigliche Residenz für längere Zeit hat der T.zuletzt unter Heinrich VII. gedient; von da ab begaben sich dieHerrscher nur noch im Beginn ihrer Regierung hierher, um von hieraus den feierlichen Krönungszug durch die City nachWestminster anzutreten. Erst Jakob II. hat diesen Brauchaufgegeben, und unter ihm sind die königlichenWohngemächer abgerissen worden. Seit der Mitte des 18. Jahrh.sind keine Hinrichtungen auf Tower-hill mehr vorgenommen, seit 1820dient er nicht mehr als Staatsgefängnis und wirdgegenwärtig nur als Arsenal und Kaserne benutzt, obwohl noch1792 einmal, aus Furcht vor revolutionären Bewegungen inLondon, seine Werke verstärkt und in Verteidigungszustandgesetzt worden waren. Vgl. Bayley, History and antiquities of theT. of London (2. Aufl., Lond. 1830); de Ros, Memorials of the T. ofLondon (das. 1866); W. H. Dixon, Her Majesty's T. (7. Aufl., das.1884; deutsch, Berl. 1870, 2 Bde.).

Tower Hamlets (spr. tauer hämmlets), einParlamentswahlbezirk der Stadt London, die östlich vom Towerliegenden Stadtteile (ehemalige "Weiler") umfassend, mit (1881)439,137 Einw.

Towianski, Andreas, poln. Mystiker, geb. 1. Jan. 1799 zuAntoszwiniec in Litauen, war 1818-26 Advokat zu Wilna und begabsich, nachdem er mittlerweile auf seinem väterlichen Gutgelebt hatte, 1835 nach Paris, wo er den Saint-Simonismus kennenlernte. Ebendahin kehrte er 1840 zurück und eröffnete 27.Sept. 1841 seine mystischen Vorträge, deren Tendenz auf einetotale Umgestaltung des gesamten sozialen Zustandes der Menschheitdurch beständige Begeisterung hinauslief. Für diese Ideengewann er den Dichter Mickiewicz und andre Vertreter der polnischenRomantik. Vgl. Mickiewicz, L'Église of officielle et leMessianisme (Par. 1842-43, 2 Bde.). Der Meister selbst hat demSystem keinen authentischen Ausdruck verliehen; 1842 und dannwieder 1848 aus Frankreich verwiesen, ging er über Rom nachder Schweiz, wo er 13. Mai 1878 in Zürich starb. Vgl. sem*nko,T. et sa doctrine (Par. 1850).

Tow Law (spr. tau lah), Stadt in der engl. GrafschaftDurham, 16 km westlich von Durham, hat Kohlengruben,Eisenhütten, Kalksteinbrüche und (1881) 5005 Einw.

Town (engl., spr. taun), Stadt.

Township (engl., spr. taunschip), in England Kirchspieloder Teil eines solchen, mit eigner Armenverwaltung; in denVereinigten Staaten von Nordamerika Name der Unterabteilung derCounties, auch Hauptsektion der vermessenen Ländereien, =23,040 Acres.

Towyn (spr. tohwin), Stadt in Merionethshire (Nordwales),an der Cardiganbai, hat Schieferbrüche, eine Mineralquelle,Seebäder und (1881) 3365 Einw.

Toxichämie (griech.), Blutvergiftung, bei welcher das Blutnicht nur als Transportmittel für aufgenommene Gifte dient,sondern durch letztere selbst (namentlich der Inhalt der rotenBlutkörperchen) verändert wird.

Toxikologie (griech.), die Lehre von den Giften (s.d.).

Toxoceras, s. Tintenschnecken.

Toxonose (griech.), durch Einwirkung von Giftenhervorgerufene Krankheit.

Toxteth Park, Wohnstadt im S. von Liverpool in Lancashire(England), mit (1881) 10,368 Einw.

Tr., bei Alkoholometerangaben die Skala nach Tralles; beinaturwissenschaftl. Namen Abkürzung für Friedr.Treitschke, geb. 1776 zu Leipzig, gest. als Hoftheaterökonomin Wien (Schmetterlinge).

Trab, Traben, s. Gangarten des Pferdes und Laufen;über das Trabrennen s. d.

Trabakel, zweimastiges Fahrzeug mit luggerartigerTakelung, an den österreichischen Küsten des AdriatischenMeers im Gebrauch.

Trabanten (ital. trabanti, v. deutsch. traben, lat.Satellites), dienende Begleiter, Leibwächter zu Fuß,waren schon im Altertum, besonders aber im Mittelalter üblichund dienten teils als Schutzwache fürstlicher Personen undhoher Beamten, der Landsknechtobersten, teils als Vollstreckerihrer Befehle. Die Trabantengarden bildeten häufig den Stammder Haustruppen (s. d.) oder auch der Feldtruppen, wie inBrandenburg. Aus den zwei Kompanien T. des GroßenKurfürsten, welche 1675 bei Fehrbellin mitfochten, gingen 1692die heutigen Gardes du Corps (s. d.) hervor. - In der Astronomieist Trabant s. v. w. Nebenplanet (s. d.).

Trabea (lat.), ein mit Purpurstreifen gesäumtes,mantelartiges Obergewand aus altrömischer Zeit, welches auchspäter noch das Amtskleid der Ritter und Augurn blieb. Die T.ist mit der Toga praetexta (s. Tafel "Kostüme I", Fig. 6) inForm und Bedeutung verwandt.

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Traben - Tracheen.

Traben, Marktflecken im preuß. RegierungsbezirkKoblenz, Kreis Zell, an der Mosel, am Trabenberg und an der LinieReil-T. der Preußischen Staatsbahn, 97 m ü. M., hatObst- und vortrefflichen Weinbau, große Weinhandlungen und(1885) 1704 meist evang. Einwohner. Gegenüber am rechtenMoseluser die Stadt Trarbach (s. d.).

Traber, Pferderassen, bei denen der Trab bis zurgrößten Vollkommenheit ausgebildet ist. Dieberühmten russischen Orlowtraber werden auf den GestütenChränowoi und Tschesmenka gezüchtet, doch liefert inneuester Zeit auch Nordamerika ausgezeichnete T. Vgl.Trabrennen.

Träber, s. Treber.

Traberkrankheit (Gnubberkrankheit, Wetzkrankheit,Schruckigsein), langwierige, fieberlose Krankheit der Schafe, dievorzugsweise zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr mitgesteigerter Empfindlichkeit und Schwäche, endlichLähmung des Hinterteils ausfritt und meist unterfortschreitender Abzehrung zum Tod führt. Die noch vielfachrätselhafte Krankheit entwickelt sich unter wenigauffälligen Erscheinungen: die Schafe zeigen dummen, stierenBlick, scheues, furchtsames Wesen, Schüchternheit,Schreckhaftigkeit beim Ergreifen und Festhalten (Schruckigsein) undbeginnende Muskelschwäche. Nach 4-8 Wochen tritt Schwächeim Hinterteil hervor, die Tiere gehen schwankend, mit kurzen,trippelnden, trabartigen Schritten (Traber), und allmählichbreitet sich die Schwäche auch auf die vordereKörperhälfte aus. Meistens besteht dabei juckendeEmfindung der Haut, namentlich in der Kreuzbein- und Lendengegend,welche die Tiere zu fast fortwährendem Scheuern und Nagen andiesen Stellen veranlaßt (daher Gnubber- oder Wetzkrankheit).Unter zunehmender Schwäche und Hinfälligkeit, die sichbis zur völligen Lähmung des Hinterteils steigern(Kreuzdrehen, Kreuzschlagen), tritt allgemeine Abmagerung ein, undnach monatelanger Krankheitsdauer gehen die Tiere anErschöpfung zu Grunde. Genesungsfälle von derausgebildeten Krankheit kommen nicht vor. In den Kadavern findetman nur am Rückenmark und an dessen Häuten höhereRötung, Erweichung, Schwund, Wassererguß, in manchenFällen jedoch gar nichts, woraus die Erscheinungen im Leben zuerklären wären. Nachweislich ist in Deutschland dieKrankheit bereits vor Einführung der spanischen Schafebeobachtet worden; aber erst seit Einführung der Zucht feinerSchafe hat sie jene Verbreitung erlangt, in der siegegenwärtig den größern Schäfereien oft ganzerhebliche Verluste bereitet. Die Krankheitsanlage wirdunzweifelhaft ererbt, kann aber auch durch organische Schwächedes Nervensystems wie des gesamten Körperbaues bedingt sein,daher die Krankheit in überfeinerten, verzärtelten Herdenhäufig ist. Ebenso werden zu früher und zu starkerGebrauch der Zuchttiere, namentlich der männlichen, angeklagt.Ansteckend ist die T. nicht. Heilmittel sind bisher ohne Erfolgangewendet worden, frühzeitiges Schlachten der Erkrankten istdaher anzuraten. Die viel wichtigere Vorbauung gegen die aus einerHerde nur schwer wieder zu beseitigende Krankheit beruht aufHerstellung eines kräftigen und von erblicher Anlage freienStammes, daher auf Ausschließung der Tiere von der Zucht, dieaus traberkranken Familien abstammen oder bereits traberkrankeNachkommen erzeugt haben, nicht zu früher Benutzung der Tierezur Zucht, Schonung der Böcke und rationellerErnährung.

Trabrennen, früher besonders in Hollandgebräuchliche Rennen, wo ein guter Stamm von Traberpferden (s.Traber) existierte: mit diesen und mit dem Entstehen der Orlowrasseübernahm Rußland die Pflege der T.; in neuerer Zeit istauch in Frankreich und Deutschland die Neigung für diesenSport rege geworden, indessen behauptet Amerika zur Zeit den erstenPlatz mit seinen Pferden (Hardtrabers) im T. Die bisher erreichtegrößte Geschwindigkeit amerikanischer Traber, welcheentweder unter dem Sattel oder in zweiräderigen, ganz leichtenWagen gehen, ist 2 Minuten 12 Sekunden für die englischeMeile. Als Regel gilt bei den T., daß Pferde, welche inGalopp fallen, eine Volte (eine Kreiswendung) machen müssen.Zu beachten bei den Zeitangaben für die Rennen ist, daßdie Amerikaner einen sogen. fliegenden Ablauf (Start) haben, d. h.daß sie die Pferde schon im Trab befindlich ablaufen lassen,während in andern Ländern die Pferde aus dem ruhigenStehen ablaufen; man rechnet 4 Sekunden als Differenz fürdiesen verschiedenartigen Ablauf.

Trace (franz., spr. traß), eigentlich die Spur,dann Absteckungslinie einer Verkehrslinie, z. B. einerStraße, einer Eisenbahn oder eines Kanals. Man versteht unterT. die Achse eines Verkehrswegs mit Einschluß aller seinerKrümmungen, Steigungen und Gefälle, welche sich durcheinen Grundplan (Situationsplan) und einen Höhenplan(Längenprofil) darstellen läßt. Beim Absteckenläßt sich die T. zunächst nur auf derTerrainoberfläche fixieren, hiernach aber auf Grund einesNivellements erst durch Auftrag und Abtrag des Bodens wirklichherstellen. Die Operation des Aufsuchens und Absteckens nennt mantracieren und unterscheidet die technische Tracierung von derkommerziellen, je nachdem man nur die rein technische oder die reinkommerzielle Seite der Aufgabe ins Auge faßt. Bei der ersternhandelt es sich um die bei übrigens gleicher Soliditätgeringsten Baukosten, bei der letztern um die bei gleicherTransportmenge geringsten Betriebskosten: Gesichtspunkte, welchebei dem Aufsuchen der vorteilhaftesten T. stets gleichzeitig inBetracht zu ziehen sind. Näheres hierüber s. unterEisenbahnbau. Tracieren, entwerfen, abstecken.

Tracee (franz. tracé, spr. traßé),Abriß, Grundrißform (besonders einer Festung).

Trachea (lat.), Luftröhre.

Trachea, s. Eulen, S. 908.

Trachealrasseln, helles rasselndes Atemgeräusch beiAnsammlung von viel Schleim in der Luftröhre und ihren erstenVerzweigungen; kommt meist nur bei Sterbenden vor.

Tracheen (griech.), Luftröhren, die Atmungsorganeder Tracheentiere, d. h. der Insekten, Spinnen etc. (s. unten). DieT. (Fig. 1 u. 2) sind dünne Röhren, deren Wandungen ausZellen und einer von diesen abgeschiedenen Schicht eineshornartigen Stoffes (Chitin, s. d.) bestehen. Letztere ist in denfeinsten Zweigen der T. glatt, in den gröbern aber mitspiralig angeordneten Verdickungen versehen und hält so die T.stets offen. Die T. beginnen in der Haut mit einer Öffnung,dem Stigma oder Luftloch, hinter dem sich gewöhnlich einbesonderer Verschlußapparat befindet, und verzweigen sichdann in einer bei den einzelnen Tieren verschiedenen Art im Innerndes Körpers. Die allerfeinsten, auch bei starkenVergrößerungen nur schwierig sichtbaren Zweige umspinnenalle Organe und dringen in sie hinein, so daß die Atemluftüberall hingeleitet wird. Die Luftlöcher wechsele sehr anZahl, Größe und Form, doch befindet sich bei denInsekten wenigstens in der Regel an fast jedem Lei-

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Tracheentiere - Trachyte.

besring ein Paar. Manche Arten Insekten pumpen sich, bevor siefliegen, den Körper voll Luft (das "Zählen" desMaikäfers) und haben darum an ihren T. noch bis zu mehrerenHundert kleiner Ballons (Tracheenblasen). Übrigens fehlen ineinzelnen Fällen, namentlich an Larven von Wasserjungfernetc.,

Fig. 1. Larve einer Eintagsfliege mit 7 Paar Tracheenkiemen(Tk). - Fig. 2. Tracheensystem der Larve von Agrion(Wasserjungfer). Tst Seitliche Tracheenlängsstämme, DDarm, Tk. Tracheenkiemen.

die Stigmen vollständig, so daß das Tracheensystem zueinem geschlossenen im Gegensatz zum offenen, d. h. mit Stigmenversehenen, wird. Die Atmung geschieht in diesem Fallgewöhnlich so, daß ein Teil der T. in besondersdünnen Hautstellen, die über dieKörperoberfläche oder am Darm blattartig hervorragen,angebracht ist; diese wirken, da die betreffenden Tiere in Wasseroder feuchter Luft leben, wie Kiemen (sogen. Tracheenkiemen). Beiden Spinnen sind die T. in eigentümlicher Weise angeordnet,indem die dicht nebeneinander entspringenden zahlreichen Zweigeeines Astes wie die Blätter eines Buches abgeplattetzusammenliegen (sogen. Tracheenlungen oder Fächertracheen).Als Tracheentiere (Tracheata) bezeichnet man die mit T. versehenenArthropoden oder Gliederfüßler (s. d.). Es sind dies dieInsekten, Tausendfüße, Spinnen und Urtracheaten(Protracheata). Letztere wurden früher wegen ihrer Gestalt zuden Würmern gerechnet, bis man in neuester Zeit an ihnen dieT. auffand. Augenscheinlich vermitteln sie den Übergangzwischen den schon lange als Tracheaten bekannten Insekten etc. undden Ringelwürmern und sind daher für den Zoologen sehrinteressante Tiere. Zu ihnen gehört nur die Gattung Peripatus,deren Arten in den Tropen an feuchten Orten leben. Wegen derübrigen Tracheentiere s. die einzelnen Artikel über diegenannten Gruppen.- In der Pflanzenanatomie bezeichnet man mit demNamen T. die Gefäße (s. d., S. 1005).

Tracheentiere, s. Tracheen.

Tracheiden, in der Pflanzenanatomiegefäßartige Zellen, welche sich von den Tracheen oderechten Gefäßen nur durch ihr völligesGeschlossensein unterscheiden; sie bilden den Hauptbestandteil desHolzes bei Koniferen und Cykadeen sowie derGefäßbündel vieler Monokotylen und Farne.

Tracheitis (griech.), Luftröhrenkatarrh.

Trachenberg, Stadt im preuß. RegierungsbezirkBreslau, Kreis Militsch, an der Bartsch, Knotenpunkt der LinienBerlin-Posen und T.-Herrnstadt der Preußischen Staatsbahn, 94m ü. M., hat eine evangelische und eine kath. Kirche, eineSynagoge, ein Amtsgericht, 2 Zuckerfabriken, eineDampfmahlmühle, Leinweberei und (1885) 3570 meist evang.Einwohner. T. erhielt 1253 deutsches Stadtrecht. Dabei dasgleichnamige Schloß des Fürsten von Hatzfeld-T., inwelchem 12. Juli 1813 der von Knesebeck entworfene Kriegsplan vonKönig Friedrich Wilhelm III., Kaiser Alexander und demKronprinzen von Schweden unterzeichnet ward.

Tracheobronchitis (griech.), Katarrh der Luftröhreund der Bronchien.

Tracheoskopie (griech.), Untersuchung der Luftröhrevermittelst des Kehlkopfspiegels.

Tracheostenose (griech.), Luftröhrenverengerung.

Tracheotomie (griech.), s. Luftröhrenschnitt.

Trachom (griech.), s. ÄgyptischeAugenentzündung.

Tracht, s. Kostüm.

Tracht, in der Jägersprache die Gebärmutter desMutterwildes.

Trächtigkeit, s. Schwangerschaft, S. 685.

Trachydolerit, s. Andesite.

Trachyte (Trachytgesteine), gemengte kristallinischeGesteine, gewöhnlich aus mehreren Feldspaten (vorwiegendSanidin), Hornblende, Augit, Glimmer zusammengesetzt, baldquarzführend, bald quarzfrei. Es sind jungvulkanische Gesteinemit hohem Gehalt an Silicium (60-80 Proz. SiO2), teils Laven jetztnoch thätiger Vulkane, teils Eruptionsmaterial, welcheswährend der Diluvial- und Tertiärperiode geflossen ist.Zu ihnen gehören neben den Trachyten im engern SinnQuarztrachyt, Domit und als glasartige ModifikationenTrachytpechstein (s. d.), Obsidian(s. d.), Perlstein (s. d.) undBimsstein (s. d.). Die typischen Varietäten des Quarztrachyts(Liparit, felsitischer Rhyolith, Trachytporphyr) besitzenphorphyrische Struktur: in einer felsitischen Grundmasse, die sichunter dem Mikroskop als aus Quarz, Sanidin, wenig Oligoklas undHornblende neben nicht individualisierter Glasmasse zusammengesetztzeigt, liegen Quarz-, Glimmer- und Hornblendekristalle. DieGrundmasse ist weißlich, gelblich, hellgrau oder rötlichgefärbt, mitunter rauh, zellig oder porös, die Wandungder Hohlräume mit Quarzvarietäten überkleidet. DasGestein kommt an einigen Stellen des Siebengebirges, häufigerin den Euganeen, auf Island, in Siebenbürgen vor, ist aber alsLava jetzt thätiger Vulkane nicht bekannt. Domit ist einedurch matte, sehr feinkörnige und wenig glasige Grundmasseausgezeichnete Varietät des Quarzporphyrs (Auvergne,namentlich Puy de Dôme). Quarzfreier Trachyt besitztebenfalls gewöhnlich porphyrische Struktur, und zwar sind esmeist die Sanidinkristalle (bis 8 cm groß), welche diePorphyrstruktur

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Trachytpechstein - Traduzianismus.

hervorrufen. Es gibt Trachyt, welcher fast nur aus Sanidin(Sanidintrachyt, Sanidinit) mit wenig Hornblende, Glimmer undOligoklas besteht. Tritt der letztere Bestandteil, namentlich alsEinsprengling, mehr hervor, so unterscheidet man die Varietätals Oligoklas-Sanidintrachyt. Andre Varietäten (Augittrachyte)führen Augit. Die Grundmasse der T. besteht nach dermikroskopischen Untersuchung aus denselben Mineralien, welche auchmikroskopisch beobachtbar sind, dazu Glassubstanz, Magneteisen,wohl auch Tridymit, der aber besonders häufig als Auskleidungder Hohlräume auftritt. Quarzfreie T. kommen sowohl als Laven,in historischen Zeiten geflossen, wie auch als solche ältererVulkane (Siebengebirge, Westerwald, Rhön, Monte Olibano beiNeapel u. a. O.) vor. Hierher gehören auch dieAuswürflinge (Lesesteine) des Laacher Sees, die sich durchihren Reichtum an accessorischen Bestandteilen (Nephelin, Hauyn,Nosean, Titanit, Olivin, Zirkon, Saphir, Spinell etc.) auszeichnen.Als Trümmergesteine der T. treten Trachytkonglomerate,Trachytbreccien und Trachyttuffe auf. Zu letztern zählen unterandern die opalführenden Gesteine von Kaschau in Ungarn, dieBimssteintuffe Ungarns und der Auvergne, der Traß (Duckstein)vom Niederrhein, die Puzzolane und der Pausilipptuff von Neapel,die Tosca von Teneriffa, sämtlich zur Herstellung vonhydraulischen Mörteln geeignet. Auch der Alaunstein (Alunit,s. d.) ist ein Zersetzungsprodukt trachytischer Gesteine. DerVerwitterung gegenüber verhalten sich die T. je nachphysikalischer Beschaffenheit und je nach der Natur derBestandteile äußerst verschiedenartig. Während dieglasigen Modifikationen den Atmosphärilien einenhartnäckigen Widerstand entgegenstellen, sind die wenigergeschlossenen hinfälliger und zerfallen schließlich zueiner vom Kaolin oft wenig verschiedenen Masse, gewöhnlichnoch mit Sanidinsplittern untermengt. T. dienen oft alsBaumaterialien, die quarzführenden und porösen alsMühlsteine (Mühlsteinporphyr); die Tuffe werden zurHerstellung hydraulischer Mörtel und zu feuerfesten Mauerungen(Backofenstein) benutzt.

Trachytpechstein, Gestein, in mineralogischer undchemischer Hinsicht mit Pechstetn (s. d.), der glasartigenModifikation des Porphyrs, identisch, genetisch aber nicht mitPorphyr, sondern mit den jüngern (tertiären) Trachyten zuvereinen. Die Pechsteine Ungarns, der Euganeen, der vulkanischenGebiete Frankreichs und Islands gehören hierher.

Tracieren (franz., spr. traßieren), s. Trace.

Tractus (lat.), Kanal, Gang, z. B. T. alimentarius,Verdauungskanal.

Tractus cantus (lat., "gezogener", d. h. langsamer,Gesang), der Gesang der römischen Kirche, welcher in derFastenzeit und bei andern Trauerfesten der Kirche im Choralgesangan Stelle des (ursprünglich jubelnd vorgetragenen) Hallelujatritt.

Trade (engl., spr. trehd), Handel, Gewerbe; Tradedollar,Silberdollar (Handelsmünze); Trademark, Fabrikzeichen;Tradesales, im englischen Buchhandel Versteigerung vonAuflageresten.

Traders (engl., spr. trehders, "Händler"), im brit.Nordamerika Pelzhändler im Dienste der Hudsonbaikompanie,zugleich untere Verwaltungsbeamte.

Tradescantia L., Gattung aus der Familie derKommelinaceen, krautartige Pflanzen, von denen T. guianensis Miq.,aus Mittelamerika, mit langen, hängenden Zweigen,eiförmigen, zugespitzten, stengelumfassenden Blättern undselten erscheinenden, weißen Blüten als Ampelpflanze,zur Bildung eines grünen Grundes in Terrarien,Gewächshäusern und im Zimmer kultiviert wird und auch alsVogelfutter benutzt werden kann. T. zebrina hort., der vorigenähnlich, aber mit braunen, weiß gestreiftenBlättern, ist etwas empfindlicher. T. discolor Sm., ausBrasilien, mit dickem, aufrechtem Stengel, lanzettförmigen,oben grünen, unten violetten Blättern und weißenBlüten, gedeiht auch im Zimmer. T. virginica L., 60-80 cmhoch, mit linienlanzettförmigen Blättern undviolettblauen Blüten in dichten Dolden, wird in Gärtenals Zierpflanze kultiviert.

Trades' Unions (engl., spr. trehds juhnjons), s.Gewerkvereine.

Tradition (lat.), Überlieferung, Übergabe. Inder Rechtswissenschaft versteht man unter T. die Übertragungdes Besitzes an einer Sache seitens des bisherigen Besitzers(Tradent) an einen andern. Soll durch die T. das Eigentum an der zuübergebenden Sache auf den Empfänger übergehen, soist es nötig, daß dem Tradenten selbst das Eigentumdaran zusteht, da niemand mehr Recht auf einen andernübertragen kann, als er selbst hat. Erfolgt dieÜbertragung des Eigentumsbesitzes an den dermaligen Inhaber(natürlichen Besitzer) der Sache, so spricht man von einerTraditio brevimanu (s. Besitz). Bei Grundstücken sind an dieStelle der T., welche nach älterm deutschen Rechte durchsymbolische Handlungen erfolgte (s. Effestukation), diegerichtliche Auflassung (s. d.) und der Grundbuchseintraggetreten.

T. bezeichnet ferner die der geschriebenen Geschichteentgegengesetzte, nur durch die mündliche Überlieferungauf die Nachwelt gelangende Kunde, insbesondere die jüdischenund christlichen Satzungen und Lehren, die nicht in der Bibelschriftlich fixiert sind, sich aber durch mündlicheÜberlieferung in Synagoge und Synedrion (s. d.) oder in derKirche erhalten und fortgepflanzt haben. Die Sicherheit dieser T.,deren sich die römisch-katholische Kirche nicht nur zurBegründung von Lehren, geschichtlichen Thatsachen undGebräuchen, sondern auch zur Rechtfertigung der hergebrachtenSchriftauslegung bedient, weshalb eine dogmatische, rituelle,historische und hermeneutische T. unterschieden wird, wurde von denReformatoren angefochten, welche höchstens die T. der erstenchristlichen Jahrhunderte beachtet, aber auch diese der HeiligenSchrift untergeordnet wissen wollten. Dagegen setzte dierömisch-katholische Kirche auf dem Konzil von Trient die T.ausdrücklich der Schrift als ebenbürtig an die Seite, undGleiches ist auch die Voraussetzung der griechischen Dogmatik,während die protestantische Dogmatik der T. nur insofern eineprinzipielle Bedeutung beilegen kann, als sie für ihreAussagen sich nicht bloß auf die in der Heiligen Schriftunmittelbar bezeugte Glaubenserfahrung der ersten Generationen derwerdenden Christenheit zurückzubeziehen, sondern auch dieganze Glaubenserfahrung der geschichtlich gewordenen Christenheitkritisch in sich aufzunehmen und dabei besonders die grundlegende,symbolbildende Epoche des Protestantismus selbst zuberücksichtigen hat. Vgl. Weiß, Zur Geschichte derjüdischen T. (Wien 1871-76); Holtzmann, Kanon und T.(Ludwigsb. 1859).

Traditionell (franz.), durch Tradition (s. d.)überkommen.

Traditor (lat.), Überlieferer, Auslieferer(besonders der Heiligtümer bei den Christenverfolgungen unterDiokletian); im Festungswesen der in den Kehlgraben vorspringendeTeil von Kehlreduits in Forts, zur Kehlbestreichung dienend.

Traduzianismus (lat.), die in der Dogmatik im

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Traduzieren - Träger.

Gegensatz zum Kreatianismus (s. d.) auftretende Lehre, nachwelcher bei der Entstehung des menschlichen Lebens auch die Seelenur als mittelbare göttliche Schöpfung in Betracht kommt.So lehren nach dem Vorgang Tertullians und im Interesse an derErbsünde die Lutheraner, doch nicht in dem Sinn einerEntstehung der Seelen aus physischer Zeugung (ex traduce), sondernnur mittels derselben als Fortleitung des in Adam eingesenktenKeims (per traducem).

Traduzieren (lat.), hinüberführen,übersetzen.

Traëtto (jetzt Minturno), Stadt in der ital. ProvinzCaserta, Kreis Gaeta, nahe dem Garigliano, hat Reste einesAquädukts und eines Theaters (der antiken Stadt Minturnä,s. d.) und (1881) 4394 Einw.

Trafalgar (sonst Junonis promontorium), Vorgebirge an derKüste der span. Provinz Sevilla, am Atlantischen Meer, naheder Straße von Gibraltar, berühmt durch die Seeschlacht21. Okt. 1805 zwischen der englischen Flotte unter Nelson und dervereinigten französisch-spanischen unter Villeneuve undGravina. Letztere, mit 33 Linienschiffen vor Cadiz ankernd,ließ sich von Nelson, der 27 Linienschiffe hatte, durchscheinbaren Rückzug in das offene Meer locken und wurde dann21. Okt. beim Kap T. angegriffen. Die drei Stunden lange Linie derspanisch-französischen Flotte ordnete sich bei Annäherungder in zwei Kolonnen geteilten englischen Schiffe in einenHalbkreis, ward aber bald auf zwei Punkten durchbrochen. Esentspann sich nun ein furchtbarer Kampf zwischen den hartaneinander liegenden Schiffen, der nach drei Stunden zu gunsten derEngländer entschieden war. Die spanisch-französischeFlotte verlor 19 Schiffe; Admiral Villeneuve ward gefangen, Gravinastarb an seinen Wunden. Es war dies Nelsons glorreichster undletzter Sieg; er fiel durch die Kugel eines feindlichenScharfschützen, der ihn an seinen Orden erkannt hatte.

Trafik (v. ital. traffico), Handlung, Verschleiß,insbesondere Detailhandel, in Österreich namentlich auf dieTabaksverkaufsstellen angewendet.

Trafoi, kleine Alpenansiedelung (85 Einw.) in Tirol,Bezirkshauptmannschaft Meran, in großartiger Landschaft amFuß der Ortlergruppe an der Straße über dasStilfser Joch gelegen.

Tragaltar, s. Altar, S. 413.

Tragánt (Gummi Tragacanthae), aus dem Stammemehrerer vorderasiatischer Arten von Astragalus (s. d.) freiwilligoder nach zufälligen oder absichtlichen Verletzungenausschwitzendes Gummi, bildet flache, gedrehte oder gekrümmte,von verdickten, konzentrischen, halbkreisförmigen Striemendurchzogene, farblose oder gefärbte Stücke. Er isthornartig, fast durchscheinend, zäh, geruchlos, schwillt imWasser stark auf, gibt gepulvert mit 20 Teilen Wasser einen derbenSchleim und besteht aus Bassorin, löslichem Gummi,Stärkemehl und mineralischen Stoffen. Im Handel unterscheidetman: Blätter- oder Smyrnaer T., aus großen, flachen,platten oder bandförmigen Stücken mitdachziegelförmig übereinander geschobenen Schichtenbestehend, als beste Sorte; Morea-T. (Vermicelli), inunförmlichen, wulstigen oder nudelförmigen, gewundenenoder gedrehten Stücken; syrischen oder persischen T., instalaktitenförmigen oder flachen, gewundenen oder gedrehten,mitunter sehr großen Stücken. Man benutzt T. in derZeugdruckerei und Appretur, zu Wasserfarben, zu plastischen Massen,als Bindemittel zu Konditorwaren und in der Medizin. Über dasdem T. sich anschließende Kuteragummi s. Cochlospermum. - T.war bereits den Alten bekannt, ebenso den spätern Griechen undden Arabern des frühen Mittelalters. In Deutschland wurde erim 12. Jahrh. zu Arzneiformen benutzt, auch fand er bald technischeVerwendung.

Tragelaphos (Tragelaph, griech., "Bockshirsch"),phantastisch gebildetes Tier, das den Griechen nur aus Abbildungenauf Teppichen und andern Kunsterzeugnissen des Orients bekannt war(Persien und Babylon) und nur auf hochaltertümlichen Vasennachgeahmt ist. Es war eine Hirschgestalt mit Bart und Zotteln amBug.

Traeger, Albert, Dichter, geb. 12. Juni 1830 zu Augsburg,von wo sein Vater nach einigen Jahren nach Naumburgübersiedelte, studierte 1848-51 in Halle und Leipzig Rechts-und Staatswissenschaften und wurde 1862 Rechtsanwalt und Notar zuKölleda in Thüringen, von wo er 1875 in gleicherEigenschaft nach Nordhausen übersiedelte. T. ist seit 1871zugleich Reichstagsabgeordneter und gehört als solcher derdeutschen freisinnigen Partei an. Als talentvoller Lyriker bewieser sich in seinen "Gedichten" (Leipz. 1858, 16. vermehrte Auflage1884). Außerdem veröffentliche er "1870", sechsZeitgedichte (Berl. 1870); die Novelle "Übergänge"(Leipz. 1860); "Tannenreiser", Weihnachtsarabesken (Tropp. 1864);"Die letzte Puppe" (Soloszene, Wien 1864); "Morgenstündcheneiner Soubrette", dramatisches Genrebild (mit Em. Pohl, Berl.1879); ferner die illustrierten Sammelwerke: "Stimmen der Liebe"(Leipz. 1861) und "Deutsche Lieder in Volkes Mund und Herz^ (das.1864). Auch gab er 1865-83 das Jahrbuch "Deutsche Kunst in Bild undLied, Originalbeiträge deutscher Dichter, Maler undTonkünstler", heraus.

Träger, im Bauwesen wagerechter, zum Tragen vonLasten bestimmter Bauteil aus Stein, Holz, Eisen oder Holz undEisen, welcher auf zwei (abgesetzter T.) oder mehreren(fortgesetzter, kontinuierlicher T.) Stützen ruht oder aneinem Ende befestigt ist (Krag- oder Konsolträger). T. ausStein sind vierkantige, prismatische Balken, T. aus Holz entwedereinteilige und mehrteilige (verzahnte, Fig. 1 [S. 792],verdübelte, Fig. 2) Balken mit rechteckigem Querschnitt, oderaufgeschlitzte und gespreizte (Fig. 3, Lavessche, Fig. 4) Balken,oder gegliederte, aus Fachwerk (Fachwerkträger, Fig. 5) oderNetzwerk oder Gitterwerk (Netzwerkträger, Gitterträger)bestehende Balken, während T. aus Eisen die mannigfaltigsteAusbildung zeigen. Nach der Form derselben unterscheidet manDreieckträger (Fig. 8), Rechteck- (Parallel-) T. (Fig. 10 u.11), Trapezträger (Fig. 9), Vieleck- (Polygonal-) T. und unterden letztern Parabel- (Fig. 12), Halbparabel- (Fig. 13), Hyperbel-und Ellipsenträger (Fischbauch- und Fischträger, Fig. 14u. 15). Nach ihrer Zusammensetzung unterscheidet man wieder massive(gewalzte und Blechträger) und gegliederte T. (Fachwerk- undNetzwerkträger, Fig. 10 u. 11). Im Hochbau werden die T. zurUnterstützung, vorzugsweise der Decken, und zwar alshölzerne oder eiserne Unter- oder Oberzüge, ferner zurUnterstützung von Balkonen, Galerien und Erkern alsKonsolträger, im Brückenbau zur Herstellung desÜberbaues als Hauptträger, Querträger,Schwellenträger, Konsolträger verwandt, wo sie aus Eisenund nur für vorübergehende Zwecke aus Holz oder aus Holzund Eisen konstruiert werden. T., welche man gekuppelt, d. h. dichtnebeneinander liegend, verwendet, nennt man, besonders wenn sie ausWalzeisen bestehen, Zwillingsträger, während man dieWalzeisenträger selbst, je nachdem sie einen T- oderI-förmigen Querschnitt besitzen, kurzerhand mit T-T. und I-T.be-

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Trägerrecht - Tragisch.

[Abbildungen mit Unterschriften]

zeichnet. Armierte T. sind hölzerne oder eiserneBalken, welche zur Erhöhung ihrer Tragfähigkeitkünstlich, z. B. durch einfache Häng- oder Sprengwerke(Fig. 6 u. 7), verstärkt werden. Vgl. die Artikel "Balken","Brücke", "Decke" und "Eisenbau".

Trägerrecht, s. Baurecht, S. 526.

Trägheit, im physikalischen Sinn s. v. w.Beharrungsvermögen (s. d.); im psychologischen Sinn das ausdem Unlustgefühl, welches durch die Vorstellung der Bewegunghervorgerufen wird, entspringende Bestreben, in dem gegebenenRuhezustand zu beharren.

Trägheitsmoment, in der Mechanik diejenige idealeMasse, welche, in der Entfernungseinheit von der Drehungsachseeines rotierenden Körpers konzentriert gedacht, bei gleicherWinkelgeschwindigkeit dieselbe lebendige Kraft (s. Kraft, S 132)besitzt wie der rotierende Körper. Bezeichnet man dieWinkelgeschwindigkeit, d. h. die Geschwindigkeit in der Entfernung1 von der Drehungsachse, mit w, so würde demnach das T. (T)diejenige Größe sein, welche, mit ½ w²multipliziert, die gesamte lebendige Kraft des rotierendenKörpers ergibt. Diese letztere aber ist gleich der Summe derlebendigen Kräfte aller seiner Massenteilchen. Sind m, m',m''... solche einzelne Massenteilchen, welche bez. um r, r', r''...von der Drehungsachse abstehen, so bewegen sich dieselben bez. mitden Geschwindigkeiten rw, r'w, r''w... und besitzen die lebendigenKräfte ½ mr²w², ½ m'r'²w²,½ m''r''²w²...; die gesamte lebendige Kraft desrotierenden Körpers ist demnach =½w²(mr²+m'r'²^+m''r''²+...), wenn dieeingeklammerte Summe über sämtliche Massenteilchen desKörpers erstreckt gedacht wird. Mit dieser Summe, welche kurzdurch sum(mr²) ausgedrückt wird, muß also, wie mansieht, ½w² multipliziert werden, um die lebendige Kraftdes rotierenden Körpers zu erhalten, d. h. diese Summe ist demT. gleich oder T = ^sum(mr²). Man findet demnach das T. einesKörpers, indem man die Summe bildet aus den Produkten allerMassenteilchen mit den Quadraten ihrer Abstände von derDrehungsachse.

Tragikomisch (griech.), Verschmelzung des Tragischen mitdem Komischen, gewöhnlich von Ereignissen gebraucht, die inihrer ganzen Entwickelung einen tragischen Ausgang erwartenließen, allein plötzlich eine Wendung zu einem komischenEnde nehmen.

Tragikomödie (griech.), die dramatische Darstellungeiner tragikomischen Handlung; im weitern Sinn eine Tragödie,welche, wie z. B. die alten spanischen und englischenTragödien, neben den tragischen auch komische Bestandteileenthält.

Tragisch (griech.) heißt nach Aristoteles einEreignis, welches zugleich Mitleid (mit dem von demselbenBetroffenen) und Furcht (für uns selbst) erweckt. Dasselbemuß einerseits ein Leiden sein, weil dessen Anblick sonstnicht selbst ein Leid wecken könnte; aber es darf keinverdientes (nicht die gerechte Strafe eines wirklichen Verbrechens)sein, denn ein solches bedauern wir zwar, aber bemitleiden esnicht. Dasselbe muß anderseits furchtbar sein, weil wir essonst nicht (weder für andre, noch für uns)fürchten, und es muß willkürlich (ohneRücksicht auf Schuld oder Unschuld) verhängt sein, weilwir es sonst nicht für uns ebensogut wie für denSchuldigen fürchten würden. Nur das mehr oder minderunverdiente Leiden, sei es nun, daß das vermeintlicheVerbrechen eine Helden- oder Wohlthat, der rächende Gott oderdas launenhafte Fatum der eigentliche Verbrecher sei (der Feuerraubdes Prometheus, der dafür von dem neidischen undfürchtenden Zeus an den Felsen geschmiedet wird), sei es,daß der vermeintlich Schuldige nur halb schul-

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Tragkraft - Tragopogon.

dig, die "himmlischen Mächte", welche "den Armen habenschuldig werden lassen", die eigentlich Schuldigen seien(Ödipus, den die tyrannischen Götter schon im Mutterleibzum künftigen Vatermörder und Muttergemahl ausersehenhaben; Wallenstein, von dessen Schuld "unglückselige Gestirne"die "größere Hälfte" tragen), ist wirklich t., dasgänzlich unverdiente (das Martyrium der Unschuld, die PassionChristi) nicht t., sondern gräßlich. Das Tragische ruhtdaher ebenso wie das Komische (s. d.) auf einem Kontrastdesjenigen, was wirklich geschieht (des Ungerechten im Tragischen,des Ungereimten im Komischen), mit dem, was (nach der Forderung dersittlichen Vernunft [der Gerechtigkeit] im Tragischen, desVerstandes [der Klugheit] im Komischen) eigentlich geschehensollte, nur mit dem Unterschied, daß dasjenige, was wirklichgeschieht, im Tragischen ein Leiden, also schädlich, imKomischen dagegen nur eine Thorheit, also unschädlich, ist. Danun der Eindruck des Tragischen, wie jener des Komischen,wesentlich durch die Einsicht in obigen Kontrast entsteht, somuß er, wie bei diesem, als gemischter ausfallen. Daswirklich Geschehende, das unverdiente Leiden und der Untergang dertragischen Person, der Sieg des Fatums oder der "neidischen"Götter, ist ein Triumph der Ungerechtigkeit und bringt alssolcher das "zermalmende" Gefühl menschlicher Schwächeund Ohnmacht dem "großen, gigantischen Schicksal"gegenüber hervor. Die Verurteilung dessen, was wirklichgeschieht, durch den Richterspruch der Vernunft (in uns oder imHelden), welche sich selbst durch den nahen und sichern Untergangwie durch die Übermacht des feindlichen Schicksals in ihrerFestigkeit nicht erschüttern und nicht dazu zwingenläßt, das Unverdiente für verdient, den ungerechtenGott als gerechten anzusehen, ist der Triumph der Gerechtigkeit underzeugt als solcher das "erhebende" Gefühl menschlicher Hoheitund Überlegenheit gegenüber dem grausamen Schicksal,welches "den Leib töten, aber die Seele nicht tötenkann". In ersterer Hinsicht ist der Eindruck des Tragischen (dertragische Affekt) jenem des Grausamen (der blindenNaturnotwendigkeit), welches Verzweiflung, in dieser jenem des(nach Kant: moralisch) Erhabenen (der sittlichen Freiheit)verwandt, welches Bewunderung erzeugt. Werden beide Seiten des(tragischen) Kontrastes an verschiedene Personen verteilt, sodaß das (zermalmende) Gefühl des Unterliegens unter dasSchicksal in die tragische Person, das (erhebende) der(moralischen) Erhabenheit des Menschen über dasselbe in denZuschauer verlegt wird, so entsteht das Naiv- oderObjektiv-Tragische; werden beide dagegen in der (tragischen) Personvereinigt, welche sodann, während sie (physisch) dem Schicksalunterliegt, (moralisch) als tragischer "Held" dasselbe besiegt, soentsteht das Bewußt- oder Subjektiv-Tragische. Jenes, beiwelchem die tragische Person sich leidend (passiv) verhält,wirkt vorzugsweise ergreifend, dieses, bei welchem dieselbe,wenigstens moralisch, thätig (aktiv) auftritt, vorzugsweiseerhebend. Die Eigentümlichkeit des erstern besteht darin,daß der tragische Held dem Beschauer, die des letztern darin,daß er sich selbst t. erscheint, Mitleid und Furcht nichtbloß andern, sondern sich selbst (für sich)einflößt. Iphigenia, Antigone, Thekla (im "Wallenstein")beklagen ihr Geschick. Das Subjektiv-Tragische ist durch dieGemütsstimmung des Helden, welche aus Mitleid mit sich, derdem Schicksal unterliegt, und Hohn über den Gegner, der (nurscheinbar) triumphiert, zusammengesetzt ist, dem Humor (s. d.) undzwar, weil der (physische) Untergang unvermeidlich ist, dembösen Humor (Weltschmerz) verwandt und heißt um dieserVerwandtschaft willen Humoristisch-Tragisches. Je nachdem in demEindruck des Tragischen das "zermalmende" oder das "erhebende"Element als das stärkere erscheint, wird dasRührend-Tragische vom Pathetisch-Tragischen unterschieden.Durch Kombination beider Einteilungen entstehen als Unterarten desRührend-Tragischen das Rührende, bei welchem dasmitleiderregende, und das Schreckliche, bei welchem dasfurchterweckende Element des Ergreifenden überwiegt; alsUnterarten des Pathetisch-Tragischen das humoristische Pathos, beiwelchem die Klage über sein Schicksal, und der tragischeHumor, bei welchem der Hohn über dasselbe im Helden dieOberhand gewinnt; jene machen uns weinen, diese "unter Thränenlächeln". Die Auflösung des Tragischen erfolgt, wie diedes Komischen, durch die Aufhebung des Kontrastes, indem entwederdas (anscheinend) Ungerechte als gerecht (der anscheinendSchuldlose oder nur halb Schuldige als wirklich Schuldiger)erkannt, oder das vermeintlich durch blinden Willen oderfeindselige Absicht herbeigeführte Leiden als das Werk desZufalls oder eines mechanischen Naturprozesses (natürlicherTod) anerkannt wird, welche als völlig heterogen, mit derVernunft nicht vergleichbar, also auch nicht als Kontrast zuderselben betrachtet werden können. Vgl. Bohtz, Die Idee desTragischen (Götting. 1836); R. Zimmermann, Über dasTragische und die Tragödie (Wien 1856); Baumgart, Aristoteles,Lessing und Goethe. Über das ethische und ästhetischePrinzip der Tragödie (Leipz. 1877); Duboc, Die Tragik vomStandpunkt des Optimismus (Hamb. 1885); Günther,Grundzüge der tragischen Kunst, aus dem Drama der Griechenentwickelt (Leipz. 1885).

Tragkraft, s. v. w. rückwirkende Festigkeit, s.Festigkeit, S. 176.

Tragödie (griech., Trauerspiel), die dramatischeDarstellung einer tragischen, d. h. (nach Aristoteles) einerernsten, Mitleid für den Helden und Furcht für uns selbsterweckenden Handlung (s. Tragisch). Dieselbe steht als Darstellungeines tragischen Vorganges der Komödie (s. d.), als Drama mit(für den Helden) unglücklichem Ausgang dem (gleichfallsernsten) Schauspiel gegenüber. Als Untergattung des Dramas (s.d.) gilt von der T. alles, was von diesem als solchem gilt. Alstragisches Drama entlehnt die T. ihre Gesetze und Einteilung vomTragischen. Da die "erhebende" Wirkung des Tragischen destostärker ausfällt, je mächtiger vorher dessen"zermalmende" Wirkung gewesen ist, so geht das Streben der T. vorallem dahin, das Leiden der Helden und die Gewalt des Schicksals soschrecklich zu schildern, daß der Sieg über dasselbedesto erhabener erscheint. Die Einteilung der T. erfolgt nach denGattungen des Tragischen in die rührende T., in welcher dasergreifende, und in die pathetische T., in welcher das erhebendeElement des Tragischen vorherrscht, welche mit der in antike T., inwelcher das Schicksal die (physische) Übermacht über denHelden, und moderne T., in welcher der Held die (moralische)Übermacht über das Schicksal behauptet,zusammenfällt. Über die Bedeutung des Wortes und dieGeschichte der T. s. Drama.

Tragopogon L. (Bocksbart, Haferwurzel), Gattung aus derFamilie der Kompositen, zwei- oder mehrjährige, kahle oderflockig-wollige Kräuter mit abwechselnden,lineallanzettlichen, ganzrandigen, zugespitzten, am Grundscheidigen Blättern, einzeln endständigenBlütenköpfen, gelben oder blauen Blüten undlängsrippigen, lang geschnäbelten Früchten mit

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Tragus - Trajanswall.

mehrreihigem Pappus. Etwa 40 Arten in Europa, Nordafrika undAsien. Die sechs deutschen Arten haben genießbare Wurzeln undBlätter. T. porrifolius L., mit violetten Blüten, inSüdeuropa, schon den Griechen bekannt, wird alsWurzelgemüse kultiviert.

Tragus (lat.), die vordere Ohrecke, welche mit dergegenüberliegenden hintern (antitragus) vor der Öffnungdes äußern Gehörganges steht.

Tragzapfen, Zapfen, bei welchen der Druckgrößtenteils in der Richtung rechtwinkelig gegen dieAchse derselben wirkt (vgl. Zapfen).

Traiguen (spr. traighen), Hauptstadt der Provinz Cautinder südamerikan. Republik Chile, am gleichnamigenNebenfluß des Rio Cauto, mit 3000 Einw. Die Gründungdeutscher Kolonien in der Nähe ist beabsichtigt. Dasgleichnamige Departement hat (1885) 24,408 Einw.

Traille (franz., spr. traj), Fähre, fliegendeBrücke. Bisweilen fälschlich für Tralje (s. d.).

Train (franz., spr. träng), das Fuhrwesen der Heere,welches diesen Bedürfnisse jeder Art nachzuführen hat, u.zwar nennt man T. sowohl die einem Heer oder einer einzelnen Truppefolgenden Fahrzeuge (T. eines Bataillons etc.) mit denzugehörigen Leuten (Trainsoldaten) und Pferden als auch diebesondere Truppengattung. Hiernach unterscheidet man Verpflegungs-,Sanitäts-, Administrations-, Feldbrücken- undBelagerungstrains. Die beiden erstern, mit der Truppe in engsterVerbindung stehend, sind zur Erhaltung der Schlagfertigkeitderselben von höchster Bedeutung, müssen daher einegrößere Bewegungsfähigkeit zur Anpassung an dieOperationen der kämpfenden Truppen besitzen und werden deshalbauch von den Trainbataillonen als Truppenteile formiert. InDeutschland hat jedes Trainbataillon (also pro Armeekorps) 5Proviantkolonnen, 1 Feldbäckereikolonne, ein Pferdedepot, 3Sanitätsdetachements und 5 Fuhrparkskolonnen bei derMobilmachung zu formieren, für welche das Material im Friedenbei den Traindepots bereit gehalten und verwaltet wird. DieAdministrations-, Feldbrücken- und Belagerungstrains sind imallgemeinen nur Transporttrains, erstere gehören zu den vonden Armeekorps beider Mobilmachung aufzustellenden Branchen undzwar zu den Intendanturen, der Korpskriegskasse, dem Haupt-, 4Feldproviantämtern, 12 Feldlazaretten, dem Feldpostamt, 4Feldpostexpeditionen. Jedes mobile Pionierbataillon formiert einKorps- und 2 Divisionsbrückentrains. Außerdem werden vonden Pionieren die Pionier-, von der Fußartillerie dieArtilleriebelagerungstrains aufgestellt, letztern sind dieMunitions- Fuhrparkskolonnen beigegeben. Während der T. beiden Römern, namentlich seit Cäsar, auf das besteausgerüstet und geschult wurde, blieb er in Deutschland,dessen Heeresverfassung entsprechend, ein ungeheurer Troß vonFahrzeugen (bei einem Heer von 20,000 Mann oft 8000-10,000),geführt von nicht militärischen Troßknechten undbegleitet von zahllosen Dirnen, Troßbuben und Gesindel allerArt. Der Große Kurfürst verbesserte zwar dasArmeefuhrwesen, doch blieb die militärische Organisationdesselben Friedrich d. Gr. vorbehalten, welcher auch dieBezeichnung T. einführte. 1778 gehörten zu einer Armeevon 30,000 Mann 6 Proviantkolonnen, eine Feldbäckerei, einFeldlazarett, eine Feldapotheke und der T. für die Beamten.Der T. als Friedensformation (ein Stamm) trat erst 1853 ins Leben,welcher 1856 vergrößert und 1859 die Organisationerhielt, welche die Grundlage der jetzigen bildet. Vgl.Schäffer, Das deutsche Heerfuhrwesen (Berl. 1881); Derselbe,Der Kriegstrain des deutschen Heers (das. 1883); Kiesling,Geschichte der Organisation des Trains der königlichpreußischen Armee (das. 1889).

Trainieren (engl., spr. treh-), in die Länge ziehen,abrichten, einüben; die Vorbereitung zu einer hervorragendkörperlichen Leistung, besonders bei Pferden Vorbereitung zumWettrennen (training), welche in besondern Anstalten(Trainieranstalten) und von speziell für diese Kunstausgebildeten Leuten (Trainer) geleitet wird, beruht auf einermethodischen Ausbildung der Muskelkraft bei sehr intensiver, abernicht fett machender Ernährung. Die Füllen werden schonim Alter von 18-20 Monaten angeritten oder eingebrochen (break);sie erhalten anfangs Belegung im Schritt und Trab, später imlangsamen und raschen Galopp, am besten unter Leitung einesältern Pferdes, des Führpferdes. ÜberflüssigesFett der Pferde sucht man, soweit dieses nicht durch die Arbeitmöglich ist, durch das Verabreichen von Abführpillen(Physic) und durch Schwitzen unter Decken zu entfernen. Das Gewichtdes Reiters darf für junge Pferde nicht zu groß sein,deshalb werden nur Knaben oder sehr leichte Männer zu Reiternin den Trainierställen verwendet. Als Futter benutzt man Hafervon möglichst schwerer Qualität mit Zusatz vonBohnenschrot für Rennpferde und vermeidet möglichstalles, was Volumen oder Fett erzeugt. Vgl. die Schriften von DigbyCollins (Lond. 1865), Hochwächter (3. Aufl., Neuw. 1867), v.Heydebrand (2. Aufl., Leipz. 1882), Silberer und Ernst (Wien 1883)und Graf Wrangel (Stuttg. 1889).

Traisen, rechter Nebenfluß der Donau inNiederösterreich, berührt St. Pölten und mündetunterhalb des Fleckens Traismauer; 80 km lang.

Trait (franz., spr. trä), Gesichts-,Charakterzug.

Traité (franz., spr. träté), s. v. w.Traktat (s. d.).

Traiteur (franz., spr. trätör), Speisewirt.

Trajanspforte, s. Roterturmpaß.

Trajanssäule (Columna Trajana), die dorischeEhrensäule Trajans auf dessen Prachtforum in Rom, einerSchöpfung des Architekten Apollodoros von Damaskus. Siebefindet sich noch an ihrer ursprünglichen Stelle, zur Seiteder Reste der Basilica Ulpia, kolossaler, jetzt wiederaufgerichteter Granitsäulen. Ihre Erbauung fällt in dasJahr 113 n. Chr. Sie mißt mit dem 5 m hohen Postament 39 m;der untere Durchmesser beträgt 4 m, der obere 3,3 m.Zusammengesetzt ist sie aus 34 Blöcken weißen Marmors,wovon 23 auf den Schaft kommen; dieser ist mit spiralförmig umdie Säule sich windenden Reliefs bedeckt, welche dieFeldzüge des Kaisers gegen die Dacier darstellen und 2500menschliche Figuren von 60-75 cm Höhe enthalten. Dasvierseitige Piedestal, zugleich das Grabmal für die Aschenurnedes Kaisers, ist mit Trophäen geschmückt und trägtdie Weihinschrift. Die Stelle der kolossalen Statue des Kaisersnimmt seit 1587 die des Apostels Petrus ein. Eine Schneckentreppevon 184 in die Marmorblöcke eingehauenen Stufen führt imInnern bis auf die Plattform. Vgl. Fröhner, La colonne Trajane(Par. 1871-74, 220 Tafeln).

Trajanswall, eine von den Römern herrührendeBefestigungslinie in der Dobrudscha (Mösien), welche sich inzwei-, auch dreifacher Wiederholung von der Donau zwischen Rassowaund Tschernawoda 48 km östlich bis Constanza (s. d.) amSchwarzen Meer erstreckt, aus einem 2,5-3 m, an manchen Stellen 5,8m hohen Erdwall besteht und im Krieg von 1854 eine gewissegBedeutung hatte.

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Trajanus - Traktieren.

Trajanus, Marcus Ulpius T., nach der Adoption durch Nervain der Regel Nerva T. genannt, röm. Kaiser, geborenwahrscheinlich 56 n. Chr. zu Italica (in der Nähe des heutigenSevilla) in Spanien, war 91 Konsul und kommandierte 97 die Legionenam Niederrhein, als er von Nerva adoptiert und zum Mitregentenerklärt wurde. Im J. 98 durch Nervas Tod zur Herrschaftgelangt, war er während seiner ganzen Regierungunablässig bemüht, die Wohlfahrt und den Glanz des Reichszu erhöhen. Wie groß seine Sorgfalt für dieVerwaltung des Reichs, seine Milde, seine Einsicht und seineGerechtigkeit waren, geht am deutlichsten aus dem Briefwechsel mitdem jüngern Plinius hervor, als dieser 111-113 in besondermAuftrag die Verwaltung von Bithynien führte; nur den Christengegenüber, die er mit Strenge verfolgt wissen wollte, da er inihrer Ausbreitung eine Gefahr für das Reich sah, kann mandiese Milde vermissen. Zu seinen wohlthätigen Einrichtungengehören namentlich auch die Anstalten, die er in Rom und inItalien für die Erziehung mittelloser Kinder durch dieVerwilligung reicher Mittel und die Bestellung geeigneterAufsichtsbehörden traf. Eine besondere Hervorhebung verdienenunter seinen Friedenswerken noch die großartigen Bauten, dieauf seine Veranlassung ausgeführt wurden, namentlich der Bauder Brücke, die 104 über die Donau unterhalb derStromschnellen derselben geschlagen wurde, die Herstellung einesneuen nach ihm benannten Forums, die Errichtung der noch jetztvorhandenen, 39 m hohen, mit den Reliefs von Kriegsszenen aus dendacischen Kriegen gezierten Trajanssäule, die Erweiterung desCircus Maximus, der Bau eines Odeums, eines Gymnasiums in Rom undviele andre Bauten. Seine friedliche Thätigkeit wurde zuerstdurch die beiden dacischen Kriege, 101-102 und 105-106,unterbrochen, durch die der dacische König Decebalusvöllig besiegt und Dacien zur römischen Provinz gemachtwurde. Hierauf unternahm T. 113 noch einen großen Feldzugnach dem Osten, der hauptsächlich gegen die Parther gerichtetwar, und auf dem er Armenien und Mesopotamien zu römischenProvinzen machte und über den Tigris bis nach Ktesiphonvordrang. Während er aber im fernen Osten weilte, erhoben sichin seinem Rücken mehrfache Aufstände, namentlich auchunter den Juden in Ägypten und Kyrene, und ehe er dieselbenvöllig unterdrücken konnte, wurde er 117 zu Selinus inKilikien vom Tod ereilt. Wie sehr seine Verdienste anerkanntwurden, geht auch daraus hervor, daß ihm der Senat denBeinamen des Besten (Optimus) beilegte und spätere Kaiser mitdem Zuruf begrüßt wurden: "Sei glücklicher alsAugustus und besser als T." Vgl. Francke, Zur Geschichte Trajans(2. Ausg., Quedlinb.1840); Dierauer, Beiträge zu einerkritischen Geschichte Trajans (Leipz. 1868); de La Berge, Essai surle règne de Trajan (Par. 1877).

Rrajectum, lat. Name für Utrecht.

Trajekt (lat.), Überfahrt (von Ufer zu Ufer);Trajektschiff, s. Dampfschiff, S. 485.

Trajektorie (neulat.), in der Geometrie eine ebene krummeLinie, die alle einzelnen Kurven eines gegebenen Systems unterdemselben Winkel schneidet; so ist z. B. für alle Ellipsen,welche dieselben Brennpunkte haben, eine beliebige Hyperbel mitdenselben Brennpunkten die orthogonale T., d. h. sie schneidet allediese Ellipsen rechtwinkelig. In der Mechanik ist T. die Bahn einesunter dem Einfluß einer Kraft sich bewegenden Punktes, z. B.die Bahn eines schräg in die Höhe geworfenen Körpers(Wurflinie).

Trakasserie (franz.), Plackerei, Stänkerei.

Trakehnen, Dorf im preuß. RegierungsbezirkGumbinnen, Kreis Stallupönen, 5 km vom Bahnhof T. an der LinieSeepothen-Eydtkuhnen der Preußischen Staatsbahn, hat einkönigliches Hauptgestüt (1732 von Friedrich Wilhelm I.gegründet), zu dem 12 Vorwerke gehören, mit einem Arealvon 4151 Hektar und 1070-1250 Pferden, eine Ziegelei und (1885)1837 Einw. Vgl. Frenzel, Über Landespferdezucht imRegierungsbezirk Gumbinnen (Berl. 1875).

Trakehner, Pferdestamm, s. Pferd, S. 948.

Trakt (lat.), Zug, Ausdehnung in die Länge, z. B.Eisenbahntrakt; Strecke Landes; katholischer Festgesang nach demGraduale, bestehend aus einigen Schriftversen ohne Hallelujah (sogenannt von der langsamen, gedehnten Sangweise, in der erfrüher vorgetragen wurde).

Traktabel (lat.), fügsam; umgänglich.

Traktament (mittellat.), Behandlung, Behandlungsweise;Bewirtung, Gastmahl; Löhnung, Sold.

Traktarianer, s. v. w. Puseyiten, s. Pusey.

Traktat (lat.), Unterhandlung wegen einesabzuschließenden Vertrags; auch der Vertrag selbst; sodannAbhandlung über einen Gegenstand, insbesondere Bezeichnungfür kleine im Sinn einer bestimmten religiösen Richtunggeschriebene Flugschriften (Traktätchen). BesondereTraktatengesellschaften hat die sogen. Innere Mission (s. d.) insLeben gerufen.

Traktatshäfen (Vertragshäfen), die in China demVerkehr mit dem Ausland durch besondere Abmachungen geöffnetenHäfen. Bis 1842 war den Fremden nur Kanton und auch dies nurunter Beschränkungen und ohne sichere Gewährleistunggeöffnet. Durch den am 29. Aug. 1842 abgeschlossenen Vertragwurden aber außer Kanton noch die Häfen Amoy, Futschou,Ningpo und Schanghai dem britischen Handel geöffnet. Durch denFriedensschluß von Tiëntsin (1860) und später kamenSwatau, Taiwan, Takao, Tamsui, Kelung, Tschinkiang, Kiukiang,Hankeou, Tschifu, Niutschuang, Tiëntsin, Kiungtschau,Itschang, Wuhu, Wentschou und Pakhoi hinzu. Außer mit Englandund Frankreich schloß China einen Vertrag mit Preußenzu Tiëntsin 2. Sept. 1861, der für alleZollvereinsstaaten Gültigkeit hatte und mit der Gründungdes Deutschen Reichs auf dieses überging. ÄhnlicheVerträge wurden 1862 mit Spanien, Portugal und Belgien, 1863mit Dänemark geschlossen. Gegenwärtig stehen die obengenannten T. allen Nationen offen. Der Handelsverkehr in denselbenbezifferte sich 1887 auf 190,3 Mill. Haikuan Tael (Einfuhr 104,4,Ausfuhr 85,9 Mill. Haikuan Tael), wovon auf Schanghai allein nichtweniger als 96,2 Mill. Haikuan Tael entfallen. Den Hauptanteil(über zwei Drittel) vermitteln Großbritannien undHongkong. In diesen Häfen verkehrten 28,244 Schiffe von21,755,760 Ton. (davon 23,262 Dampfer von 20,619,615 T.). Auf dieenglische Flagge entfielen 14, auf die chinesische 5,4 Mill. T. Inden T. bestanden 1885: 396 fremde Firmen (233 englische, 57deutsche, 27 amerikanische, 23 französische, 24 japanische, 15russische etc.) und lebten 6698 Fremde (2534 Briten, 761Amerikaner, 638 Deutsche, 443 Franzosen, 747 Japaner etc.). In denHäfen von Niuts, Tiëntsin, Tschifu, Hankeou, Kiukiang,Wuhu, Tschinkiang, Schanghai, Ningpo, Futschou, Tamsui, Amoy,Swatau, Kanton und Pakhoi bestehen Zolldirektionen mitEuropäern als Vorständen, welche sämtlich demGeneralzollinspektor (Sir Robert Hart) in Peking unterstehtsind.

Traktieren (lat.), behandeln; ein Gastmahl geben,bewirten; auch s. v. w. unterhandeln.

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Traktorie - Transbaikalien.

Traktorie (neulat., Zuglinie), eine ebene Kurve, beiwelcher alle Tangenten vom Berührungspunkt bis zumSchnittpunkt mit einer gegebenen geraden oder krummen Linie, derDirektrix, gleich lang sind. Die einfache T. mit geradlinigerDirektrix ist schon von Huygens ("Hugenii Opera varia", Teil 2,Seite 617) untersucht worden.

Traktur (lat.), in der Orgel die innern Teile desRegierwerkes, besonders der Abstrakten.

Tralee (spr. tralih), Hauptstadt der irischen GrafschaftKerry, an der Mündung des Lee in die Traleebai desAtlantischen Ozeans und mit seinem Außenhafen Blennervilledurch einen Schiffskanal verbunden, hat ein Dominikanerseminar,Fischerei (442 Boote), lebhaften Handel und (1881) 9910 Einw.

Tralje (holl.), Gitterstab an Fenstern.

Tralles, Johann Georg, Physiker, geb. 15. Okt. 1763 zuHamburg, studierte seit 1782 in Göttingen, ward 1785 Professorder Mathematik und Physik zu Bern, 1810 Professor der Mathematik inBerlin, starb 19. Nov. 1822 in London. Er erfand das nach ihmbenannte Alkoholometer (s. d.) und schrieb "Untersuchungenüber die spezifischen Gewichte der Mischungen aus Alkohol undWasser" (Leipz. 1812).

Trambahnen, s. v. w. Straßeneisenbahnen.

Trametes Fr., Pilzgattung aus der Unterordnung derHymenomyceten, von der Gattung Polyporus nur darin verschieden,daß die Röhren keine von der Substanz des Hutsverschiedene Schicht bilden, sondern gleichfalls in dieselbeeingesenkt sind, weil letztere zwischen die Röhrenhinabsteigt. Es sind holzbewohnende Schwämme mit stiellosem,halbiertem Hute. T. pini Fr. (Kiefernschwamm), mitpolsterförmigen, 7-14 cm breiten, bis 11 cm dicken, sehrharten, korkig-holzigen, schmutzig braunschwarzen, tief gefurchten,meist dachziegelförmig übereinander wachsenden Hütenmit rötlichgelben Röhren, wächst anKiefernstämmen und verursacht die Rotfäule undRingschäle der Kiefern. Letztere Krankheit zeigt sich an denobern Stammteilen und stärkern Ästen und besteht darin,daß das dunkler gefärbte Kernholz mürbe wird undringförmige Zonen von weißen Flecken bekommt, welche ausdem Pilzmycelium bestehen, dessen Fäden die Holzzellen nachund nach verzehren. Nur an alten Aststümpfen bildet der Pilzdie oft über 50 Jahre alt werdenden Fruchtkörper. DieInfektion des Baums findet nur von abgebrochenen oderabgesägten Ästen aus und erst bei 40-50jährigenBäumen statt, da der Pilz mit seinem Mycelium nur im Kernholzwuchert.

Tramieren (franz.), anzetteln.

Tramin, Marktflecken in Südtirol,Bezirkshauptmannschaft Bozen, am Abhang des Mendelgebirges, hateine alte Pfarrkirche, berühmten Weinbau und Weinhandel (vonhier stammt die Traminer Rebe), Seidenfilande und (1880) 1798Einw.

Tramontane (ital.), jenseit der Berge, d. h. in Italienvon Norden her wehender Wind, Nordwind; auch s. v. w.Polarstern.

Trampeltier, s. Kamel, S. 420.

Trampoline (it.), Schwungbrett fürKunstspringer.

Tramrecht, s. Balkenrecht und Baurecht.

Tramseide (Trama), s. Seide, S. 825.

Tramway (engl., spr. -ueh), s.Straßeneisenbahnen.

Tramwaylokomotive, s. Lokomotive, S. 890.

Trance (engl., spr. tränns), Verzückung,Entrückung (bei den Spiritisten gebräuchlicherAusdruck).

Trancheekatze (Trancheekavalier), s. Kavalier.

Tranchcen (franz., spr. trangsch-), s.Laufgräben.

Tranchen (franz., spr. trangschen), die "Schnitte" beimTranchieren von Fleisch und Fisch.

Tranchieren (franz., spr. trangsch-), zerschneiden,besonders das Zerlegen der Fleischspeisen (Braten) in einzelneStücke mit dem Tranchiermesser und der zweizinkigenTranchiergabel, am besten auf einer hölzernen Platte. Vgl.Grimod de la Reynière, Manuel des amphitryons (Par. 1808);Bernardi, L'écuyer tranchant (das. 1845); Klein, DieTranchierkunst (2. Aufl., Hildburgh. 1886).

Trani, Stadt in der ital. Provinz Bari, Kreis Barletta,am Adriatischen Meer und an der Eisenbahn Ancona-Brindisi, ist Sitzeines Erzbistums, eines Appellhofs und eines Zivil- undKorrektionstribunals, hat ein Gymnasium, eine technische Schule,ein Seminar, eine schöne Kathedrale (aus dem Anfang des 12.Jahrh., mit großer Unterkirche, einem fünfgeschossigennormannischen Turm und bronzenen Thürflügeln von 1175),alte Basteien, einen stark versandeten Hafen, bedeutenden Handelmit Landesprodukten, starke Fischerei u. (1881) 25,173 Einw. T.hatte im Mittelalter große Bedeutung als Handelsplatz nachdem Orient, verlor dieselbe aber infolge Verschüttung desHafeneinganges durch die Venezianer.

Trankebar (Tarangambadi), kleine Hafenstadt derbritisch-ind. Präsidentschaft Madras, an derKoromandelküste, mit (1881) 6189 Einw., ist jetzt einverfallener Platz, war aber unter dänischer Herrschaft(1616-1845) Hauptort der dänischen Kolonien in Indien; 1845wurde es für 20,000 Pfd. Sterl. an die Britisch-OstindischeKompanie verkauft. In T. wurde 1706 die erste protestantischeMission in Indien angelegt, die noch heute besteht und eine Schuleund Druckerei besitzt; in letzterer werden Werke in Tamil gedruckt.Die Europäer wohnen in dem alten dänischen Fort amStrand.

Tranksteuer, s. v. w. Getränkesteuer (s. d.).

Tranquillität (lat.), Ruhe, Gelassenheit.

Tranquillo (ital., auch Tranquillamente), ruhig.

Trans (lat.), über, jenseit, kommt häufig inZusammensetzungen vor, bei geographischen Namen dem Cisentgegengesetzt.

Transactions (engl., spr. tränsacksch'ns),Abhandlungen, besonders Titel für die periodischenPublikationen der gelehrten Gesellschaften in England.

Transaktion (lat.), Verhandlung; Unterhandlung zurBeilegung von Streitigkeiten; Vergleich, Übereinkunft; auchHandelsunternehmung.

Transalpinisch (lat.), jenseit der Alpen gelegen.

Transanimation (neulat.), Seelenwanderung.

Transatlantisch (lat.), jenseit des Atlantischen Meersgelegen.

Transbaikalien, russ. Gebiet im GeneralgouvernementOstsibirien, zwischen dem Baikalsee, China, der Amurprovinz und demGebiet Jakutsk, 603,228 qkm (10,955 QM.) mit (1885) 530,896 Einw.,zur Hälfte Russen und Sibiriaken, außerdem 122,000Buräten, 5600 Tungusen, 2000 Polen, ferner Chinesen, Juden u.a. Das Land ist vorwiegend gebirgig und wird vom Jablonowoigebirgemitten durchzogen, im NW. breitet sich das große, unwirtlicheWitimplateau aus. Unter den zahlreichen Flüssen sind dienamhaftesten Selenga mit der Uda, Ingoda und Schilka, der Witimbildet die Nordgrenze. Die mittlere Jahrestemperatur schwanktzwischen -1,7° und +4° C., die Niederschläge zwischen300 und 762 mm. Daher ist vielfach künstliche Bewässerungzur Erzeugung von Pflanzenwuchs nötig, und dichter Waldwechselt mit nackten Steppen. Der Ackerbau hat durch dieFörderung der Regierung neuerdings zugenommen, vielbedeutender ist aber die Viehzucht; man zählt 400,000 Pferde,½ Mill. Rinder, 1 Mill. Schafe, in der Steppe

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Transcendent - Transfusion.

dient das Kamel als Lasttier. Fischerei, Bienenzucht und Jagd(Hermelin, Zobel, Wiesel) liefern gute Erträge. Einegroße Bedeutung hat T. durch seinen großenMineralreichtum (1880: 2483 kg); Gold, dann Silber, Blei, Eisen,Kupfer, Graphit, Zinn, Zink, Steinkohlen, Asphalt und Salz werdengefunden, doch ist der frühere großartige Bergbau- undHüttenbetrieb in den letzten Jahren so gesunken, daß vonden ehemaligen sieben Hüttenwerken jetzt nur noch zweibestehen. Die Salzproduktion beträgt 204,000 kg im Jahr. DasLand wird von dem Sibirischen Trakt durchzogen, hat gutePoststraßen, und der Transithandel nach China, derAmurprovinz, Nord- und Westsibirien ist ein bedeutender. Sitz derVerwaltung ist Tschita, Mittelpunkt der MontanindustrieNertschiusk, andre nennenswerte Orte sind Kiachta undWerchne-Udinsk. Vgl. Wenjukow, Die russisch-asiatischen Grenzlande(deutsch, Leipz. 1874).

Transzendént und Transcendental (lat.),wissenschaftltche Kunstausdrücke, die besonders in derMathematik und Philosophie gebräuchlich sind. In derMathematik heißt nach der von Leibniz eingeführtenBezeichnung alles das transcendent, was über die Algebrahinausgeht. Transcendente Operationen sind daher solche, welchenicht zu den als algebraische bezeichneten gehören, z. B. dieErmittelung des Logarithmus einer Zahl, einer trigonometrischenFunktion zu einem Winkel; Logarithmen und trigonometrischeFunktionen heißen deshalb auch transzendente Funktionen. Inder Philosophie heißt transcendental nach der von Kanteingeführten Terminologie alle Erkenntnis, die nicht sowohlmit den Gegenständen selbst als vielmehr mit der Art ihrerErkenntnis sich beschäftigt; transcendent dagegen das, was diedurch die Natur des erkennenden Wesens gegebenen Grenzen derErkenntnis übersteigt und dadurch überschwenglichwird.

Transcendénz (neulat.), im Gegensatz zur Immanenz,welche ein Innewohnen in einem andern (z. B. Gottes in der Welt:Pantheismus) bezeichnet, der Ausdruck des vollkommenen Außer-oder Über einem andern Seins (z. B. des Seins Gottesaußer und über der Welt: Theismus).

Transeat (lat.), es gehe vorüber, weg damit;substantivisch (das T.) s. v. w. Verwerfung (im Gegensatz zuPlacet, s. d.).

Transept (Transsept, lat.), in der Baukunst jeder Querbau(z. B. das Kreuzschiff der großen mittelalterlichen Kirchen),welcher die Längenausdehnung des Gebäudes unterbricht undQuerflügel bildet.

Transeúndo (lat.), im Vorübergehen.

Transeunt (lat., "übergehend") heißt eineWirksamkeit, durch welche das Wirksame über sich hinaus aufein andres übergeht, im Gegensatz zu immanenter Wirksamkeit,bei welcher das Wirksame innerhalb seiner selbst auf sich selbstals andres wirkt.

Transferieren (lat.), übersetzen (aus einer Sprachein die andre); versetzen, verschieben; übertragen,überschreiben (in der Geschäftssprache oft im Sinn voncedieren gebraucht); Transferierung im Staatshaushalt s. v. w.Virement (s. d.).

Transfert (lat.), die Übertragung von Nervenreizen,Schmerzempfindungen, Lähmungen u. dgl. bei somnambulen undhypnotisierten Personen von der einen Körperhälfte aufdie andre (s. auch Metallo-Therapie); im Börsenwesen (engl.transfer) die Übertragung des Eigentums an Renten oder Stocks(Consols) auf einen Dritten unter bestimmten Formen, in Paris indas Livre des mutations, in London in das Transfer book.

Transfiguration (lat.), Verklärung, besondersdiejenige Christi auf dem Berg Tabor (Matth. 17), zu deren Andenkendie griechische und römische Kirche 6. Aug. ein besonderesFest feiern. Berühmt ist Raffaels Gemälde, welches die T.Christi darstellt; andre Darstellungen lieferten Fiesole, Bellini,Perugino und Holbein der ältere.

Transformationstheorie, s. Evolutionstheorie undDeszendenztheorie.

Transformatoren (sekundäre Generatoren,Sekundärinduktoren), Induktionsrollen zur Umwandlunghochgespannter Wechselströme in solche von geringererSpannung, aber größerer Stromstärke, wobei durchpassende Wahl der Widerstandsverhältnisse und Windungszahlenbeider Spiralen die Spannung in den sekundären Kreisen demBedürfnis angepaßt werden kann. Sie finden in derelektrischen Beleuchtung Anwendung, um die Kosten derLeitungsanlage zu verringern, da die hochgespannten Ströme desprimären Kreises auf verhältnismäßigdünnen Drähten fortgeleitet werden können, undermöglichen die gleichzeitige Speisung von Bogen- undGlühlampen aus derselben Stromquelle. Die T. von Gaulard u.Gibbs bestehen aus einer großen Anzahl radial geschlitzterdünner Kupferscheiben, welche durch isolierendeZwischenschichten voneinander getrennt und an vorragendenAnsätzen untereinander dergestalt in leitende Verbindunggebracht sind, daß die Scheiben mit ungeraden Nummern einefortlaufende Spirale, die primäre Spule, bilden. währenddie Scheiben mit geraden Nummern der sekundären Spirale zumehreren, in der Regel zu sechs, nebeneinander geschaltet werdenkönnen. Die säulenförmig übereinandergeschichteten Scheiben sind in der Mitte mit einerkreisförmigen Öffnung versehen und umgeben einen zurVerstärkung der Induktionswirkung dienenden Eisenkern; bei denneuern T. sind zwei Säulen mit in sich geschlossenem Eisenkernzu einem Apparat vereinigt. Die T. von Zipernowsky u. Derienthalten die Kupfer- und Eisenmassen in umgekehrter Anordnung. Umein ringförmiges Bündel, in welchem die isoliertenKupferdrähte der primären und sekundären Spiralevereinigt sind, werden mit Baumwolle umsponnene oder mit einemLacküberzug versehene Eisendrähte in dichten Lagen sogewickelt, daß keine Streuung der magnetischen Kraftlinieneintreten kann und die schädliche Bildung FoucaultscherStröme vermieden wird. In den ähnlich konstruierten T.von Westinghouse kommt ein flach gedrückter Doppelring vonisolierten Drähten zur Anwendung, der mit passendausgeschnittenen Scheiben von Eisenblech umgeben ist. Vgl.Uppenborn, Geschichte der T. (Münch. 1888).

Transformieren (lat.), umbilden, umgestalten; einerFunktion, einer Gleichung etc. eine andre Gestalt und Form geben,ohne ihren Wert zu ändern; daher Transformation,Umgestaltung.

Transfundieren (lat.), hinübergießen.

Transfusion (lat.), Überführung von frischemlebensfähigen Blut eines gesunden Menschen in dasGefäßsystem eines Kranken nach lebensgefährlichemBlutverlust oder nach tiefgreifender Beeinträchtigung derLebensfähigkeit der Blutkörperchen, wie z. B. nachKohlenoxidvergiftung. Die T. wurde zuerst 1667 von Denisausgeführt, geriet aber bald in Mißkredit und wurde vomParlament und vom Papst verboten. Im zweiten und dritten Jahrzehntunsers Jahrhunderts führten sie Blundell, Dieffenbach undMartin wieder in die Praxis ein, und später schufen ihr Panumund Ponfick eine feste wissenschaftliche Basis. Danach

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Transigieren - Translator.

handelt es sich darum, nur solches Blut anzuwenden, dessenBlutkörperchen überhaupt lebensfähig sind, undwelches auch auf dem fremden Boden, auf den es verpflanzt wird,gedeihen kann. Man darf deshalb bei Menschen nur Menschenblut, aberniemals Tierblut benutzen. Man wendet die T. an nach schwerenBlutverlusten bei Entbindungen, Verletzungen, Operationen und beiKohlenoxidvergiftung. Hauptregel ist, die Einführung vonFibringerinnseln und Luftblasen, die plötzlichen Todherbeiführen können, sorgfältig zu vermeiden. ZurAusführung der T. wird einem gesunden, kräftigen Menschenein Aderlaß von 200-250 g gemacht. Das in einem reinen Glasaufgefangene Blut wird gequirlt oder mit einem Stäbchengeschlagen, bis keine Abscheidungen mehr erfolgen, und darauf durchsaubere feine Leinwand filtriert, um die abgeschiedenenFibrinflocken zu entfernen. Durch das Quirlen, resp. Schlagen istdas Blut auch von seiner Kohlensäure befreit undsauerstoffreich gemacht worden. Es ist ziemlich gleichgültig,ob man das Blut weiterhin auf 35° künstlich erwärmtoder bei gewöhnlicher Temperatur stehen läßt.Nunmehr wird bei dem Kranken eine Vene, gewöhnlich eineoberflächliche Armvene, freigelegt und geöffnet. (Diesogen. arterielle T. hat keine besondern Vorteile.) Im Fall einerKohlenoxidvergiftung muß dem Patienten vor der Einspritzungdes neuen Bluts ein adäquates Quantum eignen Bluts entzogenwerden, um einer schädlichen Überfüllung desGefäßsystems vorzubeugen. Handelt es sich um einen Fallvon Blutverlust, so erfolgt die Einspritzung sofort. Das neue Blutwird in eine Spritze aufgesogen und, nachdem die etwa miteingedrungene Luft ausgetrieben, vermittelst einer in dasgeöffnete Venenlumen eingeführten feinen Kanüle indas Gefäß langsam und vorsichtig eingespritzt. Aveling,Landois und Roussel haben Apparate angegeben, um das Blut direktaus der Vene des spendenden Individuums in die des Krankenüberzuleiten. Wird die T. rechtzeitig ausgeführt, undgelingt sie, was immerhin von einer gewissen technischenGewandtheit abhängt, so hebt sich bei dem durch Blutverlustlebensgefährlich geschwächten Kranken der Puls baldwieder, die Leichenblässe des Gesichts schwindet, dasBewußtsein kehrt wieder; der Kohlenoxydvergiftete erwachtallmählich aus seinem tiefen Sopor, wird wiederwillkürlicher Thätigkeiten fähig und geht, wenn auchoft langsam, der Genesung entgegen. Vgl. Gesellius, Die T. desBlutes (Petersb. 1873); Landois, Die T. des Blutes (Leipz. 1875);Berns, Beiträge zur Transfusionslehre (Freiburg 1874); Hasse,Lammbluttransfusion beim Menschen (Petersb. 1874).

Transigieren (lat.), verhandeln, Vergleichsverhandlungenpflegen; transigendo, auf dem Wege gütlichen Vergleichs;transigibel, worüber verhandelt (transigiert) werden kann.

Transit (ital.), s. Durchfuhr.

Transition (lat.), Übergang, Übergehung;transitiv, übergehend; Transitivum, s. Verbum.

Transitlager, s. Zollniederlagen.

Transitorisch (lat.), vorübergehend, nur füreine Übergangszeit geltend; daher Transitorien, im Budget diePosten, welche vorübergehend verwilligt sind und spätervon selbst in Wegfall kommen.

Transitverbot, das Verbot der Durchfuhr fremder Warendurch ein Land (f. Durchfuhr).

Transitwechsel, solche von einem fremden Land auf eindrittes gezogene Wechsel, für welche das Inland nur zurVermittelung dient. Dieselben sind in Deutschland steuerfrei.

Transitzölle, s. v. w. Durchfuhrzölle (s.Durchfuhr und Zölle).

Transkai, Dependenz des brit. Kaplandes an derSüdostküste zwischen dem Großen Kaifluß unddem Bashee, 6565 qkm (119 QM.) groß mit (1885) 119,552 Einw.,worunter nur 820 Weiße.

Transkaspisches Gebiet, Gebietsteil der russ.Statthalterschaft Kaukasien, 1881 aus der transkaspischenMilitärsektion (die Kreise Manyschlak und Krassnowodsk) unddem Gebiet der Tekke-Turkmenen gebildet, grenzt im W. an dasKaspische Meer, im N. an das Gouvernement Uralsk, im O. an dasChanat Chiwa, im S. an Afghanistan und Persien und hat einen Umfangvon 550,629 qkm (9990 QM.) mit (1885) 301,476 Einw. Die Küstedes Kaspischen Meers wird von zahlreichen Buchten zerschnitten. ImN. bilden der Mertwyi-Kultukbusen und die Kaidakbai die HalbinselnBusatschi und Manyschlak, dann folgen die Kinderkibucht, dergroße Busen von Karabuges, die Balkan- und die Hassankulibai.Das Land ist größtenteils Wüste und Steppe; dennördlichen Teil nimmt die wasserlose, felsige Hochebene desUst-Urt, den großen südöstlichen die SandwüsteKarakum ein. Die mittlere Temperatur des Sommers ist 29° C.,während im Winter oft weite Strecken des Kaspischen Meers sichmit Eis bedecken. Regen fällt nur ausnahmsweise, im Winterherrschen in den Wüsten oft furchtbare Schneestürme. DerWassermangel ist groß; von Flüssen sind nur der einenTeil der Südgrenze bildende Atrek zu nennen und im SO. derHerirud und Murghab, die sich beide in der Karakumwüsteverlieren. Wo aber Wasser vorhanden ist, bringt der Boden reicheErnten an Baumwolle, Reis, Mais, Hirse, Melonen, Gurken, auchFruchtbäume (Kirschen, Granaten, Pfirsiche, Aprikosen) findensich an begünstigten Orten, Produkte aus dem Mineralreich sindSalz, Erdöl (allein auf der Insel Tschalcken im Schwarzen Meergewinnt man 115,000 Pud jährlich), Schwefel, Steinkohlen. AlsHaustiere sind besonders hervorzuheben: das Kamel, das Pferd (vonbewundernswerter Leistungsfähigkeit und Genügsamkeit),das Schaf; von wilden Tieren finden sich Tiger, Leoparden, wildeKatzen, Füchse, Wölfe, Schakale, wilde Schweine, auf demUst-Urt wilde Pferde, wilde Esel u. a. Die Bewohner, Turkmenen,sind erst in den letzten Jahren durch die Russen unterworfenworden. Dieselben setzten sich zuerst 1869 am östlichen Uferdes Kaspischen Meers fest, indem sie an der Stelle eineskosakischen Fischerdorfs die Militärstation Krassnowodskgründeten; 1871 nahmen sie Tschikisliar an der Mündungdes Atrek, gaben diese Niederlassung aber bald wieder auf; dochmachte Lazarew diesen Hafenplatz 1878 zum Ausgang seinerunglücklichen Expedition. Skobelew nahm 1881 Gök-Tepe,und damit kam das Tekke-Turkmenengebiet unter russische Herrschaft,1884 unterwarf sich Merw freiwillig; durch Abkommen mit Englandwurde die Grenze gegen Afghanistan geregelt. Die aus Anlaßder Expedition gegen die Tekke-Turkmenen gebaute TranskaspischeEisenbahn, welche von Michailow über Kisil Arwat, Askabad,Merw nach Tschardschui führt, bietet den Russen einevortreffliche Operationsbasis für weiteres Vorgehen nach S.Hauptort und Sitz der Verwaltung ist Askabad. Vgl. Heyfelder,Transkaspien und seine Eisenbahn (Hannov. 1887).

Transkaukasien, Gebietsteil der russ. StatthalterschaftKaukasien (s. d.).

Transkolation (neulat.), Durchseihung.

Translation (lat.), Übertragung, Verlegung.

Translator, Übersetzer (insbesondere einvereideter

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Transleithanien - Transmontan.

zur Übersetzung von Dokumenten etc.); translatorisch,übertragend.

Transleithanien, s. Leitha.

Translozieren (lat.), an einen andern Ort versetzen;Translokation, Versetzung.

Translunarisch (lat.), jenseit des Mondes.

Transmarin (neulat.), überseeisch.

Transmigration (lat.), Übersiedelung.

Transmission (lat.), Übersendung; im Erbrecht dieÜbertragung einer angefallenen, aber von dem Erben noch nichtangetretenen Erbschaft auf die Erben dieses Erben (successio indelationem); in der Technik eine Vorrichtung zur Übertragungvon Kraft (Energie) von einem Motor auf eine Arbeitsmaschine oderauch von einer Kraftquelle auf einen Motor. Kraft kann aufverschiedene Weise und durch verschiedene Mittel übertragenwerden, von denen einige eine Kraftübertragung auf weiteEntfernungen gestatten während andre nur auf kurzeEntfernungen hin Kraft abzugeben geeignet sind. Folgende Arten derT. sind in Gebrauch: 1) T. aus festen (starren oder biegsamen)Körpern: a) Wellenleitungen (mit Riementrieben,Hanfseiltrieben, Zahnrädern, Kurbeln, Exzentriks, Stangenetc.) können zur Kraftübertragung auf großeEntfernungen nicht benutzt werden, weil die Kraftverluste durchReibung mit der Entfernung so stark wachsen, daß etwa auf2000 m Entfernung die ganze eingeleitete Kraft durch Reibungaufgezehrt wtrd, also die übertragene Kraft = 0 ist. Dagegensind sie zur Verteilung der Kraft der Motoren auf die einzelnenArbeitsmaschinen innerhalb der Fabriken u. Werkstätten fastausschließlich in Anwendung (T. im engern Sinn,Fabriktransmission). b) Gestänge, d. h. lange, aus vielenTeilen zusammengefügte Stangen, welche hin und her bewegtwerden, sind gleichfalls zur Fernleitung von Kraft nicht geeignet,weil sie, vertikal verwendet, zu schwer werden und als horizontaleoder geneigte Gestänge vieler Unterstützungen durchRollen oder schwingende Stangen bedürfen, welche teils dieAnlage kompliziert machen, teils große Reibungsverlusteherbeiführen. Sie finden zur vertikalen Kraftübertragungin Bergwerken als Pumpengestänge und Gestänge der sogen.Fahrkünste Verwendung (in ältern Bergwerken sind auchnoch horizontale Gestange vorhanden). c) Der Drahtseiltrieb (s.Seiltrieb) eignet sich sowohl zur T. innerhalb einer Fabrik alsauch zur Kraftübertragung in die Ferne (von einerKraftstätte nach verschiedenen Fabriken hin bis zu 10,000 m).Seine Verwendbarkeit ist jedoch durch seine tiefherabhängenden Seiltrümmer in den Fällenbeschränkt, wenn diese entweder zu hohe und kostspieligePfeiler für die Leitrollen verlangen oder über belebteGegenden (besonders Städte) hinweggeführt werdenmüßten. Mit den Seiltrieben nahe verwandt sind dieSeilbahnen und die Seilförderungen. d) Die Kettentransmissionkann auf mäßige Entfernungen, wie sie bei Berg- undHüttenwerken zum Materialtransport (horizontale und geneigteKettenförderungen) vorkommen, sehr gut verwendet werden. 2) T.durch Flüssigkeiten (tropfbare oder luftförmige): a)Druckwasser, wie es entweder durch natürliche Gefälleoder durch Druckpumpen erzeugt und in Röhren bis zumVerwendungsort geführt wird, bietet ein vorzüglichesMittel zur Übertragung eines großen Druckes aufbedeutende Entfernungen dar, welches in Verbindung mit einemAkkumulator (s. d.) noch den besondern Vorzug hat, die Arbeit vonverhältnismäßig wenig leistungsfähigen Motoreneine Zeitlang in solcher Menge aufspeichern zu können,daß danach auf kurze Zeit sehr hohe Leistungen hervorgebrachtwerden können. Hieraus erklärt sich die ausgebreiteteVerwendung der hydraulischen T. bei Bahnhofs-, Hafen-,Speicheranlagen, Bessemerwerken etc. zum Betrieb von Aufzügen,Kränen, Schiebebühnen etc. Auch in Bergwerken leistet diehydraulische T. teils als hydraulische Gestänge fürPumpen, teils zum Betrieb unterirdischer Maschinen (Pumpen,Fördermaschinen, Bohrmaschinen) gute Dienste. b) KomprimierteLuft ist als kraftübertragendes Mittel für weiteEntfernungen besonders da zu empfehlen, wo die Luft nach derArbeitsleistung noch eine weitere Verwendung zur Ventilation findenkann, also besonders bei dem Bau von Tunnels und beim Bergbau zumBetrieb von Gesteinsbohrmaschinen. Ein Nachteil derLufttransmission, welcher nicht unbedeutende Arbeitsverluste zurFolge hat, ist der Umstand, daß die Expansionswirkung derLuft in den Arbeitsmaschinen nur in beschränktem Maßangewendet werden kann, weil sonst leicht Eisbildung störendauftritt. c) Verdünnte Luft kann wegen ihres geringennutzbaren Druckes (etwa ¾ Atmosphäre) nur fürmäßige Leistungen und geringe Entfernungen zurVerwendung kommen. Mit Vorteil wird sie bei kontinuierlichenEisenbahnbremsen gebraucht. d) Die Verwendung von gespanntem Dampfzur Kraftübertragung ist in Fabrikanlagen, also aufverhältnismäßig geringe Entfernungen, sehrgebräuchlich, aber auch für weitere Entfernungen bis 1500m anhängig, obwohl dabei ziemlich bedeutendeKondensationsverluste auftreten. Außer bei unterirdischenBergwerksmaschinen werden lange Dampfleitungen in amerikanischenStädten zur Kraftverteilung benutzt, in welch letzterm Fallder Vorteil erreicht wird, daß der Dampf entweder direkt odernach der Wirkung in den Maschinen auch zu Heizzwecken Verwendungfinden kann. e) Leuchtgas ist bezüglich seiner Verwendung zurKrafttransmission wegen seines hohen Preises als ein Notbehelfanzusehen. Voraussichtlich wird jedoch in Zukunft durch billigesHeizgas (Wassergas) ein vorteilhafter Ersatz geschaffen werden. 3)Die Elektrizität erscheint als das Mittel, welches von allenauf die weitesten Entfernungen Kraft übertragen kann. Dennochsind die Entfernungen auch bei ihr nicht unbegrenzt. Auch ist dieElektrizität wegen der an den Maschinen auftretenden Funkennicht überall verwendbar (z. B. in Bergwerken mit schlagendenWettern). Der Gesamtnutzeffekt der wichtigsten Transmissionsartenbeträgt nach Lauriol:

Länge der Transmission in Metern

Art der Transmission

Elektrizität Druckwasser Komprimierte Luft Drahtseil

Nutzeffekt

100 0,647 0,54 0,45 0,96

500 0,646 0,52 0,45 0,93

1000 0,642 0,51 0,45 0,90

5000 0,610 0,47 0,42 0,60

10000 0,570 0,39 0,38 0,36

20000 0,500 0,22 0,35 0,13

Die Kosten der T. sind im allgemeinen nicht anzugeben, da sie inzu hohem Maß und in jedem einzelnen Fall von lokalenVerhältnissen abhängig sind. Vgl. Meißner-Hartmann,Die Kraftübertragung auf weite Entfernungen (Jena 1887);"Anleitung zur Einrichtung von Triebwerken" (Braunschw. 1889).

Transmissionsriemen, s. Treibriemen.

Transmitter (engl., "übersender"), s. v. w.Mikrophonsender.

Transmittieren (lat.), überschicken,übertragen.

Transmontan (lat.), jenseit der Berge, besonders derAlpen, daher s. v. w. ultramontan.

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Transmutation - Transportschraube.

Transmutation (lat.), Umwandlung;Transmutationshypothese, s. Deszendenztheorie.

Transmutieren (lat.), umwandeln; davon transmutabel,veränderlich, umwandelbar.

Transoxanien, Land, s. Bochara, S. 97.

Transpadanische Republik, der von Bonaparte 1796 nach derSchlacht bei Lodi (10. Mai) jenseit des Po (d. h. von Italien aus,also nördlich desselben) aus der österreichischenLombardei nach dem Muster der französischen Republikerrichtete Freistaat, ward schon im Juli 1797 mit derCispadanischen Republik zur Cisalpinischen Republik (s. d.)vereinigt.

Transparént (franz.), durchscheinend,halbdurchsichtig; besonders von Gemälden, Sprüchen etc.auf Papier oder feinem weißen Baumwollenzeug gebraucht, das,mit Öl getränkt, mittels dahinter zweckmäßigangebrachter Erleuchtung in hell glänzenden Farbenerscheint.

Transparénz (lat.), s. Durchsichtigkeit.

Transpiration (neulat.), s. v. w. Hautausdünstung;transpirieren, schwitzen.

Transplantation (lat.), die Überpflanzung vonGeweben auf andre Körperstellen behufs Anheilung. Die T. wirdentweder bei unvollständiger oder bei vollständigerTrennung vom Mutterboden ausgeführt. Im erstern Fallvermittelt ein Stiel, welcher die Blutgefäßeenthält, die vorläufige Ernährung des losgetrenntenGewebstücks, wie bei vielen "plastischen Operationen" (s. d.),z. B. der künstlichen Nasenbildung. Im andern Fall heilen dieTeile auf einem geeigneten Boden ohne weiteres an und werden durchGefäße ernährt, welche sich von dem neuenMutterboden aus in dasselbe entwickeln. Es ist seit alters bekannt,daß ein Hahnensp*rn sich auf einer wund gemachten Stelle desHahnenkammes anheilen läßt, und die Chirurgie hat vondieser Erfahrung den Gebrauch gemacht, Hautstückchen oderHaarwurzeln auf Wundflächen überzupflanzen, um diesedadurch zum Überhäuten zu bringen. Das Verfahren findetbei Unterschenkelgeschwüren ausgebreitete Anwendung. Inneuester Zeit ist sogar die T. ausgeschnittener Nervenstückean Tieren geglückt, ein Erfolg, dessen Verwertung für denMenschen ausgezeichnete Aussichten für die Heilung mancherLähmungen eröffnet.

Nach dem Volksglauben werden auch menschliche Schwächen undKrankheiten auf Tiere und Pflanzen übertragen. Die Judenlegten beim jährlichen Versöhnungsopfer alle Sündendes Volkes auf einen "Sündenbock" und jagten denselben in dieWüste. In ähnlicher Weise wurden die Teufel, welche dieBesessenheit erzeugten, auf Säue übertragen, undähnliche Zeremonien der Sünden- undKrankheitsübertragung findet man noch heute in Sibirien,China, Amerika etc. Bei den Totenfeierlichkeiten der Drawida legtman die Sünden des Verstorbenen und seines ganzen Geschlechtsauf zwei Büffelkälber, die man ebenfalls in dieWüste jagt. Im Mittelalter bildete sich die Lehre von der T.zu einer besondern Heilmethode aus. Man legte kleine Tiere aufGeschwülste u. dgl. und nahm Hunde ins Bett, damit sie den"Krankheitsstoff" oder die als persönliches dämonischesWesen gedachte Krankheit an sich ziehen sollten. Besondersüblich war aber die T. auf Pflanzen und Bäume. So glaubteman Fieber und andre Krankheiten durch bestimmte Zeremonien inhohle Bäume (Holunder) einsperren zu können, indem mandas zu diesem Zwecke gebohrte Loch nachher sorgfältigzupflöckte. Auch konnte die Überweisung durch einenbloßen Spruch geschehen, oder man knüpfte die Krankheitin drei Knoten eines lebenden Weidenzweigs. Besonders üblichwar das Durchkriechen (s. d.) durch zu diesem Zweck gespalteneBäume oder durch die Wurzeln oder durch enge Spaltenmegalithischer Denkmäler, in dem Glauben, daß dadurchdas Siechtum gleichsam von dem Baum etc. abgestreift und behaltenwerde. Im übrigen kam es darauf an, daß die Pflanze,welche die Krankheit übernommen hatte, lebenskräftigblieb, weil sonst ein Rückschlag zu befürchten stand,weshalb man vielfach die sehr zählebige Fetthenne (SedumTelephium) hierzu wählte. Der Kranke mußte sie mit einemSpruch ausreißen und dann zwischen seinen Beinen wiedereinpflanzen.

Transponieren (lat.), an eine andre Stelle versetzen; inder Mathematik: die Glieder einer Gleichung von der einen Seite mitentgegengesetzten Zeichen auf die andre bringen; in der Musik: einTonstück mit strenger Beibehaltung aller Tonverhältnisseaus einer Tonart in eine andre übertragen.

Transponierende Instrumente, solche Blasinstrumente,für welche diejenige Tonart als C dur (ohne Vorzeichen)notiert wird, welche ihrer Naturskala (Obertonreihe) entspricht. T.I. sind die Hörner, Trompeten und Klarinetten unsersOrchesters. Auf einem Horn in D klingt der als c'' notierte Ton wied', auf einer B-Klarinette dasselbe c'' wie b'. Das Umstimmeneinzelner oder aller Saiten der Violine (meist um einen Halbtonnach oben), welches einige Violinvirtuosen angewendet haben (diesogen. Scordatura), verwandelt die Violine ganz oder teilweise inein transponierendes Instrument.

Transpórt (lat.), die Fortschaffung,Wegführung von Dingen von einem Ort zum andern; in derBuchhaltung s. v. w. Übertrag (Vortrag) der Summe einer Seiteauf die andre.

Transportausweis, der amtlich ausgestellte Schein,welcher Ausweis über auf dem Transport befindliche und einerbesondern Steuer- oder Zollkontrolle unterstellte Waren gibt (vgl.Passierzettel).

Transporteur (franz., spr. -tör), ein mitGradeinteilung versehener (quadrierter) Viertel-, Halb- oderVollkreis von Metall, Papier, oft durchsichtig von Horn oder Glas,zum Nachmessen und Ablesen oder Auftragen von Winkelgraden beimgeometrischen Zeichnen, auch Hilfsinstrument bei dertopographischen Aufnahme mit der Bussole; oft auch wohl mit einemSystem von Linealen verbunden, durch deren Öffnunggleichzeitig der am Gradbogen ablesbare Winkel graphisch auftragbargegeben wird.

Transporthäuser dienen in Österreich zumvorübergehenden Aufenthalt für Mannschaften aufReisen von und zu ihren Truppenteilen. Die Garnison- und im Kriegauch die Feldtransporthäuser stehen unter eigner Verwaltung,während die Truppentransporthäuser von den betreffendenTruppen verwaltet werden.

Transportpapier, s. Warenpapier.

Transportschiffe, Schiffe einer Kriegsmarine, welchebestimmt sind, Truppen und Kriegsmaterial über See zutransportieren. Seemächte mit vielen und wichtigen Kolonienbedürfen derselben am meisten; gegebenen Falls werdengeeignete Handelsdampfer, die bereits in Friedenszeiten zu demZweck designiert sind, als solche requiriert.

Transportschraube, in horizontaler oder wenig geneigterLage in einen Kasten eingeschlossene Schraube mit steilenSchraubenflächen aus Eisen- oder Zinkblech, welche die Wanddes entsprechend geformten Kastens nahezu berühren. Der Kastenbesitzt an beiden Enden eine Öffnung, und die durch eineRiemenscheibe in langsame Rotation versetzte Schraube

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Transportsteuern - Trapa.

bewegt sich in der Richtung, daß das durch die eineÖffnung eingeführte Material allmählich ans andreEnde des Kastens befördert wird. Die T. wird namentlich inMühlen zum Transportieren von Getreide, Mehl und Grieß,in Pulver- und Ölmühlen, Aufbereitungsanstalten etc.angewandt, um das Material von einer Maschine zur andern zuführen.

Transportsteuern (Transportverkehrsteuern), Abgaben,welche in Gebührenform (Konzessionsgebühr,Stempelabgaben, Tonnengelder etc.) als echte Gewerbesteuer (s. d.)oder als Aufwandsteuer in Form von Zuschlägen zumTransportpreis erhoben werden. Vgl. Eisenbahnsteuer.

Transportversicherung soll dem Versicherten Ersatz bietenfür den Verlust oder Schaden, welchen der versicherteGegenstand auf dem Transport erleidet. Man unterscheidet See-,Fluß- (Strom-) und Landtransportversicherung. DieSeetransportversicherung ist die wichtigste der drei und zugleichdiejenige Versicherungsart, welche zuerst rationeller ausgebildetund (in Italien bereits im 14. Jahrh.) gesetzlich geregelt wordenist. Auch die neuere Gesetzgebung, so das deutscheHandelsgesetzbuch (Artikel 782-905), wandte ihr eine eingehendeAufmerksamkeit zu. Die Seeversicherung hat vorzüglich deswegenmit großen Schwierigkeiten zu kämpfen, weil beivorkommenden Unfällen ein Nachweis der Verschuldung schweroder überhaupt nicht zu erbringen ist und die Gefahr, nachwelcher die Prämie sich zu richten hat, nicht allein vonNaturereignissen und von der Route, sondern auch von der Ladung(Art, Menge), Bemannung (Zahl, Brauchbarkeit), von derSeetüchtigkeit der Schiffe etc. abhängig ist. Überdie letztern werden unter andern vom Germanischen Lloyd in Hamburg,vom Büreau Veritas in Paris eigne Register (Lloydregister)geführt. Die meisten Gesellschaften, welche dieSeetransportversicherung betreiben, befassen sichausschließlich mit diesem Versicherungszweig und habennaturgemäß ihren Sitz in den großenSeeplätzen; in Hamburg, wo allein 14 Gesellschaften mit einerAnzahl Einzelversicherer und auswärtiger Anstalten einenVersicherungsbestand von etwa 2000 Mill. Mk. haben, Bremen,Stettin, Danzig etc. befindet sich eine große Anzahlderartiger Institute. Es gibt indes auchTransportversicherungsanstalten, welche neben der Seeversicherungnoch andre Zweige der T., und ebenso allgemeineTransportversicherungsgesellschaften, welche auch andre Zweige derVersicherung, namentlich die Feuerversicherung, betreiben.Allgemeine deutsche Transportgesellschaften gibt es in Deutschlandüber 30; von ihnen sind der Rheinisch-Westfälische Lloyd,die Vaterländische, die Transatlantische, die DresdenerAllgemeine, die Düsseldorfer Allgemeine, die BerlinerDeutsche, der Deutsche Lloyd, die Niederrheinische und dieAachen-Leipziger die bedeutendsten. An der Ostseeküste habensich viele Vereine (Kompakten) zu gegenseitiger Versicherung derSchiffe auf Küstenfahrten gebildet (vgl. Seeversicherung). DerSeeversicherung wird gewöhnlich die Versicherung vonTransportmitteln, Güter- und Wertsendungen auf dem Transportzu Land (auf der Achse, Eisenbahn) und auf Flüssen als T. imengern Sinn gegenübergestellt. Eine hohe Bedeutung hat heutedie Eisenbahnversicherung gewonnen. Eine besondere Art derselbenist die Lieferfristversicherung, d. h. die Versicherungrechtzeitiger Ankunft aufgegebener Güter am Ablieferungsort(vgl. Lieferungszeit). Der Umstand, daß die Post fürVerlust deklarierter Wertsendungen nicht immer genügendenErsatz leistet, gab Veranlassung zur Entstehung der Valoren-(Wert-) Versicherung, d. h. der Versicherung von Geld- undsonstigen Wertsendungen gegen die Gefahren des Transports. Dieselbeist nur zulässig bis zur Höhe des Wertes der Sendung. Sieerfolgt oft auf Grund einer ausgestellten Generalpolice, indemjeweilig der Versicherungsgesellschaft über aufgegebeneSendungen Mitteilung gemacht wird. Auch die deutschen Postanstaltenerheben für solche deklarierte Sendungen Portozuschläge,welche sie als Versicherungsgebühren bezeichnen; doch istdieser Ausdruck nur insoweit zutreffend, als die Post etwaüber ihre allgemeine Haftpflicht als einer Transportanstalthinausgehende Haftverbindlichkeiten gegen eine dann ungenau"Gebühr" genannte Prämie erhebt.

Transposition (lat.), Versetzung, Umsetzung (vgl.Transponieren).

Transrhenanisch (lat.), jenseit des Rheins.

Transsept, s. Transept.

Transkribieren (lat.), schreibend übertragen,umschreiben. Transskription, Umschreibung; in der Musik imUnterschied von Arrangement (s. d.) Übertragung einesTonstücks, z. B. eines Gesangstücks, auf Klavier oder einandres Instrument, meist mit ausschmückenden Zuthaten odersonstigen durch die Natur des gewählten Instruments bedingtenVeränderungen versehen.

Transskriptionsbücher, s. Grundbücher.

Transsubstantiation (neulat., griech. Metusiosis),scholast. Kunstausdruck für die kraft der Konsekration (s. d.)bewirkte Verwandlung der Substanz des Brotes und Weines in dieSubstanz des Leibes und Blutes Christi, welche den Kern derrömisch- wie griechisch-katholischen Lehre vom Abendmahl (s.d.) im Gegensatz zu den protestantischen Konfessionen bildet.

Transsudate (lat.), s. Absonderung (3), S. 60.

Transsylvania, s. Siebenbürgen, S. 943.

Transsylvanische Allpen, s. Karpathen,S. 558.

Transvaal, s. Südafrikanische Republik.

Transversale (lat.), im allgemeinen s. v. w.Schnittlinie, auch Schnittfläche (s. Durchschnitt).

Trap, Jens Peter, dän. Historiker und Statistiker,geb. 19. Sept. 1810 zu Randers, wurde, nachdem er in KopenhagenRechtswissenschaft studiert und nebenbei den schönenWissenschaften obgelegen, 1834 im Kabinettssekretariat angestellt,1851 Chef desselben und Kabinettssekretär bei Friedrich VII.,welchen Posten er auch seit der Thronbesteigung Christians IX.innehatte. 1859 wurde er zum Geheimen Etatsrat und später zumOrdenssekretär ernannt. Er starb 21. Jan. 1885. Seit 1842 gaber das dänische Staatshandbuch ("Konglik dansk Hof-ogStatskalender") heraus, das er zu einem Musterbuch in seiner Artgestaltete. Sein Hauptwerk ist die "Statistisk-topographiskBeskrivelse af Kongeriget Danmark" (2. Aufl., Kopenhagen 1870-80, 6Bde.), aus welcher der Teil über Kopenhagen auch besonderserschienen ist (1880).

Trapa L. (Wassernuß), Gattung aus der Familie derOnagraceen, einjährige, schwimmende Wasserpflanzen, derenuntergetauchte Blätter gegenständig, linealisch,hinfällig sind, während die schwimmenden eine Rosettebilden, in der Mitte aufgeblasene Blattstiele und eine lederige,rhombische, ungleich buchtig gezahnte Spreite besitzen. DieBlüten stehen einzeln achselständig, und die bleibendenKelchblätter wachsen zu dornartigen Hörnern an dereinsamigen, am bleibenden Diskus gekrönten Nuß aus. T.natans L. (Wasserkastanie, Jesuitennuß), in Seen und Teichendurch ganz Europa und Asien, doch überall selten, hatweiße Blüten und eine vierstachlige Frucht

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd.

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Trapani - Trapp.

von der Größe einer Haselnuß, deren Kern rohund gekocht gegessen, auch zu Brot verbacken und als Schweinefutterbenutzt wird, weshalb man die Pflanze hier und da kultiviert. Manbenutzt die Früchte auch zu Halsketten etc. T. bicornis L.,wird in China gegefsen, T. bispinosa Roxb. in Indien, beide werdenkultiviert. Vgl. Jäggi, Die Wassernuß und der Tribulusder Alten (Zürich 1883).

Trapani, ital. Provinz auf der Insel Sizilien, denäußersten Westen derselben umfassend, 3145, nachStrelbitsky nur 2408 qkm (43,73 QM.) groß mit (1881) 283,977Einw. Sie besteht aus der westlichen, allmählich zur Ebenezwischen Trapani und Marsala hinabsinkenden Abdachung Siziliens undhat nur im NO. höhere Berge (Monte Sparagio 1109 m). Der FiumeSan Bartolommeo zum Golf von Castellammare, der Belice, derFluß von Mazzara und der Birgi sind die namhaftestenWasserläufe. Weizen (1887: 663,009 hl) und Wein (1,044,741hl), dann Oliven (44,887 hl Öl) und Sumach sind dieHaupterzeugnisse des Pflanzenreichs, Korallen und Thunfische desTierreichs, Seesalz an der ganzen Westküste entlang die desMineralreichs. Die Korallen- und Alabasterverarbeitung in T. istsehr zurückgegangen, wogegen sich Weinproduktion, Handel undSchifffahrt stetig entwickeln. Die Provinz zerfällt in dieKreise Alcamo, Mazzara del Vallo und T. - Die gleichnamigeHauptstadt (das antike Drepanon) liegt, von Mauern undFestungswerken umgeben, an der Westküste auf einer weitvorspringenden Landzunge, am Fuß des Monte Giuliano (Eryx),von welchem eine Wasserleitung herführt, am Endpunkt derEisenbahn Palermo-T., hat mehrere mittelalterliche Paläste,viele Kirchen (mit guten Gemälden), einen vortrefflichenHafen, ein Lyceum, Gymnasium, Seminar, eine technische Schule,nautische Vorbereitungsschule, Gemäldegalerie, ein Theater,Schiffbau und (1881) 32,020 Einw. Im Hafen von T., der durch einKastell geschützt und mit einem Leuchtturm versehen ist,liefen 1886: 2325 Schiffe mit 224,626 Ton. ein. Zum großenFischfang und zur Schwammfischerei sind 99 Schiffe mit 1066 T.ausgelaufen. Die Wareneinfuhr belief sich auf 43,950, die Ausfuhr(hauptsächlich Seesalz, dann Wein und Mehl) auf 175,421 T. MitPalermo steht T. in regelmäßiger Dampferverbindung. T.ist Sitz des Präfekten und eines Bischofs, eines Zivil- undKorrektions- sowie eines Handelstribunals, einer Filiale derNationalbank und mehrerer Konsuln (darunter auch einesdeutschen).

Trapez (griech.), ebenes Viereck mit zwei parallelenSeiten (a und b in nebenstehender Figur) und zwei nicht parallelen(c und d); sind letztere gleich lang, so ist das T. symmetrisch.Die Fläche des Trapezes ist gleich der halben Summe derparallelen Seiten, multipliziert mit ihrem senkrechten Abstand oderder Höhe h ^[...]; auch findet man sie durch die Formel^[...]. T. ist auch s. v. w. Schaukel- oder Schwebereck (s. Reck).Trapezoid, ebenes Viereck ohne parallele Seiten.

Trapezius musculus (lat.), Mönchskappenmuskel im Nacken undobern Teil des Rückens.

Trapezkapitäl, das im byzantin. Stil und häufigim deutschen Backsteinbau der spätromanischen Zeit vorkommendeKapitäl, welches aus Kegelabschnitten zwischentrapezförmigen (bisweilen dreieckigen) Seitenflächenbesteht (vgl. nebenstehende Abbildung).

Trapezoëder, s. v. w. Ikositetraeder imen gern Sinn,s. d. und unter Kristall, S. 230.

Trapezoidalkörper, s. v. w. Prismatoid (s. d.).

Trapezúnt (in der Linguafranca Trebisonda,türk. Tarabzon), befestigte Hauptstadt des gleichnamigentürk. Wilajets in Kleinasien, zwischen Bergen am SchwarzenMeer gelegen, ist wegen der vielen Gärten von bedeutendemUmfang, hat enge, unreinliche Straßen, 22 griech. Kirchen, an40 Moscheen und Schulen, ansehnliche Bazare, ein altes verfallenesSchloß, Woll-, Seiden- u. Leinweberei, Gerberei,Färberei, eine Schiffswerfte, Fischerei und 40-50,000 Einw.(Türken, Armenier, Griechen, Perser und einige Europäer).T. ist Sitz eines griechischen Bischofs und infolge seinergünstigen Lage ein Hauptstapel- und Speditionsplatz desHandels zwischen Europa und Vorderasien, dessen Gesamtbetrag aufjährlich 50 Mill. Mk. angegeben wird, trotzdem er durch dieVernachlässigung der Straßen im Innern, dietürkischen Zollplackereien und die Bahn Poti-Tiflis neuerdingssehr gelitten hat. Der Import aus England allein beläuft sichaus durchschnittlich 16 Mill. Mk. jährlich.Regelmäßige Dampfschiffahrt verbindet die Stadt mitKonstantinopel, den Donaumündungen und einigenMittelmeerhäfen, während der Verkehr mit Erzerum, Tebrizund Syrien durch Karawanen vermittelt wird. - Das Wilajet T.,welches früher die ganze Küstenlandschaft am SchwarzenMeer von der Mündung des Kisil Irmak bis über Batumhinaus umfaßte, hat neuerlich bedeutend an Umfang verloren,indem im O. etwa ein Drittel des frühern Sandschaks Batum mitdieser Stadt selbst 1878 an Rußland abgetreten werdenmußte und Ende Dezember 1878 die Kazas Scheiran, KelkitIspir, Tortum und Keskem zum "Sandschak Baiburt" vereinigt und zumWilajet Erzerum geschlagen wurden. Gegenwärtig ist das Wilajetnur ein ca. 520 km langer Küstenstreif mit einem Areal von ca.32,000 qkm und 1,100,000 Einw. - T. (Trapezus), eine griechische,um 700 v. Chr. von Milesiern aus Sinope angelegte Pflanzstadt,erhielt, wiewohl schon im Altertum ein nicht unbedeutender Ort,doch erst im Mittelalter eine größere Wichtigkeit, indemnach der Gründung des lateinischen Kaisertums ein Prinz deskaiserlichen Hauses, Alexios, 1204 im östlichen Kleinasien einkleines Kaisertum errichtete und seinen Sitz in T. nahm. Der Thronvon T. teilte bald das Schicksal des byzantinischen. DavidKomnenos, der letzte Kaiser von T., ward 1461 in seiner Hauptstadtvom türkischen Sultan Mohammed II. belagert und mußtesich, aller Hilfe beraubt, demselben 1461 auf Gnade und Ungnadeergeben. Der Sieger ließ ihn 1462 mit seiner Familie inAdrianopel hinrichten und verleibte das Land dem türkischenReich ein. Vgl. Fallmerayer, Geschichte des Kaisertums zu T.(Münch. 1827).

Trapp, Sammelname, besonders von englischen,amerikanischen und skandinavischen Geologen zur Be-

[Trapez.]

[Trapezoid.]

[Trapezkapitäl.]

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Trapp - Trappisten.

zeichnung jüngern und ältern eruptiven Materials(Dolerit, Melaphyr, Diabas, Diorit etc.) gebraucht.

Trapp, Ernst Christian, philanthrop. Pädagog, geb.8. Nov. 1745 zu Friedrichsruhe bei Drage (Holstein), wirkte nachseinem theologischen Studium als Rektor zu Itzehoe (1773-76),Konrektor zu Altona (bis 1777) und Professor am DessauerPhilanthropin. Durch den Minister v. Zedlitz 1779 als Professor derPädagogik nach Halle berufen, legte er die Professur 1783nieder, um die Campesche Erziehungsanstalt in Trittau zuübernehmen, die er 1786 nach Salzdahlum bei Wolfenbüttelverlegte, wo er 18. April 1818 starb. T. war eifriger Mitarbeiteram Campeschen Revisionswerk (vgl. Campe 1). Unter seinen Schriftenwar ehedem besonders angesehen der "Versuch einer Pädagogik"(Berl. 1780). Vgl. Andreae, Die Pädagogik Trapps (Kaisersl.1883, Programm); Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts(Leipz. 1885).

Trappe (Otis L.), Gattung aus der Ordnung derStelzvögel und der Familie der Trappen (Otididae), großeoder mittelgroße, schwere Vögel mit mittellangem, dickemHals, ziemlich großem Kopf, mittellangem, kräftigem, ander Wurzel niedergedrücktem, übrigens kegelförmigem,vorn am Oberkiefer etwas gewölbtem Schnabel, großen,sanft muldenförmigen Flügeln, mittellangem, breitabgerundetem Schwanz, mittelhohen, starken Beinen und dreizehigenFüßen. Sie fliegen schwerfällig, leben monogamischin kleinen Trupps und nach der Brutzeit in Herden auf großenEbenen der Alten Welt, am zahlreichsten in den Steppen als Stand-oder Strichvögel, nähren sich von Körnern, Knospenund Blüten, in der Jugend auch von Insekten, und nisten inseichten Mulden. Das Weibchen brütet allein. Der großeT. (Trappgans, Otis tarda L., s. Tafel "Watvögel I"), dergrößte europäische Landvogel, über 1 m lang,2,4 m breit, am Kopf, Hals und dem obern Teil der Flügel hellaschgrau, auf dem Rücken rostgelb, schwarz gebändert, imNacken rostfarbig, unterseits schmutzig weiß, der Schwanzrostrot und vor der weißen Spitze mit schwarzem Bande; dasAuge ist braun, der Schnabel schwarz, der Fuß grau. DasMännchen ist durch etwa 30 lange, zerschlissene,grauweiße Kehlfedern ausgezeichnet, das Weibchen blässergefärbt und um ein Drittel kleiner. Der Großtrappe lebttruppweise in den größern Ebenen Mittel- undSüdeuropas und Mittelasiens, besonders in Ungarn,Rumänien, Südrußland und Asien, ist dagegen inDeutschland ziemlich selten geworden. Hier lebt er als Standvogel,in Rußland und Asien wandert oder streicht er. Er bevorzugtgetreidereiche, weite Ebenen und meidet den Busch und menschlicheWohnungen. Sein Gang ist langsam und gemessen, doch läuft erauch sehr schnell und fliegt sehr ausdauernd. Er frißt amliebsten Kraut und Kohl, im Winter Raps und Getreide. Zur Brutzeitpaaren sich die Trappen, doch scheint der Hahn noch ein zweitesWeibchen zu suchen, so bald das erste brütet. Er nistet gernim Getreide, und das Gelege besteht aus zwei, selten vier mattgraugrünen, dunkel gefleckten und gewässerten Eiern (s.Tafel "Eier II"), welche in etwa 30 Tagen ausgebrütet werden.Jung eingefangene oder von Putern ausgebrütete Trappen haltensich recht gut, schreiten aber nicht zur Fortpflanzung; alteingefangene gehen zu Grunde. Der T. gehört zur hohen Jagd; wodiese Vögel in Menge vorkommen, richten sie auf den Getreide-und Rapsfeldern oft beträchtlichen Schaden an. Das Fleisch derJungen ist schmackhaft. Der Zwergtrappe (O. tetrax L.), 50 cm langund 95 cm breit, mit seitlich etwas verlängerten Oberhals- undHinterkopffedern, am Halse schwarz, mit einem von den Ohren nachder Kehle herablaufenden weißen Ringband und einem breiten,über den Kropf sich hinziehenden weißen Querbandgezeichnet; der Oberkopf ist hellgelblich, braun gefleckt, derRücken hell rötlichgelb, in die Quere schwarz geflecktund gewellt; die Flügelränder, die Schwanzdeckfedern unddie Unterseite sind weiß, die Schwingen dunkelbraun, diehinterste bis auf ein breites Band vor der Spitze weiß, dieSchwanzfedern weiß mit zwei Binden; das Auge ist braungelb,der Schnabel grau, an der Spitze schwarz, der Fuß strohgelb.Der Zwergtrappe bewohnt das südöstliche Europa,namentlich Südungarn, Sardinien, die russischen undsibirischen Steppen, auch Südfrankreich und Spanien, Mittel-und Westasien und Nordwestafrika und brütet seit 1870 auch inSchlesien und Thüringen, wo er vom April bis November weilt.Aus seinem Zug berührt er die Atlasländer. In derLebensweise gleicht er dem vorigen, er frißt besonders gernKlee und Esparsette, junges Getreide und Löwenzahn undbrütet im Mai in Kleefeldern. Das Gelege besteht aus 3-4dunkel olivengrünen, braun gefleckten Eiern (s. Tafel "EierII"). Sein Fleisch ist sehr schmackhaft; in der Gefangenschafthält er sich sehr gut. Man erlegt die Trappen, indem man imSpätherbst und Winter dieselben auf eine in Löcherngedeckt stehende Schützenlinie zutreibt. Nebeliges Wetter istfür diese Art der Jagd besonders günstig, weil dieVögel dann nicht hoch streichen und das Anstellen derJäger bei ihrem scharfen Gesicht nicht gewahren können.Junge Trappen schießt man auch wohl auf der Suche mit demVorstehhund in spät reifenden Hafer- und Gerstenfeldern. BeiGlatteis werden sie von schnellen Windhunden eingeholt, welche manmöglichst nahe verdeckt in einem Bauernwagen oder Schlittenheranzubringen sucht, weil die Trappen sich nur schwer erhebenkönnen und erst eine Strecke laufen müssen, ehe sieaufzufliegen vermögen. Nur schwer gelingt es, dem sehr scheuenVogel mit einem dem Ackerwagen ähnlichen Gefährt so weitnahezukommen, daß man darauf einen Schuß aus derBüchse anzubringen vermag.

Trappe, La, Kloster im einsamen Thal des Iton, im franz.Departement Orne, mit Kolonie jugendlicher Sträflinge;merkwürdig als Stiftungsort des Trappistenordens (s.Trappisten).

Trappers (engl., "Fallensteller"), Bezeichnung dernordamerikanischen Pelzjäger.

Trappgranulit, s. Granulit.

Trappisten, Mönchsorden, gestiftet von deRancé (s. d.) in der ihm 1636 als Kommende zugeteiltenCistercienserabtei La Trappe im Departement Orne, bei Mortagne.Dieselbe war schon 1122 gegründet worden und hießanfangs Notre Dame de la maison Dieu, erhielt aber späterwegen des engen Einganges in das Thal den Namen La Trappe("Fallthür"). Rancé berief Mönche von derstrengsten Observanz der Benediktiner, stellte das zum Raubnestgewordene Kloster wieder her, wurde selbst Mönch und nachvollendetem Probejahr 1665 Abt von La Trappe, wo er eine Regeldurchführte, welche einen vollständigen Rückfall zuder orientalischen Schweigsamkeit der Askese darstellt. Die T.müssen sich täglich elf Stunden mit Beten und Messelesenbeschäftigen und die übrige Zeit bei harter Feldarbeitzubringen. Abends arbeiten sie einige Minuten an Herstellung ihrerGräber und schlafen dann in Särgen auf Stroh. Es darfaußer Gebeten und Gesängen und dem "Memento mori", womitsie einander grüßen, kein Wort über ihre Lippenkommen. Ihre Nahrung besteht aus

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Trappporphyr - Traubenkrankheit.

Wurzeln und Kräutern, Früchten, Gemüsen undWasser, ihre Kleidung aus Holzschuhen, Kutte, Kapuze und Strick.Sie teilen sich in Laienbrüder und Professen; außerdemgibt es auch sogen. Frères donnés, d. h. solche,welche nur eine Zeitlang behufs der Bußübung dem Ordenangehören. Die Prinzessin Louise von Condé stifteteeinen weiblichen Zweig des Ordens. Als die Stürme derRevolution die geistlichen Orden aus Frankreich verscheuchten,flüchteten sich die T. teils in die Schweiz, teils nachRußland, teils nach Preußen, hatten aber allenthalbenAusweisung und Verfolgung zu erdulden. Zusammengehalten durch denNovizenmeister Augustin (Henri de Lestrange), kehrten sie 1817 inihr Stammkloster in Frankreich, das sie wieder angekauft hatten,zurück und gründeten zahlreiche neue Niederlassungen, diebesonders unter dem Generalprokurator Geramb (s. d.)aufblühten. Selbst nach der Julirevolution durfte der Ordenunter dem ihm vom Papst 1834 beigelegten Namen Congrégationdes religieux Cisterciens de Notre Dame de la Trappe fortbestehen;1880 wurden 1450 T. aus Frankreich ausgewiesen. Vgl. Gaillardin,Les Trappistes (Par. 1844, 2 Bde.); Pfannenschmidt, Geschichte derT. (Paderb. 1873).

Trappporphyr, s. Melaphyr.

Trarbach, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Koblenz,Kreis Zell, an der Mosel und der Linie Reil-Traben derPreußischen Staatsbahn, 97 m ü. M., hat eineevangelische und eine kath. Kirche, ein Progymnasium, einAmtsgericht, eine Oberförsterei, Weinbau und bedeutendenWeinhandel und (1885) 1850 meist evang. Einwohner. Die frühernFestungswerke wurden 1734 von den Franzosen geschleift. Auf derHöhe über der Stadt die Ruine der Gräfinburg und T.gegenüber der Flecken Traben (s. d.); 4 km südlich in demromantischen Kautenbachthal das Bad Wildstein mit einer Therme von35° C.

Trasimenischer See (ital. Lago Trasimeno), flacher, eineMulde ausfüllender See in der ital. Provinz Perugia (Umbrien),115 qkm groß, mit drei kleinen Inseln, meist von anmutigen,bis 600 m hohen Gebirgen umgeben, ohne Abfluß, berühmtdurch die Niederlage, welche Hannibal 217 v. Chr. den Römernunter dem Konsul Gajus Flaminius an seinem nördlichen Uferbeibrachte. Seine Austrocknung ist projektiert. Vgl.Stürenburg, De Romanorum cladibus Trasimenna et Cannensi(Leipz. 1883, Ergänzung 1889).

Traß, trachytischer Tuff, s.Trachyte. Vgl.Zement.

Trassieren (ital.), das Ziehen eines Wechsels auf einenandern. Der Aussteller eines solchen Wechsels wird Trassant, derBezogene Trassat, der gezogene Wechsel selbst Tratte genannt. SindTrassant und Trassat eine und dieselbe Person, so spricht man voneinem trassiert-eignen Wechsel (s. Wechsel).

Trastevere, s. Rom, S. 904.

Trätabel (franz. traitable), fügsam,umgänglich.

Tratte (ital.), s. Trassieren.

Trattoria (ital.), Speisehaus, Restaurant.

Traù (slaw. Trogir, das alte Trigonium), Stadt inDalmatien, Bezirkshauptmannschaft Spalato, in reichbebauter Gegend,mit der gegenüberliegenden Küsteninsel Bua durch einedrehbare Brücke verbunden, hat ein Bezirksgericht,Kollegiatkapitel, ein altes venezianisches Thor an der Landseite,einen schönen gotischen Dom mit Bildhauerarbeiten, einenrunden Festungsturm von Sanmicheli, Weinbau, Oliven-, Feigen- undMandelkultur, Handel, einen guten Hafen (1886: 4741 beladeneSchiffe mit 103,639 Ton. eingelaufen), 2 Kreditbanken und (1880)3129 Einw.

Traube, eine Art des Blütenstandes (s. d., S.80).

Traube, Ludwig, Mediziner, geb. 12. Jan. 1818 zu Ratibor,studierte in Breslau, beschäftigte sich aber hier unterPurkinje und seit 1837 in Berlin unter Joh. Müller fastausschließlich mit Physiologie. 1841 ließ er sichdaselbst als Arzt nieder und begann 1843 besonders jüngernÄrzten Kurse in den neuern Untersuchungsmethoden derPerkussion und Auskultation zu geben. In die nächsten Jahrefallen seine experimentellen Studien an Tieren, durch welche er derBegründer der experimentellen Pathologie in Deutschlandgeworden ist. Er untersuchte die Ursachen und die Beschaffenheitder Veränderungen des Lungenparenchyms nach derDurchschneidung des Nervus vagus und gab mit Virchow und Reinhardt"Beiträge zur experimentellen Pathologie" (Berl. 1846-47, 2Hefte) heraus. 1848 habilitierte sich T. als Dozent, 1849 wurde erZivilassistent Schönleins und Lehrer der Auskultation undPerkussion. 1853 wurde er zum dirigierenden Arzt an der Charitee,1857 zum außerordentlichen Professor ernannt und seineKrankenabteilung zur propädeutischen Klinik erhoben. 1862folgte seine Ernennung zum ordentlichen Professor am FriedrichWilhelms-Institut, aber erst 1872 an der Universität. Er starb11. April 1876 in Berlin. Seine wissenschaftlichen Arbeiten legteer in den "Gesammelten Beiträgen zur Pathologie undPhysiologie" (Berl. 1871-78, 3 Bde.) nieder. Alle seine Arbeitensind ausgezeichnet durch die exakte naturwissenschaftliche Methode,die genaue Beobachtung und Untersuchung. Er betrachtete dasExperiment als die Grundlage einer wissenschaftlichen Pathologieund verlangte für die Therapie, daß man insystematischer Weise versuchen solle, die an Tieren hervorgerufenenKrankheitsvorgänge durch die genauer bekannten Arzneimittel zumodifizieren. Zu seinen wichtigsten Untersuchungen gehören dieüber Digitalis und das Fieber, durch welch letztere er derBegründer der wissenschaftlichen Thermometrie in der Medizinwurde. Daran schließen sich die Arbeiten über dieLungen-, Herz- und Nierenkrankheiten. Dieselbe Bedeutung wie alsForscher hatte T. auch als klinischer Lehrer und Arzt. Die exaktewissenschaftliche Methode, welche er selbst übte, hat er inNorddeutschland allgemein gemacht. Seine Verdienste um diephysikalische Diagnostik stellen ihn neben Laennec und Skoda. Erschrieb noch: "Über den Zusammenhang von Herz- undNierenkrankheiten" (Berl. 1856); "Die Symptome der Krankheiten desRespirations- und Zirkulationsapparats" (das. 1867). Vgl.die"Gedächtnisreden auf L. T." von Leyden (Berl. 1876) undFreund (Bresl. 1876).

Traubenampfer, s. Coccoloba.

Traubenbirne, s. Amelanchier.

Traubenfarn, s. Osmunda.

Traubenfäule, s. Traubenkrankheit.

Traubenhaut, s. Auge, S. 74.

Traubenhyazinthe, s. Muscari.

Traubenkernöl (Rosinenöl), fettes Öl,welches aus Traubenkernen, namentlich in Frankreich und Italien,durch Pressen gewonnen wird. Es ist goldgelb, fast geruchlos,schmeckt süßlich, warm gepreßt schwach herb, spez.Gew. 0,91-0,92, erstarrt bei -11° und wird an der Luft schnellranzig. Man benutzt es als Speise- und Brennöl.

Traubenkirsche, s. Padus.

Traubenkrankheit (Traubenfäule), eine Krankheit desWeinstocks, welche ein Verderben der Beeren zur Folge hat. Siewurde zuerst 1845 in England beobachtet und verbreitete sich balddarauf durch Frank-

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Traubenkraut - Traubenvitriol.

reich nach dem südlichen Europa, nach der Schweiz undDeutschland. Die Krankheit besteht in dem Auftreten einesweißen, dünnen, meltauartigen Überzugs auf braunwerdenden Flecken der Blätter und der Zweige des Weinstocks(vgl. Tafel "Pflanzenkrankheiten", Fig. 16), später auf denjungen Beeren. An letztern wird dadurch die Epidermis ebenfallsbraun, stirbt ab, noch ehe die Frucht die Hälfte ihrernormalen Größe erlangt hat, und zerreißt beiweiterer Ausdehnung des Beerenfleisches, so daß die Beereabstirbt und verfault. Der weiße Überzug besteht auseinem Pilz, Oïdium Tuckeri Berk., welcher das Braunwerden undAbsterben der Epidermis veranlaßt. Sein Mycelium m (vgl.Tafel "Pflanzenkrankheiten", Fig. 17) besteht aus langen undverzweigten Fäden, welche auf der Epidermis hinwachsen undstellenweise an den Berührungspunkten sogen. Haustorienentwickeln, d. h. kurze, seitliche Fortsätze des Fadens,welche wie kleine, gelappte Warzen erscheinen, die der Epidermisaufliegen. Aus der dem Pflanzenteil abgewendeten Seite treiben dieMyceliumfäden einfache Fruchthyphen, deren jede an ihrerSpitze eine einzige länglichrunde, einzellige, farbloseKonidie (c) abschnürt. Diese Sporen trennen sich sehr leichtab und werden vom Regen und Wind weiter geführt aufbenachbarte Blätter, Trauben etc. So wird durch sie der Pilzund damit die Krankheit weiter verbreitet, denn die Konidien keimenbei Vorhandensein von Feuchtigkeit leicht und schnell mittels einesKeimschlauchs, der sich auf der Nährpflanze wieder zu einemMycelium entwickelt. Der Pilz gehört der Gruppe der Erysipheenunter den Kernpilzen an und hat mit den zahlreichen Artenderselben, welche den Meltau aus den verschiedensten Pflanzenhervorbringen, die Art der krankmachenden Wirkung und die Symptomedes Auftretens gemein. Er kommt indes immer nur im Konidienzustandvor; seine vollkommene Fruchtform, die Perithecien, welche dieGattung Erysiphe charakterisieren und bei den übrigen Arten inder Regel nach der Bildung der Konidienträger auftreten, sindbis jetzt nicht gefunden worden. Auf manchen traubenkrankenWeinstocken besitzt das Oidium auf kurzen, den Konidienträgernähnlichen Hyphen eine längliche, kapselartige Frucht,welche an der Spitze aufgeht und zahlreiche sehr kleine,einzellige, länglichrunde Sporen in Schleim eingebettetausstößt. Diese Bildungen gehören einemschmarotzenden Pilz, Cicinnobolus Cesatii De Bary, an, welcher auchauf andern Arten von Erysiphe vorkommt; sein Mycelium wächstin Form sehr feiner Fäden innerhalb der Myceliumfäden desOidiums und steigt auch in die jungen Konidienträger auf, umhier innerhalb der dadurch sich ausweitenden Konidie seinePyknidenfrucht zu entwickeln. Eine den Traubenpilz schädigendeEinwirkung seines Schmarotzers läßt sich nicht bemerken.Da Perithecien, aus deren Sporen bei den andern Erysiphe-Arten dieEntwickelung im Frühjahr zu beginnen pflegt, fehlen, soscheint das Oidium der T. entweder mit Konidien oder in Formlebensfähig bleibender Myceliumteile am Weinstock zuüberwintern. Gesteigerte Feuchtigkeit begünstigt die T.,daher zeigen die feuchten Inseln und Küstenländer imVerhältnis zum Binnenland die Krankheit viel mehr, und imsüdlichen Europa ist der Weinbau durch sie im höchstenGrad geschädigt worden. Ebenso leiden Orte mitregelmäßigen häufigen Niederschlägen, wie dieSüdabhänge der Alpen, mehr als die nördlich davongelegenen Länder. Auch in einer und derselben Gegend sind dieniedern und feuchten Lagen der Krankheit mehr ausgesetzt als hochund trocken gelegene Weinberge. Unter den Sorten sollenMuskateller, Malvasier und verwandte blaue Sorten öfters vonder Krankheit zu leiden haben, andre, wie Rieslinge, Traminer,widerstandsfähiger sein. Man bekämpft die T. erfolgreichdurch das Schwefeln, d. h. das Überpudern der Weinstöckemit Schwefelblumen, wodurch der Pilz getötet und gesundePflanzen geschützt werden. Man bedient sich dabei einestrocknen Maurerpinsels oder eigens dazu gefertigter Puderquastenoder besonderer Blasebälge und soll die Operation währenddes Morgentaues und zwar dreimal, kurz vor, kurz nach derBlüte und im August, ausführen. Wahrscheinlich wirkt dasSchwefelpulver nur mechanisch, erstickend auf den Pilz, denn manhat ähnlich günstige Wirkungen auch vom Chausseestaubgesehen, wenn die Pflanzen dicht damit überzogen waren. DurchEinführung amerikanischer Rebensorten ist die T. nicht zuumgehen, weil das Oidium auch auf diesen gedeiht. Vgl. v.Thümen, Die Pilze des Weinstocks (Wien 1878).

Traubenkraut, s. Chenopodium.

Traubenkur, der mehrere Wochen lang fortgesetztereichliche Genuß von Weintrauben, wobei sehr nahrhafte,fette, mehlige oder blähende Speisen vermieden werdenmüssen. Mit hinreichender Körperbewegung verbunden, solldiese Kur bei Stockungen im Unterleib und davon abhängigerHypochondrie, bei Hämorrhoidalbeschwerden und bei Gicht guteDienste leisten. Die Wirksamkeit der Weintrauben beruht vornehmlichauf dem starken Zuckergehalt derselben, welcher als Nahrungsstoffvon Wert ist; anderseits haben sie, in größerer Mengegenossen, eine leicht und angenehm abführende Wirkung, sodaß sie das mildeste Mittel gegen Unterleibsstockungendarstellen. Die besuchtesten Kurorte sind Meran in Tirol,Dürkheim in der Rheinpfalz und Grünberg in Schlesien.Vgl. Knauthe, Die Weintraube (Leipz. 1874).

Traubenmade, s. Wickler.

Traubenöl, s. Drusenöl.

Traubensäure (Paraweinsäure) C4H6O6 findet sichim rohen Weinstein und entsteht aus der isomeren Weinsäure beianhaltendem Erhitzen von deren Lösung mit Salzsäure oderverdünnter Schwefelsäure, auch bei oxydierenderBehandlung von Mannit, Rohr- und Milchzucker, Gummi etc. BeiVerarbeitung des rohen Weinsteins erhält man sie in denspätern Kristallisationen in kleinen Kristallen mit einemMolekül Kristallwasser. Sie ist farb- und geruchlos, vom spez.Gew. 1,69, schmeckt sauer, löst sich leicht in Wasser undAlkohol, ist optisch inaktiv, verwittert an der Luft, wird bei100° wasserfrei und verhält sich im allgemeinen derWeinsäure sehr ähnlich. Von ihren Salzen ist das saureKalisalz viel löslicher als Weinstein, während dasKalksalz schwerer löslich ist als weinsaurer Kalk. DasKaliumnatrium- und das Ammoniumnatriumsalz, das Cinchonicin- undChinicinsalz kristallisieren nicht, sondern geben große,hemiedrische Kristalle, von denen man zwei Formen unterscheidenkann, die sich zu einander wie Spiegelbilder verhalten. Bei dereinen Form liegen nämlich die hemiedrischen Flächenrechts, bei der andern links. Aus den Kristallen der ersten Artkann man durch eine stärkere Säure gewöhnlicheRechtsweinsäure, aus der andern Linksweinsäureabscheiden, und wenn man die Lösungen dieser beidenSäuren mischt, so kristallisiert wieder T. Bei Einwirkung vonFermenten auf T. wird die Rechtsweinsäure zerstört, undes bleibt Linksweinsäure übrig.

Traubenvitriol, s. Eisenvitriol.

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Traubenzucker - Trauer.

Traubenzucker (Krümel-, Stärke-, Kartoffel-,Obst-, Honigzucker, Glykose, Glukose, Dextrose) C6H12O6 findet sichim Pflanzenreich, fast stets begleitet von Levulose (Fruchtzucker)oder Rohrzucker, sehr verbreitet, besonders in süßenFrüchten (kristallisiert im gedörrten Obst, in Rosinen,auf welchen er oft als weißer Beschlag erscheint), auch imHonig, im tierischen Organismus normal im Dünndarminhalt undChylus nach dem Genuß stärkemehl- und zuckerhaltigerNahrung, in der Leber des Menschen und der Säugetiere, imLebervenenblut, im Harn schwangerer Frauen, in der Amnion- undAllantoisflüssigkeit der Rinder, Schafe und Schweine,pathologisch im Harn bei Zuckerruhr und nach Reizung und Verletzungdes verlängerten Marks. T. entsteht aus den übrigenKohlehydraten (am leichtesten aus Rohrzucker) bei Einwirkungeigentümlicher Fermente oder verdünnter Säuren(daher in Bier- und Branntweinwürze) und bei der Spaltung derGlykoside. Dargestellt wird T. aus Most, indem man denselben durchKreide entsäuert, mit Blut klärt und verdampft; viel mehrT. aber wird aus Kartoffelstärke dargestellt und als festeMasse, gekörnt, als Sirup (Stärkesirup, Kartoffelsirup)oder als zähflüssige Masse (sirop impondérable,weil er nicht mit dem Saccharometer gewogen werden kann) in denHandel gebracht. Man erhitzt Wasser mit etwa 1 Proz.Schwefelsäure zum Kochen, trägt die mit Wasser zu einermilchigen Flüssigkeit angerührte Stärke unterlebhaftem Umrühren ein und kocht, bis das zuerst gebildeteDextrin vollständig in T. umgewandelt ist (bis 1 Teil derFlüssigkeit mit 6 Teilen absolutem Alkohol keinen Niederschlagmehr gibt). Bei Zusatz von etwas Salpetersäure soll dieUmwandlung viel schneller erfolgen. Zur Beseitigung derSchwefelsäure neutralisiert man mit Ätzkalk, Kreide oderMarmor oder kohlensaurem Baryt, zapft die Flüssigkeit von demabgelagerten unlöslichen schwefelsauren Kalk oder Baryt ab,verdampft sie bis 15 oder 16° B., filtriert überKnochenkohle und verdampft den Sirup (meist in Vakuumapparaten) bis30° B. (Stärkesirup) oder bis zur Kristallisation.Läßt man die kristallisationsfähige Masse inFässern oder Kisten vollständig erstarren, so erhältman ein sehr unreines Produkt (Kistenzucker, Blockzucker). ZurGewinnung eines reinern Produkts preßt man die inKristallisation befindliche Masse in starken hydraulischen Pressen(Preßzucker), um den Sirup abzuscheiden, schmelzt wohl auchden gepreßten Zucker (hart kristilisierter Zucker), oder manläßt aus der weniger stark eingekochten Masse den Sirupvon den Kristallen abfließen und trocknet letztern aufGipsplatten in der Trockenstube. 1 Ztr. Stärke liefert etwa 1Ztr. Zucker oder 1,5 Ztr. Sirup. Auch Holzfaser, Flechten, Lumpenetc. geben bei Behandlung mit Schwefelsäure T.; doch kann dieaus solchen Materialien gewonnene zuckerhaltige Flüssigkeitnur auf Spiritus verarbeitet werden. Der T. des Handelsenthält 60-76 Proz. reinen T., 9-17 Proz. Dextrin, 11-25 Proz.Wasser, 2-7 Proz. fremde Bestandteile. Reinen T. erhält mandurch Lösen von Rohrzuckerpulver in salzsäurehaltigemAlkohol und Verdampfen der Lösung zur Kristallisation. T.bildet meist warzig-krümelige, farb- und geruchlose Massen mit1 Molekül Kristallwasser, schmeckt weniger süß alsRohrzucker (man braucht 2,5 mal so viel T. als Rohrzucker, umdemselben Volumen Wasser dieselbe Süßigkeit zuerteilen), löst sich in 1,3 Teilen kaltem, in allenVerhältnissen in kochendem Wasser, auch in Alkohol, dreht dieEbene des polarisierten Lichts nach rechts (daher Dextrose),erweicht bei 60°, wird bei 100° wasserfrei, schmilzt bei146°, zersetzt sich bei 170° und gibt in höhererTemperatur Karamel. Mit Alkalien zersetzt sich die Lösungschon bei 60-70°. Eine mit Kali versetzteTraubenzuckerlösung reduziert in der SiedehitzeKupferoxydhydrat zu Kupferoxydul, Silberoxyd zu metallischemSilber. Durch Hefe zerfällt T. in Alkohol undKohlensäure; in alkalischer Lösung vergärt er zuMilchsäure und Buttersäure, und unter gewissenUmständen tritt schleimige Gärung ein, und es bilden sichMannit und ein gummiähnlicher Körper. T. dient ingroßer Menge zur Weinbereitung (beim Gallisieren), alsSurrogat des Braumalzes in der Bierbrauerei, des Honigs in derZuckerbäckerei und Lebküchlerei, zum Verschneiden desindischen Sirups und Honigs, in Mostrich- und Tabaksfabriken, zurDarstellung von Zuckerkouleur, Likören, Bonbons etc. T. wurdezuerst während der Kontinentalsperre fabrikmäßigdargestellt. Später verschwand dieser Industriezweig undgewann erst neuerdings durch das Gallisieren und die Benutzung desTraubenzuckers in Brauereien größere Bedeutung. Vgl.Wagner, Die Stärkefabrikation (Braunschw. 1876).

Trauer, die durch ein betrübendes Ereignis,namentlich durch den Verlust nahestehender oder verehrter Personen,oder durch die Erinnerung an solche Verluste (wie in denreligiösen Trauerfesten um Adonis, Osiris etc.) verursachteGemütsstimmung und deren Kundgebung nach außen. Letztereäußert sich beim weiblichen Geschlecht, beisanguinischen Naturen, südlichen Völkern etc. in mehrlauter, aber schneller vorübergehender Klage, bei nordischenVölkern in länger nachwirkenden, aber stummen undgefaßten Gemütsbewegungen. Natürlich sind dieKundgebungen vor der aufgebahrten Leiche und am offenen Grab amstärksten, und man hatte dazu bei Natur- undKulturvölkern bestimmte Trauergesänge, wie die vonSchiller umgedichtete "Nadowessische Totenklage", das Adonis-,Linos- und Maneros-Lied der Griechen, Syrer und Ägypter. ImOrient wie bei den Slawen und im südlichen Italien werdenbesondere Klageweiber angenommen, die das mit Cypressen und andernTrauersymbolen geschmückte Sterbehaus mit ihrem Geschreierfüllen. Religiöse Vorstellungen und Herkommen bedingenfür den äußern Ausdruck mannigfacheVerschiedenheiten. Bei den Naturvölkern gilt dieTrauerverstümmelung (s. d.) als der natürliche Ausdruckdes beherrschenden Gefühls, die Kulturvölker deuten durchUnterlassen jedes Putzes, Vernachlässigung der Haarpflege,Anlegen von Florstreifen etc. an, daß sie für einegewisse, nach der Sitte bestimmte und für Frauen längerals für Männer dauernde Zeit allen Freuden der Weltabgestorben sind, weshalb auch alle weltlichen Vergnügungen,wie Theater, Bälle, Konzerte u. dgl., streng gemieden werden.In Attika dauerte die Privattrauer 30 Tage, in Sparta mußtesie bereits am 12. Tag mit einem Opfer an Demeter beendet werden;in Rom war nur den Frauen (seit Numas Gesetzgebung) eine bestimmteTrauerzeit geboten. Bei den Griechen und Orientalen, wo Bart undHaupthaar den Stolz des Mannes bilden, wurden und werden vielfachbeide geschoren; doch galt anderwärts, z. B. in Rom, einegewisse Vernachlässigung durch Langwachsenlassen ebenfalls alsTrauerzeichen. In der Kleidung wurden überall bunte Farben undkokette Formen vermieden. Die Juden verhüllten den Körpermit einem groben, sackartigen, in der Mitte gegürteten Gewandund bestreuten, wie auch die Griechen (und katholischen Christen zuAschermitt-

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Trauerbäume - Traum

woch), das Haupt mit Asche, woher die Redensart: "in Sack undAsche trauern". Als Trauerfarben galten vorwiegend, z. B. denGriechen und Römern, die dunkeln, schwarzen, welche auchfrüh bei den Christen Eingang fanden, obwohl Cyprian,Chrysostomus und andre Kirchenlehrer dieselbe tadelten, weil sieder Hoffnung auf die ewigen Freuden zu widersprechen schienen.Dagegen trauerten die alten Ägypter in gelben Kleidern, dieArgiver weiß; bei den Chinesen sind noch heute weiße,blaue und graue Trauerkleider üblich. Grau gilt auch bei unsals die Farbe der nach einer gewissen Zeit eintretenden sogen.Halbtrauer, die besonders bei der schon in alten Kulturländerngesetzlich oder durch bestimmte Erlasse (Trauerordnungen)geregelten Landes- und Hoftrauer nach dem Tode des eignen oderbefreundeter Landesfürsten streng beobachtet wird, wobei alleöffentlichen Lustbarkeiten für eine bestimmte Zeitunterbleiben, die Flaggen in halber Höhe geheißt werdenund Militär wie Hofbeamte in vorgeschriebener Trauerkleidungzu erscheinen haben. Das schon bei den Römern gesetzlichvorgeschriebene und auch bei uns meist eingehaltene sogen.Trauerjahr der Witwen bezieht sich nur auf etwa noch zu erwartendeNachkommenschaft und kann daher auf ärztliches Attestabgekürzt werden.

Trauerbäume, Gehölze mit hängendenZweigen, welche als Symbol der Trauer auf Gräbern, aber auchwirkungsvoll im Park und Garten einzeln stehend angepflanzt oder zuLauben benutzt werden. Den schönsten Effekt machen T. mitdünnen Zweigen und schmalen Blättern, währendstarkästige Bäume mit großen, breiten Blätternleicht plump erscheinen. Der klassische Trauerbaum ist dieTrauerweide (Salixbabylonica), der sich andre Weidenartenanschließen. Sehr schön sind auch einige Birkenformen,Fichten und namentlich weiße Rosen, während dieTraueresche nur in höherm Alter ihre Steifheit verliert.

Trauerjahr, s. Trauer.

Trauerkrüge, Kreußener Kannen aus perlgrauemSteinzeug, welche weiß und schwarz emailliert und zuweilenvergoldet sind.

Trauermantel, s. Eckflügler.

Trauerparade, s. Ehrenbezeigungen.

Trauerspiel, s. Tragödie.

Trauerverstümmelung. Bei den Naturvölkern undältern Kulturvölkern, die jenen noch nahestanden,äußerte sich die Trauer um Verstorbene nicht bloßin Farbe und Schnitt der Kleider, sondern in heftigen Angriffen undVerstümmelungen des eignen Körpers. Die Bewohner derNikobaren verbrennen, wie Hamilton erzählt, das Besitztum desToten, und sein Weib muß sich am Grab ein Fingergliedabschneiden lassen. Bei den Charruah sind beim Tode desFamilienhauptes die Witwen, Töchter und verheiratetenSchwestern verpflichtet, sich ein Fingerglied abnehmen zu lassen.Bei den Fidschianern wurden (nach Williams) beim Tode desHäuptlings 100 Finger als Opfer verlangt. Diese Fingeropfersind offenbar Ablösungsformen für das Leben der Witweoder fürstlichen Diener, die früher dem Gatten oderHäuptling in den Tod zu folgen hatten, und bei einigennordamerikanischen Indianerstämmen, die ebenfalls dasFingeropfer kennen, muß die Witwe einige Augenblicke ihrHaupt neben das des Toten auf den Scheiterhaufen legen (vgl.Manendienst und Menschenopfer). Auf den Sandwichinseln wurde (nachEllis) beim Tode des Herrschers jedem Unterthanen ein Vorderzahnausgeschlagen, oder es wurden ihm beide Ohren abgeschnitten. Anvielen Orten trat die Hergabe von Blut am Grab an die Stelle desFingeropfers, und die Lakedämonier hatten (nach Herodot) diebarbarische Sitte, daß sich beim Tode des KönigsMänner, Weiber und Sklaven in großen Haufen versammelnund mit Dornen und Nadeln das Fleisch von der Stirn reißenmußten. Den Juden gebot das mosaische Gesetz: "Ihr sollt euchkeine Wunden in euer Fleisch schneiden für die Toten . . . . "(3. Mos. 19, 28). Bei dem Begräbnis Attilas zerfleischten dieHunnen ihr Gesicht, und dieselbe Sitte blieb noch länger beiden Türken herrschend. Als letztes Überbleibsel dieserHingabe des Teils für das Ganze gilt das Abschneiden von Bart-und Haupthaar. Diese Sitte hatte eine weite Ausdehnung;nordamerikanische Indianer opferten ihre Skalplocke, und bei denNeuseeländern wurden (nach Pollack) die abgeschnittenen Haareauf dem Begräbnisplatz an Bäumen aufgehängt.

Trauervogel, s. Fliegenfänger.

Trauformular, s. Trauung.

Traufrecht, die Dienstbarkeit, vermöge deren einGrundeigentümer berechtigt ist, von seinem Gebäude denWasserabfall auf ein Nachbargrundstück fließen zulassen. Zuweilen bezeichnet man auch damit den Grund und Boden,welcher durch ein vorspringendes Dach überdeckt wird, und vonwelchem man annimmt, daß er zu dem betreffenden Gebäudegehöre.

Traum (lat. Somnium), die Fortsetzung der geistigenThätigkeit während des Schlafs bei mangelndem vollenBewußtsein des Schläfers. Nach den neuern Anschauungenliegt der Unterschied zwischen Schlaf und Wachen wesentlich darin,daß das Bewußtsein "ausgeschaltet" ist, und daßder Blut- und Sauerstoffstrom, der dazu dient, die geistigeThätigkeit zu unterhalten, im Schlaf dazu verwendet wird, dasGehirn und den übrigen Körper von den Schlacken derTagesarbeit zu reinigen und neu zu kräftigen. Nun brauchenaber nicht alle Teile des geistigen Organs gleichmäßigaußer Thätigkeit gesetzt zu sein, oder es könnenvielmehr einzelne wieder in Thätigkeit treten, ohne daßvolles Selbstbewußtsein und damit Erwachen eintritt. Es sinddies namentlich die Sinnessphäre, in der die äußernEindrücke bewußt werden, und die Erinnerungssphäre,in welcher ältere Eindrücke als Erinnerungsbilderaufbewahrt werden (s. Gedächtnis). Manche unsrer Sinnespfortenbleiben bekanntlich auch im Schlaf offen, und wie im wachen Zustanddie völlig geöffneten Sinnesorgane die Anregung zurSeelenthätigkeit geben, so sind es im Schlaf meist das Ohr,die Nase, das Tast- und Gemeingefühl, welche den erstenAnlaß zu innern Erregungen und Traumbildern liefern. Mit demPulsmesser oder Plethysmographen kann man nachweisen, daßsodann alsbald eine stärkere Blutströmung als vorher insGehirn eintritt, aber zunächst wahrscheinlich nur in die durchäußere oder innere Empfindungen erregten Teile. DieEmpfindung gestaltet sich alsdann zu einer ihr entsprechendendunkeln Vorstellung. So bewirkt eine unbequeme Lage oder einkörperlicher Schmerz einen T. von Fesselung undthätlichen Angriffen, Senfpflaster oder ein brenzliger Gerucherregen Träume von Feuersgefahr, ein plötzlichesAusstrecken soll das bekannte, meist mit Erwachen verknüpfteGefühl eines tiefen Sturzes erzeugen, Töne undGeräusche aller Art, in der Nähe gesprochene Worte unddergleichen werden mit wunderbarer Schlagfertigkeit zu einem T.ausgesponnen, namentlich gegen Morgen, wenn der Geist nur noch imHalbschlummer liegt. A. Maury hat dies durch zahlreicheSelbstversuche erprobt, indem

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Trauma - Traumdeutung.

er sich nach der Mittagsmahlzeit unmittelbar nach demEinschlafen gewisse Geräusche und andre Eindrückebeibringen und gleich darauf wecken ließ, um sich der dadurchhervorgerufenen Traumvorstellungen zu erinnern. Man kann sich soganze Träume einblasen (soufflieren) lassen. Häufigspiegeln sich die sogen. Binnenempfindungen oder krankhafteZustände im T. So träumen die Personen, welche anAtmungsbeschweren oder Luftmangel leiden, von einem durch dasSchlüsselloch eindringenden und sie bedrückenden Gespenst(s. Alp), von engen Höhlengängen, Menschengedränge,Stößen gegen die Brust, Herzleidende habenbeängstigende Träume, Erregungen in der Sexualsphärebringen wollüstige Träume hervor. Der Inhalt derTräume besteht meist aus Wiederbelebung und Verbindung vonErinnerungsbildern, wobei frische Erinnerungen, Dinge, mit denenman sich zur Zeit stark beschäftigt, oder an die man in denStunden vor dem Einschlafen lebhaft erinnert wurde, den Vordergrundeinnehmen. Eine besondere Erklärung verlangt die dramatischeLebendigkeit dieser Bilder, welche den Träumer verleitet, siefür Wirklichkeiten zu halten und zu glauben, daß erseinen T. mit offenen Sinnen erlebt. Einige Forscher haben deshalban eine besonders starke Erregung des Sensoriums geglaubt und denT. mit den Zuständen der Opium- und Hanfnarkose verglichen, indenen der Betäubte mit offenen Augen träumt. Andre, wieJohannes Müller, Gibbert und Brewster, haben sogar gemeint,die innere Erregung gehe so weit, daß sie von innen aus einBild auf der Netzhaut erzeuge, im Ohr Klänge errege, kurz dieperipherischen Nerven zu wirklichen Empfindungen veranlasse. Gegendiese Annahmen, die auch in neuerer Zeit von Lazarus und Hagenwiederholt wurden, hat zuerst E. Krause in seiner "Naturgeschichteder Gespenster" geltend gemacht, daß Empfindungen immer nurim Zentarlorgan zu stande kommen, und wozu oder auf welchen Wegensollte das letztere Empfindungen erst nach außen werfen, umsie von da wieder zurückzuerhalten. Auch eine abnorme Erregungdes Gehirns braucht zur Erklärung der Vorgänge nichtangenommen zu werden; die Lebhaftigkeit der Traumbildererklärt sich vielmehr ganz von selbst durch die Abwesenheitder Sinnenkonkurrenz und des wachen Urteils, vor denen im Wachenalle diese innern Bilder verblassen. Das Selbstbewußtsein istnicht ganz aufgehoben, regt sich vielmehr, namentlich gegen Morgen,oft in Zweifeln und in der Frage: "Träume ich denn?", woraufin der Regel baldiges Erwachen folgt. Durch den Mangel des vollenBewußtseins erklärt sich sowohl das Durcheinander derBilder als das Unsinnige, ja Unmoralische vieler dabei vor sichgehender Handlungen, die Ideen und Bilder folgen einfach dem Gesetzder Ideenassociation (s. d.), und das Urteil ist so schwach,daß verstorbene Personen lebend erscheinen, die Einheit desOrtes nicht beobachtet wird, jedes Zeitmaß verschwindet undselbst die Person des Träumers sich in ihren Urteilen undHandlungen oftmals dramatisch in mehrere Personen spaltet. Einbedeutendes Licht wird in dieser Richtung durch das Studium desHypnotismus (s. d.) und namentlich durch die Möglichkeit derSuggestion (s. d.) auf den T. geworfen, denn hierbei ist dasSelbstbewußtsein so tief niedergedrückt, daß sichdie unsinnigste Idee einflößen läßt und zurWirklichkeit gestaltet, selbst die Verleugnung der eignenPersönlichkeit. Gleichwohl sind diese wie dieTraumeindrücke so schwach, daß sie nach dem Erwachenmehr oder weniger vollständig aus dem Gedächtnisverschwunden sind; nur Träume, aus denen man mittenherausgerissen wird, pflegen eine genauere Erinnerung zu gestatten.Unter bestimmten Körperbedingungen kann aber der Schlaf unddas Niederliegen der Urteilskraft von selbst so tief werden wie inder Hypnose, und dann kann der Schläfer umhergehend undhandelnd weiterträumen, beim sogen. Schlaf- oder Traumwandeln(s. Somnambulismus). Das Traumleben spielt in derVölkerpsychologie und in den religiösen Vorstellungeneine sehr bedeutende Rolle, und eine Anzahl der namhaftestenForscher auf diesem Gebiet nimmt an, daß sich dieGrundpfeiler der religiösen Lehrgebäude (namentlich derGlaube an übernatürliche, den Schranken der Leiblichkeit,der Zeit und des Raums entrückte Wesen, sowie an das Fortlebennach dem Tod) vorzugsweise aus den Erfahrungen des Traumlebensentwickelt haben. Das Naturkind nimmt eben das Geträumtefür Wirklichkeit; es glaubt im T. von seinen Göttern undToten besucht zu werden und meint anderseits, daß seine eigneSeele, wenn es von fremden Ortschaften träumt, sichvorübergehend vom Körper gelöst habe und freiumherschwärme. Daher bildete der Tempeltraum noch bei manchenKulturvölkern einen Bestandteil des anerkannten Kults (vgl.Traumdeutung). Auch neuere Mystiker, wie K. du Prel, sprechen nochvon "Eingebungen", Lösungen schwieriger Probleme im T., undwollen dem Traumleben sogar einen höhern geistigen Wertbeimessen als dem wachen Leben; allein die erwähntenLösungen und Eingebungen, die von dem Träumendenangestaunt werden, erweisen sich nach dem Erwachen meist alsvollendeter Blödsinn. Vgl. Scherner, Das Leben des Traums(Berl. 1861); Maury, Le sommeil et les rêves (4. Aufl., Par.1877); Siebeck, Das Traumleben der Seele (Berl. 1877); Spitta, DieSchlaf- und Traumzustände der Seele (Tübing. 1878); Binz,Über den T. (Bonn 1878); Radestock, Schlaf und T. (Leipz.1879); Simon, Le monde des rèves (2. Aufl., Par. 1888).

Trauma (griech.), Wunde, äußere Verletzung;daher traumatisch, s. v. w. durch eine Verletzung, Wunde etc.entstanden. Traumatische Entzündung, eine Entzündung,hervorgerufen durch Verwundung, Quetschung, Verletzung irgend einesKörperteils (s. Gehirnbruch).

Traumaticin, s. Guttapercha.

Traumbücher, s. Traumdeutung.

Traumdeutung, die von der ehemals allgemein verbreitetenAnschauung, daß der Traum das natürlicheVerbindungsmtttel mit der übersinnlichen Welt sei, unddaß der Träumende mit seinen Göttern undverstorbenen Vorfahren verkehre und von ihnen Eingebungen,Ratschläge und Winke für die Zukunft in einer ArtBildersprache erhalte, veranlagte Bemühung, diese Bilder zudeuten. Anderseits suchte man aber auch solche Traumoffenbarungenabsichtlich herbeizuführen. Bei den meisten Naturvölkernübernimmt der Medizinmann oder Schamane gegen Bezahlung denAuftrag, sich durch allerhand erprobte Mittel in Traumzuständezu versetzen und dann die Götter oder Vorfahren über dasSchicksal einer Person zu befragen. Diese Traum- oder Totenorakelbestanden noch bei Griechen und Römern; die peruanischenPriester bedienten sich der scharf narkotischen Gräberpflanze(Datura sanguinea), um Götter- und Ahnenerscheinungen zuerhalten. Von der Rolle prophetischer Träume in der altenGeschichte weiß Herodot und die Bibel zu erzählen:Joseph und Daniel erlangten als Traumdeuter ihren Einsluß. InAssyrien befand sich auf der Plattform der Stufenpyra-

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Traumwandeln - Trautenau.

miden das Gemach, in welchem die babylonische Sibylle dennächtlichen Besuch des Orakelgottes empfing, und das AmtDaniels bei Nebukadnezar finden wir schon im altbabylonischenHeldengedicht von Izdubar, dem sein Traumausleger Eabani als steterBegleiter zur Seite steht. Von den Ägyptern hat Brugschmitgeteilt, daß sie zu solchen Zwecken die Hypnotisierungdurch Anschauen glänzender Gegenstände übten. Beiden Griechen und Römern fanden Traumorakel, außer an denStätten der Totenorakel, namentlich in den Äskulaptempelnstatt; die Kranken (oder auch an ihrer Stelle die Priester)streckten sich auf den Fellen frisch geopferter Widder nieder, undaus der Art ihres Traums wurde das einzuschlagende Heilverfahrenvon den Priestern gefolgert. Für die Kreise des Volkes, diesich nicht wie die Fürsten einen eignen Traumdeuter haltenkonnten, dienten früh Traumbücher, Aufzeichnungenüber die angebliche Bedeutung der einzelnen Träume. Dasälteste derselben hat man bruchstückweise auf Ziegelsteinin der Bibliothek von Ninive gefunden, und man kann dort lesen, wases bedeutet, wenn man von Hunden, Bären, Tieren mit fremdenFüßen und andern Dingen träumt, die sich hier nichtbezeichnen lassen. Im klassischen Altertum genoß dann deshöchsten Ansehens' das Traumbuch ("Oneirokritika") desArtemidoros (s. d. 2), welches bald nach Erfindung derBuchdruckerkunst auch in lateinischer Übersetzung gedrucktwurde. Ein mohammedanisches Traumbuch gab Vattier nach demarabischen Text ("L'oneirocrite musulmane", Par. 1664) heraus. Inneuerer Zeit haben zwar die Naturphilosophen G. H. v. Schubert("Die Symbolik des Traums", 4. Aufl., Leipz. 1862) und Pfaff ("DasTraumleben und seine Deutung", 2. Aufl., Potsd. 1873) den Glaubenan vorbedeutende Träume zu retten gesucht, aber dieTraumbücher werden nur noch von der Landbevölkerung aufJahrmärkten gekauft. Vgl. Büchsenschütz, Traum undT. im Altertum (Berl. 1868); Lenormant, Die Magie und Wahrsagekunstder Chaldäer (deutsch, Jena 1878).

Traumwadeln, s. Somnambulismus.

Traun (lat. Truna), Fluß in Österreich,entsteht im steirischen Salzkammergut aus den Gewässern desAufseer, Grundel- und Ödensees, fließt durch denHallstätter und den Gmundener oder Traunsee, bildet bei demDorf Roitham einen Wasserfall (der durch einen Kanal umgangen wird)und mündet nach 178 km langem Lauf unweit Linz in die Donau.Ihre Zuflüsse bringen ihr das Wasser aller andern Seen desSalzkammerguts: die Ischl vermittelt den Abfluß des St.Wolfgangsees, die Ager den des Attersees, dem die Ach das Wasseraus dem Mondsee, Zeller See und Fuschelsee zuführt, endlichdie Alm den Abfluß des Almsees. Außerdem empfängtdie T. die Krems. Die Schiffahrt auf derselben, einst sehr lebhaft,hat durch die Eisenbahnen Eintrag erlitten.

Traun, Julius von der, Pseudonym, s. Schindler 1).

Traunsee (Gmundener See), einer der schönsten Seender Deutschen Alpen (s. Karte "Salzkammergut"), liegt bei der StadtGmunden in Oberösterreich, 422 m ü. M., ist 12 km lang, 3km breit und 191 m tief, bedeckt eine Fläche von 24,6 qkm undwird von S. nach N. von der Traun durchflossen. Die Ufer sind im N.und W. wohlbebaut und dicht bevölkert (hier befinden sich dieschönen Villen der Familien Toscana, Hannover, Herzog vonWürttemberg etc.); nur im O. und S. ragen steileFelswände aus dem grünen Gewässer empor. Am Ostufererhebt sich der Traunstein zu 1661 m Höhe. Der See hat beinormalem Wetter seinen regelmäßigen Passatwind, wirbeltaber oft ohne deutlich sichtbare Ursache heftig auf und friert sehrselten zu (zuletzt 1830 und 1880). Köstliche Fische(Lachsforellen, Saiblinge, Hechte etc.) bevölkern ihn.Zwischen Gmunden, am Nordende, der Saline Ebensee, am Südende,und dem reizend auf einer Landzunge am Westufer gelegenenTraunkirchen (mit schöner Pfarrkirche und 523 Einw.) bestehtrege Dampfschiffahrt. Längs des Westufers zieht sich dieSalzkammergutbahn hin.

Traunstein, unmittelbare Stadt und klimatischerTerrainkurort im bayr. Regierungsbezirk Oberbayern, an der Traun,Knotenpunkt der Linien Salzburg-München und T.-Trostberg derBayrischen Staatsbahn, 534 m ü. M., hat eine schöne kath.Kirche, eine Realschule, ein Institut der Englischen Fräulein,ein Waisenhaus, ein Landgericht, ein Forstamt, eine großeSaline (s. Reichenhall), ein Solbad, große Brauereien,bedeutenden Holzhandel und (1885) 4820 meist kath. Einwohner. Inder Umgegend große Waldungen mit hübschenSpaziergängen und das schön gelegene Bad Empfing mitalkalisch-erdiger Mineralquelle. Zum Landgerichtsbezirk T.gehören die 13 Amtsgerichte zu Aibling, Altötting,Berchtesgaden ,Burghausen, Laufen, Mühldorf, Prien,Reichen-hall, Rosenheim, Tittmoning, T., Trostberg und Wasserburg.Vgl. Sailer, Traunstein (Münch. 1886).

Trauordnung, s. Trauung.

Trauringe, s. Trauung und Ring.

Trausnitz, 1) Pfarrdorf im bayr. RegierungsbezirkOberpfalz, Bezirksamt Nabburg, mit (1885) 541 Einw. Im dortigenSchloß wurde der 1322 in der Schlacht bei Mühldorfgefangen genommene Erzherzog Friedrich der Schöne vonÖsterreich bis 1325 vom Kaiser Ludwig dem Bayern gefangengehalten. -

2) Über der Stadt Landshut in Niederbayern gelegenesehemaliges Residenzschloß der Herzöge von Niederbayern(1255-1340) und von Bayern-Landshut (1402-1503), um 1230 erbaut,enthält das Kreisarchiv von Niederbayern, in neuerer Zeitrestauriert.

Trautenau, Stadt im nordöstlichen Böhmen, imAupathal des Riesengebirges, an der ÖsterreichischenNordwestbahn (Linie Chlumetz-Parschnitz, mit Abzweigung nachFreiheit), ist nach einer großen Feuersbrunst seit 1861größtenteils neu gebaut, hat 4 Vorstädte, eineschöne Dechanteikirche, eine Bezirkshauptmannschaft, einBezirksgericht und Hauptzollamt, eine Oberrealschule,Lehrerbildungsanstalt, 2 Flachsspinnereien (40,000 Spindeln), eineKunstmühle, Bierbrauerei, Papierwarenfabrik, Gasanstalt,große Flachs-, Garn- und Leinwandmärkte, eine Filialeder Böhmischen Eskomptebank, Sparkasse (Einlagen 4,3 Mill.Guld.) und (1880) 11,253 Einw. In der Nähe mehrere andreFlachsspinnereien und Steinkohlenwerke. - T. bildete währenddes österreichisch-preußischen Kriegs im Sommer 1866 denSchauplatz wiederholter Kämpfe. Am 27. Juni wurde das 1.preußische Korps unter Bonin beim Einrücken inBöhmen bei T. vom 10. österreichischen Korps unterGablenz zurückgeschlagen. Die Österreicher verloren 190Offiziere und 4596 Mann an Toten und Verwundeten, die Preußen56 Offiziere und 1282 Mann. Vgl. Roth, Achtzig Tage inpreußischer Gefangenschaft und die Schlacht bei T. 27. Juni1866 (3.Aufl., Prag 1868). Im zweiten Gefecht von T., auch alsGefecht bei Soor oder bei Burkersdorf und Altrognitz bezeichnet,ward das 10. österreichische Korps unter Gablenz 28. Juni vonder preußischen Garde geschlagen und verlor 4000 Gefangene, 2Fahnen und 10 Geschütze. Vgl.

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Trautmann - Trauung.

Simon Hüttels "Chronik der Stadt T. 1484-1601" (bearbeitetvon Schlesinger, Prag 1881).

Trautmann, 1) Franz, Schriftsteller, geb. 28. März1813 zu München als Sohn des Hofjuweliers T., verlebte einenTeil seiner Jugend im Kloster Wessobrunn, wo ihm eine Fülleromantischer Eindrücke zuströmte, studierte inMünchen die Rechte und trat dann beim MünchenerStadtgericht in die juristische Praxis ein, verließ aberdieselbe nach sieben Jahren, um sich hinfort, in seiner Vaterstadtlebend, ausschließlich der schriftstellerischenThätigkeit und eingehenden Kunststudien zu widmen. Bereits mit17 Jahren hatte er ein Bändchen "Gedichte" herausgegeben, demandres Lyrische folgte, dann eifrig an verschiedenen Blätternmitgearbeitet, sich auch hin und wieder in dramatischen Arbeitenversucht, bis er sich endlich dem Gebiet zuwandte, das rechteigentlich seine Domäne ward, und auf dem er die allgemeinsteAnerkennung fand. Seine dem Mittelalter entnommenenErzählungen gehören zu den vorzüglichstenLeistungen, welche unsre Litteratur in dieser Richtung aufzuweisenhat. Den Reigen derselben eröffnete die köstlicheGeschichte von "Eppelein von Gailingen" (Frankf. 1852). In rascherFolge schlossen sich derselben an: "Die Abenteuer des HerzogsChristoph von Bayern" (Frankf. 1853, 2 Bde.; 3. illustr. Aufl.,Regensb. 1880); "Die gute alte Zeit", Münchener Geschichten(Frankf. 1855); der Schelmenroman "Chronika des Herrn PetrusNöckerlein" (das. 1856, 2 Bde.); "Das Plauderstüblein"(Münch. 1855); das "Münchener Stadtbüchlein" (das.1857). Weiter folgten: "Münchener Geister" (Münch. 1858);"Heitere Städtegeschichten aus alter Zeit" (Frankf. 1861); dassatirische Buch "Leben, Abenteuer und Tod des TheodosiusThaddäus Donner" (das. 1864); der Roman "Die Glocken von St.Alban" (Regensb. 1875, 3 Bde.; 2. Aufl. 1884); "Meister NiklasPrugger, der Bauernbub von Trudering" (das. 1878, 3 Bde.); "HeitereMünchener Stadtgeschichten" (Münch. 1881); "ImMünchener Hofgarten, örtliche Skizzen undWandelgestalten" (das. 1884) und "Aus dem Burgfrieden.Alt-Münchener Geschichten" (Augsb. 1886). Von seinen lyrischenArbeiten der spätern Zeit sind die Sammlungen: "Astern undRosen, Disteln und Mimosen", Zeitgedichte (Berl. 1870), "Hell undDunkel" (das. 1885) und "Traum und Sage" (das. 1886), von dendramatischen die Lustspiele: "Frauenhuld tilgt jede Schuld^ (1853)und "Meine Ruh' will ich, oder: Blemers Leiden" (1864) zuerwähnen. T. starb 2. Nov. 1887 in München. DieErgebnisse seiner Kunststudien, behufs deren er auch ausgedehnteReisen in Deutschland, nach England und Schottland unternommen,legte er nieder in dem Werke "Kunst und Kunstgewerbe vomfrühsten Mittelalter bis Ende des 18. Jahrhunderts"(Nördling. 1869). Auch veröffentlichte T. eine BiographieSchwanthalers ("L. Schwanthalers Reliquien", Münch. 1858).

2) Moritz, Philolog, geb. 24. März 1847 zu Kloden in derProvinz Sachsen, studierte zu Halle und Berlin klassischePhilologie und neuere Sprachen, machte 1867-70 Reisen nach Italien,Frankreich und England, war dann als Gymnasiallehrer in Leipzigthätig, habilitierte sich für englische Sprache undLitteratur daselbst und wurde 1880 als außerordentlicherProfessor nach Bonn berufen, 1885 zum ordentlichen Professordaselbst befördert. Sein Hauptwerk ist: "Die Sprachlaute imallgemeinen und die Laute des Englischen, Französischen undDeutschen insbesondere" (Leipz. 1886). Außerdem schrieb er:"Über Verfasser und Entstehungszeit einiger alliterierenderGedichte des Altenglischen" (Halle 1876), "LachmannsBetonungsgesetze und Otfrieds Vers" (das. 1877) u. a.

Trauttmansdorff, österreich. Adelsgeschlecht, inältester Zeit auf Stuchsen (Stixenstein) im Wienerwaldseßhaft; von demselben sollen in der Schlacht auf demMarchfeld (1278) 14, bei Mühldorf (1322) 20 Mitglieder unterhabsburgischem Banner gefallen sein. Das Geschlecht erhielt 1625die reichsgräfliche und 1805 die reichsfürstlicheWürde und teilte sich im 17. Jahrh. in mehrere Linien. Dererste Fürst war Ferdinand, geb. 12. Jan. 1749, gest. 27. Aug.1827 als k. k. Obersthofmeister; jetziger Fürst ist Karl, geb.5. Sept. 1845. Bemerkenswert sind:

1) Maximilian, Graf von T., österreich. Staatsmann, geb.23. Mai 1584 zu Graz, gewann seine Bildung teils durch Studien,teils auf Reisen und in Feldzügen, erwarb sich durch seinenÜbertritt zum Katholizismus die Gunst Ferdinands II.,schloß 1619 dessen Bündnis mit Maximilian von Bayern undverabredete dann als kaiserlicher Gesandter in Rom mit dem Papstund dem spanischen Gesandten die gemeinschaftlichen Maßregelnzur Führung des Kriegs. Er war einer der ersten, welcheWallenstein bei dem Kaiser hochverräterischer Absichtenbeschuldigten, und ward mit zur nähern Untersuchung desTatbestandes in dessen Lager abgesendet. Nach der NördlingerSchlacht 1634 bewog er den Kurfürsten von Sachsen, sich vonSchweden zu trennen, und 1635 schloß er den Frieden zu Pragab. Bei den Friedensunterhandlungen zu Münster undOsnabrück fungierte er als kaiserlicher Prinzipalkommissariusund hatte den wesentlichsten Anteil am Zustandekommen des Friedens.Er starb 7. Juli 1650 in Wien als Hauptgünstling KaiserFerdinands III. und dessen Prinzipalminister.

2) Ferdinand, Graf, österreich. Staatsmann, geb. 27. Juni1825, widmete sich wie sein Vater Graf Joseph von T., derlängere Zeit österreichischer Gesandter in Berlin war und1870 starb, dem diplomatischen Beruf, war mehrere JahreGesandtschaftssekretär in London, dann Legationsrat in Berlin,ward 1859 als außerordentlicher Gesandter undbevollmächtiger Minister an den badischen Hof nach Karlsruheversetzt, wo er den Großherzog 1863 zur Teilnahme amFürstentag in Frankfurt a. M. und 1866 zur Teilnahme am Kriegegegen Preußen zu bewegen wußte, 1867 zum Gesandten inMünchen befördert und 1868 zum Botschafter bei derpäpstlichen Kurie in Rom ernannt. 1872 legte er diesen Postennieder und ward zum zweiten Vizepräsidenten des Herrenhausesernannt, dem er schon längere Zeit als Mitgliedangehörte. Als nach dem konservativ-partikularistischenAusfall der Wahlen zum Abgeordnetenhaus im Juli 1879 FürstCarlos Auersperg das Amt eines ersten Präsidenten desHerrenhauses niederlegte, ward T. vom Kaiser zu seinem Nachfolgerund 1884 zum Oberstkämmerer ernannt.

Trautv. et Mey., bei botan. Namen Abkürzung fürE. R. v. Trautvetter, Professor der Botanik in Kiew, bereisteSibirien. Salix, Pentastemon. Flora Nordrußlands. - Mey., s.d.

Trauung (Kopulation), die kirchliche Weihe einesEhebundes. Auch die in der gesetzlichen Form erfolgendeEheschließung wird als T. bezeichnet, und man spricht dahervon einer Ziviltrauung, wenn die amtliche Bestätigung desEhebundes durch eine weltliche Behörde (Standesamt) erfolgt.Nachdem jedoch in Deutschland die obligatorische Zivileheeingeführt ist (s. Ehe, S. 339), versteht man unter T.schlechthin regelmäßig nur die kirchliche Einsegnung derEheleute, nachdem die Eheschließung selbst vor dem

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Travailleur-Expedition - Travankor.

weltlichen Standesbeamten erfolgt ist. Im ältern deutschenRecht ist T. die Übergabe der Braut in die Schutzgewalt(Mundium) des Verlobten, dem sie "anvertraut" wird. Fast bei allenVölkern werden eheliche Bündnisse mit gewissen Zeremoniengestiftet (s. Hochzeit). Die T. in der christlichen Kirche ist aberweder von Christus noch von der alten Kirche angeordnet. Zwar wardes bald Sitte, das Verlöbnis dem Bischof oderKirchenältesten anzuzeigen, und zum wirklichen Anfang der Ehewurde die kirchliche Einsegnung häufig begehrt und erteilt;ein die Gültigkeit der Ehe bedingendes Erfordernis ward jeneaber erst im 9. Jahrh., im Abendland durch Karl d. Gr., fürdie griechische Kirche durch Leo VI. Philosophus. Auch PapstNikolaus I. machte die Gültigkeit des ehelichenBündnisses davon abhängig, daß dieses mit demkirchlichen Segen und einer Messe geschlossen sei. Noch abererfolgte die Eheschließungserklärung vor dieserBrautmesse. Erst seit 1100 etwa befragt der segnende Priester dieEheschließenden um die Ernstlichkeit ihres Vorhabens. Abernoch die großen Dichtungen des deutschen Mittelalters lassendie Paare erst am Tag nach ihrer Verehelichung sich zur Kirchebegeben, und erst seit dem 15. Jahrh. finden sichTrauungsformulare, in welchen der Priester als StellvertreterGottes die Eheleute zusammenspricht. Aber selbst das tridentinischeKonzil verlangt zur Gültigkeit einer Ehe nur dieWillenserklärung derselben vor dem Pfarrer und zwei oder dreiZeugen, ohne die T. selbst für etwas Wesentliches zuerklären. Dies that erst die protestantische Kirche, und soherrschte bald in der alten wie in der neuen Kirche dieselbePraxis, wonach die Ehe ganz als Kirchensache behandelt, ihreGültigkeit aber von der kirchlichen T. abhängig gemachtward. Die T. wurde vollzogen, wenn nach dem öffentlichenAufgebot kein Einspruch erfolgte. Das tridentinische Konzilerklärte die Advents- und Fastenzeit für geschlosseneZeiten, d. h. Zeiten, in denen Trauungen nicht stattfinden sollen.Neuere evangelische Trauordnungen haben die geschlossenen Zeitenerheblich reduziert, so z. B. in Preußen auf die Karwoche,die ersten Festtage der drei hohen Feste, das Totenfest und dieBußtage. Der Ort der T. ist die Kirche; zu Haustrauungenbedarf es einer besondern Dispensation. Die T. wird von dem Pfarrerverrichtet, in dessen Kirchspiel die Braut einheimisch ist (ubisponsa, ibi copula); zum Vollzug an einem andern Ort gehörtdas Dimissoriale (Entlassungsschein) des berechtigten Geistlichen.Neuere Gesetze erklären aber auch den Pfarrer am Wohnort desBräutigams sowie denjenigen des Wohnorts, welchen die Eheleutenehmen, für zuständig. In der katholischen Kirchegehört das schon bei den alten Griechen, Römern undGermanen übliche Wechseln der Trauringe zu den notwendigenFormalitäten der T., was bei den Protestanten meist schon beider Verlobung geschieht. In der griechischen Kirche trinken dieeine metallene Krone tragenden Verlobten vor der Einsegnung Weinaus einem vom Priester dargereichten Kelch. Von denHochzeitskränzen, die in der alten Kirche beiden Verlobten beiihrer Einsegnung aufgesetzt wurden, ist unter denabendländischen Christen nur noch der Brautkranz als Bild derunverletzten Jungfrauschaft übriggeblieben und dieVerweigerung desselben für solche, die nicht mehr Jungfrauensind, als Mittel der Kirchenzucht. Fürstliche Personen lassenihre Bräute, wenn sie weit von ihnen entfernt wohnen, zuweilenmittelbar durch einen Bevollmächtigten sich antrauen (T. durchProkuration). Bei morganatischen Ehen wird die T. "zur linken Hand"bewirkt (s. Ebenbürtigkeit). Personen, die 50 Jahre in der Ehegelebt haben, werden als Jubelpaar gewöhnlich wieder kirchlicheingesegnet. Die katholische Kirche verlangt bei gemischten Ehen,daß das Paar jedenfalls von einem ihr angehörigenGeistlichen eingesegnet sowie daß das Versprechen gegebenwird, die Nachkommenschaft der katholischen Kirche zuzuführen.Ist dies nicht zu erreichen, so leistet der katholische Geistlichebei der T. nur "passive Assistenz". Nach dem deutschen Reichsgesetzvom 6. Febr. 1875 darf kein Geistlicher eine T. vornehmen, bevorihm nachgewiesen ist, daß die Ehe vor dem Standesbeamtenabgeschlossen worden. Die ausdrückliche Erklärung desPersonenstandsgesetzes, daß die kirchlichen Verpflichtungenin Beziehung auf die T. durch dies Gesetz nicht berührtwerden, enthält eigentlich nur etwasSelbstverständliches. Die katholische Kirche, welche die Eheals Sakrament auffaßt und das bürgerlicheEheschließungsrecht grundsätzlich ignoriert, hat nachder Einführung der Zivilehe in Deutschland sich nichtveranlaßt gesehen, den bisherigen Ritus bei der T. zuverändern. Dagegen haben die in den einzelnen Staatenerlassenen protestantischen Trauordnungen (z. B. preußischesKirchengesetz vom 30. Juli 1880, Trauordnung für die ProvinzHannover von 1876, für Bayern von 1879, Sachsen von 1876,Württemberg von 1875, badische Agende von 1879 etc.)namentlich das sogen. Trauformular, d. h. die agendarische Formel,mit welcher der Geistliche die Eheschließenden zusammengibt,abgeändert, indem dabei der Gedanke zum Ausdruck gebrachtwird, daß die Ehe selbst bereits abgeschlossen sei. Die vonden Eheleuten zu bejahende Gelöbnisfrage des Geistlichen istdem entsprechend nur darauf gerichtet, ob die Eheleute alschristliche Ehegatten einträchtig miteinander leben, einandertreu und herzlich lieben, sich weder in Leid noch in Freud'verlassen, sondern den Bund der christlichen Ehe heilig undunverbrüchlich halten wollen, bis der Tod sie einst scheidenwerde. Das vorgängige kirchliche Aufgebot ist meistens alseine einmalige "Eheverkündigung" beibehalten, sei es vor, seies nach dem bürgerlichen Aufgebot; doch ist Dispens von demerstern zulässig. Eine ohne nachfolgende kirchliche T. nur vordem Standesbeamten geschlossene Ehe ist bürgerlichgültig. Die Kirche kann nur durch Disziplinarmittel auf dieNachholung einer unterlassenen T. hinwirken. Als Kirchenzuchtmittelkennt die protestantische Kirche bei hartnäckiger Verweigerungder Traupflicht die Entziehung der kirchlichen Wahlrechte, mitunterauch die Unfähigkeit zur Patenschaft oder auch dieAusschließung vom Abendmahl. Vgl. Friedberg, Das Recht derEheschließung (Leipz. 1865); Derselbe, Verlobung und T. (das.1876); Sohm, T. und Verlobung (Weim. 1876); Derselbe, ZurTrauungsfrage (Heilbronn 1879); Dieckhoff, Zivilehe und kirchlicheT. (Rost. 1880); v. Scheurl, Das gemeine deutsche Eherecht (Erlang.1882); Grünwald, Die Eheschließung (nach denBestimmungen der verschiedenen Staaten, Wien 1881).

Travailleur-Expedition 1880-82, s. Maritimewissenschaftliche Expeditionen, S. 257.

Travankor (Travancore), britisch-ind. Vasallenstaat aufder Südspitze (Westseite) von Vorderindien, 17,230 qkm (319QM.) groß mit (1881) 2,401,158 Einw. (498,542 Christen, nur146,909 Mohammedaner, im übrigen Hindu). Von der flachenKüste, hinter der sich Strandseen hinziehen, welche alsvorzügliches Kommunikationsmittel dienen, steigt das Land

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Trave - Trawna.

allmählich zu den bis 2500 m hohen Bergzügen auf,welche die östliche Grenze bilden. In den Ebenen werden Reis,Kokos- und Arekapalmen, Pfeffer, Tapioka, in den HügelnKardamome und Kaffee kultiviert, die Wälder enthaltenvorzügliche Holzarten (Teak-, Ebenholz) sowie zahlreicheElefanten, Tiger, Leoparden, Bären, große Hirscharten.Das Klima an der Küste ist heiß, der Regenfall stark.Die Verwaltung ist eine gute, für das Schulwesen wird gesorgt,eine höhere Schule zu Trivandrum ist gut besucht. DieEinkünfte betragen 600,000 Pfd. Sterl. jährlich. DieArmee besteht aus 1470 Mann mit 4 Geschützen; die Post hat 87Ämter. Hauptstadt ist Trivandrum (s. d.). Der ersteFreundschaftsvertrag mit England wurde 1788 geschloffen, der letzte1805, wodurch T. in ein Vasallenverhältnis zu Englandtrat.

Trave, Fluß in Norddeutschland, entspringt beiGiesselrade in dem zu Oldenburg gehörigen Amt Ahrensbök,geht bald nach Schleswig-Holstein über, fließt hier erstsüdwestlich durch den Wardersee nach Segeberg, auf dieserStrecke bei Travenhorst durch den Seekamper und Seedorfer See, mitder Tensfelder Aa (zum Plöner See) zusammenhängend, dannnach S. bis Oldesloe, wendet sich hierauf nach O. und NO. und trittin das lübecksche Gebiet, wo sie sich unterhalb Lübeckseeartig erweitert und kurz vor ihrer Mündung beiTravemünde in die Lübische Bucht die Pötenitzer Wiekbildet, mit welcher der Dassower See zusammenhängt. Die T. ist112 km lang, von Oldesloe ab 38 km schiffbar, trägt vonLübeck ab Seeschiffe bis zu 5 m Tiefgang und nimmt links dieSchwartau, rechts die Beste, die Stecknitz, aus welcher derStecknitzkanal zur Elbe führt, die schiffbare Wakenitz unddurch den Dassower See die schiffbare Stepenitz auf.

Traveller (engl., spr. träwweler), Reisender.

Travemünde, Amts- und Hafenstadt im Gebiet derFreien Stadt Lübeck, an der Mündung der Trave und an derEisenbahn Lübeck-T., hat eine evang. Kirche, einen Leuchtturm,ein besuchtes Seebad, Schiffahrt, Fischerei, eine Lotsenstation,eine Station der Deutschen Gesellschaft zur RettungSchiffbrüchiger und (1885) 1666 fast nur evang. Einwohner. T.gehört seit 1329 dauernd zu Lübeck. Vor der Vollendungder Stromlaufkorrektion der Trave war T. der Hafenort fürLübeck.

Traventhal (Travendal), Amtsort im preuß.Regierungsbezirk Schleswig, Kreis Segeberg, an der Trave, mit einemfrühern Lustschloß der Herzöge vonHolstein-Plön, Landesgestüt und 160 Einw., istbemerkenswert wegen des hier 18. Aug. 1700 zwischen Karl XII. vonSchweden und Friedrich IV. von Dänemark abgeschlossenenFriedens, worin letzterer den Herzog Friedrich IV. vonHolstein-Gottorp zu entschädigen und das Bündnis mitPolen und Rußland aufzugeben versprach.

Travers (das, franz., spr. -währ), Quere,Unregelmäßigkeit; Grille, Wunderlichkeit.

Travers, Val de (spr. wall d'trawähr), Thal imschweiz. Kanton Neuenburg, von der Areuse (fälschlich LaReuse) durchflossen und der Eisenbahn Pontarlier-Neuchâteldurchzogen, öffnet sich vor Boudry zur Ebene des NeuenburgerSees und enthält in elf Gemeinden eine protestantische,gewerbfleißige Bevölkerung von (1888) 16,664 Seelen.Seine Asphaltminen sowie die Fabrikation von Schokolade und Absinthhaben ihm Ruhm verschafft. Der Asphalt, in der Nähe des an dergenannten Eisenbahn liegenden Dorfs T. (2000 Einw.), bildet einLager von 6 m Mächtigkeit mit einem durchschnittlichenBitumengehalt von 10 Proz. Aus dem Thalkessel von St.-Sulpice (779m ü. M.) steigt die Bahn zu den Höhen von LesVerrières (933 m) an, zwei Grenzorten, VerrièresSuisses und Verrières Françaises. Hier betrat 1.Febr. 1871 die geschlagene Armee Bourbakis, 80,000 Mann stark, denBoden der Schweiz, um von den Schweizer Milizen entwaffnet undinterniert zu werden. Hauptort des Thals ist Motiers; aber dievolkreichsten Gemeinden sind Fleurier (3208 Einw.) und Couvet (2285Einw.).

Traverse (franz., "Querstück, Querweg"), in derKriegsbaukunst ein Querwall, der hinter der Brustwehr vonBefestigungen senkrecht zu dieser aufgeworfen wird, um dieVerteidiger gegen Feuer von seitwärts zu decken. Die T. istentweder voll in Erde angeschüttet, Volltraverse, oder mittelsSchanzkörben, resp. in Mauerwerk als Hohltraverseaufgeführt zum Schutz für Mannschaften und leichteGeschütze und heißt dann Schutzhohlraum. Befindet sichin einem solchen eine Geschoßhebevorrichtung, so heißtdie T. Munitionsfördertraverse. Sie liegt senkrecht überdem Verbrauchsgeschoßmagazin des Ladesystems (s. d.). In denFlügelmauern der Hohltraversen befinden sich durchStahlblechläden geschlossene Munitionsnischen. - T.heißt auch eine Querschranke, ein Querverschlag in einemSaal; im Bauwesen ein eiserner Träger; an Dampfmaschinen auchdie Teile zwischen Kolbenstange und Balancier.

Traversieren (franz., travers reiten), der Quere nachbewegen, durchschneiden, überschreiten; in der ReitkunstSchullektion, bei welcher das Pferd auf zwei Hufschlägen, undzwar mit dem Vorderteil gegen die Wand, mit dem Hinterteil gegendas Innere der Bahn gerichtet, sich so vorwärts bewegt,daß die äußern Beine vor und über dieinwendigen gesetzt werden. Die Vorhand beschreibt somit dengrößern Kreis (vgl. Renversieren). In der Fechtkunstbedeutet der Ausdruck: seitwärts ausfallen.

Travertin (Lapis Tiburtinus), Kalktuffbildungen inItalien, bildet stellenweise mächtige Ablagerungen, z. B. beiTivoli (Tibur), und ist seit dem Altertum ein gesuchtes Baumaterial(Kolosseum, Peterskirche etc.). Vgl. Kalktuff.

Travestie (vom ital. travestire, verkleiden), einekomische (auch wohl satirische) Dichtungsart, in welcher ein ernstgemeintes poetisches Erzeugnis dadurch lächerlich gemachtwird, daß dessen Inhalt beibehalten, aber in eine zudemselben nicht passende äußere Form gekleidet(verkleidet, daher der Name) wird, während bei der Parodie (s.d.) das Umgekehrte geschieht, d. h. die Form beibehalten, aber ihrein unpassender Inhalt gegeben wird. In Hinsicht der Form kann dieT. episch, lyrisch und dramatisch sein. Unter den Neuern hat diefranzösische Frivolität sich am meisten dieses Feldesbemächtigt; vorzugsweise sind hier Marivaux und Scarron zunennen. In Deutschland wird die T. fast allein durch Blumauers"Äneide" vertreten, hinter welcher der holländische"Virgilius in de Nederlanden", von Leplat im 18. Jahrh. gedichtet,weit zurücksteht.

Traviata (ital.), die Verirrte, Verführte.

Trawl (engl., spr. trahl), Schleppnetz, s. Fischerei, S.304.

Trawna, Kreishauptstadt in Bulgarien, am Balkan,über den von hier der Paß von T. führt, das"bulgarische Nürnberg" genannt, liefert trefflicheHolzschnitzereien und Heiligenbildnisse, Posamentierarbeiten,Rosenöl, Decken und andre Artikel aus Pferdehaar etc. undhatte 1881: 2222 Einw. In der Nähe ein großes, aber nochunbenutztes Kohlenflöz.

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Trawnik - Trebonius.

Trawnik, Kreisstadt in Bosnien, im schmalen Lasvathalgelegen und teilweise auf einer steilen Lehne einer Seitenschluchterbaut, bietet mit seinen zahlreichen Minarets, Kuppeln undBauminseln, den steilen Felshöhen des Vlasic, der altenBurgfeste, den imposanten Kasernenbauten sowie den zahllosenLandhäuschen und Kiosken von der Ferne einen herrlichenAnblick. T. hat 16 Moscheen und (1885) 5933 meist mohammedan.Einwohner und ist Sitz eines Militär-Platzkommandos undKreisgerichts. Bis 1850 war T. die eigentliche Hauptstadt und dieResidenz des bosnischen Gouverneurs. Das Trawniker Beckenenthält reiche Braunkohlenlager.

Traz os Montes (spr. tras. "jenseit der Berge"), dienordöstlichste Provinz Portugals, grenzt nördlich undöstlich an Spanien, südlich an die Provinz Beira,westlich an Minho und umfaßt 11,156 qkm (201,9 QM.), nachStrelbitsky nur 11,033 qkm, mit (1878) 393,279 Einw. Diese Provinzist das am höchsten gelegene Terrain Portugals und von wildenFelsgebirgen durchzogen. Das höchste Gebirge, die Serra deMonte Zinho, mit Heiden bedeckt, steigt bis zu 2270 m auf; aus derProvinz Minho ziehen sich die Serra de Gerez und Serra deMarão herüber; niedriger sind die südlichenBergreihen. Der Hauptfluß ist der Douro, welcher die Ost- undSüdgrenze der Provinz bildet und von hier den Sabor, die Tuaund die Tamega aufnimmt. Das Klima ist im Sommer sehr heiß,im Winter aber rauh und kalt. Der Boden, obgleich meist felsig undsteinig, ist doch in vielen Gegenden trefflich angebaut. Der Nordenerzeugt Roggen und Weizen, Flachs und Hanf, der Süden Mais,Mandeln und Orangen; Haupterzeugnis aber ist der Wein, besonders amobern Douro (Portwein). Die Provinz ist reich an Erzen (besondersEisen), welche aber nicht mehr ausgebeutet werden, und hat auchmehrere Mineralquellen. Die Bewohner charakterisiert der heiternBevölkerung der Provinz Minho gegenüber ein düsteresund abergläubisches Wesen. Ausfuhrartikel sind namentlich:Maulesel, Wolle, Seide und Wein. Die Provinz zerfällt in diebeiden Distrikte Villa Real und Braganza. Hauptstadt istBraganza.

Treasure (engl., spr. tresch'r), Schatz; Treasurer,Schatzmeister; Lord High Treasurer (First Lord of the Treasury),Großschatzmeister; Treasury, Schatzkammer, Schatzamt;Treasury Note, Schatzschein, Kassenschein. Der First Lord of theTreasury in England ist gewöhnlich der erste Minister, undsein Departement (Treasury) kontrolliert sämtliche Einnahmenund Ausgaben des Staats, während der eigentlicheFinanzminister den Titel Chancellor of the Exchequerführt.

Trebbia (im Altertum Trebia), Fluß in Oberitalien,entspringt am Nordabhang des ligurischen Apennin in der ProvinzGenua, fließt nordöstlich, tritt in die Provinz Piacenzaund fällt dort nach einem Laufe von 115 km oberhalb der StadtPiacenza rechts in den Po. Die T. ist historisch berühmt durchzwei Schlachten: in der ersten besiegte Hannibal 218 v. Chr. denrömischen Konsul Sempronius Longus. Die zweite fand 17.-20.Juni 1799 statt zwischen den Franzosen unter Macdonald und denvereinigten Österreichern und Russen unter Suworow, wobeierstere unterlagen.

Trebbin, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Potsdam,Kreis Teltow, an der Nuthe und an der Linie Berlin-Halle derPreußischen Staatsbahn, 39 m ü. M., hat eine evang.Kirche, ein Amtsgericht, Zigarrenfabrikation, Dampfdrechslerei,Ziegelbrennerei und (1885) 2855 meist evang. Einwohner. Hier 21.Aug. 1813 siegreiches Gefecht des französischen Korps Oudinotgegen die preußische Brigade v. Thümen.

Trebel, Fluß im preuß. RegierungsbezirkStralsund, entspringt im Kreis Grimmen, fließt westlich undsüdöstlich, bildet eine Strecke weit die Grenze Pommernsgegen Mecklenburg, steht durch den Mohrgraben mit der Recknitz inVerbindung und mündet bei Demmin links in die Peene. Sie istbei hohem Wasserstand 28 km weit schiffbar.

Trebellins Maximus, röm. Konsul 62 n. Chr., nachwelchem der Senatsschluß über die Universalfideikommisse(senatusconsultum Trebellianum) benannt ist, womit Justinian dasPegasianische Senatuskonsult (unter Vespasian) verschmolz, das vomAbzug des rechtmäßigen Viertels handelt. Letzteresheißt daher Quarta Trebelliana.

Treber (Träber, Trester, Seih), die ausgezogenenMalzhülsen der Bierbrauereien und die ausgepreßtenWeintrauben. Erstere bilden ein wertvolles Viehfutter, dessenNahrungswert mit der Stärke des Biers schwankt. Am besteneignen sich die T. zu Milchfutter. 100 kg Darrmalz lieferndurchschnittlich 133 kg nasse T., welche, auf den Darrungsgrad desMalzes zurückgebracht, 33 kg betragen. Die Weintreberverfüttert man mit Spreu, Häcksel, Ölkuchen,Getreideschrot für Rindvieh, Schafe und Schweine; auch dienensie zur Bereitung von Tresterwein, Branntwein, Essig,Grünspan, Leuchtgas, Frankfurter Schwarz.

Treberausschlag, s. v. w. Schlempemauke, s. Mauke.

Trebinje, Bezirksstadt in Bosnien, Kreis Mostar, amFluß Trebincica, leicht befestigt, hat ein Schloß und(1885) 1659 Einw., ist Sitz eines katholischen Bischofs, einesMilitär-Platzkommandos und Bezirksgerichts und war früherdie Hauptstadt des Fürstentums Terbunia. Sehr interessant istdas gegen NW. sich hinziehende Thal der Trebincica, auchPopovopolje (Popenfeld) genannt, zu dem ein steiler Geröllpfadhinaufführt. Daselbst wohnen die im ganzen Land herumziehendenMauren (Katholiken).

Trebisonda, Stadt, s. Trapezunt.

Trebitsch, Stadt in Mähren, an der Iglawa und derEisenbahn Brunn-Okrzisko, Sitz einer Bezirkshauptmannschaft undeines Bezirksgerichts, besteht aus der eigentlichen Stadt, 5Vorstädten und der Judenstadt, hat ein gräflichWaldsteinsches Schloß mit schöner Schloßkirche undPark, eine baulich interessante Abteikirche im Übergangsstilmit großer Krypte und reichem Nordportal, eine Synagoge, einStaatsobergymnasium, bedeutende Leder- und Schuhfabrikation,Dampfmühle, Bierbrauerei und Mälzerei,Likörfabrikation, Tuchweberei, Leimsiederei, stark besuchteMärkte und nebst dem angrenzenden Unterkloster (1880) 10,452Einw.

Trebnitz, Kreisstadt im preuß. RegierungsbezirkBreslau, am Trebnitzer Wasser und am Fuß des TrebnitzerLandrückens (Katzengebirge), 146 m ü. M., an der LinieHundsfeld-T. der Preußischen Staatsbahn, hat eineevangelische und eine kath. Kirche, ein Amtsgericht, Bierbrauereiund (1885) 4920 meist evang. Einwohner. T., das 1228 deutschesStadtrecht erhielt, ist ein berühmter Wallfahrtsort; dasehemalige Cistercienserkloster (jetzt Krankenanstalt der Schwesternvom heil. Borromeus) wurde 1203 von Hedwig, der Gemahlin HerzogHeinrichs des Bärtigen, gestiftet.

Trebonius, Gajus, röm. Ritter, gab als Volkstribun55 v. Chr. die nach ihm genannte Lex Trebonia, wodurch PompejusSpanien, Crassus Syrien aus fünf Jahre als Provinzen verliehenund Cäsar die Provinz Gallien auf weitere fünf Jahreverlängert wurde. Er begleitete Cäsar als Legat nachGal-

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Trebsen - Treiben.

lien, wurde 45 Konsul, nahm aber später an derVerschwörung gegen Cäsar teil. Im Mai 44 ging er alsProkonsul nach Asien und wirkte hier für Brutus und Cassius,ward aber im Februar 43 von P. Dolabella in Smyrna erschlagen.

Trebsen, Stadt in der sächs. KreishauptmannschaftLeipzig, Amtshauptmannschaft Grimma, Knotenpunkt der LinienGlauchau-Wurzen und Döbeln-Wermsdorf der SächsischenStaatsbahn, hat eine evang. Kirche, ein Schloß,Porphyrbrüche und (1885) 1122 evang. Einwohner. Dabei der 220m hohe Kohlenberg mit Aussichtsturm.

Trebur, Flecken in der hess. Provinz Starkenburg, KreisGroßgerau, unweit des Rheins, hat eine evang. Kirche,bedeutende Käsefabrikation und (1885) 1826 Einw. - T.(ursprünglich Tribur) war schon zu Karls d. Gr. Zeit einekönigliche Pfalz, kam später unter die Vogtei der Herrenvon Münzenberg, ward 1246 von Wilhelm von Holland an denGrafen Diether III. von Katzenelnbogen verpfändet und mit demgrößten Teil seines Gebiets von Rudolfvon Habsburg demGrafen Eberhard von Katzenelnbogen verliehen. Den Rest derBesitzungen, welcher bisher den Herren von Falkenstein gehörthatte, erwarb Graf Johann 1422. T. war in der Zeit der Karolingerund der salischen Kaiser häufig Sitz von Reichstagen; ambekanntesten sind die von 1066, wo Adalbert von Bremengestürzt wurde, und von 1076, wo die Fürsten Heinrich IV.aufgaben, die Lossprechung vom Bann binnen Jahresfrist zu erwirken.895 fand daselbst eine Synode statt, zu welcher auch KönigArnulf erschien.

Trecate, Flecken in der ital. Provinz Novara, an derEisenbahn Mailand-Novara, hat Reste alter Befestigungswerke, Reis-und Seidenbau, Käsebereitung und (1881) 5259 Einw.

Trecento (spr. -tschennto. "dreihundert"), in derKunstgeschichte übliche Bezeichnung für die italienischeKunst des 14. Jahrh., insbesondere für Giotto und seine Schuleund für Giovanni Pisano und seine Nachfolger (Trecentisten).Vgl. Quattrocento und Cinquecento.

Treckfahrtskanal, Schiffahrtskanal zwischen Emden undAurich, in der preuß. Provinz Hannover, ist 23,5 km lang und3 m tief.

Treckschuiten (holl., spr. -scheuten), s. Halage.

Tredegar, Stadt in Monmouthshire (England), inmitten desreichsten Kohlen- und Eisenreviers, mit (1881) 18,771 Einw.

Tredgold, Thomas, Zivilingenieur, geb. 22. Aug. 1788 zuLerrendon bei Durham, trat, nachdem er längere Zeit praktischgearbeitet, 1813 in das Büreau des Architekten Atkinson,Erbauers des Zeughauses in London, ein und trieb eingehendetheoretische Studien. Neben zahlreichen Aufsätzen überphysikalische Gegenstände veröffentlichte er: dievielfach aufgelegten "Elementary principles of carpentry" (Lond.1820, 7. Aufl. 1886; daneben andre Ausgaben); "Essay on thestrength of cast iron" (neue Ausg. 1860) und die "Treatise onwarming and ventilating" (neue Ausg. 1842); "Practical treatise onrail-roads and carriages"; "The steam-engine" (1827; neue Ausg.1853, 3 Bde.). Er starb 28. Jan. 1829.

Tredici Comuni (spr. treditschi), s. Comuni.

Tredjakowskij, Wasilij Kirillowitsch, russ.Schriftsteller, geb. 1703 zu Astrachan, starb als Hofdichter 6.Aug. (a. St.) 1769. Er war ein talentloser Reimschmied, der durchLiebedienerei sich die Gunst des Hofs erwarb und dadurch zu hohenEhren stieg, so unter anderm von der Kaiserin Anna Iwanowna zumMitglied der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften ernannt wurdeund den Auftrag erhielt, "die russische Sprache sowohl durch Verseals auch durch Prosa zu reinigen". Alle seine Festgesänge insteifen schwunglosen Versen sind längst vergessen; sein Namelebt nur noch in der litterarischen Kritik fort als Synonymfür Talentlosigkeit, dichterische Überhebung und Buhlereium Hofgunst.

Treene, Fluß in Schleswig-Holstein, entstehtsüdöstlich von Flensburg, ist 21 km schiffbar undmündet bei Friedrichstadt rechts in die Eider.

Treffen, Kampf zwischen größern Truppenmassen(s. Gefecht); ferner die einzelnen Schlachtlinien, in denen dieTruppen nacheinander mit dem Feind in Berührung treten. Manunterscheidet in dieser Hinsicht: ein Vorder- und Hintertreffen,ein erstes, zweites, drittes T. Während das erste T. imunmittelbaren Kampf mit dem Feind sich befindet, ist das zweite zurUnterstützung, Ablösung, Sicherung des Rückens undder Flanken bereit; das dritte dient in der Regel nur alsReserve.

Treffurt, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Erfurt,Kreis Mühlhausen, an der Werra, hat eine evangelische und einekath. Kirche, eine Schloßruine (Normanstein),Zigarrenfabrikation, Obstbau und (1885) 1814 meist evang.Einwohner.

Trèfle (franz., spr. träfl, "Klee,Kleeblatt"), Farbe der franz. Spielkarte, deutsch Treff("Eichel").

Trefort, August, ungar. Staatsmann, geb. 1817 zu hom*onnaim Zempliner Komitat, studierte zu Pest die Rechte, trat 1837 inden Staatsdienst, gab 1840 im Verein mit Baron JosephEötvös und Ladislaus Szalay die "Budapesti Szemle"(Revue) heraus, wurde 1843 von der Stadt Pest in den Reichstaggewählt, trat 1844 in die Redaktion des Kossuthschen "PestiHirlap" ein, ward 1848 Staatssekretär des damaligenHandelsministers Gabriel Klanzal, nach dessen Rücktritt selbstMinister, zog sich aber schon im Oktober vom politischen Lebenzurück und reiste (bis 1850) mit Baron Joseph Eötvösins Ausland. Seit dem Wiedererwachen des konstitutionellen Lebens1860 war er fortwährend öffentlich thätig teils alsDeputierter, teils als Leiter öffentlicher Unternehmungen. DieAlföldbahn ist sein Werk. Seit 1865 Mitglied desAbgeordnetenhauses, stand er stets in den vordersten Reihen derDeákpartei. 1872 wurde er zum Kultusminister ernannt und1885 zum Präsidenten der ungarischen Akademie erwählt. Erstarb 22. Aug. 1888 in Pest. Von ihm erschienen "Reden und Studien"(deutsch, Leipz. 1883) und "Essays und Denkreden" (das. 1887).

Tréguier (spr. treghjeh), Stadt im franz.Departement Côtes du Nord, Arrondissem*nt Lannion, amgleichnamigen Küstenfluß, welcher die größtenSchiffe trägt und bald darauf in den Kanal (La Manche)fällt, hat einen guten Handelshafen, Stockfisch-, Makrelen-und Austernfang, Schiffahrt, Handel und (1881) 3125 Einw.

Treibeis, s. Eis, S. 399, und Polareis.

Treibel, s. Lammfelle.

Treiben, das Jagen der Tiere und Ricken durch die Hirscheund Böcke in der Brunftzeit, um sie zu beschlagen; auch einRevierteil, aus welchem das Wild dem vorstehenden Schützenzugetrieben wird.

Treiben, dehnbare Metalle mit Hammer (Treibhammer) undAmboß (Treibstock) bearbeiten, namentlich Gefäßeetc. aus Blech herstellen, indem man durch Ausdehnung der mittlernTeile eines Blechstücks eine Vertiefung erzeugt (Auftiefen)oder den Rand aufbiegt (Aufziehen) und die Wandung ver-

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Treibendes Zeug - Treibjagd.

engert (einzieht) oder erweitert (schweift). Hierbei kommen auchdie übrigen Blecharbeiten, wie Bördeln, Sieken etc., zurAnwendung und bei kunstindustriellen Gegenständen namentlichdas T. mit Bunzen. Vgl. Getriebene Arbeit. In der Metallurgie s. v.w. abtreiben. - In der Gärtnerei heißt T., gewissePflanzen durch Anwendung künstlicher Wärme und andrerBedingungen früher als naturgemäß zur Ausbildungvon Blättern, Blüten und Früchten bringen. DieTreiberei bezieht sich besonders auf feinere Gemüse,Blütenpflanzen u. Obst. Zur Wärmeerzeugung benutzt man,um gleichzeitig feuchte Luft zu erhalten, Mist, Laub, Lohe,Baumwollabfälle, Wasser- und Dampfheizung in Treibkästenoder Gewächshäusern (s. d.). Das T. beginnt, je nachBedürfnis und Treibfähigkeit der Pflanzen, früheroder später vom Oktober bis März, z. B. bei Hyazinthen imNovember, bei Tulpen, Roman-Hyazinthen, Maiblumen noch früher.Von Blumen werden getrieben: Blumenzwiebeln, Stauden, schönblühende Gesträuche, vorzugsweise Rosen; vonFrüchten: Wein, Pfirsiche, Himbeeren, Ananas, Erdbeeren,Aprikosen, Pflaumen und Kirschen; von Gemüsen in Mistbeetenund Treibhäusern: Blumenkohl, Kohlrabi, Kopfsalat, Gurken,Bohnen, Melonen, Karotten, Radieschen etc. Alle getriebenen Blumensind empfindlich gegen Luftwechsel und müssen weit vonÖfen aufgestellt, auch sorgfältig verwahrt transportiertwerden. Blütensträucher, Blumenzwiebeln u. a.bedürfen einiger Zeit der Ruhe, ehe sie zu ungewöhnlicherZeit in Blüte gebracht, d. h. getrieben, werden können.Letztere, Hyazinthen, Tulpen, Krokus u. a., pflanzt man, nachdemsie bereits mehrere Wochen außerhalb der Erde zugebracht, inTöpfe mit leichter Erde und gutem Wasserabzug, gräbt siedann sortenweise 50 cm tief im Erdboden ein oder stellt sie imkühlen, dunkeln Keller auf, bis sie genügend Wurzelngebildelt haben, was man bemerkt, wenn man den Topf mit der Zwiebelzwischen den Fingern der linken Hand umkippt; dann kann man siesofort warm stellen, gibt ihnen aber eine Papierhaube, um durchAbschluß des Lichts den Blütenschaft zu verlängern;Krokus müssen aber im Keller angetrieben werden.Blütensträucher werden erst kalt und nach und nachwärmer gestellt, auch öfters durch Spritzen angefeuchtet;Staudenblumen dürfen nicht vor Sichtbarwerden der Blütewarm stehen. Gemüsepflanzen zieht man zuerst im besondernKasten an und bringt sie genügend entwickelt in einen andern,inzwischen warm angelegten Kasten. Gurken u. a. treibt man auch imGewächshaus. Für das T. von Obst, auch Erdbeeren, hat manbesondere Häuser, in denen die Sträucher, Bäumchenund Pflanzen nach und nach wärmer und feuchter gehaltenwerden. Ananasfruchtpflanzen kommen sofort ins warme Haus, ambesten mit Unterwärme von Mist, Baumwollabfällen undausgekochtem Hopfen, die wie beim Mistbeet (s. d.) vorbereitetwerden. Vgl. Jäger, Winterflora (4. Aufl., Weim. 1880);Derselbe, Gemüsetreiberei (2. Aufl., das. 1863); Lucas,Gemüsebau (4. Aufl., Stuttg. 1882); Tatter, Anleitung zurObsttreiberei (das. 1878).

Treibendes Zeug, gangbares Zeug, s. Vorgelege.

Treibhaus, s. Gewächshäuser.

Treibjagd, eine Jagd mit Schützen und Treibern. ImWald können meist nur Vorstehtreiben (Standtreiben), d. h.solche Treiben eingerichtet werden, bei welchen sich eine Treibwehrauf die an der andern Seite des Treibens angestellten Schützenzu bewegt und das Wild auf diese zutreibt. Die Treiber müssenin einer solchen Entfernung voneinander aufgestellt werden,daß sie sich gegenseitig sehen können, sie müssenmit Innehaltung derselben auf ein gegebenes Signal sich inmöglichst gerader Linie langsam fortbewegen und dabei durchKlappern, Husten, Schlagen an den Stämmen Lärm machen.Die Schützen, welche an Wegen, Schneisen etc. möglichstgeräuschlos in 50-60 Schritt Abstand angestellt werden,müssen sich thunlichst an Bäumen oder Sträuchern zudecken suchen, bewegungslos verhalten und dürfen ihreStände nicht vor beendetem Trieb verlassen. Bei den auf Hasenabgehaltenen Feldjagden können die Treiben als Vorstehtreiben,als Kesseltreiben und als böhmische Treiben veranstaltetwerden. Die Vorstehtreiben werden ebenso wie im Wald gemacht, nurgräbt man wohl für die Schützen Standlöcher indie Erde oder baut Jagdschirme aus Reisig, wenn es an Bäumenund Sträuchern fehlt, um sie gedeckt aufstellen zukönnen. Bei den Kesseltreiben läßt man Treiber undSchützen von einem geeigneten Punkt ablaufen. Rechts und linksdavon wird zur Bestimmung der Entfernung, in welcher sie gehensollen, in 60-80 Schritt Abstand je nach der Zahl derselben und derGröße des Kessels ein Treiber aufgestellt oder einMarkierpfahl errichtet. Zuerst laufen nun die beidenFlügelführer, d. h. Jäger oder Treiber, die genauortskundig sind, ab und richten ihren Zug so ein, daß sienach rechts und links auf der Grenzlinie des Kessels entlang gehen,um auf dem der Auslaufstelle entgegengesetzten Punkt wiederzusammenzutreffen. Sobald sie den Markierpunkt überschrittenhaben, folgt je ein Treiber und, nachdem 2-4 Treiber abgelaufensind, nach dem Verhältnis zwischen Treibern und Schützen,je ein Stütze. Ist sämtliches Personal in dervorstehenden Weise abgelaufen, so rückt der Sack, d. h. diehintere Linie, nach, bis die Flügelführer durch einHornsignal melden, daß sie zusammengetroffen sind, also derKessel geschlossen ist. Nunmehr bewegen sich alle langsam nach demMittelpunkt, welcher öfters durch eine Stange bezeichnet wird,zu, bis der Trieb so weit ins Enge gekommen ist, daß dieSchützen auf 40-50 Schritt Entfernung stehen. Auf das Signaloder den Ruf "Treiber vor" begeben sich diese in den Kessel,während die Schützen stehen bleiben und von da ab auf dasWild, welches noch aufgetrieben wird, nicht mehr in den Kessel,sondern nur noch rückwärts schießen dürfen.Zur Veranstaltung der böhmischen Treiben sind zwei mindestenstausend Schritt lange Leinen erforderlich, in welche auf etwa 40Schritt Entfernung Zeichen eingeknüpft sind. Auf einen Haspelgewunden, werden diese auf den beiden Punkten des Treibensaufgestellt, von welchen die Flügel ablaufen sollen. DieFlügelführer nehmen die Enden derselben in die Hand undgehen wie beim Kesseltreiben vorwärts. Sobald nun beimAbhaspeln der Leine ein Markierzeichen erscheint, faßt einTreiber dieselbe dort mit der Hand und folgt den voraufgehenden u.s. f., bis die Lappenleinen abgewickelt sind. Auf der Linie, welchein ihren Endpunkten durch die Enden der Lappenleinen bestimmt ist,werden nun die Schützen aufgestellt, zwischen welchen mannoch, falls die Entfernungen beträchtlich sind, je 1-3 Treibereinreiht, damit diese etwa auf sie zulaufendes Wild nach denSchützen abkehren. Ebenso werden noch 2-3 Schützenzwischen den dem Sack zunächst an der Lappenleine gehendenTreibern postiert, welche Lappenschützen heißen undgewöhnlich die meisten Hasen erlegen. In der angegebenenAufstellung wird nun das ganze für einen Trieb bestimmte Feldabgestreift. Die Hasen rücken anfangs vorwärts, sobaldaber die Entfernung

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Treibrad - Treja.

von ihrem Lager zu erheblich wird, kehren sie um und versuchendurch die im Sack postierte Schützenlinie zurückzugehen,wobei sie zu Schuß kommen. An der Grenze des Treibensangelangt, schwenken zuletzt die Flügelführer zusammenund bilden dadurch schließlich einen Kessel. DieVorstehtreiben, welche man auf Rot-, Dam- und Rehwild sowie aufSauen veranstaltet, haben gewöhnlich dann wenig Erfolg, wennman dazu eine aus vielen Treibern bestehende, sehrgeräuschvolle Wehr verwendet. Das Wild geht leichterzurück, es wird eher von wenigen ortskundigen Leuten, welchedie Treiben abgehen, vorgebracht. Man erlegt auch Waldschnepfen undWildenten, selbst Gänse und Trappen auf Standtreiben. Amleichtesten lassen sich der Wolf und der Fuchs treiben, undletzterer wird meist auf solchen Treibjagden erlegt, welche man imWald zugleich auf Hasen veranstaltet.

Treibrad (Triebrad), ein Rad, auf welches die bewegendeKraft, z. B. bei Dampfmaschinen die Kolbenstange, direkteinwirkt.

Treibriemen (Transmissionsriemen), bandförmigeRiemen zum Betrieb der Riemenräderwerke (s. d.). Das besteMaterial zu denselben ist starkes Leder, welches mit dergenügenden Festigkeit die wertvolle Eigenschaft verbindet, aufden abgedrehten eisernen Riemenscheiben durch beträchtlicheReibung zu haften. Diese T. bestehen aus einfachem, doppeltem oderdreifachem Leder und werden in Breiten bis zu im ausgeführt.Die Zusammensetzung der einzelnen Teile in der Längsrichtunggeschieht durch Nähen, am besten aber durch Zusammenleimen derauf 15-20 cm schräg gefrästen Enden mit einem besonderspräparierten Leim. Die Enden der Lederriemen näht man mitdünnen Lederstreifen zusammen oder verbindet sie durch Bolzen,Schrauben, Niete oder durch besonders konstruierteVerbindungsstücke (Riemenschlösser). Zum Aufbringen desTreibriemens auf die Riemenscheiben dient einRiemenspannflaschenzug. Um die ledernen T. vor dem Brechen zubewahren, legt man sie vor dem Gebrauch 24 Stunden in Glycerin. Insehr feuchten Räumen verdienen die Guttaperchariemen mitEinlage von festem Hanfgewebe den Vorzug. Seit einiger Zeit hat manversucht, die Lederriemen durch Gurte aus Baumwoll- oder Hanfgewebezu ersetzen, ohne jedoch damit den erstern gegenüberwesentliche Vorteile zu erzielen. Andre Bestrebungen sind dahingerichtet, an Stelle der Lederriemen etc. solche aus Metallherzustellen. Dieselben bestehen entweder aus einer Anzahlparalleler Drahtseile, welche durch Stücke von Hirnleder inder Querrichtung verbunden sind, oder aus Ketten mit daranbefestigten Riemenstreifen, welche nur die Reibung vermehrensollen, oder aber aus ordentlichen Drahtgeweben. Bis jetzt hat sichjedoch noch keine Art der Metalltreibgurte einer allgemeinenAnwendung zu erfreuen. Vgl. auch Riemenräderwerke.

Treibsätze, s. Feuerwerkerei, S. 225.

Treibschnur, s. Seiltrieb.

Treibstock, s. Treiben.

Treibströmungen, s. v. w. Driftströmungen.

Treideln, s. Halage.

Treignac (spr. tränjack), Stadt im franz.Departement Corrèze, Arrondissem*nt Tulle, an derVézère, hat ein Kommunalcollège, einZweigetablissem*nt der Waffenfabrik zu Tulle, Gerberei,Bierbrauerei, Hutfabrikation, lebhaften Handel und (1881) 1803Einw.

Treilhard (spr. träjar), Jean Baptiste, Graf,Mitglied des franz. Direktoriums, geb. 3. Jan. 1742 zu Brives imLimousin, studierte zu Paris die Rechte, wurde Advokat beimParlament, 1789 von der Stadt Paris als Deputierter in dieGeneralstaaten, nach dem Schluß der Nationalversammlung zumPräsidenten des Kriminalhofs im Departement Seine-et-Oise und1792 von der Stadt Paris in den Nationalkonvent gewählt. Erstimmte für den Tod des Königs, jedoch für Aufschubder Hinrichtung. Im April 1793 ward er Mitglied desWohlfahrtsausschusses und mit einer Sendung in die westlichenDepartements beauftragt, aber nach seiner Rückkehr wegen allzugroßer Milde nicht wieder gewählt. Erst nachRobespierres Sturz trat er wieder in den Wohlfahrtsausschuß,dessen gewöhnlicher Berichterstatter er war. 1795 trat er inden Rat der Fünfhundert und ward endlich Präsidentdesselben. Am 20. Mai 1797 schied er aus und übernahm diePräsidentschaft einer Sektion des Kassationshofs, ward aberbald darauf als Unterhändler des Friedens mit England nachLille, sodann als bevollmächtigter Minister nach Neapel undzuletzt zum Kongreß nach Rastatt geschickt, wo er aber nurkurze Zeit verweilte. 1798 ward er Mitglied des Direktoriums,unterstützte den Staatsstreich Bonapartes vom 18. Brumaire undward daher von demselben später zum Präsidenten desPariser Appellhofs und Mitglied des Staatsrats ernannt, als welcherer bei der Bearbeitung des Code Napoléon wesentliche Diensteleistete. 1804 ward er zum Präsidenten derGesetzgebungssektion im Staatsrat ernannt und in den Grafenstanderhoben. Er starb 1. Dez. 1810.

Treisam, Fluß, s. Dreisam.

Treitschke, Heinrich Gotthard von, namhafterGeschichtschreiber und Publizist, geb. 15. Sept. 1834 zu Dresden,Sohn des 1867 gestorbenen sächsischen Generalleutnants v. T.,studierte in Bonn, Leipzig, Tübingen und Heidelberg, war1858-63 Privatdozent der Geschichte in Leipzig, dann Professor inFreiburg, legte aber 1866 wegen der Haltung Badens in der deutschenKrisis sein Amt nieder und ging nach Berlin, wo er die Leitung der"Preußischen Jahrbücher" übernahm, zu derenthätigsten Mitarbeitern er seit 1858 gehört hatte. ImHerbst 1866 als Professor nach Kiel berufen, erhielt er 1867 dendurch Häussers Tod erledigten Lehrstuhl in Heidelberg, von woer 1874 als Professor nach Berlin ging. 1871-88 war er liberalesMitglied des Reichstags. Nach Rankes Tod wurde er zumHistoriographen des preußischen Staats ernannt. TreitschkesSchriften sind: "Die Gesellschaftswissenschaft" (Leipz. 1859);"Historische und politische Aufsätze" (5. Aufl., das. 1886, 3Bde.); "Zehn Jahre deutscher Kämpfe 1865-74" (Berl. 1874, 2.Aufl. 1879) sowie die kleinern: "Der Sozialismus und seineGönner" (das. 1875); "Der Sozialismus und der Meuchelmord"(das. 1878); "Zwei Kaiser" (das. 1888). Auch gab er"Vaterländische Gedichte" (2. Aufl., Götting. 1859)heraus. Sein Hauptwerk ist die "Deutsche Geschichte im 19.Jahrhundert", von welcher bisher 3 Bde. (Leipz. 1879-85, bis 1830reichend) erschienen sind. In diesem auf sehr gründlichenForschungen beruhenden und glänzend geschriebenen Buchprägten sich Treitschkes leidenschaftlicher Patriotismus undseine Abneigung gegen den herkömmlichen Liberalismus so scharfaus, daß es vielfach auf Widerspruch stieß, wie er denndurch einige tadelnde Artikel gegen die Überhebung mancherJuden sich deren Haß zuzog, was zum Anlaß wurde,daß er im Juli 1889 von der Leitung der "PreußischenJahrbücher" zurücktrat.

Treitzsauerwein, s. Weiß-Kunig.

Treja, Stadt in der ital. Provinz Macerata, Bischofsitz,mit Kathedrale, Gymnasium, technischer Schule und (1881) 2214Einw.

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Trelawny - Trenck.

Trelawny (spr. treláhni), Edward John, engl.Offizier und Schriftsteller, Freund Byrons und Shelleys, geboren imOktober 1792 aus einer alten, in Cornwall begüterten Familie,trat sehr jung in die englische Marine ein und führte in denKriegsunruhen jener Zeit ein sehr wechselvolles Leben. 1821ließ er sich in Pisa nieder, wo er in ein freundschaftlichesVerhältnis zu Shelley trat, den er unmittelbar vor derverhängnisvollen Bootfahrt, auf der er ertrank, noch sah. Erwar es auch, welcher die Leiche des Dichters auffand und mit LordByron deren Verbrennung anordnete. 1823 folgte er Byron nachGriechenland, ging in dessen Auftrag von Kephalonia in denPeloponnes und nach Livadien, um mit den Führern desAufstandes zu verhandeln, und wurde Adjutant des HäuptlingsOdysseus, mit dessen Tochter er sich verheiratete. Nach seinesSchwiegervaters Tod kehrte T. 1827 nach England zurück, wo erfortan teils in London, teils auf seinem Gut Sompting bei Worthingin den Southdownhügeln lebte; hier starb er in hohem Alter 13.Aug. 1881. Seinem Willen gemäß wurde sein Leichnam inGotha verbrannt und seine Asche in der Nähe der Gräbervon Shelley und Keats bei der Cestiuspyramide in Rom beigesetzt.Seine Schriften sind: "The adventures of a younger son" (1831, neueAufl. 1856; deutsch, Stuttg. 1835), eine Art biographischen Romans,worin er in höchst anziehender Weise sein reichbewegtes Lebenin verschiedenen Weltgegenden schildert; die sehr bemerkenswerten"Recollections of the last days of Shelley and Byron" (1858),welche er später in "Records of Shelley, Byron and the author"(1878, 2 Bde.; neue Ausg. 1887) bedeutend erweitert hat. Vgl.Edgcumbe, Edward T. (Lond. 1882).

Trelleborg, Seestadt im schwed. Län Malmöhus,an der Ostsee und den Eisenbahnen Lund-T. und Malmö-T., hateinige Fabriken und (1885) 2266 Einw. T. ist Sitz eines deutschenKonsulats.

Trema, s. Diäresis.

Tremadocschichten, s. Silurische Formation.

Trematoden (Saugwürmer), s. Platoden.

Trembecki (spr. -bétzki), Stanislaw, poln.Dichter, geboren um 1726 in der Nähe von Krakau, machte inseiner Jugend Reisen durch ganz Europa, verweilte längere Zeitam Hof Ludwigs XV. in Paris und wurde nach seiner RückkehrKammerherr des Königs Stanislaw August, den er nach seinerAbsetzung nach Petersburg begleitete. Später fand er am Hofdes Grafen Felix Potocki zu Tulczyn in Podolien ein Unterkommen.Der einst glänzende Kavalier, der an 30 Duelle hatte, meistwegen Damen, verfiel jetzt in Armut und starb als einmenschenscheuer und vergessener Sonderling 12. Dez. 1812. AlsDichter ist T. das Muster eines schmeichlerischen undgesinnungslosen Hofdichters, dabei aber der erste Stilist seinerZeit, dessen Verdienste um die polnische Sprache hoch anzuschlagensind. Das bedeutendste seiner Gedichte ist "Zofijowka", eine imhohen Alter verfaßte poetische Schilderung eines Parks, denGraf Potocki seiner Gemahlin Sophie zu Ehren angelegt hatte.Sammlungen seiner Werke erschienen in Breslau (1828, 2 Bde.) undLeipzig (1836, 2 Bde.).

Tremblade, La (spr. trangblad), Stadt im franz.Departement Niedercharente, Arrondissem*nt Marennes, an derMündung der Seudre in den Atlantischen Ozean und der EisenbahnSaujon-La Grève, hat (1881) 2874 Einw., Fabrikation vonWeingeist, Essig und Flaschen, Salzgewinnung, besuchteSeebäder und (mit Marennes) berühmte Zucht von Austern,welche als weiße junge Austern in der Bretagne gekauft undhier gemästet werden (Jahresertrag 30 Mill. Stück, imWert von mehr als 2 Mill. Frank).

Trembowla, Stadt in Ostgalizien, südöstlich vonTarnopol, Sitz einer Bezirkshauptmannschaft und einesBezirksgerichts, hat vorzügliche Steinbrüche,Mühlenbetrieb und (1880) 6432 Einw.

Tremellini (Zitterpilze), s. Pilze (9), S. 71.

Tremessen (poln. Trzemeszno), Stadt im preuß.Regierungsbezirk Bromberg, Kreis Mogilno, an einem See und derLinie Posen-Thorn der Preußischen Staatsbahn, hat eineevangelische und 3 kath. Kirchen, ein Augustiner-Chorherrenstift,ein Progymnasium, ein Amtsgericht, ein öffentlichesSchlachthaus, Stärke- und Sirupfabrikation und (1885) 4766meist kath. Einwohner. Hier Gefecht 10. April 1848 mit polnischenInsurgenten.

Tremiti, ital. Inselgruppe (San Nicola, San Domino,Capraja u. a.) im Adriatischen Meer, 25-30 km von der Küsteder Provinz Foggia entfernt. Sie sind alle felsig, vulkanischenUrsprungs, ohne Quellwasser und dienen als Strafkolonie (1881: 518Bewohner). Im Altertum hießen sie Diomedeae Insulae.

Tremoille, La, s. La Tremoille.

Tremola, Val, s. Tessin (Fluß).

Tremolith, Mineral, s. Hornblende.

Tremolo (tremolando, ital. "Beben, bebend"), in der Musikdie schnell wiederholte Angabe derselben Töne(intermittierend) oder einander schnell folgende Verstärkungendes Tons (beim Singen eine bald ermüdende Manier, beiStreichinstrumenten ein höchst wirksamer Effekt, auf demKlavier das den Ton zu höchster Fülle steigerndeTrommeln).

Tremor (lat.), das Zittern; T. artuum, dasGliederzittern.

Tremse, Kornblume, s. Centaurea.

Tremulánt (lat.), in der Orgel eine durch einenbesondern Registerzug in oder außer Funktion zu setzendeVorrichtung, welche dem Ton ein mehr oder weniger starkes Bebenmitteilt. Der T. ist eine leicht bewegliche Klappe, welche, wenndas Register angezogen wird, den Kanal nahe vorm Windkastenverschließt, aber durch den Orgelwind in eine pendelndeBewegung versetzt wird.

Tremulieren (lat.), beim Gesang mit der Stimme zittern(vgl. Tremolo); Tremulation, zitternde Bewegung.

Trenck, 1) Franz, Freiherr von der, kaiserl.Pandurenoberst, geb. 1. Jan. 1711 zu Reggio in Kalabrien, wo seinVater, ein geborner Preuße, als kaiserlicher Oberstleutnantin Garnison stand, ward bei den Jesuiten in Ödenburg erzogenund trat, 17 Jahre alt, in kaiserliche Kriegsdienste. Er warschön, kräftig und trotz seiner Blatternarben inLiebesabenteuern sehr glücklich, reichbegabt, so daß ersieben Sprachen beherrschte. Wegen seines ausschweifenden Lebensund seiner Händelsucht bald wieder entlassen, trat er alsRittmeister in ein russisches Husarenregiment, ward aber auch dortwegen Subordinationsvergehen kassiert und zu mehrmonatlicherSchanzarbeit auf der Festung Kiew verurteilt, wonach er auf seineGüter in Slawonien zurückkehrte. Beim Ausbruch desösterreichischen Erbfolgekriegs (1740) erhielt er von derKaiserin die Erlaubnis, ein Korps von 1000 Panduren auf eigneKosten auszurüsten und nach Schlesien zu führen.Dasselbe, zuletzt 5000 Mann stark, bildete stets die Vorhut derArmee und zeichnete sich ebensosehr durch Grausamkeit wieTapferkeit aus. Endlich wurde ihm 1746 wegen vieler Greuelthatenund Subordinationsvergehen ein peinlicher Prozeß gemacht, demzufolge er in lebensläng-

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl, XV. Bd.

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Trendelburg - Trente et quarante.

liche Gefangenschaft auf den Spielberg bei Brünn gebrachtwurde, wo er 14. Okt. 1749 starb. Vgl. seine Autobiographie (Leipz.1748 u. Wien 1807, 2 Bde., reicht bis 1747); "Franz von der T.,dargestellt von einem Unparteiischen" (Hübner), mit einerVorrede von Schubart (Stuttg. 1788, 3 Bde.); Wahrmann, Leben,Thaten, Abenteuer, Gefängnis und Tod des Franz Freih. v. d. T.(Leipz. 1837) und "Freiherr Franz v. d. T." (3. Aufl., Celle 1868,3 Bde.).

2) Friedrich, Freiherr von der, Abenteurer, geb. 16. Febr. 1726zu Königsberg i. Pr., Vetter des vorigen, nahm 1740preußische Kriegsdienste und wurde beim Ausbruch des zweitenSchlesischen Kriegs 1744 Ordonnanzoffizier Friedrichs d. Gr. Baldhernach fiel er in Ungnade, angeblich wegen einer Liebesintrige mitder Schwester des Königs, der Prinzessin Amalia, und dieEntdeckung seines an sich unschuldigen Briefwechsels mit seinemVetter gab dem König erwünschten Anlaß, ihn auf dieFestung Glatz bringen zu lassen. Von hier im Januar 1747 entkommen,erhielt T. 1749 in Wien eine Anstellung als Rittmeister bei einemkaiserlichen Kürassierregiment in Ungarn. Als er aber 1753 inFamilienangelegenheiten nach Danzig reiste, ward er hier aufFriedrichs II. Befehl verhaftet, nach Magdeburg in die Sternschanzeabgeführt und nach einem vereitelten Fluchtversuch anHänden, Füßen und Leib mit schweren Fesselnangeschmiedet. Im Dezember 1763 endlich in Freiheit gesetzt, begaber sich nach Aachen, beschäftigte sich daselbst mitlitterarischen Arbeiten und trieb nebenbei einen Weinhandel. Von1774 bis 1777 bereiste er England und Frankreich und wurde dann vonder Kaiserin Maria Theresia zu mehreren geheimen Sendungengebraucht. Nach dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms II.erhielt er seine in Preußen eingezogenen Güterzurück. Sein unruhiger Geist trieb ihn beim Ausbruch derfranzösischen Revolution nach Paris, wo ihn Robespierre 1794als angeblichen Geschäftsträger fremder Mächteguillotinieren ließ. Seine Selbstbiographie (Berl. u. Wien1787, 3 Bde.) ist wohl nicht frei von Übertreibungen. Seineübrigen Schriften sind enthalten in "Trencks sämtlicheGedichte u. Schriften" (Leipz.1786, 8 Bde.). Vgl. Wahrmann, Friedr.Freih. v. d. T. Leben, Kerker und Tod (Leipz. 1837); "FreiherrFriedrich v. d.T." (3. Aufl., Celle 1868, 3 Bde.) und "KollektionSpemann", Bd. 44.

Trendelburg, Stadt im preuß. RegierungsbezirkKassel, Kreis Hofgeismar, an der Diemel und der LinieHümme-Karlshafen der Preußischen Staatsbahn, hat eineevang. Kirche, ein altes Schloß und (1885) 772 Einw.

Trendelenburg, Friedrich Adolf, Philosoph, geb. 30. Nov.1802 zu Eutin, studierte in Kiel, wo Joh. Erich v. Bergernachhaltigen Einfluß auf ihn übte, Leipzig und BerlinPhilosophie und Philologie, habilitierte sich an der BerlinerUniversität, wurde 1833 außerordentlicher, 1837ordentlicher Professor, 1846 Mitglied der Akademie und war seit1847 beständiger Sekretär der historisch-philosophischenKlasse. Kurze Zeit war er in konservativem Sinn auch politischthätig und auf die Gestaltung des preußischenUniversitätswesens sehr einflußreich. Er starb 24. Jan.1872 in Berlin. Die Leistungen Trendelenburgs teilen sich inphilologisch-historische und philosophische. Zu den ersterngehören seine für den ersten Unterricht in der Logik sehrverdienstlichen "Elementa logices Aristotelicae" (Berl. 1837, 8.Aufl. 1878), zu welcher Schrift er eine deutsche Bearbeitung undErgänzung: "Erläuterungen zu den Elementen deraristotelischen Logik" (das. 1842, 3. Aufl. 1876), lieferte.Für das tiefere Studium des Aristoteles ging er denphilosophierenden Philologen bahnbrechend voran mit seiner Ausgabeder Aristotelischen Schrift über die Seele ("Aristotelis deanima etc.", Jena 1833, mit Kommentar). 1840 trat er mit seinen"Logischen Untersuchungen" (Berl. 1840, 2 Bde.; 3, Aufl., Leipz.1870) hervor, in welchen er die formale Logik der Kantianer und diedialektische Methode Hegels treffend kritisierte, selbst aber einlogisch-metaphysisches System aufstellte, in welchem unter Anklangan Aristotelische Denkweise die Bewegung als das dem Denken und demSein Gemeinsame zum Ausgangspunkt einer spekulativenErkenntnistheorie und zum Mittel einer Ableitung der Grundbegriffeund Grundanschauungen (namentlich von Raum und Zeit) gemacht wird.Die ethische Seite seiner Philosophie entwickelte er in demAufsatz: "Die sittliche Idee des Rechts" (Berl. 1849), dieästhetische in den Vorträgen: "Niobe" (das. 1846) und"Der Kölner Dom" (Köln 1853). Gegen das Ende seinesLebens geriet er in einen durch seinen Tod unterbrochenenlitterarischen Streit mit Kuno Fischer (s. d. 10) über dieAuffassung der Kantschen Lehre, als dessen Frucht die Schrift "KunoFischer und sein Kant" (Leipz. 1869) zu betrachten ist. Ein andressystematisches Werk Trendelenburgs ist: "Das Naturrecht auf demGrunde der Ethik" (Leipz. 1860, 2. Aufl. 1868). Seine "HistorischenBeiträge zur Philosophie" enthalten im 1. Band (Berl. 1846)eine Geschichte der Kategorienlehre, im 2. und 3. (das. 1855 und1867) vermischte Aufsätze, unter denen besonders dieAbhandlungen über Spinoza und Herbart hervorzuheben sind.Seine geist- und gehaltvollen akademischen Reden sindgrößtenteils gesammelt in den "Kleinen Schriften"(Leipz. 1870, 2 Bde.), welche auch die 1843 anonym erschieneneSchrift "Das Turnen und die deutsche Volkserziehung" enthalten.Vgl. Bonitz, Zur Erinnerung an T. (Berl. 1872); Bratuscheck, AdolfT. (das. 1873).

Trennen, sich, in der Turfsprache Euphemismus fürHerabfallen vom Pferd.

Trense, s. Zaum.

Trent, Fluß in England, entspringt imnördlichen Staffordshire, fließt bei Stoke und Rugeleyvorbei, wird bei Burton (193 km oberhalb seiner Mündung)schiffbar und ergießt sich, nachdem er noch Nottingham,Newark und Gainsborough berührt hat, nach einem Laufe von 269km in den Humber. Der Grand-Trunkkanal (s. d.) verbindet den T. mitdem Mersey und somit die Nordsee mit dem Irischen Meer. WichtigereNebenflüsse sind links: Dove, Derwent (s. d.) und Idle;rechts: Stow, Tame und Soar.

Trentaffaire, Streitsache zwischen Großbritannienund den Vereinigten Staaten von Nordamerika, veranlaßt durchdie Verhaftung der südstaatlichen Agenten Mason und Slidell,welche sich 1861 in Havana auf dem englischen Postdampfer Trentnach Europa einschifften, um dort für die Sache derSüdstaaten zu wirken, aber 8. Nov. im Bahamakanal von demamerikanischen Kreuzer San Jacinto unter Kapitän Ch. Wilkes(s. d.), der den Trent anhielt, mit Gewalt nach Nordamerikagebracht wurden. Die englische Regierung drohte mit Abbruch desdiplomatischen Verkehrs, wenn die Unionsregierung nicht binnensieben Tagen das Verhalten des Kapitän Wilkes mißbilligeund die Verhafteten freilasse. Die Unionsregierung erfülltedies Verlangen 26. Dez. 1861, obwohl die öffentliche Meinungin Amerika gegen England sehr aufgeregt und zum Krieg mit demselbengeneigt war.

Trente et quarante (franz., spr. trangt e karangt,

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Trente-un - Tréport, Le.

"dreißig und vierzig"), das um zwei Einsatzfeldervermehrte Rouge et noir (s. d.), welches seiner Zeit neben demRoulette das Hauptlockmittel in den deutschen Spielbädernbildete. Zu den Feldern für Rot und Schwarz (R und Sbezeichnet) kommen hinzu diejenigen für Couleur und Inverse (Cund I markiert).

Trente-un (franz., spr. trangt-ong,"einunddreißig"), ein Glücksspiel, ähnlich dem Onzeet demi. Bei demselben zählt jedes Bild zehn, das As nachBelieben des Spielers elf oder eins, die übrigen Karten nachAugen. As und zwei Bilder sind also "gebornes" T. Jeder erhältanfangs drei Blätter und kann nun hinzukaufen; bekommt er aberdabei über 31 Augen, so ist er tot und verliert unbedingtseinen Satz.

Trenton, Hauptstadt des nordamerikan. Staats New Jersey,am schiffbaren Delaware, ist Knotenpunkt vieler Eisenbahnen, hatein schönes Staatenhaus (Kapitol), 2 öffentlicheBibliotheken, ein Lehrerseminar, 24 Kirchen, eine Irrenanstalt, einZuchthaus, ein Zeughaus, starke Industrie (Töpferei,Walzwerke, Woll- und Papierfabrikation), lebhaften Handel und(1885) 34,386 Einw. T. wurde 1680 gegründet und 1790 zurHauptstadt erhoben. Hier 26. Dez. 1776 Sieg Washingtons überdie Engländer, wobei 900 Hessen gefangen genommen wurden.

Trentongruppe, s. Silurische Formation.

Trentowski, Bronislaus, poln. Philosoph, geb. 1808 zuKopcie in Polen, studierte zu Berlin unter Hegel Philosophie,habilitierte sich als Dozent der Philosophie an derUniversität zu Freiburg i. Br., starb 1869 daselbst. T.versuchte in seinem deutsch geschriebenen Hauptwerk: "Grundlage deruniversellen Philosophie" (Freiburg 1837), eine selbständige"slawische Philosophie" zu begründen. Er weist darin den dreiHauptrassen Europas ihre Stelle in der weltgeschichtlichenEntwickelung der Philosophie an, indem er an der Hand derdialektischen Methode die Romanen als Träger des Realismus,deren Gegensatz, die Germanen, als solche des Idealismus, dagegendie Slawen als Träger einer künftigen Synthese beidereinander zugleich ausschließenden und gegenseitigergänzenden Geistesrichtungen und dadurch als das Volk "derPhilosophie der Zukunft" zu konstruieren unternimmt. Unter seinenpolnischen Werken ist zu erwähnen "Chowanna", System einernationalen Pädagogik (Posen 1842, 2 Bde.), das durchKühnheit der Gedanken, energischen Stil und allerleiÜberschwenglichkeiten in Polen großes Aufsehen erregte;"Myslini" ("Logik", das. 1844); "Panteon" oder Propädeutik desallgemeinen Wissens (1873) und "Verhältnis der Philosophie zurStaatskunst" (ebenfalls in poln. Sprache, das. 1843). Neben Libelttrug T. das meiste zur Belebung der philosophischen Richtung inPolen bei.

Trentschin (ungar. Trencsen), ungar. Komitat am linkenDonauufer, 4620 qkm (83,9 QM.) groß, grenzt westlich anMähren, nördlich an Schlesien und Galizien, östlichund südlich an die Komitate Arva, Turócz und Neutra undwird von unzähligen Bergketten der Bieskiden und der KleinenTátra durchzogen. Ebenes Gebiet findet sich lediglich imprachtvollen Waagthal, dessen Romantik durch zahlreiche Burgenerhöht wird, und im SO. bei Baán. Hauptfluß istdie von O. gegen S. fließende Waag mit der Kisucza. Der nichtsehr fruchtbare Boden erzeugt Kartoffeln, Hafer, Obst (besondersZwetschen), Gartenfrüchte, Flachs, Hanf, viel Holz und in derEbene auch Getreide. Die Einwohner (1881 : 244,919), meistSlowaken, beschäftigen sich neben der Landwirtschaft mitViehzucht (Schafe) und mit Branntwein-, Käse- undHonigproduktion. Der Handel mit Holz, das auf der Waag aufFlößen befördert wird, ist sehr lebhaft. Diekönigliche Freistadt T., an der Waag, Station der Waagthalbahnund Sitz des Komitats und eines Gerichtshofs mit (1881) 4402slowakischen, deutschen und ungar. Einwohnern, hat mehrere Kirchen,ein Piaristenkloster mit Obergymnasium, eine neue großeKaserne, einen Park und Ruinen der uralten imposanten Bergfeste T.In einem romantischen Seitenthal (8 km nordöstlich) liegt derseit dem 14. Jahrh. bekannte Badeort T.-Teplitz, Bahnstation, mitsehr heilsamen Schwefelquellen (36-40° C.), die gegenRheumatismus, Gicht, Lähmungen etc. benutzt werden(jährlich über 3000 Kurgäste). Vgl. Ventura, DerKurort T.-Teplitz (6. Aufl., Wien 1888), und Nagel, T.-Teplitz (2.Aufl., das. 1884).

Trepanation (franz.), chirurg. Operation am Knochen,wobei ein Stück aus demselben ausgebohrt oder ausgesägtwird. Die T. wird am häufigsten am Schädel vorgenommen,und zwar 1) wo die Schädelknochen durch äußereGewalt tiefer als etwa 6 mm eingedrückt oder die innereLamelle des Schädelknochens abgesprengt ist und das Gehirnbeeinträchtigt; 2) wo fremde Körper (Kugeln,Messerspitzen etc.) im Gehirn stecken oder auf dieses drückenund man Hoffnung hat, durch Entfernung derselben die drohendenErscheinungen zu beseitigen; 3) wo zwischen den Schädelknochenund dem Gehirn oder in den obern Schichten des letzterngrößere Eiter- und Blutmassen liegen, vorausgesetztnatürlich, daß man die Diagnose in allen diesenFällen überhaupt mit Sicherheit stellen kann. DasInstrument, mit dem man ein rundes Stück aus dem Knochenausbohrt, nennt man Trepan (Trephine); sein gezahntes, einerKreissäge von etwa 1½ cm Durchmesser entsprechendesEnde heißt die Trepankrone. Das ausgesägteKnochenstück wird mit einem hebelartigen Instrument (Tirefond)herausgehoben und sodann der Fall je nach seiner individuellenBeschaffenheit weiter behandelt. Schon im Altertum, namentlich inder Kriegschirurgie, sehr häufig vorgenommen, gehört dieT. jetzt zu den selten zur Ausführung kommenden Operationen,da sie früher außer bei Verletzungen auch beiGeisteskranken ausgeführt wurde (Wilhelm v. Saliceto). Auchdas Brustbein hat man trepaniert, namentlich um Eitermassen, welchesich hinter demselben entwickelt hatten, zu entfernen. Unter allenUmständen ist die T. eine lebensgefährliche Operation,weil sie zu einer schweren ältern Verletzung eine nicht minderschwere neue hinzufügt.

Trepang (auch Tripang, Béche de mer), die alsHandelsartikel zubereiteten Seegurken (s. Holothurioideen) aus derGattung Holothuria. In Japan und China werden diese teils alsGewürz für Speisen, teils als Aphrodisiakum sowohl vonden Eingebornen als auch von den Europäern genossen. Siekommen meist von den Inselgruppen des Malaiischen Meers, von dernordaustralischen Küste etc. Sofort nach dem Fang werden sieabgekocht und entweder an der Sonne oder am Feuer getrocknet, auchwohl leicht geräuchert; frisch erreichen sie eine Längevon 25 cm und einen Durchmesser von 5 cm, büßen aberdurch jene Prozesse viel von ihrer Größe ein. DieChinesen unterscheiden über 30 Sorten, deren Preis von 0,70-2Frank das Kilogramm schwankt. Die Einfuhr nach China betrug 1872nicht weniger als 18,000 Pikuls. Vgl. Simmonds, The commercialproducts of the sea (Lond. 1879).

Tréport, Le (spr. -por), Hafenstadt im franz.Departement Niederseine, Arrondissem*nt Dieppe, an der

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Treppe - Tresckow.

Mündung der Bresle in den Kanal (La Manche), durchEisenbahnlinien mit Abbeville, Amiens, Dieppe und überBeauvais mit Paris verbunden, hat besuchte Seebäder, einenHafen und (1881) 3937 Einw., welche Fischerei, Seilerei undSchiffbau treiben.

Treppe (Stiege), eine aus aufeinanderfolgenden Stufenbestehende Baukonstruktion von Holz, Stein oder Eisen, durch welchedie Verbindung zwischen übereinander liegenden Räumen, z.B. Stockwerken von Gebäuden, bewirkt wird. Hinsichtlich derForm unterscheidet man: gerade Treppen (Fig. 1), bei denen dieWangenstücke gerade sind; gebrochene Treppen (Fig. 2, 3), beiwelchen die Richtung der Wangen vom Antritt bis zum Austritt ein-oder mehrmals wechselt und daher mehrere geradlinige Treppenteileohne oder mit Treppenabsätzen vorhanden sind; doppelarmigeTreppen (Fig. 4), bei welchen eine Mitteltreppe in zweiSeitentreppen mit entgegengesetzter Steigung übergeht, wobeiauf der erstern oder auf den beiden letztern angetreten werdenkann; Wendeltreppen (Fig. 5-7), bei denen die Stufen, die an deräußern Seite breit und an der innern schmal sind, ineiner kreis- oder ellipsenförmigen Richtung fortlaufen, unddie Spindeltreppen heißen, wenn die Stufen an der innernSeite in einer runden oder eckigen Spindel befestigt sind,Hohltreppen aber, wenn die Windungen der Spindel in einem hohlenCylinder liegen; gemischte Treppen (Fig. 8), welche aus gewendeltenund geraden Armen bestehen; Schneckentreppen, welche die Form einesKegels haben, aber bloß zu Treppenanlagen in Gärten undbei kleinen Bergen dienen; romanische Treppen, schiefe Flächenohne Stufen, die zuweilen in Türmen und andern Gebäudenin schneckenförmiger Richtung angebracht werden; Freitreppen,welche außerhalb der Gebäude angebracht werden, wenn dieHausthür der Trockenheit wegen, oder weil sich Souterrains imHaus befinden, etwas hoch angelegt ist. Kurze Treppen pflegt mannicht zu unterbrechen, längern Treppen gibt man nach 13 oder15 Steigungen Ruheplätze oder Podeste. Jede ununterbrochene T.oder Treppenabteilung heißt ein Treppenarm; daher nennt manaus je einem, zwei und mehr Armen bestehende, mit Podestenversehene Treppen beziehentlich ein-, zwei- und mehrarmige. BeiAnordnung der T. müssen Auftritt und Steigung in einem solchenVerhältnis stehen, daß die T. bequem bestiegen werdenkann. Gute Verhältnisse der Steigung zum Auftritt sind 12:33,14:32, 15:31, 17:30, 18:29, 19:26. Was die Konstruktion der Treppenbetrifft, so werden steinerne Treppen aus gemauerten oder bessermassiven Stufen hergestellt, welche man untermauert,unterwölbt oder seitlich so einmauert, daß sie dienötige Unterstützung finden. Die hölzernen Treppensind solche mit eingesetzten Stufen, wobei Tritt- und Futterbretterin Wangen eingeladen, oder solche mit aufgesattelten Stufen, wobeidie letztern auf die Treppenbäume geschraubt oder genageltwerden. Eiserne Treppen werden aus einzelnen, meist durchbrochenengußeisernen Platten zusammengeschraubt. Bei Treppen ausgemischtem Material werden meist gemauerte Stufen auf eisernenSchienen oder gußeisernen Treppenbäumen angewandt, welcherstere mit schwachen steinernen Auftrittplatten oder mithölzernen Auftritten belegt werden. Zum Belegen hat man inneuerer Zeit auch hartgebrannte Thonplatten verwendet. SteinerneTreppen sind die solidesten, hölzerne Treppen nichtfeuersicher, aber elastisch und leicht herstellbar, eiserne Treppenzwar feuersicherer, doch bei Bränden wegen ihrer eignen Hitzeschwer passierbar, aber kompendiös und leicht elegantherzustellen. Vgl. Nix, Handbuch der Treppenbaukunst (Leipz.1887).

Fig. 1. Gerade Treppe.

Fig. 2 u. 3. Gebrochene Treppe.

Fig. 4. Doppelarmige Treppe

Fig. 5-7. Wendeltreppen.

Fig. 8 Gemischte Treppe.

Grundrisse verschiedener Treppen.

Treppengiebel, s. Staffelgiebel.

Treppenschnitt, s. Edelsteine, S. 314.

Treppenwitz, s. Esprit (d'escalier).

Trepprecht, s. Tretrecht.

Treptow, 1) (Alttreptow) Stadt im preuß.Regierungsbezirk Stettin, Kreis Demmin, an der Tollense und derLinie Berlin-Stralsund der Preußischen Staatsbahn, hat einegroße evang. Kirche, ein Amtsgericht, ein Warendepot derReichsbank, Eisengießerei und Maschinenbau, 3 Bierbrauereien,eine große Wassermühle, Viehmärkte und (1885) 4103meist ev. Einwohner. -

2) (Neutreptow) Stadt daselbst, Kreis Greifenberg, an der Regaund der Eisenbahn Altdamm-Kolberg, hat 2 evang. Kirchen, eineSynagoge, ein Gymnasium, ein Amtsgericht, einen RitterschaftlichenKreditverein, Fabrikation landwirtschaftlicher Maschinen, vonSilberlöffeln und Essig, Bierbrauerei, eine Dampf- und eineWassermühle und (1885) 6943 Einw. Nahebei das RemontedepotNeuhof-T. und das ehemalige Prämonstratenserkloster Belbuck(1177 von Herzog Kasimir II. gegründet und sehr reich). In T.ward auf dem Landtag von 1534 die Einführung der Reformationin Pommern beschlossen. -

3) Dorf im preuß. Regierungsbezirk Potsdam, Kreis Teltow,an der Spree und nahe der Berliner Ringbahn, mit Berlin durchPferdebahn und Dampfschiffahrt verbunden, Vergnügungsort derBerliner, hat (1885) 1178 Einw.

Tres (lat.), drei.

Tresa, der Abfluß des Luganer Sees in den LagoMaggiore.

Tresckow, Hermann von, preuß. General, geb. 1. Mai1818 zu Blankenfelde bei Königsberg in der Neumark, trat 1835in das Kaiser Alexander-Regiment, nahm 1848 als Adjutant desGenerals v. Bonin am Feldzug in Schleswig-Holstein teil, wurde 1852Hauptmann im Großen Generalstab, 1855 Major und war 1854-56der Gesandtschaft in Paris attachiert, ward 1856Flügeladjutant des Königs, 1860 Kommandeur des 27.Regiments, 1864 General-

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Trescone - Tretrad.

stabschef bei den Zernierungstruppen an der polnischen Grenze,dann in das Militärkabinett berufen, 1865 Generalmajor undChef der Abteilung für die persönlichen Angelegenheiten,dann des Militärkabinetts selbst. Auf seine Bitte ward ihm imNovember 1870 das Kommando der 17. Infanteriedivisionübertragen, welche er in den Kämpfen bei Orléansund Le Mans befehligte. Ende Januar 1871 ward er zur Dienstleistungals Generaladjutant in das große Hauptquartier kommandiert,erhielt im Februar wieder die Leitung des Militärkabinetts undbald darauf das Kommando der 19. Division, im Januar 1873 dasKommando des 10. und im September d. J. das des 9. Armeekorps. ImJanuar 1875 wurde er zum kommandierenden General, bald darauf zumGeneral der Infanterie und im September 1875 zum Chef des 2.Magdeburgischen Infanterieregiments Nr. 27 ernannt. Im August 1888nahm er seinen Abschied.

Trescone, ital. Nationaltanz in Toscana.

Trescore Balneario, Badeort in der ital. Provinz Bergamo,im Val Cavallina am Cherio gelegen, hat ein besuchtes Schwefelbad(16° C., auch Schlammbad), eine ganz von Lotto ausgemalteKirche, Seidenindustrie und (1881) 1883 Einw.

Treseburg, Dorf im braunschweig. Kreis Braunschweig, ineiner der schönsten Gegenden des Harzes, am Einfluß derLuppbode in die Bode, mit (1885) 191 Einw.; dabei derWilhelmsblick.

Tresett (tre sette, ilal., "drei Sieben"), ein ausItalien stammendes Spiel mit L'hombrekarte unter vieren, von denenwie im Whist die Gegenübersitzenden alliiert sind. DieKartenfolge ist stets Drei, Zwei, As, König, Dame, Bube,Sieben, Sechs, Fünf, Vier. Es gelten die Whistregeln, dochgibt es kein Atout, und man spielt nicht um Stiche, sondern umPoints. Jedes As in den Stichen zählt 1, je 3 Figuren (Dreibis Bube) zählen 3 (2 überbleibende nichts), der letzteStich 1. Zum Spielen gesellt sich das Ansagen, welches vor demersten Stich nur der Vorhand erlaubt ist. 3 Dreien gelten 4, 4Dreien 8, die übrigen gedritten Blätter 1, die gevierten2. 21 Points machen eine Partie. Wer 3 oder 4 Sieben meldet,gewinnt die Partie sofort und legt noch außerdem 1, bez. 2für die nächste an. Neapolitaine heißt die Sequenzvon der Drei an; sie zählt so viel Points, wie sieBlätter stark ist.

Tres faciunt collegium (lat.), "drei machen einKollegium", d. h. drei gehören mindestens zu einem Verein, ausden Digesten stammender Rechtsspruch.

Treskow, Udo von, preuß. General, geb. 7. April1808 zu Jerichow bei Magdeburg, trat 1824 in einJägerbataillon, kommandierte 1856-64 dassachsen-altenburgische Truppenkontingent, machte als Oberst u.Kommandeur des 53. Regiments den Mainfeldzug 1866 mit, ward im Julizum Kommandeur der kombinierten Gardeinfanteriebrigade ernannt,formierte in Leipzig die preuß. Division des 2.Reservearmeekorps und zog mit derselben unter dem Oberbefehl desGroßherzogs von Mecklenburg nach Bayern. Nach 1866 alsKommandeur der 33. Brigade mit Organisation derMilitärverhältnisse der Hansestädte betraut, erhielter im Anfang des Kriegs 1870 das Kommando der 1. Landwehrdivision,mit welcher er an der Belagerung von Straßburg teilnahm, undleitete dann die Belagerung von Belsort (s. d.), deren großeSchwierigkeiten er jedoch nicht zu überwinden vermochte, sodaß die Festung erst nach dem Waffenstillstand ehrenvollkapitulierte. Im Januar 1871 zum Generalleutnant avanciert, erhielter nach dem Friedensschluß die 2. Division, nahm 1875 seinenAbschied und starb 20. Jan. 1885 in Stünzhain beiAltenburg.

Tres Montes, Vorgebirge, s. Taytao.

Trésor (franz.), Schatz, Schatzkammer,Geldschrank.

Trésorscheine, s. v. w. Schatzscheine (s. d.). Sohießen in Preußen die zuerst 4. Febr. 1806 ausgegebenenund 1824 durch Kassenanweisungen ersetzten Scheine, deren Annahmeim Privatverkehr seit 1813 der freien Übereinkunftüberlassen war. Ein Teil derselben (die gestempelten) dientendem Zweck der Antizipation von Steuern. Vgl. Bon.

Trespe, Pflanzengattung, s. Bromus.

Tressan (spr. -ssang), Louis Elisabeth de la Vergne, Grafvon, franz. Schriftsteller, geb. 4. Nov. 1705 zu Le Mans, wurde mitdem jungen Ludwig XV. gemeinsam unterrichtet, stieg dann bis zumGeneralleutnant empor und bekleidete später beim KönigStanislaus die Stelle eines Großmarschalls. Er starb 31. Nov.1783. Mit Voltaire, Fontenelle und Raynard freundschaftlichverbunden und im Salon der Madame Tencin ein ständiger Gast,hatte T. die Litteratur und die Wissenschaften gepflegt undzahlreiche Gelegenheitsgedichte, ein philosophisches Werk:"Réflexions sommaires sur l'esprit", u. einen "Essai sur lefluide électrique" verfaßt. Als seine Hauptwerke abersind seine Übersetzung des "Orlando furioso" von Ariost, dieihm die Aufnahme in die französische Akademie verschaffte(1781), und das "Corps d'extraits de romans de chevalerie" (1782, 4Bde.) zu nennen. Seine "OEuvres completes" gaben Campenon und A.Martin heraus (1822-23, 10 Bde.).

Tressen (franz.), aus Gold - u. Silberfäden oderauch mit Seide, Lahn und Kantille gewebte Bandstreifen oder Bortenzum Besatz von Kleidungsstücken, Tapetenbeschlägen u.dgl. Die Kette ist in der Regel von gelber oder weißer Seide,der Schuß von Gold- oder Silbergespinst. Die besten T. sindauf beiden Seiten rechts. Nach den verschiedenen Mustern gibt es:Gaze-, Galonen- und Korallenarbeit und Massiv- oder Drahttressen,sämtlich durchsichtig und leicht, in der Kette von Seide undim Einschlag von dünnem Gold- oder Silberdraht;Bandtressenligaturen, rechts von Gold oder Silber, links ganz vonSeide, und geschleifte T., bei welchen auf der rechten Seite nachzwei Einschlagfäden von reichem Gespinst nur ein Seidenfadenzu sehen ist.

Trester, s. v. w. Treber.

Tretgöpel, s. Göpel.

Tretrad (Tretmühle), Maschine zur Aufnahme von Tier-und Menschenkraft. Das gewöhnliche Tret- oder Laufrad ist ausHolz und ähnlich wie ein Wasserrad gebaut, aber an seinemäußern oder innern Umfang nicht mit Schaufeln oderZellen, sondern mit Sprossen oder Leisten versehen, welche derarbeitende Mensch benutzt, um durch fortgesetztes Steigen sichselbst immer auf derselben Stelle zu behaupten, während dasgroße hölzerne Rad unter seinen Füßenausweicht, d. h. sich unter Abgabe von Arbeit umdreht. DieRäder können beliebig breit gemacht werden, so daßmehrere, selbst bis 20 Arbeiter nebeneinander Platz haben. Steigennun diese 20 Mann jeder in der Stunde 3000 Stufen von 0,2 mHöhe, und wird täglich 7 Stunden gearbeitet, sobeträgt die tägliche Leistung, wenn der Mensch 65 kgwiegt, 21,000.65.0,2=273,000 Meterkilogramm. Dieser bedeutendenNutzleistung halber macht man auch heute noch unter gewissenUmständen von Lauf- und Treträdern Gebrauch. Durch Tierebetriebene Lauf- und Treträder sind wegen großerReibungswiderstände, kolossalen Baues, bedeutenderHerstellungs- und Unterhaltungskosten etc. fast ganz außerGebrauch gekommen; nur für manche landwirtschaftliche Zweckehaben

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Tretrecht - Treviranus.

sich die Tretwerke oder Trittmaschinen noch erhalten. Sie nehmenweniger Raum ein als Göpel und ermöglichengrößere Arbeitsleistungen der Tiere, indem diese durchihr eignes Gewicht wirken und dabei die stete ermüdendeWendung des Körpers wegfällt. Dagegen fehlt den meistendieser Maschinen die erforderliche Einfachheit und damit dieMöglichkeit, ohne öftere Störungen arbeiten zukönnen.

Tretrecht (Trepprecht), das Recht, beim Ackern dasNachbargrundstück betreten, namentlich auf demselben den Pflugumkehren zu dürfen (vgl. Anwenderecht).

Tretsch, Aberlin, deutscher Architekt des 16. Jahrh.,erbaute in den Jahren 1553-70 das alte Schloß in Stuttgart,eine der hervorragendsten Schöpfungen der deutschenRenaissance.

Treubund, ein zu Ende 1848 in Berlin gegründeterantidemokratischer Verein, der bald zahlreiche Anhängerzählte. Zwiespalt zwischen den Anhängern der Konstitutionund denen des Absolutismus führte um diese Zeit zu einemBruch, worauf im November ein neuer Bund: "Die Treue mit Gottfür König und Vaterland", ins Leben trat, der sich aberbald wieder auflöste. Vgl. Kunze, Der T. (Berl. 1849). Auch inKurhessen bestand 1850-53 ein T.

Treuchtlingen, Flecken im bayr. RegierungsbezirkMittelfranken, Bezirksamt Weißenburg, an der Altmühl,Knotenpunkt der Linien München-Bamberg-Hof undT.-Aschaffenburg-Würzburg der Bayrischen Staatsbahn, hat eineevangelische und eine kath. Kirche, ein Schloß, eineBurgruine, ein Forstamt, Töpferwarenfabrikation und (1885)2596 Einw.

Treue (lat. Fides) ist das dauernde, aus demBewußtsein unsrer Pflicht gegen andre entspringende, wieAnhänglichkeit (franz. attachement, Hundetreue) dasbewußtlose Festhalten an diesen.

Treue, Hausorden der, badischer Hausorden, 17. Juni 1715von Markgraf Karl Wilhelm als Ordre de la fidélitémit Einem Grad gestiftet, 1803 mit Hinzufügung vonKommandeuren erneuert und 1840 mit neuen Statuten versehen;zunächst für auswärtige Fürsten, dann fürhöhere Staatsbeamte mit Exzellenzrang bestimmt. Die Insigniendes jetzt wieder nur Einen Grad habenden Ordens bestehen in einemgoldenen, achtspitzigen, rot emaillierten, durch vier ineinanderverschlungene C verbundenen Kreuz, in dessen Mittelavers dasverschlungene C über Felsen mit der Umschrift "Fidelitas"steht, während sich auf dem Revers das badische Wappenbefindet. Das Kreuz wird am orangefarbenen, silbereingefaßtenBand getragen, dazu ein silberner Stern mit vier Haupt- und vierZwischenstrahlen, in dessen Mitte sich das Kreuz befindet.

Treuen, Stadt in der sächs. KreishauptmannschaftZwickau, Amtshauptmannschaft Auerbach, an der Trieb und an derLinie Herlasgrün-Falkenstein der Sächsischen Staatsbahn,471 m ü. M., hat eine evang. Kirche, 2 Schlösser, einAmtsgericht, bedeutende Fabrikation wollener und baumwollenerTücher, von Treibriemen und Segeltuch, Woll- undBaumwollspinnerei und (1885) 5867 Einw.

Treuenbrietzen, Stadt im preuß. RegierungsbezirkPotsdam, Kreis Zauch-Belzig, an der Linie Juterbog-T. derPreußischen Staatsbahn, 69 m ü. M., hat 2 evang. Kirchenaus dem 13. Jahrh., ein Amtsgericht, Papier-, Tuch- undHolzpantinenfabrikation, bedeutende Landwirtschaft und (1885) 4890fast nur evang. Einwohner. T., das ursprünglich Brizen (zuerst1217 urkundlich erwähnt) hieß, erhielt jenen Namen, weiles zur Zeit des falschen Waldemar den Wittelsbachern treublieb.

Treuga Dei (lat.), s. Gottesfriede.

Treuhänder, s. Testamentsvollstrecker.

Treuschatz, s. Mahlschatz.

Trevelyan (spr. triwilljen), Georg Otto, engl.Schriftsteller und Politiker, geb. 20. Juli 1838 zu Rothley Templein Leicestershire, Neffe Macaulays, studierte zu Cambridge, folgte1860 seinem Vater, Sir Charles Edward T., der Gouverneur von Madrasgeworden, nach Indien, wurde 1865 als Liberaler ins Unterhausgewählt, 1868 unter Gladstone für kurze Zeit Lord derAdmiralität, 1880 Sekretär derselben, 1882Staatssekretär für Irland, 1885 für kurze ZeitKanzler von Lancaster. 1886 trennte er sich von Gladstone, weil erdessen Homerulepolitik nicht billigte, versöhnte sich aberschon 1887 mit ihm. Er schrieb: "Competition Wallah" (1864);"Cawnpore, and the massacre there" (1865, 4. Aufl. 1886); "Ladiesin Parlament" (1870); "The life and letters of Lord Macaulay"(1876, 2 Bde.; deutsch, 2. Aufl., Jena 1883); "The early history ofCharles James Fox" (1880).

Treverer (Treveri, Treviri), Volk im belg. Gallien,welches sich germanischer Abstammung rühmte, aber keltischsprach, unterwarf sich Cäsar erst freiwillig, machte 54 v.Chr. unter Induciomarus einen Aufstandsversuch, welcher aber vonLabienus unterdrückt wurde; ebenso wurde ein Aufstandsversuchunter Julius Florus (21 n. Chr.) niedergeschlagen. Beim Aufstandder Bataver unter Civilis blieben die T. den Römern treu. IhreHauptstadt war Augusta Treverorum (Trier). Vgl. Steininger,Geschichte der T. (Trier 1845).

Trèves (spr. trähw), franz. Name fürTrier.

Trevi, Stadt in der ital. Provinz Perugia, Kreis Spoleto,in prächtiger Berglandschaft, an der Eisenbahn Rom-Foligno,hat mehrere Kirchen (mit Gemälden von Spagna u. a.), einekleine Gemäldesammlung, eine technische Schule und (1881) 1238Einw. In der Nähe der berühmte kleine Tempel descl*tumnus (jetzt Kirche).

Treviglio (spr. -wiljo), Kreishauptstadt in der ital.Provinz Bergamo, an der Eisenbahn Mailand-Venedig (mit Abzweigungennach Bergamo und Cremona), hat ein altes Schloß, eineschöne Hauptkirche, ein Gymnasium, eine technische Schule,Lehrerbildungsanstalt, Bibliothek, ein hübsches Theater, regeIndustrie (besonders Tuch- und Seidenmanufakturen), lebhaftenHandel und (1881) 9854 Einw.

Treviranus, 1) Gottfried Reinhold, Naturforscher, geb. 4.Febr. 1776 zu Bremen, studierte seit 1792 in Göttingen Medizinund Naturwissenschaft, ward 1797 Professor der Mathematik undPhysik am Lyceum zu Bremen und starb daselbst 16. Febr. 1837. Unterden Schriften des ausgezeichneten Forschers sind hervorzuheben:"Physiologische Fragmente" (Hannov. 1797-99, 2 Bde.); "Biologieoder Philosophie der lebenden Natur" (Götting. 1802-1822, 6Bde.) und "Die Erscheinungen und Gesetze des organischen Lebens"(Brem. 1831-33, 3 Tle.).

2) Ludolf Christian, Botaniker, Bruder des vorigen, geb. 10.Sept. 1779 zu Bremen, studierte Medizin in Göttingen, wurdedann Arzt in seiner Vaterstadt, 1807 Lehrer am Lyceum daselbst,1812 Professor der Botanik und Naturgeschichte zu Rostock, 1816Professor der Botanik und Direktor des botanischen Gartens inBreslau und kam 1830 in gleicher Eigenschaft nach Bonn, wo er 6.Mai 1864 starb. Seine Thätigkeit war anfangs vorwiegend derPhytotomie und Physiologie der Pflanzen, später mehr derBestimmung und Berichtigung der Spezies gewidmet.

823

Trevirer - Triangulation.

Er entdeckte die Intercellularräume und den Bau derEpidermis, auch betonte er in seinen Untersuchungen dieentwickelungsgeschichtlichen Gesichtspunkte und sprach übereinige der fundamentalsten Fragen der Phytotomie Ansichten aus, inwelchen sich die ersten Keime der später von Mohlausgebildeten Theorien finden. Auch über die Sexualitätder Pflanzen lieferte er mehrere Untersuchungen. Er schrieb: "Vominwendigen Bau der Gewächse" (Götting. 1806);"Beiträge zur Pflanzenphysiologie" (das. 1811); "Von derEntwickelung des Embryo und seiner Umhüllungen im Pflanzenei"(Berl. 1815) und "Physiologie der Gewächse" (Bonn 1835-38, 2Bde.).

Trevirer, Volk, s. Treverer.

Treviso, ital. Provinz in der Landschaft Venetien, 2438,nach Strelbitsky 2467 qkm (44,8 QM.) groß mit (1881) 375,704Einw., ist größtenteils eben und enthält zahlreichezur Bewässerung und Schiffahrt dienende Flüsse (Piave,Livenza etc.) und Kanäle. Die hauptsächlichsten Produktesind: Mais (1887: 771,300 hl), Weizen, Wein (67,900 hl), Kastanienund Obst. Gut entwickelt ist auch die Viehzucht, insbesondere dieRinderzucht (1881: 100,099 Stück Rindvieh). Auch dieSeidenzucht ist ausgedehnt (1887: 1,6 Mill. kg Kokons). Die Provinzzerfällt in die acht Distrikte: Asolo, Castelfranco Veneto,Conegliano, Montebelluna, Oderzo, T., Valdobbiadene, Vittorio. -Die Hauptstadt T., an der Eisenbahn Udine-Venedig (mit Abzweigungennach Feltre, Vicenza und Motta di Livenza) und am schiffbaren Silegelegen und von alten Festungswerken umgeben, ist vonaltertümlicher Bauart. Hervorragende Bauwerke sind: dieKathedrale San Pietro (eine im 15. Jahrh. durch Pietro Lombardorestaurierte dreischiffige Pfeilerbasilika mit Fresken vonPordenone und Gemälden von Tizian, Paris Bordone u. a.), diegotische Dominikanerkirche San Niccolò (aus dem 14. Jahrh.),das Theater, das Leihhaus (mit berühmtem Gemälde,angeblich von Pordenone) u. a. T. zählt (1881) 18,301 Einw.,welche Fabrikation von Metallwaren, Maschinen u. Instrumenten,Seidenwaren, Tuch, Papier, Töpferwaren, Kerzen und Ceresin,Baumwollspinnerei sowie lebhaften Handel betreiben. Es hat einkönigliches Gymnasium und Lyceum, ein bischöflichesLycealgymnasium und Priesterseminar, eine technische Schule, einAthenäum und eine Bibliothek (mit Gemäldesammlung) undist Sitz des Präfekten, eines Bischofs, eines Hauptzollamtesund einer Handelskammer.- T. war schon im 6. Jahrh. eine bedeutendeStadt (Tarvisium), ward 776 von Karl d. Gr. belagert undeingenommen und kam, nachdem es seine Herren mehrmals gewechselt,1388 an Venedig, dessen Schicksale es bis 1797 teilte, wo es vonden Franzosen unter Mortier, der dafür den Titel eines Herzogsvon T. erhielt, in Besitz genommen ward. Am 5. Mai 1809 fand hierein Gefecht zwischen den Österreichern und Franzosen statt. Am21. März 1848 brach in T. ein Aufstand aus, infolge dessen dieschwache österreichische Besatzung die Stadt räumenmußte. Am 11. Mai wurden hier die Piemontesenzurückgeschlagen, worauf die Beschießung der Stadt unterNugent erfolgte. Ein zweites Bombardement unter Welden zwang dieStadt, 24. Juni zu kapitulieren und sich an Österreich zuergeben. 1866 ward T. italienisch.

Trévoux (spr. -wuh). Arrondissem*ntshauptstadt imfranz. Departement Ain, ehemalige Hauptstadt der Landschaft Dombes,an der Saône und der Eisenbahn Paris-Lyon, mitGoldwarenfabrikation und (1886) 1902 Einw. Über das 1704erschienene "Dictionnaire de T." s. Französische Sprache, S.618.

Treysa, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Kassel,Kreis Ziegenhain, an der Schwalm, Knotenpunkt der LinienKassel-Frankfurt a. M. und T.-Leinefelde der PreußischenStaatsbahn, 238 m ü. M., hat 2 Kirchen, ein Amtsgericht,Weberei, Strumpfwirkerei, Spinnerei, Holzschneiderei und (1885)2413 meist evang. Einw. In der Nähe das von Hugenotten erbauteDorf Franzosendorf. Vgl. Keulenkamp, Geschichte der Stadt T.(1806).

Triade (Trias, lat.), Dreiheit von drei gleichartigenDingen; daher triadisches Zahlensystem, System, dessen Grundzahl 3ist.

Triage (franz., spr. -ahsch), Ausschuß, Ware, ausder das Beste ausgesucht ist; insbesondere Kaffeeabfall.

Triakisoktaëder (Pyramidenoktaeder), 24flächigeKristallgestalt des tesseralen Systems, s. Kristall, S. 230.

Trial (engl., spr. trei-el), Untersuchung,Verhör.

Triándrus (griech.), dreimännig, Blütenmit drei Staubgefäßen; daher Triandria, 3. Klasse desLinnéschen Systems, Gewächse mit drei freienStaubgefäßen enthaltend.

Triangel (lat., "Dreieck"), ein in unsern Orchesterngebräuchliches Schlaginstrument einfachster Konstruktion,bestehend aus einem im Dreieck gebogenen Stahl- oder Messingstab,der, durch einen andern Stab angeschlagen, ein hohes klirrendesGeräusch gibt.

Triangularzahlen, s. Trigonalzahlen.

Triangulation (lat., auch trigonometrische Netzlegung),Inbegriff aller Arbeiten, welche einer geregelten topographischenAufnahme (s. d.) eines Landes vorausgehen müssen, aber auchbei Gradmessungen etc. ausgeführt werden. Zweck der T. ist imeigentlichen Sinn: Bestimmung der Lage von Punkten derErdoberfläche. Denkt man sich einen Punkt auf eine Flächeproji*ziert (s. Projektion), so ist die Lage des Punktes bestimmt,sobald die Höhe des Punktes über dieser Fläche unddie Lage seiner Projektion auf dieser Fläche bekannt ist.Diese, die Projektionsfläche, ist die Meeresfläche, unddie Höhe der Punkte über derselben wird durchHöhenmessung oder Nivellement, ihre Lage auf derProjektionsfläche durch Horizontalmessung oder (eigentliche)T. bestimmt. Die T. zerfällt in Basismessung undHorizontalwinkelmessung.

Unter einer Basis versteht man diejenige auf dieProjektionsfläche proji*zierte Entfernung von Punkten, die derfolgenden Bestimmung der Entfernung aller Punkte voneinander alsGrundlage dient. Die Länge der Basis beträgt imallgemeinen 3-5 km und ihre Lage wird so ausgesucht, daß siedie Vergrößerung der Seiten ermöglicht und dasTerrain zwischen ihren Endpunkten nicht Unebenheiten bietet, dienicht durch den Basismeßapparat überwunden werdenkönnten. Der Wichtigkeit der Basis für die folgende T.entsprechend, muß man die Basis mit der größtenSorgfalt und mit einem Apparat messen, der die Garantiemöglichst kleiner Fehler bietet. Die verschiedenenBasismeßapparate schließen sich im wesentlichen dem vonBessel 1834 zu der Gradmessung in Ostpreußen konstruiertenund später verbesserten an. Der Basismeßapparat bestehtaus Meßstangen, Glaskeilen u. Zubehör. DieMeßstangen a a (Fig. 1, S. 824), 3-5 an der Zahl, sind vonEisen u. etwa 4 m lang. Auf ihnen liegen Zinkstangen b b von derhalben Breite und der ganzen Dicke. An dem einen Ende c sind dieseStangen durch Schrauben u. Lötung fest miteinander verbunden;sonst nicht weiter vereinigt, berühren sie sich der ganzenLänge nach. An beiden Enden der Zinkstange d und e sindStücke von Stahl aufgelötet, deren

824

Triangulation (Basismessung).

Enden horizontal abgeschrägt sind. Die Eisenstangeträgt dagegen nur auf dem einen Ende f ein Stahlstück,welches auch keilförmige Abschärfungen hat, derenSchneiden aber senkrecht zur Ebene der Stange stehen. Aus derungleichen Ausdehnung von Eisen und Zink folgt, daß dieEntfernung e f mit der Temperatur der Meßstangen variiert.Aus der Größe e f ist daher auf diese Temperatur zuschließen, und da die Länge der Stangen bei einergewissen Normaltemperatur durch vorangegangene Untersuchung bekanntist, so ist unter fernerer Berücksichtigung desAusdehnungskoeffizienten des Eisens die jedesmalige Länge derStangen zu bestimmen. Um die Biegung der Meßstange zuverhüten, liegt dieselbe mittels der Rollenpaare g g (Fig. 2)auf einer eisernen Stange h, die auf dem Boden eines Holzkastensiiii befestigt ist, der die Meßstange der Länge nacheinschließt. Aus den Ruhepunkten ist die Stange mittelsMikrometerschraube k beweglich, die auf einer Seite aus dem Kastenheraustritt. Zur Horizontallegung der Stange, resp. zur Ablesungdes Winkels, um welchen diese von der horizontalen Lage abweicht,befindet sich auf ihr eine Libelle l mit graduierter Schraube. Inder obern Fläche des Kastens sind ein oder zwei mit Glasgeschlossene Einschnitte angebracht zur Ablesung derStangentemperatur an einem auf den Meßstangen ruhendenThermometer. Die Glaskeile (3-5), in Einem Stück geschliffen,sind nach dem Schleifen so voneinander getrennt, daß dieparallelen Ebenen 3 Linien Entfernung haben. Die Stärke derKeile steigt von 0,8-2,0 Linien. Zwischen diesen beiden Grenzensind auf einer der parallelen Ebenen 120 Striche in gleichenZwischenräumen so gezogen, daß sie die den Winkel dergeneigten Ebenen des Keils halbierende Linie senkrechtdurchschneiden. Diese 120 Striche füllen eine Länge von41 Linien, sind also 1/3 Linie voneinander entfernt und sehr nahevon 0,01 zu 0,01 Linie der Dicke des Keils fortgehend. Daaußerdem die Zehntel eines Zwischenraums von 1/3 Linie leichtdurch das Augenmaß geschätzt werden, so bieten die Keiledas Mittel, noch Tausendstel der Linie zu messen. Zubehör sindBöcke zum Auflegen der Stangen, Gewichte, Pfähle etc.

Der Basismessung gehen die Planierungsarbeiten des Basisterrainsvoraus, um Unebenheiten des Terrains über 3°Böschung, die durch den Apparat nicht überwunden werdenkönnen, durch Abkämmen, resp. Aufführung vonPfahlrosten etc. zu entfernen. Ist dieses geschehen, so werden beieiner langen Basis mittels eines über einem Endpunktaufgestellten Theodolits (s. d.) in der Richtung nach dem andernEndpunkt Zwischenpunkte bestimmt und diese durch feine Stiftemarkiert. Von dem einen Endpunkt anfangend, werden dann so vielBöcke aufgestellt, daß auf diese sämtlicheMeßstangen hintereinander gelegt werden können. (Fig. 2zeigt eine auf zwei Böcke gelegte Meßstange.) Dasvorderste Ende der ersten Meßstange wird mit dem erstenEndpunkt der Basis in Verbindung gebracht und diese Stange wie auchalle andern mittels Theodolits so eingerichtet, daß sie genauin der Richtung der Basis liegen. Es werden dann mittels derGlaskeile die Entfernung e f (Fig. 1) sowie die Zwischenräumezwischen je zwei Meßstangen gemessen; endlich wird an denLibellenschrauben die Neigung der Meßstange abgelesen. Isteine Stange entweder zu nahe oder zu weit von der vorliegendengelegt worden, so daß der Gebrauch der Glaskeile nichtdurchführbar, so muß vorher die Stange mittelsMikrometerschraube in den nötigen Abstand gebracht werden.Sind die Ablesungen gemacht und notiert, so wird die erste Stangein die Verlängerung der letzten gebracht und die Messung inderselben Weise fortgesetzt. Da die Messung einer Basis mindestens14 Tage angestrengter Thätigkeit erfordert, die Arbeit mithinöfters unterbrochen und wieder angeknüpft werdenmuß, so sind provisorische Festlegungen erforderlich, die mitgrößter Genauigkeit ausgeführt werden müssenund besondere Maßregeln erfordern, damit bei Wiederaufnahmeder Messung auch die kleinsten

825

Triangulation (erster Ordnung).

Fehler vermieden werden. Die bei der Messung ausgeführtenBeobachtungen geben das Mittel, die Länge der Basis zuberechnen und auch ferner den wahrscheinlichen Fehler in Bezug aufdie Länge zu bestimmen (im allgemeinen kaum ein Milliontel derganzen Länge). Die Endpunkte der Basis werden behufsspäterer Wiederbenutzung sehr fest im Terrain markiert. Derbeschriebene Basismeßapparat ist der Reichenbachsche oderBesselsche "Keilapparat", derselbe wird in Preußen, Bayernund Italien gebraucht, Rußland und Schweden benutzen den"Fühlhebelapparat" (s. d.), die Niederlande, Spanien undPortugal den Brunnerschen "Mikroskopenapparat". Ein neuerer vonGeneral Baeyer und Bauernfeind empfohlener Apparat ist dasSteinheilsche, auf Schienenbahn laufende gußstählerne"Meßrad" mit Zählapparat (im hoch, zwischenHolzwandungen laufend); letzterer Apparat etwa analog dem vonFernel in Frankreich 1525 und Müller in Mähren 1720 zurdortigen Landesvermessung angewendeten Meßrad.

Ist die Länge der Basis durch Messung und nachherigeBerechnung bekannt, so ist es möglich, in einem Umkreis von200 km Halbmesser beliebig viele Punkte zu bestimmen. Diesesgeschieht wie folgt: 1) Die Basis A B (Fig. 3) wird bis zu einerEntfernung G H von 40-100 km Länge auf die in der Figurveranschaulichte Weise vergrößert. In jedem dervorhandenen Dreiecke brauchen nur je zwei Winkel gemessen zuwerden, um demnächst die Seiten C B, C A und D A, D B, dann CD, darauf E C, E D, F C, F D etc., endlich G H zu berechnen. 2) Vonder Seite G H ausgehend, werden Ketten von Dreiecken nachverschiedenen Richtungen bis zu 200 km Entfernung von der Basisgeführt und diese Ketten miteinander so verbunden, daßFlächen, welche von Dreiecken nicht überzogen, jedochganz umschlossen sind, dazwischen bleiben. Es folgt 3) dieAusfüllung der zwischen den Ketten freigelassenen Räumemit Dreiecken. 4) In die unter 2 und 3 aufgeführten Dreieckewerden Dreiecke eingeschaltet, deren Seitenlängen bis zu 10 kmherabsteigen. 5) In letztere Dreiecke werden endlich solcheeingeschoben, deren Seitenlängen sich bis zu 2 km vermindern.Alle Messungen, die sich auf 1 und 2 beziehen, umfassen die T.erster Ordnung, die auf 3 bezüglichen die sekundäre T.erster Ordnung, die auf 4 bezüglichen die T. zweiter Ordnung,die auf 5 bezüglichen die Detailtriangulation oder T. dritterOrdnung.

Die T. erster Ordnung gibt die Grundlage zu allen folgendenTriangulationsarbeiten; sie erfordert daher die Anwendung dervorzüglichsten 10-15zölligen Theodolite (s. d.) sowie diegrößte Sorgfalt bei den Messungen. Die Arbeiten beginnenmit der Rekognoszierung des Terrains und der Auswahl der Punkte,welche behufs Ausführung der Beobachtungen namentlich inwaldigem und etwas koupiertem Terrain durch Aufführung vonbedeutenden Bauten (Signalen) sichtbar gemacht werden müssen.Die Höhe der Signale variiert je nach den Hindernissen, welchedie Durchsicht von einem Punkt zum andern decken, von 3-30 m. DieSignale werden aus starkem Holz so errichtet, daß sie beiheftigem Wind nicht erschüttert werden, und daßderjenige Teil, auf dem das Instrument zu stehen kommt,vollständig isoliert ist von demjenigen Teil, auf dem sich derBeobachter befindet. Dies erreicht man durch zwei ineinanderstehende, völlig getrennte Bauten. Statt der Holzsignalewerden bei geringern Höhen Steinpfeiler errichtet (1 m hoch),bei Kirchtürmen auf deren Plattform. DiesenVorbereitungsarbeiten folgen die Beobachtungen. Wegen dergroßen Entfernung der Punkte voneinander und inRücksicht auf die möglichst besten Einstellungsresultatewird aber bei der T. erster Ordnung davon abgesehen, die auf denSignalen angebrachten Spitzen oder Tafeln etc. alsEinstellungsobjekte zu nehmen, vielmehr stets das mittels des aufdem Nachbarsignal aufgestellten Heliotrops (s. d.) reflektierteLicht eingestellt. Behufs der Beobachtungen wird derHorizontalkreis des Theodolits genau horizontiert, und dann aufjedem Punkt sämtliche vorhandene Richtungen mindestens 24 maleingestellt, so daß alle Winkel gleich oft gemessen werden.Zur Eliminierung der sehr kleinen, aber stets vorhandenenEinteilungsfehler des Horizontalkreises nimmt man sämtlicheBeobachtungen nicht auf einer Station in derselben Stellung desKreises vor, sondern verändert unter Beibehaltung derselbenStellung des Instruments den Horizontalkreis um einen bestimmtenWinkel (gewöhnlich 60°). Auch wird bei der exzentrischenLage des Fernrohrs in jeder Kreislage jedes Objekt ebenso oft inder einen wie in der andern genau um 180° entgegengesetztenStellung des Fernrohrs eingestellt. Aus dem Mittel beider Resultatefolgt dann der auf das Zentrum des Instruments sich beziehendeWinkel. Zwei weitere Feldarbeiten sind: a) Das Nehmen derZentrierelemente. Da es nicht immer möglich, den Heliotropenoder den Theodolit im Zentrum der Station aufzustellen, so ist dieAbweichung hiervon zu messen, um diese den später zuberechnenden Winkeln als Korrektion hinzufügen zu können.b) Das Festlegen des Punktes. Dieses ist unbedingt erforderlich,wenn die Messungen einen dauernden Wert haben und dieAnknüpfung späterer Messungen ermöglichen sollen. Esgeschieht durch Marksteine, bei der T. erster Ordnung durch eineversenkte, ca. 50 cm im Quadrat große Platte und einendaraufgestellten, ca. 1 m hohen, ca. 50 cm zu Tage tretenden Block.In beide, Stein und Platte, sind in der Mitte der SteinflächenKreuzschnitte angebracht, deren Mittelpunkte das Zentrum derStation bedeuten. Nach Beendigung der Feldarbeiten beginnt dieBerechnung der Kette. Da es nur selten möglich, auf einerStation stets sämtliche Objekte einzustellen, so wird dasMittel aus allen Einstellungen auch nicht deren wahrscheinlichstenWert ergeben. Die Ermittelung desselben wird durch die Ausgleichungder Stationen erreicht. Es folgt sodann das Zentrieren der Winkelbei denjenigen Stationen, bei denen der Theodolit oder derHeliotrop nicht im Zentrum der Station aufgestellt war. Sind diewahrscheinlichsten Werte der Richtungen hiernach korrigiert, sofolgt die Ausgleichung der Kette. Da nämlich in jedem Dreiecksämtliche Winkel gemessen werden und es unmöglich ist,dieselben absolut richtig zu messen, so folgt, daß die Summeder gemessenen Winkel nicht gleich sein wird 180° + demsphärischen Exzeß (d. h. der Zusatz anWinkelgröße über 180° an der Summe der Winkeleines Kugeldreiecks). Außerdem folgt aus der nicht absolutenRichtigkeit der Winkel, daß bei der Berechnung derDreiecksseiten stets verschiedene Werte gefunden werdenmüssen,

826

Triangulation (zweiter Ordnung, Detailtriangulation,Höhenmessungen).

je nachdem der eine oder der andre Winkel zur Berechnung benutztwird. Beides wird durch die Ausgleichung eliminiert, sämtlicheDreiecke werden so auf 180° + sphärischen Exzeßgebracht, und außerdem erhält jede Dreiecksseite in demganzen Netz nur einen einzigen Wert. Die Ausgleichung erfordert dieAufstellung und Auflösung von Gleichungen, deren Anzahl vonder Zahl der zu bestimmenden Punkte und der vorhandenen Richtungenabhängt. Die Grenze für die wahrscheinlichen Fehler derDreiecksseiten erster Ordnung beträgt 1/100000 derLänge.

Die T. zweiter Ordnung (sekundäre T.) wird im allgemeinenwie die T. erster Ordnung ausgeführt; nur gestattet der festeRahmen, der diese Dreiecke umschließt, bei den Beobachtungenwie bei den Ausgleichungen ein etwas abgekürztes Verfahren.Bei der sekundären T. erfolgen die Rekognoszierungen, dieBebauung und Festlegung wie bei der T. erster Ordnung. DieBeobachtungen werden mit achtzölligen Theodolitenausgeführt, die Pyramidenspitzen, Kirchturmspitzen alsEinstellungsobjekte genommen und jeder Winkel zwölfmalgemessen. Stationsausgleichung findet nicht statt, und dieAusgleichung des Netzes wird nicht im ganzen, sondern nurgruppenweise ausgeführt. Die Fehlergrenze der Dreiecksseitebeträgt 1/50000 der Länge. Bei der Detailtriangulationendlich ist wegen der geringen Entfernung der Punkte voneinanderdie Rekognoszierung und Bebauung bedeutend vereinfacht. Die Signalesind im allgemeinen nur ca. 4-6 m hohe drei- oder vierseitigePyramiden. Die Festlegung besteht in einem einfachen Block mitKreuzschnitt. Zu den Beobachtungen werden fünfzölligeTheodoliten benutzt und die Winkel durch sechsmalige Einstellunggewonnen. Bei der Berechnung wird der sphärische Exzeßnicht berücksichtigt. Dreiecksfehler werden auf die dreiWinkel verteilt und die Länge der Seiten aus demarithmetischen Mittel der aus den verschiedenen Dreiecken sichergebenden Werte derselben Seite mit 1/25000 Fehlergrenzeermittelt. In Fig. 4 sind die Triangulationen der verschiedenenOrdnungen veranschaulicht, und es bezeichnen die starken Linien dieT. erster Ordnung, die schwachen die T. zweiter Ordnung und diepunktierten die Detailtriangulation.

Was die Höhenmessungen betrifft, so werden die Nivellementseingeteilt in trigonometrische und geometrische Nivellements.Letztere werden unterschieden in geometrischePräzisionsnivellements und einfache geometrische Nivellements.Über einfache Nivellements s. Nivellieren. In der höhernGeodäsie kommen nur trigonometrische und geometrischePräzisionsnivellements zur Anwendung. Die früherangewendeten trigonometrischen Nivellements sinderfahrungsmäßig infolge der Refraktionseinflüssenicht völlig genau; als Grundlage aller Höhenbestimmungenwerden jetzt daher nur geometrische Präzisionsnivellementsausgeführt. Die Fehlergrenze von 3 mm bei guten, 5 mm auf 1 kmbei noch brauchbaren Nivellements bedingt die Anwendungvorzüglichster Nivellierinstrumente (Fernrohre mit ca. 32maliger Vergrößerung) und größte Sorgfalt beiden Beobachtungen. Die Nivellements werden, von dem Nullpunkt einesPegels ausgehend, auf möglichst ebenen Straßen,Chausseen etc. ausgeführt; von 1/4 Meile zu 1/4 Meile wird einPunkt der Höhe nach bestimmt und im Terrain, z. B. durch einenin einen Granitblock horizontal eingelassenen gußeisernenNivellementsbolzen, fest markiert. Von diesen so bestimmten Punktenwerden Seitennivellements nach allen in der Nähe liegendentrigonometrisch bestimmten Punkten ausgeführt und so auchderen Höhe über dem Nullpunkt des Pegels ermittelt. DasNivellement geschieht stets von der Mitte aus, jede Linie wirdmindestens zweimal nivelliert, auf den Chausseen findet derKontrolle halber polygonaler Abschluß statt. Die durchdenselben sich ergebenden kleinen Differenzen werden durch dieAusgleichung eliminiert, mittels welcher die definitiven Höhender Punkte gefunden werden. Näheres überPräzisionsnivellements s. Nivellieren.

Gleichzeitig mit der Horizontalwinkelmessung bei der T. zweiterund dritter Ordnung werden trigonometrische Höhenmessungenzwischen allen denjenigen Punkten vorgenommen, deren Höhennicht bereits durch geometrische Nivellements bekannt sind. Mit derT. erster Ordnung werden keine Höhenmessungen verbunden, dabei den großen Entfernungen der einzelnen Hauptdreieckspunktedie Unregelmäßigkeiten der Refraktion die Güte desResultats benachteiligen würden. Da ferner die Refraktionmittags am geringsten ist, so werden die Beobachtungen nur in derZeit von 10-3 Uhr ausgeführt. Soll der Höhenunterschied hder beiden Punkte A u. B (Fig. 5), dessen Horizontalentfernung adurch die vorangegangene T. bekannt ist, gefunden werden, so istnur erforderlich, den Winkel z, die Zenithdistanz, zu messen; dennda z = alpha, so folgt: h = a/ tang z. Dieser Höhenunterschiedh, zu der absoluten Höhe von A addiert gibt die absoluteHöhe von B. Die Zenithdistanzen werden mittels der mitHöhenkreisen versehenen Theodolite genommen. Um richtigeResultate zu erhalten, hat man die Höhe des Fernrohrs in A unddie Höhe des eingestellten Objekts in B in Bezug auf dieDreieckspunkte A und B zu messen und in Rechnung zu bringen. Wie inA nach B, wird auch in B nach A

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Triasformation I.

von vorn Coratites nodosus.

von der Seite (Art. Ammoniten und Tintenschnecken.~)

Encrinus liliiformis; a Stielglied von der Gelenkfläche.(Art. Krinoideen.)

Stück eines Zahndurchschnittes von Mastodonsaurus Jaegeri,stark vergrößert. (Art. Labyrinthodonten,')

Ein ganzer Gaumen von Placodus Andriani; die Mahlzähne sinderhalten, die Schneidezähne ausgefallen. (Art.Reptilien.')

von der Seite • von vorn Lima striata. (Art.Kammmuscheln.')

Zahn von Mastodonsaurus.

Avicula socialis.

(Art. Muscheln.}

Schädel von Mastodonsaurus Jaegeri. (Art.Labyrinthodonten.)

Fährtenabdrüeke von Chirotherium. (Art.Labyrinthodonten.)

von der Seite von vorn

Cardita crenata. (Art. Muscheln.')

Terebratula vulgaris. (Art. Brachiopoden.}

Posidonomya Clarai. (Art. Muscheln.)

Fährtenabdruck von Brontozoum (Ornitichnites) giganteum

und sogen, fossile Regentropfen (Abdrücke vonLuftblasen).

(Art. Dinosaurier,)

Zum Artikel »Triasformation«

826b

Triasformation II.

Pflanzen der Keuperformation.

1. Nadelhölzer (Voltzien). — 2. Riesenschachtelhalm(Equisetum arenaceum). — 3. Brandblattpflanze (Aethophyllumspeciosum). — 4. Kammwedel (Pecopteris Meriani). — 5.Kammwedel (Pecopteris angusta). — 6. Netzfarn(Clathropteris). — 7. Kalamiten (Calamites Meriani). —8. Bandfarn (Taeniopteris marantacea). — 9. Flügelzamie(Pterophyllum Jaegeri).

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Triangulation - Triasformation.

die Zenithdistanz gemessen und sowohl von hier aus als auch ausder Zusammenstellung der von B über andre Punkte, C D etc.(Fig. 6), nach A zurück ermittelten Höhenunterschiedeeine Kontrolle über die Güte der Arbeit ausgeführt.Existieren in einem größern Terrainabschnitt keine durchgeometrische Nivellements bestimmten Dreieckspunkte, so ist eserforderlich, wenigstens einige Punkte möglichst sicher derHöhe nach zu bestimmen. Es werden dazugegenseitig-gleichzeitige Zenithdistanzen genommen. Es seien z. B.die Höhen der Punkte A und F (Fig. 6) bekannt, und es sollendie Höhen der Punkte B, C, D, E bestimmt werden, so messenzunächst auf A und B je ein Beobachter die Zenithdistanzen vonA nach B, resp. B nach A und zwar mit Hilfe des Heliotropen oderbei nähern Entfernungen mit Hilfe eines durch Senken einerTafel etc. gegebenen Zeichens in demselben Zeitmoment. Ist dievorgeschriebene Anzahl von Beobachtungen beendigt, so begibt sichder Beobachter von A nach C. Es werden dann die Zenithdistanzen vonB nach C und von C nach B gemessen. Darauf geht der Beobachter vonB nach D etc. bis zu Ende.

Die gegenseitig-gleichzeitigen Beobachtungen haben den Vorteil,daß sie annähernd den Einfluß der Refraktionaufheben, kommen indes nur in beschränkter Weise zurAnwendung. Im großen und ganzen werden die trigonometrischenHöhenmessungen durch gegenseitige, aber nicht gleichzeitigeBeobachtungen ausgeführt, und nur ausnahmsweise, wenn einPunkt die Aufstellung des Instruments (wie bei einzelnenKirchtürmen etc.) nicht erlaubt, oder wenn eine allzugroße Genauigkeit nicht verlangt wird, werden einseitigeZenithdistanzen genommen; dann muß aber die Höhe einessolchen Punktes der Kontrolle halber stets von mindestens dreiandern bereits bestimmten Punkten aus ermittelt werden. Ist aufbeschriebene Weise durch T. und Höhenmessung die Lage einesPunktes auf und über der Projektionsfläche ermitteltworden, so ist die geographische Position desselben festzustellen.Dieses geschieht durch Polhöhen-, Längen- undAzimutbestimmung. In der höhern Geodäsie kommen aber allediese Arbeiten nur ausnahmsweise vor, da es, wenigstens in Europa,stets möglich sein wird, einen Dreieckspunkt mit einerSternwarte unmittelbar zu verbinden und so deren Position auf einenDreieckspunkt zu übertragen. Ist die geographische PositionEines Dreieckspunktes bekannt, so wird mit Hilfe der noch alsgültig angenommenen Erddimensionen von Bessel durch einfacheRechnung Breite, Länge und Azimut jedes andern trigonometrischbestimmten Punktes ermittelt. Vgl. Puissant, Traité degéodésie (Par. 1805); Späth, Die höhereGeodäsie (Münch. 1816); Decker, Lehrbuch der höhernGeodäsie (Mannh. 1836); Fischer, Lehrbuch der höhernGeodäsie (Darmst. 1845-46, 3 Abtlgn.); Bessel und Baeyer,Gradmessung in Ostpreußen (Berl. 1838); Baeyer,Küstenvermessung (das. 1849); die Werke von Gauß und dieVeröffentlichungen des Büreaus der Landestriangulation;Bauernfeind, Elemente der Vermessungskunde (6. Aufl., Stuttg.1879); Jordan, Handbuch der Vermessungskunde (2. Aufl., das. 1878);Börsch, Geodätische Litteratur (Berl. 1889).

Triangulation, in der Gärtnerei die Veredelung mitdem Geißfuß (s. d. und Pfropfen).

Triangulieren (lat.), ein Stück Erdoberflächebehufs trigonometrischer Vermessung in Dreiecke zerlegen (vgl.Triangulation).

Trianon (spr. -nong, Groß- und Klein-T.), zweiLustschlösser im Park von Versailles. Ersteres 1685 von LudwigXIV. für Frau von Maintenon nach Mansarts Plänenerrichtet, nur ein Stockwerk hoch, von Ludwig Philipp mannigfachumgebaut; letzteres unter Ludwig XV. für die Dubarry erbaut,später Lieblingsaufenthalt der Königin Marie Antoinette,mit schönem englischen Park. Vgl. Lescure, Les palais de T.(Par. 1867); Desjardins, Le Petit-T. (Versaill. 1885); Bosq,Versailles et les Trianons (Par. 1887).

Triarchie (griech.), Dreiherrschaft, Triumvirat.

Triarier (lat.), die ältesten Kerntruppen deraltrömischen Legionen vor der Zeit des Marius, derencharakteristische Waffe die Hasta (s. d.) war. Im Gefecht bildetensie das dritte Treffen.

Trias (griech.), im allgemeinen die "Dreiheit", jedeZusammstellung von drei irgendwie zusammengehörigen Dingen (s.Trinität). In der Zeit des Deutschen Bundes verstand man unterT. die Dreiteilung Deutschlands in Österreich, Preußenund das "eigentliche Deutschland", die "rein deutschen" Mittel- undKleinstaaten, welch letztern eine festere und engere politischeOrganisation gegeben werden sollte. Besonders Bayern und seinKönig Maximilian II. förderten die sogen. Triasidee, weilsie sich davon die Begründung einer bayrischen Hegemonieversprachen. Die Ereignisse von 1866 und 1870-71 haben diesePläne für immer begraben. - Trias harmonica (lat.), inder Musik s. v. w. konsonierender Dreiklang (Dur- oder Mollakkord);T. superflua, übermäßiger Dreiklang; T. deficiens,verminderter Dreiklang.

Triasformation (hierzu Tafel "Triasformation"), dieälteste der mesozoischen Formationen, die Dyasformationbedeckend und von der Juraformation überlagert. Schonhinsichtlich des zusammensetzenden Gesteinsmaterials macht sich dieDreiteilung bemerklich, indem wenigstens in vielen Gegenden derEntwickelung eine vorwiegend aus Sandstein bestehende untersteAbteilung von einer wesentlich aus Kalkstein zusammengesetztenmittlern Abteilung abgelöst wird, welcher als drittes Gliedeine Mergelbildung aufgelagert ist. Die Sandsteine sindQuarzsandsteine mit thonigem (meist eisenschüssigem und dannrotem, aber auch kaolinigem und dann weißem) oder kieseligemBindemittel, dem Korne nach sehr verschieden, feinkörnigevorwiegend, andre Übergänge bis zu großbrockigenKonglomeraten bildend. Die Kalksteine sind der Hauptmasse nachdicht und dunkel gefärbt, durch thonige und organischeSubstanzen stark verunreinigt, in einzelnen Lagen auch deutlichkristallinisch und dann reiner, mitunter fast ausschließlichaus organischen Resten gebildet. Unter den Mergeln walten buntgefärbte (marnes irisées) vor; ganz gewöhnlichenthalten sie schwefelsaures Calcium, als Anhydrit oder Gips,beigemengt. In einzelnen Lagen sind sie verkieselt (Steinmergel).Untergeordnet kommen Mergel in der untersten und in der mittlern,Sandsteine in der obersten, seltener in der mittlern, Dolomite,Anhydrite, Gipse und Hornsteine in allen drei Etagen vor. Inmehreren Niveaus sind hier und da Steinsalzlinsen eingelagert.

Gliederung und Verbreitung. Die Dreiteilung der T. inBuntsandstein, Muschelkalk und Keuper ist am deutlichsten an denkontinentalen, speziell den deutschen, außeralpinenSchichtensystemen durchzuführen, während sich das Bild inEngland und Amerika dadurch verwischt, daß die mittlereAbteilung

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Triasformation (Gliederung).

(Muschelkalk) überhaupt nicht zur Entwickelung kam und inder alpinen, übrigens sonst auch weitverbreiteten Facies dieGesteinsunterschiede zwischen den einzelnen Gliedern nicht socharakteristisch hervortreten. Zunächst von der deutschenaußeralpinen Facies ausgehend, läßt sich in deruntersten Abteilung, dem Buntsandstein, wiederum eine Dreiteilungdurchführen: zuerst, bei vollständiger Entwickelung derFormationen, dem Zechstein (s. Dyasformation), oft aber auchältern Bildungen, beispielsweise dem Granit, aufgelagert,Letten (Leberschiefer), weiße, oft fleckige Sandsteine(Tigersandsteine), in einzelnen Gegenden (am Harz) Roggenstein.Dieser untersten Abteilung folgt der Hauptbuntsandstein(Vogesensandstein), überwiegend rot gefärbt; das baldthonige, bald kieselige Bindemittel ist in den Schichten oftregellos verteilt, so daß durch die Verwitterung groteskeFelsenklippen (Annweiler Thal) oder Blockanhäufungen(Felsenmeere) entstehen. Mitunter konzentriert sich das thonigeBindemittel zu größern Gallen oder kleinen,gewöhnlich bald auskeilenden Zwischenschichten. Hin und wiedersind einzelne Sandsteinpartien von kugeligen, aus kieselreicherMasse gebildeten Konkretionen (Kugelfelsen) durchspickt. Dasoberste Glied des Buntsandsteins, den Röt, bilden Mergel mituntergeordneten Dolomiten und ebenfalls zurücktretenden, oftpflanzenführenden Sandsteinen (Voltziensandsteinen), nichtselten sehr dünnschieferig, glimmerreich und mitSteinsalzpseudomorphosen und Tierfährten(Chirotheriumsandstein) auf den Oberflächen der Schichten. Alsuntere Grenze des Muschelkalks, der zweiten Hauptabteilung der T.,empfiehlt es sich, einen gegen die Farben des Röts scharfabstechenden, gelblich- oder bräunlich gefärbten Dolomit(Wellendolomit) zu nehmen, welcher zusammen mit dem gewöhnlichsehr mächtigen Wellenkalk dann die unterste Abteilung desebenfalls dreigliederigen Muschelkalks bilden würde. Letztererist ein sehr dünnschieferiger Kalk, mit eigentümlichenFältelungen und gebogenen Wülsten (sogen.Schlangenwülsten) versehen, beide wohlEintrocknungserscheinungen. Hier und da ist dem eintönigenSchichtenaufbau eine stärkere versteinerungsreichere Lageeingeschaltet, so namentlich nach oben der Schaumkalk (Mehlbatzen),im deutschen Norden mit größerer, in Mitteldeutschlandmit geringerer Mächtigkeit entwickelt, im Süden ganzfehlend. In den Reichslanden und den angrenzendenLänderstrichen ist diese ganze untere Etage des Muschelkalksals eine Sandsteinfacies ausgebildet. Die auf den Wellenkalkfolgende Anhydritgruppe wird im allgemeinen aus Mergeln mitDolomiten (wegen ihrer zelligen Struktur Zellendolomite genannt),auch Hornsteinen, reich an kleinen Versteinerungen, gebildet, wozu,namentlich in Südwestdeutschland, Gips, Anhydrit und Steinsalzkommen, und ist vom Hauptmuschelkalk (Friedrichshaller Kalk)überlagert. Dieser stellt einen Wechsel von Kalksteinen undthonigen Zwischenmitteln dar, in bald dünnen, baldmächtigern Schichten. Die Führung von Versteinerungen istgewöhnlich auf einzelne Lagen beschränkt, die aberbisweilen überreich an Exemplaren einer Spezies sind, sonamentlich mehrere Bänke mit den Stielgliedern von Encrinusliliiformis (Encrinus-, Kriniten- oder Trochitenkalk, s.nebenstehende Abbildung), andre voll von einer kleinen kugeligenVarietät (cycloides) der auf Tafel I abgebildeten TerebratulaVulgaris. In obern Schichten des Hauptmuschelkalks treten als Restenamentlich zwei Ceratiten (Ceratites nodosus und semipartitus) alscharakteristische Versteinerungen (Ceratitenkalke) auf. DenSchluß bildet in Süddeutschland ein oft dolomitischerKalk, nach einem Leitfossil (Trigonodus Sandbergeri),Trigonoduskalk oder -Dolomit genannt. Einige Geologen rechnendagegen dem Muschelkalk noch die untere Hälfte des Keupers,die Lettenkohlenformation (grauer Keuper, Kohlenkeuper), zu, einSchichtenprofil von vorwiegend grauen bis schwarzen Mergeln, denenSandsteine (Lettenkohlensandstein) und Dolomite eingelagert sind,letztere namentlich im obersten Teil sehr mächtig(Grenzdolomit), während an der untern Grenze derLettenkohlenformation direkt auf dem Trigonodusdolomit oft ein Kalklagert, in welchem die Schalen eines kleinen Krebses häufigsind (Bairdia pirus, daher Bairdienkalk). Fast allgemein wird imGegensatz zu dieser Zuziehung der Lettenkohlenformation (welcheihren Namen nach einer an Pflanzenfragmenten reichen, alsFeuerungsmaterial aber unbrauchbaren lettigen Kohle trägt) demKeuper zugezählt, mitunter wohl auch als selbständigesGlied dem Keuper, Muschelkalk und Buntsandsteingegenübergestellt, wobei dann freilich der Name "T."hinfällig werden würde. Den echten (obern, bunten) Keupereröffnen Gipse, mitunter (Lothringen) Steinsalz führend,in lokal sehr verschiedener Mächtigkeit Anhydrit- oderGipsmergeln eingelagert, welche außerdem von einzelnenSteinmergelschichten mit Einschlüssen von metallischenSubstanzen (Bleiglanz, Kupfererze) durchzogen werden.Größere Sandsteinetagen unterbrechen die bunten Mergelund zwar, von unten nach oben aufgezählt, der Schilfsandstein(nach den schilfartigen Resten von Equiseten so genannt), derSemionotussandstein (mit den Resten eines Fisches, SemionotusBergeri) und der Stubensandstein (der Name stammt von dergelegentlichen Verwendung zu Sand zerfallener Partien). Zwischenund über diesen Sandsteinetagen sind bunte Mergel entwickelt,zu oberst meist Konkretionen und zahlreiche Knochensetzenführend (Knollenmergel). Was darüber liegt, inDeutschland teils pflanzenführende Thone, teils Sandsteine miteiner fast nur aus Knochenfragmenten und Zähnen bestehendenLage (Knochenbett, Bonebed), wird wegen der großenMächtigkeit

829

Triasformation (Verbreitung, organische Reste).

gleichaltriger Schichten in den Alpen (s. unten) am besten alsselbständige Zwischenbildung zwischen Keuper und Lias(rätische Formation) betrachtet, ist aber auch bald zumKeuper, bald zum Lias (Infralias) gestellt worden.

Die eben geschilderte Gliederung der T. bezieht sich imwesentlichen auf die Entwickelung in Deutschland, wo die T.über große Strecken hinweg in Schlesien, in Nordwest-und Südwestdeutschland und in den Reichslanden eine bedeutendeVerbreitung als Oberflächenbildung besitzt und namentlich ander Zusammensetzung einiger Mittelgebirge (Rhön, Spessart,Steigerwald, Odenwald, Schwarzwald, Vogesen) einen hervorragendenAnteil nimmt. Da die nähere Kenntnis der T. speziell vonDeutschland ausging, so war man unwillkürlich versucht, geradein dieser Gliederung eine Art Normalprofil zu erblicken. Aber schonder Versuch einer Parallelisierung mit dem der englischen, nochmehr mit der amerikanischen T. stößt dadurch aufSchwierigkeiten, daß in beiden Ländern der New redSandstone ein Äquivalent für Buntsandstein und Keuperdarstellt, ohne daß sich als trennendes Signal zwischenbeiden Gliedern der Muschelkalk nachweisen ließe. So bleibtes bei der großen Ähnlichkeit der obersten Schichten desRöt und der untersten des bunten Keupers unentschieden,welchem der beiden Glieder die englischen Steinsalzlagerzuzuzählen sind, während sich für die rätischeFormation in England vollkommen sichere Parallelen an der Handübereinstimmender Petrefakten nachweisen lassen. Nach neuernForschungen scheint es übrigens auch sicher, daß derSandstein von Elgin, aus dem die Tafel zur devonischen Formationdie Reste des Telerpeton abbildet, nicht, wie schon in dem Artikel"Devonische Formation" als zweifelhaft bezeichnet wurde, zum Oldred Sandstone, sondern zum New red Sandstone und speziell zumKeuper gehört. Auf ganz besondere Schwierigkeitenstößt die Parallelisierung mit der alpinen Facies derT., wobei aber betont werden muß, daß nicht diese,sondern die deutsche sich als die rein lokal entwickelte und wenigverbreitete darstellt, indem die Untersuchungen der T. schon in denübrigen europäischen, besonders aber in den übrigenKontinenten die größte Übereinstimmung mit deralpinen Facies ergeben haben, so für die Apenninen undKarpathen in Europa, den Himalaja und den Salt Range inSüdasien, auf Neuseeland, in Japan, in Sibirien, inSüdamerika und dem westlichen Nordamerika. Soweit einzelnebeiden, der deutschen und der alpinen, Facies gemeinschaftlicheVersteinerungen einen Schluß erlauben, sind die meist rotgefärbten Sandsteinschiefer der Werfener Schichten mitPosidonomya Clarai (s. Tafel I) und die Guttensteiner Kalke alsÄquivalente des Buntsandsteins, der Virgloriakalk(Recoarokalk, reich an Brachiopoden, und Reiflinger Kalk oderCephalopodenkalk mit Ammoniten, namentlich aus der Abteilung derGlobosen), einschließlich des lokal entwickeltenMendoladolomits, als solche des Muschelkalks aufzufassen. Ihnensind als obere Trias, neuerdings in zwei (norische u. karnische)Stufen eingeteilt, aufgelagert: die Wengener Schiefer mit Halobia(Daonella) Lommeli. die Cassianer Schichten mit einer überausreichen Fauna, der Lunzer Sandstein, der Schlerndolomit, derEsinokalk, der Wettersteinkalk, die unter dem Namen derHallstädter bekannten Marmorarten von Berchtesgaden, Halleinetc., die Raibler Schichten und die Carditaschichten mit Carditacrenata (s. Tafel I), wobei eine Mehrzahl der genannten Glieder nurlokal entwickelte Facies darstellen. Der rätischen Formation(rätischen Stufe) entsprechen der in den Alpen in Formzerklüfteter Bergmassen weitverbreitete Hauptdolomit, derDachsteinkalk mit seinen berüchtigten Karrenfeldern (s. d.),die sogen. Dachsteinbivalve, Megalodon triqueter. führend, unddie Kössener Schichten mit zahlreichen Versteinerungen,darunter die auch im deutschen Röt verbreitete Aviculacontorta.

Von organischen Resten fehlen solche pflanzlicher Natur deralpinen Facies der T. sowie dem deutschen Muschelkalk fastgänzlich: was gelegentlich als große Seltenheit inletzterm vorkommt, trägt den Charakter zufälligeingeschlämmten Materials. An Einzelindividuen einerbeschränkten Anzahl von Pflanzenarten reich sind bestimmteHorizonte des obern Buntsandsteins und die Sandsteine des Keupers(Lettenkohlen-, Schilf- und Stubensandstein). Die Tafel (Seite II)bildet von Kryptogamen eine Mehrzahl Farnkräuter ab, fernerriesige Schachtelhalme und Kalamiten (letztere häufig,vielleicht immer Steinkerne von Equiseten), das seinersystematischen Stellung nach noch strittige Aethophyllum (nacheinigen Paläontologen zu den Typhaceen gehörig, nachandern den Equisetaceen verwandt) aus dem Buntsandstein, vonCykadeen einige Pterophyllum-Arten und von Koniferen Voltzia. Ganzbesonders häufig sind im Stubensandstein verkieselteKoniferen-(Araukarien-) Stämme, deren mikroskopische Strukturmitunter vorzüglich erhalten ist. Tierreste sind in derdeutschen T. nur im Muschelkalk zahlreicher vorhanden, imBuntsandstein und Keuper auf einige Horizonte beschränkt,während der alpine Keuper (s. oben) einige an Versteinerungensehr reiche Schichten enthält. Als Beispiele bringt die Tafel(I) zunächst von Krinoiden Krone und Stielglieder von Encrinusliliiformis zur Darstellung, aus welchen (vgl. die Abbildung imText) bestimmte Lagen des deutschen Muschelkalks fastausschließlich zusammengesetzt sind. Von den abgebildetenMollusken gehören der Brachiopode Terebratula vulgaris, diebeiden Muscheln Avicula (Gervillia) socialis und Lima striata sowieder Cephalopode Ceratites nodosus ebenfalls dem Muschelkalk an. DieMuscheln Posidonomya Clarai und Cardita crenata wurden schon alsLeitfossilien bestimmter Etagen der alpinen T. erwähnt. VonWirbeltieren sind Fische und Saurier im Muschelkalk und Keupernicht selten, meist in Form von Knochenfragmenten und Zähnen,gelegentlich aber auch, wie namentlich im süddeutschenStubensandstein, von wohlerhaltenen Schädeln und ganzenSkeletten. Dieser Etage entstammt Mastodonsaurus Jaegeri, vonwelchem die Tafel I Schädel und Zähne, letztere auch immikroskopischen Bild mit den eigentümlich gekröseartigenWindungen der Zahnsubstanz (welche den Namen der Labyrinthodontenfür die Abteilung veranlaßt hat) darstellt. Ebenfallsder Stubensandstein hat die besonders im Stuttgarter Museum inunübertroffener Schönheit vertretenen Belodontengeliefert sowie die im gleichen Museum befindliche berühmteGruppe von 24 etwa halbmetergroßen Individuen von Aetosaurusferratus. Der auf der Tafel dargestellte Placodus mit seinengroßen Mahlzähnen auf Gaumen und Oberkiefer, jetztallgemein zu den Sauriern gerechnet, entstammt dem Muschelkalk.Endlich seien noch die eigentümlichen Fußspurenerwähnt: aus dem deutschen Buntsandstein Chirotherium und ausdem amerikanischen New Red die dreizehigen Spuren von Brontozoum,jetzt einem auf Vogelbeinen wandernden Saurier zugeschrieben,früher für Vogelspuren (Ornitichnites) ge-

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Tribadie - Tribunen.

halten. In der rätischen Formation sowohl Deutschlands alsEnglands haben sich die ältesten Säugetierrestevorgefunden: Zähne und Kiefer von Microlestes, wahrscheinlicheinem Beuteltier.

Vulkanisches Material gleichzeitigen Datums der Entstehungläßt sich im Gebiet der deutschen T. nicht nachweisen,wohl aber sind jüngere Eruptivgesteine, namentlich Basalte, inBerührung mit triadischen Schichten gekommen und haben anvielen Orten, besonders in benachbartem Buntsandstein,Kontaktwirkungen (Frittung, Bleichung und säulenförmigeAbsonderung) hervorgerufen. In den Alpen sind granitische undsyenitische Gesteine, Porphyre und Melaphyre, in NordamerikaDiorite und Melaphyre triadischen Alters bekannt.

An technisch wichtigen Substanzen sind Buntsandstein, diemächtigern Lagen des Muschelkalks, die Sandsteine desdeutschen Keupers, die Marmorarten der Alpen als architektonischverwendbar zu verzeichnen. Bestimmte Lagen des Muschelkalks dienenzur Bereitung von Luftmörtel und hydraulischem Zement.Steinsalzlager kommen im Röt (Braunschweig, Salzgitter etc.),in der Anhydritgruppe des Muschelkalks (Südwestdeutschland)und den Gipsmergeln des Keupers (Vic und Dieuze in Lothringen) vor;auch das alpine Salz (Ischl, Hallein, Berchtesgaden etc.)dürfte dem untersten Keuper zuzuzählen sein, wonach dieNotiz in "Übersicht der geologischen Formationen" (Bd. 7) zuberichtigen sein würde. Von bauwürdigen Kohlenlagernenthält die deutsche T. nichts; die sogen. Lettenkohle kannnur, wenn sie viel Eisenkies oder Strahlkies enthält, aufVitriol und Alaun verarbeitet werden. Dagegen wird auf Schonen derrätischen Formation angehörige Kohle gewonnen, und einTeil der bedeutenden Kohlenschätze Chinas soll triadischenAlters sein. In Bezug auf Erzführung sind die Knottenerze vonKommern in der Eifel zu erwähnen, Buntsandsteine mitKörnern von Bleiglanz, ferner ebenfalls im Buntsandstein anvielen Orten Gänge von Schwerspat, Eisen- und Kupfererzen. DemMuschelkalk sind in Oberschlesien und Baden Zink-, Bleiglanz- undEisenerzlager eingeschaltet, und der Erzbau von Raibl ist an diegleichnamigen Schichten geknüpft. Die Gipse der verschiedenenEtagen werden namentlich zu landwirtschaftlichen Zwecken abgebaut,und das kaolinige Bindemittel der weißen Buntsandsteine istein wertvolles Rohmaterial für die Porzellanfabrikation. AlsBodenbildner verhalten sich die Schichten natürlich sehrverschieden: die Keupermergel, die an thonigen Zwischenmittelnreichern Muschelkalketagen und der Röt liefern guteBöden, an welche in Franken und Schwaben der Weinbaugeknüpft ist, schlechte dagegen der Wellenkalk und derHauptbuntsandstein, letzterer der vorzüglichste Waldboden,wenn die Wälder nicht, wie in der Nähe des Weinbaues,durch Streuentnahme geschädigt werden.

[Litteratur.] Vgl. Alberti, Monographie des bunten Sandsteins,Muschelkalks u. Keupers (Stuttg. 1834); Derselbe, Überblicküber die Trias (das. 1864); Eck, Über die Formationen desbunten Sandsteins und Muschelkalks in Oberschlesien (Berl. 1865);Giebel, Die Versteinerungen des Muschelkalks von Lieskau bei Halle(das. 1856); Bornemann, Über organische Reste derLettenkohlengruppe Thüringens (das. 1856); Gümbel, Diegeognostischen Verhältnisse des fränkischen Triasgebiets("Bavaria", Bd. 4, Münch. 1865); Schenk, Fossile Flora derGrenzschichten des Keupers und des Lias Frankens (Wiesb. 1867);Emmrich, Übersicht der geognostischen Verhältnisse umMeiningen (Meining. 1868-74); Frantzen, Übersicht dergeologischen Verhältnisse bei Meiningen (das. 1882); Nies,Beiträge zur Kenntnis des Keupers im Steigerwald (Würzb.1868); Derselbe, Die angebliche Anhydritgruppe im KohlenkeuperLothringens (das. 1873); Schalch, Beiträge zur Kenntnis derTrias am südöstlichen Schwarzwald (Schaffh. 1873);Benecke, Über die Trias in Elsaß-Lothringen undLuxemburg (Straßb. 1877); Thürach, Der fränkischeKeuper (Münch. 1889). An Werken über dieVerhältnisse der alpinen T. seien außer den betreffendenKapiteln in Hauers "Geologie" (2. Aufl., Wien 1878) angeführt:Emmrich, Geologische Geschichte der Alpen (Jena 1874); Benecke,Trias und Jura in den Südalpen (Münch. 1866); v.Mojsisovics, Gliederung der obern Triasbildungen der östlichenAlpen (Wien 1869), und eine Reihe meist im "Jahrbuch der Wienergeologischen Reichsanstalt" erschienener Arbeiten desselbenVerfassers; Lepsius, Das westliche Südtirol (Berl. 1878).

Tribadie (griech.), s. Lesbische Liebe.

Triberg (Tryberg), Bezirksamtsstadt und Luftkurort imbad. Kreis Villingen, im Schwarzwald und an der LinieOffenburg-Singen der Badischen Staatsbahn, 686 m ü. M., hateine kath. Kirche, eine Gewerbehalle mit permanenter Ausstellungvon Schwarzwald-Industrieerzeugnissen, elektrische Beleuchtung,eine Gewerbe- und eine Schreinerschule, ein Amtsgericht, eineBezirksforstei, eine Nervenheilanstalt, bedeutendeUhrenfabrikation, Metall- und Holzwarenfabriken, Strohflechterei,Sägemühlen und (1885) 2461 meist kath. Einwohner. Dabeider herrliche Fallbach, von der Gutach (s. d.) gebildet.

Tribometer (griech.), s. Reibung.

Tribon (griech.), kurzer Umhang der Männer undEpheben in den dorischen Staaten Altgriechenlands, Tracht derPhilosophen, besonders der Cyniker.

Tribonianus, berühmter röm. Rechtsgelehrter,geboren zu Side in Paphlagonien, war erst Sachwalter, wurde unterdem Kaiser Justinian Quaestor sacri palatii, Magister officiorum,Praefectus praetorio und Konsul. In Gemeinschaft mit denausgezeichneten Rechtsgelehrten jener Zeit besorgte er 530-34 dieJustinianische Kodifikation des römischen Rechts (s. Corpusjuris). Er starb 545.

Tribrachys (griech.), dreisilbiger, aus drei Kürzenbestehender Versfuß (^[...]), welcher in metrischen Systemennur als Auflösung des Jambus oder Trochäus vorkommt.

Tribsees, Stadt im preuß. RegierungsbezirkStralsund, Kreis Grimmen, an der Trebel, hat eine schönegotische evang. Kirche aus dem 15. Jahrh. mit kunstvollem Altar,ein neues gotisches Rathaus, eine Präparandenanstalt und(1885) 2950 Einw.

Tribulieren (lat.), plagen, quälen.

Tribunal (lat.), bei den Römern der erhöhteOrt, wo der Magistrat, namentlich der Prätor, auf der Sellacurulis sitzend, sein Amt verwaltete; jetzt s. v. w. Gerichtshof,besonders ein höherer, wie das ostpreußische T. inKönigsberg (bis 1879), das Obertribunal zu Berlin.

Tribüne (franz.), Rednerbühne, namentlichfür parlamentarische Redner; auch die für dieZuhörer bestimmte Galerie in Parlamentslokalen;Schaugerüst; in den altchristlichen Basiliken s. v. w. Apsis(s. Basilika, S. 425).

Tribunen (Tribuni) wurden im alten Rom ursprünglichdie Vorsteher der Stammtribus (s. Tribus) genannt; dann wurde dasWort auch überhaupt als Bezeichnung der Vorsteher vonAbteilungen grö-

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Tribur - Trichiasis.

ßerer Gemeinschaften gebraucht. So hießen dieAnführer von Abteilungen der Reiterei unter den KönigenTribuni celerum, so ferner die Anführer der Legionen Tribunimilitum oder Tribuni militares. Dieser letztern gab es in jederLegion sechs, die den Oberbefehl wechselnd zwei Monate führtenund außerdem die Aushebung, die Führung der Listen undandre ähnliche Geschäfte zu besorgen hatten. Dieselbenwurden anfangs von den Konsuln ernannt; 362 v. Chr. wurde aber dieWahl von 6, 311 die von 16 der 24 für dieregelmäßig zur Aushebung gelangenden 4 Legionenerforderlichen Militärtribunen und endlich 207 die Wahl vonsämtlichen 24 dem Volk eingeräumt, während, wennaußerordentlicherweise eine größere Zahl vonLegionen ausgehoben wurde, die Ernennung der übrigen T. denKonsuln verblieb. Ferner gab es Tribuni aerarii, welche fürbestimmte Abteilungen des Volkes den Tribut einzuziehen und an dieSoldaten den Sold zu zahlen hatten. Eine besondere Art von T. warendie Kriegstribunen mit konsularischer Gewalt (tribuni militumconsulari potestate), welche nach einem 445 gegebenen Gesetz bis366 öfters statt der Konsuln ernannt wurden, um auch denPlebejern, welche für dieses Amt wählbar waren, denZugang zu der höchsten obrigkeitlichen Gewalt zueröffnen. Die geschichtlich wichtigsten aber waren dieVolkstribunen (tribuni plebis), welche 493 eingesetzt wurden, umden Plebejern gegen den Mißbrauch der Amtsgewalt von seitender damals ausschließlich patrizischen Konsuln Schutz zugewähren, zu welchem Zweck sie unter besondern religiösenFeierlichkeiten für unverletzlich (sacrosancti) erklärtwurden. Anfangs beschränkte sich ihre Wirksamkeit auf dieEinsprache (intercessio) zu gunsten einzelner von Maßregelnder Magistrate bedrohter Plebejer, die ihnen übrigens auch nurin der Stadt und innerhalb einer römischen Meile im Umkreisderselben zustand. Sie dehnten dieselbe indessen, auf ihreUnverletzlichkeit gestützt, immer weiter aus. Sie richtetenihre hindernde Einsprache gegen Amtshandlungen jeder Art, sie ludenselbst Patrizier vor das Gericht der Tributkomitien, sie wohntenden Sitzungen des Senats bei und hinderten Beschlüssedesselben durch ihr Verbot (veto), und als die Tributkomitien 449das Recht erlangt hatten, das ganze Volk bindende Beschlüssezu fassen, benutzten sie dieselben, um in ihnen Gesetze imInteresse der Plebejer zu beantragen und durchzusetzen, wogegen denPatriziern nur das einzige Mittel zu Gebote stand, die Einspracheeines Tribuns gegen seine Kollegen zu gewinnen, da durch einesolche das Vorgehen der übrigen verhindert werden konnte.Später, als nach den Punischen Kriegen der Gegensatz zwischenPatriziern und Plebejern im wesentlichen aufgehoben war,änderte sich die Wirksamkeit der T. insofern, als sie nichtmehr das Interesse der Plebejer gegen die Patrizier, sondern dasdes niedern Volkes gegen die Nobilität zu vertreten hatten,obwohl es mit dem fortschreitenden Verfall der Republik immer mehrdahin kam, daß das Tribunat nur zu persönlichenehrgeizigen Zwecken gesucht und benutzt wurde. Indessen blieb esauch später noch Regel, daß dasselbe, wie von Anfang an,nur von Plebejern bekleidet werden durfte. Die Zahl der T. war beiihrer Einsetzung fünf oder nach einer andern Angabe zwei,wurde aber 457 auf zehn erhöht. Unter Sullas Diktatur (82-79)wurde das Tribunat auf seine anfängliche geringe Wirksamkeiteingeschränkt, durch Pompejus aber in seinem ersten Konsulat70 wieder in alle seine Rechte eingesetzt. Unter den Kaisern wurdeden T. ihre Bedeutung entzogen, indem jenen die tribunizischeGewalt verliehen wurde; sie wurden aber beibehalten, bis endlichKonstantin d. Gr. ihre Abschaffung verfügte. Im Mittelalterwurde noch einmal ein kurzer Versuch gemacht, das Tribunatwiederherzuhellen, indem vom römischen Volk 1347 die Republikerklärt und Cola di Rienzi zum Tribun erhoben wurde. - Das inFrankreich nach dem Staatsstreich vom 18. Brumaire durch dieVerfassung von 1799 eingeführte, von Sieyès ersonneneTribunat bestand aus 100 Mitgliedern und übte mit demGesetzgebenden Körper die gesetzgebende Gewalt, indem es dieGesetzentwürfe der Regierung beraten, der letztere aberdieselben ohne Diskussion verwerfen oder annehmen sollte. DurchSenatuskonsult vom 18. Mai 1804 ward es umgestaltet, indem dergrößere Teil seiner Mitglieder dem GesetzgebendenKörper einverleibt ward, die Generalversammlungenaufhörten und nur drei Tribunatsektionen für das Innere,die Gesetzgebung und die Finanzen übrigblieben. Auch dieseSchattengewalt ward endlich durch Senatuskonsult vom 19. Aug. 1807beseitigt, indem an die Stelle der Tribunatsektionen dreiKommissionen des Gesetzgebenden Körpers traten.

Tribur, Flecken, s. Trebur.

Tribus (lat.), 1) Name der drei Stämme desursprünglichen (patrizischen) röm. Volkes, der Ramnes,Tities und Luceres, von denen der erste aus dem Volk des Romulus,der zweite aus den mit diesem unter Titus Tatius vereinigtenSabinern und der dritte, wie gewöhnlich angenommen wird, ausEtruskern bestand. Sie hatten eine jede ihren Vorsteher, Tribunusgenannt, und zerfielen in je zehn Kurien, von denen wiederum einejede ihren besondern Vorsteher (curio) hatte. Jede dieserAbteilungen hatte ihre eignen Opfer und sonstigen heiligenGebräuche, deren Verwaltung den Tribunen und Kurionen oblag.Von diesen T. völlig verschieden sind

2) die örtlichen T. oder Bezirke, welche derÜberlieferung nach von Servius Tullius eingerichtet wurden unddas ganze Volk, Patrizier und Plebejer, umfaßten. Es sollenihrer anfänglich 30 gewesen sein, durch Gebietsverlust in demKrieg mit Porsena soll diese Zahl auf 20 herabgemindert wordensein; dann aber wurden mit der Erweiterung des Gebiets immer neueT. gebildet, bis 241 n. Chr. die Zahl 35 erreicht wurde, beiwelcher man stehen blieb; vier derselben hießenstädtische (t. urbanae), weil sie aus vier städtischenBezirken gebildet waren; die übrigen gehörten derLandschaft an und hießen daher ländliche (t. rusticae).Auf der Grundlage dieser T. entstand eine besondere Art vonKomitien (s. d.), die Comitia tributa, in denen innerhalb der T.nach der Kopfzahl gestimmt wurde, und die daher einendemokratischen Charakter hatten.

Tribut (lat.), ursprünglich die Steuer im alten Rom,welche die Bürger von ihrem Vermögen an den Staat zuzahlen hatten, dann die von den Provinzen erhobene Kopfsteuer(tributum capitis). Jetzt versteht man darunter Abgaben, welchebezwungene Völker an den Sieger zahlen müssen; auch wirdim figürlichen Sinn die Gewährung der schuldigenHochachtung oder Verehrung so genannt.

Tributär (franz.), tributpflichtig.

Tricarico, Stadt in der ital. Provinz Potenza, KreisMatera, Bischofsitz, mit alten Mauern und Türmen, Kathedrale,Seminar, Seidenzucht, Wein-, Tabaks- und Safranbau und (1881) 7482Einw.

Trichechus, Walroß.

Trichiasis und Distichiasis (griech.), verschiedene Gradevon Einwärtskehrung der Augenwimpern bei normaler Stellung derLidfläche. Die Wimpern selbst

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Trichine.

sind entweder normal oder verkümmert und verbogen. DieUrsache dieses lästigen und für das Augegefährlichen Leidens sind langwierige Entzündungen desAugenlidrandes. Die nach einwärts sich krümmendenHärchen reizen die Oberfläche des Auges, veranlassendadurch ein höchst quälendes Gefühlvon Kratzen,Stechen, Reiben im Auge, ferner Lichtscheu und weiterhin mehr oderweniger intensive Entzündungen der Bindehaut und Hornhaut. Inden mildern Graden genügt zur Beseitigung des Leidens dasperiodische Ausziehen der falsch stehenden Wimpern vermittelsteiner feinen Pinzette, in hartnäckigern Fällen mußauf plastisch operativem Wege geholfen werden.

Trichine (Trichina spiralis Ow., s. Tafel "Würmer"),Gattung der Trichotracheliden, einer Familie der Nematoden oderFadenwürmer, schmarotzt im Körper des Menschen undeinzelner Säugetiere. Ihr Vorkommen in den Muskelnhöherer Tiere ist schon lange bekannt, nicht aber ihreHerkunft und Gefährlichkeit. Beschrieben, aber nicht richtiggedeutet wurden die verkalkten Trichinenkapseln im Menschen zuerst1831 von Hilton. Den in der Kapsel enthaltenen Wurm entdeckte 1835Paget; Owen beschrieb ihn genau und gab ihm den Namen Trichinaspiralis. Weiterhin fanden Gurlt und Leidy auch bei der Katze unddem Schwein eingekapselte Trichinen; aber erst Zenker in Dresdenmachte 1860 die epochemachende Beobachtung, daß eineangeblich am Typhus gestorbene Person an der Trichinenkrankheit (s.d.) zu Grunde gegangen war. Die Sektion der Leiche ergab eineförmliche Überschwemmung der Muskeln mit Trichinen, auchim Darm wurden reife Trichinen gefunden. Die Nachforschung zeigteferner, daß die Erkrankung von dem Genuß von Schinken,Blut- und Cervelatwurst eines geschlachteten Schweinsherrühren mußte; denn diese Teile enthielten ebenfallsTrichinen, und auch andre Personen, welche davon gegessen hatten,waren zu gleicher Zeit alle mehr oder weniger schwer erkrankt.Fütterungsversuche mit trichinösem Fleisch, welche vonZenker selbst sowie von Virchow und Leuckart aus Anlaß diesesFalles bei Tieren angestellt wurden, führten zu dem Resultat,daß die im Fleisch eingekapselten Trichinen im Magen und Darmdes damit gefütterten Tiers durch die Verdauung aus ihrerKapsel befreit werden und sich daselbst schnell, ohne weitereUmwandlung, zu erwachsenen, geschlechtsreifen Tieren ausbilden,deren lebendig geborne Junge alsbald den Darm des Tiersdurchbohren, in das Fleisch desselben einwandern und, wenn dasbetreffende Tier nicht daran stirbt, hier eingekapselt werden. Wirdsolches Fleisch vom Menschen oder gewissen Säugetierenverzehrt, so geht der Entwickelungsgang abermals vor sich. Manunterscheidet hiernach Muskeltrichinen und Darmtrichinen (s. Tafel"Würmer"). Erstere stellen den unentwickelten Zustand dar,werden 0,7-1,0 mm lang, zeigen deutlich den Verdauungskanal und dennicht völlig ausgebildeten Geschlechtsapparat. DieDarmtrichine, das erwachsene, geschlechtsreife Tier, ist einfeiner, fadenförmiger, runder Wurm mit leicht geringelterchitinöser Körperhülle; das zugespitzte,dünnere Ende ist der Kopf, das dickere, kurz abgerundete derHinterleib. An ersterm beginnt der Verdauungskanal mit derMundöffnung, von der im Innern die feine, in ihrer ganzenLänge von einem eigentümlichen Zellkörperumfaßte Speiseröhre ausgeht. An diese schließtsich der flaschenförmig erweiterte und an seinem Ansang mitzwei kleinen, birnförmigen, blindsackartigen Anhängenversehene Magen und weiter der wieder engere und im hintern Teilmeist dunkler erscheinende Darm an. Bei dem bis 1,5 mm langenMännchen besitzt das Schwanzende zwei lappenartigeFortsätze, und die Geschlechtsöffnung ist mit dem Endedes Darms zu einer vorstülpbaren Kloake verbunden. DieLänge der Weibchen beträgt 3-4 mm. An innernGeschlechtsorganen besitzen dieselben einen einfachen Eierstock,einen Uterus und eine Scheide. Die äußereGeschlechtsöffnung befindet sich weit nach vorn, etwa an derGrenze des ersten und zweiten Viertels der ganzenKörperlänge. Die Eier sind rundlich, zartwandig undbesitzen eine wasserhelle Dotterschicht. Im Uterus entwickeln sichin ihnen die jungen Trichinen und werden etwa am siebenten Tag nachder Ankunft des trichinösen Fleisches im Magen lebendiggeboren. Eine erwachsene Trichinenmutter hat etwa 100 lebendigeJunge in ihrem Leib, hinter diesen erzeugt sie aber immer neue Eierund Junge. Sie liegt 5-8 Wochen, bis zu ihrem Tod, im Darm vorAnker und liefert immer neue Brut, so daß man auf eine Muttermindestens 500-1000 Junge rechnen kann. Die Jungen wandern sofortdurch die Darmwand, Bauchwand und das lockere Bindegewebe,vielleicht auch durch Vermittelung des Blutstroms in dieKörpermuskeln ein. Hier dringen sie in die Primitivfasern,zerstören den Inhalt derselben, buchten an ihrer Lagerstelle,indem sie sich spiralig zusammenrollen, die Hülle derMuskelfaser aus und reizen dieselbe, so daß sie sichverdickt, zum Teil zerstört wird und eine helle,zitronenförmige Kapsel um das Tierchen herum bildet. Zuweilensind übrigens 2-4 Trichinen in Einer Kapsel vereinigt.Darüber vergehen 2-4 Wochen, aber schon mit 14 Tagen hat dieMuskeltrichine ihre volle Größe als solche erreicht. DieKapsel wird mit der Zeit immer dicker und durch Ablagerung vonKalksalzen undurchsichtig, so daß sie mit bloßem Augeals weißes Pünktchen erkannt werden kann. In dieserKalkschale lebt die T. in einer Art Scheintod; sie stirbt abernicht ab, sondern noch nach Jahrzehnten zeigt sie sich, wenn dieKalkkapsel durch Säure gelöst wird, bewegungsfähigoder wird, wenn sie mit dem Fleisch in den Magen eines Tiers kommtund dort durch den sauren Magensaft frei wird, geschlechtsreif.Abgesehen vom Menschen und Schwein, hat man die Trichinen bis jetztbei Ratten, Mäusen, Katzen, Füchsen, beim Iltis, Marder,Hamster, Dachs, Igel und Waschbären gefunden. Es gelingtindessen auch sicher, sie dem Kaninchen und Meerschweinchen,unsicher, sie dem Schaf und Kalb anzufuttern. Von Haus aus lebensie übrigens wahrscheinlich in den Ratten und werden, da diesesich gegenseitig auffressen, vor dem Aussterben geschützt;zugleich gelangen sie bei Gelegenheit in das Schwein und so auch inden Menschen. Bei letzterm sind sie in allen Erdteilen gefundenworden, in Europa am häufigsten in Deutschland, Schottland,England, Dänemark und Schweden. In Deutschland finden sie sichbei 2-3 Proz. aller menschlichen Leichen. Seit dem erwähntenZenkerschen Fall ist eine große Reihe epidemischerTrichinenerkrankungen der Menschen festgestellt worden.Erwähnenswert ist besonders die große Epidemie inHedersleben bei Quedlinburg 1865, wo in einem Dorfe von 2000 Einw.337 erkrankten und 101 starben. Aktenmäßige Thatsachenund Beobachtungen von dick verkapselten Trichinen in den 60erJahren und früher weisen darauf hin, daß die Krankheitauch schon früher existierte. Man hat sie nur einemvermeintlichen Wurstgift oder Schinkengift zugeschrieben, und dieHäufigkeit der Erkrankungen in der Neuzeit erklärt sichzur Genüge aus der jetzigen Schnellräucherung u. aus derNeigung, das Fleisch roh oder oberflächlich

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Trichinenkrankheit - Trichinenversicherung.

gebraten, saftig und blutigrot zu genießen. Vgl. Leuckart,Untersuchungen über Trichina spiralis (2. Aufl., Leipz. 1866);Pagenstecher, Die Trichinen (das. 1865); Gerlach, Die Trichinen(Hannov. 1866); Virchow, Lehre von den Trichinen (3. Aufl., Berl.1866); Claus, Über die T. (Wien 1877).

Trichinenkrankheit (Trichinose) tritt in der Zeit vom1.-30. Tag ein. Die ersten Symptome hängen ab von derGegenwart und Fortentwickelung der Trichinen im Magen und Darm, diezweite Gruppe von dem Eindringen unzähliger Embryos in dieMuskeln, die letzte von der Beendigung der Wanderung und derallmählichen Beruhigung der Muskelreizung während derbeginnenden Einkapselung der Trichinen. Abgesehen von demanfänglich schleichenden Verlauf oder den zuweilenbeobachteten stürmischen choleraähnlichenMagendarmerscheinungen, klagen die Patienten in der Regel einigeStunden oder Tage nach dem Genuß trichinösen Fleischesüber heftiges Magendrücken, über Aufstoßen undÜbelkeit, verbunden mit dem Gefühl großerMattigkeit und Abgeschlagenheit. Meist tritt einigemal Erbrechenschleimiger und galliger Massen ein. Vom siebenten Tag ab, demBeginn der Einwanderung der Embryos in die Muskeln, stellen sich,gleichviel ob deutliche gastrische Symptome vorangegangen warenoder nicht, vage Schmerzen, Gefühl von Steifsein undwassersüchtige Anschwellung des Gesichts, besonders derAugenlider, ein. Die Bewegungen werden nun bald sehr erschwert, dadie Muskeln starr, unnachgiebig werden, beträchtlichanschwellen, kautschukähnliche Resistenz bekommen undäußerst schmerzhaft sind. Dabei besteht typhösesFieber, welches früher gewöhnlich und auch jetzt nochzuweilen einen Unterleibstyphus vortäuscht. Der Tod kann anZwerchfelllähmung oder an allgemeiner Erschöpfungeintreten, er ist von der 2.-7. Woche zu befürchten. LeichteTrichinosefälle gelangen in einigen Tagen bis Wochen zurGenesung; in schwereren Fällen zieht sich die Krankheit 6-7Wochen hin, ja manchmal vergehen mehrere Monate bis zur vollenGesundung. Die Gefährlichkeit der Krankheit hängt ab vonder Quantität der genossenen Trichinen, in einzelnen Epidemienstieg die Sterblichkeit bis auf 30 Proz. der Erkrankten. WirksameHeilmittel der Trichinose sind bis jetzt nicht gefunden; Mittel,welche auf die auf der Wanderung befindlichen und in die Muskelneingedrungenen Trichinen wirken, fehlen ganz, und selbst fürfrische Fälle, wo es darauf ankommt, die noch im Darmvorhandenen Trichinen zu töten und aus dem Körper zuschaffen, sind noch keine sichern Abführmittel entdecktworden. Die mit Trichinen behafteten Schweine erkranken nicht,ebensowenig die andern für diese Würmerempfänglichen Tiere, mit Ausnahme der Kaninchen, die auch wohldaran sterben. Nach dem Vorhergehenden läßt sich dieGefahr für den Menschen nur durch eine richtige Prophylaxtsabwenden. Die Schweine müssen möglichst vor der Infektiondurch Trichinen bewahrt werden. Überall, wo trichinöseRatten gefunden sind, hat man auch trichinöse Schweine oderandre Fleischfresser entdeckt. Das Schwein erhält seineTrichinen durch Verschlucken von mit dem Kot andrer Schweineabgegangenen Darmtrichinen u. Embryos, außerdem durch dasFressen trichinösen Fleisches anderer Schweine, wie derFleischabfälle vom Schweineschlachten. Gerade dieAbdeckereien, wo Abfälle von Schweinekadavern verfüttertwerden, gelten als die raffiniertestenTrichinenschweine-Züchtungsanstalten. Ein zweites Schutzmittelliegt in der obligatorischen mikroskopischen Untersuchung allerfrisch geschlachteten Schweine sowie der jetzt zahlreicheingeführten amerikanischen Speckseiten. Da die Trichinen angewissen Körperstellen und zwar im Zwerchfell, denZwischenrippen-, Hals-, Kehlkopf-, Kiefer- und Augenmuskeln undbesonders an den Übergängen der Muskeln in die Sehnensehr reichlich sich vorfinden, so wählt man solche Stellen zurUntersuchung. Man schneidet aus jedem dieser sechs Muskeln ein 2-3mm langes Stückchen aus und fertigt von jedem Stückchenetwa fünf Präparate an. Hat man bei genaueer Untersuchungin diesen 30 Präparaten keine Trichinen gefunden, so darf manauch die Ungefährlichkeit des Schweins annehmen. DieErfahrungen in Rostock, Berlin, Braunschweig etc. haben den Wertdieser obligatorischen Trichinenschau bestätigt. In der StadtBraunschweig z. B. hat man in sieben Jahren unter 93,099 Schweinen18 trichinöse entdeckt. Wer wissentlich trichinenhaltigesFleisch feilhält oder verkauft, verfällt nach demdeutschen Reichsstrafgesetzbuch (§ 367) in eine Geldstrafe biszu 150 Mk. oder in Haftstrafe bis zu 6 Wochen, während es inder Regel als fahrlässige Tötung oderKörperverletzung zu bestrafen sein wird, wenn dadurch der Tododer die Krankheit einer Person herbeigeführt wurde. Dasletzte und sicherste Schutzmittel vor Trichinen besteht darin,daß man Speisen aus Schweinefleisch nur gehörigdurchkocht oder durchbraten genießt. Kurze Einwirkung einerWärme von etwa 45° R, wie es bei dem sogen. Wellfleischgeschieht, tötet die Trichinen nicht, ebensowenig längereEinwirkung einer höhern Wärme von 60° R. unddarüber auf dickere Stücke, so daß diese im Innernsaftig rot bleiben. Letzternfalls werden nur die in denAußenteilen befindlichen Trichinen getötet, währenddie im Innern vorhandenen lebendig bleiben und beim Genußeine Infektion vermitteln. Nur längeres Kochen und Bratennicht zu dicker Stücke bei mindestens 50-55° R. richtetdie Trichinen sicher zu Grunde. Ebenso sterben sie zweifellos nacheiner zehntägigen Einpökelung des Fleisches in nicht zugroßen Stücken ohne Hinzufügung von Wasser, 30 gKochsalz auf 1 kg Fleisch gerechnet, sowie nach energischerHeißräucherung, bei der eine Temperatur von 52° R.erreicht wird. Dagegen ist ein schwächeres Pökeln,welches den Trichinen weniger Wasser entzieht, sowie dieKalträucherung oder gar die Schnellräucherung, bei derdie Schinken und Würste nur mit Holzessig oder Kreosotüberstrichen werden, völlig wirkungslos. Indessenunterstützen sich Salz, Wärme und Rauch gegenseitig inihrem Effekt, so daß die stärkere Wirkung des einen dieschwächere des andern ersetzen kann. Vgl. Wolff, Untersuchungdes Fleisches auf Trichinen (6. Aufl., Bresl. 1880) und dieSchriften gleichen Inhalts von Tiemann (3. Aufl., das. 1887), Johne(3. Aufl., Berl. 1889) und Long (das. 1886).

Trichinenversicherung wird von einzelnen Personen undFirmen, von Interessentenverbänden, von besondernGesellschaften (die Anhaltische Trichinenversicherungs-Anstalt inKöthen, die Hannoversche, die Einbecker etc.) oder alsNebengeschäft der Viehversicherungsgesellschaften betriebenund unterscheudet sich von der Viehversicherung (s. d.) dadurch,daß diese gegen Vermögensverluste durch den vomVersicherten nicht gewünschten Tod seines Viehs infolge vonSeuchen und Verunglückung, jene aber gegen den aus derunvorhergesehenen Entdeckung der Wertschmälerunggeschlachteter Tiere (Schweine) infolge der Fleischdurchsetzung mitTrichinen drohenden Schaden schützen soll. Mit der T. pflegtdie ihr analoge Finnenversicherung verbunden zu sein.

Meyers Konv.- Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd.

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Trichinopolly - Tridentinisches Konzil.

Trichinopolly, Stadt, s. Tritschinapalli.

Trichite, mikroskopisch kleine, haarförmige,gewöhnlich dunkel gefärbte Mineralkörper, die sichhäufig in glasiger Gesteinsmasse bei Obsidian, Bimsstein,Perlit, Rhyolith, Porphyr, Basalt etc. vorfinden. Ihremineralogische Bestimmung ist wegen ihrer Kleinheit schwierig undmeist nur durch Analogie mit gleichzeitig vorkommendengrößern Mineralindividuen mit einiger Wahrscheinlichkeitmöglich.

Trichloraldehyd, s. Chloral.

Trichlormethan, s. Chloroform.

Trichoblásten (griech.), haarartig geformtePflanzenzellen, die sich wesentlich durch Form oder Inhalt vonihren Nachbarzellen unterscheiden, wie die Sternhaare in denLuftgängen von Nymphaea.

Trichocephalus, Peitschenwurm.

Trichodéctes, s. Pelzfresser.

Trichoglossus, s. Papageien, S. 667.

Trichogyne (griech., Befruchtungshaar), bei den Florideenund Koleochäteen das haarförmig gestalteteEmpfängnisorgan, an welchem die männlichenBefruchtungselemente haften müssen, um Befruchtung desKarpogons zu bewirken. Bisweilen steht die T. auf einer besondernZellreihe, dem Trichophor. Auch kann sie auf besondern Ästender Pflanze, z. B. bei der Florideengattung Dudresnaya, auftreten(s. Algen, S. 345 f.).

Trichologie (griech), Lehre vom Haar.

Trichoma (griech.), s. Weichselzopf.

Trichome (griech.), s. Haare der Pflanzen.

Trichomstachel, s. v. w. Hautstachel, s. Stachel.

Trichomykose (griech.), durch Pilze verursachtesHaarleiden.

Trichophor, s. Trichogyne.

Trichophthora (griech.), Haarvertilgungsmittel.

Trichoptera (Pelzflügler), Zunft aus der Ordnung derNetzflügler (s. d.).

Trichord (griech.), dreisaitiges Tonwerkzeug.

Trichotomie (griech.), logische Zerlegung in drei Teile,Dreiteilung; auch s. v. w. peinlich genaue Behandlung unbedeutenderDinge, Haarspalterei.

Trichotracheliden (Trichotrachelidae), Familie derNematoden oder Fadenwürmer, Eingeweidewürmer mithalsartig verdünntem Vorderteil und kleiner Mundöffnungohne Papillen. Zu ihnen gehören zwei im Menschen schmarotzendeGattungen, von denen die eine (Trichocephalus oder Peitschenwurm,s. d.) im allgemeinen unschädlich ist, die andre aber(Trichina, s. Trichine) häufig durch ihre Menge tödlichwirkt. Die übrigen T. leben in den Eingeweidenwarmblütiger Wirbeltiere.

Trichroismus (griech.), Dreifarbigkeit, s.Pleochroismus.

Trichterlilie, s. Funkia.

Trichterwinde, s. Ipomoea.

Tricinium (lat.), Komposition für drei Singstimmen(a cappella).

Trick (engl.), im Whistspiel Bezeichnung für jedenStich, den man über sechs macht.

Tricktrack, ein auf dem Puffbrett mit den Puffsteinen undWürfeln auszuführendes Spiel; oft auch gleichbedeutendmit Puff (s. d.).

Tricoccae, Ordnung im natürlichen Pflanzensystemunter den Dikotyledonen, Choripetalen, charakterisiert durch stetseingeschlechtige Blüten, die oft nackt und danngewöhnlich männliche mit einer weiblichen in einerHülle vereinigt sind oder ein einfaches Perigon oder auchKelch- und Blumenblätter besitzen, hauptsächlich durchden zwei oder drei knöpsigen, ebenso viele Fächerbildenden, oberständigen Fruchtknoten mit einem oder zwei imInnenwinkel der Fächer befindlichen Samen und durch dieebenfalls zwei- oder dreiknöpfige Frucht, deren Fächerbei der Reife meist von der Mittelsäule sich ablösen undeinen meist mit einem Nabelanhang versehenen Samen mit gerademKeimling und ölhaltigem Endosperm enthalten. In diese Ordnunggehören die Familien der Euphorbiaceen, Empetreen undKallitrichaceen.

Tricycle (spr. -ßihkl), Dreirad, s. Velociped.

Tridácna, Riesenmuschel.

Tridens (lat., Trident), Dreizack, besonders Attribut desNeptun.

Tridentinische Alpen (Trientiner Alpen), s. Alpen, S.400, und Ortleralpen.

Tridentinisches Konzil (Concilium Tridentinum), die zurBeseitigung der durch die Reformation entstandenen kirchlichenWirren nach Trient berufene allgemeine Kirchenversammlung. Dieerste Veranlassung zu derselben war die Appellation derprotestantischen Fürsten an eine allgemeine Synode; ihr tratendann auch die katholischen Fürsten bei, und Kaiser Karl V.hatte schon Clemens VII. zum Ausschreiben einer solchen zuvermögen versucht, jedoch vergeblich. Paul III. rief dasKonzil endlich auf den 23. Mai 1537 nach Mantua zusammen, aber nur,um es, weil sich immer neue Hindernisse einstellten, aufunbestimmte Zeit zu verschieben. Im Regensburger Reichsabschied vom29. Juli 1541 versprach der Kaiser von neuem, für dasZustandekommen eines Generalkonzils zu sorgen, und der Papst beriefnun aus Besorgnis, die Deutschen möchten sonst ihrekirchlichen Angelegenheiten selbständig regeln, dasselbe auf1. Nov. 1542 nach Trient; aber der Wiederausbruch derFeindseligkeiten zwischen dem Kaiser und dem König vonFrankreich verzögerte seinen Zusammentritt, und das Konzilward erst 13. Dez. 1545 in der Kathedrale zu Trient eröffnet.Die Sessionen desselben sind freilich nur leere Formalitätenzur Verkündigung der Beschlüsse gewesen, die in denAusschüssen vorbereitet und debattiert wurden. Die Abstimmunggeschah nicht nach Nationen, wie in Konstanz, sondern nachKöpfen. Da die Italiener zahlreicher als alle andern Nationenzusammen vertreten waren und der präsidierende Kardinallegatdel Monte fortwährend mit dem Papst korrespondierte, so konntedas Konzil kein freies sein. Nachdem in der 1. Session dasZeremonial bestimmt, in der 2. der Modus vivendi für dieKonzilsväter festgestellt, in der 3. das Bekenntnis zu denalten Glaubenssymbolen abgelegt war, wurden in der 4.-8. dieprotestantischen Lehren vom Ansehen der Schrift und Tradition, vonder Erbsünde und Rechtfertigung sowie von den Sakramentenverdammt und der katholische Lehrbegriff darüber festgestellt.Als aber in demselben Maß, wie das Waffenglück denKaiser begünstigte, auch die kaiserlichen Gesandten immerselbständiger auftraten, verlegte der Papst, angeblich wegeneiner in Trient ausgebrochenen Seuche, das Konzil 11. März1547 nach Bologna. Eine Minderheit kaiserlicher Bischöfe bliebin Trient zurück, während der Kaiser feierlich gegen dieVerlegung protestierte. Jedoch auch zu Bologna erließen dieLegaten in der 9. und 10. Sitzung 1547 bloß Dekrete, wodurchdie Versammlung vertagt wurde; die förmliche Aussetzung desKonzils wurde 13. Sept. 1549 von Paul III. ausgesprochen. Nachdessen Tod schrieb der neue Papst und bisherige KardinallegatJulius III. auf Betrieb des Kaisers die Fortsetzung des Konzils inTrient aus, und sein Legat, der Kardinal Marcellus Crescentius,eröffnete dasselbe 1. Mai 1551; Frankreich aber legteProtest

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Tridi - Trieb.

ein, weil die Physiognomie des Konzils auf diese Weise vonvornherein eine vorwiegend kaiserliche war. Es wurde nun in der 13.Sitzung die Lehre von der Transsubstantiation, in der 14. und 15.auch die von der Buße und Letzten Ölung festgesetzt.Aber zu der vom Kaiser gewünschten Verständigung mit denProtestanten kam es nicht. Zwar erschienen brandenburgische undwürttembergische weltliche Prokuratoren sowie Abgeordnete auseinigen oberländischen Städten, endlich 7. Jan. 1552 auchdie weltlichen Gesandten des Kurfürsten von Sachsen. Die 25.Jan. 1552 abgehaltene Sitzung beschloß, die Bestimmungenüber das Meßopfer und andre Punkte bis zum 19.März, d. h. bis zum Erscheinen derer zu vertagen, quiprotestantes se vocant. Am 18. März trafen wirklich diewürttembergischen und Straßburger theologischenAbgeordneten ein, die kursächsischen befanden sich auf demWeg, da wurde vom päpstlichen Legaten die Sitzung auf 1. Maiverlegt. Der unerwartete Feldzug des Kurfürsten Moritz gegenden Kaiser und sein Erscheinen vor Innsbruck hatte aber dieVertagung des Konzils auf zwei Jahre, die in der 16. Sitzung (28.April 1552) beschlossen ward, zur Folge. Aus den zwei Jahren wurdenzehn Jahre. Zwar erließ Papst Pius IV. 1560 und 1561 neueEinladungen zur Fortsetzung des Konzils, aber erst 18. Jan. 1562wurde dasselbe unter dem Vorsitz des Kardinallegaten PrinzenHerkules Gonzaga von Mantua mit der 17. Sitzung wiedereröffnet. Entschiedener erneuerten der Kaiser, derKurfürst von Bayern und der König von Frankreich ihreAnträge auf Reformation der Kirche, auf Verstattung desLaienkelchs im Abendmahl, der Priesterehe und der verbotenenSpeisen. In der Behauptung, daß die Residenz derBischöfe in ihren Diözesen nicht auf päpstlichem,sondern auf göttlichem Recht beruhe, konzentrierte sich dieOpposition der spanischen Bischöfe gegen die italienischen.Die 18. Sitzung handelte von der Bücherzensur; die 19. und 20.beschlossen nur, daß in diesen beiden Sitzungen nichtsbestimmt werden solle; in der 21. und 22. Sitzung kamen die Dekretevon der Abendmahlsfeier und dem Meßopfer zu stande, derLaienkelch wurde von der Erlaubnis des Papstes abhängiggemacht. Am 13. Nov. erschien bei dem Konzil noch der Kardinal vonLothringen mit 14 Bischöfen, 3 Äbten und 18 Theologen ausFrankreich. Da derselbe die Oppositonspartei im Sinn desEpiskopalsystems verstärkte und 34 französischeReformationsartikel mitbrachte, so wußte die päpstlichePartei die nächste Sitzung von einem Monat zum andernhinauszuschieben. Darüber starb 2. März 1563 derKardinallegat Gonzaga. An seiner Stelle präsidierten dieLegaten Morone und Navageri, welche die Kirchenversammlung durchtheologische Zänkereien zu ermüden wußten,während der Kaiser Ferdinand und der Kardinal von Lothringenvon den schlauen Italienern für die Sache des Papstes gewonnenwurden. Die Jesuiten Laynez und Salmeron leisteten wackereBeihilfe. So entstanden in der 23. Sitzung (15. Juli 1563) dieDekrete von der Priesterweihe und Hierarchie, in der 24. (11. Nov.)von dem Sakrament der Ehe, in der 25. (3. und 4. Dez.) von demFegfeuer, dem Heiligen-, Reliquien- und Bilderdienst, denKlostergelübden, dem Ablaß, Fasten, den Speiseverbotenund dem Verzeichnis der verbotenen Bücher, dessenFertigstellung nebst der Abfassung eines Katechismus und Breviersdem Papst überlassen wurde. In den Reformationsdekreten, diein der 21.-25. Session publiziert wurden, sorgte man fürAbstellung einiger der bisherigen Mißbräuche beiErteilung und Verwaltung geistlicher Ämter sowie für dieBildung der Geistlichkeit durch die Vorschrift der Anlegung vonSeminaren und Prüfung der Ordinanden. Am Schluß der 25.Sitzung, 4. Dez. 1563, rief der Kardinal von Lothringen: "Verfluchtseien alle Ketzer!", und die Prälaten stimmten ein:"Verflucht, verflucht!" Die Beschlüsse wurden von 255Prälaten unterschrieben und trennten für immer dieprotestantische von der katholischen Kirche, für welche siedie Bedeutung eines symbolischen Buches erhielten. Papst Pius IV.bestätigte dieselben 26. Jan. 1566 durch die Bulle "Benedictusdeus" und behielt dem Papst allein ihre Auslegung vor, für die1588 von Sixtus V. eine besondere Kongregation von Kardinälenniedergesetzt wurde. Die Dekrete der Synode von Trient fanden inden italienischen Staaten (aber nicht in Neapel), in Portugal undPolen unbedingte, dagegen in Spanien und den von Spanienabhängigen Ländern eine durch die Reichsgesetze bedingteAnnahme.^[sic] in Frankreich, Deutschland und Ungarn sogarWiderspruch, der sich nur nach und nach zu stillschweigenderBilligung der den Glauben betreffenden Dekrete bequemte.

Die "Canones et decreta oecumenici concilii Tridentini" wurdenoft herausgegeben, am besten von Schulte und Richter (Leipz. 1853),zuletzt in deutscher Übersetzung von Petz (Passau 1877). Amgebräuchlichsten in der katholischen Kirche Deutschlands istdie Ausgabe von Smets (lateinisch und deutsch, 6. Aufl., Bielef.1868). Die Geschichte des Tridentinischen Konzils schrieben Sarpi(s. d.) und gegen ihn Pallavicini (Rom 1656-57, 2 Bde.). Aber erstneuerdings ist das Material zur Geschichtschreibung dieser Synodein ausgiebigerm Maß bekannt geworden. DieGeschäftsordnung des Konzils ist 1871 in Wien erschienen.Weitere Beiträge veröffentlichten Sickel("Aktenstücke zur Geschichte des Konzils zu Trient", Wien1871), Theiner ("Acta genuina oecumenici concilii Tridentini",Agram 1874, 2 Bde.; die Protokolle des KonzilsekretärsMassarelli enthaltend), Calenzio ("Documenti inediti e nuovi lavoriletterarii sul concilio di Trento", Rom 1874), Maynier("Étude historique sur le concile de Trente", Par. 1874),Döllinger ("Ungedruckte Berichte und Tagebücher",Nördling. 1876, Bd. 1), Druffel ("Monumenta Tridentina",Münch. 1883-88, Heft 1-3).

Tridi (lat.-franz.), im franz. Revolutionskalender derdritte Tag einer Dekade (s. d.).

Triduum (lat.), Zeit von drei Tagen.

Tridymit, Mineral aus der Ordnung der Anhydride, bildettriklinische, dem hexagonalen System sehr nahe stehende Kristalle(meist Drillinge, daher der Name) und besteht wie Quarz ausKieselsäureanhydrid SiO2, ist farblos oder weiß,glasglänzend, Härte 7, spez. Gew. 2,28-2,33, wurde 1866durch vom Rath entdeckt, seitdem aber in Trachyten, Andesiten,Rhyolithen als ein reichlich vorhandener Gemengteil nachgewiesen,während er in ältern vortertiären Felsarten nuräußerst spärlich vorkommt. Außerdem ist T.vielen Opalen beigemengt, die auch durch Glühen, ebenso wieQuarzpulver und amorphe Kieselsäure, sich zu T. umsetzen;Fundorte: Drachenfels, Mont Dore, Alleret, Frauenberg beiBrückenau, Ungarn, Siebenbürgen, Irland, Mexiko etc.

Trieb, junger, noch nicht ein Jahr alter Ast.

Trieb, das sinnliche bleibende Begehren, bei welchem derGrund der Dauer in der Beschaffenheit des leiblichen Organismusgelegen ist. Die unaufhörliche Zersetzung und Ausscheidung derkleinsten Bestandteile des Leibes erzeugt ebenso viele unange-

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Trieb - Trient.

nehme Gefühle des Mangels, die als Begehrungsreize wirkenund mit dem periodischen Wechsel des organischen Lebens in stetsgleicher Weise wiederkehren. Derselbe währt daher so lange,als das letztere selbst währt, und ist darum sounwiderstehlich, weil die Hinwegräumung seiner Ursacheaußer unsrer Macht liegt. Das Begehren nach Schlaf(Schlafbedürfnis), wenn die Organe erschöpft sind, nachNahrung (Nahrungstrieb), wenn es an Stoffersatz, nach Bewegung(Bewegungstrieb), wenn es infolge dauernder Bewegungslosigkeit demLeib an Umsatz fehlt, kehrt trotz der Befriedigung in bestimmterZeit wieder, weil der Prozeß des physischen Lebens die Reize,welche zu Begehrungen werden, immer von neuem erzeugt. Nichtserfordert zu seiner Besiegung größere Kraft alsdasjenige Begehren, welches durch Triebe unterstützt wird, undmancher derselben läßt sich nur durch Zerstörungder Ursachen im Organismus (Fortpflanzungstrieb) oder des letzternselbst (Selbsterhaltungstrieb) unterdrücken. Der T. gibt demBegehrungsleben eine bestimmte Gestalt, indem alles dasjenige, wasdurch ihn unterstützt wird, infolge der unaufhörlichenReize leichter und öfter als andres Begehren zur Befriedigunggelangt und daher von selbst zur Disposition, Neigung, Hang, Suchtund Leidenschaft sich steigert, wenn nicht künstliche Hilfen(praktische Grundsätze, Charakter) den natürlichen desLeibes zum Widerstand entgegengesetzt werden. Gesellt sich zu demseiner Natur nach blinden (bewußtlosen) T. die gleichfallsbewußtlose Kenntnis der zur Befriedigung desselben tauglichenMittel, so geht der T. in Instinkt über.

Trieb, Nebenfluß der Elster, s. VogtländischeSchweiz.

Triebel, Stadt im preuß. RegierungsbezirkFrankfurt, Kreis Sorau, hat eine evang. Kirche, ein Amtsgericht,Schuhmacherei, Weberei und (1885) 1657 Einw.

Triebrad, bei Fahrzeugen s. v. w. Treibrad; sonst imGegensatz zum Treibrad das in Bewegung gesetzte Rad; in der Uhr einkleineres Zahnrad, welches ein größeres treibt.

Triebstahl, s. Draht, S. 105.

Triebwerke, Maschinenteile, welche die Kräfte inpassender Weise nach bestimmten Richtungen übertragen, wirkendirekt wie Räder- und Kurbelgetriebe oder indirekt wieRiemen-, Schnur- und Seilgetriebe.

Triefaugen, eine chronische Entzündung derAugenbindehaut, deren Hauptsymptom in Rötung derLidränder und fortwährender Thränenabsonderungbesteht. Am häufigsten kommen T. bei skrofulösenIndividuen, nicht selten bei alten Frauen, vor, bei denen diese dasAussehen stark entstellende Entzündung im Mittelalter manchealte Matrone als Hexe auf den Scheiterhaufen gebracht hat. Diestärksten Grade der Entzündung führen zuVerkrümmungen der Augenlider nach auswärts odereinwärts (Ektropium, Entropium) und sind nur durch plastischeOperation zu beseitigen. Betreffs der Behandlung s.Augenentzündung.

Triel, Vogel, s. Dickfuß.

Triënnium (lat.), Zeit von drei Jahren. AkademischesT. (t. academicum), die fast allgemein übliche Zeit von dreiJahren, welche in Deutschland zum Besuch der Universitätverwendet und als Minimum für die meisten Staatsprüfungender Beamten sogar gesetzlich gefordert wird.

Trient (spr. triang), linksseitiger Nebenfluß desRhône in der Schweiz, entspringt aus dem Glacier du T. undgelangt, durch die Eau Noire verstärkt, aus seinem Alpenthaldurch eine tiefe, schauerliche Schlucht (Gorge du T.) von 2 kmLänge bei Vernayaz in das Rhônethal hinaus.

Triént (ital. Trento, lat. Tridentum), Stadt (mitselbständiger Gemeindeverwaltung) in Welschtirol, 190 mü. M., links an der schiffbaren Etsch, in welche hier dieFersina mündet, und an der Südbahnlinie Kufstein-Ala,Sitz eines Fürstbischofs, eines Domkapitels, einerBezirkshauptmannschaft und eines Kreisgerichts, hat zweiVorstädte (San Martino und Santa Croce), spärliche Resteder alten hohen Stadtmauern (der Sage nach aus der Gotenzeit) mitzwei angeblich von den Römern erbauten Türmen, gutgepflasterte Straßen und ganz im italienischen Stil erbauteHäuser. In den letzten Jahren ist T. durch Anlage vonAußenforts zu einer Lagerfestung geworden. Die ansehnlichstenPlätze sind die Piazza del Duomo mit dem Neptunsbrunnen unddie Piazza d'Armi. Unter den 15 Kirchen ragen hervor: der Dom, einedreischiffige romanische Pfeilerbasilika mit zwei Kuppeln (im 13.Jahrh. begonnen, im 15. vollendet); die Kirche Santa MariaMaggiore, aus rotem Marmor erbaut, mit den Bildnissen derKirchenfürsten, welche dem in dieser Kirche abgehaltenenKonzil (s. unten) beiwohnten; die Peterskirche mit einer Kapelledes heil. Simon von T., der als dritthalbjähriger Knabe 1472angeblich von den Juden ermordet wurde; die Jesuiten-, jetztSeminarialkirche; die Kirche dell' Annunziata mit hoher, von vierSäulen getragener Kuppel und die Martinskirche. Andreansehnliche Gebäude sind: das Renaissanceschloß BuonConsiglio (einst Residenz der Fürstbischöfe, jetztKastell) mit vielen Fresken, das Rathaus, der Justizpalast, dasTheater, mehrere Privatpaläste und das große Waisenhaus.Die Stadt hat ein Franziskaner- und Kapuzinerkloster, 3Nonnenklöster, ein Klerikalseminar mit theologischerDiözesanlehranstalt, ein Obergymnasium, ein bischöflichesPrivatgymnasium, eine Lehrerinnenbildungsanstalt, eine Fachschulefür Steinbearbeitung, eine Handelsschule, ein Musiklyceum, einbischöfliches Taubstummeninstitut, ein städtischesMuseum, eine Volksbibliothek, verschiedeneWohlthätigkeitsanstalten, eine Volksbank, Pfandleihanstalt,Sparkasse und (1880) 19,585 Einw. Die Industrie wird durchzahlreiche Seidenfilanden, eine Seidenspinnerei,Glockengießerei, Töpferwaren- undKonfitürenfabrikation etc. vertreten. Der Handel ist lebhaft.In der Umgebung große Brüche roten Marmors, Obst- undWeinbau. Auf dem rechten Etschufer liegt der befestigteFelshügel Dos di Trento (289 m), auf dem einst dasRömerkastell Verruca stand. - Im Altertum war T. römischeKolonie. Im 4. Jahrh. wurde es Bischofsitz und um 574 Residenzeines langobardischen Herzogs. Bekannt ist es durch Secundus von T.(gest. 604), der eine Geschichte der Langobarden geschrieben hat,die leider verloren ist. Unter Karl d. Gr. kam es an dasfränkische Reich und unter Otto I. mit Italien an Deutschland.König Konrad II. belehnte 1027 den Bischof von T. mit derfürstlichen Würde und weltlichen Herrschaft über dieStadt. Das Konzil von 1545 bis 1563 (s. Tridentinisches Konzil) gabletzterer eine welthistorische Bedeutung. 1803 wurde das Hochstiftsäkularisiert und den österreichischen Landeneinverleibt. 1805 fiel es an Bayern und, nach den Kämpfen von1809 im Angesicht der Stadt, an das Königreich Italien. 1813kam es wieder an Österreich. Vgl. Barbacovi, Memorie storichedella città e del territorio di Trento (Trient 1808);Ambrosi, Trento e suoi circondario (das. 1881); Öribauer,Führer für T.-Arco etc. (Reichenberg 1884).

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Trier (Bistum) - Trier (Stadt).

Trier, vormaliges deutsches Erzstift und geistlichesKurfürstentum im kurrheinischen Kreis, umfaßte ein Arealvon 8314 qkm (151 QM.) mit 280,000 meist kath. Einwohnern undteilte sich in das obere und niedere Stift, deren erstes Trier, dasandre Koblenz zur Haupt- und Residenzstadt hatte. Suffragane von T.waren die Bischöfe von Metz, Toul und Verdun und seit 1777 dieneukreierten von St.-Dié und Nancy. Der Erzbischof undgeistliche Kurfürst nahm unter den Kurfürsten die zweiteRangstufe ein. Die jährlichen Einkünfte beliefen sich auf½ Mill. Thaler. Das Wappen war ein gevierter Schild miteinem roten Kreuz im silbernen Feld und einem weißen Lammemit einem Fähnlein auf einem Hügel im roten Feld. InTrier soll nach der Legende im 1. Jahrh. durch Eucharius, Valeriusund Maternus ein Bistum gestiftet worden sein; indessen ist erst um314 ein Bischof Agritius historisch nachzuweisen. Bei Maximin(332-349) fand Athanasius Zuflucht. Erst unter Hetti (814-847)erscheint T. als Erzbistum, dem schon die Metropolitangewaltüber das Bistum Toul zustand. Radbod (883-915) erlangtefür sein Stift die Rechte einer eignen Grafschaft,Abgabenfreiheit, Münze und Zoll. Robert (930-956) nahm alsInhaber des ältesten Kirchensitzes das Recht in Anspruch, OttoI. zu krönen, was dieser damals auch zugab. Doch erkannte T.1315 den Vorrang Kölns an. Heinrich I. (956-964) erhielt vomPapst Johann XII. das Pallium, Theoderich I. 969 von Johann XIII.den Primat in Gallien und Germanien. Das unter Diether III. vonNassau (1300-1307) arg verschuldete Erzstift nahm einen bedeutendenAufschwung unter Balduin von Luxemburg (1307-54), dem BruderKönig Heinrichs VII. Derselbe erwarb 1314 die Würde einesErzkanzlers für Gallien und Arelat (d. h. Burgund), erweitertedie Besitzungen seiner Kirche durch Annahme zahlreicher Lehnsleuteund begründete die Territorialhoheit. In der Folgezeit wardaber die Lage des Erzstifts wegen zwiespältiger Wahlen undzahlreicher Kriege so mißlich, daß die Stände,bestrebt, eine weitere Verschuldung des Landes zu verhüten,sich 1456 zu einer Union vereinigten, welche für künftigeZeiten eine genaue Wahlkapitulation und Eidesleistung des zuerwählenden Erzbischofs für erforderlich erklärte.Unter Richard von Greiffenklau (1511-31) begann dieöffentliche Verehrung des heiligen Rockes, wozu des Ablasseswegen bisweilen über 100,000 Pilger in Trierzusammenströmten. Der Reformation trat Richard in seinem Landmit Nachdruck entgegen. Johann VI. von der Leyen (1556-67) nahm dieJesuiten in sein Land auf, für welche sein Nachfolger JakobIII. von Elz (bis 1581) ein Kollegium in Koblenz errichtete, unddenen Johann VII. (1581-99) auch den Unterricht in den Schulen derStadt T. überwies. Zur Bildung der Geistlichen stiftetederselbe 1585 Seminare in Trier und Koblenz. Erzbischof PhilippChristoph von Sötern (1623-52), durch seine Streitigkeiten mitdem Domkapitel und dem Adel daheim, durch seine Hinneigung zuFrankreich dem Kaiser verhaßt, wurde 1635 von den Spaniernfestgenommen und bis 1645 in Wien gefangen gehalten. Unter seinemNachfolger Karl Kaspar von der Leyen (1652 bis 1676) wurde der seitdem 12. Jahrh. bestehende Streit mit der Abtei St. Maximin beendet,indem diese 1669 auf ihre Reichsfreiheit verzichtete. Der letzte inder Reihe der Erzbischöfe von T. war Klemens Wenzeslaus,Herzog von Sachsen (1768-1802), der daneben die BistümerFreising, Augsburg und Regensburg besaß. Derselbe ging vonder bisherigen Gewohnheit, den Evangelischen die Ansiedelung imErzstift zu untersagen, ab und gewährte endlich 1782 einToleranzedikt. Während des ersten Koalitionskriegs hatte dasLand viel von den Einfällen der Franzosen zu leiden, sodaß sich 1794 der Erzbischof zur Flucht veranlaßt sah.Als er im Frieden von Lüneville 1801 seine linksrheinischenBesitzungen an Frankreich hatte abtreten müssen, dankte er1802 ab und begnügte sich mit dem Bistum Augsburg und einemJahrgehalt von 100,000 Gulden. Durch denReichsdeputationshauptschluß von 1803 wurde das Erzstift zugunsten von Nassau-Weilburg säkularisiert. Schon 10. April1802 war ein neues Bistum T. für das französischeSaardepartement gebildet und dem Erzstift Mecheln unterstellt. 1814fielen die kurtrierschen Lande wieder an Deutschland, worauf siebis auf wenige Bezirke, wie St. Wendel (das an Koburg und erst 1834an Preußen kam), Birkenfeld und Meisenheim, mit Preußenvereinigt wurden. Der preußische Anteil gehörtgegenwärtig zu den Regierungsbezirken T. und Koblenz. Durchdie Bulle "De salute animarum" 1821 wurde das Bistum T.reorganisiert und unter den Erzbischof von Köln gestellt. DieDiözese umfaßt seitdem wieder dieselben Gebiete wie imMittelalter und ist nur auf dem linken Rheinufer geschmälert.Der Bischof Wilhelm Arnoldi (1842-64) gab 1844 großenAnstoß durch die neue Ausstellung des heiligen Rockes. Nachdem Tode des Bischofs Eberhard (30. Mai 1876) blieb das Bistumwährend des Kulturkampfes unbesetzt; erst 1881 wurde derBischof Korum (s. d.) ernannt. Vgl. Hontheim, Historia Trevirensisdiplomatica (Augsb. 1750, 3 Bde.); Derselbe, Prodromus historiaeTrevirensis (das. 1757, 2 Bde.); "Urkundenbuch zur Geschichte dermittelrheinischen Territorien" (hrsg. von Beyer, Eltester undGörz, Kobl. 1860-74, 3 Bde.); Görz, Regesten derErzbischöfe von T. (Trier 1859-61); Marx, Geschichte desErzstifts T. (das. 1858-64, 5 Bde.); "Gesta Treverorum" (hrsg. vonWaitz in den "Monumenta Germaniae, Scriptores", Bd. 8).

Trier (lat. Augusta Trevirorum, franz. Trèves),Hauptstadt des vormaligen Erzbistums und des jetzigen gleichnamigenRegierungsbezirks in der preuß. Rheinprovinz, liegt rechts ander Mosel, über welche hier eine interessante alte, auf achtSchwibbogen ruhende Brücke (ursprünglich einRömerbau) führt, im Knotenpunkt der Linien Hillesheim-T.,Konz-Ehrang und Perl-Koblenz der Preußischen Staatsbahn, 124m ü. M., und hat sechs öffentliche Plätze, abermeist unregelmäßige, enge Straßen. Unter denGebäuden verdienen Erwähnung: die Porta nigra, nachinschriftlichen Zeugnissen aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. undfrüher zugleich als Bollwerk dienend, 36 m lang, 21 m breitund 23 m hoch, seit dem 11. Jahrh. in eine Kirche verwandelt,gegenwärtig aber von allen mittelalterlichen Anbauten, mitAusnahme einer romanischen Apsis, befreit; der Dom, dessenmittlerer Teil aus dem 6. Jahrh. herrührt, während dieverschiedenartigen Anbauten im 8. und 12. Jahrh. hinzugefügtworden sind, mit schönen Grabmälern, bedeutendenReliquien (darunter der berühmte heilige Rock); dieLiebfrauenkirche, im frühsten gotischen Stil 1227-43 erbautund mit dem

[Wappen von Trier.]

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Triere - Triest.

Dom durch einen Kreuzgang verbunden, mit figurenreichem Portalund kühn gewölbtem Schiff; die Gangolfskirche, Jesuiten-oder Dreifaltigkeitskirche (mit dem Grab des Dichters Fr. v. Spee),endlich Krypten in der Matthias- und Paulinuskirche. Im ganzen hatdie Stadt 11 katholische, eine evang. Kirche und eine Synagoge.Noch sind zu nennen: die Palastkaserne (bis 1786erzbischöflicher Palast), die ehemalige Benediktinerabtei St.Maximin (jetzt Kaserne), auf den Ruinen eines römischenPrachtbaues errichtet, und das neue Theater. InteressanteDenkmäler aus der Römerzeit sind außer den schongenannten noch: der römische Kaiserpalast; die römischenBäder (zum Teil noch verschüttet); Überreste einesrömischen Amphitheaters, welches 28,000 Menschen faßte;die durch König Friedrich Wilhelm IV. wiederhergestellteBasilika (gewöhnlich Konstantinspalast genannt, seit 1856 zurevangelischen Kirche eingerichtet). Der sogen. Frankenturm dientein der fränkischen Zeit wahrscheinlich als Getreidemagazin.Die Zahl der Einwohner beläuft sich (1885) mit der Garnison (2Infanterieregimenter Nr. 29 und 69 und ein Husarenregiment Nr. 9)auf 26,126 Seelen, meist Katholiken; sie beschäftigen sichvornehmlich mit Obst- und Weinbau, Gerberei, Woll-, Baumwoll- undLeinweberei, Färberei, Wachsbleicherei, auch Tabaks- undHutfabrikation und treiben ansehnlichen Handel mit Moselweinen,Vieh und Holz. Auch Steine, für ganze Kirchen im gotischenStil zugehauen, werden in Menge verschifft. An Bildungsinstitutenund andern Anstalten besitzt T. ein Gymnasium (darin dieStadtbibliothek von 100,000 Bänden, Handschriften [Codexaureus] und Inkunabeln sowie wertvolle Sammlungen), einRealgymnasium, eine Taubstummenanstalt, ein Provinzialmuseum mitrömischen Altertümern, ein Landarmenhaus, einBürgerhospital, ein Militärlazarett etc. Diestädtischen Behörden zählen 4 Magistratsmitgliederu. 24 Stadtverordnete. Sonst ist T. Sitz einer königlichenRegierung, eines Landratsamtes (für den Landkreis T.), eineskatholischen Bischofs, eines Landgerichts, einer Oberpostdirektion,einer Forstinspektion und zweier Oberförstereien, einesBergreviers, eines Hauptsteueramtes, einer Handelskammer, einerReichsbanknebenstelle etc.; ferner des Stabes der 16. Division, der31. und 32. Infanterie- und der 16. Kavalleriebrigade. 8 kmentfernt ist bei dem Dorf Igel (s. d.) die sogen. Igelsäule,neben der auch noch ein Kastell oberhalb Saarburg (GrabkapelleKönig Johanns von Böhmen) und ein Mosaikfußboden inNennig zu erwähnen sind. Zum Landgerichtsbezirk T.gehören die 16 Amtsgerichte zu Bernkastel, Bitburg, Daun,Hermeskeil, Hillesheim, Merzig, Neuerburg, Neumagen, Perl,Prüm, Rhaunen, Saarburg, T., Wadern, Waxweiler und Wittlich. -T. war im Altertum die Hauptstadt der Treverer, wurde im 3. Jahrh.Residenz römischer Kaiser und unter Konstantin I. Metropoleeiner der vier Präfekturen des Reichs. Um die Mitte des 5.Jahrh. kam es unter die Herrschaft der Franken, wurde aber 451 vonden Hunnen zerstört. Durch den Vertrag von Verdun zuLothringen geschlagen, ward es unter Heinrich I. auf immerDeutschland einverleibt. Zunächst von Grafen, seit dem 9.Jahrh., als die Grafengewalt an die Erzbischöfe überging,vom Vogt des Erzstifts verwaltet, strebte die Stadt späterdanach, reichsunmittelbar zu werden, und erhielt auch 1212 vonKaiser Otto IV. einen Freibrief, den Konrad IV. bestätigte.Allein 1308 erkannte sie wieder die Gerichtsbarkeit des Erzbischofsan, und ihre Eigenschaft als erzbischöfliche Stadt ward noch1364 von Karl IV. und 1580 vom Reichskammergericht bestätigt.An ihrer Spitze stand ein Schöffengericht, das 1443 vomErzbischof Jakob I. durch Einsetzung zweier Bürgermeisterergänzt wurde. Erzbischof Theoderich I. und sein NachfolgerArnold II. befestigten im 13. Jahrh. die Stadt durch Mauern.Später, besonders aber nach Vollendung des neuen Schlosses(1786), ward Koblenz Residenz der Erzbischöfe. 1473 wurde inT. eine Universität gestiftet, die 1797 aufgehoben ward. 1512fand daselbst ein Reichstag statt, auf welchem die Kreisverfassungim Reich endgültig festgestellt wurde. 1634 wurde T. von denSpaniern erobert, aber 1645 von den Franzosen unter Turenne wiedergenommen. Schon 1674, 1688 und auf längere Dauer 1794 von denFranzosen erobert, kam die Stadt 1801 an Frankreich und wardHauptstadt des Departements Saar. 1814 fiel sie an Preußen.Denkwürdig ist die Zusammenkunft Kaiser Friedrichs III. mitKarl dem Kühnen 1473 in T. Vgl. Haupt, Triers Vergangenheitund Gegenwart (Trier 1822, 2 Bde.); Leonardy, Panorama von T. (das.1868); Derselbe, Geschichte des trierschen Landes und Volkes(Saarlouis 1871); Freeman, Augusta Trevirorum (a. d. Engl., Trier1876); Hettner, Das römische T. (das. 1880); Wilmowsky, DerDom zu T. (das. 1874, 26 Tafeln); Derselbe, ArchäologischeFunde in T. (das. 1873); Beissel, Geschichte der Trierer Kirchen(das. 1888 ff.); Lokalführer von Braun, Lintz, Steinbach u.a.

Der Regierungsbezirk T. (s. Karte "Rheinprovinz") umfaßt7183 qkm (130,46 QM.) mit (1885) 675,225 Einw. (116,945Evangelische, 551,521 Katholiken und 6534 Juden) und 13 Kreise:

Kreise QKilometer QMeilen Einwohner Einw. auf 1 QKilom.

Bernkastel .... 668 12,13 44389 66

Bitburg ..... 780 14,17 43494 56

Daun ...... 610 11,08 27305 45

Merzig ...... 418 7,59 37996 91

Ottweiler ..... 307 5,58 72514 236

Prüm ...... 919 16,69 35519 39

Saarbrücken .... 385 6,99 124374 323

Saarburg ..... 454 8,25 30946 68

Saarlouis ..... 444 8,06 68126 153

St. Wendel .... 537 9,75 45594 85

Trier (Stadtkreis) .. 8 0,15 33019 -

Trier (Landkreis) .. 1011 18,36 73949 73

Wittlich ..... 642 11,66 38000 59

Vgl. Bärsch, Beschreibung des Regierungsbezirks T. (Trier1846-49, 2 Bde.).

Triere, s. Triremen.

Triesch, Marktflecken in Mähren,Bezirkshauptmannschaft Iglau, an einem Teiche gelegen, mit alterPfarrkirche, Schloß mit Gartenanlagen, Synagoge, Tuch-,Möbel- und Zündwarenfabriken und (1880) 4374 Einw.

Triést (ital. Trieste, slaw. Trst, lat. Tergeste),wichtigster Hafen- und Seehandelsplatz derösterreichisch-ungar. Monarchie, hervorragendstes Emporium amAdriatischen Meer, Hauptstadt des österreichisch-illyrischenKüstenlandes, innerhalb dessen die Stadt mit ihrem Gebiet von94,6 qkm (1,7 QM.) autonome Gemeindeverwaltung besitzt, erhebt sichin reizender Lage terrassenförmig am Fuß desamphitheatralisch aufsteigenden Karstgebirges am Meerbusen von T.Sie bietet vom Meer und vom Land aus einen malerischen Anblick darund besteht aus zwei Hauptteilen: der Altstadt, die, an denAbhängen des Schloßbergs erbaut, meistunregelmäßige und enge Straßen hat, und derNeustadt, welche sich an

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Triest (Beschreibung der Stadt, Bevölkerung).

der Reede hinzieht und breite, regelmäßige, sichrechte winkelig kreuzende Straßen enthält. In dieNeustadt tritt der 380 m lange, 16 m breite, 4 m tiefe "großeKanal" mit zwei Drehbrücken ein, welcher den Schiffenermöglicht, unmittelbar an den Magazinen löschen zukönnen. Die Stadt T. mit ihrem Gebiet zerfällt in 12Bezirke, nämlich 5 innere Bezirke (Stadt), 5 äußereBezirke (Umgebung) und 2 das übrige Gebiet von T. (13Dörfer) umfassende Bezirke. Unter den öffentlichenPlätzen sind hervorzuheben: der Große Platz mit derMarmorstatue Karls VI. u. großem Brunnen, durch einenöffentlichen Garten vom Fischplatz (mitlebhaftem Fischmarkt)am Meer getrennt; der Börsenplatz mit dem 1668 errichtetenStandbild Leopolds I.; der Ponte Rosso-Platz am Canal grande; derGiuseppinaplatz mit dem Monument des Erzherzogs Maximilian, Kaisersvon Mexiko (von Schilling); der Stationsplatz, der Dogana- oderMautplatz, der Holzplatz, der mit einem anmutigen Square besetzteLeipziger Platz, die große Piazza d'Armi etc. Von denStraßen sind der Corso, die Acquedottogasse (mit schönerAllee, besuchter Spaziergang), die Torrente- und Stadiongasse diebreitesten und schönsten. Die Via Giulia führt zumBoschetto (Wäldchen), einem beliebten Vergnügungsort derTriester Bevölkerung. Die Stadt hat außerdem breiteKais, von denen der nordöstliche zum neuen Hafen und nach demim Winter besuchten Küstendorf San Bartolo, dersüdwestliche zu dem am Meer gelegenen Spaziergang Sant' Andreaund weiter zum Lloydarsenal führt. Unter den Kirchen stehtobenan der Dom von San Giusto, auf einem Hügel unterhalb desKastells, ein schon im 5. Jahrh. gegründeter, im 14. Jahrh.vollendeter byzantinischer Bau mit fünf Schiffen, sehenswertenAltertümern, Mosaiken, Reliquien und einem mit Benutzungantiker Fragmente um 1000 erbauten Glockenturm. Vor dem Dom erhebtsich die 1560 zu Ehren des Kaisers Ferdinand I. errichtete sogen.Adlersäule. Sonstige erwähnenswerte Kirchen sind: die1627 erbaute Kirche Santa Maria Maggiore (Jesuitenkirche) mitFresken von Sante, die Kirche Beata Vergine del Soccorso (Sant'Antonio Vecchio), die 1830 von Nobile erbaute Kirche Sant' Antonioam Ende des Großen Kanals, die Kirche San Giacomo, die reichausgestattete, mit Gemälden von Dell' Acqua geziertegriechische Kirche San Niccolò mit zwei Türmen (1782erbaut), die neuerbaute prächtige serbische Kirche imbyzantinischen und die neue lutherische Kirche im gotischen Stil,die reformierte Kirche und die englische Kapelle. Die Israelitenhaben fünf Synagogen. Weitere hervorragende Gebäude sind:das neue Rathaus am Großen Platz; das Tergesteum auf demBörsenplatz (1840 errichtet), ein gewaltiges Gebäude, imInnern mit kreuzweiser Glasgalerie, Sitz der Börse; das alteBörsengebäude im dorischen Stil (1802 erbaut), dasStatthaltereigebäude und der Lloydpalast am GroßenPlatz, das Gebäude der Allgemeinen Versicherungsgesellschaftam Kai, die Paläste Carciotti, Revoltella, Rittmeyer, Genel,Salem, das große Schulgebäude am Leipziger Platz, dasHôtel de Ville, die Villa Necker (einst EigentumJérômes, Königs von Westfalen), die Villa Murat,das vom Triester Turnverein errichtete Turnschulgebäude, dasgeschmackvolle Stadttheater, das Armoniatheater, das AmphitheaterFenice und das Teatro Filodrammatico, endlich das große, inder Acquedottogasse erbaute Politeama Rossetti (Stadttheater); dasden Schloßberg krönende Kastell, an der Stelle desrömischen Kapitols 1508-1680 errichtet, mit herrlicherAussicht über Stadt und Meer, mehrere Kasernen, dieReitschule, das alte Lazarett (jetzt Artilleriearsenal), der 33 mhohe Leuchtturm (1833 erbaut), der Südbahnhof mit dem neuengroßen Stationsgebäude und der 1886 auf dem Kai vonSant' Andrea erbaute Staatsbahnhof. Von Altertümern sind zuerwähnen: die Überreste eines römischenAmphitheaters, eine römische Wasserleitung und einTriumphbogen (Arco di Riccardo) aus der Kaiserzeit, welcher alsStadtthor diente. In neuester Zeit sind auch im Küstenort SanBartolo Überreste römischer Bauwerke (mitMosaikböden) gefunden worden. T. samt Gebiet zählte Ende1880: 144,844 Einw., wovon auf die Stadt 74,544, auf die Vororte58,475 und auf das weitere Gebiet von T. 11,825 entfallen. FürEnde 1887 wurde die Bevölkerung mit 158,478 berechnet; 1810zählte T. erst 29,908 Einw. Die Bevölkerung ist aus denverschiedensten Elementen zusammengesetzt. Die Mehrheit bildenItaliener, bez. italienisierte Südslawen (108,000), wieüberhaupt die Stadt einen vorwiegend italienischen Charakterhat. Doch gibt es in T. auch zahlreiche Deutsche (über 6000,meistens dem Beamten- und Handelsstand angehörig) sowieAngehörige andrer Nationalitäten, als Griechen,Engländer, Armenier, Türken etc. Die Bauern der Umgegendsind Slowenen (im ganzen über 26,000), welche Sonntags inmalerischer Tracht einhergehen. Die Fischer und Seeleute sind meistDalmatiner und Istrianer. Der Religion nach sind von der gesamtenEinwohnerzahl 136,168

[Wappen von Triest.]

[Karte der Umgebung von Triest.]

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Triest (Industrie, Handel und Verkehr).

Katholiken, 1861 nichtunierte Griechen, 1862 Evangelische, 4640Israeliten, 217 konfessionslos.

Die Industrie besteht vornehmlich im Schiffbau, in derMaschinenfabrikation, in der Mehl-, Seifen- und Biererzeugung. DieSchiffswerfte des Österreichisch-Ungarischen Lloyd ist einsder größten derartigen Etablissem*nts des Kontinents;ihr reiht sich die Schiffbauanstalt des Stabilimento tecnico(für Kriegsschiffe) an. Die Maschinenfabriken liefern Schiffs-und industrielle Dampfmaschinen und Kessel. Zwei großeDampfmühlen versenden Schiffsladungen Mehl nach allenWeltteilen. Die Drehersche Bierbrauerei in Guardiella versorgtnicht nur die Stadt mit diesem Getränk, sondern versendet esbis nach dem fernen Osten. In zweiter Linie reihen sich dieGerberei, die Fabrikation von Seilen und Segeltuch, Möbeln,Spielkarten und Zigarrettenpapier, Teigwaren, Essig, Schokolade,Wachskerzen, Weinstein, chemischen Präparaten etc. an. Auchdie Versendung von Fischen nach den an der Südbahn gelegenenStädten, insbesondere nach Wien, ist lebhaft. In T. befindetsich ferner die Leitung mehrerer in den südlichenösterreichischen Provinzen gelegener industriellerEtablissem*nts. Die Umgegend von T. produziert vorzüglichenWein, Obst, Getreide, Öl und Steine. Seine eigentlicheBedeutung verdankt T. aber dem Handel. 1887 belief sich derWarenverkehr auf einen Gesamtwert von 665,2 Mill. Gulden, und zeigtderselbe im Rückblick auf frühere Jahre eine ansehnliche,stetige Entwickelung (1857: 280,3, 1867. 320,2, 1877: 448,3 Mill.Guld.). Auf die Einfuhr kamen 1887: 342,1 (zur See 196,8, zu Land145,3), auf die Ausfuhr 323,1 (zur See 175,5, zu Land 147,6) Mill.Guld. Die Hauptartikel sind in der Einfuhr zur See: Kaffee (1887:328,000 metr. Ztr.), Wein (306,000 metr. Ztr.),Südfrüchte (650,000 metr. Ztr.), Getreide (548,000 metr.Ztr.), Reis (110,000 metr. Ztr.), Olivenöl (96,000 metr.Ztr.), Baumwollsamen-, Palm- und Kokosöl (79,000 metr. Ztr.),Petroleum (294,000 metr. Ztr.), Baumwolle (617,000 Ztr.; vonOstindien, Ägypten etc.), Valonen (175,000 Ztr.), Kolophonium(102,000 Ztr.), Seesalz (104,000 metr. Ztr.), Steinkohlen (659,000Ztr.), Roheisen und Eisenwaren (75,000 Ztr.), Faßdauben undandre Holzwaren (1 Mill. Stück), Farbholz (50,000 Ztr.),Indigo und andre Farb- und Gerbstoffe, Sämereien, Tabak, Hanf,Jute, Häute und Felle, Gummiarten und Harze, Seefische,Pfeffer und andre Gewürze, Schwefel, Maschinen etc. DieHauptgegenstände des Exports zur See, welcher vorzugsweise dieaus Österreich zugeführten Waren verfrachtet, zu einemTeil aber auch auf dem Zwischenverkehr für die zur Seeimportierten Waren beruht, sind: Spiritus (83,500 metr. Ztr), Rum(49,000 metr. Ztr.), Wein (215,000 Ztr.), Bier (112,000 Ztr.),raffinierter Zucker (633,000 metr.Ztr.), Mehl (533,000 metr.Ztr.),Papier (144,000 Ztr.), Baumwollwaren (31,000 Ztr.), Eisen u.Eisenwaren (140,000 Ztr.), Holzwaren, als Faßdauben, Bretteretc. (34 Mill. Stück), Glaswaren (57,000 Ztr.),Zündhölzchen (55,000 Ztr.), Steinkohlen, Maschinen,Kurzwaren, Juwelierarbeiten, Baumwolle, Schafwollwaren, Getreideund Reis, verschiedene Früchte, Sämereien, Kaffee etc. Eslandeten 1887 in T. 8033 Schiffe mit 1,384,877 Ton. Gehalt (davon3664 Dampfer mit 1,172,092 T.) und liefen aus 8128 Schiffe mit1,393,524 T. Gehalt (darunter 3678 Dampfer mit 1,174,893 T.). Dengrößten Anteil an diesem Schiffsverkehr habenaußer der österreichisch-ungarischen die britische unditalienische Flagge. Die wichtigsten Länder der Herkunft undBestimmung der ein- und ausgelaufenen Schiffe sind außerÖsterreich-Ungarn: Italien, die Türkei,Großbritannien, Ägypten, Frankreich, Ostindien,Rußland (Schwarzes Meer), Griechenland und China. T. besitztzwei Häfen. Der alte, südöstliche ist eigentlicheine offene Reede mit mehreren Steindämmen und Molen, alsderen größte der Molo San Carlo, auf dem Wrack eines1737 hier versunkenen Kriegsschiffs erbaut, sodann die Molen SantaTeresa mit dem 33 m hohen Leuchtturm auf der Spitze, Giuseppina,Sartorio, Molo del Sale etc. zu nennen sind. Nordöstlich vonder Reede ist 1868-83 der neue Hafen angelegt worden. Derselbeumfaßt vier Molen, je 95 m breit und 200-215 m lang, welchedurch zwischenliegende Kaistrecken verbunden sind, wonach dieHafenanlage eine Ausdehnung von 1228 m erreicht; ferner einenäußern Schutzdamm (Wellenbrecher) von 1088 m Länge.Außerdem wurden in den Bassins des neuen Hafens eiserneAnbindpfahlwerke, ferner an den Kais und Molen Eisenbahnanlagen undKräne sowie endlich Warenlagerhäuser hergestellt. T. ist1719 zum Freihafen erklärt worden. Doch ist bereits beiAbschluß des österreichisch-ungarischen Zoll- undHandelsbündnisses von 1878 mit der Beseitigung derZollausschlüsse der Monarchie auch die Aufhebung desFreihafenprivilegiums von T. prinzipiell ausgesprochen und nurvorläufig noch für einige Jahre (bis 1891) aufgeschobenworden. Die großartige Bedeutung als Seehandelsplatz dankt T.übrigens nicht diesem Privilegium allein, sondern vor allemseiner geographischen Lage am Nordende des tief ins Festlandeinschneidenden Adriatischen Meers sowie dem Umstand, daßsein offener Hafen für große Schiffe zugänglicherist als jener Venedigs. Ungünstig wirkt dagegen das T. gegendie Landseite umgebende unwirtliche und den Verkehr mit denLändern des Donauthals hindernde Karstgebirge, wodurch sichder Verbindung mit dem österreichischen, ungarischen unddeutschen Bahnnetz große Schwierigkeiten entgegenstellen. VonT. läuft denn auch nur eine große Eisenbahnlinie(Südbahn) aus, welche sich in Nabresina in die Linie nachWien, anderseits in die Linie über Cormons nach Italien teilt.Außerdem führt eine Zweigbahn von T. nach Herpelje zurIstrianer Staatsbahn; alle andern Projekte (Lacker Bahn, Predil-und als Fortsetzung die Tauernbahn) scheitern an den technischenSchwierigkeiten und den Kosten. Die Entwickelung desösterreichischen und ungarischen Eisenbahnnetzes hat daher demHandel Triests manchmal geradezu Abbruch gethan, wie insbesonderedie Linien nach Fiume und die Pontebbabahn. Dazu kommt die auch inandrer Beziehung von der ungarischen Regierung wirksamunterstützte Konkurrenz des Fiumaner Hafens sowie endlichmanche Mängel in den Triester Handelsverhältnissenselbst. Infolge dieser Umstände ist trotz der Eröffnungdes Suezkanals und der dadurch erleichterten Verbindung mitOstindien, der Einrichtung von subventionierten Schiffahrtsliniennach Bombay, Kalkutta, Singapur und Hongkong der Aufschwung imHandels- und Schiffahrtsverkehr von T. in den letzten Jahrzehntenhinter den Erwartungen zurückgeblieben. Neuestens sind durchVervollständigung der Hafeneinrichtungen, Anlage großerLagerhäuser, Einführung von Differentialzöllen(ermäßigte Zollsätze für die zur Seeeingeführten Waren), Subventionierung neuer Schiffahrtsliniendes Lloyd (insbesondere nach Südamerika) Maßregeln zurBelebung des Triester Hafen- und Handelsverkehrs ergriffen worden.Unter den zahlreichen Instituten

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Triester Holz - Trifolium.

und Vereinen für Verkehr, Kreditwesen und Industriebehauptet den ersten Platz der 1836 errichtete Österreichische(jetzt Österreichisch-Ungarische) Lloyd, der über eineaktive Handelsflotte von 83 Dampfern verfügt. Andre Institutesind: die Triester Kommerzialbank, die Volksbank, diestädtische Sparkasse, dann die Filialen derÖsterreichisch-Ungarischen Bank, der Kreditanstalt, derUnionbank u. a. T. ist der Sitz von vier Versicherungsanstalten,darunter die weltbekannten Assicurazioni generali und RiunioneAdriatica di sicurtà. Es operieren hier außerdem 41österreichisch-ungarische und ausländischeVersicherungsgesellschaften.

Von Wohlthätigkeitsanstalten sind hervorzuheben: dasstädtische Krankenhaus samt Gebäranstalt und Siechenhaus,in welchem bis 2000 Personen Unterkunft finden können, dasgroße Militärspital, das Irrenhaus, die Findelanstalt,das Hauptarmeninstitut (mit 600 Betten für Pfründner undarme Kinder), eine Verpflegungs- und Arbeitsanstalt fürverwahrloste Kinder u. a. Das Seelazarett befindet sichaußerhalb der Stadt in dem südlich bei Muggia gelegenenValle San Bartolommeo. An Unterrichtsanstalten besitzt die Stadt:eine Handels- und nautische Akademie und eine Handelshochschule(Stiftung Revoltella), 2 Obergymnasien und 2 Oberrealschulen (jeeine staatliche deutsche und eine städtische italienischeAnstalt), eine Staatsgewerbeschule, 2 gewerbliche Zeichenschulen,eine Hebammenlehranstalt, eine zoologisch-zootomischeÜbungsstation, ein städtisches Mädchenlyceum,endlich 4 Bürger-, 35 öffentliche und 19Privatvolksschulen. An Museen und andern Sammlungen befinden sichin T.: ein naturhistorisches Museum (Ferdinando-Massimiliano),welches unter anderm eine Fauna des Adriatischen Meersenthält; ein städtisches Museum mit Altertümern,insbesondere aus Aquileja, das Museo lapidario, gleichfalls mitrömischen Antiquitäten, einem Münzkabinett, altenManuskripten und dem 1823 errichteten Marmordenkmal Winckelmanns(s. d.); eine städtische Bibliothek mit 65,000 Bänden(worunter die kostbarste Sammlung von Petrarcas Werken), eineöffentliche Studienbibliothek, ein hydrographisches Institutder k. k. Kriegsmarine mit Sternwarte, ein Kunstmuseum im PalastRevoltella und mehrere Privatgemäldesammlungen. In T.erscheinen 29 Zeitungen (24 italienische, 2 deutsche, einegriechische und 2 slowenische). - Die Stadt ist Sitz derStatthalterei des Küstenlandes, des Stadtmagistrats, derösterreichischen Seebehörde, des Oberlandes- undLandesgerichts, des Handels- und Seegerichts, des Hafen- undSeesanitätskapitanats, der Finanz-, Post- undTelegraphendirektion, eines Hauptzollamtes und einer Handels- undGewerbekammer. Der Bürgermeister von T. trägt den TitelPodestà und ist zugleich Präsident des Landtags(Landeshauptmann); der Triester Stadtrat (54 Mitglieder) fungiertzugleich als Landtag. T. ist außerdem Sitz eines Bischofs,eines k. k. Divisionskommandos, eines Seebezirkskommandos, einerPolizeidirektion und zahlreicher Konsulate fremder Staaten(darunter auch eines deutschen). Das Budget der Stadt T. beliefsich 1889 auf 3,363,000 Gulden Einnahmen und 3,431,000 Guld.Ausgaben; die Schuld betrug 1887: 4,583,330 Guld., dasVermögen von T. nach Abzug aller Passiva 5,242,344 Guld. T.besitzt mehrere Seebadeanstalten. Für den Lokalverkehr sorgteine Pferdebahn (14 km Länge). Die Umgebung istterrassenförmig, mit prächtigen Villen besäet.Über dem Boschetto befinden sich die aussichtsreichen VillenFerdinanda und Revoltella, hoch über T. an derPoststraße das Dorf Optschina mit Obelisk und herrlichemÜberblick über Stadt und Meer, in der Mitte einerschönen Eichenwaldung das k. k. Hofgestüt Lipizza. Amnördlichen Meeresstrand liegen der Küstenort San Bartolo(Barcola), mit Fabriken und Seebadeanstalt und weiter dasschöne Schloß Miramar (s. d.). Die Stadt wird vonmehreren Brunnen der Umgebung sowie durch eine Wasserleitung ausdem Abhang des Gebirgszugs Santa Croce mit gutem Wasser versehen.Das Wappen von T. s. auf Tafel "Österreichisch-UngarischeLänderwappen".

T. (Tergeste) ward 178-177 v. Chr. mit Istrien demrömischen Reich einverleibt und unter Augustus zu einerrömischen Kolonie gemacht. Im Mittelalter tritt eszunächst als Bischofsstadt mit einem bedeutenden Territorium(der römischen regio) hervor. Der Kommune gelang es im 13.Jahrh., dem Bischof die wichtigsten Hoheitsrechte teils abzuringen,teils abzulösen. Doch befand es sich, im wechselnden Kampf umseine Selbständigkeit Venedig gegenüber, in einerschwankenden Stellung zum Patriarchen von Aquileja als "Markgrafenvon Istrien" und zu dessen Vögten, den Grafen von Görz,als "Grafen von Istrien". Nach dem großen venezianischenKrieg von 1379 bis 1381 kam es 1382 an Österreich und bliebfortan unter dessen Herrschaft, mit Ausnahme der Zeit von 1797 bis1805, in der es die Franzosen besetzt hielten, und von 1809 bis1813, in der es zu der illyrischen Provinz Frankreichsgehörte, bis auf die Gegenwart. Die Stadt ward nun bald dieglückliche Rivalin Venedigs und, besonders seitdem Kaiser KarlVI. sie zum Freihafen erklärt, die Beherrscherin desAdriatischen Meers. 1818 ward sie nebst Gebiet dem deutschenBundesgebiet einverleibt. Durch kaiserliches Dekret vom 2. Okt.1849 ward die Stadt nebst Gebiet zur reichsunmittelbaren Stadterhoben. Vgl. Mainati, Croniche ossia memorie stor.-sacro-prof. diTrieste (Venedig 1817-18, 7 Bde.); Löwenthal, Geschichte derStadt T. (Triest 1857); Scussa, Storia cronografica di Trieste(neue Aufl., das. 1885-86); della Croce, Storia di Trieste (das.1879); Cavalli, Storia di Trieste (das. 1877); Neumann-Spallart,Österreichs maritime Entwickelung und die Hebung von T.(Stuttg. 1882); Scubitz, T. und seine Bedeutung für dendeutschen Handel (Leipz. 1881); die jährlichen Publikationender Triester Börsendeputation: "Navigazione di Trieste" und"Commercio di Trieste"; "Führer durch T. und Umgebung" (2.Aufl., Wien 1886).

Triester Holz, s. Celtis.

Triëterien (Mänadenfeste), s. Dionysos, S.998.

Trieur (franz., spr. triör), s.Getreidereinigungsmaschinen.

Trifels, Burgruine auf der Hardt in Rheinbayern,südöstlich bei Annweiler, 494 m ü. M. Die Burg T.war ehemals sehr bedeutend und ein Reichsgut, wo 1076 der gebannteKaiser Heinrich IV. Schutz fand, wo Heinrich V. den ErzbischofAdalbert von Mainz und Heinrich VI. 1193-94 den König RichardLöwenherz von England gefangen hielten, und wo dieHohenstaufen ihre Schätze verwahrten. Nach demDreißigjährigen Krieg verfiel die Burg.

Trifles (engl., spr. treifls, "Kleinigkeiten,Spielereien"), in England beliebte Mischung von allerlei beliebigzusammengestellten Leckereien, z. B. in Wein getränkterBiskuits, in feinem Likör getränkter Makronen, Zitronat,kandierter Orangenschalen, Obstmarmeladen, Gelees etc.; das Ganzewird mit Creme bedeckt und dann mit Schlagsahneübergossen.

Trifolium, s. Klee.

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Triforium - Trigonometrie.

Triforium (lat.), eigentlich Drillingsbogen, eine ingotischen Kirchen in der Dicke der Mittelschiffmauerherumgeführte, auf Säulchen ruhende Galerie (s. Fig. ab), die anfangs wirklich nach außen geöffnet,später zu rein dekorativem Zweck auf die äußereMauerfläche aufgesetzt war.

Trift, der Weg für das Weidevieh; Triftgerechtigkeit(Triftrecht), die einem Grundeigentümer zustehende Befugnis,sein Vieh über fremde Grundstücke zu treiben, wobei aberdas Vieh sich nicht aufhalten darf, um zu fressen, wofern nicht mitdem Triftrecht eine Weidegerechtigkeit (s. d.) verbunden ist.

Triftenfreund, s. Nemophila.

Triftlieschgras, s. Phleum.

Triga (lat.), Dreigespann.

Trigeminus, dreigeteilter Nerv, s. Gehirn, S. 2 f.

Triggiano (spr. tridschano), Stadt in der ital. ProvinzBari, nahe südlich von Bari gelegen, mit Mandel-, Wein- undÖlbau und (1881) 8217 Einw.

Trigla, Knurrhahn.

Triglaw, Berg, s. Terglou.

Triglaw (slaw.), Gott der Wenden, dreiköpfigdargestellt, hatte die Herrschaft über Himmel, Erde undUnterwelt. Ein schwarzes, ihm geweihtes Roß lenkte durchseine Orakelzeichen jegliches Unternehmen. Tempel hatte er zuStettin, Wollin und Brandenburg a. H.

Triglyph (griech., Dreischlitz), Teil des Gebälkesder dorischen Säulenordnung, welchen man als das Kopfendeeines über den Architrav gestreckten Balkens zu betrachtenhat, das mit drei lotrechten Vertiefungen (Schlitzen) versehen ist.Die Triglyphen (s. Abbild. a) bilden einen Teil des Frieses, worinsie mit den (b) Metopen (s. d.) abwechseln; s. Tafel"Säulenordnungen", Fig. 1, 2 u. 3.

Trigon (griech.), Dreieck; trigonal, dreieckig.

Trigonalschein (Gedrittschein), s. Aspekten.

Trigonalzahlen (Triangularzahlen), Zahlen von der Form1/2n(n+1), deren Einheiten man in Gestalt regelmäßigerDreiecke ordnen kann; vgl. Polygonalzahlen.

Trigondodekaëder (Pyramidentetraeder), von Dreieckeneingeschlossene zwölfflächige Kristallgestalt, Hemiederdes tesseralen Trapezoeders; s. Kristall, S. 232.

Trigonella L. (Kuhhornklee, Käseklee), Gattung ausder Familie der Papilionaceen, Kräuter mit fiederigdreizähligen Blättern, einzelnen, in Köpfchen,Dolden oder kurzen, dichten Trauben achselständigen, gelben,bläulichen oder weißen Blüten und linealischen,zusammengedrückten oder walzigen, geraden odersichelförmigen, mehrsamigen Hülsen. Etwa 70 Arten,vorzüglich im Mittelmeergebiet. T. Foenum graecum L.(Bockshornklee, griechisches Heu), einjährig, 30-50 cm hoch,mit verkehrt-eiförmigen oder länglich-keilförmigenBlättchen, einzeln oder zu zweien stehenden, blaßgelbenBlüten und 8-12 cm langen, kahlen, linealischen, schwachsichelförmigen, längsgestreiften Hülsen, zwischendem Getreide im südlichen Europa, in Kleinasien undNordafrika, in Indien, auch in Europa der Samen halber kultiviert.Diese schmecken widerlich bitter, riechen stark melilotenartig undstanden bei den Ägyptern, Griechen und Römern in hohemAnsehen, sie wurden als Arzneimittel, Viehfutter, geröstet alsSpeise benutzt, und auch Karl d. Gr. befahl den Anbau inDeutschland. Jetzt dienen die Samen fast nur noch in derVeterinärpraxis. Mit Milch zubereitet, genießen sie dieFrauen im Orient, um die in den Harems beliebte Wohlbeleibtheit zugewinnen. Das Stroh dient zu Pferdefutter.

Trigonia, s. Muscheln, S. 912.

Trigonoduskalk, s. Triasformation, S. 828.

Trigonometer, der mit der Triangulierung eines Landesbeauftragte Geodät.

Trigonometrie (griech., Dreiecksmessung), der auf dieÄhnlichkeitslehre sich gründende Teil der Geometrie,welcher aus drei zur Bestimmung ausreichenden Stücken einesDreiecks die übrigen durch Rechnung finden lehrt. DasHilfsmittel hierzu bilden die goniometrischen (trigonometrischen)Funktionen, welche den Zusammenhang zwischen geradlinigen Streckenund Winkeln vermitteln. Um die Bedeutung dieser Funktionen zuverstehen, denke man sich einen Winkel u durch Drehung einesSchenkels um den Scheitel O entstanden; der Winkel sei dann positivoder negativ, je nachdem die Drehung der Bewegung eines Uhrzeigersentgegengesetzt oder mit ihr gleichgerichtet ist; es ist also inFig. 1 der spitze Winkel AOP positiv, dagegen der spitze Winkel A OS negativ, wenn der zuerst geschriebene Radius O A derAnfangsschenkel ist. In dem Kreis (Fig. 1) sind zwei aufeinandersenkrechte Durchmesser gezogen, der horizontale A' A und dervertikale B' B. Indem man von P die Senkrechten P C auf A' A u. P Dauf B' B fällt, erhält man die horizontale Projektion O Cund die vertikale O D des Radius O P, des Endschenkels des Winkelsu = A O P. Die horizontale Projektion wird positiv gerechnet, wennsie von O nach rechts, die vertikale, wenn sie nach oben liegt, beientgegengesetzter Lage sind sie negativ. Man versteht nun unterSinus von u, geschrieben sin u, die Vertikalprojektion desEndschenkels, dividiert durch diesen selbst; unter Kosinus von u,cos u, die Horizontalprojektion, dividiert durch den Endschenkel;es ist also

sin u = O D / O P, cos u = O C / O P. [s. Bildansicht]

Dabei wird der im Nenner stehende Radius O P stets positivgerechnet, während den im Zähler stehen-

[Triforium.]

[Triglyphen (a) des dorischen Frieses.]

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Trigynus - Triklinium.

den Projektionen ihr Vorzeichen zu erteilen ist. Ferner ist dieTangente von u (tan u, tang u oder tg u) gleich dem Sinus,dividiert durch den Kosinus, die Kotangente (cot u) gleich Eins,dividiert durch Tangente, die Sekante (sec u) gleich Eins durchKosinus, die Kosekante (cosecu) gleich Eins durch Sinus. Diefrüher üblichen Funktionen Kosinus versus (cos vers u = 1- sin u) und Sinus versus (sin vers u = 1 - cos u) werden jetztkaum mehr benutzt. Aus Fig. 1 und den gegebenen Definitionen istersichtlich, daß sämtliche goniometrische Funktionendieselben absoluten Werte, die sie für einen spitzen Winkel u= A O P haben, auch für die Winkel 180° - u = A O Q,180° + u = A O R und 360° - u = A O S haben. Das Vorzeichenist aber in den verschiedenen Quadranten verschieden nach demfolgenden Schema:

0°-90° 90°-180° 180°-270°270°-360°

sin + + - -

cos + - - +

tan + - + -

cot + - + -

sec + - - +

cosec + + - -

Man braucht sonach nur die Werte der trigonometrischenFunktionen für die Winkel des ersten Quadranten zu kennen.Diese Werte, gewöhnlicher die Logarithmen derselben, findensich in Tabellen zusammengestellt, die den Sammlungenlogarithmischer Tafeln (s. Logarithmus) einverleibt sind. DieUntersuchung der Eigenschaften dieser goniometrischen Funktionenist Aufgabe der Goniometrie (s. d.). Im rechtwinkeligen Dreieck(Fig. 2) kann man, mit dem Obigen sachlich übereinstimmend,definieren den Sinus als die Gegenkathete des Winkels, dividiertdurch die Hypotenuse, Kosinus als anliegende Kathete durch dieHypotenuse, Tangente als Gegenkathete durch anliegende:

sin alpha = a/c, cos alpha = b/c, tan alpha = a/b.

Diese drei Gleichungen, in Verbindung mit dem PythagoreischenSatz c² - a² + b² und der Formel beta = 90°-alpha, genügen zur Berechnung der fehlenden Stücke einesrechtwinkeligen Dreiecks. In einem schiefwinkeligen Dreieck mit denSeiten a, b, c und den Gegenwinkeln alpha, beta, gamma (Fig. 3)dienen zur Berechnung der fehlenden Stücke die zwei Formeln:a² = b² + c² - 2bc.cos alpha und a sin beta = b sinalpha nebst den vier andern, welche sich durch Vertauschung derBuchstaben ergeben. Die erste Formel, eine Erweiterung desPythagoreischen Satzes, lehrt aus zwei Seiten u. demeingeschlossenen Winkel die dritte Seite (a aus b, c und alpha)finden, aber auch den Winkel alpha aus den drei Seiten. DerUnbequemlichkeit der Rechnung halber wendet man aber in beidenFällen häufig andre Formeln an. Die zweite Formel, derSinussatz (weil man schreiben kann a : b = sin alpha : sin beta, d.h. zwei Seiten verhalten sich wie die Sinus der Gegenwinkel), dientin Verbindung mit der Formel alpha + beta + gamma = 180° dannzur Rechnung, wenn sich unter den bekannten Stücken zweigegenüberliegende befinden. Das hier Angedeutete bildet denInhalt der ebenen T., an die sich die Polygonometrie, dieBerechnung der Polygone, anschließt. Die sphärische T.hat es mit der Berechnung sphärischer Dreiecke zu thun, diedurch Bogen größter Kreise auf einer Kugel gebildetwerden. Vgl. über ebene und sphärische T. Dienger,Handbuch der T. (3. Aufl., Stuttg. 1867); Reuschle, Elemente der T.(das. 1873). Da die Erde keine genaue Kugel, sondern einSphäroid ist, so hat man unter dem Namen sphäroidische T.eine Erweiterung der sphärischen T. ausgebildet, welche sichmit den Dreiecken auf dem Sphäroid beschäftigt. Vgl.Grunert, Elemente der ebenen, sphärischen undsphäroidischen T. (Leipz. 1837). - Die Astronomen desAltertums bestimmten die Winkel durch die Sehnen, die sie in einemum den Scheitel beschriebenen Kreis umspannten; der syrische PrinzAlbategnius (Mohammed ben Geber al Batani, gest. 928) führtezuerst die halben Sehnen der doppelten Winkel, d. h. die Sinus alsabsolute Längen (nicht Quotienten), ein; auch rührt vonihm die erste Idee der Tangenten her, die von Regiomontanus dauerndeingeführt wurden. Die Auffassung der trigonometrischenFunktionen als Verhältniszahlen datiert von Euler.

Trigynus (griech.), dreiweibig, Blüten mit dreiPistillen; davon Trigynia, Ordnung im Linnéschen System,Pflanzen mit drei Griffeln umfassend.

Trihemitonium (griech.), "anderthalb Töne", d. h.die kleine Terz.

Trijodmethan, s. Jodoform.

Trikkala (türk. Tirhala), Hauptstadt desgleichnamigen thessal. Nomos im Königreich Griechenland, derauf 5700 qkm (103,5 QM.) 117,109 Einw. zählt, am Trikkalinos(Zufluß des Salamvria), Sitz eines griechischen Erzbischofs,hat ein noch jetzt benutztes byzantinisches Kastell, 10 griech.Kirchen, 7 Moscheen, ein griech. Gymnasium, 2 Synagogen,Färberei, Gerberei, Baumwollbau und (1883) 5563 griechischeund türk. Einwohner (im Winter, wenn die walachischen Hirtender Umgebung dazu kommen, bedeutend mehr). Dabei die dürftigenRuinen der alten thessalischen Festung Trikke, welche denältesten und berühmtesten Asklepiostempelbesaß.

Triklines (triklinometrisches) Kristallsystem, s.Kristall, S. 231.

Triklinium (lat.), bei den alten Römern dasgepolsterte Lager, auf dem man beim Essen lag. Es nahm drei Seiteneines quadratischen Tisches ein (während die vierte fürdie Bedienung frei blieb), und jede Seite desselben bot in derRegel für drei Personen Raum (vgl. obenstehende Skizze). Jederder Plätze war mit einer Seitenlehne und einem Kissenversehen, auf welches man sich mit dem linken Arm stützte,während die Füße nach außen gerichtet waren.Hinsichtlich der Reihenfolge der neun Plätze herrschte einestrenge Etikette. Das mittelste Ruhe-

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Trikolore - Triller.

bett (lectus medius) und das ihm zur Linken stehende oberste(lectus summus) waren für die Gäste bestimmt und zwar daserstere für die vornehmsten, das ihm zur Rechten stehendeunterste (lectus imus) für den Wirt und seine Familie. Alsgegen Ende der Republik Tische aus kostbarem Citrusholz mit rundenPlatten aufkamen, wendete man ein halbkreisförmiges Ruhebettan, das nach seiner Form Sigma oder auch Stibadium genannt wurde.Ehrenplätze auf dem Sigma waren die Eckplätze. T.heißt übrigens auch das Speisezimmer selbst, und dievornehmen Römer der spätern Zeit hatten für dieverschiedenen Jahreszeiten mehrere solcher Zimmer (s. Tafel"Baukunst VI", Fig. 4); in den Klöstern Saal zur Bewirtung derPilger.

Trikolore (franz.), "dreifarbige" Kokarde oder Fahne, wiesie Frankreich, Belgien, Italien, Rußland, Deutschland etc.haben, besonders aber die der Franzosen (rot, blau und weiß),welche durch die erste Revolution eingeführt wurde (s. Fahne,S. 1016, Kokarde und Nationalfarben).

Trikot (franz., spr. -koh), ursprünglich aus Seide,Wolle oder Baumwolle gewirkte Beinkleider und Jacken fürSchauspieler etc.; dann auf dem Rundstuhl gefertigte, nach Art desTuches gewalkte und geschorne Gewebe, welche eine Art leichtesSommer- oder Damentuch bilden; endlich glatte, melierte oderverschieden gemusterte, den Buckskins ähnliche wollene Gewebe,welche aber elastischer als letztere sind.

Trikupis, 1) Spyridon, griech. Gelehrter und Staatsmann,geb. 20. April 1788 zu Missolunghi, ward von dem damals inGriechenland reisenden Lord North, nachmaligem Grafen Guilford, zurVervollkommnung seiner Kenntnisse nach Paris und London gesandt,dann dessen Privatsekretär, als derselbe Gouverneur derJonischen Inseln wurde. Im griechischen Freiheitskampf bekleideteer, mit Ausnahme der Zeit der Präsidentschaft Kapo d'Istrias',die wichtigsten Posten in der Verwaltung und der Diplomatie. Er warunter der Regentschaft Konseilpräsident, nachdemRegierungsantritt des Königs Otto zu zwei verschiedenen Malen(1835-38 und 1841-43) außerordentlicher Gesandter zu London,nach der Revolution vom 15. Sept. 1843 Minister desAuswärtigen und des öffentlichen Unterrichts, von 1844bis 1849 Vizepräsident des Senats, außerordentlicherGesandter zu Paris während der Blockade der griechischenHäfen durch die englische Flotte 1850 und dann zum drittenmalin London. Während der Bewegungen in den 60er Jahren war erwiederum verschiedene Male Mitglied der zahlreichen ephemerenMinisterien. Er starb 24. Febr. 1873. T. genoß außerdemeines großen Rufs als Schriftsteller und Redner. Einegroße Anzahl von ihm während der Revolution gehaltenerReden, religiösen wie politischen Inhalts, wurde 1836 in Parisherausgegeben. Auch als Dichter trat er auf und zwar mit einemKriegsgedicht auf die Klephthen: "[griech. Titel, s. Bildansicht]"(Par. 1821). Sein Hauptwerk ist jedoch die Geschichte deshellenischen Aufstandes ("[griech. Titel, s. Bildansicht]", Lond.1853-57, 4 Bde.; 2. Aufl. 1862).

2) Charilaos, griech. Staatsmann, Sohn des vorigen, geb. 23.Juli 1832 in Nauplia, studierte in Athen und Paris die Rechte, trat1852 in den diplomatischen Dienst und schloß 1865 den Vertragmit England über die Abtretung der Jonischen Inseln ab. AlsMitglied der Kammer schloß er sich der radikalen Partei an,ward 1867 Minister des Auswärtigen und war 1875-76Ministerpräsident, 1877 in dem Koalitionsministerium Kanaris'Minister des Äußern und 1882-85 sowie seit 1886 wiederMinisterpräsident. Seine Grundsätze wurden mit der Zeitgemäßigter, und um die Regelung der Finanzen und dieReform der Wehrkraft Griechenlands hat er sich hervorragendeVerdienste erworben.

Trikuspidalklappe, die dreizipfelige Herzklappe (s. Tafel"Blutgefäße", Fig. 1), bedingt beiSchlußunfähigkeit die Trikuspidalinsuffizienz.

Trilateral (lat.), dreiseitig.

Trilemma (griech.), Schlußform, s. Schluß, S.544.

Trilinguisch (lat.), dreisprachig.

Triller, die bekannteste und häufigste dermusikalischen Verzierungen (s. d.), gefordert durch tr~~~ odereinfach tr, auch t oder +, ist der den ganzen Wert der verziertenNote ausfüllende wiederholte schnelle Wechsel der Hauptnotemit der höhern Nachbarnote, wie sie die Vorzeichen ergeben;doch darf niemals im Intervall der übermäßigenSekunde getrillert werden. Früher pflegte man den T. als mitder Hilfsnote beginnend anzusehen: (Beispiel 1), doch ist seit etwaAnfang unsers Jahrhunderts die Auffassung, daß die Hauptnotebeginnen müsse, allmählich die herrschende geworden (2).Soll (in neuern Werken) der T. mit der Hilfsnote beginnen, somuß diese noch besonders als Vorschlagsnote eingezeichnetwerden (3). Wird die untere Sekunde als Vorschlagsnotevorgeschrieben, so entsteht der T. mit Vorschleife (4 u. 5), dessenälteres Zeichen (noch zu Ende des vorigen Jahrhunderts)Beispiel 6 angibt, während Beispiel 7 dem T. mit Vorschleifevon oben entspricht. Auch der Nachschlag konnte durch eineähnliche Schleife am Schluß des Trillerzeichensgefordert werden, u. es kommen daher auch T. mit beiden Schleifenvor (8). Das einfache ~~~ ist das alte Zeichen des Trillers, wurdeaber häufig so ausgeführt, daß nur ein Teil desNotenwerts aufgelöst wurde und dann die Note ausgehalten (s.Pralltriller). Die Frage, wann dem T. ein Nachschlag alsSchluß beizugeben sei, ist das einzige Problem, welches derT. bietet. In neuerer Zeit ist es üblich, den Nachschlag mitkleinen Noten hinzuschreiben, wo er gewünscht wird (beimlängern T. fast ausnahmslos); auch bei neuen Ausgabenälterer Werke findet man in Menge die Nachschlägehinzugefügt, leider ist darin aber zweifellos von manchenEditoren des Guten zu viel geschehen, z. B. von Moscheles beiMozart und Beethoven. Als Hausregel kann gelten, daß derNachschlag entbehrlich ist, besonders nach kürzern Trillern,wenn von der Trillernote ein Sekundschritt abwärts geschieht,Trillerketten erhalten gewöhnlich keine Nachschläge.Wo

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Triller - Trimurti

bei Bach und andern ältern Komponisten das Zeichen desTrillers über der ersten Note eines punktierten Rhythmusauftritt, darf nicht der ganze Notenwert aufgelöst werden,sondern es wird dann nur ein paarmal schnell geschlagen und ohneNachschlag innegehalten, um den Rhythmus noch zur Geltung zubringen. Ein maßgebendes Gesetz für die Ausführungaller Verzierungen ist, daß sie nicht die Rhythmik desStückes schädigen und verwischen dürfen; man thutdaher in vielen Fällen gut, eine Stelle erst ohne dieVerzierung zu spielen und dieselbe dann einzufügen. EineAneinanderhängung mehrerer T. heißt Trillerkette(Kettentriller). Steigt oder fällt die Trillerkettesekundenweise, so erhalten die einzelnen T. gewöhnlich keineNachschläge, da der T. selbst als steigend und fortdauerndangesehen wird; geradezu fehlerhaft ist der Nachschlag beichromatischer Veränderung des Trillers: SpringendeTrillerketten dürfen Nachschläge erhalten, nur der eineOktave springende T. ist als Fortdauer desselben Trillers anzusehn,d. h. erhält keinen Nachschlag.

Triller, s. Sächsischer Prinzenraub.

Trillhaus (Triller), ein hölzernes, vergittertes, aneiner horizontalen Welle befestigtes Häuschen, in welchesehedem die wegen Polizeivergehen Verurteilten eingesperrt wurden,um durch Herumdrehen desselben zu allerhand lächerlichenBewegungen und Übelkeit gebracht und dem öffentlichenSpott preisgegeben zu werden.

Trilling (Drehling, Stockgetriebe), eingrößeres Getriebe, bei dem die Getriebstöckezwischen zwei hölzernen Scheiben (Trillingsscheiben) befestigtsind.

Trillion, die dritte Potenz einer Million, geschrieben 1mit 18 Nullen; vgl. Zahlensystem.

Trillo, Flecken in der span. Provinz Guadalajara, amTajo, mit (1878) 782 Einw. und besuchtem Mineralbad.

Trilobiten (Trilobitae), Gruppe völligausgestorbener und nur den ältesten geologischen Schichtenangehöriger Tiere, die man früher allgemein zu denKrebsen rechnete, neuerdings jedoch getrennt von ihnen behandelt.Sie besaßen (vgl. die Abbildungen von Calymene,Ellipsocephalus, Trinucleus, Paradoxides und Arges auf den Tafeln"Silurische" und "Devonische Formation") einen durch zweiLängsfurchen dreiteiligen Körper, der aus vielen Ringenzusammengesetzt war und sich bei manchen Arten igelartigzusammrollen konnte. Am ersten Ring, dem Kopf, saßen meistzwei große Augen. Vielfach waren an Kopf und Rumpf langeStacheln vorhanden. Wichtig ist der Umstand, daß manfrüher fast nie auch nur Spuren von Beinen gefunden hat; diesemüssen also im Vergleich zum Körper sehr weichhäutiggewesen sein. Erst in der neuesten Zeit gelang es, durch Reihen vonmühsam hergestellten Schliffen durch T. zu ermitteln,daß um den Mund herum 4 Paar Kaufüße und an jedemRing der Brust und des Hinterleibes ein Paar Gehbeine mit Kiemensaßen. Vgl. Brongniart, Histoire naturelle descrustacés fossiles, savoir Trilobites (Par. 1822);Burmeister, Die Organisation der T. (Berl. 1843); Beyrich,Untersuchungen über T. (das. 1845-46); Barrande,Système silurien. Bd. 1 (Prag 1852); Salter, Monograph ofBritish Trilobites (Lond. 1864-66); Walcott, The Trilobite(Cambridge, Mass., 1881).

Trilogie (griech.), bei den Griechen die Verbindung jedreier Tragödien, mit denen an den Dionysosfesten diedramatischen Dichter miteinander um die ausgesetzten Preisekämpften. Gewöhnlich schloß sich diesenTragödien noch ein Satyrspiel an, und diese Verbindunghieß dann eine Tetralogie. Am meisten bildete Äschylosdie T. aus, indem er entweder ausgedehntere Mythenstoffe in dreimiteinander in inniger Verbindung stehenden Dramen behandelte oderdrei an sich nicht zusammenhängende Stoffe wenigstens durcheine gemeinsame symbolische Beziehung miteinander verknüpfte.Unter den erhaltenen Stücken von ihm befindet sich einevollständige T., die "Orestie", bestehend aus "Agamemnon", den"Choephoren" und "Eumeniden", welchen sich in stofflichemZusammenhang das nicht mehr vorhandene Satyrdrama "Proteus"anschloß. Von Neuern haben Schiller ("Wallenstein"), Hebbel("Die Nibelungen"), Swinburne ("Mary Stuart") u. a. Trilogiengedichtet. Auch R. Wagners "Ring des Nibelungen" will als T. (miteinem Vorspiel) angesehen sein.

Trim, Hauptstadt der irischen Grafschaft Meath, am Boyne,mit Gerichtshof, Denksäule Wellingtons, Lateinschule, einemmerkwürdigen anglonormännischen Turm und (1881) 1586Einw. Südlich dabei Laracor, wo Swift und Stella wohnten.

Trimalchio, bei Petronius ein ganz dem Wohllebenhingegebener Greis, allgemeiner s. v. w. dreifacher Weichling.

Trimberg, s. Hugo von Trimberg.

Trimester (lat.), Zeit von drei Monaten.

Trimeter (griech., lat. Senarius,"Sechsfüßler"), das gewöhnliche Versmaß dergriech. Dramatiker, bestehend aus drei Metren oder Doppeliamben(Dipodien), mit einer Cäsur, die, gewöhnlich nach derfünften, seltener nach der siebenten Silbe eintretend, denVers in zwei ungleiche Hälften teilt. Im ersten, dritten undfünften Fuß oder zu Anfang jeder Dipodie kann statt desJambus auch ein Spondeus stehen, so daß folgendes Schemaentsteht [s. Bildansicht]:

Bewundert viel und | viel gescholten, Helena.

Der T. zeichnet sich durch Ernst und feierlichen Gang aus, derdurch die erlaubten Spondeen noch würdevoller gemacht wird.Die Komödiendichter behandeln ihn übrigens viel freierals die Tragiker, namentlich geben sie ihm durch Einführungvon Anapästen an Stelle der Spondeen einen leichternCharakter. Von unsern Dichtern haben den T. Goethe in der "Helena",Schiller in einigen Szenen der "Jungfrau", Platen in seinenLitteraturkomödien in Anwendung gebracht. Die Versuche andrer,wie Minckwitz, Märcker etc., ihn für großeTragödien zu verwenden, sind als mißlungen zubezeichnen.

Trimethylamin, s. Methylamine.

Trimm, Timothée, Pseudonym, s. Lespès.

Trimmen (engl., auch trümmen), die nicht inStückgütern bestehende Schiffsladung (Getreide, Kohlenetc.) eben schaufeln, um sie im Schiffsraum angemessen zuverteilen. Das Schiff ist in gutem Trimm, wenn es gerade tief genuggeladen, weder zu viel noch zu wenig achterlastig ist.

Trimorphismus (griech.), Dreigestaltung, s.Heteromorphismus.

Trimurti, im Religionssystem des neuern Brahmanismus dieVereinigung der bis dahin ziemlich unvermittelt nebeneinanderstehenden drei großen Götter Brahma als desSchöpfers, Wischnu als des Erhalters, Siwa als desZerstörers, ausgegangen von dem Bestreben, die verschiedenenReligionsele-

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Trinakria - Trinität.

mente gegen den Buddhismus und andre feindliche Strömungenzu verbinden. Verehrt wird die T. in einem dreiköpfigen Bildaus einem Stein, das vorn den Brahma mit dem Almosentopf und demRosenkranz, rechts den Wischnu u. links den Siwa darstellt.

Trinakria (Thrinakia), altertümlicher und poetischerName der Insel Sizilien wegen ihrer dreieckigen Gestalt.

Tring, Stadt im westlichen Hertfordshire (England), hatStrohhut- und Stuhlfabriken, einen Park mit Schloß, welchesKarl II. seiner Mätresse Nell Gwynne schenkte, und (1881) 4354Einw.

Tringa, Strandläufer (Vogel).

Trinidad, 1) britisch-westind. Insel, die südlichsteund größte der Kleinen Antillen, an der östlichenNordküste von Venezuela vor der Mündung des Orinokogelegen. Die Insel wird von O. nach W. von drei parallelenBergketten durchkreuzt, von denen die nördliche im Cerro deAripo 945 m Höhe erreicht, und zwischen denen zwei von Meer zuMeer reichende Ebenen liegen. Flüsse und auch Sümpfe sindzahlreich. Bei Brea liegt der merkwürdige Asphaltsee (PitchLake), und Schlammvulkane sind bei der Südwestspitzevorhanden. In seiner Pflanzen- und Tierwelt gehört T. eher zumnahen Kontinent als zu den Antillen. Palmen und Zedern bedeckengroße Strecken. Von Tieren sind Affen, Tigerkatzen,Ameisenbären, ferner Hirsche, wilde Schweine, Gürteltiereund Beuteltiere, dann Schlangen, Alligatoren und Schildkrötenzu nennen. Das Klima kennt eine trockne Jahreszeit, die vonDezember bis Mai anhält. Die mittlere Temperatur von Port ofSpain ist 25,5° C., und es fallen 1950 mm Regen. Stürmewüten im Oktober fast täglich. T. hat ein Areal von 4518qkm (82,5 QM.) und (1887) 183,486 Einw. (1871: 109,638). Nur 40,500Hektar sind angebaut. Hauptprodukt ist Zucker, und außerdemwerden Kaffee, Kakao und Baumwolle gebaut und Kokospalmen sowieNahrungspflanzen gezogen. Die Viehzucht ist ohne Bedeutung. DenVerkehr vermitteln (1887) 88 km Eisenbahnen. Die günstige Lagein der Nähe der Orinokomündung ist dem Handelförderlich. Der Wert der Ausfuhr war 1887: 1,870,612 Pfd.Sterl., diejenige der Einfuhr 1,918,670 Pfd. Sterl. T. erfreut sichseither keiner repräsentativen Verfassung. Seine Revenüeist (1887) 456,167 Pfd. Sterl. bei einer Schuldenlast von 562,440Pfd. Sterl., großenteils durch Einführung von Kulisentstanden. Hauptstadt ist Port of Spain (31,858 Einw.) an derWestküste. Geräte, Vasen und Glaspasten, welche man aufT. findet, machen es wahrscheinlich, daß die Insel in derVorzeit eine weit zivilisiertere Bevölkerung gehabt habe, alsdie Kariben waren, die man bei der Entdeckung der Insel vorfand. T.wurde von Kolumbus 31. Juli 1496 entdeckt, aber die Spanier nahmenerst 1588 Besitz von der Insel. Später siedelten sichFranzosen unter spanischer Hoheit auf T. an und brachten denPlantagenbau zu hoher Blüte. Endlich 1797 wurde die Insel fastohne Schwertstreich eine britische Kolonie. Die 1838 verfügteEmanzipation sämtlicher Negersklaven der Insel (über20,000) hatte den Verfall der Bodenkultur und Zuckerproduktion imGefolge. In neuerer Zeit hat sich dieselbe durch Herbeiziehung vonKulis aus Ostindien wieder sehr gehoben. S. Karte "Antillen". Vgl.Borde, Histoire de l'ile de la T. sous le gouvernement espagnol(Par. 1876-1883, 2 Bde.); Wall u. Sawkins, Geological survey of T.(Lond. 1860); Clark, T., a field for emigration (Port of Spain1886); Collens, Guide to T. (2. Aufl. 1889). - 2) (T. de Cuba,Maritima de T.) Stadt auf der Südküste der Insel Cuba,inmitten von Palmenhainen, an der Casildabai, 1514 gegründet,hat 2 höhere Schulen, lebhafte Ausfuhr von Zucker undHölzern und (1877) 27,654 Einw. T. ist Sitz eines deutschenKonsuls. - 3) (T. de Mojos) Hauptstadt des Departements Beni in dersüdamerikan. Republik Bolivia, 1687 von den Jesuiten im Landeder Mojosindianer gegründet, 10 km nördlich von RioMamoré entfernt, mit (1882) 4535 Einw.

Trinitapoli (früher Casaltrinita), Stadt in derital. Provinz Foggia, an der Eisenbahn Ancona-Brindisi und am Lagodi Salpi, mit (1881) 7789 Einw. Von hier bis nach Barlettaerstrecken sich Lagunen, welche zur Seesalzgewinnung ausgebeutetwerden.

Trinitarierorden (Dreifaltigkeitsorden, regulierteChorherren, Ordo S. Trinitatis de redemptione captivorum), Orden,gestiftet 1198 von Johannes von Matha und Felix von Valois, zweiEinsiedlern in der Diözese Meaux, und von dem Papst InnocenzIII. 1198 bestätigt, setzte sich die Loskaufung gefangenerChristensklaven von den Sarazenen zum Zweck und fand von seinemMutterhaus Cerfroy (Aisne) aus schnell Verbreitung, vorzüglichin Südeuropa. Ein Nachlassen in der Strenge des Wandelsführte einige Reformen des Ordens herbei; namentlichentstanden in Spanien 1596 die Trinitarier-Barfüßer. DieMönche trugen weiße Kleider mit einem roten und blauenKreuz auf der Brust. Weil sie nur auf Eseln reisten, ward der Ordenvom Volk Eselsorden (ordo asinorum), die MitgliederEselsbrüder genannt. Mathuriner hießen die Trinitarierin Frankreich von einer Kapelle in Paris, die dem heil. Mathuringeweiht war. Zu gleichem Zweck und unter gleicher Regel schlossensich dem Orden 1201 regulierte Chorfrauen (Trinitarierinnen) ansowie Trinitarier-Tertiarier und die Brüderschaft zumSkapulier der heiligen Dreieinigkeit, die 1584 reguliert wurden.Der Orden ist jetzt erloschen, nachdem er angeblich 900,000Gefangene losgekauft hat. Vgl. Gmelin, Die Trinitarier inÖsterreich (Wien 1871).

Trinität (Trias, Dreieinigkeit, Dreifaltigkeit),nach der christlichen Kirchenlehre die Beschaffenheit desgöttlichen Wesens, wonach dasselbe unbeschadet seiner Einheitdrei Personen, Vater, Sohn und Heiligen Geist, in sich begreift.Die Lehre von der T., die besonders auf die Taufformel Matth. 28,19 und auf die unechte Stelle 1. Joh. 5, 7 basiert ward, bildetesich als charakteristisch für das Christentum (s. d.) imVerlauf von drei Jahrhunderten zu derjenigen dogmatischen Fixierungaus, in welcher sie seitdem in den öffentlichenBekenntnisschriften aller christlichen Kirchen, die unitarischenausgenommen, auftritt. Und zwar wurde zunächst auf den beidengroßen Synoden von 325 und 381 (s. Arianischer Streit undNicänisch-konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis) dievolle Gottheit des Sohns und Geistes festgestellt, ihrpersönliches Verhältnis zum Vater aber sowie ihre Einheitin der T. vornehmlich durch Meletius, Gregor von Nazianz, Gregorvon Nyssa und Basilius formuliert. Im Abendland siegte durch dassogen. Athanasianische Bekenntnis die eigentümlichsymmetrische, von Augustin herrührende Form des Dogmas,während im Morgenland doch immer der Vater eigentlicher Gott,"Anfang und Quelle der Gottheit", blieb, von welchem auf der einenSeite der Sohn erzeugt wird, auf der andern der Geist ausgeht: einRest des Paulinischen Subordinatianismus (s. Christologie). DieLehre von der T. ging ohne alle weitere Durchbildung samt

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Trinitatisfest - Trinkgelage.

dem abendländischen Filioque (s. Heiliger Geist) in dieevangelische Kirche über, ja es ward der scholastischeLehrbegriff von den altprotestantischen Dogmatikern nur nochsystematischer durchgeführt. Vgl. Baur, Die christliche Lehrevon der Dreieinigkeit (Tübing. 1841-43, 3 Bde.); Meier, DieLehre von der T. (Hamb. u. Gotha 1844, 2 Bde.).

Trinitatisfest (Festum trinitatis), Fest zur besondernVerehrung der göttlichen Dreieinigkeit, wurde im 11. Jahrh.zuerst in den Klöstern gefeiert, auf der Synode von Arles 1260in Frankreich eingeführt und vom Papst Johann XXII. 1334 zueinem allgemeinen Kirchenfest erhoben. Es fällt auf den erstenSonntag nach Pfingsten; die darauf folgenden Sonntage bis zum Endedes Kirchenjahrs heißen Trinitatissonntage. Die griechischeKirche begeht das T. an einem der beiden Pfingstfeiertage.

Trinitrin, s. Nitroglycerin.

Trinitrokarbolsäure, s. Pikrinsäure.

Trinitrophenyl, s. Pikrinsäure.

Trinity House (spr. trinniti haus'), "Haus derDreieinigkeit", eigentlich "Korporation der ältern Brüderder heiligen und ungeteilten Dreieinigkeit", eine bereits 1518 inEngland geschaffene Behörde, welche mit der Anlage undUnterhaltung von Leuchtfeuern, Land- und Seemarken beauftragt istund das Lotsenwesen leitet. Ihr Sitz ist Trinity House beim Towervon London. Nur Seeleute werden als "jüngere" Brüderzugelassen. Die "ältern" Brüder ergänzen sich ausihnen. An der Spitze steht ein "Master".

Trinityland, s. Südpolarländer.

Trinity River, Fluß im nordamerikan. Staat Texas,entspringt im N. desselben, ist wasserreich und mündet nach530 km langem Lauf in die Galvestonbai. Er ist 300 km weitschiffbar.

Trinkerasyle, s. Trunksucht.

Trinkgefäße, aus Metall, Thon, Glas und andernMaterialien hergestellte Gefäße, deren Grundformen dertiefe Napf, die flachere Schale und der cylindrische Becher sind.Wie noch heute bei den Naturvölkern ausgehöhlteKürbis- oder Melonenschalen, Kokosnüsse u. dgl. als T.dienen, so wird auch bei den Urvölkern der aus ähnlichenStoffen hergestellte Napf das erste Trinkgefäß gewesensein, der bei wachsender Kultur dann aus Thonerde geformt undgebrannt wurde, und aus welchem durch Hinzufügung einesFußes die Schale entstand. Schale und Becher sind die T. inden Homerischen Gedichten. Zu einem Trinkgefäß(Trinkschädel) hergerichtete Menschenschädel werden inprähistorischen Fundstätten hier und da angetroffen(Byciskálahöhle in Mähren). Die Sitte, aus denSchädeln der Feinde zu trinken, war im Altertum bei vielenVölkern (Kelten, Bojern und Skordiskern) verbreitet. Auch dieSchädel der christlichen Märtyrer und Heiligen wurden infrühmittelalterlicher Zeit in Kirchen und Klösternsorgfältig aufbewahrt und vielfach als T. benutzt. In demMaß, als sich die Thonbildnerei und die Metallotechnik derGriechen entwickelten, nahmen die T. die mannigfaltigsten Formenan. Kantharos, Kylix und Phiale sind die Hauptnamen für Becherund Schalen zum Trinken (s. die einzelnen Artikel, vgl. auchKeramik und Vasen). Die Römer trieben einen besondern Luxus inTrinkgefäßen aus Edelmetall und Kristall. SilberneBecher aus römischer Zeit haben sich noch erhalten (s.Hildesheimer Silberfund). Im Mittelalter entwickelte sich aus demAbendmahlskelch als bevorzugtes Trinkgefäß beifeierlichen Gelegenheiten der Pokal, ein auf einen mehr oder minderhohen, gegliederten Fuß gestellter Becher mit und ohneDeckel, während im gewöhnlichen Gebrauch Humpen, Krug,Kanne und Becher die üblichen T. waren. Die Ausbildung derGlasindustrie brachte neue Formen der T. auf, welche man unter demallgemeinen Namen Gläser begreift. Die Formen wurdenspäter durch die Flüssigkeit bedingt, für welche dieT. bestimmt waren. Näheres über die Formen derverschiedenen T. findet man in den einzelnen Artikeln: Humpen,Paßglas, Pokal, Römer, Stengelgläser, Trinkhorn,Willkomm etc.

Trinkgelage, festliche Vereinigung zum Zweck des Genussesgeistiger Getränke. Bei den Griechen begann das T. (Symposion)nach der Beendigung des eigentlichen Festmahls (s. Gastmahl), wennder Nachtisch aufgetragen und dem guten Geist ein Trankopferdargebracht worden war. Gäste, welche an dem T. nichtteilnehmen wollten, waren berechtigt, sich beim Auftragen desDesserts zu entfernen. Getrunken wurde nur mit kaltem oder warmemWasser gemischter Wein; das kalte Getränk wurde noch mitSchnee gekühlt. Die Mischung selbst geschah imMischgefäß (krater), gewöhnlich im Verhältnisvon 3 Teilen Wasser zu einem Teil Wein, höchstens von 3 TeilenWasser zu 2 Teilen Wein; aus dem Krater wurde dann das Getränkmit dem Schöpfer (oinochoe) in die Becher gefüllt. Mantrank rote, weiße und gelbe Weine und mischte diese Sortenmiteinander, namentlich magere, aber boukettreiche Weine mitfetten, auch wurden Würzen oder Honig oder sogarWohlgerüche zugesetzt. Auch Obstweine wurden genossen. DieLeitung des Gelages übernahm ein von der Gesellschaftgewählter oder durch das Los (bez. Würfel) bestimmterVorsteher (Symposiarch, basileus, archon tes poseos). Dieser setztedas Mischungsverhältnis fest, bestimmte die Zahl der denTrinkern zu verabreichenden Becher, die Regel, nach denen getrunkenwerden mußte, und legte bei Zuwiderhandlungen gegen dieseRegeln Strafen auf, die gewöhnlich darin bestanden, daßein Becher in einem Zuge geleert werden mußte. Wenn es aufstarkes Trinken angelegt wurde (pinein pros bion), mußtentüchtige Quantitäten geschluckt werden. Auch dasZutrinken zur Rechten um den Tisch herum (epi dexia) und dasVortrinken von Person zu Person waren Sitte. Nicht mindermußte Strafe trinken, wer die vom Symposiarchen gestellten,oft scherzhaften Aufgaben, scherzhaften Rätsel und Fragen oderallerlei schwer ausführbare Kunststückchen nichtlöste. Bei diesen Gelagen herrschte großeUngezwungenheit des Tons und geistreiche, witzige Unterhaltung. ZurErhöhung des Genusses traten Flöten- undZitherspielerinnen (Kitharistinnen) auf, jugendliche Sklavenproduzierten mimische Darstellungen, und selbst Gaukler undGauklerinnen wurden herbeigezogen. Wer im Wettkampf das Feldbehauptete, erhielt zur Belohnung einen Kuchen; die Eingeschlafenenwurden verhöhnt und mit Wein begossen. In Rom wurde dieAbhaltung besonderer T., welche sich ebenfalls an die Hauptmahlzeit(coena) anzuschließen pflegten, erst allgemeiner, als dieRömer griechische Sitten angenommen hatten. Auch hier wurdedas Trinken systematisch betrieben, und man hielt sich ziemlichstreng an das griechische Vorbild. Eine besondere Sitte bildete dasad numerum bibere, wobei man so viele Becher leerte, als der Namedes zu Feiernden Buchstaben enthielt, oder so viele Lebensjahre manihm wünschte. Das in der Runde Trinken (circumpotatio) artetenamentlich bei den Leichenschmäusen derartig aus, daßdieser althergebrachte Brauch durch besondere Gesetze der Dezemvirnver-

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Trinkgeld - Trinkhorn.

boten wurde. Während des Gelages spendete man denGöttern zahlreiche Libationen. Um den Durst zu reizen, wurdenpikante Leckerbissen serviert (bellaria). Eigentümliche T.finden im Orient, namentlich in der Türkei, statt und zwar vordem Abendessen bei Gelegenheit des Servierens einesappetitreizenden Imbisses (Tschakmak-Zechen). Man trinkt nurBranntwein (Raki oder Mastika), erst mit Wasser verdünnt, nachund nach aber immer ungemischter, und diese mit dem unschuldigenTitel eines Imbisses belegten Gelage werden oft stundenlangfortgesetzt und arten schließlich zu wüsten Saufereienaus. Die schiitischen Perser huldigen aber dem Wein. Ein Zechgelagein Persien führt den anspruchslosen Namen einer Bewirtung(mihmani), wird im Enderun (Harem) abgehalten und zwar nach demNachtmahl. Die persische Trinketikette ist sehr lax, siebeschränkt sich im wesentlichen darauf, daß der Trinkersich hüten muß, den Bart beim Trinken zu benetzen sowieKleider und Fußboden mit vergossenem Wein zu verunreinigen.Diese Gelage arten zu wahren Orgien aus; sie werden inöffentlichen Gärten, ja sogar auf den Friedhöfenarrangiert. Indes beteiligen sich an solchen Festen nur die Spitzender Gesellschaft. Bei den Deutschen finden wir schon aus denältesten Zeiten Nachrichten über T. Dieselben hattenzugleich eine religiöse Grundlage: die Seligkeit in Walhallabestand vornehmlich in der Teilnahme an den ewigenGöttergelagen, bei denen die Helden Met und nur Odin Weinzechten. An Stoff konnte es nie fehlen, denn dieunerschöpfliche Ziege des Heidrun füllte stets die Schalemit schäumendem Met. Auf Erden wurden zu Ehren der Göttermancherlei Trinkfeste veranstaltet, den Göttern selbst wurdenreichliche Libationen ausgebracht, anfänglich von Met,später von Wein. So oft der Priester opferte, goß er einHorn zu den Füßen des Götzen aus, füllte eswieder und trank es ihm zu. In den Tempeln wurden die Becher infolgender Ordnung geleert: der erste zu Ehren Odins, der zweite zuEhren Thors und der Freyja, der dritte zum Gedächtnisberühmter Helden (Bragakelch) und der vierte zum Andenkenabgeschiedener Freunde (Minnebecher). So wurde das Trinken und dasAbhalten von förmlichen Trinkfesten zur eigentlichenVolkssitte. Schon zu Anfang des 6. Jahrhunderts war sie ganzallgemein. "Sänger sangen Lieder und spielten die Harfe dazu;umher saßen Zuhörer bei ehernen Bechern und tranken wieRasende Gesundheiten um die Wette. Wer nicht mitmachte, wardfür einen Thoren gehalten. Man muß sich glücklichpreisen, nach solchem Trinken noch zu leben." So erzählt derrömische Schriftsteller Venantius Fortunatus. Ingefüllten Bechern brachte man sich die durch die Sittevorgeschriebenen Höflichkeiten dar: Willkommen, Valettrunk,Ehrentrunk, Rund-, Kundschafts- und Freundschaftstrunk. Hieranschloß sich das nach ganz bestimmten Regeln geordnete Zu- undVortrinken, das Wett- und Gesundheittrinken (s. d.). So pflanztesich die Sitte festlicher T. bis zum Mittelalter fort; sie wurdenabgehalten in den Burgen der Ritter, in den Festsälen derStädte, an den Höfen der Fürsten und selbst auch inden Refektorien der Klöster. Über das Trinken bestandenganz bestimmte durch Trinkordnungen festgestellte Gesetze, z. B.die Hoftrinkordnung des sächsischen Kurfürsten ChristianII. Die Chroniken des 15. und 16. Jahrh. berichten über diemit größter Verschwendung und Pracht gefeiertenTrinkfeste an den Höfen unglaubliche Dinge; der Wein wurde ingroßen Massen getrunken, und am Schluß des Gelagespflegte die Trunkenheit eine allgemeine zu sein. Besondersberühmt sind die Zechgelage am Hof Augusts des Starken, wo diesächsischen Kavaliere die Aufgabe hatten, ihre polnischenStandesgenossen unter den Tisch zu trinken. Eine besondere Abartbildeten die studentischen Zechgelage; besonders dieUniversität Tübingen war durch Handhabung von Trinkregelnberühmt. Ein wahrhaft vorzügliches Gemälde einesStudentengelages jener Zeit gibt Michael Moscherosch in seinen"Wunderlichen und wahrhaften Gesichten Philanders von Sittewalt".Ebenso gibt Hans Sachs in seinem Gedicht "Wer erstlich hat erfundendas Bier" eine drastische Beschreibung eines Saufgelages. In derGegenwart werden eigentliche T., d. h. Festversammlungen, bei denendas Trinken Alleinzweck ist, nicht mehr abgehalten. Nur derstudentische Kommers gehört in diese Kategorie. Freilichgreift die Sitte, Kommerse abzuhalten, mehr und mehr auch in andre,nicht studentische Kreise. Im gewissen Sinn kann man die englischeSitte, daß die Damen nach dem Diner den Tisch verlassen,während die Herren zum fröhlichen und starken Zechenbeisammen bleiben, als die Abhaltung von Trinkgelagen bezeichnen.Vgl. Schultz, Geschichte des Weins und der T. (Berl. 1868);Samuelson, History of drink (2. Aufl., Lond. 1880); Rogers, Drinks,drinkers and drinking (Albany 1881).

Trinkgeld, die Extravergütung, welche fürDienstleistungen insbesondere an Kellner, Dienstboten, Kutscheretc. gezahlt wird. Ursprünglich wohl zu einem dem Wortsinnentsprechenden Zweck gegeben, hat das T. heute vielfach dieBedeutung einer vollständigen Bezahlung für dieDienstleistung angenommen. Infolgedessen kommt es sogar vor,daß Leute, welche Trinkgelder empfangen, wie Kellner,Hausknechte, Portiers etc., für ihre Stellen eine Art Pachtentrichten. Mit übler Nebenbedeutung wird das Wort T. auchfür Bezahlungen angewandt, welche aus Gründen der Moralnicht angeboten und angenommen werden sollten. Das Wort hat sichauch in der französischen Sprache eingebürgert. Inneuerer Zeit wurde mehrfach gegen die sich immer weiterverbreitende Sitte, Trinkgelder zu geben, oder gegen dasTrinkgelderunwesen angekämpft. Vgl. Jhering, Das T. (3. Aufl.,Braunschw. 1888).

Trinkhorn, ein schon im Altertum gebräuchlichesTrinkgefäß, welches ursprünglich ausTierhörnern angefertigt, von den Griechen aber, wie dasRhython, dessen Mündung von einem Tierkopf gebildet wurde(vgl. Abbild.), zur Zeit verfeinerter Kultur in Thon und Metallnachgebildet wurde. Die alten Germanen tranken ausTierhörnern, u. diese wurden im gotischen MittelalterGegenstand künstlerischer Verzierung, indem sie in Metall,vornehmlich in vergoldetes Silber, gefaßt und mit einemFuß oder gar mit einem architektonischen Unterbau versehenwurden. Neben Tierhörnern wurden auch ausgehöhlteElefantenzähne, später Rhinozeros- und Narwalzähnebenutzt, welche entweder nur poliert, oder mit Schnitzereienverziert wurden. Die Renaissance bildete das

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Trinkitat - Tripitaka.

T. zu einem Prunkgefäß von höchstem Luxus aus.Zuletzt wurden auch die Hörner selbst in Glas und Silbernachgebildet. Jetzt dienen sie meist als Schaustücke.

Trinkitat, Hafenplatz am Roten Meer, südöstlichvon Suakin. Hier Niederlage Baker Paschas 4. Febr. 1884 durch dieMahdisten, worauf Baker nach Suakin zurückkehrte; dagegensiegte der hier gelandete General Graham 29. Febr. d. J. bei El Teb(s. d.).

Trinkonomali, stark befestigte Haupt- und Hafenstadt desOstdistrikts von Ceylon, auf einer schmalen Halbinsel 65 m ü.M. gelegen, mit einer katholischen und evang. Mission, Hindutempelnund Moscheen und (1881) 10,000 Einw. T. ward den Holländern1782 von den Engländern entrissen, mußte sich jedochschon 30. Aug. d. J. an die Franzosen ergeben. Letztere gaben dieStadt den Holländern zurück; allein diese verloren sie1795 abermals an die Engländer, welche sie seitdem im Besitzbehielten.

Trino, Stadt in der ital. Provinz Novara, Kreis Vercelli,hat ein Gymnasium, eine Kollegiatkirche, einige Paläste,starke Schweinezucht (treffliche Schinken), Reisbau und (1881) 8267Einw.

Trinomium (griech.), dreigliederigeZahlengröße, z. B. a+b+c; trinomisch, dreigliederig.

Trinucleus, s. Trilobiten.

Trio (ital.), eine Komposition für drei Instrumente;insbesondere nach heutigem Sprachgebrauch jede in Sonatenformgeschriebene Komposition für Klavier, Violine und Cello(Klaviertrio) oder eine solche für Violine, Bratsche und Cellooder für zwei Violinen und Cello (Streichtrio). Alle andernKombinationen von Instrumenten müssen näher bezeichnetwerden. Kompositionen im ältern Stil (aus dem 17.-18. Jahrh.)werden häufig als T. bezeichnet, wenn sie für dreikonzertierende Instrumente geschrieben sind (z. B. zwei Violinenund Viola di Gamba), zu denen als viertes nicht mitgezähltesdas einen Basso continuo ausführende Instrument (Cello,Theorbe, Klavier, Orgel) kommt. - Bei Tanzstücken (Menuettenetc.), Märschen, Scherzi etc. für Klavier heißt T.ein dem lebhaftern und rauschendern Hauptthemagegenüberstehender Mittelsatz von ruhigerer Bewegung undbreiterer Melodik und zwar darum, weil solche Sätzchenfrüher dreistimmig gesetzt zu werden pflegten, währenddas Hauptthema sich überwiegend zweistimmig hielt. - Auchdreistimmige Orgelstücke für zwei Manuale und Pedal, alsofür drei Klaviere, deren jedes anders registriert ist, sodaß sich die drei Stimmen scharf gegeneinander abheben, wirdT. genannt. Eine Eigentümlichkeit des Orgeltrios ist,daß die eine Hand eine gebundene Melodie in derselben Tonlagevortragen kann, in welcher die andre (auf dem zweiten Klavier)Figurenwerk ausführt.

Trioecus (griech., "dreihäusig"), Bezeichnungfür polygamische (s. Polygamus) Pflanzen, derenmännliche, weibliche und zwitterige Blüten auf dreiverschiedene Exemplare verteilt sind.

Triole, eine Figur von drei gleichen Notenwerten, die soviel gelten sollen wie zwei derselben Gattung bei dervorgeschriebenen Taktteilung. Eine T. anzunehmen, welche fürvier Noten einträte, liegt kein Grund vor: [siehe Bildansicht]Die T. wird meist durch eine übergeschriebene 3 als solchegekennzeichnet.

Triolett (franz.), Gedicht von 8-12 Zeilen, welche nurzwei Reimlaute haben. Die beiden ersten Verse enthalten denHauptgedanken und werden am Schluß wiederholt, und da dererste Vers auch in der Mitte vorkommt, so erscheint derselbe imganzen dreimal, was zur Bezeichnung des kleinen Gedichts dieVeranlassung gab. Die Reimstellung beim T. ist also (wobei wir diewiederkehrenden Zeilen mit großen Lettern bezeichen): ABb AabAB. Ein Gedicht von drei Strophen in der Form des Trioletts, aberohne die Wiederholung des ersten Verses in der Mitte, wofürein neues Reimpaar eintritt, nennt man Rondel (Geibels Lied: "Wennsich zwei Herzen scheiden" etc.).

Trionyx. s. Schildkröten, S. 471.

Tripang, s. v. w. Trepang.

Tripartition (lat.), Dreiteilung.

Tripel (franz. triple), dreifach.

Tripel, mattes, gelblichgraues bis gelbes, mageranzufühlendes, zerreibliches Mineral, welches Wasser einsaugtund dadurch erweicht, enthält 90 Proz.Kieselsäureanhydrid, etwas Thon und Eisenoxyd und hat seinenNamen von der Stadt Tripolis in Syrien (daher terra Tripolitana),kam früher nur aus der Levante in den Handel, wird jetzt aberauch in Böhmen, Sachsen, Tirol und Bayern gewonnen und zumPolieren von Glas, Metallen und Edelsteinen, auch zuGußformen benutzt. Übrigens gebraucht man mancherleiKieselablagerungen organischen und anorganischen Ursprungs zuähnlichen Zwecken, so den sogen. Moderstein (rotten stone) ausDerbyshire in England. Vgl. Polierschiefer.

Tripelallianz (Dreibund), Bund zwischen dreiMächten. Berühmt und vorzugsweise T. genannt ist dasBündnis zwischen England, den Niederlanden und Schweden,welches Temple (s. d.), de Witt und Graf Dohna 23. Jan. 1668 imHaag abschlossen, und welches gegen die EroberungspläneLudwigs XIV. in den spanischen Niederlanden gerichtet war. DieFolge der T. war der Friede von Aachen (1. Mai 1668).

Tripeltakt, s. v. w. dreiteiliger Takt (3/1, 3/2, 3/4,3/8, 9/8, 9/16). Der 6/4- und 6/8-Takt dagegen sind als zweiteiligeTakte (durch 3 untergeteilt) anzusehen, wenn nicht die Bewegung solangsam ist, daß die Sechstel (Einheiten der Doppeltriole)als Einheiten (nach denen gezählt wird) empfunden werden.

Tripes (lat.), Dreifuß.

Triphan (Spodumen), Mineral aus der Ordnung der Silikate(Augitreihe), findet sich in monoklinen Kristallen, gewöhnlichaber derb in breitstängeligen und dickschaligen Aggregaten. T.ist graulichweiß, grünlichweiß bis grün,glasglänzend, durchscheinend, Härte 6,5-7, spez. Gew.3,13-3,19, besteht aus Lithiumaluminiumsilikat Li2Al2Si4O12, istgewöhnlich etwas natrium- oder calciumhaltig, kommt inGraniten und Gneisen in Tirol, auf der Insel Utöen, inSchottland und Massachusetts vor und wird zur Darstellung vonLithiumpräparaten benutzt. Eine Varietät des T. ist derHiddenit (s. d.).

Triphaena, s. Eulen, S. 907.

Triphylin, Mineral aus der Ordnung der Phosphate,kristallisiert rhombisch, findet sich fast nur derb inindividualisierten Massen oder großkörnigen Aggregaten,ist grünlichgrau, blau gefleckt, fettglänzend,kantendurchscheinend, Härte 4-5, spez. Gew. 3,5-3,6, bestehtaus phosphorsaurem Lithion mit etwas Natron und phosphorsauremEisen- und Manganoxydul (LiNa)3PO4+(FeMn)3P2O8, findet sich beiBodenmais in Bayern, Norwich in Massachusetts, Grafton in NewHampshire.

Tripitaka ("Dreikorb"), zusammenfassende Bezeichnung derheiligen Schriften der südlichen Buddhisten, bestehend aus dendrei Abteilungen Winaja (Disziplin), Sûtra (Aussprüche)und Abhidharma

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Tripla - Tripolis.

(Metaphysis). Der singhalesische Name ist Tunpitaka, imPâli heißen sie Pitakattajan.

Tripla (Proportio t.), in der Mensuralmusik dergroße Tripeltakt (Longa = 3 Breves), während der kleine(Brevis = 3 Semibreves) Sesquialtera hieß.

Triplet, s. Lupe.

Triplexbrenner, s. Lampen, S. 435.

Triplik (lat.), im rechtlichen Verfahren die Beantwortungder Duplik des Beklagten durch den Kläger; triplizieren, dieT. abgeben.

Triplit (Eisenpecherz, mit welchem Namen aber auch derStilpnosiderit belegt wird), Mineral aus der Ordnung der Phosphate,nur derb, in großkörnigen Aggregaten, ist braun,fettglänzend, undurchsichtig, Härte 5-5,5, spez. Gew.3,6-3,8, besteht aus phosphorsaurem Eisen- und Manganoxydul mitFluoreisen und Fluormangan (FeMn)3P2O6+(FeMn)Fl2, enthält auchetwas Calcium und Magnesium; Limoges in Frankreich, Schlaggenwaldin Böhmen, Pritau in Schlesien und in Argentinien.

Triplum (lat.), das Dreifache; triplieren,verdreifachen.

Tripmadam, s. Sedum.

Tripode (Tripus, griech.), s. v. w. Dreifuß.

Tripodie (griech.), eine aus drei Versfüßenbestehende metrische Periode.

Tripolis (türk. Tarablusi Gharb, auch Tripolitaniengenannt), der östlichste unter den Staaten der Berberei (s.Karte "Algerien"), am Mittelländischen Meer zwischen Tunis undÄgypten gelegen, umfaßt mit Fezzan und Barka 1,033,000qkm (18,760 QM.). Es bildet eine nur von niedrigenHöhenzügen unterbrochene Ebene und ist namentlich an derKüste meist niedrig und sandig. Während die westlichenKüstengegenden ziemlich bewässert und fruchtbar sind, istder östlich vom Kap Mesurata am Golf von Sidra gelegeneLandstrich Sort (Wüste) mit Dünen und Salzsümpfenbedeckt. Nach dem Innern zu erstreckt sich die Ebene im W. bis andie 900 m hohen Schwarzen Berge, welche die Nordgrenze Fezzansbilden und tief eingeschnittene Wadis zeigen, die zum Teil eineüppige Vegetation hervorbringen. Das Klima hat einen mehrkontinentalen Charakter als in den übrigen Uferländerndes Mittelmeers, an der Küste herrscht eine Mitteltemperaturvon 20-22, in der Oase Dschofra 30° C.; dagegen soll hier auchSchnee gefallen sein, ebenso wie auf den Schwarzen Bergen. DerRegenfall ist an der Küste gering, bleibt im Innern sogarjahrelang aus. Die Einwohner (1 Mill.) sind in den StädtenMauren, auf dem Land arabische Beduinen, Berber und Neger undbekennen sich sämtlich zum Islam. Außer ihnen gibt eszahlreiche Juden und in der Stadt T. auch Europäer. DieBeduinen treiben vornehmlich Viehzucht, die Mauren Handel, meistKarawanenhandel. Man baut Weizen, Krapp, Safran, Lotusbohnen,Datteln (die Zahl der Dattelpalmen soll 2 Mill. betragen),Südfrüchte aller Art, Oliven, Johannisbrot und gewinntaus den Seen u. Sümpfen an der Küste Salz u. Schwefel.Münzeinheit ist der türkische Piaster (Girsch), = 40 Para(Abu Aschrin). Fünffranken zirkulieren, wie in ganzNordafrika, sehr häufig. Die Flagge s. auf Tafel "Flaggen I".Die Industrie liefert schöne Seiden-, Wollen- u.Baumwollenstoffe, Leder, Waffen und verschiedene Metallwaren. DieHandelsbewegung ist nach dem Süden von T. (nach demSudân, Bornu, Wadai) eine sehr lebhafte. T. gilt alsSchlüssel zum Sudân. Leider ist das Land noch sehr wenigerforscht. Hauptgegenstände der Ausfuhr sind: Öl,Getreide, Schlachtvieh, Wolle, Rindvieh, Krapp, Halfa und Ginster.Handelsgegenstände, die durch Karawanen aus dem Innern kommen,sind: Straußfedern, Elfenbein, Gummi, Aloe,Sennesblätter und andre Droguen. Eingeführt werdenManufaktur-, Fabrik- und Kolonialwaren, Spirituosen, Droguen,Seife, Tabak, Eisen, Bauholz etc. Die Haupthäfen, T. undBengasi, vermitteln fast ausschließlich den Verkehr mit demAusland. Die Post hatte 1886: 33, die Telegraphen 12 Ämter. T.bildet ein Wilajet des türkischen Reichs unter einem von derPforte eingesetzten Generalgouverneur und wird in fünfSandschaks eingeteilt.

Die gleichnamige Hauptstadt (arab. Tarabolos), auf einerLandzunge am Mittelländischen Meer gelegen, hat hohe Mauern,einen Palast des Generalgouverneurs, enge, aber reinlicheStraßen, einen durch Batterien gedeckten, aber wenig sichernHafen, in den 1887: 1206 Schiffe (311 Dampfer) von 344,666 Ton.einliefen, eine kath. Kapelle, 12 Moscheen, mehrere Synagogen,schöne öffentliche Bäder, Bazare, Karawanseraien,Schulen, Hotels, lebhaften Handel, Fabrikation von Korduan,Wollen-, Seiden- und Baumwollenstoffen etc. und 30,000 Einw.,worunter 4-5000 Italiener und Malteser. Die Umgebung, Meschijagenannt, ist auf viele Kilometer bedeckt mit Palmenhainen, in denen30,000 Menschen in zahllosen Wohnungen verstreut sind. T. stehtdurch Dampferlinien mit den tunesischen Häfen und mit Malta inVerbindung und ist Sitz eines deutschen Konsuls. - T. ist das alteÖa und ward mit den benachbarten Städten Sabratha undGroß-Leptis von den sizilischen Griechen unter dem Namen T.zusammengefaßt. In der Umgegend finden sich noch vieleAltertümer. T. bildete im Altertum ein mittelbares GebietKarthagos, die sogen. Regio Syrtica. Nach dem zweiten PunischenKrieg ward es von den Römern den numidischen Königenüberlassen, nach deren Unterwerfung zu der römischenProvinz Africa geschlagen. Unter Septimius Severus wurde im 3.Jahrh. n. Chr. die Provincia Tripolitana gebildet mit Öa alsHauptstadt, auf welche sodann der Name T. überging. Nach derInvasion der Araber im 7. Jahrh. teilte T. die Geschicke derBerberei. Nachdem es längere Zeit zu Tunis gehört hatte,erlangte es zu Ende des 15. Jahrh. seine Unabhängigkeit. 1509wurde die Stadt T. von den Spaniern unter Graf Pietro von Navarraerobert und ein spanischer Statthalter eingesetzt. Kaiser Karl V.überließ sie 1530 den Johannitern als Lehen, aber schon1551 ward sie von den Türken wiedererobert und seitdem einHauptsitz der Seeräuberei an der nordafrikanischen Küste.1681 ließ Ludwig XIV. durch den Admiral Duquesne dietripolitanischen Korsaren in dem Hafen von Skio angreifen und vieleihrer Schiffe in den Grund bohren, und 1685 bombardierte Marschalld'Estrées die Stadt so erfolgreich, daß der Dei denFrieden mit ½ Mill. Livres erkaufen mußte. 1714 machtesich der türkische Pascha Hamed Bei (der Große) fastunabhängig von der Pforte, indem er nur noch Tribut zahlte,und begründete die Dynastie der Karamanli. Der 1728unternommene Kriegszug der Franzosen gegen T. endigte mit der fastgänzlichen Zerstörung von T. Dessen ungeachtet machteerst die französische Eroberung Algiers (1830) derSeeräuberei auch in T. ein Ende. 1835 fand sich die Pfortedurch die in T. herrschende innere Zerrüttung zum Einschreitenveranlaßt und machte der Herrschaft der Familie Karamanli einEnde, worauf T. als Wilajet dem türkischen Reich einverleibtwürde. Vgl. Maltzan, Reise in den Regentschaften Tunis und T.(Leipz. 1870, 3 Bde.); Rohlfs, Kufra (das. 1881); Brunialti,Algeria, Tunisia e Tripolitana

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Tripolis - Triptis.

(Mail. 1881); Haimann, Cirenaica-Tripolitana (2. Aufl., das.1885).

Tripolis, 1) Stadt in Syrien, s. Tarabulus. - 2) Stadt inGriechenland, s. Tripolitsa.

Tripolith, von Gebrüder Schenk in Heidelbergangegebene Mischung, welche nach der Patentschrift durch Erhitzenvon Gips mit Thon und Koks, nach dem englischen Patent aus Gips,Kohle und Eisenhammerschlag erhalten wird, ein hellbläulichgraues Pulver bildet und für Bauzwecke sowie zuchirurgischen Verbänden empfohlen wird.

Tripolitsa (offiziell Tripolis), Hauptstadt des griech.Nomos Arkadien, liegt auf einer wellenförmigen Ebene, derantiken Tegeatis, ist Sitz des Nomarchen, eines Erzbischofs undeines Bezirksgerichts sowie eines deutschen Konsuls, hat einGymnasium, eine niedere theologische Schule, Eisen- undKupferindustrie und (1879) 10,057 Einw. Es ist erst in neuerer Zeitentstanden und war im vorigen und im Beginn dieses Jahrhundertseine der blühendsten Städte des Peloponnes. Seit demPassarowitzer Frieden von 1718 Hauptstadt von Morea, ward sie 17.Okt. 1821 von den Griechen mit Sturm genommen und fast völligin Asche gelegt, aber bald wieder aufgebaut und 23. April 1823 zumSitz der griechischen Regierung ausersehen. Ibrahim Pascha erobertesie 21. Juni 1825 und verließ sie erst 1828 wieder. 6 kmsüdöstlich davon liegen die Ruinen von Tegea, welche dieBausteine für T. geliefert haben, 12 km nördlichdiejenigen von Mantineia.

Trippel, Alexander, Bildhauer, geb. 1744 zu Schaffhausen,bildete sich in Kopenhagen, ging 1771 nach Paris und 1776 nach Rom,wo er 1793 starb. Unter seinen Werken, die bei sorgfältigerDurchführung meist eine glückliche Nachahmung der Antikebekunden, sind hervorzuheben: eine Bacchantin, ein sitzenderApollo, eine schlafende Diana, das Denkmal des Grafen Tschernyschewfür die Stadt Moskau, die Büsten von Goethe und Herder,1789 in Marmor ausgeführt (in der Bibliothek zu Weimar), unddas Monument des Dichters Geßner für die StadtZürich.

Trippen, s. Schnabelschuhe.

Tripper (Gonorrhöa), eine mit Eiterabsonderungverbundene virulente Entzündung der Harnröhrenschleimhautund die häufigste durch einen unreinen Beischlaf entstehendeKrankheit. Der T. ist zwar nicht eine im engern Sinn venerische,d.h. syphilitische, aber doch eine in hohem Grad ansteckendeKrankheit; der Ansteckungsstoff, ein Mikrokokkus (Gonococcus), alsdessen Träger der von der Harnröhren- undScheidenschleimhaut abgesonderte Eiter anzusehen ist, haftet indesnur auf der Schleimhaut der Harnröhre, der weiblichen Scheideund der Bindehaut des Auges (Augentripper). Der T. kommt sowohlbeim männlichen als beim weiblichen Geschlecht vor undverläuft bald akut, bald chronisch. Der T. des männlichenGeschlechts kündigt sich gewöhnlich durch ein Kitzeln inder Eichel an, deren Mündung leicht verklebt. Bald rötetsich letztere, schwillt etwas an, und es tretenschneidend-stechende Schmerzen, namentlich beim Urinlassen, auf. Esstellt sich dann ein mißfarbiger, später rein eiterigerAusfluß aus der Harnröhre ein. Die genanntenErscheinungen erreichen in der Regel den höchsten Grad am Endeder ersten acht Tage. In der Nacht stören sehr schmerzhafteErektionen den Schlaf. Die Schmerzen verbreiten sich in denHodensack, machen sogar den Stuhlgang und das Sitzen lästig.Beim Urinlassen sind sie ganz besonders heftig. In der zweitenWoche lassen die Entzündungserscheinungen in der Regel etwasnach, aber der Ausfluß bleibt noch bestehen; doch ändertsich später sein Aussehen, er wird mehr schleimig, hörtentweder ganz auf, oder wird chronisch: Nachtripper (gonorrhoeachronica, goutte militaire). Dieser Verlauf ist dergewöhnliche. Zuweilen aber schreitet die Entzündung derHarnröhrenschleimhaut auf das Zellgewebe, das unter ihr liegt,fort, und es entstehen dann schmerzhafte Verdickungen, wodurch dasGlied bei den Erektionen eine Krümmung macht, die sehrschmerzhaft ist und, wenn sie auszugleichen versucht wird, kleineBlutungen veranlaßt, welche von Einrissen der Schleimhautherrühren. Schreitet die Entzündung bis zum Blasenhalsfort, so entsteht ein heftiger Urinzwang, ja unter UmständenHarnverhaltung. Entzündet sich die Vorsteherdrüse, soklagen die Kranken über heftige Schmerzen am Damm; diegeschwollene Drüse ist vom Mastdarm aus fühlbar,Harnlassen und Stuhlgang sind beschwert und äußerstschmerzhaft. Die Kranken können weder gehen, noch sitzen,sondern sind zu liegen genötigt. Auch die Lymphdrüsen inder Leistengegend sind angeschwollen, können sichentzünden und vereitern. Bei dem Nachtripper sind dieErscheinungen weniger heftig, die Schmerzen fehlen oder sind ganzunbedeutend; aber der schleimige Ausfluß kann wochen- undmonatelang fortbestehen. Die Mündung der Harnröhreverklebt, namentlich gern über Nacht. Als Folgen des Tripperssind vornehmlich Verengerungen der Harnröhre, die meist tiefnach hinten sitzen, hervorzuheben (s. Striktur). Die Behandlung desTrippers erfordert vor allem Ruhe und gleichmäßigeWärme, gegen heftige Entzündungserscheinungen undHodenschwellung Kälte, Blutegel oder feuchtwarmeBähungen, innerlich kühlende Salze und beruhigendeMittel, fleißiges Wassertrinken und schmale, reizloseDiät. Vor allen Dingen hat sich der Kranke des Biergenussesgänzlich zu enthalten, beim Gehen ein Suspensorium zu tragen.Als spezifische Mittel gelten der Kopaivabalsam und derKubebenpfeffer, doch kommt man in den allermeisten Fällen beirichtigem Allgemeinverhalten auch ohne sie ans Ziel. Später,wenn die Schmerzen nachlassen, wende man leicht zusammenziehendeEinspritzungen (schwache Lösungen von Zinksulfat) in dieHarnröhre an, gegen die schmerzhaften Erektionen Opium,Lupulin. Der T. beim weiblichen Geschlecht beschränkt sichfast niemals auf die Harnröhre, er ist vielmehr nur eineTeilerscheinung des bösartigen weißen Flusses (s. d.).Bei beiden Geschlechtern kann der T. mit Syphilis kompliziert sein(s. Syphilis). - Über Eicheltripper s.Eichelentzündung.

Trippergicht (Tripperrheumatismus), eineGelenkentzündung, welche namentlich bei Männern nichtselten im Verlauf des Trippers, am häufigsten im Stadium desNachtrippers, sich einstellt. Der Sitz ist meistens das Kniegelenk(Tripperknie); jedoch werden auch Hand-, Fuß- und andreGelenke befallen. Wie der Tripper selbst durch den Eintritt einesinfektiösen Stoffes in den Körper entsteht, so ist auchdie T. als bedingt durch die Fortschleppung desselben Gifts in dieGewebe der Gelenke aufzufassen. Verlauf und Behandlung der T. istdieselbe wie bei jeder anderweit entstandenenGelenkentzündung.

Tripsis (griech.), Reibung; triptisch, durch Reibungbewirkt.

Triptis, Stadt im weimar. Kreis Neustadt, am Ursprung derOrla, Knotenpunkt der Linien Gera-Eichicht und T.-Blankenstein derPreußischen Staatsbahn, 361 m ü. M., hat 2 Kirchen,einen alten Turm aus der Sorbenzeit, Gerberei, Leimsiederei und(1885) 1632 evang. Einwohner.

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Triptolemos - Tristan da Cunha.

Triptolemos, im griech. Mythus Sohn des KönigsKeleos von Eleusis und der Metaneira, Liebling der Demeter,Verbreiter des Ackerbaues und der Kultur überhaupt, Heros derEleusinischen Mysterien. Er fuhr auf einem mit Drachen bespanntenWagen über die ganze Erde dahin und streute Getreidesamen aus.Nach seiner Zurückkunft nach Eleusis wollte Keleos ihntöten lassen, mußte ihm jedoch auf Befehl der Demetersein Land abtreten, worauf T. die Thesmophorien (s. d.)stiftete.

Triptychon (griech.), ein aus drei Teilen (Mittelbild undFlügelbildern) bestehendes Altargemälde. S. auchDiptychon.

Tripudium (lat.), der Tanz der römischen Priester umdie Altäre, besonders der der Salier und Arvalbrüder.

Triquetrum (parallaktisches Lineal, Instrumentumparallacticum, -Ptolemäische Regel), astronom. Instrument derAlten, dessen sich noch Kopernikus bediente, aus drei Linealenbestehend, die ein gleichschenkeliges Dreieck bilden (s. Figur).Der eine der gleichen Schenkel, A B, steht vertikal, der andre, AC, um den obern Endpunkt A des ersten drehbar, ist mit Absehen(Visieren) versehen und wird nach dem zu beobachtenden Sterngerichtet; auf dem dritten, mit einer Teilung versehenen Lineal B Dwird die Länge der ungleichen Seite B C gemessen und dadurchder Winkel an der Spitze, d. h. Zenithdistanz des Sterns,bestimmt.

Triremen, "Dreiruderer", bei den Römern und imMittelalter gebräuchliche Kriegsschiffe; bei den GriechenTrieren genannt. Sie hatten drei Reihen Ruder übereinander(Fig. 1 u. 2). Vgl. Galeere.

Trisektion des Winkels, Teilung desselben in drei gleicheTeile, ein im Altertum berühmtes geometrisches Problem, mitdem sich Pappus, Proklos, Nikomedes, von den Neuern Vieta, AlbrechtDürer, Newton u. a. beschäftigt haben; mit Zirkel undLineal (Kreis und gerader Linie) allein nicht lösbar.

Trisetum Beauv. (Goldhafergras), Gattung aus der Familieder Gramineen, der Gattung Avena, Hafer, sehr nahestehend, mitzwei- bis dreiblütigen Ährchen, nur fruchtbarenBlüten und einer am Grund nur wenig dunklern Granne an derDeckspelze. T. pratense Pers. (Avena flavescens L., kleinerWiesenhafer, s. Fig.), ein perennierendes Gras mit mehr oderweniger fein behaarten Blättern und nur in der Blüteausgebreiteten, gelbgrünen Rispen, wächst auf gutenfrischgrundigen Wiesen, gehört zu den Schnittgräsernerster Klasse und gibt reichliches, sehr feines, weiches Heu.

Trishagion (griech., Hymnus angelicus, cherubicus,triumphales), der im Konsekrationsakt der Messe übliche Gesangdes "Dreimalheilig", genommen aus Jes. 6, 3, war schon im 4. Jahrh.gebräuchlich und galt als liturgisches Bekenntnis derDreieinigkeit.

Trismegistos, s. Hermes Trismegistos.

Trismus (griech.), Mundsperre, häufigTeilerscheinung des Starrkrampfes.

Trissino, Giovanni Giorgio, ital. Dichter und Gelehrter,geb. 8. Juni 1478 zu Vicenza, lebte unter den Päpsten Leo X.und Clemens VII. als päpstlicher Nunzius längere Zeit inVenedig und Wien und starb 1550 in Rom. Er ist besonders bekanntals Verfasser der "Sofonisba" (Rom 1524; mit den Anmerkungen von T.Tasso hrsg. von Paglierani, Bologna 1885; deutsch von Feit,Lübeck 1888), der ältesten regelmäßigenTragödie der Italiener. Dieselbe ist streng nach denAristotelischen Regeln abgefaßt, in reimlosenfünffüßigen Jamben (versi sciolti), die T. zuerstin die italienische Litteratur eingeführt haben soll,geschrieben und verrät, trotz ihrer Abhängigkeit vonantiken Mustern, ein nicht gewöhnliches Talent, hat aberheutzutage fast nur noch einen litterarhistorischen Wert. TrissinosLustspiel "Isimillimi" (Vened. 1548) ist eine Nachahmung desPlautus. Sein Epos "Italia liberata da' Goti" (Vened. 1547-48, 3Bde.; Par. 1729, 3 Bde.), in 27 Gesängen, ist unpoetisch undlangweilig und gegenwärtig vergessen. Nicht ohne Wert sinddagegen manche seiner "Rime" (Vicenza 1529). Auch ist er Verfassereiner Poetik (Vicenza 1529) sowie verschiedener Schriften überdie italienische Sprache und hat Dantes Schrift "De vulgarieloquio" zuerst ins Italienische übersetzt. Eine Gesamtausgabeseiner Werke erschien Venedig 1729. Vgl. Nicolini, Giangiorgio T.(Vicenza 1864); Morsolin, G. T. (das. 1878).

Trist (lat.), traurig, betrübt; öde.

Tristan da Cunha (spr. kúnja), Inselgruppe imsüdatlant. Ozean, südwestlich vom Kap der Guten Hoffnung,besteht aus drei Inseln vulkanischen Ursprungs, derengrößte, vorzugsweise T. genannt, eigentlich nur einerloschener Vulkan ist, der bis zu 2600 m ansteigt und 116 qkm (2,1QM.) umfaßt. Sie wurde nach dem portugiesischen Entdecker(1506) benannt, ist rund von Gestalt und wohlbewässert underscheint als ein günstiger Platz fürSchildkrötenfang und zum Wassereinnehmen für Seefahrer,die, nach Indien oder Australien bestimmt, nicht am Kap an-

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Tristan und Isolde - Tritonshörner.

legen wollen. Während der Gefangenschaft Napoleons auf St.Helena hielt die britische Regierung die Insel besetzt; als sie1821 verlassen werden sollte, erlangten der Korporal WilliamGlaß und zwei Seeleute die Erlaubnis, sich dauernd auf derInsel niederzulassen. So entstand eine kleine Kolonie, welche 1886:94 Köpfe zählte; sie steht unter dem Schutz desKapgouverneurs und führt seit 1867 den Namen Edinburgh.

Tristan und Isolde, die beiden Hauptpersonen einerursprünglich keltischen Sage, welche von mehrerennordfranzösischen Dichtern im 12. Jahrh. behandelt ward undsodann in die spanische, italienische, slawische, skandinavischeund sogar in die griechische Litteratur überging. Aufdeutschen Boden verpflanzte zuerst Eilhart von Oberge (s. d.) dieSage gegen Ende des 12. Jahrh. durch ein nach demFranzösischen bearbeitetes Gedicht, das auch einerspätern Prosaauflösung (zuerst gedruckt 1484; auch inSimrocks "Volksbüchern" enthalten) zu Grunde liegt. Dievorzüglichste deutsche Dichtung aber, welche die Sage von T.u. I. zum Gegenstand hat, ist das ebenfalls nach einemfranzösischen Original bearbeitete Gedicht Gottfrieds vonStraßburg. Über den Inhalt der Sage sowie neuereBearbeitungen derselben s. Gottfried von Straßburg. Vgl.Mone, Über die Sage von Tristan (Heidelb. 1822); Golther, DieSage von T. u. I. (Münch. 1887).

Tristen, s. Feimen.

Tristichon (griech.), dreiteiliges Gedicht.

Tristien (lat.), Trauerlieder (ursprünglich Titelvon Elegien, welche Ovid im Exil schrieb).

Tristychius, s. Selachier.

Trisyllabum (griech.), dreisilbiges Wort.

Triterne (lat.), s. Duernen.

Tritheim (Trittenheim, latinisiert Trithemius), Johannes,eigentlich Heidenberg, berühmter Humanist, geb. 1. Febr. 1462zu Trittenheim im Trierschen, studierte in Heidelberg, ward 1482Benediktinermönch und starb 16. Dez. 1516 als Abt zu St. Jakobin Würzburg. Er hat sich um die Beförderung derWissenschaften Verdienste erworben; doch nahm er in seinegeschichtlichen Werke Märchen und Fälschungen ohne alleKritik auf. Seine "Opera spiritualia" (Mainz 1604) und"Paralipomena" (das. 1605) wurden von Busäus, seine "Operahistorica" von Freher (Frankf. 1601, 2 Bde.) herausgegeben. Vgl.Silbernagl, Joh. Trithemius (2. Aufl., Regensb. 1885); Schneegans,Abt J. T. und Kloster Sponheim (Kreuzn. 1882).

Tritheismus (griech.), in der christlichenDogmengeschichte die die Einheit des Wesens überwiegendeBetonung des persönlichen Unterschiedes innerhalb derTrinität (s. d.), wie dieselbe im kirchlichen Altertum demMonophysiten Joh. Philoponus, später dem ScholastikerRoscellinus schuld gegeben wurde.

Triticum, Pflanzengattung, s. Weizen.

Tritogeneia, Beiname der Athene (s. d.).

Triton, Molch.

Triton, im griech. Mythus Sohn des Poseidon und derAmphitrite, wohnte mit diesen auf dem Grunde des Meers in goldenemPalast. Als seine eigentliche Heimat galt der fabelhafte Tritonseein Afrika, besonders in der Argonautensage. Man stellte sich ihnmit menschlichem Oberkörper, der in einen Delphinschwanzausläuft, vor; auch werden ihm kurze Stierhörner undSpitzohren gegeben. Sein Attribut ist eine gewundene Seemuschel,auf der er bald stürmisch, bald sanft bläst, um dieFluten zu erregen oder zu beruhigen. Allmählich bildete sichdann die Vorstellung von einer großen Zahl von Tritonen, dieebenfalls als doppelgestaltige Wesen, bisweilen außer demmenschlichen Oberkörper und dem Fischschweif noch mit denVorderfüßen eines Pferdes, gedacht und dargestelltwerden. Von antiken Bildwerken ist besonders der Torso desvatikanischen Museums (Fig. 1) zu erwähnen, welcher mit derwilden, unbändigen Natur, die sich in Bewegungen undKörperbau ausspricht, jene erregte Wehmut in den Zügen,wie sie allen Seegöttern von der antiken Kunst gegeben wird,vortrefflich vereinigt. Vgl. auch die schöne statuarischeGruppe des Neapeler Museums (Fig. 2), in welcher T., von Erotenumspielt, eine Nereide entführt.

Tritonikon, s. Kontrafa*gott.

Tritonshörner (Tritoniidae Ad.), Schneckenfamilieaus der Ordnung der Vorderkiemer (Prosobranchia), besitzen einengroßen, weit hervortretenden Kopf, einen langen Rüsselund eine lange Atemröhre, große, kegelförmigeFühler mit Augen in der Mitte ihrer Außenseite und eineei- oder spindelförmige Schabe mit geradem oder leichtaufgebogenem Kanal, dornenlosen Höckern auf den Windungen undgesuchter oder faltiger Spindel. Tritonium nodiferum Lam.

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Tritonus - Triumvirn.

(Kinkhorn, Trompetenschnecke), im Mittelmeer, ist die Buccinader Alten, welche schon die alten Quiriten zu den Waffen rief undauch heute noch zum Signalgeben bei ländlichen ArbeitenVerwendung findet. T. Variegatum Lam., im Indischen Ozean, dientnoch jetzt als Kriegstrompete. Eine große Rolle spielten dieT. in den mythologischen Darstellungen und dann in den Bildern,Statuengruppen und Reliefs der Rokokozeit. Vgl. auchFaßschnecke.

Tritonus, griech. Name der übermäßigenQuarte, welche ein Intervall von drei Ganztönen ist (z. B.f-h); als Stimmenschritt war der T. im strengen Satz verpönt.Vgl. Stimmführung.

Tritoprismen und Tritopyramiden, s. Deuteroprismen,Deuteropyramiden und Kristall, S. 232 f.

Tritschinapalli (Trichinopolly), Hauptstadt einesDistrikts (9104 qkm od. 165,3 QM. mit [1881] 1,215,033 Einw.) inder indobrit. Präsidentschaft Madras, an der Kaweri und derSüdbahn, ist Sitz eines katholischen Bischofs, hat einmeteorologisches Observatorium, mehrere Hospitäler undKirchen, 3 evang. Missionen (2 englische, eine deutsche) und 2Colleges. Auf einer 91 m hohen Felsnadel in der Mitte der Stadt einberühmter Wallfahrtstempel der Hindu. T. hat eine Garnison und(1883) 84,449 Einw. (darunter 11,155 Christen), welcheberühmte Zigarren und Goldwaren fabrizieren.

Tritschler, Alexander von, Architekt, geb. 10. Febr. 1828zu Biberach, besuchte das Polytechnikum in Stuttgart, war von 1848bis 1859 bei Eisenbahnbauten in Württemberg und der Schweizbeschäftigt und wurde 1860 Professor an der technischenHochschule in Stuttgart, später Oberbaurat und durchVerleihung der ersten Klasse des württembergischenKronenordens geadelt. Seine zumeist im Renaissancestilausgeführten Hauptwerke sind: die Restaurierung der Kapelledes alten Schlosses, das Zentral-Postgebäude, die Realschule,das Haus der Württembergischen Hypothekenbank, dieVergrößerung des königlichen Polytechniku*ms inStuttgart.

Tritt, der Abdruck eines Laufs des Wildes; Tritte, dieFüße der Hühner, Tauben und kleinen Vögel.

Trittau, Dorf in der preuß. ProvinzSchleswig-Holstein, Kreis Stormarn, unweit der Bille, hat eineevang. Kirche, ein Amtsgericht und (1885) 1386 Einw.

Tritteisen, s. Tellereisen.

Trittmaschine, s. Tretrad.

Triumph (lat.), bei den alten Römern der feierlicheEinzug eines siegreichen Feldherrn mit seinem Heer in die StadtRom. Der Antrag dazu beim Senat ging vom Feldherrn aus und ward, daderselbe vor dem T. die Stadt nicht betreten durfte, im Tempel derBellona oder auf dem Marsfeld gestellt. Hatte der Senat den aufKosten des Staats zu veranstaltenden T. bewilligt, so erteilte dasVolk dem Feldherrn für den Tag des Triumphs das Imperium inder Stadt. Der Zug bewegte sich vom Marsfeld durch die Portatriunmphalis in den Circus Flaminius, in dem sich ein geeigneterPlatz für eine Menge der Zuschauer bot, von dort durch diePorta Carmentalis in die Stadt, dann über das Velabrum undForum Boarium in den Circus Maximus; weiterhin die Via sacraentlang über das Forum nach dem Kapitol. Den Zugeröffneten die Magistrate und der Senat, ihnen folgten Musikerund eine lange Reihe von erbeuteten Prachtgegenständen, vonAbbildungen der eroberten Städte oder Länder und diegoldenen Kränze, welche die Provinzen dem Triumphator gewidmethatten (vgl. die Tafel "Bildhauerkunst IV", Fig. 14, wo eine Gruppeaus dem Triumphzug des Titus mit der Beute des jüdischenKriegs dargestellt ist). Ein Zug von weißen Stieren mitvergoldeten Hörnern, zum Opfer auf dem Kapitol bestimmt,folgte, denen sich die vornehmen Gefangenen in Ketten anschlossen,die unmittelbar nach dem T. hingerichtet wurden. Endlich hinterseinen purpurgekleideten Liktoren erschien der Triumphator selbstauf einem von vier weißen Rossen gezogenen Wagen. Sein Ornat,die Tunica palmata (s. d.) und die Toga picta (s. d.), war der deskapitolinischen Jupiter selbst und dazu aus dem Tempelschatzhergegeben, in der Rechten führte er einen Lorbeerzweig, inder Linken ein elfenbeinernes, mit einem Adler geschmücktesZepter. Über seinem Haupt hielt ein Sklave die goldene KroneJupiters, der ihm aber auch bei dem Jo triumphe, dem Jubelgeschreides Volkes, zurief: "Bedenke, daß du ein Mensch bist!" DieSöhne und Töchter und die nächsten Verwandtenumgaben den Triumphator; durch den Sieg desselben aus derKnechtschaft befreite römische Bürger folgten, und dieganze Armee bildete den Schluß. Auf dem Kapitol verrichteteder Triumphator ein Dankgebet, ließ die Opfertiereschlachten, legte den Lorbeerzweig, später eine Palme in denSchoß des Jupiter nieder und weihte dem Gott einen Teil derBeute. Ein Gastmahl, das er seinen Freunden und den angesehenstenMännern der Stadt gab, beschloß den Tag. Eine geringereArt des Triumphs war die Ovation (s. d.). Seit des Augustus, nochmehr aber seit Vespasians Regierung wurden die Triumphe seltenerund kamen meist nur noch den Kaisern zu. über die gefeiertenTriumphe wurden Verzeichnisse, die sogen. Fasti triumphales,geführt. Außer dem eigentlichen T. kamen noch vor derTriumphus navalis und der Triumphus in monte Albano, welchletzterer von Feldherren, denen der solenne T. nicht zugestandenwar, auf dem Albanerberg gehalten wurde.

Triumphbogen (Arcus oder Fornix triumphalis), ein freistehendes, thorförmiges Gebäude, welchesursprünglich in Rom zu Ehren triumphierender Kaiser oderFeldherren errichtet wurde und entweder nur einen Durchgang odereinen Hauptdurchgang und zwei Nebendurchgänge, sämtlichmit halbkreisförmigem Abschluß, enthält. Nocherhaltene T. in Rom sind, außer den Trümmern desTriumphbogens des Drusus, diejenigen des Titus, Septimius Severusund Constantinus (s. Tafel "Baukunst VI", Fig. 7). Andre Bauten derArt sind Ehrenbogen, wie der des Gallienus, oder Durchgangsbogen,wie die des Janus und der des Dolabella. Außerhalb Roms sinderhalten: der T. des Augustus zu Rimini, dann die zu Susa, Aostaund Fano; die des Trajan zu Ancona und Benevent, der des Hadrian inAthen, der des Marius zu Orange in Frankreich. Außerdem gibtes noch T. zu Pola, Verona, St.-Remy in Südfrankreich undCapara in Spanien. In neuerer Zeit sind T. in Paris (Arc detriomphe de l'Étoile und du Carrousel), Mailand (Arco dellaPace), Innsbruck, München (Siegesthor) u. a. O. errichtetworden. Alle diese T. sind mit reichem bildnerischen Schmuck,besonders mit Reliefs (s. Tafel "Bildhauerkunst IV, Fig. 14),ausgestattet. In der altchristlichen und armenischen Basilikaheißt T. der vor dem Sanktuarium, in der gotischen Kirchezwischen Schiff und Chor befindliche hohe Scheidebogen, überwelchem gewöhnlich der triumphierende Erlöser dargestelltwar, oder in welchem ein mächtiges Kruzifix hing.

Triumvirat (lat.), s. Triumvirn.

Triumvirn (Triumviri oder Tresviri, lat., "Drei-

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Triunfo - Trochu.

männer"), in Rom der Name mehrerer aus drei Mitgliedernbestehenden Kollegien, deren Bestimmung durch einen Zusatznäher angegeben wird. Zu den Magistratus minores, den niedernMagistraten, gehörten: die Triumviri capitales, um 289 v. Chr.eingesetzt, welchen die Aufsicht über die Gefängnisse,die Vollstreckung der Todesurteile und die meisten Verrichtungender niedern öffentlichen Polizei übertragen waren; die T.monetales, die Vorsteher des Münzwesens, wahrscheinlich 269 v.Chr. eingesetzt; die T. nocturni, die für die Sicherheit derStädte zur Nachtzeit zu sorgen hatten, über derensonstige Obliegenheiten aber und die Zeit ihrer Einsetzung nichtsSicheres zu ermitteln ist. Von weit größerer politischerBedeutung sind die Vereinigungen von je drei Männern imletzten Jahrhundert der Republik zu dem Zweck, die gesamteStaatsgewalt an sich zu reißen, welche Triumvirate genanntwerden. Das erste dieser Triumvirate, das des Cäsar, Pompejusund Crassus, 60 v. Chr. geschlossen, war eine bloßePrivatvereinigung. Das zweite ward 43 n. Chr. auf einer Insel desReno zwischen Antonius, Octavianus und Lepidus geschlossen. Nachdemdiese in Rom eingezogen waren, wurden sie 27. Nov. durch ein Gesetzals T. rei publicae constituendae, d. h. für die Ordnung desStaats, mit höchster Gewalt auf die Zeit bis zum letztenDezember 38 vom Volk bestätigt, und nach Ablauf dieser Zeitwurde ihnen diese Vollmacht auf weitere fünf Jahreverlängert.

Triunfo (El T.), Stadt im südlichen Teil desmexikan. Territoriums Kalifornien, im Innern, mit Silber- undGoldgruben und 4000 Einw.

Trivandrum, Hauptstadt des indobrit.Vasallenfürstentums Travankor, 3½ km vom IndischenMeer, Residenz des Maharadscha in einem alten Fort sowie desbritischen Residenten und eines katholischen Bischofs, hat mehreresehr schöne Gebäude, eine medizinische Schule, College,Museum, Hospitäler, eine Sternwarte, eine evang. Mission u.(1881) 41,173 Einw.

Trivénto, Stadt in der ital. Provinz Campobasso,am Trigno, Bischofsitz, mit Kathedrale und (1881) 4072 Einw.

Trivia, Beiname der Hekate (s. d.).

Trivial (lat.), alltäglich, abgedroschen;Trivialitat, Alltäglichkeit, Plattheit, Gemeinplatz.

Trivialschulen s. Freie Künste.

Trivium (lat.) [s. Freie Künste.]

Trivúlzio, berühmte, aus Mailand stammende,besonders im 16. Jahrh. blühende Familie Italiens.Bemerkenswert sind: Gian Giacomo T.,M archese von Vigevano, geb.1436 zu Mailand, nahm 1466 teil am Zug nach Frankreich,unterdrückte 1476 den Aufstand der Ghibellinen in Genua, trat1486 in die Dienste des Königs von Neapel, 1494 infranzösische, eroberte 1499 das Herzogtum Mailand, wurdedafür Marschall von Frankreich, später Statthalter vonMailand. Verdächtigt, mit Venedig und der Schweiz Verbindungenunterhalten zu haben, fiel er bei dem König in Ungnade, undals er behufs seiner Rechtfertigung 1518 bei Hof erschien, ward erso ungnädig empfangen, daß er aus Alterationdarüber bald darauf starb. Vgl. Rosmini, Istoria della vita edella gesta di J. G. T. (Mail. 1815, 2 Bde.). Sein BruderRené stand auf seiten der Ghibellinen und starb invenezianischen Diensten. Dessen Neffe Teodoro trat infranzösische Dienste, ward später Obergeneral dervenezianischen Armee, 1524 Gouverneur von Mailand, dann Marschallvon Frankreich und Gouverneur von Genua, übergab dieses anAndrea Doria und starb 1531 als Gouverneur von Lyon.

Troas, Landschaft in Kleinasien, der nordwestlichste,zwischen dem Hellespont und dem Adramyttenischen Meerbusen (Golfvon Edremid) vortretende Teil der Halbinsel, seit der Diadochenzeitunter dem Gesamtnamen Mysien mit inbegriffen, istgrößtenteils erfüllt von den Verzweigungen des zu1750 m Höhe steil aufsteigenden waldreichen Idagebirges (KazDagh), zwischen denen nur das eine größere Thal desSkamandros (Menderes), der zum Hellespont hinab mehrere breitereStufenebenen durchfließt, sich hinzieht. Nach demvorhistorischen (vielleicht den Illyriern verwandten) Volk derTroer benannt, wurde es, namentlich an der Küste, vonpeloponnesischen Achäern und böotischen Äoliernbesetzt, während sich im Binnenland Reste des alten, mit denTroern einst eng verbundenen Volkes der Dardaner oder Teukrer bisin die Zeit der persischen Herrschaft erhielten. T. entspricht etwadem heutigen Liwa Tschanak-Kalessi. T. war die Stätte desHomerischen Troja (s. d.). Wichtigere Orte aus historischer Zeitwaren Dardanos, Abydos, Lampsakos u. a.

Trocadero, Inselfort bei Puerto Real in der Bai vonCadiz, 21. April 1810 und 31. Aug. 1823 von den Franzosen genommen.Zur Erinnerung an die letztere Einnahme erhielt diesen Namen eineAnhöhe auf dem rechten Seineufer in Paris, gegenüber derJenabrücke, wo zur Weltausstellung von 1878 von Davioud undBourdais ein kolossaler Palast von halbelliptischem Grundrißerbaut wurde, dessen Mittelbau zu Festen, Musikaufführungenetc. dient, während die Flügel zu einemkunstgeschichtlichen Museum von Gipsabgüssen eingerichtetsind.

Trochanter major, minor (lat.), der größere,kleinere Rollhügel auf dem obern Abschnitt des Oberschenkels;s. Hüfte.

Trochäus (griech., auch Choreus), zweisilbigerVersfuß, aus einer Länge und darauf folgender Kürze(- ^) bestehend, kommt als Wortfuß vorzüglich imDeutschen außerordentlich häufig vor. Derdreifüßige T., Ithyphallikus genannt, findet sich meistin Verbindung mit andern Rhythmen wie mit Daktylen; dervierfüßige im dritten Vers der Alkäischen Stropheund in der neuern spanischen Romanze. Am gebräuchlichsten warder katalektische Tetrameter (s. d.).

Trochiliden, s. v. w. Kolibris.

Trochilium, s. Glasflügler.

Trochilus, Kolibri; Trochilidae, Familie der Kolibris (s.d.).

Trochisci, s. v. w. Pastillen.

Trochiten, s. Enkriniten.

Trochitenkalk, s. Triasformation, S. 828.

Trochocephalus, s. Brachykephalen.

Trochtelfingen, Stadt im preuß. RegierungsbezirkSigmaringen, Oberamt Gammertingen, an der Seckach, hat eine kath.Kirche, ein Schloß und (1885) 1246 Einw.

Trochu (spr. -schü), Louis Jules, franz. General,geb. 12. Mai 1815 zu Palais bei Belle-Isle en Mer (Morbihan), trat1840 als Leutnant in die Generalstabsschule, wurde in AlgerienAdjutant von Lamoricière, 1846 wegen seines tapfernVerhaltens Adjutant des Marschalls Bugeaud und kam 1851 alsOberstleutnant ins Ministerium. 1854 ward er Adjutant desMarschalls Saint-Arnaud und nachher des Generals Canrobert in derKrim, 24. Nov. Brigadegeneral, erhielt 1855 die 1. Brigade des 1.Korps und zeichnete sich bei dem Sturm auf den Malakow aus. AlsDivisionsgeneral that er sich 1859 in der Schlacht bei Solferinohervor. Nach dem Frieden

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Trockenästung - Trocknen.

trat er wieder ins Kriegsministerium und war von Niel zu seinemNachfolger ausersehen. Aber seine Schrift "L'arméefrançaise en 1867" (Par. 1867, 20. Aufl. 1870), welche mitunerhörtem Freimut alle Schäden der französischenArmee aufdeckte und die einzige Heilung in der Annahme despreußischen Wehrsystems sah, entzog ihm die Gunst des Hofsund machte ihn als Minister des Kaiserreichs unmöglich. ZuAnfang des Kriegs 1870 erhielt er das Kommando der 12.Territorialdivision zu Toulouse und ward dann zum Befehlshaber derLandungsarmee an der deutschen Küste ausersehen. Da dieseLandung unterblieb, ernannte ihn der Kaiser im Lager vonChâlons 17. Aug. zum Gouverneur von Paris. Indes seinePopularität nützte dem sinkenden Kaiserreich nichts mehr,und als 4. Sept. dasselbe zusammenbrach, trat T. an die Spitze derBewegung und ließ sich zum Präsidenten der Regierung dernationalen Verteidigung ernennen, blieb aber Generalgouverneur vonParis und Oberbefehlshaber sämtlicher Streitkräfte in derHauptstadt. Während der Belagerung entfaltete er einegroßartige und erfolgreiche Thätigkeit in derOrganisation der Verteidigungsarmee; auch war sein Plan, nachNordwesten, nach Rouen, durchzubrechen, gar nichtunverständig. Derselbe kam jedoch nicht zur Ausführung,weil T. sich mit der Regierung in Tours nicht verständigenkonnte und selbst unschlüssig war, denn er hatte keinVertrauen auf den Erfolg und hielt überhaupt die Verteidigungvon Paris für eine "noble Tollheit". Als die Kapitulation, dieer mit hochtönenden Phrasen verschworen, unvermeidlich war,legte er sein Amt als Gouverneur 22. Jan. 1871 nieder;Präsident der Regierung blieb er bis zum Zusammentritt derNationalversammlung. Als Mitglied der Nationalversammlung ergriffer mehrere Male das Wort zu seiner Rechtfertigung; da er indes inder Armeereformfrage Gegner von Thiers war, erhielt er keinKommando und zog sich 1872 in das Privatleben zurück. Vgl.Trochus Schriften: "L'Empire et la défense de Paris devantle jury de la Seine" (1872); "Pour la vérité et pourla justice" (1873); "La politique et le siége de Paris"(1874) und "L'armée française en 1879, par unofficier de retraite" (anonym, 1879).

Trockeaästung, die Beseitigung abgestorbener, dahertrockner Äste von jungen Nadelhölzern durch Abschneidenmit der Säge unmittelbar am Stamm zur Verhinderung desEinfaulens der Aststummel und zur Erzielung astreinen Holzes.

Trockenbagger, s. Bagger und Erdarbeiten.

Trockenblumen, Blumen, welche entweder vermöge ihrertrocknen Beschaffenheit nach dem Abschneiden ihre Form und Farbebewahren, sogen. Immortellen, oder solche, die durch einkünstliches Verfahren diese Eigenschaft mehr oder wenigerbekommen. Die Immortellen werden noch etwas vor der vollkommenstenAusbildung geschnitten und, in Bündeln aufgehängt, imSchatten getrocknet und gefärbt. Die schönstenImmortellen kommen aus Frankreich, vom Kap und aus Australien.Wichtiger und interessanter sind die Fortschritte im Trocknenweicher Blumen, welches vor 40 Jahren die ersten Anfängezeigte. Man trocknet jetzt Rosen, Malven, Nelken, Astern, Veilchenetc. und bindet von allen diesen Blumen prachtvolleSträuße, Kränze etc. Die nicht immortellen Blumenwerden, wenn nötig, mit Säuren behandelt, damit sie ihreFarbe behalten oder trocken eine schönere bekommen. Die ihreForm leicht verlierenden Blumen trocknet man in Sand, welcherheiß mit Walrat und Stearin überzogen wurde. Vgl. Lebl,Zimmergärtnerei (Stuttg. 1878); Hein, Das Trocknen undFärben natürlicher Blumen und Gräser (Weim. 1875);Braunsdorf, Das Trocknen, Bleichen etc. natürlicher Blumen undGräser (Wien 1888).

Trockendocks, s. Dock.

Trockenfäule (Stockfäule), Kartoffelkrankheit,bei welcher die Knollen Löcher zeigen, die häufig mitgelben oder violetten Pilzmassen ausgekleidet sind, und dasgebräunte, zuckerhaltige Gewebe zunderartig locker erscheint.Die Schale ist meist besetzt mit weißlichen, dichten, etwasfleischigen Pilzpolstern. Die T. steht in engster Beziehung zurNaßfäule (s. d.), hat aber mit der durch Peronosporainfestans erzeugten Kartoffelkrankheit nichts zu thun und wirdwahrscheinlich durch Bakterien hervorgerufen. Die Schimmelpilzesiedeln sich erst später an. Die T. trat zuerst 1830 in derEifel auf, verbreitete sich bis 1842 mit zunehmender Heftigkeit undist seitdem mehr zurückgetreten.

Trockenfrüchte, nich taufspringendePflanzenfrüchte, welche keine saftig-fleischigeFruchthülle haben, wie die Achene (s. d.) und die Nuß(s. d.).

Trockenmaschine, Vorrichtung zum Trocknen der Gewebemittels Wärme, nachdem dieselben gewaschen, gestärkt,gefärbt oder bedruckt sind. Die Trockenmaschinen führenununterbrochen heiße, trockne Luft über die Zeuge oderbringen letztere mit heißen Körpern in Berührung.Bei der ersten Anordnung ist der Stoff entweder in einenhorizontalen Rahmen gespannt, der über einen langen Kastenhinweg bewegt wird, während ein Flügelgebläseheiße Luft von unten gegen das Zeug treibt(Rahmentrockenmaschine), oder das letztere wird im Zickzacküber Walzen gezogen, die in geschlossenen Stuben liegen, durchwelche mittels Exhaustoren heiße Luft hindurch gesogen wird.Bei der zweiten Anordnung benutzt man ausschließlich 3-15 mitDampf geheizte, horizontale Drehtrommeln aus Kupfer, mit welchender zu trocknende Stoff sich bewegt (Trommel-T.), wie bei derPapiermaschine (s. Papier, S. 676) beschrieben wurde.

Trockenobst, s. Obst, S. 310.

Trockenöl, s. v. w. Sikkativ.

Trocknen (Austrocknen), Operation, welche die Entfernungvon Wasser aus einer Substanz bezweckt. Sehr wasserreicheSubstanzen werden oft durch eine besondere Operation zunächstvon einem Teil ihres Wassergehalts befreit (entwässert) unddann erst mehr oder weniger vollständig getrocknet. Da Wasserschon bei gewöhnlicher Temperatur verdunstet, so trocknenviele Körper beim Liegen an der Luft, verlieren aber hierbeiihren Wassergehalt stets nur bis zu einem gewissen, von derTemperatur, der Feuchtigkeit der Luft, der Stärke desLuftwechsels und von ihrer eignen Beschaffenheit abhängigenGrad, sie werden lufttrocken und können durch Erhitzen oderandre Mittel vollständig getrocknet werden. Die wenigstenKörper verharren indes im Zustand völliger Trockenheit,nehmen vielmehr aus der Luft alsbald wieder Feuchtigkeit auf undfolgen den Schwankungen des Wassergehalts der Luft. ZumEntwässern dienen je nach der Natur des zu behandelndenStoffes verschiedene Vorrichtungen. Am häufigsten benutzt manPressen, oft aber auch Walzen, die häufig mit Filz oderKautschuk überzogen werden. Den zu entwässernden Stoffleitet man auf endlosem Sieb oder Tuch den Walzen zu und erreichtauf diese Weise die Möglichkeit kontinuierlichen Arbeitens.Für viele Zwecke eignen sich vortrefflich dieZentrifugalmaschinen (Hydroextrakteure), die z. B. zumEntwässern von Geweben und breiförmigen Substanzen

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Trocknen (Trockenvorrichtungen).

sehr häufig angewandt werden. Letztere verarbeitet man auchhäufig auf Filterpressen. Mit Wasser durchtränkte Pulver(Niederschläge) bringt man auf ein geeignetesFiltriermaterial, welches z. B. auf einer Schicht vonSchamottesteinen ausgebreitet ist, und verdünnt die unterletztern befindliche Luft, indem man den Kasten, in welchem dieSchamottesteine liegen, mit einer Luftpumpe oder mit einemDampfkessel verbindet, der mit Dampf gefüllt und nachAustreibung der Luft verschlossen und abgekühlt wird(Vakuumfilter). In ähnlicher Weise entwässert mankristallinische Massen, indem man sie in konische, an der Spitzedurchlöcherte Blechformen bringt und diese auf einenNutschapparat stellt. Letzterer besteht aus horizontal liegendenRöhren mit zahlreichen kleinen Stutzen, in welche die Spitzender Formen luftdicht passen. Ist der ganze Apparat mit Formenbestellt, so wird er mit einer Luftpumpe in Verbindung gebracht,welche die zwischen den Kristallen befindliche Flüssigkeitabsaugt. Bisweilen legt man auch die breiartige Masse aufporöse Platten aus gebranntem Thon oder Gips, und in manchenFällen erlaubt die Natur der zu entwässernden Substanzdas Erhitzen in Pfannen, um das Wasser zu verdampfen.

Vorrichtungen zum T. an der Luft sind in der Regel sehr einfach:Gewebe werden völlig ausgebreitet aufgehangen, knetbare Massenbringt man in Ziegelform, die auf Stellagen in luftigen Schuppenaufgestellt werden, und andre Materialien, wie z. B. Leimtafeln,legt man auf Netze, die in Rahmen ausgespannt sind. Das T. an derLuft ist aber der wechselnden Witterungsverhältnisse halberwenig praktisch, und man wendet deshalb ganz allgemeinkünstliche Trockenvorrichtungen an, die je nach der Natur derzu trocknenden Substanz und der zu erzeugenden Temperatur sehrverschieden konstruiert sind. Ist Temperaturerhöhungüberhaupt ausgeschlossen, so ist man meist auf dieHerbeiführung starken Luftwechsels, wie auf denTrockenböden oder durch Ventilatoren, beschränkt, da dieAnwendbarkeit hygroskopischer Substanzen eine eng begrenzt ist.Beim Arbeiten im kleinen benutzt man einen Exsikkator, eineGlasglocke mit abgeschliffenem Rande, die man auf eine mattgeschliffene Glasplatte stellt. Unter die Glocke bringt man eineflache Schale mit konzentrierter Schwefelsäure oderChlorcalcium und auf einen Dreifuß aus Draht oderGlasstäben eine Porzellanschale, in welche die zu trocknendeSubstanz gelegt wird. In ähnlicher Weise kann man einen gutschließenden Kasten oder Schrank zum T. von Zigarrenanwenden.

Bei den Trockenvorrichtungen mit erwärmter Luft hat man zuunterscheiden, ob die Substanz in dem Trockenraum unverändertan einer Stelle verbleibt oder ihren Platz wechselt. Ersteresgeschieht z. B. in den Trockenstuben der Zuckerfabriken, in welchenGestelle angebracht sind, um sie bis zur Decke mit Zuckerbrotenfüllen zu können. Nahe am Boden liegenDampfheizröhren und sind Öffnungen angebracht, durchwelche trockne Luft einströmt, während die feuchte Luftdurch Öffnungen in der Decke abzieht. Die Heizung solcherTrockenkammern, in welchen das Material auch auf Hordenausgebreitet werden kann, geschieht auch durch Röhren, welchevon den abziehenden Feuerungsgasen durchströmt werden, durchheiße Luft. durch Kanäle mit eigner Feuerung etc.Bisweilen kann man auch die Feuerungsgase direkt zum T. benutzen,wie in manchen Malzdarren und in den Holzdarröfen, welche auslangen Kanälen zur Aufnahme des Holzes bestehen, vor denen dieFeuerung angebracht ist. Um in diesem Fall das Überschlagender Flamme, Funkenfliegen und Schwärzung des Holzes durchRuß zu vermeiden, hat man eine Feuerung konstruiert, beiwelcher die Verbrennung von oben nach unten fortschreitet und dieVerbrennungsgase durch das Brennmaterial und den Rost strömenund dann aufwärts über eine Mauer steigen müssen, umzu dem zu trocknenden Holze zu gelangen. Der Eingang zur Esse liegtam andern Ende des Trockenraums am Boden. PulverförmigeMaterialien werden häufig in Pfannen oder auf Herden ausEisenblech, Kalksteinplatten od. dgl. getrocknet, welche man mitaus Abdampfpfannen entweichenden Dämpfen oder mitFeuerungsgasen, nachdem sie unter Abdampfpfannen zirkuliert haben,heizt. Die Feuerungsgase geben eine höhere Temperatur alsDampf. Bei der Kastentrocknung bringt man die zu trocknendeSubstanz auf Horden, die den Boden eines Kastens bilden, leitetdurch eiserne Röhren, welche auf irgend eine Weise erhitztwerden, warme, trockne Luft unter die Horden, so daß dieselbedas zu trocknende Material durchströmt, und läßtsie über demselben durch die Esse entweichen. Ähnlichsind Malzdarren konstruiert, bei welchen das Malz auf einemhorizontalen Drahtgeflecht, auf durchlochtem Blech etc.ausgebreitet wird. Unter diesem Boden liegen Röhren oderKanäle, die von heißer Luft durchströmt werden, undzwischen denselben steigt die Luft auf, welche die Malzschichtdurchdringen soll. Vorteilhaft bringt man über der letzternnoch eine oder zwei Darrflächen an, welche von der warmen,noch nicht völlig mit Dampf gesättigten Luft, die von derersten Darrfläche aufsteigt, durchströmt werdenmüssen. Sehr beschleunigt wird das T., wenn man dieVerdampfung des Wassers und die Ableitung der gebildetenDämpfe durch Anwendung einer Luftpumpe befördert. Manbringt die zu trocknende Substanz in luftdicht verschließbareeiserne Gefäße, erhitzt diese von außen durchDampf und setzt sie dann mit einer Luftpumpe in Verbindung. Hat manbrei- oder pulverförmige Substanzen zu trocknen, so mußman durch Umrühren für beständige Erneuerung derOberfläche sorgen. Beim T. der Exkremente werden dieselbenzunächst im Vakuum zu dickem Brei eingedampft, den man durchlangsam rotierende Bürsten auf mit Dampf gegeheizte kupferneWalzen in dünnen Lagen aufträgt. Während die Walzensich langsam umdrehen, trocknet die Masse und wird durch andrekleine, mit Spitzen besetzte Walzen von der Trockenwalzeabgelöst und in Pulver verwandelt. Ein sehr brauchbarerApparat zum T. von Salz besteht aus sechs übereinanderzwischen vier Säulen angebrachten hohlen und durch Dampfheizbaren Scheiben, durch welche eine rotierende vertikale Wellehindurchgeht. An dieser Welle sind Rührapparate befestigt, diedas Salz abwechselnd nach der Peripherie und der Mitte der Scheibebefördern, von wo es durch Löcher von einer Scheibe aufdie andre gelangt. Außerdem rollt auf der dritten und derletzten Scheibe eine Walze, welche Salzklümpchen zerkleinert.Dieser Apparat gestattet kontinuierliche Arbeit ebenso wie dieMalzdarren mit mehreren Darrflächen, bei denen das Malz vonder obersten allmählich auf die unterste und heißesteDarrstäche gelangt. Ein ähnliches Prinzip findet bei denTrockenapparaten Anwendung, bei welchen heiße Luft einenlangen Kanal durchströmt, während die zu trocknendeSubstanz in Behältern oder auf endlosen Tüchern oderKetten durch den Kanal dem Luftstrom entgegengeführt wird.Dies muß so langsam geschehen, daß sie völliggetrocknet am heißesten Ende des Kanals anlangt. Gewebewerden auch über Walzen durch einen geheizten Raum

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Trockner Wechsel - Troizko-Sergiewsches Kloster.

geleitet, oder man leitet sie wie auch das Papier überhohle, durch Einleiten von Dampf erhitzte Walzen (vgl.Trockenmaschine). Derartige Walzen kann man auch zum T. von Pulverbenutzen, wenn man dies auf endlosen Tüchern über dieWalzen leitet. - Zum T. von Flüssigkeiten genügtanhaltendes Erhitzen, wenn der Siedepunkt der betreffendenFlüssigkeit bedeutend höher liegt als der des Wassers.Flüchtige Flüssigkeiten kann man vorteilhaft destillierenund unter Anwendung von Rektifikatoren und Dephlegmatoren, wie siezur Trennung des Alkohols vom Wasser in der Spiritusfabrikationbenutzt werden, vom Wassergehalt befreien. Ein vollständigesT. erreicht man indes auf diese Weise in der Regel nicht, vielmehrmuß man zur Entfernung der letzten Spuren von Wasserhygroskopische Substanzen anwenden, welche bei längermVerweilen in der Flüssigkeit die Feuchtigkeit vollständigabsorbieren. Oft führt nur wiederholte Destillation übersolche Substanzen zum Ziel. Die Auswahl der letztern richtet sichnach der Natur der Flüssigkeit, die nicht chemisch auf dieTrockensubstanz einwirken darf. Am häufigsten benutzt manChlorcalcium, gebrannten Kalk, wasserfreies kohlensaures Kali oderschwefelsaures Kupferoxyd, wassersreie Oxalsäure,Phosphorsäureanhydrid etc. - Gase verlieren dengrößten Teil ihres Wassergehalts durch starkesAbkühlen in einer Röhrenleitung von hinreichenderLänge (vgl. Leuchtgas, S. 734). Wo dies nicht genügt,kann man sie durch Trockenröhren leiten, welche mitporösem Chlorcalcium gefüllt sind, oder durchkonzentrierte Schwefelsäure. Man befeuchtet mit letzterer auchBimsstein, den man in Röhren füllt, oder läßtdie Schwefelsäure in einem mit Koks gefüllten Turm ingleichmäßiger Verteilung herabfließen,während das Gas unten in den Turm eintritt und der Säureentgegenströmt.

Trockner Wechsel, s. Wechsel.

Trockner Weg, s. Nasser Weg.

Troctes, Bücherlaus.

Troddelblume, s. Soldanella.

Trödelhandel (Trödelgewerbe), Kleinhandel,durch welchen gebrauchte Sachen (gebrauchte Kleider, Betten,Wäsche, altes Metallgerät, Metallbruch u. dgl.) umgesetztwerden. Mit Rücksicht darauf, daß der T. leicht zurHehlerei mißbraucht werden kann, ist in der deutschenGewerbeordnung (§ 35) bestimmt, daß dieser Handeluntersagt werden kann, wenn Thatsachen vorliegen, welche dieUnzuverlässigkeit des Gewerbtreibenden in Bezug auf diesenGewerbebetrieb darthun. Im Umherziehen darf der T. nichtausgeübt werden (deutsche Gewerbeordnung, § 56, Ziffer2).

Trödelvertrag (Contractus aestimatorius), derVertrag, vermöge dessen jemand einem andern eine Sache mit derAuflage übergibt, nach einer gewissen Zeit entweder dieseSache zurückzugeben, oder einen bestimmten Geldbetragdafür zu überliefern. Die Übergabe jener Sacheerfolgt in der Erwartung, daß der Trödler dieselbe zuverkaufen suchen werde. Ein etwaniger Mehrerlös kommt, wennnichts andres verabredet war, dem Trödler zu gute.

Trogen, Dorf und gewissermaßen Hauptort desschweizer. Halbkantons Appenzell-Außer-Roden, am Fußdes Gäbris, mit Kantonschule, Baumwollweberei,Musselinstickerei und (1880) 2629 Einw.; ist mit Hundwylabwechselnd Sitz der Landsgemeinde, zugleich Sitz desObergerichts.

Troglodyten (griech., Höhlenbewohner), allgemeineBezeichnung auf einer niedrigen Kulturstufe stehender Völker,welche in bloßen Erdhütten oder Höhlen wohnten.Troglodytenland (Troglodytica) hieß insbesondere dieKüste des heutigen Abessinien von Berenike nach S. zu.

Troglodytes, Schimpanse.

Troglodytes, Vogel, s. v. w. Zaunkönig;Troglodytidae (Schlüpfer), Familie der Sperlingsvögel (s.d. 3).

Trogons (Trogonidae), s. Klettervögel (12).

Trogus Pompejus (oder in richtigerer Ordnung PompejusTrogus), röm. Geschichtschreiber zur Zeit des Augustus,stammte aus Gallien, schrieb eine Universalgeschichte vonErschaffung der Welt bis auf seine Zeit, welche den Namen"Historiae Philippicae" führte, weil die Geschichte desmakedonischen Reichs und der mit diesem in Zusammenhang stehendenVölker den Hauptinhalt bildete. Nur die "Prologi" zu den 44Büchern (hrsg. von Grauert, Münst. 1827; nebst einigenandern, meist als unecht erwiesenen Fragmenten von Bielowski, Lemb.1853) und der Auszug des Justinus (s. d. 1) sind auf unsgekommen.

Troika (russ.), s. Kibitka.

Troikart, s. Trokar.

Troilit, Mineral, Bestandteil vieler Meteoriten, bestehtaus Schwefeleisen FeS.

Troilos, der von Achilleus getötete jüngsteSohn des Priamos und der Hekabe.

Troina, Stadt in der ital. Provinz Catania (Sizilien),Kreis Nicosia, auf einem Felskamm, 1113 m ü. M., nahe amFluß T., einem Zufluß des Simeto, gelegen, hat Restedes antiken Imachara, Mützen- und Strumpfwirkerei und (1881)10,072 Einw. T. ward 1062 von den Normannen unter Roger eingenommenund erhielt 1078 das erste katholische Bistum in Sizilien.

Trois Rivières (spr. troa riwjähr, auch ThreeRivers, "drei Flüsse"), Stadt in der britisch-amerikan.Provinz Quebec, an der Mündung des St. Maurice in den St.Lorenzstrom, hat Eisengießerei, Sägemühlen,lebhaften Holzhandel und (1881) 9296 Einw.

Troizk, Kreisstadt im russ. Gouvernement Orenburg, am Uiund der Uwelka, hat 3 griech. Kirchen, 2 Moscheen, besuchte Messen,ein Gymnasium und ein weibliches Progymnasium, einen großenKaufhof und (1885) 18,497 Einw., welche lebhaften Tauschhandel mitden Kirgisen treiben.

Troizkosawsk, russ. Grenzfestung im sibirischen GebietTransbaikalien, Sitz des Befehlshabers der TransbaikalischenKosaken, ein großer wohlgebauter Ort mit Kirchen undsteinernen Gebäuden, freundlich und schmuck wie keine andresibirische Stadt, nur 4 km nördlich von dem tiefer gelegenenKiachta (s. d.), hat eine Realschule, ein weibliches Progymnasiumund (1885) 6117 Einw.

Troizko-Sergiewsches Kloster (Troiza Lawra Sergiew,"Dreieinigkeitskloster des heil. Sergius"), das größte,reichste und geschichtlich berühmteste Kloster des russischenReichs, im Gouvernement Moskau, 70 km von Moskau, an der EisenbahnMoskau-Jaroslaw gelegen. Dasselbe gleicht, mit hohen Mauern,Wällen und Gräben umgeben, einer Festung und enthälteinen kaiserlichen Palast, die Wohnung des Metropoliten und desArchimandriten, 11 Kirchen und Kapellen, eine geistliche Akademiemit wertvoller Bibliothek, ein theologisches Seminar, eineElementarschule für arme Kinder, ein großes Kaufhaus,große Gärten etc. Die größte undschönste Kirche ist die der Verklärung Mariägewidmete Uspenskikathedrale mit fünf Goldkuppeln und denGrabmälern geschichtlich berühmter Männer undFrauen. Die kleine Kirche der Dreieinigkeit (Troizky Chram)enthält den silbernen, mit Edelsteinen ge-

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Troja.

schmückten Sarkophag des heil. Sergius. Das Kloster solleinen Schatz von 600 Mill. Silberrubel besitzen und hatte 1764 zurZeit der Einziehung der Klostergüter 106,608 leibeigne Bauern.Die Zahl der dahin Wallfahrenden beträgt jährlich fasteine Million. - Das Kloster ward 1338 vom heil. Sergius unter derRegierung Simeons des Stolzen erbaut und ist den Russen als Ortwichtiger Begebenheiten heilig. Hier segnete Sergius 1380 denGroßfürsten Dmitrij, als er in den Kampf gegen Mamaizog; in der Regierungszeit des Wasilij Schuiskij wurde es vom 29.Sept. 1608 bis 12. Jan. 1610 von den Polen unter Lisowski und demHetman Sapieha und wieder 1615 von dem polnischen Prinzen Wladislawvergeblich belagert. Hier fanden 1685 die Zaren Iwan und Peter vorden aufständischen Strelitzen Schutz, und letzterer machte vonhier aus der Herrschaft seiner Schwester Sophia ein Ende. Vgl.Philareth, La vie de saint Serge (a. d. Ruff., Petersb. 1841).

Troja (Ilion, Ilios), mythische Hauptstadt des Volkes derTroer in der Landschaft Troas (s. d.), am Fuß einerAnhöhe des Ida an oder in der Küstenebene des Skamandros(heute Menderes) gelegen, war mit starken Mauern umgeben und wurdedurch die feste, auf der Spitze der Anhöhe liegende BurgPergamos beschützt, in welcher sich sämtliche Tempel, vorallen der der Pallas gewidmete Haupttempel, befanden. Nach dergewöhnlichen Annahme wurde T. 1184 (nach andern 1127) v. Chr.von den Griechen zerstört (s. Trojanischer Krieg). Die Lagedieses ältesten Homerischen T. wurde seit Le Chevalier, der1785-86 die troische Ebene besuchte, auf dem Felsen von Bunarbaschi(144 m ü. M.) gesucht, wo einige aus Feldsteinenaufgeschüttete Hügel als "Grab des Priamos", "Grab desHektor" etc. bezeichnet werden. Die dort vorhandenen Mauerrestestammen jedoch nach Schliemann meist erst aus hellenistischer Zeit;sie gehören einer Burg an, welche mit einer gegenüber,auf der andern Seite des Skamandros gelegenen Burg dasFlußthal beherrschte. Weiter unterhalb macht der Menderes(Skamandros) eine Biegung nach WNW.; ihm parallel zieht sich weiternördlich der Kalafatli-Asmak (das alte Bett des Skamandros)hin. Auf dessen nordöstlichem Ufer erhebt sich eine zweiteAnhöhe, welche nordwärts zum Thal des Dumbrek-Tschai (desalten Simoeis) abfällt; es ist die Höhe von Hissarlyk, 50m ü. M., 35 m über der Ebene. Hier war zur Zeit, als inLydien die Mermnaden herrschten (689-546 v.Chr.), also vor derUnterwerfung Kleinasiens durch die Perser und lange nach derZerstörung Trojas, ein neues äolisches Ilion entstanden,das in der Römerzeit eine gewisse Bedeutung erlangte (Resteeines Athenetempels und eines Thorgebäudes), abergegenwärtig in Trümmern liegt. Schliemann (s. d.) hat nundurch fortgesetzte, in den Jahren 1870-82 vorgenommene Ausgrabungennachgewiesen, daß auf dem die Ebene um 18 m überragendenFelsen von Hissarlyk sieben verschiedene untergegangene"Städte" (richtiger Burgen) übereinander gelegen haben.In der zweiten von ihnen, etwa 7-10 m unter der jetzigenOberfläche glaubt er die Burg der Homerischen Stadt entdecktzu haben, eine Annahme, die darin eine Stütze findet,daß die Trümmer von einer starken Schicht vonBrandschutt überdeckt sind. Schliemanns Ausgrabungen (s.obenstehende Kärtchen) erstrecken sich auf mehrere Thore im S.und W. der Burg, die Mauern auf der Süd- und Westseite, zweikleinere Gebäude, welche für Teile des ehemaligenKönigspalastes gelten dürfen. Von weit höhererBedeutung ist der sogen. Große Schatz, welcher unweit desSüdwestthors in der obern Lehmziegelmauer gefunden wurde. Erenthält außer vielen Kupfergeräten eine MengeGefäße (Becher, Schalen) und Schmuckgegenstände(Ketten, Armbänder,

[Kärtchen der Ebene von Troja.]

[Plan von Troja (Ausgrabungen Schliemanns).]

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Troja - Trokar.

Diademe, Ringe) aus Gold und Silber, welche eine dem 2.Jahrtausend v. Chr. angehörende Kulturstufe kennzeichnen. Siesind zum größten Teil in das Museum fürVölkerkunde zu Berlin, wenige ins türkische Museum imSerail zu Konstantinopel oder in Schliemanns Haus in Athen gelangt.Schliemanns Hypothese fand sofort die Anerkennung englischerForscher, die deutschen wiesen sie zunächst zurück, wiez. B. R. Hercher, der noch 1876 behauptete, daß HomersSchilderung rein dichterisch die natürlichen Verhältnisseumgestaltet habe und durchaus nicht mit der wirklichenÖrtlichkeit zu vereinigen sei. Erst neuerdings hat Schliemannauch in Deutschland mehr und mehr Anklang gefunden. Aus derreichhaltigen Litteratur über T. vgl. außer denältern Werken von Le Chevalier ("Voyage de la Troade", 3.Aufl., Par. 1802, 3 Bde.), Webb ("Topographie de la Troade", das.1844), Forchhammer (Frankf. a. M. 1850), Clarke (Edinb. 1863)hauptsächlich die Veröffentlichungen Schliemanns:"Trojanische Altertümer" (Leipz. 1874), "Ilios" (das. 1881),"Reise in der Troas" (das. 1881), "Troja" (das. 1883); fernerChrist, Topographie der trojanischen Ebene und die Homerische Frage(Münch. 1874); Eckenbrecher, Die Lage des Homerischen T.(Düsseld.1875); O. Keller, Die Entdeckung Ilions zu Hissarlik(Freiburg 1875); Steitz, Die Lage des Homerischen T.("Jabrbücher für klassische Philologie" 1875); Hercher,Über die Homerische Ebene von T. (Berl. 1876); Ed. Meyer,Geschichte von Troas (Leipz. 1877); E. Brentano: Alt-Ilion imDumbrekthal (Heilbr. 1877), Zur Lösung der trojanischen Frage(das. 1881), T. und Neu-Ilion (das. 1882); Virchow, Beiträgezur Landeskunde der Troas (Berl. 1880).

Troja, Stadt in der ital. Provinz Foggia, Kreis Bovino,am Celone, Bischofsitz, hat ein geistliches Seminar, eine 1093gegründete schöne Kathedrale und (1881) 6722 Einw. T.ward im 10. Jahrh. von Griechen angelegt; hier 1462 Sieg FerdinandsI von Aragonien über die Anhänger des Herzogs vonAnjou.

Trojan, Kreishauptstadt in Bulgarien, am Osemsüdlich von Lowatz im Balkan gelegen, 400 m ü. M., mit(1881) 6301 Einw., welche hauptsächlich Viehzucht, Acker- undObstbau treiben.

Trojanischer Krieg, der zwischen Griechen undKleinasiaten bei Troja nach der gewöhnlichen Annahme von 1193bis 1184 v. Chr.geführte Krieg. Die Sage berichtet überdenselben: Als Paris, der zweite Sohn des Königs Priamos vonTroja, das Recht der Gastfreundschaft verletzend, des KönigsMenelaos von Sparta Gemahlin, die von Aphrodite ihm bestimmteschöne Helena, entführt hatte, verweigerte Priamos der anihn geschickten Gesandtschaft deren Herausgabe. Darauf ward von dengriechischen Fürsten der Rachezug gegen Troja beschlossen. Diehervorragendsten unter den Helden, welche sich zu Aulis inBöotien versammelten, waren: Menelaos und dessen BruderAgamemnon, Odysseus, Diomedes, Achilleus, Patroklos, Nestor, Aiasder Oilier und Aias der Telamonier, Philoktetes und Idomeneus.Agamemnon ward zum Oberanführer gewählt, und nach einigemdurch Windstille verursachten Aufenthalt (s. Iphigenie) segelte dieFlotte ab nach Kleinasiens Küste. Unterdes hatten aber auchdie Trojaner ihre Stadt befestigt. Ihre Bundesgenossen warenMakedonier, Thraker, Assyrer, Äthiopier und ihr vornehmsterHeld Hektor, des Priamos ältester Sohn. Neun Jahre langwährte der Kampf ohne Entscheidung, und die Griechenunternahmen während dessen zahlreichePlünderungszüge in Kleinasien. Im 10. Jahr brach derZwist zwischen Agamemnon und Achilleus aus, infolge dessen sichdieser eine Zeitlang vom Kampf zurückzog und die Griechenwiederholte Niederlagen erlitten. Schon rieten im Lager derGriechen viele zum Rückzug, aber nach Achills Wiedereintrittin den Kampf und dem Fall Hektors kam für Troja dennoch derTag des Untergangs. Infolge eines Orakelspruchs schlichen sichDiomedes und Odysseus in die Stadt und entwendeten aus dem Tempelder Athene das ihr geheiligte Bild (Palladium), das Schutzheiligtumder Stadt, wodurch das Glück von den Trojanern wich. Hieraufließen die Griechen auf des Odysseus Rat ein kolossaleshölzernes Pferd erbauen, in dessen hohlem Bauch sich eineauserlesene Schar verbarg. Die übrigen Griechen begaben sichauf ihre Schiffe und fuhren in der Nacht davon. Als nun am andernTag die Trojaner das Griechenlager verlassen sahen, strömtensie scharenweise aus der Stadt, sich wundernd über dasseltsame Ungeheuer, bis ihnen ein im nahen Schilf aufgefundenerGrieche, Sinon, berichtete, daß die über den Raub ihresHeiligtums erzürnte Göttin Athene den Trojanern zumErsatz dies Pferd geschenkt habe. Des warnenden Laokoon Schicksalbeschwichtigte jeden Argwohn, es ward ein Stück der Mauer umTroja eingelegt, der Koloß nach der Stadt gezogen und nebendem Tempel der Athene aufgestellt. In der Nacht entstiegen dieGriechen dem Bauch des Pferdes, und die griechischen Schiffekehrten zurück. Ein allgemeines Blutbad begann, die Stadt wardangezündet und geplündert. Nur einer kleinen Schar vonTrojanern unter der Anführung des Äneas gelang es, sichdurch die Flucht zu retten und in Italien eine neue Heimat zubegründen. Viele der heimkehrenden Griechen fanden unterwegsihren Untergang; andre, namentlich Odysseus, erreichten erst nachmancherlei Irrfahrten ihr Vaterland; noch andre fanden in derHeimat ihre Herrschersitze von andern eingenommen, weshalb entwedersie selbst oder ihre Söhne in fremden Ländern Koloniengründeten. Dies ist der Inhalt der Sage, wie sie uns in denHomerischen Gedichten, vor allen in der Iliade, welche aber nur denZorn des Achilleus und den Tod Hektors erzählt, dann in denEpen der Kykliker und nach diesen in Vergils Äneideüberliefert ist. Die griechischen Historiker haben denTrojanischen Krieg für wirkliche Geschichte gehalten und ihnals festen Punkt angenommen, an den sie ihre Zeitrechnunganknüpften. Auch neuere Gelehrte nehmen wenigstens einenhistorischen Kern der Sage an, während die Ansicht mehrWahrscheinlichkeit für sich hat, daß der Krieg nur einSpiegelbild der Kämpfe ist, welche die Äolier undAchäer um 1050 v. Chr. bei der Kolonisation derkleinasiatischen Küste mit den den Griechen stammverwandtenDardanern am Hellespont zu bestehen hatten; an den Thaten ihrerVorfahren, welche sie in ihren Gesängen verherrlichten,ermutigten und stärkten sich nicht nur die Hellenen in demlangwierigen Kampf, sondern sie glaubten auch durch die Annahmeeiner frühern Eroberung Trojas durch ihre Väter einAnrecht auf die begehrten Länder zu erwerben. Vgl. E.Rückert, Trojas Ursprung, Blüte, Untergang (Gotha 1846),und die Litteratur zu Troja; ferner Schneider, Der troischeSagenkreis in der ältesten griechischen Kunst (Leipz.1886).

Trokar (Troikart, v. franz. trois quarts), dolchartigeschirurg. Instrument, das aus einem dreikantig zugespitzten Stilettvon Stahl mit Holzgriff und aus einer Metallhülsezusammengesetzt ist, welche, über den Dolch gestreift, nurdessen Spitze frei läßt. Man bedient sich des Trokars,um aus natürlichen oder

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Troki - Trollope.

krankhaften Körperhöhlen durch Punktion abnormeFlüssigkeiten zu entleeren, da das Stilett, nachdem derEinstich gemacht ist, herausgezogen wird. Durch die Röhrekönnen, wenn der Ausfluß beendet ist, auch Medikamenteeingespritzt werden. Anwendung findet der T. bei Wassersuchtenaller Art, Wasserbruch, Kropf, Brustfellentzündungen,Echinokokkusblasen, Eierstocksgeschwülsten etc., auch zurEntfernung der Luft aus dem durch zu viel frisches Futteraufgeblähten Pansen der Wiederkäuer. Die Figuren zeigeneinen großen (1), zwei kleine (2 u. 3), einen Probetrokar (4)und einen gebogenen T. (5).

[Trokare.]

Troki, Kreisstadt im litauisch-russ. Gouvernement Wilna,an einem See, mit (1885) 2456 Einw.

Trokieren, s. Barattieren.

Troll, in der nord. Mythologie eine Art böserGeister, Zauberwesen in Menschengestalt. Hübsche Sagen vonihnen in Asbjörnsens "Norwegischen Volksmärchen" (Leipz.1881).

Trollhättafälle, s. Götaelf.

Trollius L., Gattung aus der Familie der Ranunkulaceen,Kräuter mit gelappten Blättern und einzeln stehenden,großen, meist gelben Blüten. Von den neun in dernördlichen gemäßigten Zone heimischen Arten kommtT. europaeus L. (Trollblume, Glotzblume) auf Wiesen auch inDeutschland vor, sie wird wie T. asiaticus L. mit orangegelbenBlüten, aus dem nördlichen Asien, und andre Arten inGärten als Zierpflanze kultiviert.

Trollope (spr. tróllop), 1) Frances, engl.Schriftstellerin, geboren um 1779 zu Heckfield, Tochter desdortigen Vikars Multon, verheiratete sich 1809 mit dem AdvokatenThomas Anthony T., welcher 1835 starb. Eine Frucht ihresdreijährigen Aufenthalts in Amerika war: "Domestic manners ofthe Americans" (Lond. 1832, neue Ausg. 1849), worin sieschonungslos und einseitig die Schwächen des amerikanischenVolkscharakters rügt. Das Buch wurde mit begreiflicherEntrüstung in Amerika aufgenommen, mag aber doch nicht ohneEinfluß auf die fernere Entwickelung des amerikanischenCharakters geblieben sein. Derselbe satirische Geist spricht ausder Novelle "The refugee in America" (1830, 3 Bde.), währendsie indem Reisewerk "Belgium and Western Germany" (1833, 2 Bde.)mehr Anerkennung für die Vorzüge dieser Länderzeigt. Ihren Kampf mit den Amerikanern erneuerte sie in der Novelle"The adventures of Jonathan Jefferson Whitlaw" (1836), welche dasElend der farbigen Bevölkerung in den Sklavenstaaten Amerikasschildert. Zugleich erschien: "Paris and the Parisians in 1835"(1836, neue Ausg. 1842); darauf "The vicar of Wrexhill" (1836, neueAusg. 1860; deutsch, Aachen 1837, 3 Bde.), ihre beste Novelle, zwarvoll von Vorurteilen, jedoch auch voll trefflicherSittenschilderung, und ein neues Reisewerk: "Vienna and theAustrians" (1838), worin sie sich weit vorurteilsvoller zeigt alsin jenem über Belgien. Es folgte eine Reihe von Novellen undein Reisebericht über Italien ("Visit to Italy". 1842, 2Bde.). T. starb 6. Okt. 1863 in Florenz.

2) Thomas Adolphus, engl. Romanschriftsteller undKulturhistoriker, Sohn der vorigen, geb. 29. April 1810, studiertein Oxford und nahm 1842 seinen dauernden Wohnsitz in Florenz, wo ersich in vollem Maß in die italienischen Dinge einlebte,für die er denn auch eine Autorität geworden ist. Erveröffentlichte: "Girlhood of Catharine de Medici" (1856);"Tuscany in 1849 and 1850" (1859); "A decade of Italian women"(1859); "Paul the Pope and Paul the Friar" (1860); "FilippoStrozzi: last days of old Italian liberty" (1860); "Lenten journeyin Umbria and the Marches", Reisebild (1882); "History of thecommonwealth of Florence", sein Hauptwerk (1865, 4 Bde.); "Papalconclaves" (1876); eine vielfach angegriffene Geschichte desPapstes Pius IX. (1877, 2 Bde.) u. a. Auch hat T. seine Studienitalienischen Volkslebens in Romanen niedergelegt, von denen wirnennen: "La Beata" (1861), "Marietta" (1862), "Beppo the conscript"(1864), "Gemma" (1866), "Durnton Abbey"^ (1871) und "Diamond cutdiamond" (1875), ein Gemälde italienischen Hirtenlebens, undzuletzt das autobiographische Werk veröffentlicht: "What Iremember" (1887, 2 Bde.). - Seine Gattin Frances Eleanor T., seit1866 mit ihm vermählt, hat ebenfalls eine Reihe von Romanenveröffentlicht, so: "Aunt Margaret's trouble" (1866); "Thesacristan's household" (1876); "Veronica" (1876); "Black spiritsand whitte" (1877); "Like ships upon the sea" (1883); "My ownlove-story" (1882); "That unfortunate marriage" (1888) u. a. Mitihrem Gatten gab sie "The homes and haunts of Italian poets" (1881,2 Bde.), eine Reihe von anziehenden Aufsätzen, heraus.

3) Anthony, Bruder des vorigen, Romanschriftsteller, geb. 24.April 1815, erhielt seine Erziehung in Winchester und Harrow undbekleidete viele Jahre eine höhere Stellung in der englischenPostverwaltung. Sein erster Roman: "The Macdermots of Ballycleran"(1847), errang großen Erfolg, und hierdurch ermutigt, schritter rüstig vorwärts auf der eingeschlagenen Bahn,englisches Leben und zwar vorzugsweise das Kleinleben derhöhern Stände in künstlerischen Gebildenvorzuführen. Wir nennen von seinen angenehm und mitgroßem Talent, aber ohne besondere Vertiefung geschriebenenRomanen, deren Zahl sich auf etwa 80 Bande beläuft: "TheKellys and the O'Kellys" (1848); "The Warden" (1855); "The threeclerks" (1857); "The Bertrams" (1859); "Castle Richmond" (1860),ein Lebensbild aus dem südlichen Irland; "Rachel Ray" (1863);"Sir Harry Hotspur of Humble Thwaite" (1870); "Lady Anna" (1874);"The American senator" (1876); "Mr. Scarborough's family" (1883)etc. Auch hat T., der in dienstlichen Angelegenheiten wiederholteReisen nach den Kolonien unternahm, viele Reiseschriftenveröffentlicht, so: "West Indies and Spanish main" (1859, 7.Aufl. 1869), "Nortb America" (1862, 2 Bde.), "Travelling sketches"(1866), "Australia and New Zealand" (1873), "South Africa" (4.Aufl. 1878, 2 Bde.), "New South Wales and Queensland" (1874),"Victoria and Tasmania" (1874) u. a. Er starb 6. Dez. 1882 inLondon. Eine Ausgabe gesammelter Romane erschien 1871 in 11Bänden. Vgl. seine "Autobiography" (Lond. 1883, 2 Bde.).

4) Francis, Pseudonym, s. Féval.

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Tröltsch - Trommelsucht.

Tröltsch, 1) Eugen, Freiherr von, Kartograph, geb.28. April 1828 zu Ulm, gehörte bis 1864 derwürttembergischen Armee an und erhielt 1879 den Majorsrang. Ergab Dislokationskarten der deutschen, französischen undrussischen Heere heraus und übernahm im Auftrag der DeutschenAnthropologischen Gesellschaft den Entwurf der prähistorischenKarte von Deutschland und Nachbarländern, von welcher bisjetzt Südwestdeutschland und die Schweiz erschienen sind.Außerdem veröffentlichte er das Werk "Fundstatistik dervorrömischen Metallzeit im Rheingebiet" (Stuttg. 1884), eineprähistorische Karte von Schwaben sowie eine Karte überdie Verbreitung der Werkzeuge aus Nephrit, Jadeit undChloromelanit. T. ist auch Mitarbeiter an dem im amtlichen Auftragvon Paulus herausgegebenen Werk "Die Kunst- und Altertumsdenkmaleim Königreich Württemberg".

2) Anton Friedrich, Freiherr von, Mediziner, geb. 3. April 1829zu Schwabach bei Nürnberg, studierte seit 1847 in Erlangen dieRechte, seit 1848 in München Naturwissenschaft und 1849-53 inWürzburg Medizin. Nachdem er sich noch in München mitChemie und Physik beschäftigt hatte, widmete er sich in Berlinund Prag der Augenheilkunde und ging nach England und Irland, umunter Toynbee und Wilde die Behandlung der Ohrenkrankheiten zustudieren. Nach einem Winteraufenthalt in Paris kehrte er nachWürzburg zurück und arbeitete hier über die Anatomiedes Trommelfells. 1857 begann er seine Praxis, welche er baldausschließlich auf Ohrenkrankheiten beschränkte. 1860habilitierte er sich daselbst als Privatdozent, und 1864 wurde erzum Professor ernannt. Einer der bedeutendsten Ohrenärzte derJetztzeit, hat T. die Ohrenheilkunde durch eigne wissenschaftlicheUntersuchungen wesentlich gefördert. Außer vielenanatomischen Arbeiten lieferte er auch eine neueUntersuchungsmethode des Ohrs, nämlich die mit reflektiertemTages- oder Lampenlicht mittels des von ihm angegebenen Reflektors,eine Methode, welche zur Entwickelung der Ohrenheilkunde wesentlichbeigetragen hat und jetzt nahezu allgemein benutzt wird. T.schrieb: "Die Anatomie des Ohrs in ihrer Anwendung auf die Praxisund die Krankheiten des Gehörorgans" (Würzb. 1861);"Lehrbuch der Ohrenkrankheiten" (das. 1862, 7. Aufl. 1881); "Diechirurgischen Krankheiten des Ohrs" (in Pitha und Billroths"Handbuch der Chirurgie", Erlang. 1866); "Krankheiten desGehörorgans im Kindesalter" (in Gerhardts "Handbuch derKinderkrankheiten", Tübing. 1870); "Gesammelte Beiträgezur pathologischen Anatomie des Ohrs und zur Geschichte derOhrenheilkunde" (Leipz. 1883). Im J. 1864 begründete er das"Archiv für Ohrenheilkunde", die erste Zeitschrift in diesemFach.

Tromba (ital.), s. v. w. Trompete; T. marina(Meertrompete), s. Trumscheit.

Trombe (v. ital. tromba, Trompete), Wettersäule,Windhose, Wasserhose, Sandhose, eine dunkle, oft ganz schmaleSäule, die sich wie ein Trichter (oder Trompete) von denWolken herabsenkt und an ihrem untern Ende, wenn sie über dasfeste Land hinstreicht, Sand und andre leichte Gegenständeaufhebt und in die Luft hinaufwirbelt (Sandhose), wenn sieüber dem Wasser sich bildet, dieses aufwühlt und unterwirbelnder Bewegung gegen den von den Wolken herabhängendenTrichter hinaufsaugt. Die Tromben stellen Tornados (s. d.) inkleinerm Maßstab dar und sind oft von starkem Regen, zuweilenauch von Hagel, Blitz und Donner begleitet. Sie bilden sichvorzugsweise bei ruhiger und stark erwärmter Luft, als Wirkungvon aufsteigenden Luftströmen und zeigen sich fastausschließlich in der heißen Zeit des Jahrs. Diedrehende Bewegung der T. kann nach rechts, auch nach links sein,und ihre Kraft ist oft so stark, daß Bäume entwurzeltund Häuser abgedeckt werden. Vgl. Reye, Die Wirbelstürmeetc. (Hannov. 1872).

Trombidium, s. Milben; Trombidina (Pflanzenmilben),Familie aus der Ordnung der Milben (s. d., S. 607).

Tromblon, s. Espingole.

Trombooue (ital.), s. v. w. Posaune.

Tromlitz, A. von, Pseudonym, s. Witzleben 1).

Trommel (ital. Tamburo, Cassa; franz. Tambour, Caisse;engl. Drum), bekanntes Schlaginstrument, bestehend aus einem ausHolzdauben gefügten oder blechernen Cylinder (dem sogen.Sarg), der auf beiden offenen Enden mit einem Kalbfell bespanntist, das durch Holzreifen festgehalten wird. Die Holzreifen sinddurch eine im Zickzack gespannte Schnur miteinander verbunden,durch deren schärferes Anziehen vermittelst Schlingen, welcheüber je zwei Schnurstücke geschoben sind, der Ton der T.heller gemacht werden kann. Auf dem einen Fell der T. wird mitKlöppeln (Trommelstöcken, bei der großen T. miteinem lederbezogenen Schlägel) geschlagen, über das andreFell ist eine Darmsaite (die Sangsaite) straff gezogen. Wird nundie eine Membran in Schwingung versetzt, so tönt die andre mitund zwar vermöge der immer erneuten Berührung mit derDarmsaite stark schnarrend; ohne die Schnarrsaite ist der Ton kurzund dumpf. Die T. wird nicht abgestimmt und daher wie dieübrigen Schlaginstrumente außer der Pauke nur demRhythmus nach notiert. Der Trommelwirbel wird wie bei der Pauke aufeiner Linie als Triller oder Tremolo notiert. Die verschiedenenArten der T. sind: 1) Große T. (Gran tamburo, Grosse caisse,Bass-drum), gewöhnlich mit den Becken vereinigt; 2) dieRolltrommel (Caisse roulante), kleiner als die vorige, aber dochnoch größer als die 3) Militärtrommel, deren Tonhell und durchdringend ist. Gegen frühere Zeiten werden dieCylinder der Trommeln jetzt stark verkürzt, besonders bei derMilitärtrommel. Vgl. Kling, Trommelschule (Hannov. 1882).

Trommel, rotierender Hohlcylinder bei Krempel-,Rauhmaschinen, Zentrifugen; auch eine cylindrische Scheibe zumAufwinden eines Seils etc. In der Architektur nennt man Trommelndie einzelnen cylindrischen Blöcke von Haustein, aus welchenSäulen zusammengesetzt werden.

Trommelfell, Trommelhöhle, s. Ohr, S. 349.

Trommelinduktor, s. Magnetelektrische Maschinen, S.79.

Trommelrad, als Tympanum schon den Alten bekannteWasserhebemaschine, welche aus einem um eine hohle horizontaleWelle drehbaren Hohlcylinder besteht. Radiale Wände teilendiesen in eine Anzahl Zellen, deren jede durch eine periphaleSchöpföffnung mit der Umgebung, durch eineAusgußöffnung in der hohlen Welle mit dieserkommuniziert. Bei der Drehung dieses Rades tritt Wasser in dieunten gelegenen Zellen, wird dann bis zur Höhe der Achseemporgehoben und entweicht durch diese in eine Rinne. DieSchneckenräder, gleichfalls Tympanons genannt, haben statt derdurch radiale Scheidewände gebildeten Zellen spiralförmiggebogene Gqnge, deren äußere Enden Wasser schöpfenund dasselbe während der Drehung nach innen bis in die hohleAchse und von da in ein Gerinne fließen lassen.

Trommelsucht, s. Blähungen und Aufblähen.

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Trommsdorff - Trompete.

Trommsdorff, Johann Bartholomäus, Chemiker, geb. 8.Mai 1770 zu Erfurt, erlernte in Weimar die Pharmazie, übernahm1794 die Apotheke seines Vaters in Erfurt, erhielt 1795 an derUniversität daselbst die Professur der Chemie und Physik underrichtete 1796 eine pharmazeutisch-chemische Lehranstalt, welchebis 1828 blühte. 1823 wurde er Direktor der königlichenAkademie zu Erfurt. Er starb 8. März 1837. Seine Hauptwerkesind: das "Systematische Handbuch der Pharmazie" (Erf. 1792, 4.Aufl. 1831); das "Systematische Handbuch der gesamten Chemie" (2.Aufl., das. 1805-20, 8 Bde.); "Die chemische Rezeptierkunst" (5.Aufl., Hamb. 1845); auch gab er das "Journal der Pharmazie" heraus(1793-1817), das erste pharmazeutische Journal in Deutschland, bis1834 als "Neues Journal der Pharmazie" fortgesetzt. Biographienerschienen Kopenhagen 1834 und von Mensing (Erf. 1839).

Tromp, 1) Martin Harpertzoon, berühmterholländ. Admiral, geb. 1597 zu Briel, trat jung in denSeedienst, ward 1624 zum Fregattenkapitän ernannt und 1637 zumAdmiralleutnant und Befehlshaber eines Geschwaders von 11 Schiffenbefördert, mit dem er 18. Febr. 1639 auf der Höhe vonGragelingen eine weit stärkere spanische Flotte schlug. ZumAdmiral ernannt, schlug er 21. Okt. 1639 eine spanische Flotte vorden Dünen und eroberte 13 reichbeladene Gallionen. Nachdem erjedoch 1652 durch einen Sturm im Kanal die Hälfte seinerFlotte verloren, mußte er das Oberkommando an de Ruyterabgeben, erhielt es aber noch in demselben Jahr zurück undschlug 10. Dez. die englische Flotte unter Blake bei denDünen. 1653 bestand er im Verein mit de Ruyter einendreitägigen Kampf (28. Febr. bis 2. März) gegen dieüberlegene englische Flotte und brachte die ihm zur Deckunganvertrauten Handelsschiffe glücklich in den Hafen. Ein neuerAngriff auf die englische Flotte 12. und 13. Juni mißlang.Nachdem T. seine Flotte wiederhergestellt hatte, segelte er mit deRuyter an die Küste von Zeeland, zog hier noch 27 Schiffeunter dem Admiral de With an sich und griff (8. Aug. 1653) beiTer-Heyde die 120 Schiffe zählende englische Flotte an. Erdurchbrach zwar die feindliche Linie, wurde aber vom Feindumzingelt, von seiner Flotte abgeschnitten und fiel 10. Aug. tapferkämpfend, worauf die völlige Niederlage derNiederländer den zweitägigen Kampf endete. Er soll in 33Seetreffen gesiegt haben. In der Kirche zu Delft ward ihm einprächtiges Grabmal errichtet.

2) Cornelis, holländ. Seeheld, Sohn des vorigen, geb. 9.Sept. 1629 zu Rotterdam, befehligte schon in seinem 19. Jahr einSchiff gegen die afrikanischen Seeräuber und ward zwei Jahrespäter zum Konteradmiral befördert. Nach derunglücklichen Schlacht bei Solebay (13. Juni 1665) rettete erdurch einen geschickten Rückzug die holländische Flotteund ward von de Witt, obgleich Anhänger der oranischen Partei,bis zu de Ruyters Rückkehr mit dem Oberbefehl betraut. In derviertägigen Schlacht bei den Dünen (vom 11.-14. Juni1666) focht er mit Auszeichnung, ward aber dann, als er im Augusteine englische Flotte, die er geschlagen, zu hitzig verfolgte, vonder Hauptflotte abgeschnitten und, weil er in dieser Lage demAdmiral de Ruyter nicht hatte zu Hilfe eilen können,abberufen. Im Kriege gegen die verbündeten Mächte Englandund Frankreich 1673 wieder zum Befehlshaber ernannt, bewährteer in den drei blutigen Schlachten 7. und 14. Juni und 21. Aug.sein Talent und seinen Mut in glänzendster Weise und erwarbsich selbst auf gegnerischer Seite solche Achtung, daß ihnKönig Karl II. von England nach Abschluß des Friedens1675 zum Baronet ernannte. Hierauf führte T. eine Flotte zurUnterstützung der Dänen gegen die Schweden und ward nachde Ruyters Tod zum Oberbefehlshaber der Flotte der vereinigtenniederländischen Provinzen befördert. Er starb 29. Mai1691 in Amsterdam und wurde zu Delft in dem Grabmal seines Vatersbeigesetzt.

Trompe, vorgekragte, eine Fläche doppelterKrümmung bildende Wölbung, welche in der Architektur beimÜbergang aus einer Grundform in eine andre größereoder mindestens mit einzelnen Teilen vor jener vorstehendeangewandt wird, wenn ein einzelner Kragstein nicht ausreicht. Manunterscheidet äußere oder Ecktrompen und innere, Winkel-oder Nischentrompen (s. Abbild.).

Tromper Wiek, Meerbusen an der Nordwestseite der InselRügen, zwischen den Halbinseln Jasmund u.Wittow.

Trompete (ital. Tromba, franz. Trompette, engl. Trumpet),bekanntes Blechblasinstrument, mit den Hörnern und Kornettseine Familie bildend und der Tonhöhe nach zwischen beiden dieMitte haltend, d. h. T. ist das Oktavinstrument des Kornetts undKornett das der T. Die T. ist alt, spielte besonders in derMilitärmusik (Felttrummet) schon im Mittelalter eine Rolle.Das entsprechende Instrument des Altertums war die Tuba, einegerade Metallröhre; die Kunst, Röhren zu winden, istjüngern Datums, und selbst noch die Trompeten des 16. Jahrh.weisen keine in sich zurückgehenden, sondern nurSchlangenlinien auf. Die moderne T. unterscheidet sich vom Hornauch durch die Gestalt der Windungen, welche beim Horn mehrkreisförmig, bei der T. dagegen gestreckter sind. Wie dem Hornwird auch der T. durch Einsatzstücke eine verschiedenartigeStimmung gegeben (in As, A, B, H, C, Des, D, Es, E, F, Fis, G undhoch As). Die T. ist ziemlich eng mensuriert, ihr tiefster Eigentondaher nicht zu brauchen (nur bei den höchsten Trompetenartenvon der in F ab), und auch der zweite Partialton ist bei dentiefsten Arten (bis zu der in B) noch von schlechtem Klang. Notiertwird für die T. wie für das Horn (transponierend), nurklingt die T. eine Oktave höher als das Horn, d. h. ein c''für F-Horn geschrieben klingt wie f'; für F-T. dagegenwie f''. Der Umfang der T. in der Höhe ist für alle Artenungefähr derselbe, nämlich der wie: [s. Bildansicht]klingende Ton; nur virtuose Bläser beherrschen mit Sicherheithöhere Töne. Der Klang der T. ist scharf unddurchdringend, im Verein mit andern Blechblasinstrumentenglänzend und festlich und dann berufenes Melodieninstrument;dagegen klingt eine Trompetenmelodie, die nicht durch andreBlechinstrumente gedeckt oder sehr getragen ist, gemein. Wagnerschrieb stets für drei Trompeten, um vollständigeDreiklänge mit Instrumenten derselben Klangfarbe geben zukönnen. Im Symphonieorchester, wo in der Regel nur zweiTrompeten zu finden sind, bilden diese bald mit den Hörnern,bald (im Gegensatz zu den vier Hörnern) mit den Posaunen eineselbständige Gruppe. Die Naturtrompeten verschwinden jetztmehr und mehr vor den Ventiltrompeten, die wie dieVentilhörner durch Ventile (Cylinder, Pistons etc.) dieTonhöhe der Naturskala zu verschieben gestatten. DieVentil-

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Trompetenbaum - Tropen.

trompeten stehen gewöhnlich in F und werden dementsprechend notiert. Von Schulwerken für T. sind besonders zuempfehlen die "Große Schule für Cornet à pistonsund T." von Kosleck (2 Tle.) und die "Orchesterstudien für T."von F. Gumbert. Vgl. Eichborn, Die T. in alter und neuerZeit(Leipz.1881).

Trompetenbaum, s. Catalpa und Cecropia.

Trompetenblume, s. Bignonia.

Trompetenblütler, s. Bignoniaceen.

Trompetengeige, s. Trumscheit.

Trompetenschnecke, s. Tritonshörner.

Trompetervögel (Psophiidae Bp.), Familie derWatvögel, Vögel mit kräftigem Leib, mittellangemHals, kurzem Schnabel, hohen, langläufigen, kurzzehigenFüßen, kurzen, gewölbten Flügeln und kurzem,schwachfederigem Schwanz. Der Agami (Psophia crepitans L.), 52 cmlang, schwarz, am Bug purpurschwarz schillernd, an Unterhals undOberbrust stahlblau schillernd, mit rotbraunem Auge,grünlichweißem Schnabel und gelblich fleischfarbenemFuß, lebt in zahlreichen Scharen in den Wäldernnördlich vom Amazonas, läuft sehr schnell, fliegt schwachund besitzt eine sonderbare Stimme. Nach einem scharfen, wildenSchrei folgt ein ungemein tiefes Trommeln oder Brummen, welchesdurch eigentümliche sackartige Anhängsel derLuftröhre hervorgebracht wird. Der Agami nährt sich vonFrüchten, Körnern, Insekten, nistet an der Erde und legtzehn und mehr hellgrüne Eier. In allen Indianerniederlassungenlebt der Agami als Haustier, als Wächter und Beherrscher desübrigen Geflügels und erscheint auch in den Straßender Ortschaften.

Tromsö, Hauptstadt des gleichnamigen norweg. Amtes,das sich zwischen den Ämtern Nordland und Finnmarken erstrecktund, in die zwei Vogteien Senjen und T. geteilt, 24,569,6 qkm(446,2 QM.) mit (1876) 54,019 Einw. umfaßt. Die Stadt liegtauf der 8 km langen Insel T., ist Sitz eines Bischofs, einesAmtmanns und eines deutschen Konsuls, hat mehrere Kirchen (aucheine katholische), einige Fabriken, Gymnasium, Lehrerseminar,lebhaften Handel (mit Fischen, Thran, Nickelerz etc.; Wert derAusfuhr über 2,5 Mill. Frank) und (1876) 5409 Einw. Dasgleichnamige Stift, erst 1844 gebildet, umfaßt dennördlichsten und nordöstlichsten Teil des Landes und zwardie Ämter: Nordland, T. und Finnmarken und hat einenFlächeninhalt von 111,609 qkm (2027 QM.) mit (1876) 182,245Einw.

Trona, s. Soda, S. 1047.

Trouchet (spr. trongschä), Francois Denis, franz.Advokat und Verteidiger Ludwigs XVI., geb. 1726 zu Paris, erlangteals Advokat einen bedeutenden Ruf, wurde 1789 von der Stadt Parisin die Nationalversammlung gewählt, bewies sich hier alsAnhänger des konstitutionell-monarchischen Prinzips und wardvom König 1792 zu seinem Verteidiger erwählt. SeineVerteidigung war gründlich gearbeitet, aber von geringerWirkung, da sie sich streng auf juristischem Boden hielt. UnterRobespierre mußte T. fliehen, unter dem Direktorium trat erin den Rat der Alten, unter dem Konsulat ward er Präsident desKassationshofs, erhielt nebst Bigot-Préameneu, Mullevilleund Portalis die Redaktion des neuen Zivilkodex übertragen undward 1801 in den Erhaltungssenat berufen. Er starb 10. März1806.

Tronchiennes (spr. trongschiénn, vläm.Drongen), Flecken in der belg. Provinz Ostflandern, Arrondissem*ntGent, an der Lye und der Eisenbahn Gent-Brügge, mitgroßer Krappfabrik und (1888) 4957 Einw.

Trondhjem, Stadt, s. Drontheim.

Tronto (im Altertum Truentus), Küstenfluß inMittelitalien, entspringt in den Bergen von Campotosto (ProvinzAquila), fließt anfangs nördlich, dann östlich,nimmt bei Ascoli den Castellano auf, wird bei Martino Sicurofür kleine Fahrzeuge schiffbar und fällt nach einem Laufevon 88 km in das Adriatische Meer.

Troon (spr. truhn. "Vorgebirge"), Seestadt im mittlernAyrshire (Schottland), mit sicherm Hafen, bedeutender Kohlenausfuhrund (1881) 2383 Einw. Zum Hafen gehörten 1888: 53Fischerboote.

Tropäoleen (Tropaeolaceae), dikotyle, etwa 35 Artenumfassende, in Südamerika einheimische Pflanzenfamilie aus derOrdnung der Gruinales, welche sich durch zygomorphe Blüten mitacht Staubgefäßen und einem dreifächerigenFruchtknoten von den nächstverwandten Familienunterscheidet.

Tropäolin, s. Azofarbstoffe undPhenylfarbstoffe.

Tropaeolum L. (Kapuzinerkresse), Gattung aus der Familieder Tropäoleen, ein- oder mehrjährige, windende, seltenerniedergestreckte Kräuter mit oft knolligen Wurzeln,wechselständigen, schild- oder handförmigen, eckigen,gelappten oder eingeschnittenen Blättern, einzelnachselständigen, gelben, selten purpurnen oder blauen,gesp*rnten Blüten und trocknen oder schwammig-fleischigenFrüchten. 35 südamerikanische Arten. T. majus L.(spanische, türkische Kresse, unechte Kaper), einjährig,1684 aus Peru nach Europa verpflanzt und jetzt in zahlreichenVarietäten in allen Gärten zu finden, mit meistkletterndem Stengel, schildförmigen Blättern undgroßen, orangegelben bis purpurbraunen Blüten, schmecktkressenartig und wirkt antiskorbutisch, wird auch als Salatgegessen, während man die Blütenknospen und die unreifen,in Essig oder Salz eingelegten Früchte wie Kapern benutzt. Ausdieser Art und dem ähnlichen T. minus L. aus Peru sindzahlreiche Varietäten, auch Zwergformen gezüchtet worden.T. tuberoseum R. et P., mit knolligem Wurzelstock undfünflappigen Blättern, wird in Peru der genießbarenKnollen halber kultiviert und gedeiht auch bei uns. Andreknollentragende Arten, wie T. Lobbianum Paxt. aus Kolumbien, mitleuchtend kapuzinerroten Blüten (s. Tafel "Zimmerpflanzen I"),T. pentaphyllum Lam. aus Montevideo, mit scharlachroten, grünzugespitzten Blüten, etc., kultiviert man als Zierpflanzen inGewächshäusern.

Tropea, Stadt in der ital. Provinz Catanzaro, KreisMonteleone, am Tyrrhenischen Meer, Bischofsitz, mit Kathedrale,Schloßruinen, kleinem Hafen, Fischerei, Fabrikation vonStiefelsohlen und Baumwolldecken und (1881) 5032 Einw.

Tropen (griech.), s. v. w. bildliche Ausdrücke,durch welche der eigentliche Ausdruck mit dem uneigentlichen, dieSache mit dem Bild vertauscht wird, um das Geistige zuversinnlichen und das Sinnliche zu vergeistigen (s. Figur); dahertropisch, s. v. w. bildlich, figürlich (Gegensatz:kyriologisch). Die wichtigsten T. sind: Allegorie, Antonomasie,Epitheton, Hyperbaton, Hyperbel, Ironie, Katachresis, Metalepsis,Metapher, Metonymie, Onomatopöie, Periphrasis, Rätsel undSynekdoche. Vgl. Groß, Die T. und Figuren (2. Aufl., Leipz.1888). - Im Gregorianischen Gesang heißen T. dieverschiedenen Gesangsformeln für den Schluß der demIntroitus angehängten kleinen Doxologie "Gloria patri et filioet spiritui sancto sicut erat in principio et nunc et in seculaseculorum amen" (vgl. Evovae). - In der Astronomie heißttropisch auf den Tierkreis bezüglich;

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Tropfen - Tropikvogel.

tropischer Umlauf eines Himmelskörpers die Zeit, nachwelcher er wieder zum Frühlingspunkt zurückkehrt. In derErdbeschreibung sind T. s. v. w. Wendekreise; daherTropenländer, die zwischen den Wendekreisen, also in derheißen Zone, gelegenen Länder (auchÄquinoktialgegenden genannt); tropische Gewächse, diedort einheimischen Gewächse (vgl. die Litteratur zum Artikel"Landwirtschaft", S. 480); tropische Krankheiten, die durch dastropische Klima bedingten und daher vorzugsweise in denTropenländern herrschenden Krankheiten, als Dysenterie,Diarrhöe und Erbrechen, Abdominalplethora, Gallen- undintermittierende Fieber etc. Vgl. Friedmann, Über Arzneikundeund Akklimatisation in den Tropenländern (Erlangen 1850);Sullivan, The endemic diseases of tropical climates (Lond. 1877);Falkenstein, Ärztlicher Ratgeber für Seeleute,Kolonisten, Reisende etc. (Berl. 1882).

Tropfen, für sich bestehende Flüssigkeitsmengemit abgerundeter Oberfläche. T., auf welche außer ihrereignen Kohäsion und Massenanziehung keine andre Kraft wirkt,bilden vollkommene Kugeln. Ruht ein T. auf einer Unterlage, so wirder nicht nur durch die Schwere abgeplattet, sondern auch dieAdhäsion zur Unterlage übt Einfluß auf seineGestalt. Die Größe und Gestalt von T., die von einemKörper herabhängen, wird bestimmt durch ihr spezifischesGewicht, ihre Kohäsion und Temperatur und durch dieAdhäsion zu jenem Körper, von welchem die Körperabfließen. Nach Gay-Lussac ist das Gewicht der T.verschiedener Flüssigkeiten, welche aus einer Röhre vonbestimmtem Durchmesser herabfallen, nicht den Dichtigkeiten dieserFlüssigkeiten proportional. 100 T. Wasser von 15° wogen8,9875 g, 100 T. Alkohol (spez. Gew. 0,8543) nur 3,0375 g. Ein T.destillierten Wassers wird gewöhnlich zu 1 Gran angenommenoder 20 T. zu 1 g. Über den "Leidenfrostschen T." s. d.

Tropfgläser, Fläschchen mit einem kleinen Lochim Hals und einem eingeriebenen Glaspfropfen mit einem Kanal, der,auf jenes Loch eingestellt, in die Flasche Luft eintretenläßt, während gleichzeitig ein zweiter Kanal zueinem Ausguß im Flaschenhalsrand führt. T. dienen zuArzneimitteln, die tropfenweise genommen werden müssen.

Tropfhäusler, s. Bauer, S. 462.

Tropfstein, Mineralien, welche sich als Absatz ausherabtropfenden Flüssigkeiten gebildet haben (vgl. Sinter). T.findet sich in Höhlen, Gewölben, Grubenbauten etc., meistvon cylindrischer oder zapfenförmiger Gestalt, bisweilenplatt, häufig hohl. Dem allmählichen Absatz entsprechend,ist er meist aus einzelnen, durch verschiedene Färbung oderHaarspalten voneinander abgehobenen Lagen gebildet, und dieeinzelnen Lagen sind aus faserigen Individuen, welche senkrecht zurLängsachse oder zur Begrenzungsfläche stehen,zusammengesetzt, oder er stellt grobkörnige Aggregate dar,besitzt mitunter aber auch eine durchsetzende Spaltungsrichtung undist dann also aus einem einheitlichen Individuum gebildet. T.besteht meist aus kohlensaurem Calcium (Kalkspat, seltenerAragonit); doch kommen auch Vitriole, Brauneisenstein, Zinkblende,Bleiglanz, Eisenkies, Malachit, Chalcedon, Eis etc. als T. vor. Manunterscheidet die von der Decke der Gewölbe nach abwärtshängenden Stalaktiten und die denselben entgegenwachsendenStalagmiten. Vereinigen sich beide zu einer erstsanduhrförmigen, später cylindrischen Gestalt, soentstehen Säulen, deren Mehrheit man auch wohl Orgeln nennt.Berühmte Tropfsteinhöhlen sind: die Sophien- und andreHöhlen in der Fränkischen Schweiz, mehrere Höhlender württembergischen Alb, die Baumannshöhle u. a. imHarz, die Dechenhöhle u. a. in Westfalen, die AdelsbergerHöhle in Krain, die auf der griechischen Insel Antiparos(Aragonit), diejenigen am obern Mississippi (Schwefelmetalle).

Trophäe (lat., griech. Tropäon), bei denGriechen ein an der Stelle, wo sich der besiegte Gegner zur Fluchtgewendet hatte, aus erbeuteten Waffen errichtetes Siegesmal.Münzen zeigen oft einen Baumstamm mit Querbalken und darangehängten Rüstungsstücken und Waffen (s. Figur). Vonden Griechen überkamen die Römer den Brauch, pflegtenaber als Siegesdenkmäler feststehende Monumente mitReliefdarstellungen zu errichten. Heute nennt man Trophäen diemit bewaffneter Hand im Kampf eroberten Fahnen, Standarten undGeschütze (früher auch noch die Pauken der Kavallerie),auch Zusammenstellungen von Waffen und Waffenteilen zurAusschmückung von Zeughäusern etc.

^[T r o p ä o n (böotische Münze).]

Trophoneurosen (griech.), Ernährungsstörungen,welche von Nervenerkrankungen abhängig sind. Das Gebiet der T.ist nicht sicher zu begrenzen, weil wir über dieAbhängigkeit der Ernährungsstörungen von den Nervenüberhaupt noch nicht genügend unterrichtet sind.Vielleicht gehören gerade die wichtigsten Erkrankungen,nämlich die elementaren Prozesse der Kongestion, derEntzündung, der Exsudation und Sekretion, ihrem Wesen nach zuden T. Zu den T. im engern Sinn rechnet man Atrophien der Muskelnbei Erkrankung der Vorderhörner des Rückenmarks,halbseitige Atrophien des Gesichts, die Gürtelflechte etc.

Trophonios, mythischer Baumeister der Minyer, Sohn desKönigs Erginos von Orchomenos in Böotien oder desApollon, erbaute mit seinem Bruder Agamedes den Apollontempel zuDelphi und verschiedene Schatzhäuser, namentlich das desHyrieus, Königs von Hyria in Böotien. Bei letzterm hattendie beiden Brüder einen Stein so eingefügt, daß erleicht herausgenommen werden konnte, um sich auf diese WeiseZutritt zu dem Schatze zu verschaffen. Der König legte endlichSchlingen, in denen Agamedes sich fing. Um nicht verraten zuwerden, schnitt T. seinem Bruder den Kopf ab und floh in den Waldbei Lebadeia. Hier ward er von der Erde verschlungen, an derStelle, welche später durch die sogen. Höhle des T.bezeichnet ward, in der Orakel erteilt wurden. Nach andrer Sagesandte Apollon den beiden Brüdern als Lohn für denTempelbau frühen Tod.

Tropidonotus, s. Nattern.

Tropikvogel (Phaëton L.), Gattung aus der Ordnungder Schwimmvögel und der Familie der Tropikvögel(Phaëtontidae), gedrungen gebaute Vögel mit kopflangem,seitlich stark zusammengedrücktem, auf der Firste seicht^[sic] gebogenem, an der Spitze geradem, an den eingezogenenRändern gesägtem Schnabel, langen Flügeln,mittellangem Schwanz, dessen beide fast fahnenlose Mittelfedernsich stark verlängern, und schwachen Beinen, deren Zehen nurdurch eine schmale Haut verbunden sind. Der T. (P. aethereus L., s.Tafel "Schwimmvögel III"), einschließlich der beidenetwa 60 cm langen Schwanzfedern 1 m lang, ebenso breit, istweiß, rosenrötlich überflogen, Zügelstreifenund Außenfahnen der Handschwingen sind schwarz, die hinternArmschwingen

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd.

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Tropisch - Trosse.

schwarz und weiß gesäumt, die Schwanzfedernweiß; das Auge ist braun, der Schnabel rot, der Fußgelb, Zehen und Schwimmhäute schwarz. Der T. gehört zuden schönsten Vögeln des Weltmeers; er wohnt zwischen denWendekreisen des Atlantischen, Indischen und Großen Ozeans,entfernt sich oft sehr weit von den Küsten, fliegtvortrefflich, begleitet die Schiffe oft tagelang und erinnert inseinem Wesen am meisten an die Raubseeschwalbe. Er fischt mitkräftigem Stoßen und Tauchen und frißt außerFischen auch Kopffüßer. Er nistet auf einsamen Inselnund legt die Eier einfach auf den Boden unter Gebüsch, wo eraber öfters beunruhigt wurde, in Höhlungen der Klippen.Das einzige Ei ist lehmfarben, rötlich oder violett gezeichnetund wird von beiden Eltern ausgebrütet. Die langen Federn desSchwanzes dienen auf mehreren Inseln des südlichen StillenMeers zum Zierat; man erbeutet sie, indem man den Vogel auf demNest fängt.

Tropisch, s. Tropen.

Troplong (spr. trolóng), Raymond Théodore,franz. Jurist, geb. 8. Okt. 1795 zu St.-Gaudens, ward nacheinanderStaatsprokurator auf Corsica, Generaladvokat zu Bastia, Rat amPariser Kassationshof, 1848 erster Präsident desAppellationshofs in Nancy, 30. Dez. 1852 erster Präsident desSenats, 1. Febr. 1858 Mitglied des Geheimen Konseils und starb 1.März 1869 in Paris. Sein Hauptwerk: "Le droit civilexpliqué suivant l'ordre des articles du Code " (Par.1833-56, 28 Bde.), enthält eine Reihe von Monographienüber das französische Zivilrecht. Vgl. Dufour, T., sonoeuvre et sa méthode (Par. 1869).

Tropp (vom griech. tropos), die deklamierende,psalmodierende Vortragsweise der Pentateuchabschnitte nachbestimmten Accenten beim israelitischen Gottesdienst.

Troppau, vormaliges schles. Fürstentum, das jetztzum Teil den Troppauer Kreis von Österreichisch-Schlesien, zumTeil den Leobschützer Kreis des preußischenRegierungsbezirks Oppeln bildet. Der böhmische KönigOttokar II. erhob das Gebiet zum Fürstentum und verlieh es1261 seinem natürlichen Sohne Nikolaus. Nachdem es unterdessen Nachkommen 1377 in die FürstentümerJägerndorf, Leobschütz und T. geteilt worden, fiel es1460 durch Kauf an den König Podiebrad von Böhmen. DessenSohn Viktorin überließ es durch Tauschvertrag 1485 anMatthias Corvinus, dessen Sohn Johann Corvinus es 1501 aber wiederan den König Wladislaw von Böhmen und Ungarn verkaufte,der es 1511 der Krone Böhmen für immer einverleibte. 1526ward es vom Erzherzog Ferdinand von Österreich als Königvon Böhmen in Besitz genommen und teilte seitdem die GeschickeSchlesiens. Mit Nichtbeachtung des Landesprivilegiums von 1511verlieh es Kaiser Matthias 1613 als erbliches Mannlehen an das HausLiechtenstein, in dessen Besitz es noch jetzt ist. Vgl. Ens, DasOppaland (Wien 1835 bis 1837, 4 Bde.); Biermann, Geschichte derHerzogtümer T. und Jägerndorf (Tesch. 1874).

Troppau (slaw. Opava), Hauptstadt vonÖsterreichisch-Schlesien wie ehemals von ganz Oberschlesien,liegt 247 m ü. M. in lieblicher Ebene am rechten Ufer derOppa, welche unterhalb der Stadt die Mohra aufnimmt, nahe derpreußischen Grenze, an den Eisenbahnlinien T.-Jägerndorfder Mährisch-Schlesischen Zentralbahn und T.-Schönbrunnder Nordbahn, hat Vorstädte, mehrere schöne Plätze,6 Kirchen, darunter die alte gotische Hauptpfarkirche und eineevang. Kirche, ein altes Rathaus (neuerlich im gotischen Stilumgebaut), ein fürstlich Liechtensteinsches Schloß, dasLandhaus, das Stadttheater, schöne Anlagen um die Stadt (anStelle der alten Wälle und Schanzen), eine Zuckerraffinerie,Fabrikation von Tuch, Fes, Jutewaren, Hüten, Zündwaren,Pottasche, Spiritus u. Likör, Bierbrauerei,Ringofenziegeleien, Mühlen etc., eine Gasanstalt, lebhaftenHandelsverkehr, große Märkte u. (1880) mit 1273 MannMilitär 20,562 Einw. T. ist Stadt mit eignem Gemeindestatut,Sitz der Landesregierung und Landesvertretung, des Landesgerichts,einer Bezirkshauptmannschaft (für die Umgebung), einerFinanzdirektion, einer Handels- u. Gewerbekammer und hat eindeutsches Obergymnasium und ein tschechisches Gymnasium, eineOberrealschule, eine Lehrer- und eine Lehrerinnenbildungsanstalt,eine Handelsschule, ein Landesmuseum, eine Bibliothek (35,500Bände), eine Landeskranken- und Irrenanstalt und andreWohlthätigkeitsanstalten, eine Bodenkreditanstalt, eineFiliale der Österreichisch-Ungarischen Bank und eineSparkasse. Jenseit der Oppa liegt das Dorf Katharein, mitRübenzuckerfabrik, Spiritusbrennerei und (1880) 4292 Einw. -T. entwickelte sich als deutsche Ansiedelung in der Nähe derBurg Gräz (Gradec), wird urkundlich zuerst 1195 genannt, 1224erscheint es bereits als Stadt mit deutschem Recht. Hier ward 20.Okt. bis 30. Sept. 1820 ein durch die neapolitanische Revolutionveranlaßter Fürstenkongreß abgehalten, auf welchemsich die Monarchen von Österreich, Preußen undRußland zur Aufrechterhaltung des Zustandes von 1815 inEuropa verpflichteten. Die weitere Ordnung der neapolitanischenFrage wurde dem Kongreß von Laibach (s. d.)überlassen.

^[Wappen von Troppau.]

Troppo (ital.), zu sehr, z. B. Adagio no troppo, langsam,doch nicht zu sehr.

Troquieren (franz., trokieren), s. v. w. barattieren (s.d.).

Trosch., bei naturwissenschaftl. Namen Abkürzungfür F. H. Troschel (s. d.).

Troschel, Franz Hermann, Zoolog, geb. 10. Okt. 1810 zuSpandau, studierte seit 1831 in Berlin Mathematik undNaturwissenschaft, fungierte 1835-49 als Lehrer an derKönigsstädter höhern Bürgerschule, habilitiertesich 1844 an der Universität als Privatdozent fürZoologie, nachdem er seit 1840 unter Lichtenstein eineKustedenstelle am zoologischen Museum bekleidet hatte, und folgte1849 einem Ruf als Professor der Zoologie und der allgemeinenNaturwissenschaft nach Bonn, wo er 6. Nov. 1882 starb. Er schrieb:"System der Asteriden" (mit Joh. Müller, Braunschw. 1842);"Horae ichthyologicae" (mit Joh. Müller, Berl. 1845-49, 3Hefte); "Das Gebiß der Schnecken zur Begründung einernatürlichen Klassifikation" (das. 1856-79, 2 Bde.). Nach demTod Wiegmanns bearbeitete er die 2. Auflage von Wiegmann und Ruthes"Handbuch der Zoologie" (7. Aufl., Berl. 1871). An denJahresberichten im "Archiv für Naturgeschichte" beteiligte ersich seit 1837 (anfangs über Mollusken, später überFische, Amphibien, Säugetiere schreibend), und 1849übernahm er die Redaktion des Archivs.

Trossachs, malerischer Paß in Schottland, zwischenCallander am Teith und dem untern Ende des Loch Katrine.

Trosse, Schiffstaue, welche aus dünnenHanffäden (Kabelgarnen) hergestellt werden. Die Garne, welchefast stets von gleicher Stärke sind, werden ingroße-

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Trossin - Troyes.

rer oder geringerer Zahl je nach der Stärke des Taues zuDuchten zusammengedreht, und drei bis vier solcher Duchten liefernbeim Zusammenschlagen die T. Schlägt man drei Trossen inentgegengesetzter Richtung zusammen, so erhält man ein Kabel,als dessen Bestandteile die Trossen Kardeele heißen.

Trossin, Robert, Kupferstecher, geb. 14. Mai 1820 zuBromberg, widmete sich der Kupferstecherkunst von 1835 bis 1846 inBerlin unter Buchhorn und Mandel. Schon seine erstegrößere Arbeit, der italienische Fischerknabe nachMagnus, zeigte eine gediegene Technik, die sich dann in denPorträten von Alex. v. Humboldt und E. M. Arndt weitervervollkommte. 1850 wurde er zur Leitung der Kupferstecherschulenach Königsberg berufen, wo die Blätter: Jephthas Tochternach Jul. Schrader, mehrere Porträte für die Ausgabe derWerke Friedrichs d. Gr., der betende Mönch am Sarg HeinrichsIV. nach Lessing, das Dilettantenquartett nach Hiddemann,Sonntags-Nachmittag in einem schwäbischen Dorf nach Vautier,Morgengruß nach Karl Becker, die Mater dolorosa nach GuidoReni und die Vision des heil. Antonius nach Murillo (im BerlinerMuseum) entstanden. 1885 siedelte er nach Berlin über, wo erunter anderm Im Witwenschleier nach Defregger und das venezianischeMädchen nach Savoldo (im Berliner Museum) stach.

Trostberg, Flecken im bayr. Regierungsbezirk Oberbayern,Bezirksamt Traunstein, an der Alz, 502 m ü. M., hat 2schöne Kirchen, ein Amtsgericht und (1885) 1235 kath.Einwohner.

Trotha, Dorf im preuß. Regierungsbezirk Merseburg,Saalkreis, an der Saale und der Linie Halle-Zellerfeld derPreußischen Staatsbahn, hat eine evang. Kirche, eineZuckerfabrik, eine chemische Fabrik, ein Farbenwerk, Schiffahrt und(1885) 2878 Einw.

Trott (franz. trot), s. v. w. Trab, s. Gangarten desPferdes.

Trottel, s. v. w. Kretin.

Trottoir (franz., spr. -toahr, von trotter, traben), derFußweg zur Seite der städtischen Straßen, liegtmeist etwas höher als das Straßenpflaster, ist gegendieses durch größere Pflastersteine, besser durchBordschwellen aus Granit, Zementguß etc. abgegrenzt undbesitzt nach der Straße ein schwaches Gefalle. Das T. wirdmit kleinen Steinen (Mosaikpflaster), Klinkern oder sorgfältigbehauenen Steinen gepflastert, häufiger und besser mitSteinplatten oder Asphalt belegt. Derartige Steige wurden bereitsin Pompeji angetroffen, und im Mittelalter legte man denBürgersteig in die Mitte der Straße.

Trotzendorf, s. Friedland, Valentin.

Trotzkopf, s. Klopfkäfer.

Troubadour (spr. trubaduhr), s. ProvençalischeLitteratur.

Trousseau (franz., spr. trussoh), Schlüsselbund;dann Aussteuer, Ausstattung einer Braut, insbesondere die vonPrinzessinnen.

Trouvère (spr. truwähr), in der nordfranz.Litteratur des Mittelalters die Dichter und Erfinder vonGesängen, die beim Vortrag derselben von den Weisen derJongleure (s. d.) begleitet wurden. Vgl. FranzösischeLitteratur, S. 591.

Trouville (spr. truwil, T. sur Mer), Stadt im franz.Departement Calvados, Arrondissem*nt Pont l'Evêque, an derMündung der Touques, über welche eine Brücke nachdem gegenüberliegenden Seebadeort Deauville (s. d.)führt, und an der Westbahnlinie Lisieux-T., hat einHafenbassin, ein besuchtes Seebad (Lieblingsbad der vornehmenPariser), schöne Villen, Schiffahrt und (1886) 5749 Einw.

Trowbridge (spr. traubridsch), Stadt im westlichenWiltshire (England), auf einer felsigen Anhöhe im Thal desBiß, 16 km südöstlich von Bath, hat blühendeFabrikation von feinen Tuchen und andern Wollwaren,Käsemärkte und (1881) 11,040 Einw.

Troxler, Ignaz Paul Vital, schweizer. Naturphilosoph undliberaler Politiker, geb. 17. Aug. 1780 zu Beromünster imKanton Luzern, studierte in Jena unter Schelling, dann zuGöttingen Philosophie und Medizin, praktizierte sodannabwechselnd in Luzern und Wien, ward 1820 Professor der Philosophieund Geschichte am Lyceum zu Luzern, gründete hierauf zu Aarauein Erziehungsinstitut, ging 1830 als Professor nach Basel, ward imfolgenden Jahr, der Teilnahme am Aufstand von Basellandverdächtigt, abgesetzt, 1832 Mitglied des Großen Ratsdes Kantons Aargau, 1834 Professor an der Universität Bern,starb 6. März 1866 aus seinem Landgut bei Aarau. Als Philosophanfänglich Schelling, seit 1834 Jacobi folgend, schlug er einemystische Richtung ein, in welcher Ahnung und Gemüt eine Rollespielen; als Politiker gehörte er zu den eifrigstenVerfechtern der schweizerischen Einheitsbestrebungen. Von seinenzahlreichen (auch publizistischen) Schriften seien hervorgehoben:"Naturlehre des menschlichen Erkennens" (Aar. 1828); "Logik"(Stuttg. l829, 3 Bde.); "Vorlesungen über Philosophie" (Bern1835, 2. Ausg. 1842).

Troy (spr. treu), Stadt im nordamerikan. Staat New York,links am Hudson, auf einer von Hügeln beherrschtenAlluvialebene, hat ein polytechnisches Institut, ein kath. Seminar,Eisengießereien, Wagenbau, Woll- und Baumwollfabrikation etc.und lebhaften Handel und (1880) 56,747 Einw. Gegenüber liegtWest T., mit großartigem Zeughaus (Watervliet Arsenal) derVereinigten Staaten und 8820 Einw. T. wurde 1752 von denHolländern gegründet.

Troy, Jean François de, s. De Troy.

Troya (spr. troja), Carlo, ital. Geschichtschreiber, geb.7. Juni 1784 zu Neapel als Sohn eines Hofchirurgen, wuchs alsTaufpate der Königin Karoline im königlichen Palast auf,widmete sich dem Studium der Rechte und bekleidete hieraufÄmter unter dem König Joachim Murat. Nach derRückkehr der Bourbonen Advokat, beteiligte er sich an denrevolutionären Bestrebungen von 1820 und wurde zur Strafedafür in die Verbannung geschickt. Er bereiste Italien,durchforschte die Bibliotheken und die Archive der Klöster undveröffentlichte 1826 zu Florenz seine Schrift "Il veltroallegorico di Dante", ein äußerst reichhaltiges undbedeutendes Werk historischer Forschung, aber in papstfreundlichemSinn geschrieben. Neue Studien, neue Reisen und unermüdlicheDurchforschunggen der Archive befähigten ihn zu dem nochgroßartigern Unternehmen seiner "Storia d'Italia del medioevo" (1839-59, 17 Bde.), eines Werkes, das den Zeitraum von 476 biszu Dantes Tod (1321) umfassen sollte, jedoch nur bis auf Karl d.Gr. fortgeführt ist. Seiner papstfreundlichen Gesinnungungeachtet übertrug man ihm 1848 die Präsidentschaft desRevolutionsministeriums, welche er vom 3. April bis 14. Maibekleidete. Er starb 27. Juli 1858 in Neapel.

Troyer (spr. treuer), in der deutschen Marine dasblauwollene Hemd der Mannschaften, in Österreich Bordhemdgenannt.

Troyes (spr. troá), Hauptstadt des franz.Departements Aube, vormals Hauptstadt der Champagne, an der hier inmehrere Arme geteilten Seine, am Oberseinekanal und an derOstbahnlinie Paris-Belfort (Abzweigungen nach Châlons surMarne, Châtillon und Sens), war früher befestigt, istjetzt mit

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Troygewicht - Truchseß.

schönen Promenaden, Obst- und Weinpflanzungen sowiezahlreichen Bewässerungskanälen umgebenem Innern jedochgrößtenteils eng und unregelmäßig gebaut.Unter den Kirchen zeichnen sich namentlich die Kathedrale zuSt.-Pierre, ein schöner gotischer Bau mit prächtigemPortal und alten Glasmalereien, sowie die Kirchen St.-Urbain,Ste.-Madeleine und St.-Remy aus. Die übrigen hervorragendenGebäude sind: das Rathaus, das Spital, dasLyceal-Gebäude, das Theater und die Kaufhallen. Die Zahl derEinwohner beträgt (1886) 44,864 (als Gemeinde 46,972). T. hateine Ackerbau- und Handelskammer, eine Filiale der Bank vonFrankreich, zahlreiche Spinnereien für Schafwolle undBaumwolle, Fabrikation für wollene, baumwollene und leineneStoffe, Wirkwaren, Handschuhe, Stickereien, künstliche Blumen,Blechwaren, Nadeln, Leder, Wachsleinwand, Pergament, Papier etc.,Brauereien, Brennereien, Bereitung von berühmtenCervelatwürsten und geräucherten Hammelzungen undlebhaften Handel. Es hat ein Lyceum, eine Zeichen- und Bauschule,eine Handels- und Gewerbeschule, einen Kursus für angewandteChemie, Normalschulen für Lehrer und Lehrerinnen, eineöffentliche Bibliothek von 110,000 Bänden und gegen 5000Handschriften, eine Gemäldegalerie, Münz- undAntikensammlung und mehrere gelehrte und industrielleGesellschaften. T. ist der Sitz eines Bischofs, des Präfekten,eines Gerichtshofs und eines Handelsgerichts. - T. war im Altertumdie Hauptstadt der keltischen Tricasser und hieß Noviomagus,erhielt von Augustus den Namen Augustobona und nahm im 5. Jahrh.den Namen Trecä an. In der Nähe, bei Mery, fand 451 diegroße Hunnenschlacht (s. d.) statt. 889 von den Normannenzerstört, ward es 950 wieder aufgebaut, kam 1019 in den Besitzder Grafen von Champagne als deren Hauptstadt und fiel 1339 mit derChampagne an die Krone Frankreich. 1111 wurde hier ein Konzilabgehalten, auf welchem die Gregorianischen Edikte wegen derInvestitur erneuert wurden. 1415 wurde T. von dem Herzog Johann vonBurgund zerstört. Am 21. Mai 1420 wurde hier der Friedezwischen Frankreich und England geschlossen, in welchem derKönig Heinrich V. von England mit der Hand Katharinas, derTochter des Königs Karl VI. von Frankreich, die Anwartschaftauf den französischen Thron nach des Schwiegervaters Tod undbis dahin die Regentschaft in Frankreich erhielt. 1429 eroberte esKarl VII. wieder. Im Feldzug von 1814 war T. als einer derHauptoperationspunkte der österreichischen Armee vonWichtigkeit. Vgl. Boutiot, Histoire de la Ville de T. (Troyes1870-80, 5 Bde.).

Troygewicht (spr. treu-), Gewicht in England fürGold, Silber und Juwelen, das auch als Apothekergewicht undfür wissenschaftliche Gewichtsvergleichungen dient. DasTroypfund wird eingeteilt in 12 Unzen zu 20 Pfenniggewicht (dwt.)à 24 Grän, also 5760 Troygrän, und wiegt 373,242g. Apotheker teilen dieses Pfund in 12 Unzen (^) zu 8 Drachmen (^)zu 3 Skrupel (^)) zu 20 Grän ein. 7000 dieser Grän Troysind gleich einem Pfund Avoirdupois, so daß 175 Pfd. Troy =144 Pfd. Avoirdupois sind. Der Name T. kommt von der Stadt Troyesher (vgl. Avoirdupois).

Troyon (spr. troajóng), Constant, franz. Maler,geb. 25. Aug. 1810 zu Sèvres, bildete sich bei Riocreux undPoupart, wurde aber erst durch den Einfluß von Roqueplan aufdas unmittelbare Studium der Natur hingelenkt, welchem er schonseit 1836 in seinen Landschaften Ausdruck gab. Eine 1847 nachHolland unternommene Reise vollendete seinen Übergang zu einervöllig realistischen Naturanschauung, mit welcher erGröße der Auffassung und Energie und Breite derkoloristischen Behandlung verband. Er belebte seine Landschaftenbesonders mit Tieren (Rindvieh, Pferden, Schafen), welche einenimmer breitern Raum einnahmen. Schließlich wurde T. alsTiermaler ebenso bedeutend wie als Landschafter, und es gelang ihm,selbst naturgroße Darstellungen von Tieren mitlandschaftlichem Hintergrund eindrucksvoll und fesselnd zugestalten, wobei er die Wirkungen des Sonnenlichts zu Hilfe nahm.Seine Hauptwerke sind: die Rückkehr aus der Meierei (1849, imLouvre), das Thal der Touque, die zur Feldarbeit getriebenen Ochsen(1855, im Louvre), der Wagen mit dem Esel, ein Spätsommertagin der Normandie, die Furt, Schafherde nach dem Gewitter, Schafe amMorgen. Die Motive zu seinen Landschaften entnahm er zumeist derUmgegend von Paris, der Touraine und der Normandie.Überanstrengung führte 1863 eine Geisteskrankheit herbei,der er 21. Febr. 1865 erlag. Vgl. Dumesnil, T. (Par. 1888).

Troypfund, s. Troygewicht.

Troyunze (abgekürzt oz.), im engl. Bankverkehr dieGewichtseinheit, nach welcher Gold und Silber gehandelt werden (s.Troygewicht). Dieselbe wird für Silber in Zehntel-, fürGold in Tausendstelunzen eingeteilt.

Trözen (Trözene), im Altertum Stadt in dergriech. Landschaft Argolis, 20 Stadien von der Ostküste, anwelcher die dazu gehörigen Häfen Kelenderis und Pogonlagen, ursprünglich von Ioniern bewohnt, ward nach derWanderung der Herakliden dorisiert, gelangte zu Macht undBlüte auch auf der See und nahm am Perserkrieg rühmlichenAnteil. 430 und 425 v. Chr. brandschatzten die bisher mit T.befreundeten Athener das Land. Im korinthischen Krieg 394 stand T.auf seiten der Lakedämonier, ebenso kämpfte es 373 gegenAthen. In der makedonischen Zeit ging es aus einer Hand in dieandre und kam endlich an den Achäischen Bund. Zu Pausanias'Zeit war es noch eine ansehnliche Stadt. Unbedeutende Reste beimheutigen Dorf Damalá.

Trübau, 1) (Mährisch-T.) Stadt in Mähren,an der Trebowka, Sitz einer Bezirkshauptmannschaft und einesBezirksgerichts, mit Obergymnasium, fürstlichLiechtensteinschem Schloß, Seiden-, Leinwand- undKattunweberei, Färberei und Druckerei sowie (1880) 6056 Einw.In der Nähe Steinkohlenbergbau. -

2) Stadt, s. Böhmisch-Trübau.

Trübmaß (Trübeichmaß), s.Altmaß.

Trübner, Nikolaus, Buchhändler und Bibliograph,geb. 12. Juni 1817 zu Heidelberg, begründete 1852 einVerlagsgeschäft (T. u. Komp.) in London, das sich durch seineUmsicht und Thätigkeit zu einem der ersten der Weltaufgeschwungen hat und einen bedeutenden Vermittelungseinflußin der Weltlitteratur ausübt. Er verfaßte:"Bibliographical guide to American literature" (1859) und gab inMonatsheften "Truebner's American and Oriental literary Records"(seit 1865) heraus. Er starb 30. März 1884.

Trubtschewsk, Kreisstadt im russ. Gouvernement Orel, ander Desna, mit (1885) 5275 Einw. und Getreidehandel nach Riga undPetersburg.

Truchmenen, Volksstamm, s. v. w. Turkmenen.

Truchseß (v. altd. truhtsâzo, "Vorgesetzterder truht", des Trosses; auch Seneschall, lat. Dapifer. franz.Écuyer de cuisine, Écuyer tranchant, engl. Steward),im mittelalterlichen Königtum der Küchenmeister, zugleichder erste Diener des Monarchen

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Truchtersheim - Trüffel.

bei der Tafel, dann der Oberaufseher über den ganzenHofhalt. Im vormaligen Deutschen Reich gehörte seit Otto I.das Truchsessenamt zu den Erzämtern (s. d.). Erztruchseßwar bis 1623 der Kurfürst von der Pfalz, dann derKurfürst von Bayern, 1706-1714 wieder Pfalz, und von da biszur Auflösung des Reichs wieder Bayern. Als Erbtruchseßfungierte der Graf von Waldburg. Am österreichischen Hofrangieren die Truchsesse unter den Kämmerern. DieseTruchsessenwürde ist häufig mit dem Besitz vonGütern verbunden.

Truchtersheim, Dorf und Kantonshauptort im deutschenBezirk Unterelsaß, Landkreis Straßburg, hat eine kath.Kirche, ein Amtsgericht, eine Mineralquelle, Weinbau und (1885) 639Einw.

Truck (Ruck), Insel der span. Gruppe der Karolinen (s.d.).

Truckee (spr. tröcki), Stadt im nordamerikan. StaatKalifornien, an der Pacificbahn, 1774 m ü. M., westlich vom2139 m hohen T.-Paß der Sierra Nevada, hatSägemühlen und (1880) 1147 Einw.

Trucksystem (spr. tröck-, v. engl. truck, "Tausch,Tauschhandel"), das Verfahren, Arbeiter, besonders Fabrikarbeiter,nicht in barem Geld, sondern in Naturalien, namentlich inAnweisungen auf einen vom Arbeitgeber gehaltenen Laden abzulohnen.Vielfach von habsüchtigen Fabrikanten mißbraucht, wurdedasselbe schon früher in England heftig bekämpft undmeist gesetzlich verboten. (Das erste gegen das T. ankämpfendeGesetz wurde in England 1464 erlassen; zu demselben kamen in denfolgenden Jahrhunderten noch eine Reihe [etwa 16] weiterer Gesetze.Dieselben wurden durch das noch bestehende Gesetz von 1831aufgehoben, welches durch die Truck-Amendment Act vom 16. Sept.1887 ergänzt und erweitert wurde. In Preußen allgemeinesVerbot 1847, während im Bergbau und in der Textilindustrieschon im 16. Jahrh. Verbote vorkamen; Verbot in Belgien durchGesetz vom 16. Aug. 1887.) Die deutsche Gewerbeordnung verpflichtetdie Arbeitgeber (ursprünglich nur die Fabrikinhaber sowiediejenigen, welche mit Ganz- oder Halbfabrikaten Handel treiben,seit 1878 alle Gewerbtreibenden, vgl. Fabrikgesetzgebung, S. 1002),die Löhne ihrer Arbeiter bar auszuzahlen; sie dürfendenselben keine Waren kreditieren; zuwiderlaufende Verträgesind nichtig. Nun gibt es freilich auch Fälle, in denen dieGewährung von Naturalien nicht zu umgehen und für denArbeiter selbst vorteilhaft ist. Deshalb wurde auch gestattet, denArbeitern Wohnung, Feuerungsbedarf, Landnutzung,regelmäßige Beköstigung, Arzneien undärztliche Hilfe sowie Werkzeuge und Stoffe zu den von ihnenanzufertigenden Fabrikaten unter Anrechnung bei der Lohnzahlung zuverabfolgen. In Rußland ist das T. in verschiedenen Formennoch sehr verbreitet.

Trude, Trudenfuß, s. Druden, Drudenfuß.

Trudpert, Missionär im Breisgau, soll um 650 (nachden sehr dürftigen Nachrichten) von einem Grafen Othbert ineinem Thal des Flüßchens Neumage ein Grundstück zueiner geistlichen Stiftung erhalten haben, doch bei der Herstellungdes Gebäudes ermordet worden sein. Deshalb wurde er alsHeiliger verehrt. Vgl. Körber, Die Ausbreitung desChristentums im südlichen Baden (Heidelb. 1878).

Trueba (T. y la Quintana), Antonio de, span. Dichter undNovellist, geb. 24. Dez. 1821 im baskischen DörfchenMontellana (Provinz Viscaya) als der Sohn armer Landleute, kam mit15 Jahren nach Madrid, um die Kaufmannschaft zu erlernen, triebnebenbei mit großem Eifer Studien und erlangte an derUniversität mehrere Grade. 1846 endlich dem Handelsstand Valetsagend, wandte er sich ganz der litterarischen Thätigkeit zuund machte sich durch seine in Zeitschriften erscheinenden Liederund Gedichte einen Namen. Königin Isabella ernannte ihn 1862zum Archivar von Viscaya mit einem Gehalt von 18,000 Realen undverlieh ihm den Titel eines Poeta de la reina, den er nach derRevolution von 1868, infolge deren er sein Amt verlor, mit demeines Poeta del pueblo vertauschte. Seitdem wieder in Madridlebend, starb er daselbst 10. März 1889. T. ist derpopulärste spanische Dichter der Gegenwart. Seine Lieder,gesammelt in dem oft aufgelegten "Libro de los cantaras" (Madr.1852), leben im Munde des Volkes und haben ihm den Namen des"spanischen Béranger" verschafft. Sie verherrlichenvorzugsweise die baskische Heimat des Dichters und zeichnen sichaus durch Treuherzigkeit der Gesinnung, gefällige Form undnatürliche Sprache wie durch Tiefe der Emfindung bei meistmelancholischem Grundton. Außerdem veröffentlichte ereine große Anzahl von Erzählungen (Novellen,Märchen, Schwänke) unter verschiedenen Titeln: "Cuentosde color de rosa" (1859), "Cuentos campesinos" (2. Aufl. 1862),"Cuentos de vivos y muertos" (1866), "Marta Santa" (1874), "Cuentosde varios colores" (1874), "Narraciones populares"(1875), "Cuentosde madres é hijos"(1879), "Nuevos cuentos populares" (1880)etc., welche gleiche Beliebtheit wie sein Liederbuch erlangten undzum Teil auch ins Deutsche, Französische, Englische, Russischeund Italienische übersetzt wurden. Sie sprechen an durch dienatürliche Einfachheit der Erzählung und die Anmut in derBeschreibung des ländlichen Lebens, lassen aber diereaktionäre Gesinnung und ultramontanen Sympathien desVerfassers zu sehr hervortreten. Endlich sind von T. auchhistorische Romane, wie "El Cid Campeador", "El redentor moderno"(1876) u. a., und seine neuesten Werke: "Arte de hacer versos"(1881), "De flor en flor" (1882), "El gaban y la chaqueta" (1884),zu erwähnen. Eine Auswahl aus seinen Schriften enthältdie "Coleccion de autores españoles" (Leipz. 1874 ff.).

Trueba y Cosio, Telesforo de, span. Dichter, geb. 1805 zuSantander, machte, zur diplomatischen Laufbahn bestimmt, seinedarauf bezüglichen Studien in London und Paris und wurdesodann Attache bei der dortigen Gesandtschaft. Nach seinerRückkehr in das Vaterland 1822 stiftete er mit andern dieAkademie, in welcher sich damals alle jüngern Dichter Spaniensvereinigten. Zu Cadiz, wohin er als Anhänger derCortesregierung 1823 flüchten mußte, schrieb er diebeiden Lustspiele: "El veleta" und "Casarse con 60,000 duros", dieihm für immer einen Platz unter den besten spanischenDramatikern sichern. Nach der Wiederherstellung des Absolutismus inSpanien wandte sich T. nach London. Hier schrieb er in englischerSprache mehrere historische Romane, unter welchen "Gomez Arias"(1828) und "The Castilian" (1829) am bekanntesten sind, dashistorisch-biographische Werk "Lives of Cortes and Pizarro" (1830),das große Verbreitung fand, viele Lustspiele und dashistorische Drama "The royal delinquent". Den bedeutendsten Rufaber verschaffte ihm das Sittengemälde "Paris and London"(1833). 1834 nach Spanien zurückgekehrt, ward er hier zumProkurator und dann zum Sekretär der Zweiten Kammergewählt. Er starb 4. Okt. 1835 in Paris.

Trüffel (Speisetrüffel, Tuber Mich.),Pilzgattung aus der Unterordnung der Tuberaceen und der

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Trüffel.

Ordnung der Askomyceten, meist vollständig unterirdischwachsende Pilze mit einem im Boden verbreiteten fädigenMycelium und ziemlich großen, knollenförmigen, festen,fleischigen Fruchtkörpern (Peridien), welche nicht hohl,sondern auf dem Querdurchschnitt durch marmorartige Adern inunregelmäßige, massive Kammern geteilt sind. Manunterscheidet feine, dunkel gefärbte Adern, welche von derPeridie ausgehen und die eigentlichen Kammerwände darstellen,auf denen das stark entwickelte, braune, fruchtbare Gewebe(Hymenium) aufsitzt, während weiße Adern das zwischendem Hymenialgewebe befindliche lufthaltige Füllgewebe derengen, gewundenen Kammern darstellen. In dem dicken Hymenialgewebenisten zahlreiche große, runde oder eirundeSporenschläuche mit je 1-8, meist 4 ordnungslos liegenden,kugeligen oder elliptischen, mit stachligem oder netzförmiggezeichnetem, gefärbtem Episporium versehenen Sporen (vgl.Tafel "Pilze II", Fig. 11). Die Peridie ist an der Oberflächewarzig oder glatt, im reifen Zustand stets schwarz oder braungefärbt. Die Gattung zählt ungefähr 20 Arten, welchein der gemäßigten Zone Europas, besonders in Frankreichund Italien, in Deutschland und England, aber auch in Asien, Afrikaund Nordamerika vorkommen. Die seit dem Altertum wegen ihresaromatischen Geruchs und Geschmacks als kulinarischer Luxusartikelberühmten Trüffeln sind sehr nahrhaft und werden baldfür sich allein, gebraten oder mit Rotwein gekocht und mitButter, genossen, bald als Bestandteil von Pasteten(Straßburger Gänseleberpasteten) oder als Zusatz inFleischspeisen, Brühen, Suppen etc. verwendet. Sie wachsenherdenweise in der Erde und zwar alljährlich immer andenselben bestimmten Plätzen, den sogen.Trüffelplätzen (truffières). Nach Ascherson fehtensie gegenwärtig in der Mark, dagegen sind sie in denLaubwäldern um Bernburg seit langer Zeit bekannt und tretenhier am reichlichsten unter Eichen und Roßkastanien auf.Andre Fundorte sind: München-Nienburg, Neugatersleben imBodethal, das Forstrevier Lödderitz bei Dessau, Zerbst,mehrere Orte Thüringens, Ahrbergen und Eberholzen unweitHildesheim, die Rheinwaldungen bei Rastatt. Im NordostenDeutschlands finden sich Trüffeln (Tuber mesentericum, dieauch in Böhmen und Mähren häufig ist) in derWeichselniederung bei Kulm sowie bei Ostromatzko gegenüber derBrahemündung. Das Vorkommen der schwarzen T. scheint auf denPeisterwitzer Odenwald bei Ohlau und auf Tillowitz unweitFalkenberg beschränkt zu sein. Dafür ist die weißeT. (Choiromyces maeandriformis) in Oberschlesien, Böhmen,Mähren, Ungarn, Siebenbürgen, Italien und Rußlandnicht selten. Die Fundplätze haben meist einen kalkigen oderaus Kalk und Thon oder Sand gemengten Boden. Überall aber istdie Anwesenheit von Bäumen eine notwendige Bedingung. Wenn derWaldbestand abgetrieben wird, so verschwinden auch dieTrüffeln; aber sie erscheinen nach Jahren genau an denselbenStellen wieder, wenn der Boden wieder mit Gehölz bewachsenist. Vorzüglich kommen sie unter Eichen und Hainbuchen, aberauch unter Kastanien, Haselnußsträuchern, Rotbuchen undzahlreichen andern Holzpflanzen vor. Man findet sie im Umkreis derBäume, bis wohin die Wurzeln, nicht aber der Schattenderselben reichen; überhaupt lieben sie lichte Gehölze,in denen die Bäume in größern Entfernungen stehen.Das Mycelium schmarotzt perennierend auf den Wurzeln vonHolzgewächsen, wie schon daraus hervorgeht, daß junge inden Boden eingesetzte Trüffeln sich nicht weiter entwickeln.Für eine mit der T. nahe verwandte Art, die Hirschtrüffel(Elaphomyces granulatus Nees), wurde der Parasitismus durch Boudierund Rees direkt bewiesen. Da auf den Wurzeln zahlreichereinheimischer Gewächse durch Frank parasitische Hüllenvon Pilzmycelien aufgefunden wurden (s. Mycorhiza), so lag derGedanke nahe, ein ähnliches symbiotisches Verhältnis auchzwischen den Mycelien der echten T. und den Wurzeln bestimmterHolzpflanzen anzunehmen. Direkte Kulturversuche fehlen zur Zeitnoch. Ganz junge Trüffeln sind nur erbsengroß,blaß oder rötlich; sie scheinen ein Jahr zu ihrer Reifezu bedürfen. Im Herbst oder Winter findet man reif nur Tuberbrumale und T. melanosporum, Ausgang Winters, im Frühling undSommer Tuber aestivum und T. mesentericum; die letztern werdendaher in den ersten Monaten des Jahrs noch unreif gesammelt und inder Provence als Maitrüffeln bezeichnet. Man läßtdie Trüffeln von abgerichteten Hunden (Trüffelhunden;Burgund, Italien, Deutschland) oder von Schweinen (Provence,Poitou, auch in Westpreußen), in Rußland früherauch von Bären aufsuchen, welche durch ihren Geruch die 5-16cm unter der Erde verborgenen Pilze aufspüren. NachDeutschland kamen um 1720 die ersten dressierten Trüffelhunde,von welchen der König August II. von Polen in Italien zehnStück angekauft hatte. Die Trüffeljagd findet statt vomNovember bis Februar. Der französische Trüffelhandeldatiert seit 1770 und erstreckt sich jetzf fast über ganzMittel- und Südfrankreich. Am meisten produzieren dieProvence, besonders das Departement Vaucluse mit dem ZentralortCarpentras, ferner die Dauphiné, Périgord, Dordogne,Charente, Niederalpen und Lot; besonders berühmt sind dieTrüffelkulturen am Fuß des Mont Ventoux im DepartementVaucluse, der 1858 mit Eichen aufgeforstet wurde. Die Ausfuhr ausFrankreich beziffert sich auf 1,5 Mill. kg; im DepartementVaucluse, in der Stadt Apt, kommt zur Winterszeit eineTrüffelernte von 15,000 kg zu Markt. Große Bedeutunghaben die Trüffeln auch im Orient. Barth berichtet überdas häufige Vorkommen einer Trüffelart (jedenfallsTerfezia leonis Tul.) in der nördlichen Sahara. Zu derselbenArt gehören auch die hellfarbigen Trüffeln, welche in derSyrisch-Arabischen Wüste stellenweise massenhaft vorkommen undkamelladungsweise in die syrischen Städte gebracht werden. Indiesen Gegenden gilt Helianthemum salicifolium Pers. als sicheresAnzeichen des Vorkommens der T. Die Ernte währt in Syrien undPalästina von Mitte Februar bis Mitte April, sie istabhängig von den Regen im Oktober und November, durch welcheauch die Kräuterdecke hervorgerufen wird, mit derenüppigkeit die Häufigkeit der T. steigt und sinkt. InAlgerien findet sich die oben genannte Terfezia leonis im Schattendes strauchartigen Helianthemum halimifolium, und auf derkanarischen Insel Fuertaventura sucht man Trüffeln unterHelianthemum canariense. Die gewöhnlichsten, alsSpeisetrüffeln verwendeten Arten sind: Tuber brumale Vittad.,mehr oder weniger kugelig, schwarz, auf der Oberfläche mitpolygonalen Warzen, nuß- bis faustgroß und dann bis 1kg schwer, innen schwärzlich aschgrau, weißgeädert, mit zahlreichen vier- bis sechssporigenSporenschläuchen, die Sporen mit stachligem Episporium, ist imWinter in den Trüffelgegenden Frankreichs und Italiens sehrhäufig, selten in den Rheingegenden. T. melanosporum Vittad.(T. cibarium Pers.), von voriger Art durch rötlichschwarzeFarbe, rötliche Flecke auf den War-

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Trüffelpilze - Trumpp.

zen und durch rötlich- oder violettschwarzes Innere mitweißen, zuletzt rötlichen Adern unterschieden, hat dasgleiche Vorkommen. T. aestivum Vittad., 2,5-5,5 cm,unregelmäßig kugelig, schwarzbraun, mit sehrgroßen Warzen, innen blaßbraun, mit elliptischen,braunen, mit netzförmig gezeichnetem Episporium versehenenSporen, im Sommer und Spätsommer in Frankreich und in Italiensehr häufig, stellenweise in Deutschland, z. B. inThüringen, und England. T. mesentericum Vittad., von vorigerArt durch schwarze Farbe und dunkleres Fleisch mit vielen sehr enggewundenen, weißen Adern unterschieden, an der Basis oftgehöhlt, kommt wie vorige Art und oft mit ihr zusammen vor.Nur in Italien, wo sie häufig gegessen wird, stellenweise inDeutschland kommt vor T. magnatum Pico (Rhizopogon magnatum Corda).1,5-11 cm, unförmig lappig, von den andern Arten durch diewurzelartige Basis und durch die glatte Oberflächeunterschieden, anfangs weiß, später blaßockerbraun, daher von den Lombarden Trifola bianca genannt, innengelblich, bräunlich oder rötlich mit weißen Adern,von stark knoblauchartigem Geruch, reift im Spätsommer. Dieweiße T. (Choiromyces maeandriformis Vittad., Tuber albumSow., Rhizopogon albus Fr.) ist glatt, hellbraun, faustgroßund von allen echten Trüffeln unterschieden durch dasweiße, fleischige Innere, welches nur von einerlei feinen,dunklern Adern (Hymenium) durchzogen ist. S. Tafel "Pilze I" u.Taf. H, Fig. II. Vgl. Vittadini, Monographia Tuberacearum (Mail.1831); Tulasne, Fungi hypogaei (Par. 1851); Chatin, La truffe (das.1869); Planchon, La truffe (das. 1875); Rees u. Fisch,Untersuchungen über Bau und Lebensgeschichte derHirschtrüffel (Kassel 1887); Bosredon, Manuel du trufficulteur(Périgueux 1887); Ferry de la Bellone, La truffe (Par.1888).

Trüffelpilze, s. Pilze (13), S. 72.

Trugdolde, eine Art des Blütenstandes (s. d., S.81).

Trugdoldenrispe (Corymbus cymiformis), reichverzweigteSchirmrispe mit quirlig gestellten Hauptverzweigungen, wie beimHolunder.

Trugratten (Echimyidae), s. Nagetiere (5).

Trugschluß (Sophisma), ein auf falschenVoraussetzungen oder falscher Verknüpfung derselben oder aufzweideutig gebrauchten Wörtern beruhender Fehlschluß,bei dem man die Absichtlichkeit einer Täuschung voraussetzt;s. Schluß, S. 544. - In der Musik heißt T. (Trugkadenz,ital. Inganno, franz. Cadence trompeuse) das Vermeiden eines nachder vorausgegangenen Akkordfolge erwarteten Schlusses durchSubstitution eines andern Akkords für den tonischen (vgl.Kadenz und Auflösung).

Truhe, langer, niedriger hölzerner Kasten mitDeckel, welcher seit den frühsten Zeiten des Mittelalters zurAufbewahrung von Kleidungsstücken, Kostbarkeiten und zugleichals Sitzmöbel diente. Anfangs war es mit derWandvertäfelung verbunden, wurde aber spätertransportabel und auch auf Reisen mitgeführt. Die Truhenwurden bemalt oder an den vier Seiten, später auch am Deckel,mit reichem Schnitzwerk, Bemalung und Vergoldung versehen. DieBrauttruhen, welche die Ausstattung der Braut enthielten, wurdenbesonders reich verziert, zumeist mit auf Liebe und Ehebezüglichen Emblemen oder Darstellungen aus der antiken Sage(s. Tafel "Möbel", Fig. 11). Zur größern Sicherungwurden die Truhen auch mit eisernen Bändern beschlagen oderauch mit eisernen Deckeln in durchbrochener Arbeit versehen (s.Tafel "Schmiedekunst", Fig. 15).

Trujillo (Truxillo, beides spr. truchhílljo),Sektion des Staats Andes der Bundesrepublik Venezuela, 13,549 qmn(246,1 QM.) groß mit (1873) 108,672 Einw., ist imsüdöstlichen Teil, wo die Andeskette von Meridafortsetzt, hohes Gebirgsland, im nordwestlichen niedrig, wird vomRio Motaban, der dem See von Maracaibo zufließt,bewässert, hat alle Klimate (vom heißen bis zum kalten)und erzeugt vorzüglichen Kaffee und alle Südfrüchtesowie etwas Weizen. - Die Hauptstadt T., in einem engen Kesselgelegen, 826 m ü. M., hat eine höhere Schule, Handel(hauptsächlich Kaffee- und Weizenexport) und 2648 Einw. T.wurde 1559 gegründet, und war bis 1668, wo Flibustier siezerstörten, eine der schönsten Städte des Landes.Nordwestlich davon liegt das Dorf Santa Ana, durch denFriedensschluß zwischen den beiden Generalen Bolivar u.Morillo 26. Nov. 1820 bekannt.

Trujillo (Truxillo, beides spr. truchhílljo), 1)Bezirkshauptstadt in der span. Provinz Caceres, teils auf einemFelsen, teils am Fuß desselben in 485 m Höhe gelegen,hat 5 Kirchen und (1878) 9428 Einw welche sich mit Leinweberei,Gerberei und Töpferei beschäftigen. T. ist GeburtsortPizarros. -

2) (Chimú) Hauptstadt des Departements Libertad (Peru),in fruchtbarer, von Wüsten umgebener Gegend am Chimú,65 m ü. M., ist gut gebaut und von Wällen und Bastionenumgeben, die 1686 als Schutz gegen die Flibustier errichtet wurden,hat eine Kathedrale, eine 1831 gegründete Universität,ein bischöfliches Seminar, eine höhere Schule und (1876)7538 Einw., die lebhaften Handel treiben. Die Häfen der Stadtsind das 5 km entfernte Huanchaco und das wichtigere Salaverry, derAusgangspunkt der ins Innere führenden Eisenbahn und mitHafendamm (Molo). T. wurde 1535 von Pizarro gegründet, littwiederholt durch Erdbeben und war 1823 Sitz des Kongresses. 2 kmwestlich davon liegen die Ruinen von Gran Chimú, derangeblichen Hauptstadt des alten Chimúreichs. -

3) Stadt im Departement Yoro des zentralamerikan. StaatsHonduras, am Karibischen Meer, 1524 gegründet, hat einen gutenHafen und 4000 Einw.; die Ausfuhr(1887: 628,100) Pesos) besteht ausBananen, Kokosnüssen, Mahagoni, Häuten, Gummi etc.

Trullanische Synoden heißen von Trullos, demgewölbten Saal des kaiserlichen Palastes zu Konstantinopel,darin sie gehalten worden, das sechste ökumenische Konzil (s.Monotheleten) und das sogen. Quinisextum (s. d.).

Trum (Plur. Trume oder Trümer, fälschlichTrümmer), in der Geologie ausgefüllte Nebenspalten einerHauptspalte (Gang) von größern Dimensionen, im Gegensatzzu den kleinern Apophysen; besonders eine durch Gabelung sich raschauskeilende Gangmasse (vgl. Gang, S. 890); im Bergbau auch s. v. w.Förderseil.

Trümeau (franz., spr. -moh), Fensterpfeiler; eindenselben deckender Wandspiegel, überhaupt ein bis nahe an denFußboden gehender Wandspiegel.

Trümletenthal, s. Jungfrau.

Trümmergesteine, s. Gesteine.

Trumpp, Ernst, Orientalist, geb. 13. März 1828 zuIlsfeld im württemb. Oberamt Besigheim, studierte inTübingen evangelische Theologie und orientalische Sprachen,ging später zur Fortsetzung seiner orientalischen Studien nachEngland und trat hier in die Dienste der Church Missionary Society,in deren Auftrag er 1854-55 und 1857 die Sprache des Induslandeserforschte und bearbeitete, während er den größtenTeil des Jahrs 1856 zur Erlernung des Neuarabischen in Ägyptenund Syrien zubrachte. 1858 ging er nach Peschawar, um die Spracheder Afghanen zu untersuchen und zu bearbeiten. Aus Gesund-

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Trumscheit - Trunksucht

heitsrücksichten 1860 in die Heimat zurückgekehrt,privatisierte er zunächst in Stuttgart, nahm 1864 dieDiakonatsstelle in Pfullingen an, begab sich aber 1870 im Auftragder englischen Regierung von neuem nach Indien und zwar nach Lahorim Pandschab, um daselbst in Verbindung mit einigen Sikhpriesterneine Übersetzung der heiligen Bücher der Sikhauszuführen. 1872 habilitierte er sich in Tübingen alsPrivatdozent und erhielt 1874 die ordentliche Professur derorientalischen Sprachen an der Universität zu München, woer 5. April 1885 starb. Sein Hauptwerk ist "The Adi Granth, or theholy scriptures of the Sikhs, translated from the originalGurmukhi" (Lond. 1877). Außerdem veröffentlichte er:"Materialien zum Übersetzen aus dem Deutschen insHebräische" (Heilbr. 1854); "Sindhi reading book" (Lond.1858); "Über die Sprache der sogen. Kasirs im indischenKaukasus" (im 20. Bd. der "Zeitschrift der DeutschenMorgenländischen Gesellschaft"); "The Sindhi Diwan ofAbd-ul-Latif Shah" (1866); "Grammar of the Sindhi language" (Lond.1872); "Grammar of the Pashto or language of the Afghans etc."(das. 1873); "Einleitung in das Studium der arabischen Grammatiker"(Münch. 1876); "Das Taufbuch der äthiopischen Kirche"(äthiopisch u. deutsch, das. 1876); "Der Kampf Adams"(äthiopischer Text, das. 1880); "Die Religion der Sikhs"(Leipz. 1881); "Der arabische Satzbau" (Münch. 1879);"Grammatische Untersuchungen über die Sprache der Brahuis"(das. 1881); "Das Hexaemeron des Pseudo-Epiphanius"(äthiopisch und deutsch, das. 1882); "Der Bedingungssatz imArabischen" (das. 1882) etc.

Trumscheit (Trumbscheidt, Scheidtholt, Trompetengeige,Tromba marina, Tympanischiza), primitives, in Deutschland im14.-16. Jahrh. und noch länger beliebtes Streichinstrument,bestehend aus einem langen, schmalen, aus drei Brettchenzusammengesetzten Resonanzkörper, über den eine einzigeSaite gespannt war, wenigstens nur eine Griffsaite, währendetwa noch hinzugefügte Saiten als Bordune unabänderlichmitgestrichen wurden. Der zweifüßige Steg desTrumscheits war nur mit einem Fuß aufgeleimt, währendder andre, wenn die Saite schwang, durch schnelles Berührendes Resonanzbodens einen etwas schnarrenden Ton hervorbrachte.

Truncus (lat.), der Stamm der Bäume etc.; vgl.Stengel und Baum.

Trunkelbeere, s. Vaccinium.

Trunkenheit, im allgemeinen der durch den Genußbetäubender Stoffe, z. B. Opium, Alkohol, Haschisch, Kumys undandrer gegorner Getränke, auf den Organismus hervorgebrachteabnorme Zustand der Gehirnthätigkeit etc. Fürgewöhnlich wird die T. erzeugt durch alkoholhaltige(spirituöse) Getränke. Man unterscheidet als den erstenGrad der T. den Rausch. Derselbe gibt sich anfangs in einerSteigerung des ganzen Lebensprozesses kund, die sich besonders alseine höhere gemütliche Anregung im Gemeingefühldurch Heiterkeit und Wohlbehagen, raschern Puls, gerötetesGesicht, belebte, glänzende Augen, lebhafte, wechselndeVorstellungen und leicht zu Gemütsbewegungen sich steigerndeGefühle zu erkennen gibt. Beim zweiten Grade, derBetrunkenheit (ebrietas), sind alle jene physischen Erscheinungengesteigert, zuweilen bis zu einer Art von Tobsucht undZerstörungswut, das Bewußtsein ist getrübt, dieGeistesthätigkeiten verwirren sich, und es entsteht Delirium.Als dritten Grad unterscheidet man die sinnlose Besoffenheit, beider die sensorische Nerventhätigkeit völlig ruht, sodaß dem Menschen Bewußtsein, Empfindung undwillkürliche Bewegung verloren gehen. Den zur Gewohnheitgewordenen übermäßigen Genuß spirituöserGetränke bezeichnet man als Trunksucht oderTrunkfälligkeit (ebriositas). Diese hat nach und nach einedauernde Verderbnis des Bluts, den Alkoholismus oder dieSäuferkrankheit, zur Folge. Da das preußischeStrafgesetz für Verbrechen, welche im trunkenen Zustandbegangen sind, mildernde Umstände bewilligt, so ist esfür den Gerichtsarzt wichtig, das Vorhandensein von T. zukonstatieren. Diese Aufgabe erfordert große Vorsicht undBeurteilung des individuellen Falles, da die Menge des genossenenGetränks, welche erforderlich ist, um T. zu bedingen, beiverschiedenen Personen äußerst verschieden großist. Jedenfalls wird der Nachweis erbracht werden müssen,daß zur Zeit der strafbaren Handlung ein so starker Rauschbestanden hat, daß dadurch das Bewußtsein getrübtund die freie besonnene Aktion aufgehoben worden ist. S.Trunksucht.

Trunkmaschine, s. Dampfmaschine, S. 468.

Trunksucht, der gewohnheitsmäßigeMißbrauch alkoholischer Getränke, welcher zu einerSchädigung des körperlichen, geistigen und sittlichenLebens (Alkoholismus) führt. UnmäßigerAlkoholgenuß zerstört alle Gewebe und Systeme desKörpers und vernichtet die normale Konstitution desIndividuums und der Rasse. Am frühsten erkrankt derVerdauungsapparat bei dem Trunksüchtigen; auf deranfänglich katarrhalisch erkrankten Magenschleimhaut entstehenGeschwürsbildungen, ein beständiges Gefühl von Druckund Schmerz in der Magengegend, Säurebildung,Appetitlosigkeit, häufiges, bald täglich wiederkehrendesErbrechen von zähem Schleim, besonders des Morgens, auchBlutbrechen. Der absorbierte Alkohol wird der Leber zugeführt,und je konzentrierter er war, desto früher und destointensiver sind die Veränderungen dieses Organs. Wein- undBiertrinker erleiden niemals jene schweren Formen derLeberdegeneration wie Schnapstrinker. Fettleber, Lebercirrhose,Entzündung der Leber mit Schwund ihrer Bestandteile,Gelbsuchten sind häufige Krankheiten der Trinker. Beigewohnheitsmäßigen Trinkern findet sich immer eineVergrößerung des Herzmuskels (Hypertrophie), späterfettige Entartung in demselben und in den Blutgefäßen.Der Katarrh des Kehlkopfes, kenntlich durch die eigentümlichrauh belegte Stimme, geht auf die innern feinenLuftröhrenverzweigungen und Lungenbläschen über;Ausweitungs- und Zerstörungsprozesse führen zurVerkleinerung der Lungenoberfläche, zur Behinderung derBlutzirkulation und des Gasaustausches in den Lungen und erzeugendie bläuliche Gesichtsfarbe und die Kurzatmigkeit der Trinker.Die gesteigerte Thätigkeit der Nieren nach Aufnahme vonalkoholischen Getränken führt nicht selten zur sogen.Brightschen Niere, zur Nierenschrumpfung, einer Krankheit, diemeist zum Tod führt und auch in der Blutbeschaffenheit derTrinker und in den vielen schädlichen Einwirkungen,Durchnässungen etc., denen Trinker ausgesetzt sind, ihreUrsache findet. Auch der Genitalapparat erleidet bei T. krankhafteVeränderungen. Sehr mannigfach sind die Störungen desNervensystems. Die Anhäufung von Blut in den Hirnhäutenund im Gehirn selbst, der Austritt von Blut (Schlaganfall) mit dergroßen Reihe von krankhaften Störungen durch dieseVorgänge, Entzündung der Hirnsubstanz und Schwund,ähnliche Erkrankungen und Veränderungen imRückenmark und seinen Häuten sind die Ursachen vielerErscheinungen: Gefühl von Taubheit, Kribbeln, Ameisenlaufen,Empfindungslosigkeit, Muskelzittern,

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Trunksucht (gesetzliche Maßregeln, Trinkerasyle).

Krämpfe, Schwäche und Lähmung der Glieder,Störungen der Intelligenz bis zum vollen Wahn- undBlödsinn und zur allgemeinen Paralyse. Auch das Auge, das Ohrund die Haut werden in ihren Funktionen durch den anhaltendenMißbrauch der spirituösen Getränkebeeinträchtigt. Das Blut der Trinker wird reicher an Wasserund ärmer an Faserstoff und verändert sich in nochunbekannter Weise in seiner Beschaffenheit; in den frühenStadien des Alkoholismus findet eine exzessive Fettbildung statt.In allen Organen und Geweben tritt eine abnorme Anhäufung vonFett auf, die selbst im Blut sich kenntlich macht. Es ist erwiesen,daß Trinker viel häufiger erkranken als Nichttrinker,nicht nur an den von der toxischen Einwirkung des chronischenAlkoholgenusses direkt verursachten krankhaften Veränderungender einzelnen Organe, sondern daß sie wegen ihrer gesunkenenWiderstandskraft auch mehr den allgemeinenKrankheitseinflüssen ausgesetzt sind. Die Trinker verfallenauch allen Krankheiten in einem viel intensivern Grad alsNichttrinker; nicht nur, daß bei allen entzündlichenKrankheiten, bei allen operativen Eingriffen und Wundverletzungenjene den Säufern eigentümliche Erkrankung des Gehirns,das Delirium tremens, hinzutritt und den Verlauf der Krankheit sehrerheblich beeinflußt, sondern wegen der schlechtenBlutbeschaffenheit und der geschwächten Lebenskraft nehmen dieauftretenden, sonst relativ ungefährlichen Krankheiten einenbösartigen Charakter an. Die T. steigert die Sterblichkeit,indem viele Trinker nach Art einer akuten Vergiftung oder nacheinem Alkoholexzeß sterben; viel mehr aber gehen an dengeschilderten Folgen der T. und an Verunglückungen in derTrunkenheit zu Grunde. Eine beträchtliche Anzahl vonSelbstmorden geschehen in und aus T. Die Lebensdauer der Trinkerist in dem Maß verkürzt, daß, während einnormal Lebender im Alter von 20 Jahren eine Lebensdauer von 44,2Jahren zu erwarten hat, ein Trinker in gleichem Alter nur noch auf15,6 Jahre rechnen darf. Die in der T. erzeugte Nachkommenschaftist schwächlich und kränklich und disponiert besonders zuIdiotie, Konvulsionen, Epilepsie etc. In Gegenden, wo T. weitverbreitet ist, zeigt sich die Militärbrauchbarkeit der Jugendherabgemindert. T. erzeugt Müßiggang und Liederlichkeitund wird dadurch eine der wirksamsten Ursachen der Einzel- undMassenarmut, zugleich aber auch der Vermehrung der Verbrecher undder Verbrechen. Mehr als Armut und Unwissenheit ruft T. die Neigungzum Verbrechen hervor und beschönigt sie.

In dem Kampf gegen die T. sind nur solche Mittel anzuwenden,die, den Anschauungen des Volkes angepaßt, auf Anerkennungund Mitthätigkeit der Gesellschaft rechnen dürfen. Auchhier sollte man nur das zu erreichen suchen, was zu erreichenmöglich ist. Die absolute Unterdrückung des Genussesalkoholischer Getränke, die von vielen Seiten zum Prinziperhoben ist, wird nur in sehr beschränktem Maß zuerreichen sein und nur in einzelnen Ländern einerstrebenswertes Ziel bleiben. Der Kampf gegen die T. ist mitgroßer Energie von Vereinigungen selbstloser Männerunter verschiedenen Formen und nicht ohne Verirrungen geführtwordene (s. Mäßigkeitsvereine). Die gesetzlichenMaßregeln gegen die T. haben nicht immer den beabsichtigtenErfolg gehabt, weil sie aus fiskalischen Gründen nicht immerstreng durchgeführt werden, weil sie leicht zu umgehen sind,und weil es fast unmöglich ist, eingewurzelte Gewohnheiten undNeigungen aus dem Volk durch das Gesetz mit einemmal zu vertilgen.So hat das Gesetz, welches den Verkauf aller spirituösenGetränke bei hohen Strafen absolut verbietet und 1851 im StaatMaine (Liquor Maine law) und später auch in mehreren andernStaaten von Nordamerika eingeführt wurde, in keiner Weisebewirkt, was seiner Rigorosität und den Anstrengungen, esdurchzuführen, entspricht. Als wirksame Angriffspunkte derGesetzgebung sind die Verminderung der Zahl der kleinenBrennereien, namentlich der Hausbrennereien, anzusehen, ferner dieEinschränkung des Kleinhandels mit Spirituosen, Verminderungder großen Zahl der Schankstellen durch strenge Prüfungder Bedürfnisfrage und der Moralität des Schenkwirts.(England: Gesetze von 1828 und 1872, nach denen der Betrieb einesSchankgewerbes nur auf Grund einer alljährlich zu erneuerndenKonzession gestattet ist. Gesetze in Norwegen 1871, in Schweden1857 und 1869, nach denen in jeder Gemeinde die Zahl der Schenkendurch die Behörde unter Mitwirkung der Gemeindeorganefestgesetzt und die Schenken auf bestimmte Zeit an denMeistbietenden verpachtet werden; niederländisches Gesetz von1881, in Kraft getreten 1885; Gesetz für Galizien und dieBukowina von 1877, weitergehende Bestimmungen enthält einfür ganz Österreich geplantes "Gesetz zur Hintanhaltungder Trunkenheit". Entsprechende Bestimmungen für Deutschlandenthalten die Gewerbeordnung von 1869, die Ergänzungsgesetzevom 23. Juni 1879 und vom 7. Mai 1883, dann das Reichsstrafgesetz,§ 361. Weiter als letzteres Gesetz gehen diePolizeistrafgesetze einzelner Bundesstaaten sowie Gesetze inSchweden [1864], England [1872], Frankreich [1873] etc., welchediejenigen mit Strafe bedrohen, welche in Wirtschaften, auf derStraße oder an andern öffentlichen Plätzen imZustand offenbarer oder Ärgernis erregender Trunkenheitgefunden werden.) Weniger zuverlässig ist dieBranntweinsteuer, weil eine zu hohe Besteuerung die Defraudationgeradezu provoziert, während eine zu geringe Steuer denAlkoholkonsum allerdings ganz direkt begünstigt.

Nachahmenswert ist die Maßnahme, die in Schweden, zuerstin Gotenburg (gotenburgisches System), ergriffen ist, um die Zahlder Schankstellen zu vermindern und die Beförderung desAlkoholkonsums durch die Habgier der Schenkwirte zu verhüten.Hier hat sich eine Aktiengesellschaft gebildet, um dieSchankstellen (s. oben) anzukaufen und ohne jeden Nutzen fürsich den Handel im Sinn der Mäßigkeit zu betreiben. Ineinzelnen Staaten von Nordamerika wird der Schenkwirt gesetzlichfür alle Folgen der Trunkenheit, zu welcher er verholfen,haftbar, so daß er bei Verunglückungen eines Trinkers andessen Familie Schadenersatz leisten muß und auch mitbestraft werden kann, wenn ein Trinker, dem er die Getränkeverabfolgt, ein Verbrechen begeht. Von größter Bedeutungsind die Trinkerasyle zur Heilung Trunksüchtiger. In diesenAnstalten, in welchen nicht die unbeugsame Strenge einesGefängnisses, aber auch nicht die nachsichtige Zucht einerKrankenanstalt herrschen darf, sollen alle Personen zwangsweiseverwahrt werden, welche durch T. die Herrschaft über sichverloren haben, die Pflichten gegen sich und ihre Angehörigenanhaltend vernachlässigen, sich und andern eine Gefahr werdenkönnen. In diesen Asylen sollen ferner diejenigen Personenuntergebracht werden, welche in der Trunkenheit eine gesetzwidrigeHandlung begangen haben und zu einer Freiheitsstrafe verurteiltsind. Das erste Trinkerasyl wurde 1857 in Boston errichtet, baldwaren alle Staaten der Union diesem Beispiel gefolgt, und noch

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Trupial - Truppen.

jetzt ist die Zahl dieser staatlichen und privaten Asyle imZunehmen begriffen. Diese Asyle werden teils durch Beiträgevon Privaten, teils auch mit Unterstützung von seiten desStaats oder auch ganz auf Kosten des letztern unterhalten. DasWashingtonian Home in Boston, das älteste Institut dieser Art,das anfangs nur durch Privatwohlthätigkeit erhalten wurde undsehr bald so ausgezeichnete Erfolge aufweisen konnte, daß derStaat ihm eine jährliche Unterstützung von 5000 Dollarzuwies, wurde 1869 als eine Staatsanstalt anerkannt. In dieserAnstalt waren 1857-72: 3811 trunksüchtige Personen behandeltworden, von denen mehr als die Hälfte aus freien Stückenzugegangen und die andern auf richterlichen Ausspruch zugebrachtwaren. Von 400 Kranken, die 1875 hier behandelt waren,gehörten 189 den wohlhabenden Ständen an. Das Prinzip derBehandlung bestand hier in der vollen Enthaltsamkeit von allenberauschenden Getränken, in der Beseitigung jedes Zwanges, inder Wiederherstellung der körperlichen Gesundheit und in derKräftigung des sittlichen Moments. Bis zum 1. Mai 1876 sind indieser Anstalt ca. 5000 Kranke behandelt worden, und es sollwenigstens ein Drittel vollkommen geheilt, ein Drittel erheblichgebessert und würde von dem letzten Drittel auch noch einerheblicher Teil unter andern günstigen Verhältnissengebessert sein. Ein Trinkerasyl in Brooklyn (The Inebriate Home forKlug's County, Brooklyn, New York), welches 1866 durch Privatmittelgegründet wurde, nimmt lediglich Personen auf, die wegen T. zuGefängnisstrafen verurteilt wurden. Hier ging man von der sehrrichtigen Erfahrung aus, daß solche Personen in denGefängnissen eher verschlechtert als gebessert würden,und daß anstatt der bisherigen Bestrafung eine eigneBehandlung der Trinker eintreten müsse. Ein besonderes Gesetzermächtigt, daß alle verurteilten Gewohnheitstrinker ausden Grafschaftsgefängnissen in diese Anstalt verbracht werden,und daß der Richter trunksüchtige Personen bis auf einJahr in dieses Institut verbringen lassen könne. Die Kranken,Männer und Weiber, werden in besondern Werkstätten undbeim Landbau zwangsweise beschäftigt. Über den Wertdieser Einrichtungen ist ein vollgültiges Urteil noch nichtgesprochen. Man macht den amerikanischen Asylen den Vorwurf,daß sie ihre Insassen, die durchaus nicht immer als Krankegelten können, mit zu vieler Sentimentalität und Mildebehandeln, so daß diese Leute in ihren Neigungen und in ihrenlästerten Angewohnheiten eine gewisse Glorifizierungerblicken, daß nicht überall nach geordneten strengenGrundsätzen verfahren werde, daß in einzelnen Anstaltendie Insassen selbst leicht zu dem Genuß von Spirituosengelangen können, daß mehrere Anstalten unter derVerwaltung von Nichtärzten sich befinden, und daß diesim ärgsten Widerspruch mit dem immer proklamierten undhervorgehobenen Grundsatz steht, daß T. eine Krankheit sei(intemperance is a disease). Indessen sind die angeführtenThatsachen durchaus nicht geeignet, den Grundwert dieserEinrichtung, den hohen Nutzen derselben und ihreNachahmungswürdigkeit zu diskreditieren. In England habenschon seit vielen Jahren ganz vornehmlich die Irrenärzte dieZweckmäßigkeit und die unentbehrliche Notwendigkeitsolcher Anstalten hervorgehoben und verlangt. Privatasyle habenhier mehrfach schon seit Jahren existiert, und vielfältig isthier die Frage erörtert worden, ob nach der bestehendenGesetzgebung trunksüchtige Personen in Irrenanstaltenaufgenommen werden dürfen. Aber auch hier war die Ansichtvorherrschend, daß zur Aufnahme und Behandlung vonGewohnheitstrinkern ganz besondere Anstalten vorhanden seinmüßten, daß ihre Einschließung aufgesetzlichem Wege geregelt und bis auf ein Jahr ausgedehnt werdenmüßte. Ein 1880 auf die Dauer von zehn Jahren in Kraftgetretenes Gesetz läßt jedoch nur Privatinstitute zu,und in diese können Personen freiwillig eintreten, wenn sieihren Willen in einem schriftlichen Antrag erklärt haben, undwenn dieser Antrag von zwei angesehenen Bürgern, welche voreinem Friedensrichter bezeugen, daß der Antragsteller einGewohnheitstrinker sei, mit unterzeichnet worden. Diese Asyledürfen nur auf eine besondere Lizenz hin errichtet werden, undwie die Irrenanstalten werden auch sie alljährlich vonköniglichen Beamten inspiziert. Auch in Deutschland hat manTrinkerasyle aus Privatmitteln errichtet. In sehr wirksamer Weisewird die T. bekämpft durch Beförderung der Verbreitungderjenigen Getränke, die einen Ersatz für den Branntweingewähren: Begünstigung des Konsums von leichtem Wein undbesonders von gutem, billigem Bier, von Kaffee und Thee. In Englandhat man von philanthropischer Seite große Kaffeehäuserfür die arbeitenden Klassen errichtet. Ebenso wichtig ist dieFörderung des körperlichen Wohls der arbeitenden Klassendurch Beschaffung billiger und gesunder Nahrungsmittel undmenschenwürdiger Wohnung, die Stärkung des sittlichenGefühls im Volk durch Hebung des Wissens und der Bildungvermittelst der Schule und der Kirche. Volksbibliotheken,belehrende Vorträge, Theater mit sittlicher Tendenz, Museen,Arbeitervereine erweisen sich mit der Verbreitung von gesunderAufklärung als gute Waffen gegen den gemeinsamen Feind desVolksglücks, gegen die T. Vgl. Huß, ChronischeAlkoholkrankheit (a. d. Schwed., Stockh. 1852); Baer, DerAlkoholismus (Berl. 1878); Monin, L'alcoolisme (Par. 1888);"Mitteilungen zur Bekämpfung der T." (hrsg. von Böhmertu. a., Leipz. 1889 ff.).

Trupial (Icterus Briss.), Gattung aus der Ordnung derSperlingsvögel, der Familie der Stärlinge (Icteridae) undder Unterfamilie der Beutelstare (Icterinae), Vögel mitschlankem, fein zugespitztem, auf der Firste gerundetem,schneppenartig in das Stirngefieder eingreifendem, durch hohenMundwinkel ausgezeichnetem Schnabel, ziemlich kräftigen,langzehigen Füßen mit hohen, stark gekrümmtenNägeln, ziemlich langen Flügeln, unter deren Schwingendie zweite die längste ist, langem, abgerundetem, seitlichstufig verkürztem Schwanz. Der Baltimorevogel (I. BaltimoreL.), 20 cm lang, 30 cm breit, an Kopf, Hals, Kehle, Mantel,Schultern, Flügeln und den beiden mittelsten Schwanzfedernschwarz, an den Oberflügeldecken, dem Bürzel und denOberschwanzdeckfedern und den übrigen Unterteilen feurigorange, auf den Flügeln mit breiten, weißen Querbinden,die äußern Schwanzfedern halb orange, halb schwarz; dasAuge ist braun, Schnabel und Fuß grau. Er bewohnt dieOststaaten Nordamerikas, geht im Winter bis Westindien undMittelamerika, lebt besonders an Flußufern, baut ein anBaumzweigen hängendes, sehr künstlich geflochtenes Nestund legt 4-6 blaßgraue, dunkler gefleckte und gestrichelteEier. Ernährt sich im Frühjahr fast ausschließlichvon Kerbtieren, aber im Sommer richtet er an Feigen und Maulbeerenoft großen Schaden an. Wegen seines angenehmen Gesangshält man ihn viel im Käfig.

Truppen, militärische Abteilungen, die ihrerOrganisation nach ein in sich geschlossenes Ganze bilden, z. B.Bataillon, Regiment. Im Gegensatz zu den

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Truppenverbandplatz - Tsad.

Garden unterscheidet man Linientruppen, zu den T. der aktivenArmee Reserve-, Landwehr- und Landsturmtruppen, reguläre,irreguläre und Miliztruppen. Truppenkorps bestehen ausgemischten Waffen; T.- oder Waffengattungen unterscheiden sich nachihrer Ausrüstung, Bewaffnung, Kampfweise etc. als Infanterie,Kavallerie, Feld- und Fußartillerie etc. Truppenkörper,Truppenteil bezeichnen gewisse Einheiten verschiedenerGröße. Truppenfahrzeuge, s. Bagage.

Truppenverbandplatz, bei jedem größern Gefechtvon dem beteiligten Truppenteil durch Aufstellung seinesMedizinwagens, bez. Medizinkastens errichteter Verbandplatz, aufwelchem die Hälfte der Ärzte und Lazarettgehilfenverbleiben. Derselbe soll dem Gewehrfeuer möglichst entgegenund leicht zugänglich sein. Hier erhalten die Verwundeten dieerste Hilfe. Die Truppenverbandplätze sind möglichst baldmit dem Hauptverbandplatz zu vereinigen, damit Personal undMaterial derselben baldthunlichst sich ihren Truppenteilen wiederanschließen können.

Truro, 1) Stadt in der engl. Grafschaft Cornwall, amgleichnamigen Fluß, der hier in den Falmouthhafenmündet, die schönste Stadt der Grafschaft, mit neuerKathedrale, Museum, anglikan. Seminar, Schmelzhütten,Papiermühlen u. (1881) 10,619 Einw. -

2) Stadt in der britisch-amerikan. Provinz Neuschottland, amobern Ende der Cobequidbai, in fruchtbarer Gegend, mit (1881) 3461Einw.

Trüsche, s. Quappe.

Truthuhn (Meleagris L.), Gattung aus der Ordnung derHühnervögel (Rasores) und der Familie der Hokkovögel(Cracidae), große, hochbeinige, kurzflügelige undkurzschwänzige Vögel mit unbefiedertem, warzigem Kopf undOberhals, zapfenförmiger, ausdehnbarer Fleischklunker an derOberschnabellade und schlaffer Haut an der Gurgel, kurzem, starkem,oben gewölbtem und gebogenem Schnabel, ziemlich hohen,langzehigen Füßen, sehr gerundeten Flügeln undaufrichtbaren Schwanzfedern; einzelne Federn der Vorderbrustwandeln sich in borstenartige Gebilde um, welche das übrigeGefieder an Länge weit überragen. Das T. (Puter,kalikutisches Huhn, M. Gallopavo L.), 100-110 cm lang, bis 150 cmbreit, ist oberseits bräunlichgelb, metallisch schimmernd, mitschwarz gesäumten Federn, am Unterrücken und an denSchwanzdeckfedern dunkelbraun, grün und schwarzgebändert, auf der Brust gelblichbraun, am Bauch und an denSchenkeln bräunlichgrau, in der Steißgegend schwarz,Schwingen und Steuerfedern schwarzbraun, letztere schwarz gewellt,an den nackten Kopf- und Halsteilen blau mit roten Warzen; derSchnabel ist hornfarben, das Auge gelbblau, der Fuß violettoder rot. Das T. lebt in Ohio, Kentucky, Illinois, Indiana,Arkansas, Tennessee und Alabama in großen Waldungen,zeitweilig gesellig, macht unregelmäßige Wanderungen,geht im Herbst in Gesellschaften, die nur aus Männchen oderaus Weibchen mit den Jungen bestehen, in das Tiefland des Ohio undMississippi, immer zu Fuß wandernd und nur mitÜberwindung größere Ströme überfliegend.Nachts ruhen sie auf Bäumen. Die Henne legt in einer seichtenVertiefung 10-15 oder 20 bräunlichgelbe, rot punktierte Eierund bebrütet diese mit großer Treue; namentlich gegenEnde der Brutzeit verläßt die Henne das Nest unterkeiner Bedingung. Bisweilen benutzen mehrere Hennen ein gemeinsamesNest. Das T. frißt Gras und Kräuter, besondersPekannüsse und die Früchte der Winterrebe, Getreide,Kerbtiere etc. Nicht selten mischen sich abgematteteTruthühner gezähmten Hühnern bei, gehen in dieStälle, begatten sich auch mit zahmen Truthennen. Von letzternausgebrütete Eier der wilden Hühner liefern Junge, welchefast vollständig zahm werden. Man jagt das T. mit großemEifer, ähnlich wie den Auerhahn, fängt es aber auch ohneMühe in Fallen. Schon früh hat man angefangen, es zuzüchten, und gegenwärtig ist es sehr verbreitet. Manfindet es überall auf Hühnerhöfen, doch ist esseines jähzornigen, zanksüchtigen Wesens halber wenigbeliebt; seine Dummheit ist erstaunlich, und namentlich wenn esKüchlein führt, gebärdet es sich oftlächerlich. Man hält auf einen Hahn 4-10 Hennen undläßt sie ein-, auch zweimal im Jahr brüten. DieZahl der Eier beträgt 12-24. Die Henne brütet sehr eifrigvier Wochen (man benutzt sie auch als zuverlässigsteBrüterin in der Hühnerzucht), und man muß Futterund Wasser ganz in die Nähe stellen, den Hahn aber und andreHennen entfernt halten. Die jungen Hühnchen sind sehrweichlich, dumm und ungeschickt und müssen sehrsorgfältig vor Nässe, auch vor zu starker Hitzegeschützt und mit gekochten Eiern, gemischt mit Brotkrume,Grütze, gequetschtem Hanfsamen und gehacktem Grünzeuggefüttert werden. Nach vier Monaten kann man sie aufStoppelfelder und Wiesen treiben. Für den Markt werden siegemästet. Zweijährige Truthühner wiegen oft 10-15kg. Das Fleisch ist sehr geschätzt, und ein mit Trüffelngefüllter Truthahn gilt namentlich in Frankreich alsbeliebtester Braten. Das T. kam ziemlich früh nach Europa,Gyllius erwähnt es als Hausvogel der Europäer; in Englandsoll es 1524, in Deutschland zehn Jahre später, bald daraufauch in Frankreich eingeführt worden sein. 1557 war es abernoch so kostbar, daß der Rat von Venedig bestimmte, aufwelche Tafel "indische Hühner" kommen durften.Gegenwärtig ist es wohl am häufigsten in Spanien, wo manHerden von mehreren hundert Stück trifft. Vgl. Rodiczky,Monographie des Truthuhns (Wien 1882); Mariot-Didieux, DieTruthühnerzucht (2. Aufl., Weim. 1873); Schuster, Das T.(Kaisersl. 1879).

Trutta, Lachs.

Trutzfarben, s. Darwinismus, S. 566.

Trutzwaffen, die Angriffs-, Kampfwaffen, gegenüberden Schutzwaffen.

Truxillo, s. Trujillo.

Trybock, mittelalterliche Kriegswurfmaschine, s. v. w.Balliste.

Trygon, s. Rochen.

Trypeta, Bohrfliege.

Tryphiodoros (richtiger Triphiodoros), griech. Dichter zuEnde des 5. Jahrh. n. Chr., aus Ägypten, Verfasser einesepischen Gedichts von der "Eroberung Trojas" in 691 Versen. Ohnedichterischen Schwung, ist es in leidlicher Sprache geschrieben(hrsg. von Wernicke, Leipz. 1819, und Köchly, Zürich1850; deutsch von Torney, Mitau 1861).

Tryphoniden (Tryphonides), s. Schlupfwespen.

Trypograph (griech.), s. Hektograph.

Trypsin, s. Bauchspeichel.

Trzemeszno, Stadt, s. Tremessen.

Tsad (Tschad), großer Süßwassersee imSudân (Afrika), stellt das Zentrum der Abflachung dar, inwelcher sich die Abflüsse Bornus, Bagirmis, der Länder imS. Wadais und eines Teils der Haussastaaten sammeln,und liegtzwischen 12°30'-14°30' nördl. Br. und 13°-15°östl. L. v. Gr. in 244 m Meereshöhe (s. Karte"Oberguinea"). Im SO. setzt sich derselbe durch das gelegentlichvon ihm überströmte, 500 km lange, nach NO. ziehende Thaldes Bahr el Ghazal

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Tsanasee - Tschandarnagar.

oder Gazellenflusses (s. d. 2) fort, welches in den Niederungenvon Egai und Bodele endigt. Während der See aus der Wüsteim N. keine Zuflüsse erhält, münden von W. her derspärlich Wasser führende Waube, von S. der gleichfallsnicht bedeutende Mbulu und von SO. der allezeit wasserreiche Schariin denselben. Der T. hat einen sehr schwankenden Wasserstand, derim November infolge der Flut des Schari am höchsten ist; seineUfer sind teilweise ganz unbestimmt, man schätzt seinenFlächeninhalt aus 27,000 qkm (fast 500 QM.). Er hat einedreieckige Gestalt und besteht in seinem westlichen Teil ausoffenem Wasser, während der östliche nur ein netzartigverzweigtes Gewirr von Wasseradern mit zahlreichen Inseln ist, aufdenen das Volk der Jedina oder Budduma haust. Sind dieRegenfälle sehr stark, so müssen die Inselbewohner wohlauf das Uferland flüchten, während lange Trockenheit dieVereinigung der Inseln mit dem Ufer herbeiführt. Häufigsind die Ortschaften an den Ufern durch die Anschwellungen des Seesvernichtet worden. Nahe dem Westufer liegt Kuka, die HauptstadtBornus. Die Umwohner sind Kanembu, Bornuaner, im SO. nomadisierendeAraber. Die ersten Europäer, welche den See erblickten, warenClapperton, Denham und Oudney; der erste aber, welcher ihn befuhr,war oer Deutsche A. Overweg (1851); Vogel untersuchte ihn 1853,Nachtigal 1870. Vgl. Nachtigal in der Berliner "Zeitschriftfür Erdkunde" (Bd. 12); Derselbe, Sahara und Sudân, Bd.2 (Berl. 1880).

Tsanasee, s. Tanasee.

Tsang, Getreidemaß, s. Thang.

Tsch..., slaw. Worte, die hier vermißt werden,suche man unter C oder Cz...

Tschabuschnigg, Adolf, Ritter von, österreich.Staatsmann und Dichter, geb. 9. Juli 1809 zu Klagenfurt, studiertein Wien die Rechte, trat 1832 in den Staatsdienst, ward 1850Oberlandesgerichtsrat in Klagenfurt, 1854 in Graz, 1859 Hofrat beimobersten Gerichtshof in Wien, 1861 Mitglied des Reichsrats, 1870des Herrenhauses, war vom 12. April 1870 bis 4. Febr. 1871Justizminister im Kabinett Potocki; starb 1. Nov. 1877. Er schrieb:"Gedichte" (Dresd. 1833; 4. Aufl., Leipz. 1872); "Neue Gedichte"(Wien 1851); "Aus dem Zauberwalde", Romanzenbuch (Berl. 1856);Novellen und Romane: "Die Ironie des Lebens" (Wien 1841), "Dermoderne Eulenspiegel" (Pest 1846), "Die Industriellen" (Zwick.1854), "Sünder und Thoren" (Brem. 1875) u. a. Seine"Gesammelten Werke" erschienen Bremen 1875-77, 6 Bde. Vgl. v.Herbert, A. Ritter v. T. (Klagenf. 1878).

Tschad, See, s. Tsad.

Tschadda, Nebenfluß des Niger, s. Binuë.

Tschadir (türk., "Zelt"), in Persien Name des langenStückes blauer Leinwand, in welches die Perserinnen sichaußer dem Haus einhüllen.

Tschagatai (Dschaggatai), der zweite Sohn desDschengis-Chan, dem nach dessen Tode die Länder am Oxus undJaxartes, die Bucharei und Turkistan zufielen, die in jenen Teildes mongolischen Reichs einverleibt wurden, welcher unter dem Namen"Chanat von Tschagatai" von den uigurischen Pässen bis nachAmaje am Oxus sich erstreckte. T. starb 1241, seine Nachkommenbehaupteten sich bis auf Timur.

Tschagischer Thee, die Blätter der sibir. Saxifragacrassifolia, werden in Rußland als Thee benutzt.

Tschai (türk.), Fluß.

Tschaïken (Csaïken), kleine galeerenartige, mitSegeln und Rudern versehene Boote, welche, mit Kanonen undHaubitzen ausgerüstet, im ehemaligenösterreichisch-ungarischen Militärgrenzland zurBeschützung und Bewachung der Wassergrenze gegen dieTürken dienten. Es waren 25 solcher Schiffe im Gang, mit 1-8Kanonen und mit dem Tschaikistenbataillon bemannt, das denMarktflecken Titel (Titul) an der Theißmündung zumStabsort hatte.

Tschaikowsky, Peter Iljitsch, Komponist, geb. 25. Dez.1840 auf dem Hüttenwerk Wotkinsk im Gouvernement Perm imöstlichen Rußland, studierte Rechtswissenschaft inPetersburg und arbeitete von 1859 an im Justizministerium, bis er,seiner Neigung zur Musik folgend, den Staatsdienst verließund in das von A. Rubinstein neubegründete Konservatoriumeintrat. Nach Absolvierung seiner Studien (1866), und nachdem erfür eine Kantate nach Schillers Gedicht "an die Freude" diePreismedaille errungen, erhielt er die Stelle einesKompositionslehrers am Konservatorium zu Moskau, die er bis 1877bekleidete, in welchem Jahr er aus Gesundheitsrücksichtenseine Entlassung nahm. T. lebt seitdem zurückgezogen teils inItalien und in der Schweiz, teils in Rußland. Seinenamhaftesten Werke sind: die Opern "Vakula der Schmied" und "EugenOnägin", "Opritschnik", 4 Symphonien, die symphonischenDichtungen: "Der Sturm", "Romeo und Julie", "Francesca da Rimini",3 Streichquartette, 2 Klavierkonzerte, Sonaten und andreKlavierstücke, Kompositionen für Violine und Violoncelloetc. Auch veröffentlichte er eine "Harmonielehre" und einerussische Übersetzung von Gevaerts "Traitéd'instrumentation".

Tschako (ungar. Czakot), eine seit dem Anfang diesesJahrhunderts übliche militärische Kopfbedeckung in Formeiner hohen Mütze, entweder oben und unten gleich weit, oderoben schmäler als unten, wie der jetzige T. der Jäger unddes Trains, oder oben breiter als unten, in welcher unpraktischenForm er überall verschwunden ist; gewöhnlich von Filz,mit ledernem Deckel und Kopfrand, vorn mit einem Schildversehen.

Tschamara (tschech.), mit einer engen Reihe kleinerKnöpfe besetzter Schnurrock mit niedrigem Stehkragen,tschechische Nationaltracht.

Tschambal, Hauptfluß der Landschaft Malwa inZentralindien, entspringt im Windhyagebirge, fließt gegen NO.und mündet in die Dschamna; 689 km lang.

Tschambesi, Fluß in Zentralafrika, mündet ander sumpfigen Ostseite des Bangweolosees und könnte somit alsQuellfluß des Congo angesehen werden.

Tschanak-Kalessi ("Topfburg"; bei den EuropäernDardanellen genannt), Hauptstadt des zum türk. Wilajet Karasigehörigen, etwa die alte Landschaft Troas umfassenden LiwaBigha, an der engsten Stelle des Hellespont auf asiatischer Seitegelegen, Sitz zahlreicher militärischer undZivilbehörden, eines internationalen Telegraphenamtes, einesQuarantäne- und Hafenamtes, mit über 7000 Einw. (zurHälfte Mohammedaner). T. ist Transithafenplatz für Holz,Galläpfel, Wolle und Getreide, betreibt Schiffbau, exportiertviel Töpferwaren und hat ein Regierungsgebäude, eineKaserne, 10 Moscheen, 3 Kirchen, 2 Synagogen, 9 türkische, 4christliche und 2 jüd. Schulen, 11 Vizekonsulate etc. Am Meerdas alte Fort Kale Sultanie, dessen Name häufig für dieStadt selbst gebraucht wird.

Tschandal, eine der niedrigsten Hindukasten in Bengalenund Assam, nichtarischen Bluts und 1881: 1,749,608 Köpfestark. Sie sind sehr geschickte Schiffer, kräftig und warenvon den Ariern tief verachtet, aber zugleich auch gefürchtet;sie bekennen sich zum Teil zum Islam.

Tschandarnagar (Chandernagur), franz. Enklave in derbritisch-ind. Provinz Bengalen, am Hugli,

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Tschang - Tschechische Litteratur.

^85 km oberhalb Kalkutta, 10 qkm groß mit (1885) 25,842Einw., steht unter einem von dem Generalgouverneur in Ponditscherriabhängigen Beamten und hatte 1883 eine Einnahme von 210,009,eine Ausgabe von 166,500 Frank. T. erhält von derbritisch-indischen Regierung jährlich 300 Kisten Opium unterder Bedingung, daß es selbst kein Opium bereitet. Es wurde1673 von den Franzosen besetzt, der Ort erlangte schnellgroße Bedeutung als Handelsplatz, wurde von denEngländern mehrmals erobert, 1815 endgültigzurückgegeben, hat sich aber nicht wieder erholen können.Vgl. Fras, Études sur Chandernagor (Lyon 1886).

Tschang, Längenmaß in China, à 10Tschih; im Zollamt nach englischen Verträgen = 3,58, nachfranzösischen = 3,55 m.

Tschangscha, s. Hunan.

Tschantabon, Handelsstadt im südöstlichen Siam,an der Mündung des gleichnamigen Küstenflusses in denGolf von Siam, mit angeblich 6000 Einw.

Tschapat (türk.), Post, das Postwesen, auchPostreiter in Persien. T.-Chan, Poststation.

Tschardaken, Wachthäuser an derösterreichisch-türk. Militärgrenze fürMilitär- und Zeltwache und den Pestkordon. Vgl. Karaul.

Tschardas, s. v. w. Csárdás.

Tscharka, Flüssigkeitsmaß, s. Kruschka.

Tscharnikau, s. Czgrnikau.

Tschaslau (tschech. Cáslav), Stadt inOstböhmen, in fruchtbarer Ebene, an der ÖsterreichischenNordwestbahn, Sitz einer Bezirkshauptmannschaft, einerFinanzbezirksdirektion und eines Bezirksgerichts, hat eineDechanteikirche mit hohem Turm, eine neue evang. Kirche, einschönes Rathaus, ein Denkmal Ziskas, ein Theater, einUntergymnasium, eine tschechische evang. Lehrerbildungsanstalt,eine Rübenzuckerfabrik (außerdem 7 in der Umgebung vonT., einem Hauptsitz dieser Industrie), Bierbrauerei,Dampfmühlen, Fabrikation von Spiritus, Preßhefe, Seifeund (1880) 7178 Einw. Von T. führt eine Lokalbahn nachButschitz (mit Zuckerfabrik und Eisenwerk Hedwigsthal) undZawratetz. T. ist sehr alt, war ein Hauptplatz der Hussiten undlitt sehr im Dreißigjährigen Krieg.

Tschataldscha, 1) Städtchen 60 km westlich vonKonstantinopel, an der Eisenbahn nach Adrianopel, nach welchem dieumfangreichen, 1878 zum Schutz Konstantinopels errichtetenVerteidigungswerke benannt werden; Sitz eines Mutefsarif. -

2) Früherer türk. Name der jetzt griech. StadtPharsalos (s. d.).

Tschatschak, Hauptstadt eines Kreises im KönigreichSerbien, rechts an der Morawa, mit Kirche, Untergymnasium und(1884) 3137 Einw. Hier zweimal (1806 und 1815) Sieg der Serbenüber die Türken. Der Kreis umfaßt 3164 qkm (57,4QM.) mit (1887) 82,358 Einw.

Tschausch (türk.), ehemals Leibgardist oderPolizist, deren Vorgesetzter (T.-Baschi) mit wichtigenStaatsfunktionen betraut war; jetzt s. v. w. Wachtmeister, auchVorreiter eines Wesirs; in Persien Unternehmer und Anführervon Pilgerkarawanen; in Serbien der Spaßmacher bei derHochzeit.

Tschaussy, Kreisstadt im russ. Gouvernement Mohilew, hateine griechisch-orthodoxe und eine Uniertenkirche, Fabriken inLeder, Wolle, Seife und Talg und (1885) 5202 Einw., zur HälfteJuden.

Tschautschau, Handelsstadt in der chines. Provinz f*ckien,mit katholischer und evang. Mission und angeblich 1 Mill. Einw. T.sollte nach dem Vertrag von Tientsin (1858) den Fremden alsVertragshafen geöffnet sein. Da es aber infolge seiner Lageoberhalb der Mündung des Han der Schiffahrt schwerzugänglich ist, so wird das an der Mündung gelegeneSwatau (s. d.) als Vorhafen benutzt.

Tschay (Czay), Mischung von Thee, Zucker und Rum oderRotwein; auch ein aus gestoßenem Mais, heißem Wasser,Zucker und Rum bereitetes, in Rußland und Ungarn sehrbeliebtes Getränk.

Tschebokssary, Kreisstadt im russ. Gouvernement Kasan, ander Wolga, mit 12 Kirchen, dem Troizti-Kloster mitwundertätigem Bilde des heil. Nikolaus und (1885) 5081 Einw.,welche Juftengerberei und Handel mit Honig und Wachs treiben.

Tschech, Heinrich Ludwig, geb. 1789 zu Klein-Kniegnitz inSchlesien, studierte die Rechte und wurde Bürgermeister inStorkow. Aus Privatrache machte er 26. Juli 1844 in Berlin einenMordversuch auf Friedrich Wilhelm IV. und wurde 14. Dez. d. J. inSpandau enthauptet.

Tschechen (Tschechoslawen, ^Ce^si), Volksstamm derNordslawen in der österreichisch-ungar. Monarchie, vorwiegendin Böhmen und Mähren seßhaft, wohin sie zu Ende des5. Jahrh. n. Chr. aus dem Karpathenland an der obern Weichsel nebstandern verwandten Stämmen einwanderten. In Böhmenerlangten sie bald ein solches Übergewicht, daß ihr Namebereits im 9. Jahrh. die allgemeine Bezeichnung fürsämtliche im Land wohnende Slawen ward und Böhmen selbstdie Bezeichnung Tschechy erhielt. Ihr Name stammt nachgewöhnlicher Annahme von ihrem ersten Anführer, Tschech.Der tschechische Stamm umfaßt außer den eigentlichen T.in Böhmen auch die Mähren oder mährischen T.(Moravani) in Mähren (im westlichen Gebirge Horaken, in derHanna Hannaken, im östlichen Gebirge Walachen genannt), zumTeil auch in Schlesien, ferner die Slowaken im nordwestlichen TeilUngarns. Sonst sind die T. in einzelnen Ansiedelungen auch inandern Kronländern vertreten. Ein starker Zuzug tschechischerHandwerker und Arbeiter (namentlich Erd- und Bauarbeiter) findetnach Niederösterreich, insbesondere nach Wien statt. DieGesamtzahl der T. beträgt 7,14 Mill. Die tausendjährigeAnstrengung, das eigne Wesen vor dem mächtigern Deutschtum zuretten, hat dem T. manchen Charakterzug aufgedrückt, der sonstden Slawen fremd ist: Mißtrauen, Verschlossenheit und einegewisse verbitterte nationale Erregtheit, da er sich immer durchden Deutschen gedrückt meint, hinter dem er, mit Vorliebe demAckerbau obliegend, in Gewerbe und Handel zurückbleibt. SeineNatur zeigt aber manche schöne Eigenschaften. Er istarbeitsam, tüchtig als Soldat und Beamter, hatnatürlichen Verstand und rege Phantasie, faßt schnell,eignet sich leicht fremde Sprachen an und treibt gern Poesie, Musikund Wissenschaft. Eine gemeinsame Nationaltracht aus ältererZeit hat sich nicht erhalten; dagegen besitzen einzelne Gegenden,wie die Hanna, malerische Kostüme. Die volkstümlicheBauart des Block- und Pfahlwandbaues mit geringer Breite desHauses, hohem Dach u. waldkantig behauenen Blöcken, die aufgemauertem Unterbau ruhen, und deren Zwischenräume mit Lehmund Moos verstopft sind, hat sich nur im östlichen TeilBöhmens erhalten. Weiteres s. in den Artikeln "Böhmen","Österreich", "Slawen" etc. Vgl. Vlach, Die ^Cecho-Slawen(Teschen l883).

Tschechische Litteratur. Die t. L. hat sich unter denslawischen Literaturen am frühsten entwickelt, wurdejedoch in der hussitischen Zeit von theologisch-polemischenSchriften überflutet und durch die Reaktion nach der Schlachtam Weißen Berg (1620) fast voll-

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Tschechische Litteratur (bis zum 16. Jahrhundert)

ständig unterbrochen. In den 20er Jahren des 19. Jahrh.beginnt ihre Erneuerung und zwar vorwiegend in wissenschaftlicherRichtung unter starker Anlehnung an gesamtslawische Ideen.

I. Periode.

Von den ältesten Zeiten bis zu Huß (800-1410).

Die ältesten Proben tschechischer und überhauptslawischer Poesie sind die sogen. "Grünberger Handschrift" (s.d.), angeblich aus dem 9. Jahrhundert, und die "KöniginhoferHandschrift" (s. d.), die in das 13. oder 14. Jahrh. verlegt wirdund eine Reihe epischer und lyrischer Gedichte enthält, vondenen einige aus vorchristlicher Zeit stammen sollen. Die exklusivnationale Richtung, wie sie in den Dichtungen dieser Handschriften(deren Echtheit übrigens seit ihrer Entdeckung bis auf denheutigen Tag mannigfach angezweifelt wird) zu Tage tritt, konntesich dem Andrang der westeuropäischen Zivilisationgegenüber nicht lange behaupten. Schon unter Wenzel I. undOttokar I. drangen mit deutscher Rittersitte auch die damalsbeliebten poetischen Stoffe nach Böhmen. So ward die"Alexandreïs" Walters von Châtillon von einemunbekannten Dichter tschechisch bearbeitet (13. Jahrh.), ebenso dieArtussage in "Tristram", mit starker Nachahmung Gottfrieds vonStraßburg, und in "Tandarias a Floribella" (14. Jahrh.).Höher an poetischem Wert stehen indessen die dem Dalimil (s.d.) zugeschriebene (in Wirklichkeit von einem unbekannten Ritterkurz nach 1314 verfaßte) Reimchronik der böhmischenGeschichte und die in trefflicher Prosa geschriebene Erzählung"Tkadlecek" aus dem 14. Jahrh. (hrsg. von Hanka, Prag 1824). Auchdidaktische Dichtungen, namentlich Tierfabeln, waren damals inBöhmen sehr verbreitet (darunter "Nová Rada" und"Radazvirat" des Smil Flaska von Pardubitz) wie nicht minderkirchliche Poesien (bemerkenswert die "Legende von der heil.Katharina", aus dem 14. Jahrh., 1860 von Erben herausgegeben) undreligiöse Dramen oder "Mysterien", als deren ältestebekannte Probe der nur in einem Fragment erhaltene"Mastickár" ("Salbenkrämer"), aus dem Anfang des 14.Jahrh., zu nennen ist (hrsg. von Hanka im "Vybor"). - Dietschechische Prosa begann mit Bibelübersetzungen. Ein kleinesFragment des Evangeliums Johannis, der Schrift nach aus dem 10.Jahrh., ist neben der Grünberger Handschrift das ältesteDenkmal der tschechischen Litteratur. Die Gründung der PragerUniversität 1348 gab dann den Wissenschaften in Böhmeneinen raschen Aufschwung. Einer ihrer ersten Schüler warThomas v. Stitny (s. d.), dessen theologisch-philosophischeAbhandlungen von der herrschenden Scholastik stark abwichen. Dieälteste Chronik in tschechischer Prosa ist die des PriestersPulkava von Hradenin (gest. 1380), der sich die übersetzungder Reisen des Engländers Mandeville von v. Brezow und die desMarco Polo anschlossen. Das älteste Denkmal endlich derböhmischen Rechtsgeschichte ist die "Kniha staréhopána z Rozenberka" aus dem Anfang des 14. Jahrh.

II. Periode. Von Huß bis zur Schlacht am Weißen Berg(1410-1620). Das Jahr, in welchem Joh. Huß seinen Bruch mitder römischen Kurie vollzog, wird mit Recht als der Anfangeiner neuen Periode der tschechischen Litteratur bezeichnet. Umsich in dem Streit mit Rom die Unterstützung der Volksmassenzu sichern, schlug Huß kühn die Bahnen ein, welche vorihm bereits Thomas v. Stitny betreten hatte, gab die lateinischeGelehrtensprache auf und wandte sich in gemeinverständlichentschechischen Predigten und Schriften an das Volk. Hierbeientwickelte er die tschechische Sprache nicht nur praktisch,sondern unterzog sich auch der Mühe, die bis dahinaußerordentlich schwankende Orthographie in einer besondernSchrift zu regeln (vgl "M. J. Husi ortografie ceská". hrsg.von Sembera 1857). Diese Bemühungen um die Vervollkommnung dertschechischen Sprache wurden im 15. und 16. Jahrh. eifrigfortgesetzt von der Gemeinschaft der Böhmischen oderMährischen Brüder (s. d.), welche die vorzüglichstentschechischen Stilisten hervorbrachte und zuerst in Jungbunzlau undLeitomischl, darauf in Prerau Druckereien anlegte. Wesentlichgefördert wurde der Aufschwung der tschechischen Litteraturauch durch humanistische Einflüsse, namentlich unter WladislawII. (1471-1516), als Bohuslaw v. Lobkowitz, welcher eine derreichhaltigsten Bibliotheken seiner Zeit sammelte, und nach ihmeine Reihe namhafter Gelehrten ausgezeichnete lateinische Gedichteschrieben und ein andrer Kreis böhmischer Humanisten, an derenSpitze der Rechtsgelehrte Cornelius v.Vsehrd stand, die klassischenStudien für die tschechisch-nationale Litteratur zu verwertensuchte. Gleichwohl konnte sich unter den erbitterten nationalen undreligiösen Kämpfen die tschechische Poesie nicht in demMaß fort entwickeln, als es sonst ihre glänzendenAnfänge versprachen. Satire und Kriegslieder traten in denVordergrund. Der "Májovy sen" ("Maitraum") des Prinzen HynekPodiebrad (1452-91) ist nur seines Verfassers wegen zuerwähnen; das satirische Gedicht "Prostopravda" des NikolausDacicky von Heslow (1555 bis 1626) hat nur noch für dieKulturgeschichte Wert. Der bedeutendste tschechische Dichter dieserZeit ist Simon Lomnicky (gestorben nach 1622), obschon es ihm ansittlichem Gehalt fehlte, um als didaktischer und moralisierenderDichter Großes zu leisten. Für seine Hauptwerke gelten:"Krátké naucení mladémuhospodári" ("Kurze Anleitung für einen jungenHauswirt), ein didaktisches Gedicht mit Zügen der damaligenSitten, und die Satire "Kupidova strela" ("Die Hoffart desLebens"), welche ihm bei Rudolf II. den Adel und einen Jahrgehalteinbrachte; auch versuchte er sich in kirchlichen Dramen. Unter denzahllosen kirchlichen Gesängen sind besonders die von demBischof der Böhmischen Brüder, Joh. Augusta (1500 bis1572), größtenteils im Gefängnis verfaßtenschwungvollen Lieder hervorzuheben.

Auch in der tchechischen Prosa dieser Periode überwiegt dietheologisch-polemische Richtung, indem Kalixtiner, Katholiken undspäter Protestanten in kirchlicher Propaganda litterarischwetteiferten. Am wertvollsten sind die teils lateinischen, teilstchechischen Schriften von Joh. Huß, dem Begründer desProtestantismus (1369-1415), von denen die letztern neuerdings vonErben (Prag 1865-68, 3 Bde.) herausgegeben wurden. Auf katholischerSeite zeichnete sich der Prager Dekan Hilarius von Leitmeritz(Litomericki, gest. 1469) aus. Durch kernhaften Stil ragen desgenialen Peter Chelcicky (s. d., 1390-1460) Schriften hervor,welche der Böhmischen Brüderschaft als Richtschnurgalten. Unter den theologischen Schriftstellern dieserBrüderschaft zeichnete sich besonders Lukas (1458-1528) durchglänzenden Stil aus. Die erste tschechische Übersetzungdes Neuen Testaments von Lupác erschien 1475. die ersteGesamtübersetzung der Bibel 1488; bis 1620 erschienen 15tschechische Bibeln, die beste davon ist die 1579-93 inMährisch-Kralitz auf Kosten des Johann von Zerotinveröffentlichte ("Bible Kralicka"), die noch heute fürdas höchste Muster der tschechischen Sprache gilt. DieBegründer der böhmischen Rechtswissenschaft

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Tschechische Litteratur (16.-18. Jahrhundert).

sind Viktorin v. Vshehrd ("Neun Bücher vom Recht undGericht und von der Landtafel in Böhmen", 1550; hrsg. vonJirecek, Prag 1874), der Landmarschall Ctibor von Cimburg in demsogen. "Tobitschauer Buch" (für Mähren) und P. Chr. v.Koldin (1579), dessen Schrift "Prava mestska Kralostvi ceskeho"für die Städteordnungen in Böhmen und Mährenmaßgebend wurde. Eifriger Pflege erfreuten sich diehistorischen Wissenschaften. Den Übergang zur zweiten Periodebilden die "Stari letopisove cesti", anonyme Annalisten der Jahre1378 bis 1527 (hrsg. von Palacky 1829). Bedeutende Förderungerhielt dann die tschechische Geschichtschreibung durch Adam v.Veleslavín (1546-99), der zahlreiche eigne und fremdehistorische Werke in musterhafter Sprache veröffentlichte(Übersetzung der "Historia bohemica" von Äneas Sylvius,"Politia historica", "Kalendar historicky" u. a.). Die Kämpfezwischen den Kalixtinern und den Protestanten in Prag 1524-30wurden von dem eifrigen Lutheraner Bartos (gest. 1535) parteiisch,aber anschaulich geschildert; den Widerstand der böhmischenStände gegen Ferdinand I. 1546-48 beschrieb Sixt v. Ottersdorf(1500-1583) ebenfalls vom protestantischen Standpunkt aus, aberdurchaus pragmatisch und in klassischem Stil. Die gesamteböhmische Geschichte behandelte der Kanonikus Vaclav Hajek vonLibocan (1495-1553), dessen "Chronik" eine beliebte Lektüre,aber wenig zuverlässige Geschichtsquelle ist. Joh. Blahoslaw(1523-71) von der Böhmischen Brüderschaft verfaßteeine wertvolle Geschichte der letztern. Ein andrer Bruder, VaclavBrezan (1560-1619), Archivar des Grafen Rosenberg, schilderte ineiner Biographie dieses Magnaten die Ereignisse von 1530 bis 1592;doch kommt dieses Werk stilistisch den Schriften Blahoslaws nichtgleich. Zur Brüdergemeinde gehört ferner der HistorikerJaffet (gest. 1614), der außer andern Werken eine Geschichtevom Ursprung der Brüderunitäten schrieb. WertvolleBeiträge zur politischen und Kulturgeschichte Böhmensenthalten die Briefe des Karl v. Zerotin (s. d.), neben dem nochder polnisch-tschechische Historiker Barthol. Paprocki (1540-1614,Beschreibungen der böhmischen, mährischen undschlesischen Adelsgeschlechter) und der Hofhistoriograph desKönigs Mathias, Georg Zaveta, Verfasser einer "Hofschule"("Scholaaulica",Prag 1607) zu erwähnen sind. Endlichgehört hierher die reichhaltige Korrespondenz der Herren v.Schlik, Rabstein, Sternberg, Rosenberg, Cimburk, Wilh. v. Pernsteinund des Königs Georg von Podiebrad. - In der Länder- undSittenkunde tritt uns zuerst die"Kosmografie ceska" des Siegmund v.Puchov (1520-84) entgegen, der sich die Beschreibung der Reisen desJoh. v. Lobkowitz nach Palästina (1493), Vratislavs v.Mitrowitz nach Konstantinopel (1591; hrsg. in der "Staroceskabiblioteka", Bd. 3), Harants von Polzic nach Ägypten,Jerusalem etc. (1598; neue Ausg. von Erben, 1854) u. a.anschlossen. Unter den Humanisten zeichneten sich aus: Gregor HrubyJeleny (1450-1514) als Übersetzer von Cicero u. a., SiegmundHruby Jeleny (gest. 1554), Verfasser eines "Lexicon symphonum" dergriechischen, lateinischen, tschechischen und deutschen Sprache,Vaclav Pisecki (gest. 1511), der Übersetzer des Isokrates.Auch die tschechische Sprachforschung verdankt der BöhmischenBrüdergemeinde vielfache Förderung ("Grammatika ^eska"von Joh. Blahoslaw, 1571). Naturwissenschaftliche Schriftenhinterließen Tadeus Hajek (gest. 1600) und Adam Zaluzanski(gest. 1613).

III. Periode. Die Unterdrückung der tschechischen Sprache;die Exulanten (1620-1774). Die Niederlage der Böhmen in derSchlacht am Weißen Berg, die gewaltsame Austreibung undAuswanderung von 30,000 Böhmen, darunter viele durchhervorragende Stellung und Vermögen einflußreicheFörderer der nationalen Litteratur, die Vernichtung desWohlstandes und die allgemeine Verwilderung während desDreißigjährigen Kriegs schienen den Untergang dertschechischen Litteratur herbeizuführen. Gegen die altenSchätze derselben wüteten die Sieger unter dem Vorwand,daß sie von hussitischen oder protestantischen Tendenzendurchdrungen seien. So gingen von den ältern Werken vieleunter, andre wurden außerordentlich selten. Bald verwildertedenn auch die tschechische Sprache, die immer allgemeiner alsBauerndialekt verachtet und endlich vom Kaiser Joseph II. durchDekret vom 6. Jan. 1774 aus Amt und Schule ausgeschlossen wurde.Damit war das 1620 unternommene Werk formell beendet, allein soforttrat eine kräftige Gegenwirkung zu Tage. Die litterarischenTraditionen der zweiten Periode wur den zunächst von denEmigranten oder Exulanten fortgesetzt. Karl v. Zerotin setzte vonBreslau aus, wohin er 1628 ausgewandert war, seine litterarischwertvolle Korrespondenz mit seinen Freunden, namentlich mit denBöhmischen Brüdern, fort. In enger Verbindung mit seinemNamen erscheint der des bedeutendsten tschechischen Schriftstellersjener Zeit, J. Amos Komenskys (genannt Comenius, 1592 bis 1670),dem die t. L. die großartige, wenn auch zuweilen in Pietismusausartende allegorische Dichtung "Labyrint sveta a rájsrdce" ("Labyrinth der Welt", 1623) verdankt, worin er dem tiefenSchmerz seiner Seele in ergreifenden Tönen Ausdruck verlieh.Von demselben unerschütterlichen Gottvertrauen zeugt seinetreffliche metrische Übersetzung der Psalmen. In seinenpädagogischen Schriften trat er gegen die herrschendepädagogische Scholastik und den verkehrten Klassizismus auf(weiteres s. Comenius). Neben Komensky zeichneten sich unter denExulanten aus: Paul Skála (gestorben nach 1640), derVerfasser einer Kirchengeschichte in 10 Bänden, Martin v.Drazov, Paul Stránsky, (gest. 1657), der in seiner inAmsterdam veröffentlochten "Respublica bojema" eineüberaus klare Darstellung der politischen Verhältnisseund des innern Zustandes Böhmens entwirft. Nochspärlicher entwickelte sich die t. L. nach der Katastrophe von1620 in Böhmen selbst. Eigentümlicherweise verdankt manhier das bedeutendste Werk jenem Grafen Wilhelm Slavata (s. d.),einem der Opfer des berühmten Fenstersturzes, dessen14bändiges Geschichtswerk ("Spisovani historicke"), einGegenstück der vom protestantischen Standpunkt verfaßtenGeschichte Skálas, eine wichtige Geschichtsquelle bildet. ImSinn der kirchlich-politischen Reaktion schrieben ferner der JesuitBohuslaw Balbin (gest. 1688), Thomas Pesina (gest. 1680), dessen"Predchudce Moravopisu" die chronologische Geschichte Mährensbis 1658 umfaßt, Joh. Beckovsky (gest. 1725), Verfasser einerböhmischen Chronik: "Poselkyne starych pribehuv", JohannHammerschmid (gest. 1737), Franz Kozmanecky, der schon ältereWenzel Sturm, der schlimmste Gegner der Brüdergemeinde (gest.1601), ferner der jesuitische Fanatiker Anton Konias (gest. 1760)u. a.

IV. Periode. Die Wiedererweckung (1774 bis 1860). Dieplötzliche Unterdrückung der tschechischen Sprache in Amtund Schule rief alsbald ernste

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Tschechische Litteratur (18. und 19. Jahrhundert).

Proteste hervor. Kurz nach dem Erscheinen des betreffendenkaiserlichen Patents forderte Graf Franz Kinsky in der deutschenSchrift "Erinnerungen über einen hochwichtigen Gegenstand"(1774) die Erhaltung und Ausbildung der tschechischen Sprache, undein Jahr darauf gab Franz Pelcel eine lateinischeVerteidigungsschrift der tschechischen Sprache des oben genanntenBalbin ("Dissertatio apologetica linguae slovenicae") heraus.Wichtiger aber für das Wiedererwachen der tschechischenNationalität war der Aufschwung der historischen Forschungunter der Regierung Maria Theresias und Josephs II. Zuerstuntersuchte Fel. Jak. Dobner (s. d.) die alten tschechischenGeschichtsquellen und gründete 1769 einen wissenschaftlichenVerein, welcher 1784 zur königlich böhmischenGesellschaft der Wissenschaften erhoben wurde. Unter dem anregendenEinfluß dieser Gesellschaft erwachte das Interesse fürdie Sprache und Litteratur der Tschechen, für welche 1793 F.Pelcel als ordentlicher Professor an der Prager Universitätangestellt wurde, während Joseph Dobrovsky (s. d., 1753-1829)die eigentliche Grundlage der neuern tschechischen Sprachforschungschuf. Mit dem 1818 durch den Grafen Sternberg begründetenNationalmuseum, das bald eine Zeitschrift in deutscher undtschechischer Sprache herausgab und später den wichtigenVerein der Matice ceska zur billigen Verbreitung von tschechischenSchriften zu Tage förderte, erhielt dann die litterarischeBewegung der Tschechen einen festen Stützpunkt. DenÜbergang von diesen ersten Versuchen der Wiedererweckung dertschechischen Litteratur zu dem ansehnlichen Aufschwung dieserLitteratur nach 1820 bildet die fruchtbare Thätigkeit JosephJungmanns (s. d., 1773-1847), der sich namentlich durch zwei Werke,seine "Geschichte der tschechischen Litteratur" (1825) und sein"Tschechisch-deutsches Wörterbuch" (1835-39, 5 Bde.), diegrößten Verdienste erwarb. Auf dem Gebiet der Poesiewirkte, nach den schwachen Anfängen Puchmajers, Polaks undJungmanns, die Auffindung der Königinhofer und derGrünberger Handschrift (1817) epochemachend und befruchtend.In der nationalen Richtung gingen voran Joh. Kollar (1793-1852) undWladislaw Celakowsky (1799-1852). Zahlreiche andre Lyriker, wieVaclav Hanka (1791-1864), Vlastimil Kamaryt (gest. 1833; "Pisenvesnicanuv"), Fr. Jaroslaw Vacek (gest. 1869), ferner Vinaricky,Chmelenski, Picek, Pravoslav Koubek, Boleslav Jablonsky, W. Stulcu. a., schlossen sich ihnen an. - Die epische Dichtung, besondersangeregt durch die Auffindung der genannten nationalenHandschriften, fand ihre Pflege durch den Slowaken Joh. Holly(1785-1849; "Svatopluk"), den Romanzendichter Erasm. Vocel(1803-71), Joh. Marek (1801-53), Jos. Kalina (1816-47), den unterByronschem Einfluß stehenden Karl Hynek Macha (1810-36;"Máj"), den vielseitigen Jaromir Erben (1811-70), derindessen schon den Übergang zu der neuen Richtung vermittelt.Unter den Satirikern zeichneten sich Franz Rubes (1814-53) und KarlHavlicek (1821-56) aus. - Die Anfänge des modernentschechischen Dramas knüpfen sich an das 1785 von Karl undWenzel Tham in Prag begründete Liebhabertheater. Nep.Stepánek (1783-1844) schuf durch zahlreiche originale oderübersetzte Stücke das tschechische Repertoire; höherstehen der fruchtbare Wenzel Klicpera (1792-1859) und Jos. KajetanTyl (1808-56), dessen "Cestmir", "Pani Marjanka", "Strakonickydudak", "Jan Hus" u. a. sich auf dem Repertoire erhalten haben.Noch sind zu erwähnen: S. Machacek (gest. 1846), Fr.Turinský (gest. 1852), Ferdinand Mikovec (gest. 1862). -Auch das Gebiet des Romans (im Sinn W. Scotts) und der Novellewurde fleißig angebaut, so namentlich von Tyl, Rubes, K. I.Mácha und Marek, dem Begründer der tschechischenNovellistik, Sabina (1813 bis 1877), Prokop Chocholousek (1819-64),J. Ehrenberger (geb. 1815) und Adalbert Hlinka (pseudonym FranzPrawda, geb. 1817), durch letztern besonders in Erzählungenaus dem Volksleben.

Bedeutender als auf dem Gebiet der Poesie gestaltete sich dieneuere t. L. auf dem der Wissenschaften und insbesondere derhistorischen. Als Historiker stehen in erster Linie: Franz Pelcel(1734-1801), der Verfasser einer Reihe historischer Untersuchungen(darunter Biographien Karls IV., Wenzels IV. etc.) und einer "Novakronika ceská", die wesentlich zur Erweckung destschechischen Nationalgefühls beitrug; sodann Paul Jos.Safarik (Schafarik, 1795-1861), der in seinen "Starozitnostislovanské" den ersten den modernen Bedürfnissenentsprechenden Versuch machte, die slawische Urgeschichte bis zum10. Jahrh. aufzuhellen, und besonders Franz Palacky (1798-1876),mit dessen monumentaler "Geschichte Böhmens von denältesten Zeiten bis 1526", deren 1. Band 1836 erschien, dietschechische Historiographie sich plötzlich aus mühsamerund schwerfälliger Altertumsforschung auf die Höhenmoderner, künstlerischer Darstellung emporschwang. Auch um dieslawische Sprachforschung erwarb sich nach den schon genanntenGelehrten, Dobrovsky und Jungmann, besonders Paul Safarik durchseine "Pocátkové staroceske mluvnice" großeVerdienste. Diesen Bahnen folgen: Martin Hattala (geb. 1821),Wenzel Zikmund (1863-73), Jos. Kolar u. a.

V. Periode. Die neueste Zeit. Mit der Einführung derkonstitutionellen Ära in Österreich (um 1860) fielen dieletzten Schranken, welche das Wiederaufblühen dertschechischen Litteratur bis dahin vielfach gehindert hatten. AnZahl, innerm Gehalt und Formvollendung übertreffen denn auchdie Produkte der neuesten Periode alle frühern. Das tritt amauffälligsten auf poetischem Gebiet zu Tage. Hier seizunächst, gleichsam als Übergang in die Neuzeit, derhyperromantische Lyriker J. Vaclav Fric (pseudonym Brodsky, geb.1829) erwähnt, der sich auch als Dramatiker einen Namengemacht hat. In Viteslav Halek (1835-74) erstand sodann derböhmischen Poesie ein Dichter von durchaus moderner Stimmungund trefflicher Naturmalerei. Schwungvoller sind die lyrischenGedichte von Adolf Heyduk (geb. 1836), der auch in der poetischenErzählung ungewöhnliches Talent bekundet. Sehrgeschätzt werden ferner die geistreichen, im übrigen derdichterischen Unmittelbarkeit entbehrenden Gedichte von Joh. Neruda (geb. 1834). Der bedeutendste Dichter Böhmens auflyrisch-epischem Gebiet ist indessen Jaroslaw Vrchlický(eigentlich Frida, geb. 1853). Noch sind unter den Lyrikern zuerwähnen: Eliza Krasnohorska (geb. 1847), die populärsteböhmische Dichterin der Neuzeit, der vorwiegend elegischeJoseph Vaclaw Sladek (geb. 1845), Spindler, Dörfl, Mokry etc.Als Dichter von epischer Begabung zeigte sich Svatopluk Cech (geb.1846), doch hat ein Epes im großen Stil die neueretschechische Poesie bisher nicht zu Tage gefördert. Diebedeutendsten Erfolge sind im Drama errungen worden, besondersdurch Franz Wenzel Jerábek (geb. 1836), der im sozialenSchauspiel und der Tragödie Werke von hohem sittlichen undkünstlerischen Wert schuf. Von Bedeutung

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Tschechische Litteratur - Tschechische Sprache.

sind der Lustspieldichter Emanuel Bozdech (1841-1889), dernationale Vaclav Vlcek (geb. 1839), bei dem aber zuweilen dasepische Motiv überwiegt; der noch der ältern Schuleangehörende fruchtbare Schauspieler Jos. Georg Kolar (geb.1812), der mit besonderm Geschick düstere Helden- oderIntrigantentypen zur Geltung bringt; Fr. A. Subert,gegenwärtig Direktor des böhmischen Nationaltheaters.Weniger glücklich war der oben erwähnte JaroslawVrchlický in seinen dramatischen Versuchen. Sonst sind nochzu erwähnen Stroupeznicky ("Cerne duse" etc.), Neruda,Zakreys, Durdik ("Stanislav i Ludmila"), Stolba, Samberk, Krajniketc. - Als die Gründerin des tschechischen Romans gilt FrauKaroline Svetlá (eigentlich Johanna Muzák, geb.1830), die Verfasserin zahlreicher dem Volksleben entnommenerErzählungen. In erster Reihe steht gegenwärtig derbereits unter den Dramatikern erwähnte Vaclav Vlcek, dessen"Zlatov ohni" (neue umgearb. Ausg. 1883) sowohl durchgroßartig angelegten Plan (Naturgeschichte der Familie vonder Ehe bis zur Völkerfamilie) als auch durch meisterhafteDetailmalerei hervorragt. Auf dem Gebiet des historischen Romanswaren vor andern Jos. Georg Staúkovský (gest. 1880;"König und Bischof", "Die Patrioten der Theaterbude" etc.) undder schon unter den Dramatikern genannte Fr. A. Subert (15.Jahrh.), auf dem des sozialen Svatopluk Cech thätig. Fernersind als Erzähler zu nennen: Gustav Pfleger-Moravsky (gest.1875; "Aus der kleinen Welt") und Aloys Adalbert Smilowski (gest.1883), beide auch als Lyriker und Dramatiker bekannt; Jakob Arbes(geb. 1840); der schon unter den Dichtern erwähnte Joh. Neruda("Erzählungen von der Kleinseite"); Aloys Jirásek (geb.185l; "Die Felsenbewohner", "Am Hof des Wojewoden", "Einephilosophische Geschichte" etc.); Bohumil Havlasa (gest. 1877; "ImGefolge eines Abenteurerkönigs", "Stille Wasser" etc.); ServacHeller, Julius Zeyer, Franz Herites (geb. 1851), Joseph Stolba(geb. 1846) u. a.

Die moderne böhmische Geschichtsforschung wurde von Fr.Palacky (s. oben) begründet; seine große "GeschichteBöhmens" gelangte 1876 zum Abschluß und hat auf alleZweige des öffentlichen Lebens, auf Politik, Kunst undWissenschaft, in Böhmen den nachhaltigsten Einflußausgeübt. Sein Nachfolger als böhmischerLandeshistoriograph, Anton Gindely (geb. 1829), hat sich durch diegroß angelegte (deutsch geschriebene) "Geschichte desDreißigjährigen Kriegs" einen Namen gemacht,während ihm von nationaler Seite Mangel an patriotischerWärme vorgeworfen wird. Durch Bienenfleiß zeichnet sichVaclav Vladivoj Tomek (geb. 1818) aus, dessen "Geschichte der StadtPrag" (1855 ff.) eine in solcher Vollständigkeit fastbeispiellose Monographie der böhmischen Hauptstadt bringt undsich zugleich zu einem überreichen Material für dieGeschichte Böhmens gestaltet. Von den übrigen Historikernsind besonders der populäre K. Vladislaw Zap (gest. 1870),Anton Bocek (gest. 1847) und Beda Dudik (geb. 1815; "GeschichteMährens") namhaft zu machen. Eine fruchtbare Thätigkeitauf literarhistorischem, linguistischem und historischem Gebietentfaltet Joseph Jirecek (geb. 1825), der Verteidiger derKöniginhofer Handschrift. Einzelne Epochen der böhmischenGeschichte bearbeiteten Karl Tieftrunk, Fr. Dworsky, Rezek, Ferd.Schulz, Koran, Bilek u. a., die Geschichte slawischer VölkerW. Krizek (gest. 1882), Konstantin Jirecek (geb. 1854; "Geschichteder Bulgaren"), Joseph Perwolf (geb. 1841; "Die Geschichte derslawischen Idee" etc.). Wichtige Beiträge zur böhmischenRechtsgeschichte lieferten, außer Palacky, Vorel und Tomek,in der neuesten Epoche Hermenegild Jirecek (s. d.), dermährische Landesarchivar Vinzenz Brandl (geb. 1834; "DieAnfänge des Landrechts" etc.), Joseph Kalousek ("Dieböhmische Krone"), Karl Jicinsky, Tornan, Emler, Rybicka u. a.In der Rechtswissenschaft hat sich Randa (s. d.) einen weitüber die Grenzen Böhmens bekannten Namen erworben. Fernersind hier zu nennen: I. Slavicek, A. Meznik, J. Skarda, Havelka, A.Pavlicek u. a.

Die philosophische Litteratur beginnt in Böhmen erst 1818mit einem Aufsatz von W. Zahradnik (in der Zeitschrift "Hlasitel").Palacky, Purkyne, Marek, Hanus, Kvet behandelten in Zeitschrifteneinzelne Zweige der Philosophie. Erst Dastich (geb. 1834),Professor der Philosophie an der Prager Universität,veröffentlichte größere Werke philosophischenInhalts ("Formelle Logik", "Empirische Logik","Erläuterungenzum System des Thomas Stitny" etc.). Der bedeutendste Vertreter derphilosophischen Litteratur ist gegenwärtig I. Durdik (s. d.),der sich entschieden an die neuern deutschen Systeme anlehnt undsich mit Erfolg der Ästhetik zugewendet hat. In denVordergrund trat neuestens T. G. Masaryk ("Konkrete Logik"), dermit seinen "Slawischen Studien" ("Slovanske studie") auch dieslawische Frage zum erstenmal vom rein realistisch-philosophischen,aller Romantik entkleideten Standpunkt behandelt, überdiesauch die Echtheit der Königinhofer Handschrift bekämpft.Unter den Naturforschern zeichnen sich die Schüler desPhysiologen Purkyne (s. d.): I. Krejci ("Geologie", 1878), derZoolog A. Fric, der Botaniker L. Celakowsky (s. d. 2), Fr.Studnicka ("Aus der Natur") und der oben erwähnte derÄsthetik zugewandte I. Durdik ("Kopernikus und Kepler","Über den Fortschritt der Naturwissenschaft" etc.) aus.

Die moderne tschechische Literaturgeschichte wurde von F.Prohazka mit den "Miscellaneen der böhmischen undmährischen Litteratur" (1784) begründet. Reichhaltiger,wenn auch den modernen kritischen Ansprüchen nicht gewachsenist Jungmanns "Historie literatury ceske" (1825); erst I. Jirecekbegann 1874 die Herausgabe einer erschöpfenden tschechischenLiteraturgeschichte: "Rukovet k dejinam literatury ceske",während der "Dajepis literatury ceskoslavanske" von Sabina(gest. 1877) die beiden ersten Perioden der tschechischenLitteratur mit ausführlicher Beleuchtung derKulturverhältnisse behandelt. Als in biographischer Hinsichtausgezeichnet sind die "Dejiny reci a literatury ceske" von A.Sembera (1869) zu erwähnen. Wertvolle Beiträge zurtschechischen Literaturgeschichte lieferten: W. Nebesky, K. I.Erben, Vrtatko, Brandl (über Karl v. Zerotin), Cupr (überVeleslavin), Kiß (über Sixt v. Ottersdorf und Lomnicky),Hanus (über Celakowsky), Zoubek (über Komensky), Jirecek(über Safarik), Zeleny (über Palacky, Kollar, Jungmann)etc. Auch enthält die große unter Leitung Riegersveröffentlichte Encyklopädie "Slovnik naucny" (1854-74,12 Bde.) ausführliche Artikel zur tschechischen Litteratur.Vgl. K. Tieftrunk, Historie literatury ceske (Prag 1876); Fr.Bayer, Strucne dejiny literatury ceske (Olmütz 1879);Backovsky, Zevrubné dejiny ceskeho pisemnictv i doby nove("Eingehende Geschichte der tschechischen Litteratur der Neuzeit",Prag 1888); Pypin u. Spasovic, Geschichte der slaw. Literaturen,Bd. 1 (deutsch, Leipz. 1880 ff.).

Tschechische Sprache (böhmische Sprache) ist einZweig des slawischen Sprachstammes, der nebst dem

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., VX. Bd.

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Tschego - Tscherdyn.

nahe damit verwandten Slowakischen (s. Slowaken) im innernBöhmen, in Mähren, um Troppau und inOberungarn von ungefähr 6½ Mill.Menschen gesprochen wird. Unter allen slawischen Dialekten scheintsie sich am frühsten, schon im Beginn desMittelalters, ausgebildet und sich lange in ihrerursprünglichen Reinheit erhalten zu haben; denhöchsten Grad ihrer Ausbildung erreichte sie im 16.Jahrh. Seit dem 17. Jahrh. begann die deutsche Sprache mehr undmehr Eingang zu finden; die meisten tschechischenBücher wurden als ketzerischverdächtigt, neue in den kriegerisch unruhigenZeiten nicht geschrieben, und die t. S. blieb fast nur nochEigentum der untern Schichten des Volkes. Infolge davon verlor sieihre Eigentümlichkeit immer mehr, bis sich seit derMitte des 18. Jahrh. gelehrte Patrioten des fast vergessenen Idiomswieder annahmen und 1776 ein Lehrstuhl der tschechischen Sprache ander Wiener und 1793 ein solcher an der Prager Hochschule errichtetwurde. Infolge davon kam die t. S. nach und nach wieder zu solchemAnsehen, daß die österreichischeRegierung sich bewogen fand, 1818 die Erlernung derselben auch inden böhmischen Gymnasien wieder anzuordnen und zubefehlen, daß in Böhmen anzustellendeZivilbeamte der tschechischen Sprache mächtig seinsollten. In neuester Zeit haben sich sogar die Deutschen inBöhmen zu beklagen über dieübermäßige Protektion,die dem Tschechischen von oben herab, durch das Ministerium Taaffe,zu teil wird. Das Tschechische wird seit 1831 mit lateinischenBuchstaben geschrieben, währendfrüher dafür die deutsche Schrift imGebrauch war. Die Anzahl der Buchstaben ist verschieden, je nachdemman die accentuierten Vokale und punktierten Laute als besondereBuchstaben aufführt oder nicht; im erstern Fallkommen 42 Buchstaben heraus. Die accentuierten Vokale, z. B.á, é, sind lang zu sprechen, dieübrigen sind kurz. Auch r und l kommen alsselbständige Vokale vor (wie im Sanskrit), sind aberimmer kurz; im Slowakischen erscheinen sie auch als lange Vokale.Eigentümlich sind auch die Vokale ^e = je,ù = ou, ů = u, y = i. Unter denKonsonanten ist c = z, ^c = tsch, ^n = franz. gn in Champagne, ^r =rsch (das sch weich gesprochen), z = franz. j (weiches sch); d' undt' sind mouillierte Dentale, etwa wie dj, tj zu sprechen. VieleLautveränderungen treten beim Zusammentreffen derLaute in der Wortbildung ein; so verwandelt das j ein folgendes aund e in e und i, ein vorausgehendes a in e. Die Orthographie istjetzt vollkommen geregelt, während sie sich in derältern tschechischen Litteratur in einem chaotischenZustand befand und der nämliche Laut oft aufsechserlei verschiedene Arten ausgedrückt wurde. AnFormenreichtum wird die t. S. von andern slawischen Sprachen,namentlich von den serbokroatischen Dialekten,übertroffen; doch finden sich manchespäter in Abnahme gekommene Formen, z. B. der Dualisund der Aorist, im Altböhmischen noch durchgehendsbewahrt, und die meisten grammatischen Verluste sind durchNeubildungen ersetzt worden. Der Wortschatz istnatürlich viel reicher und mannigfaltiger als in denbis in die neueste Zeit fast litteraturlosensüdslawischen Sprachen; doch herrscht in demGebrauch der vielen neuen Wörter, welche in diesemJahrhundert von nationaleifrigen tschechischen Schriftstellerneingeführt worden sind, teilweise einegroße Unsicherheit. Grammatisch bearbeitet wurde diet. S. zuerst im 16. Jahrh. von den BöhmischenBrüdern, besonders von Blahoslaw. Die brauchbarstenneuern Grammatiken sind die von Negedly (Prag 1804, 1821 u.öfter), Dobrovsky (das. 1809 u. 1819), Trnka (Wien1832, 2 Bde.), Burian (Königgrätz1843), Koneczny (Wien 1842-46, 2 Bde.), Hattala (Prag 1854, durchwissenschaftliche Haltung ausgezeichnet), Tomicek (4. Aufl., das.1865), Censky (3. Aufl., das. 1887) u. a. Ein kurzes Lehrbuch deraltböhmischen Grammatik verfaßte Safarik(2. Aufl., Prag 1867). Wörterbüchergaben Tomsa (Prag 1791), Dobrovsky (das. 1821), Palkowicz (das.1821, dabei auch ein slowakisches Wörterbuch), Hanka(das. 1833), Jungmann (das. 1835-39, 5 Bde.) und Franta-Schumavsky(das. 185l) heraus. Für den praktischen Gebrauchdienen die Wörterbücher von Rank (3.Aufl., Prag 1874) und Jordan (4. Aufl., das. 1887).

Tschego, s. Schimpanse.

Tscheki (Cheky), Handelsgewicht in derTürkei für Opium und Kamelhaare;für Opium = 250 Drachmen = 800,648 g;für Kamelhaare - 800 Drachmen = 2,562 kg; auchGewicht für Gold und Silber, = ¼ Oka =100 Drachmen = 321,25 g.

Tschekiang, Küstenprovinz des mittlernChina, 92,383 qkm (1678 QM.) groß mit (1885)11,685,348 Einw., ist Haupterzeugungsgebiet fürSeide und Thee; Hauptorte: Hangtschou, Ningpo undWêntschou.

Tscheljabinsk, Kreisstadt im russ. Gouvernement Orenburg,am Mijash, mit weiblichem Progymnasium und (1885) 9542 Einw.

Tscheljuskin, Kap, s. Taimyr.

Tschembar, Kreisstadt im russ. Gouvernement Pensa, mitHandel in Landesprodukten und (1885) 5753 Einw.

Tschempin, Stadt, s. Czempin.

Tschenab (Tschinab), einer der fünfStröme des Pandschab, von denen die Provinz ihrenNamen empfängt, entspringt in der Landschaft Laholvon Kaschmir, nimmt in der Ebene den Dschelam,später den Rawi auf und mündetunterhalb Bahawalpur in den Satledsch.

Tscheng (Cheng), altes chines. Blasinstrument, bestehendaus einem ausgehöhlten Flaschenkürbis,der als Windbehälter dient und mittels einerS-förmigen Röhre vollgeblasen wird; aufdem offenen obern Ende des Kürbisses steht eineReihe (12-24) Zungenpfeifen mit durchschlagenden Zungen. Dieseletztern wurden dem Abendland erst durch das T. bekannt, fandenseit Anfang dieses Jahrhunderts Eingang in die Orgeln undführten zur Konstruktion der Expressivorgel(Harmonium).

Tschengri, kleinasiat. Stadt, s. Kjankari.

Tschenstochow, s. Czenstochowa.

Tschepewyan (Chippewyan, Cheppeyan), ein zum Stamm derAthabasken gehöriges Indianervolk im brit.Nordamerika, nicht zu verwechseln mit den den Algonkinangehörenden Tschippewäern oderOdschibwä. Sie nennen sich selbst Saw-eessaw-dinneh("Männer der aufgehenden Sonne") und betrachten dieGegenden zwischen dem Großen Sklavensee und demMississippi als ihre ursprünglichen Jagdreviere. AlsJäger der Hudsonbaikompanie stehen sie namentlichmit deren Forts am Großen Sklaven- und Athabascasee inVerbindung. Das von ihnen bewohnte Gebiet ist reich an Renntieren,welche ihnen Subsistenzmittel und Kleidung verschaffen, bestehtaber größtenteils aus Barren-Grounds,wodurch sie gezwungen sind, sich im Winter in dieWälder und in die Nachbarschaft derGroßen Seen zurückzuziehen. Ihre Zahldürfte kaum 2000 betragen.

Tscheram (Schelam), ind. Stadt, s. Salem 2).

Tscherdyn, Kreisstadt im russ. Gouvernement Perm, an derKolwa, mit (1885) 3490 Einw., die sich viel mit dem Bau vonFlußfahrzeugen beschäftigen.

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Tscheremissen - Tscherkessen.

Tscheremissen, finn. Volk im europäischenRußland, am linken Ufer der Wolga, in den GouvernementsNishnij Nowgorod, Kasan, Orenburg, Simbirsk und Wjatkaansässig. Der Name T. ist ihnen von den Mordwinen beigelegt,sie selbst nennen sich Mara ("Mensch"). Sie sind mittelgroße,meist schwächliche, blonde oder rötliche Leute,träge, furchtsam und gelten für Betrüger. SeitAufgebung ihres frühern nomadischen Lebens sind sie Hirten,Ackerbauer, Jäger, Fischer und eifrige Bienenzüchter,leben aber nicht in Städten und geschlossenen Dörfern,sondern vereinzelt, besonders in den ausgedehnten Urwäldern ander Wolga. Die Weiber verstehen sich auf das Weben und Färbenverschiedener Stoffe. Das Volk, 260,000 Köpfe stark, bekenntsich zwar zur griechisch-russischen Kirche, hat aber eine Mengeheidnischer Gebräuche beibehalten, so hat der GetreidegottAgedarem bei ihnen noch große Geltung. Die Sprache der T.gehört zu der finnisch-ugrischen Gruppe des ural-altaischenSprachstammes. Grammatiken derselben verfaßten Castren("Elementa grammaticae tscheremissae", Kupio 1845) und Wiedemann(Reval 1847).

Tscherepowez, Kreisstadt im russ. Gouvernement Nowgorod,an der Scheksna, mit Realschule, Lehrerseminar, weiblichemProgymnasium, großer Fischerei, einem besuchten Jahrmarkt und(1886) 6134 Einw. Im Kreis T. ausgedehnte Fabrikation vonNägeln.

Tscheri, die durchaus mohammedan. Gerichtsbehördendes türkischen Reichs, im Gegensatz zu den Nisâmijes,welche für Streitigkeiten zwischen Bekennern verschiedenerReligionen dienen. Weiteres über ihre Organisation vgl.Türkisches Reich, S. 923.

Tscheribon (Cheribon, Tjeribon), niederländ.Residentschaft auf der Nordküste von Java, 6751 qkm (122,7QM.) mit (1886) 1,346,267 Einw. (darunter 708 Europäer, 6859Chinesen, 380 Araber), ist im nördlichen Teil eben undsumpfig, im südlichen dagegen, wo sich der Pik Tscherimai, einVulkan von 3043 m Höhe, erhebt, gebirgig. Hauptprodukte sind:vortrefflicher Kaffee, Indigo und Zuckerrohr. Die Bevölkerungist halb sundanesisch, halb javanisch. Die gleichnamige Hauptstadtliegt in der Ebene an der Mündung des Flusses T. in dieJavasee und hat gegen 15,000 Einw. Nördlich von der Stadt, aufdem Gunong Dschati, ist Kaliastana, das heilig gehaltene Grab desIbn Mulana, der den Islam auf Java einführte. Derholländische Resident wohnt in Tanakil, 4 km von derStadt.

Tscherikow (Czerikow), Kreisstadt im russ. GouvernementMohilew, an der Sosh, mit 3 griech. Kirchen, evangel. Kapelle,Lehranstalten für Russen, Polen und Juden, großemKaufhof, mehreren industriellen Etablissem*nts, Getreide- undHolzhandel und (1885) 3987 Einw.

Tscherkasski, Wladimir Alexandrowitsch, Fürst, russ.Staatsmann, geb. 13. April 1821 aus einer alten adelstolzenFamilie, studierte in Moskau die Rechte, trat in den Staatsdienst,schloß sich der nationalrussischen, eifrig liberalen Parteider russischen Aristokratie an, wirkte bei der Emanzipation derLeibeignen mit, gehörte zu dem Organisationskomitee, welcheswährend des polnischen Aufstandes 1861-64 Polen aufdemokratischer Grundlage neu gestalten wollte, trat nach demScheitern dieses Unternehmens aus dem Staatsdienst, war Mitgliedder Slawischen Gesellschaft, deren panslawistische Bestrebungen ermit Eifer förderte, und ward Stadthaupt von Moskau. 1877 beiAusbruch des russisch-türkischen Kriegs erhielt er denAuftrag, die Verwaltung Bulgariens als selbständigenFürstentums zu organisieren. Er starb 3. März 1878 inSanto Stefano.

Tscherkassy, Kreisstadt im russ. Gouvernement Kiew, amDnjepr und der Zweigbahn Bobrinskaja T., der älteste Sitz derSaporoger Kosaken, hat 6 griechisch-russische, eine evangelischeund eine kathol. Kirche, ein jüd. Bethaus, Zuckerfabriken,einen wichtigen Flußhafen und (1885) 20,755 Einw. (meistKleinrussen, Polen und Juden). Deutsche und französischeKaufleute treiben hier einen lebhaften Handel mit Wolle, Leinwand,Spiritus, Cerealien und Vieh.

Tscherkessen (s. Tafel "Asiatische Völker", Fig.26), eine die westliche Familie der nördlichen Abteilung deskaukasischen Stammes umfassende Völkergruppe in derWesthälfte des Kaukasus und den an sie sowie an ihre Zweigesich anlehnenden Ebenen zwischen dem nördlichen Ufer desSchwarzen Meers von der Meerenge von Kertsch bis zu den GrenzenMingreliens, durch den ganzen Lauf der Flüsse Kuban und Malka,einen Teil des nach N. gerichteten Terekstroms und die kaukasischeHauptkette von der grusinischen Militärstraße bis zumElbrus. Die T. teilen sich in die Adighe und die Asega oderAbchasen. Die Adighe (Adyche), von den Türken T., von unsdanach Cirkassier oder nach ihrem Wohnplatz, der Kabarda, auchKabardiner genannt, zerfallen in die Abadschen (Abadzen) amNordabhang der Kaukasuskette in den Thälern der in den Kubanfallenden Flüsse Schaguascha, Laba, Pschisch, Pszekups,Wuanobat und Sup, die Schapszugen und die Natkuadsch oderNatuchaizen in den Gebirgen und den der Festung Anapa angrenzendenEbenen, die Kabardiner zwischen den Flüssen Malka und Terekund von letztern bis zu den Vorbergen des Kaukasus und zurSisnischa, die Beszlenei im Kubanbecken zwischen dem Fers, demGroßen und Kleinen Tegen und dem Woarp, die Mochosch imGebiet des Tschechuradsh, Belogiak und Schede, die Kemgoi undTemirgoi zwischen dem Kuban und der untern Laba und Belaja, dieChatiukai zwischen Belaja und Schisch, die Bsheduch*en in den Ebenendes Pschisch und Pszekups, endlich die Shan oder Shanejewzen aufder Kubaninsel Karabukan. Die Asega oder Abchasen grenzennördlich am Kapoeti an die Adighe, südlich am Enguri andie Mingrelier, westlich ans Schwarze Meer und östlich an dieSuanen und die basilianischen Türken. Zu ihnen gehörendie Sadzen oder Dschigeten, die Abszne oder Abchasen, die Sambaloder Zebeldiner auf der Südseite des Hauptgebirges im W. derMingrelier, die Barakin, Bag, Schegerai-Tam, Kisilbek, Baschilbaiund Basschog auf der Nordseite der Bergkette im Quellgebiet derKchoda, Urup, der Kleinen und Großen Laba und desGroßen Selentschuk, endlich die Ubychen am Südabhang desHauptgebirges zwischen den Natuchaizen und den Dschigeten. Die Zahlsämtlicher T. wurde von Bergé auf 490,000 Seelengeschätzt, davon 325,000 Adighe und 125,000 Asega; dergrößte Teil derselben ist jedoch nach denunglücklichen Kämpfen gegen Rußland auftürkisches Gebiet übergesiedelt, so daß man 1880nur noch 115,449 T. berechnete. Es beziehen sich daher dievorstehenden und folgenden ethnologischen Bemerkungen nur auf diefrühere Zeit. Die T. sind ein sehr schöner und deshalbberühmter Menschenschlag von reichlich mittlerer Statur,schlank und kräftig mit edlen, fein geformten Gesichtern undbraunen, zuweilen blonden Haaren. Früher bekannten sie sichteils zum armenischen, teils zum orthodox-griechischen Christentum,haben aber später den Islam angenommen; doch sind nur dieHäuptlinge und Vornehmen als Moham-

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Tscherkessen (Geschichte).

medaner anzusehen, bei dem Volk haben sich sowohl christlicheGebräuche als zahlreiche Spuren des alten Heidentums erhalten.Die Richter, die Ältesten des Stammes, urteilen in Ermangelunggeschriebener Gesetze, da die T. keine Schriftzeichen besitzen,nach dem Herkommen. Für den Verurteilten ist der ganze Stammverantwortlich. Der einzige Fall, in welchem ein Gericht auf Toderkennen kann, ist offener oder geheimer Dienst beim Feinde; dochauch da begnügt man sich meist mit einer hohen Geldstrafe.Dagegen kostet die Blutrache alljährlich vielen T. das Leben,da dieselbe an dem ganzen Stamm des Beleidigers ausgeübt wird.Die Sprache der T., selbständig für sich dastehend, istkenntlich an vielen Gurgeltönen, reich, zur Poesie geeignetund zerfällt in einen nördlichen (Abesech) undsüdlichen (Ubuch) Dialekt (s. Kaukasische Sprachen). Sie habenSänger (Kikoakoa), welche in hohem Ansehen stehen. Vgl.L'Huilier, Russisch-tscherkessisches Wörterbuch und Grammatik(Odessa 1846); Löwe, Circassian dictionary (Lond. 1854). Seitder Einführung des Korans hat die arabische Sprache sichbedeutend ausgebreitet, und in ihr werden auch die Dokumenteausgestellt. Die Verfassung ist eine feudal-aristokratische; dieBevölkerung teilt sich in vier Stände: Pschi(Fürsten), Work oder Elsden (Ritter), Tsokol oder Waguscheh(Freie) und Pschitli (Sklaven). Von den Pschi sollen im Lande derAdighe nur noch vier, aber gliederreiche Familien vorhanden sein;die Work sollen noch einige hundert Höfe besitzen. DiePschitli sind die Nachkommen kriegsgefangener Frauen und Kindersowie solcher Adighe, welche durch Richterspruch zur Sklavereiverurteilt wurden. Sie sind jetzt persönlich frel und habennur einige Naturalabgaben, Fron- und Kriegsdienste zu leisten. DieGeistlichkeit kann man in zwei Klassen teilen; die erste davon istdie alte christlich-heidnische (Dschiur genannt), welche aber vonder mohammedanischen Geistlichkeit mehr und mehr verdrängtwird. Die Männer gehen stets bewaffnet und zwar mit Flinte,Säbel, Pistole und Dolchmesser. Eigentümlich sind die aufder Brust getragenen orgelpfeifenähnlichenPatronenhülsen. Die Hauptcharakterzüge des Volkes sind:Anhänglichkeit an die Familie, Tapferkeit, Entschlossenheit,Gastfreiheit, Ehrfurcht vor dem Alter und Gemeinsinn, aber auchLeichtsinn, Roheit, Habgier, Neigung zur Dieberei und namentlichLügenhaftigkeit. Der Hausvater ist auf seinem Gehöftunumschränkter Herr; die Söhne bleiben, solange er lebt,ihm zur Seite; der älteste Sohn wird Erbe des Hofs und desgrößern Teils der beweglichen Habe. Das Heiratengeschieht nach freier Wahl, und zwar wird das Mädchen aus demelterlichen Haus heimlich entführt und erst später nachder Hochzeit der vereinbarte Preis vom Mann bezahlt. Die Stellungder Frauen ist nicht die sklavische wie sonst im Morgenland. DasMädchen wird früh in weiblichen Handarbeiten, Nähen,Stricken etc., geübt und tummelt sich als Jungfrau mit denBrüdern und Vettern im Gehöft umher, lernt den Bogenspannen und das Roß lenken. Diese Selbständigkeitverhindert aber nicht, daß Mädchen von den eignen Elternverkauft werden, um in türkischen Harems eine mehr oder minderglanzvolle Rolle zu spielen. Vgl. Kaukasien.

[Geschichte.] Schon im Altertum traten die T. unter dem Namender Sychen als Seeräuber auf. Im 13. Jahrh. wurden sie von dengeorgischen Königen unterworfen und zum Christentum bekehrt,doch errangen sie 1424 ihre Unabhängigkeit wieder. Inzwischenhatten sie sich über die Ebenen am Asowschen Meer verbreitetund waren dadurch mit den Tataren in Konflikt geraten. DieBedrückungen, welche sich der Chan der Krim gegen dieGebirgsstämme erlaubte, nötigten diese, sich 1555 demrussischen Zaren Iwan IV. Wasiljewitsch zu unterwerfen, der ihnenhierauf gegen die Tataren Hilfe leistete. Nach dem Abzug derrussischen Truppen überzog Chan Schah Abbas Girai 1570 dieTranskubaner mit Krieg, siedelte sie jenseit des Kuban an und zwangsie zur Annahme des Islam. 1600 kehrten sie in ihre alten Wohnsitzezurück; da sie aber von seiten der neuen Ansiedler Hindernissefanden, zogen sie an den Fluß Bassan und drängten aufdie Kabardiner. Daraus entstand ein innerer Krieg, und infolgedessen fand die Teilung des kabardinischen Volkes in dieGroße und Kleine Kabarda statt. Erst 1705 befreite einentscheidender Sieg die T. von harter Bedrückung. Nach demFrieden von Kütschük Kainardschi wurde 1774 RußlandHerr der beiden Kabarden. Seit 1802 Georgien eine russische Provinzgeworden war, strebte Rußland, dessen Grenzen bereits bis anden Kuban vorgerückt waren, durch den Besitz des Kaukasus eineVerbindung zwischen jenem Land und Kaukasien herzustellen. 1807nahmen die Russen Anapa, mußten es aber infolge des Friedensvon Bukarest 1812 wieder räumen. Die Türken fanatisiertennun die T. immer mehr gegen die Russen, und die T. unternahmen vonjetzt an fortwährend Einfälle ins russische Gebiet. 1824leisteten sogar mehrere Stämme dem Sultan den Eid der Treue.Im russisch-türkischen Krieg von 1829 fiel Anapa jedochabermals in die Hände der Russen, und im Frieden vonAdrianopel kamen die türkischen Besitzungen auf dieserKüste überhaupt an Rußland. Seitdem begann diesystematische Unterwerfung der Bergvölker, welche anfangsangriffsweise ins Werk gesetzt wurde, aber keinen Erfolg hatte. Mangab endlich die verderblichen Expeditionen in das Innere des Landesauf und beschränkte sich auf die Absperrung des Landes, reizteaber durch diese defensive Haltung die Unternehmungslust derBergvölker. 1843 rief Schamil (s. d.), welcher schon seit 1839die Tschetschenien und andre östliche Gebirgsstämme zumKampf gegen die Russen zu begeistern gewußt, auch die T. zurErneuerung der Angriffe auf, so daß seitdem fast alleBergvölker vereint gegen Rußland im Kampf begriffenwaren. Nach dem Beginn des russisch-türkischen Kriegs von 1853setzten Schamil und die übrigen Häuptlinge um soenergischer den Kampf fort, als sie jetzt von den Türkenunterstützt wurden. Nach dem Einlaufen derenglisch-französischen Flotte ins Schwarze Meer (Januar 1854)waren die T. namentlich bei der Eroberung und Zerstörung derrussischen Küstensorts eifrig mit thätig. Indes wirktedie Spaltung zwischen den Muriden Schamils und den übrigenMohammedanern einem einheitlichen Handeln entgegen, und als 1856Fürst Barjatinskij den Oberbefehl im Kaukasus übernahm,hatte er auf der lesghischen Seite nur noch vereinzelteRaubzüge zurückzuweisen. Die Russen besetzten nach undnach wieder die im Krieg verlassenen festen Punkte und setzten dieAusführung ihres Unterwerfungsplans gegen die Bergvölkerdurch Lichten der Wälder nicht ohne Erfolg fort. Anfang Juli1857 schlug Fürst Orbeliani II. auf der Hochebene Schalatawiadie Hauptmacht Schamils, der am 6. Sept. 1859 in seinem letztenSchlupfwinkel zur Unterwerfung gezwungen wurde. Damit war der Kampfin der Hauptsache beendet; er hatte der russischen Armee im ganzen½ Mill. Menschen gekostet. Die T. wanderten in dennächsten Jahren in großen Scharen nach der

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Tschermak - Tschernigow.

Türkei aus, bis 1864 im ganzen 450,000 Seelen, wo sie inden Grenzprovinzen, namentlich in Bulgarien und in Thessalien,angesiedelt wurden, um die mosleminische Bevölkerung zuvermehren, aber durch ihre unruhige Wildheit und Roheit vieleKlagen hervorriefen. Auch bei der Bekämpfung des Aufstandes inder Herzegowina 1875 und in Bulgarien 1876 sowie im neuenrussisch-türkischen Krieg 1877 thaten sich dietscherkessischen Truppen durch Zügellosigkeit und barbarischeWildheit hervor, während ihre kriegerische Tüchtigkeitsich im geregelten Kampf wenig bewährte. Die im Kaukasuszurückgebliebenen T. machten 1877 ebenfalls Aufstandsversuche,doch ohne einheitlichen Plan und daher ohne Erfolg. Als besondereNation haben die T. aufgehört zu existieren, und ihreZerstreuung unter fremde Völker wird sie, die keinenZusammenhang mehr haben, dem Untergang entgegenführen. Vgl.Bodenstedt, Die Völker des Kaukasus (2. Aufl., Berl. 1855, 2Bde.); Lapinsky, Die Bergvölker des Kaukasus und ihrFreiheitskampf gegen die Russen (Hamb. 1863, 2 Bde.); Berge, Sagenund Lieder des Tscherkessenvolkes (Leipz. 1866).

Tschermak, Gustav, Mineralog, geb. 19. April 1836 zuLittau bei Olmütz in Mähren, studierte 1856 bis 1860 zuWien, habilitierte sich 1861 an der Universität daselbst,wurde 1862 Kustos am k. k. Hofmineralienkabinett, erhielt 1868 dieProfessur an der Universität und die Direktion desHofkabinetts, welch letztere er bis 1877 führte. Von seinendurch Ideenreichtum ausgezeichneten und zum Teil die wichtigstenMineralien betreffenden Arbeiten, deren viele in den von ihmherausgegebenen "Mineralogischen Mitteilungen" (Wien 1871-77, seitAnfang 1878 "Mineralogische und petrographische Mitteilungen")erschienen sind, seien hervorgehoben: "Untersuchungen über dasVolumgesetz flüssiger chemischer Verbindungen" (das. 1859);"Über Pseudomorphosen" (das. 1862-66); "Die Feldspatgruppe"(das. 1864); "Die Verbreitung des Olivins in den Felsarten und dieSerpentinbildung" (das. 1867); "Die PorphyrgesteineÖsterreichs" (das. 1869); "Die Pyroxen-Amphibolgruppe" (das.1871); "Die Aufgaben der Mineralchemie" (das. 1871); Berichteüber verschiedene Meteoriten (das. 1870 ff.); "Die Bildung derMeteoriten und der Vulkanismus" (das. 1875); "Über denVulkanismus als kosmische Erscheinung" (das. 1877); "DieGlimmergruppe" (Leipz. 1877-78); "Die Skapolithreihe" (das. 1883);"Die mikroskopische Beschaffenheit der Meteoriten" (Stuttg. 1885);auch schrieb er ein "Lehrbuch der Mineralogie" (3. Aufl., Wien1888).

Tschern, Kreisstadt im russ. Gouvernement Tula, amFluß T., der in die Suscha fällt, und an der EisenbahnMoskau-Kursk, hat 4 Kirchen und (1885) 2666 Einw.

Tschernagora (besser Crnagora), slaw. Name fürMontenegro; Tschernagorzen, die Montenegriner.

Tschernaja (T.-Rjetschka, Kasulkoi), Fluß im S. derKrim (s. d.), welcher von O. her durch das Thal von Inkerman beiden Ruinen dieses letztern in die Reede von Sebastopol mündet,war im Krimkrieg während der Belagerung von Sewastopol dieScheidelinie der feindlichen Armeen. Hier erfocht Canrobert 25. Mai1855 einen Sieg über die Russen. Der vom FürstenGortschakow 16. Aug. 1855 vergeblich unternommene Angriff auf dieStellung der Alliierten wird die Schlacht an der T. genannt.

Tschernajew, Michael Grigorjewitsch, russ. General, geb.1828, trat erst in die Armee, kämpfte in der Krim und imKaukasus, ward dann im diplomatischen Dienst verwendet undrussischer Generalkonsul in Belgrad, leitete 1864 als General denFeldzug nach Taschkent, das er eroberte, erhielt aber wegenUnbotmäßigkeit seinen Abschied und ließ sich alsNotar in Moskau nieder. Er war einer der thätigstenFührer der panslawistischen Partei und übernahm im Juli1876 das Kommando des serbischen Heers an der Morawa, ward aber 29.Okt. bei Alexinatz geschlagen. 1877 im russischen Heer nichtverwendet, setzte er die Agitationen für das slawischeWohlthätigkeitskomitee im In- und Ausland fort. Alerander III.ernannte ihn 1882 zum Generalgouverneur von Taschkent, setzte ihnaber schon im Februar 1884 wegen Eigenmächtigkeit wieder ab.Da er die Maßregeln der Regierung in Asien und namentlich dieTranskaspische Bahn in den Zeitungen rücksichtslosbekämpfte, ward er 1886 auch seiner Stelle als Mitglied desKriegsrats entsetzt.

Tschernawoda (Crnavoda, bei den TürkenBoghasköi), kleine Stadt in der rumän. Dobrudscha,Distrikt Constanza, rechts an der Donau, von wo die 1860eröffnete Eisenbahn nach Constanza am Schwarzen Meerführt, hat eine Kirche, eine Moschee, einen Hafen und 2635Einw. Im April 1854 nahmen die Russen die Stadt.

Tschernebog ("schwarzer Gott"), der oberste der finsternGötter der nordischen Wenden und Slawen, als bösesPrinzip der Gegensatz von Swantewit (s. d.), ursprünglich der"schwarze" Gott der Gewitternacht gegenüber dem "lichten"Sonnen- und Tagesgott. Er wurde in abschreckender, kaummenschenähnlicher Gestalt dargestellt und erhielt Trankopferzur Sühne. Auch mehrere Berge, vorzeiten jedenfallsOpferstätten, führen noch den Namen T. (Corneboh), z. B.einer in der Nähe von Bautzen (558 m).

Tschernigow, ein Gouvernement Kleinrußlands (s.Karte "Polen etc."), wird von den Gouvernements Kiew, Poltawa,Kursk, Orel, Mohilew und Minsk begrenzt und umfaßt 52,397 qkm(nach Strelbitsky 52,402 qkm = 951,58 QM.). Die bedeutendstenFlüsse sind: der Dnjepr, der jedoch nur die Westgrenzeberührt, die Desna, Sosh und Trubesch. Außerdem gibt esviele kleinere Flüsse und eine Menge ganz unbedeutender Seen.Das Land ist im allgemeinen eben und sehr flach und wird nur durcheinige hügelige Flußufer etwas wellig undschluchtenreich. Der nördliche Teil desselben ist waldreich;im Kreis Gluchow wird der berühmte Gluchowsche weißeThon gewonnen (jährlich 60,000 Pud), aus dem 9/10 allerPorzellanwaren in Rußland bereitet werden. In geologischerBeziehung ist das rechte, hohe Ufer der Desna bemerkenswert, dasaus Kreideschichten besteht, in denen Sandadern mit Kiesel undMuschelteilen vorkommen. Das Klima ist gemäßigt undgesund. Die Bevölkerung belief sich 1885 auf 2,075,867 Einw.,40 pro QKilometer, meist Kleinrussen, außerdemGroßrussen, Deutsche, Juden, Griechen. Die Zahl derEheschließungen war 1885: 17,193, der Gebornen 100,917, derGestorbenen 66,500. Das Areal besteht aus 54 Proz. Acker, 20,2Proz. Wald, 16,7 Proz. Wiese und Weide, 9,1 Proz. Unland. T. hat invielen Kreisen einen zum Ackerbau wenig geeigneten Boden; Getreidewird aus Poltawa und Kursk herbeigeführt. Immerhin bleibt dieLandwirtschaft die Hauptbeschäftigung der Bewohner und liefertim N. des Gouvernements als die wichtigsten Produkte Hanf,Hanföl, Runkelrüben u. Flachs (nach Riga), im S.außer Runkelrüben Roggen, Hafer, Buchweizen, Kartoffeln,Gerste, Arbusen, Melonen u. geringe Tabaksorten. Die Ernte betrug1887: 5,8 Mill. hl Roggen, 2,9 Mill. hl Hafer, 1,2 Mill. hlBuchweizen, 1,5 Mill. hl Kartoffeln. Der

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Tschernij-Jar - Tschernyschew.

Viehstand bezifferte sich 1883 auf 515,334 Stück Hornvieh,572,182 Pferde, 915,719 grobwollige, 32,236 feinwollige Schafe,420,000 Schweine, 37,000 Ziegen. Der Waldreichtum liefert einengroßen Gewinn durch das Bau- und Brennholz, durchKohlenbrennerei und Teerschwelen. Die Industrie wurde 1884 in 587Fabriken und gewerblichen Anstalten mit 14,439 Arbeitern betriebenund der Gesamtwert der Produktion auf 21,384,000 Rubel beziffert.Hervorragend sind Rübenzuckerfabrikation und -Raffinerie (6,1Mill. Rub.), Tuchweberei (2,4 Mill. Rub.) und Branntweinbrennerei(1,1 Mill. Rub.). Ansehnliche Industriezweige sind ferner:Zündholzfabrikation, Ölschlägerei, Ziegelei,Lederfabrikation, Holzsägerei. In 10 Fabriken wurden 1886/87:72,600 Doppelzentner weißer Sandzucker produziert. Der Handelist ziemlich lebhaft und führt die genannten Produktehauptsächlich auf den Eisenbahnen, die sich bei dem FleckenBachmatsch kreuzen, aus. Lehranstalten gab es 1885: 631 elementaremit 38,706 Schülern, 18 mittlere mit 3731 Schülern, 4Fachschulen mit 525 Schülern, nämlich 2 Lehrerseminare,ein geistliches Seminar und eine Feldscherschule. T. zerfälltin 15 Kreise: Borsna, Gluchow, Gorodnja, Konotop, Koselez,Krolewez, Mglin, Njeshin, Nowgorod Sjewersk, Nowosybkow, Oster,Sosniza, Starodub, Surash und T. - Die gleichnamige Hauptstadt, ander Desna, hat eine Kathedrale aus dem 11. Jahrh., 17 andreKirchen, 4 Klöster, einen erzbischöflichen Palast, einklassisches Gymnasium, ein Lehrerseminar, einMädchengymnasium, eine Gouvernementsbibliothek, etwas Handelund Industrie und (1886) 27,028 Einw. Sie ist Sitz des Erzbischofsvon T. und Njeshin. T. wird schon zu Olegs Zeit 907 erwähnt,war längere Zeit die Hauptstadt des tschernigowschenFürstentums, wurde 1239 vom Mongolenchan Batu erobert undverbrannt, gehörte seit dem 14. Jahrh. den Litauern,später den Polen und wurde 1648 für immer mitRußland vereinigt.

Tscheruij-Jar, Kreisstadt im russ. GouvernementAstrachan, an der Wolga, hat alte unbedeutende Festungswerke,Fischerei, Viehzucht, Schiffahrt und (1886) 4871 Einw. Im Kreis inder Nähe des Bergs Bogdo liegt der See Boskuntschat (Bogdo),123,9 qkm groß, 20 km lang und 9,5 km breit, dervortreffliches weißes Salz liefert.

Tscherning, 1) Andreas, Dichter, geb. 18. Nov. 1611 zuBunzlau, flüchtete vor den Dragonaden des Grafen Dohna (s. d.2) nach Görlitz, studierte später in Breslau, seit 1635in Rostock, wohin ihn M. Opitz an Lauremberg empfohlen hatte, wurde1644 an des letztern Stelle Professor der Dichtkunst in Rostock;starb 27. Sept. 1659 daselbst. Seine Gedichte, meistGelegenheitspoesien, die ihn als einen der bessern Nachahmer vonOpitz erkennen lassen, erschienen unter den Titeln: "DeutscherGedichte Frühling" (Bresl. 1642) und "Vortrab des Sommersdeutscher Gedichte" (Rost. 1655). Auswahl in W. Müllers"Bibliothek deutscher Dichter des 17. Jahrhunderts" (Bd. 7).

2) Anton Friedrich, dän. Staatsmann, geb. 12. Dez. 1795 aufFrederiksvärk, trat 1813 in das Artilleriekorps, studierte,seit 1816 als Leutnant in Frankreich stehend, in denArtillerieschulen zu Paris und Metz, ward 1820 bei dem Inspektoratder Fabriken auf Frederiksvärk angestellt und 1830 zum Lehreran der militärischen Hochschule zu Kopenhagen ernannt. Seit1841 privatisierend, war er anfangs 1848 einer der Hauptleiter derGesellschaft der Bauernfreunde. Am 24. März d. J. zumKriegsminister ernannt, entwickelte er besondere Thätigkeitfür das dänische Heerwesen, schied aber im November ausdem Ministerium und trat als Oberst in das Privatleben zurück,wirkte jedoch als Mitglied der Grundgesetzgebenden Versammlung. Zumersten Reichstag in das Volksthing gewählt, war er eine dergewichtigsten Stützen des Ministeriums. 1854 ward er zumReichsrat ernannt und nahm als hervorragendster Führer derBauernpartei an den Verfassungskämpfen bedeutenden Anteil. Erstarb 29. Juni 1874. Er schrieb "Zur Beurteilung desVerfassungsstreits" (1865).

Tschernomorskibezirk (Bezirk des Schwarzen Meers), eineProvinz der russ. Statthalterschaft Kaukasien, am Südabfalldes Kaukasus von der Straße von Kertsch bis etwa zum 38.Meridian gelegen, umfaßt 5287 qkm (96,03 QM.) mit (1885)22,932 Bewohnern. Dieser schmale, lange Streifen, vonGebirgsrücken durchzogen, wurde früher besonders vontscherkessischen Stämmen bewohnt, die sich infolge des sehrdurchschnittenen Terrains in eine Menge Unterabteilungen spalteten.Nach der Auswanderung der Tscherkessen nach der Türkei hoffteman auf die Einwanderung von Russen; dieselbe ist jedoch noch einespärliche. Noworossijsk und Anapa (s. d.) sind die einzigenStädte.

Tschernomorzen, s. Kosaken, S. 110.

Tschernosem (Tschernosjom, "Schwarzerde"),äußerst fruchtbare schwarze Erde, mitunter bis 6 mmächtig, reich an Phosphorsäure, Kali und Ammoniak, mit5-16 Proz. organischer Substanz, im mittlern und südlichenRußland sowie in Südsibirien weitverbreitet, liefertohne Düngung die reichsten Ernten (vgl. Humus, S. 796). AusTexas sind ähnliche Erdarten bekannt. Vgl. Kostytschew, DieBodenarten des T. (Petersb. 1886, russ.).

Tschernyschew, russ. Grafen- und Fürstengeschlecht,das in einer ältern und einer jüngern Linie blüht.Zur letztern gehörte Grigorij T., einer der tüchtigstenGenerale Peters d. Gr., geb. 1672. Er ward 1742 durch die KaiserinElisabeth in den Grafenstand erhoben und starb 30. Juli 1745. Seinältester Sohn, Graf SacharT., geb. 1705, Kriegsminister unterKatharina II., befehligte im Siebenjährigen Krieg einrussisches Korps von etwa 20,000 Mann. Nach der Thronbesteigung desKaisers Peter III. erhielt T. im Mai 1762 den Befehl, sein Korpsden Preußen zuzuführen, worauf er, mit Friedrich d. Gr.vereinigt, bei Burkersdorf auf Daun stieß, der Schweidnitzdecken sollte. Der König hatte bereits beschlossen, den Feindanzugreifen, als die Order eintraf, daß T. sich sofort vonder preußischen Armee trennen solle. Auf Friedrichs Bittenverheimlichte jedoch T. den erhaltenen Befehl und blieb mit seinemHeer bei den Preußen, die nun die Österreicherzurückwarfen. Später ward T. Präsident desKriegskollegiums und Reichsfeldmarschall; starb 1775. Sein Bruder,Graf Iwan, war russischer Marineminister unter Katharina II. undPaul I., ein dritter Bruder, Graf Peter, russischerbevollmächtigter Minister am preußischen Hof beiFriedrich II. und in Frankreich bei Ludwig XV. Graf Sachar, Enkeldes Grafen Iwan, beteiligte sich an der Verschwörung vom 14.Dez. 1825, weshalb er nach Sibirien verbannt wurde. - Dernamhafteste Sprößling des ältern Zweigs istFürst Alexander Iwanowitsch T., geb. 1779. Er nahm teil an derSchlacht bei Austerlitz sowie an dem Feldzug vom Jahr 1807, wo erinsbesondere bei Friedland sehr wesentliche Dienste leistete.Wiederholt erschien er hierauf als Diplomat in Paris. In denSchlachten bei Wagram und Aspern befand sich T. an der SeiteNapoleons. Mit einer Mission nach Paris be-

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Tschernyschewskij - Tschetschenzen.

traut, wußte er dort durch Bestechung denfranzösischen Operationsplan gegen Rußland in Erfahrungzu bringen. Im Feldzug von 1812 führte er den kühnen Zugim Rücken der französischen Armee aus, durch welchen erden General Wintzingerode aus der Gefangenschaft befreite. 1813 zumDivisionsgeneral avanciert, bedrohte er im März denfranzösischen General Augereau in Berlin, unternahm imSeptember 1813 einen Streifzug ins Königreich Westfalen, zudessen Sturz er wesentlich beitrug, und erstürmte 1814Soissons. Zum Generalleutnant befördert, begleitete er denKaiser Alexander I. auf den Kongreß zu Wien, später nachAachen und Verona. Bei der Krönung des Kaisers Nikolaus warder in den Grafenstand erhoben und 1832 zum Kriegsminister und Chefdes kaiserlichen Generalstabs ernannt. 1841 wurde er in denFürstenstand erhoben und 1848 zum Präsidenten desReichsrats und des Ministerkonseils ernannt. Er starb 20. Juni 1857in Castellammare.

Tschernyschewskij, Nikolai Gawrilowitsch, russ.Schriftsteller, geb. 1828 zu Saratow, besuchte zuerst eingeistliches Seminar, studierte dann in Petersburg, wo er denUniversitätskursus 1850 absolvierte, redigierte in der Folgeeine militärische Zeitschrift und war 1855-64 Mitarbeiter andem "Zeitgenossen", den er teils mit ästhetischen, teils mitpolitisch-ökonomischen Artikeln und Abhandlungen versorgte.Nebenbei veröffentlichte er ein Werk über Lessing (1857)und bearbeitete Adam Smiths Werk über den Nationalreichtumunter dem Titel: "Grundlagen der politischen Ökonomie" (1864).Während einer Festungshaft schrieb er den nihilistischgefärbten, dabei durch die Schilderung neuergesellschaftlicher und staatlicher Verhältnisseausgezeichneten Tendenzroman "Was thun?" (2. Aufl. 1877; deutsch,Leipz. 1883), der seine Verbannung nach Sibirien zur Folge hatte.Er lebt, seit 1883 teilweise begnadigt, in Astrachan.

Tscherokesen (Cherokee, Tschilake), ein großes, zuder sogen. Appalachengruppe gehöriges Indianervolk inNordamerika, bewohnt gegenwärtig, seit seiner Verpflanzung ausdem ursprünglichen Gebiet auf die Westseite des Mississippi,einen Distrikt im N. und O. des Indianerterritoriums von ca. 9,75Mill. Acres Areal. Das Land wird vom Arkansas und dessenNebenflüssen reichlich bewässert und ist zum Ackerbau,der fleißig betrieben wird, wohlgeeignet. Die Zahl derT.betrug 1853: 19,367 und 1883: 22,000 Seelen. Sie sind unter denIndianern Nordamerikas jedenfalls die am weitesten in der Kulturvorgeschrittene Nation, haben große Dörfer mit wohnlicheingerichteten Häusern, über 30 öffentliche Schulenmit zum Teil eingebornen Lehrern und 5000 Schülern, betreibenzahlreiche Sägemühlen sowie ausgedehnte Rindvieh-, Schaf-und Pferdezucht. Was sie an Kleidung, Ackergerätschaften etc.bedürfen, fertigen sie selbst an und produzieren auch Salz ausden zahlreichen Salzquellen ihres Gebiets. In den letztenJahrzehnten haben sie auch schon einen Teil ihrerlandwirtschaftlichen Produkte flußabwärts nach NewOrléans ausgeführt. Sie haben ihre besondern Gesetzeund eine nach dem Muster der Vereinigten Staaten eingerichteterepublikanische Regierung mit geschriebener Verfassung. IhreSprache, für welche 1821 ein Halbindianer, Sequoyah (G.Gueß), eine eigne syllabische Schrift erfand, besteht aus 85Zeichen, die zu Wörtern zusammengefügt werden, und istsehr wohlklingend; sie steht übrigens in der Reihe dernordamerikanischen Sprachen ganz vereinzelt da. Mittelglieder,welche die Sprache mit den Sprachen der südlichen Nachbarnverbanden, sind verloren. Eine kurze Grammatik lieferte H. C. vonder Gabelentz in Höfers Zeitschrift; auch im 2. Bande der"Archaeologia americana" finden sich grammatische Notizen. Danebenhaben die T. die englische Sprache in großem Umfangangenommen und schon sämtlich ihre Nationaltracht für dieeuropäische aufgegeben. Von der Union erhalten sie nochbedeutende Jahrgelder für ihre im O. des Mississippiabgetretenen Ländereien; auch Handwerkswerkführer werdenihnen kontraktlich von der Zentralregierung geliefert. ZahlreicheMissionäre arbeiten unter ihnen mit gutem Erfolg, auch ihreperiodische Presse nimmt einen achtbaren Platz ein. Über dieBedeutung ihres Namens ist man nicht im klaren. Gott nannten sieOonawleh Unggi ("den ältesten der Winde"). Nach Whipple("Report on the Indian tribes") hatten sie einen der christlichenTaufe ähnlichen Ritus, der streng beobachtet wurde, weil sonstder Tod des Kindes die unvermeidliche Folge war. Auch besitzen siephantastische Sagen von einer Sintflut, einer gehörntenSchlange etc. Die T. bewohnten ursprünglich ein großesGebiet im Innern von Südcarolina, Georgia und Tennessee,lebten anfangs in gutem Einvernehmen mit den europäischenKolonisten und erkannten 1730 die britische Oberhoheit an.Später kam es jedoch zu Kämpfen zwischen ihnen und denBriten, die von beiden Seiten mit unmenschlicher Grausamkeitgeführt wurden, bis sie sich 1785 der Oberhoheit derVereinigten Staaten unterwarfen. Im Jahr 1819 siedelte ein Teil desVolkes nach Arkansas über, während die übrigen inGeorgia, wozu ihr Gebiet nominell gehörte, zurückblieben.Endlich wurden sie 1838 insgesamt genötigt, nach demIndianerterritorium auszuwandern, wo sie ihr jetziges Gebietangewiesen erhielten.

Tschers (pers.), aus dem indischen Hanf in Form einerPasta bereitetes Narkotikum, das, wie in der Türkei dasEsrar(s. d.),in Afghanistan, Persien und Mittelasien (hier auchAnascha oder Chab genannt) unter den Tabak gemischt geraucht wird.Vgl. Haschisch.

Tscheschme (bei den Griechen Krene genannt), Hafenstadtim asiatisch-türk. Wilajet Aïdin, am Ägeischen Meer,Chios gegenüber, mit mittelalterlicher Citadelle,Rosinenhandel und ca. 20,000 fast nur griech. Einwohnern. Bei T.wurde in der Nacht vom 5. zum 6. Juli 1770 eine Seeschlachtgeliefert, in welcher die Russen die türkische Flotteverbrannten, die sich unvorsichtigerweise in die enge und seichteBucht nach T. zurückgezogen hatte. Zum Andenken an den Sieggründete Katharina II. 15 km südlich von St. Petersburgein gleichnamiges Militärkrankenhaus. Im April 1881 wurde T.durch Erdbeben arg zerstört.

Tschesskajabai, Teil des Nördlichen Eismeers,zwischen der Halbinsel Kanin, der Insel Kalgujew und demFestland.

Tschetschenzen, die russ. Bezeichnung für die zumkaukasischen Stamm gehörigen, von den Georgiern Khisten(Kisten), von den Lesghiern Mizdscheghen genanntenVölkerschaften, die sich selber Nachtschuoi nennen. Ihr Gebietwird im W. und NW. von Dagheftan, im NO. vom obern Terek, im N. vonder Kleinen Kabarda und dem Sundschafluß, im S. vom Kaukasus,im O. vom obern Jakhsai und Enderi begrenzt. Zu ihnen gehörennamentlich die Inguschen, Karabulaken, Thusch oder Mosok,Chewsuren, Pshawen und die T. im engern Sinn zwischen denKarabulaken und dem Aksaifluß. Ihre Zahl beträgt etwa161,500 Seelen. Die Männer zeichnen sich durch schlanken Wuchsund Körpergewandtheit aus; den Frauen ist natürlicheAnmut eigen. Die Wohnorte, Aul genannt, sind befestigteDörfer. Jedes Dorf

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Tschettik - Tschilau.

wählt aus der Mitte seiner Bewohner seine Ältesten.Fürsten gibt es nicht; sie gelten alle als frei und teilensich in Geschlechter (Tochum), die sich nach den Auls nennen, ausdenen ihre Stammväter zur Zeit der Übersiedelung aus demGebirge in die Ebene ausgeganzen sind. Ihre Sprachen sind mitkeinem andern Sprachstamm verwandt (s. Kaukasische Sprachen). AlsMohammedaner enthalten sie sich des Weins, dafürgenießen sie desto mehr Branntwein. Hinsichtlich derGesittung stehen sie andern Kaukasiern nach; von Gewerbebetrieb undsonstiger friedlicher Beschäftigung ist, von etwas Feldbau undViehzucht abgesehen, bei ihnen nicht die Rede. 1818 Rußlandunterworfen, erhoben sich die T., aufgeregt durch den Muridismus(s. Muriden), in Masse gegen die Fremdherrschaft, und erst 1859,nachdem sich Schamil (s. d.) den Russen hatte ergeben müssen,gelangte die russische Herrschaft im östlichen Kaukasus zufester Begründung (s. Kaukasien, S. 635). Gleichwohl bliebendie T. stets unruhige und unwillige Unterthanen, die nochwährend des orientalischen Kriegs 1877 gegen die Russenaufstanden, bald aber wieder unterworfen wurden.

Tschettik (Tschettek), s. Strychnos und Pfeilgift.

Tschetwert (Kul), Einheit des russ. Getreidemaßes,= 8 Tschetwerik = 64 Garnetz = 2,099 hl.

Tschi (Covid), Längenmaß in China, = 10 Tsunoder Pant à 10 Fen, Fan oder Fahn = 0,3581 m. AuchGetreidemaß, s. Hwo.

Tschibtscha (Chibcha, auch Muisca), amerikan. Volksstamm,welcher im heutigen Kolumbien vom obern Zuila im N. bis gegen Pastoim S. und von den Quellen des Atrato im W. bis gegen Bogota im O.einen Staat gründete, der sich, wie Reste von Bauwerkenbeweisen, zu verhältnismäßig hoher Kulturentwickelte (vgl. Amerikanische Altertümer, S. 482, undSogamoso).

Tschibuk (türk.), Rohr, Pfeifenrohr; die türk.Tabakspfeife im allgemeinen, die aus einem deckellosen Thonkopf(Lule), aus dem Rohr, dem Mundstück (Imame) und demVerbindungsrohr zwischen dem letztern und der Pfeife besteht. Alsbeste Sorte der kleinen, breiten und rötlichenPfeifenköpfe gelten die in einigen Fabriken von Top-Haneverfertigten. Die besten Jasminrohre stammen aus der Umgebung vonBrussa; das Mundstück wird aus Bernstein angefertigt.Bisweilen sind diese Pfeifen mit kostbaren Edelsteinen geziert. DerTabak im Pfeifenkopf wird durch eine glimmende Kohleangezündet und, um das Herabfallen desselben auf den Teppichzu verhüten, eine kleine Metallschale unter den Pfeifenkopfgelegt. Der T. ist ein steter Begleiter des Türken; einembesondern Diener, dem Tschibuktschi, ist die Pflege desselbenanvertraut; derselbe folgt mit den Rauchutensilien beständigseinem Herrn und ist zugleich eine Vertrauensperson desselben. Vgl.Vambery, Sittenbilder aus dem Morgenland (Berl. 1876).

Tschichatschew, Peter von, russ. Naturforscher undReisender, geb. 18l2 zu Gatschina bei St. Petersburg, war Attachebei der Gesandtschaft in Konstantinopel und bereiste 1842-44Kleinasien, Syrien und Ägypten. Nachdem er dann verschiedeneLänder Europas besucht und den Altai im Auftrag des Kaiserserforscht hatte, konzentrierte er seit 1848 seineHauptthätigkeit auf die Durchforschung Kleinasiens, wo er bis1853 ganz auf eigne Kosten sechs ausgedehnte Reisen ausführteund zwar in erster Linie als Geognost und Botaniker; auch 1858 warer wieder in Kleinasien und Hocharmenien. Außer denReisewerken: "Voyage scientifique dans l'Altaï oriental et lesparties adjacentes de la frontière de Chine" (Par. 1845, mitAtlas), "Asie Mineure" (das. 1853-68, 8 Bde. mit Atlas), "Lettressur la Turquie" (Brüss. 1859), "Une page sur l'Orient" (2.Aufl. 1877), "Le Bosphore et Constantinople" (3. Aufl. 1877) und"Espagne, Algérie et Tunésie" (Par. 1880; deutsch.Leipz. 1882) veröffentlichte er auch mehrere wissenschaftlicheArbeiten und politische Schriften sowie eine Übersetzung vonGrisebachs Pflanzengeographie und ein kleines Werk: "Kleinasien"(deutsch, das. 1887). Sein Bruder Plato v. T. bereiste gleichfallsNordafrika, Südeuropa und Südamerika, machte den Feldzuggegen China mit und lebte dann in Italien und Frankreich.

Tschiervaporphyr, s. Granitporphyr.

Tschiftlik (türk.), Landgut, früheresMilitärlehen. T.-Sahibi (auch Aga), in Bosnien eine ArtGrundherr, der nicht den Zehnten, sondern ein volles Drittel desRohertrags bezog. T.-Humajun (auch Mici genannt), diePrivatgüter des Sultans.

Tschifu (engl. Cheefoo), einer der chines.Traktatshäfen, in der Provinz Schantung am Eingang des Golfsvon Petschili gelegen, mit etwa 32,000 Einw. Derfremdländische Handel (Totalwert 1887: 1,6 Mill. Taels) nimmtstetig zu. T. ist Sitz eines deutschen Konsuls und verschiedenerMissionen, im ganzen ca. 120 Europäer und Amerikaner.

Tschigirin, Kreisstadt im russ. Gouvernement Kiew, an derTjasmina (Nebenfluß des Dnjepr) in steppenartiger, aberfruchtbarer Gegend, hat 5 russische und eine evang. Kirche und(1885) 16,009 Einw., welche Branntwein, Seife, Leder (Kalbleder undJuften) und Leinwand zur Ausfuhr bringen. - T., im 16. Jahrh.gegründet, wurde 1546 Hauptort der kleinrussischen Kosaken;1596 schlug hier der Kosak Nelimaiko den polnischen HetmanZolkjemski, 1677 und 1678, nachdem die Stadt 1659 russisch gewordenwar, belagerten die Türken dieselbe, wobei Gordon (s.d. 2)heldenmütigen Widerstand leistete; schließlichmußten die Russen die Festung räumen, ohne daß dieTürken dieselbe dauernd zu behaupten vermocht hätten.Diese Kämpfe, die ersten, welche unmittelbar zwischen Russenund Türken erfolgten, werden als die "Tschigirinfeldzüge"bezeichnet.

Tschikasa (engl. Chickasaws), ein den Tschokta verwandterIndianerstamm in Nordamerika, früher ziemlich mächtig undam mittlern Mississippi und Yazoofluß (in den Staaten Alabamaund Tennessee) wohnhaft. Die T. zeigten sich früh (1699) denvon den Gebirgen Carolinas herabsteigenden und mit ihnen Handeltreibenden Engländern geneigt, während sie einen tiefenHaß gegen die den Mississippi heraufkommenden und sieübermütig behandelnden Franzosen nährten. Es kam zuoffenen Feindseligkeiten (1736-40), infolge deren der Stamm teilsvernichtet oder gefangen, teils aus seinem Gebiet auf das andreMississippiufer vertrieben wurde. 1786 schlossen die T. mit derUnion Freundschaft und wanderten 1837 und 1838 mit den Tschoktanach dem Indianerterritorium aus, dessen südwestlichen Teilsie, 1883 ca. 6000 Köpfe stark, bewohnen. Sie haben ihre eigneLegislatur, bestehend aus Senat und Repräsentantenhaus, dazugute Schulen, geregelte Finanzen und zeichnen sich überhauptdurch Fortschritte in der Zivilisation vor andern aus. Ihre Spracheist von der der Tschokta wenig verschieden. Vokabularien derselbenfinden sich in Adairs "History of the American Indians" (Lond.1775) und im 2. Bande der "Archaeologia americana".

Tschikischlar, Fort, s. Atrek.

Tschilau (pers.), ein dem türk. Pilaw (s. d.)äzhn-

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Tschili - Tschitschagow.

liches Gericht, das aber weniger fett in luftdichtemGefäß durch Dampf gekocht wird; es vertritt beiMahlzeiten die Stelle des Brots.

Tschili, chines. Provinz, s. Petschili.

Tschilka (Chilka), See (richtiger Lagune) in derbritisch-ind. Provinz Orissa, an der Westküste desBengalischen Meerbusens, hat bei 1-2½ m Tiefe je nach derJahreszeit 891-1165 qkm (16-21 QM.) Umfang und steht mit dem Meerdurch einen an 300 m breiten Kanal in Verbindung. Bei Hochwasserfrisch, wird das Wasser später ganz salzig.

Tschille (pers.), die 40 Tage der strengenWinterkälte (in Konstantinopel sehr gefürchtet); auch die40 Tage, welche die Frau nach der Niederkunft inZurückgezogenheit zu verbringen hat.

Tschimin (türk.), Wasserpfeife in Mittelasien,plumper als der persische Kalian (s. d.), besteht aus einemlänglichen Kürbis oder einer Holzflasche mit kurzem Rohr;der Tabak wird nicht in benetztem, sondern in trocknem Zustandgeraucht.

Tschin (russ.), Rang; Bezeichnung für die russischenRangstufen (Tschiny), in welchen die Zivil- und Militärbeamtengemeinschaftlich rangieren. Mit der vierten Klasse (WirklicherStaatsrat, Generalmajor) ist der Adel verbunden.

Tschinab, Fluß, s. Tschenab.

Tschindana (Tjindana), früher Name der Insel Sumba(s. d.).

Tschinghai, lebhafter Vorhafen der chines. Stadt Ningpo,links am Yungfluß, nahe der Mündung desselben, seit 1842dem europaischen Handel geöffnet. Eine verfallene Citadelleund eine neuerbaute Batterie von zehn Geschützen verteidigendie Reede. Im Krieg Frankreichs mit China wurde T. 1885 von denFranzosen wiederholt beschossen und das Fort Siaokungzerstört.

Tschingkiang (Chinkiang), Name verschiedener chines.Städte, darunter am wichtigsten die für deneuropäischen Handel geöffnete Hafenstadt in der ProvinzKiangsu, an der Mündung des Jantsekiang, Sitz eines deutschenKonsuls, mit einer katholischen und evang. Mission und etwa 135,000Einw. Im Hafen verkehrten 1886: 3526 Schiffe von 2,328,052 Ton.,davon 126 deutsche von 72,540 T.; die Einfuhr wertete 1887: 98,000Haikuan Tael. Die Stadt wurde 1842 von der britischen Flottebombardiert, 1853 von den Taiping zerstört, später aberwieder aufgebaut.

Tschingtu, Hauptstadt der chines. Provinz Setschuan, aneinem Nebenfluß des Jantsekiang, hat breite Straßen,schöne Häuser, einen immer bedeutender werdenden Handelund 350,000 Einw.

Tschintschotscho (Chinchoxo), Faktorei und ehemaligeStation der Deutschen Afrikanischen Gesellschaft, importugiesischen Teil der Loangoküste an der Mündung desLukulu.

Tschippewäer, Indianerstamm der Algonkin, s.Odschibwä.

Tschirch, Wilhelm, Männergesangskomponist, geb. 8.Juni 1818 zu Lichtenau (Schlesien), machte seine Studien amLehrerseminar zu Bunzlau und von 1839 an auf Staatskosten amköniglichen Institut für Kirchenmusik zu Berlin, wo ergleichzeitig den Kompositionsunterricht von Marx genoß. 1843wurde er in Liegnitz als städtischer Musikdirektor und 1852 inGera als fürstlicher Kapellmeister angestellt. SeineMännergesangskompositionen verbreiteten sich in die weitestenKreise, selbst nach Amerika, woselbst T. auch persönlichenthusiastisch gefeiert wurde, nachdem er einer Einladung zu dem1869 in Baltimore veranstalteten Sängerfest gefolgt war.Außer seinen Mannerchören, unter denen die von derAkademie der Künste zu Berlin mit dem ersten Preisgekrönte Tondichtung "Eine Nacht auf dem Meere" Erwähnungverdient, komponierte er noch eine Oper: "Meister Martin und seineGesellen" (aufgeführt 186l zu Leipzig), sowie kleinere Sachenfür Orgel und Klavier.

Tschirmen, Flecken im türk. Wllajet Adrianopel,rechts an der Maritza, westlich von Adrianopel, mit Citadelle und2000 Einw., welche Seidenzucht treiben.

Tschirnau (Groß-T.), Stadt im preuß.Regierungsbezirk Breslau, Kreis Guhrau, an der LinieBreslau-Stettin der Preußischen Staatsbahn, hat eineevangelische und eine kath. Kirche, eine Präparandenanstalt,ein adliges Fräuleinstift, Spiritusbrennerei und (1885) 758meist evang. Einwohner.

Tschirnhaus (Tschirnhausen), Ehrenfried Walter, Graf von,Naturforscher, geb. 10. April 1651 auf Kieslingswalde beiGörlitz, studierte zu Leiden Mathematik, war 1672 und 1673Freiwilliger in holländischen Diensten, bereiste seit 1674Frankreich, Italien, Sizilien und Malta und zog sich späterauf sein Gut Kieslingswalde zurück; starb 11. Okt. 1708 inDresden. Er errichtete in Sachsen drei Glashütten und eineMühle zum Schleifen von Brennspiegeln vonaußerordentlicher Vollkommenheit. Er experimentierte miteinem Brennspiegel von 2 Ellen Brennweite und beschrieb dieerhaltenen Resultate (1687 und 1688). Ein nicht geringes Verdienstgebührt ihm bei der Erfindung des Meißener Porzellans.Als Philosoph erwarb er sich eine gewisse Bedeutung durch seine"Medicina mentis" (Amsterd. 1687, Leipz. 1695). Auch alsMathematiker hat er sich namhafte Verdienste erworben, und die"Acta Eruditorum" aus den Jahren 1682-98 enthalten von ihm eineReihe von Arbeiten über Brennlinien, das Tangentenproblem,Quadraturen, Reduktion von Gleichungen u. a. Vgl. Kunze,Lebensbeschreibung des E. W. v. T. ("Neues Lausitzisches Magazin",Bd. 43, Heft 1, Görl. 1866); Weißenborn,Lebensbeschreibung des E. W. v. T. (Eisenach 1866).

Tschirokesen, s. Tscherokesen.

Tschistopol, Kreisstadt im russ. Gouvernement Kasan, ander Kama, hat ein weibliches Progymnasium, Ackerbau, Viehzucht,Fischerei, lebhaften Handel und (1885) 24,288 Einw.

Tschita, Hauptstadt des sibir. Gebiets Transbaikalien,mit (1885) 5728 Einw.

Tschitah, s. Gepard.

Tschitraga, ein hieroglyphisches Zeichen, das die Indermit rotem Sandelholz oder Asche von Kuhmist oder heiliger Erde aufBrust und Stirn malen, um die religiöse oder philosophischeSekte anzudeuten, zu der sie sich bekennen. Am Stoff der Farbeerkennt man den Gott, den man verehrt. Das Malen selbst wird jedenTag nach den gewöhnlichen Abwaschungen unter Hersagung eignerGebetsformeln vorgenommen.

Tschitschagow, Wasilij Jakowlewitsch, russ. Admiral, geb.1726, nahm 1765 und 1766 an großen Expeditionen im Eismeerteil, befehligte im Türkenkrieg 1773-75 die donische Flottilleund wurde 1788 während des schwedisch-russischen Kriegs nachS. Greighs Tod Oberbefehlshaber der baltischen Flotte; er siegte1790 über die Schweden bei Reval und beschleunigte durch dieErfolge der Russen zur See den Abschluß des Friedens. Erstarb 1809. -

Sein Sohn Paul Wasiljewitsch, geb. 1762, ward 1802 zumVizeadmiral und Dirigierenden des Seeministeriums und 1812 zumAdmiral ernannt. Im Mai d. J. übernahm er an Kutusows Stelleden Oberbefehl über die russische Moldauarmee und schloß28. Mai den

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Tschitschenboden - Tschudi.

Frieden von Bukarest ab; sodann befehligte er die dritteWestarmee, eroberte zwar im November Minsk und Borissow, ward aber28. Nov. mit 27,000 Mann an der Beresina von 8000 Mann Franzosen,Schweizern und Polen unter Oudinot, Ney und Dombrowski geschlagenund von Ney bis nach Stachowa zurückgeworfen. Deshalb inUngnade gefallen, nahm er Urlaub auf unbestimmte Zeit und lebteseitdem meist in Frankreich und England, wo er auch zu seinerRechtfertigung eine Denkschrift: "Retreat of Napoleon" (Lond.1817), veröffentlichte. Da er dem 1834 erlassenen Ukas,welcher allen im Ausland verweilenden Russen befahl, in ihrVaterland zurückzukehren, nicht nachkam, ward er aus denListen der russischen Marine gestrichen, seiner Würde alsReichsrat entsetzt und seiner Güter beraubt. Er starb 1. Sept.1849 in Paris. Seine "Mémoires" über den Krieg von 1812erschienen 1855 in Berlin und 1862 in Paris.

Tschitschenboden, die südöstliche Fortsetzungdes eigentlichen Karstes (s. d.), welche den größtenTeil Istriens erfüllt und sich insularisch in Cherso etc.fortsetzt; nach dem diesen Landstrich bewohnenden kroatischen Stammder Tschitschen benannt. Er bildet Flächen, die von NW. nachSO. gefurcht sind, und kulminiert im Monte Maggiore (1394 m).

Tschobe, Name des Cuando in seinem untern Lauf, da wo ersüdlich und dann, sich nach N. biegend, auch nördlich vom18.° südl. Br. ein langes und breites Sumpfgebiet bildet,ehe er wiederum als Cuando bei Mpalewa sich in den Sambesiergießt.

Tschoga (türk.), in Afghanistan und Indien langes,weites Oberkleid, in Mittelasien Pelzgewand.

Tschoh, s. Chow.

Tschohadar (Tschokadar, türk.), Diener.

Tschokta (Choctaws, Chactas), großer nordamerikan.Indianerstamm, der ursprünglich in Mexiko wohnte, dann nachdem mittlern Mississippi und Yazoofluß übersiedelte,seit 1837 aber einen Teil des Indianerterritoriums (nördlicham Red River) innehat. Die T. treiben ausgedehnten Ackerbau (Maisund Baumwolle), unterhalten einen ansehnlichen Viehstand, haben gutgebaute Häuser, verstehen sich auf Spinnen, Weben und diewichtigsten Handwerke und haben eine der Unionsverfassungnachgeahmte geschriebene Konstitution mit einem gesetzgebenden Rat(legislature) von 40 Mitgliedern sowie geschriebene Gesetze. DieExekutivgewalt wird von einem Gouverneur ausgeübt. AlleMänner der Nation sind wehrpflichtig. Die Sprache der T. isteine der drei Hauptsprachen der Indianer. Für diereligiösen Bedürfnisse derselben sorgen die Sendlinge deramerikanischen Missionsgesellschaften. Das Neue Testament undeinige andre Bücher sind von ihnen in die Sprache der T.übersetzt worden. Für die 36 Schulen wird ein bestimmterTeil der Jahrgelder verwendet, welche die Union für dieLänderabtretungen im Betrag von 36,000 Dollar zu bezahlen hat.Vor Verpflanzung der T. nach dem Westen wurde die Zahl derselbenauf 18,500 Seelen geschätzt, 1883 auf 18,000. Eine Grammatikder Tschoktasprache schrieb Byrington (Philad. 1870), einWörterbuch Wright (engl., St. Louis 1880).

Tschorba, türk. Nationalspeise, ein Ragout ausHammelfleisch, Kartoffeln, Reis und Zwiebeln.

Tschorlu, Stadt im türk. Wilajet Adrianopel, amTschorlu Dere und an der Eisenbahn von Konstantinopel nachAdrianopel, Sitz eines griechischen Bischofs, mit 8000 Einw., meistGriechen. In der Umgegend viel Weinberge und Obstgärten.

Tschouschan (bei den Europäern Tschusan, engl.Chusan), Inselgruppe an der Ostküste von China, in der ProvinzTschekiang, Ningpo gegenüber, 1½ km von der Küste,besteht aus einer 600 qkm großen Hauptinsel mit dembefestigten Hauptort Tinghai (30,000 Einw.) und gegen 400 Eilandenmit 400,000 Einw., darunter das mit Klöstern für 1000buddhistische Mönche, Tempeln etc. bedeckte Put u. DieHauptinsel wurde 1840, 1841 und 1860 von den Engländernbesetzt und erst nach Eröffnung Chinas für den Handel mitEuropa zurückgegeben.

Tschu, japan. Längenmaß, = 60 Keng = 360Schaku (1 Schaku = 0,3036 m); auch Flächenmaß, = 3000QKeng = 99,57 Ar.

Tschu (Tschui), Fluß in der asiatisch-russ. ProvinzTurkistan, entspringt als Koschkar im Mustagh, fließtnördlich vom Issikul in westlicher Richtung, bis er sich nachNW. wendet, den Kungei-Alatau durchbricht und, nachdem er links denKaragatai aufgenommen, die Wüste Mujunkum bis zum Saumalkulbegrenzt, worauf er in den Tatalkul sich ergießt.

Tschuchloma, Kreisstadt im russ. Gouvernement Kostroma,am See T., mit (1885) 1978 Einw.

Tschuden, allgemeiner Name der im russ. Reichverbreiteten finnischen Völkerschaften; im engern Sinn ein zurGruppe der baltischen Finnen gehöriges, einst weitverbreitetesVolk, das man auch als Wepsen (Wepsälaiset), Wessen oderNordtschuden bezeichnet, von dem aber nur noch 56,000 Seelen in denam Ladoga- und Onegasee gelegenen Strichen des Gouvernements Olonezund im Gouvernement Wologda übrig sind. Nahe verwandt mitihnen sind die Woten oder Südtschuden, die sich selbstWaddjalaiset nennen; im ganzen noch 12,000 Köpfe in denGouvernements Nowgorod und St. Petersburg, aber im Aussterbenbegriffen. Grammatik von Ahlquist (Helsingfors 1855).

Tschudi, ältestes Adelsgeschlecht der Schweiz imKanton Glarus. Nachdem dasselbe 906-1288 das säckingischeMeieramt besessen, erlangte es durch Jost T., der mehr als 30 JahreGlarus als Landammann vorstand und 1446 den Sieg bei Ragazentschied, neues Ansehen. Sein Sohn Johannes T. befehligte dieGlarner in den Burgunderkriegen und dessen Sohn Ludwig T. in denSchwabenkriegen. Des letztern jüngerer Sohn war Ägidius(s. unten). Vgl. Blumer, Das Geschlecht der T. von Glarus (St.Gallen 1853). Bemerkenswert sind:

1) Ägidius (Gilg), Geschichtschreiber, geb. 5. Febr. 1505,empfing seinen ersten Unterricht von Zwingli, damals Pfarrer inGlarus, studierte in Basel u. Paris und verfaßte 1528 eine"Beschreibung Rätiens", welche gegen seinen Willen von Seb.Münster gedruckt wurde. In verschiedenen hoheneidgenössischen und kantonalen Stellungen wirkte eranfänglich, obwohl der Reformation entschieden abgeneigt,eifrig im Sinn der konfessionellen Versöhnung. 1558 zumLandammann gewählt, nahm er jedoch als Haupt der katholischenMinderheit in Glarus allmählich eine schroffere Stellung ein.Als er deshalb bei der Neuwahl 1560 von der Landsgemeindeübergangen wurde, widmete er sich bis zu seinem 28. Febr. 1572erfolgten Tod fast ausschließlich der Vollendung seiner zweigroßen Geschichtswerke, der "Gallia Comata", welche nebeneiner Beschreibung des alten Gallien namentlich die Altertümerund Vorgeschichte der Schweiz enthält, und der vielwertvollern, bis 1470 reichenden "Schweizerchronik", welche bis aufJoh. v. Müller herab als Hauptquelle für die ältereSchweizergeschichte benutzt, aber erst 1734-36 zu Basel gedrucktwurde (2 Bde.). Tschudis Darstellung der Entstehung derEidgenossenschaft, die auf einer geschickten Verknüpfungvon

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Tschudisches Meer - Tschuktschen.

Urkunden, sagenhafter Überlieferung und freier Erfindungdes Autors beruht, ist jahrhundertelang die herrschende gebliebenund durch Joh. v. Müller und Schiller europäischesGemeingut geworden. Seit Kopps Forschungen dieselbe als Sage oderRoman haben erkennen lassen, beruht der Wert der Chronik Tschudis,abgesehen von ihrem litterarischen Verdienst, hauptsächlichauf den zahlreichen, jetzt verlornen Urkunden, deren Wortlaut sieuns erhalten hat. Vgl. Euch s, Ägidius Tschudis Leben undSchriften (St. Gallen 1805, 2 Bde.); Vogel, Egidius T. alsStaatsmann und Geschichtschreiber (Zürich 1856); Blumer,Ägidius T. (im "Jahrbuch des Historischen Vereins Glarus" 1871u. 1874); Herzog, Die Beziehungen des Chronisten Ä. T. zumAargau (Aarau 1888).

2) Iwan von, geb. 19. Juni 1816 zu Glarus, seit 1846 Mitbesitzerder Verlagsbuchhandlung Scheitlein u. Zollikofer in St. Gallen,gest. 28. April 1887 daselbst, machte sich als Alpenforscherbesonders verdient durch die Herausgabe eines trefflichenReisehandbuchs: "Tourist in der Schweiz und dem angrenzendenSüddeutschland, Oberitalien und Savoyen" (1855, 30. Aufl.1888).

3) Johann Jakob von, Naturforscher, Bruder des vorigen, geb. 25.Juli 1818 zu Glarus, studierte in Leiden, Neuchâtel,Zürich und Paris, später auch in Berlin und WürzburgNaturwissenschaft, bereiste 1838-43 Peru, lebte seit 1848 aufseiner Besitzung Jakobshof in Niederösterreich, bereiste1857-59 Brasilien, die La Plata-Staaten, Chile, Bolivia und Peru,ging 1859 als Gesandter der Schweiz nach Brasilien, wo ernamentlich auch zum Studium der Einwanderungsverhältnisse diemittlern und südlichen Provinzen bereiste, kehrte 1861zurück, ging 1866 als schweizerischerGeschäftsträger nach Wien und wurde 1868 zumaußerordentlichen Gesandten und bevollmächtigtenMinister daselbst ernannt. Seit 1883 lebt er wieder auf seinem Gut.Er schrieb: "System der Batrachier" (Neuchât. 1838);"Untersuchungen über die Fauna peruana" (St. Gallen 1844-47,mit 76 Tafeln); "Die Kechuasprache" (Wien 1853, 3 Tle.); "Ollanta,ein altperuanisches Drama, aus der Kechuasprache übersetzt undkommentiert" (das. 1875); "Organismus der Khetsuasprache" (Leipz.1884); "Peru, Reiseskizzen" (St. Gallen 1846, 2 Bde.);"Antiguedades peruanas" (mit Don Mariano de Rivero, Wien 1851, mitAtlas); "Reisen durch Südamerika" (Leipz. 1866-69, 5 Bde.).Auch bearbeitete er Winckells "Handbuch für Jäger" (5.Aufl., Leipz. 1878, 2 Bde.).

4) Friedrich von, Bruder der vorigen, geb. 1. Mai 1820 zuGlarus, studierte in Basel, Bonn und Berlin Theologie, wurde 1843Stadtpfarrer in Lichtensteig (Toggenburg), lebte seit 1847 alsPrivatmann in St. Gallen, übernahm dort seit 1856 verschiedeneBeamtenstellungen, saß seit 1864 im Großen Rat, seit1874 im Regierungsrat, wurde 1877 Mitglied des schweizerischenStänderats und starb 24. Jan. 1886. Er erwarb sich besondereVerdienste um das Erziehungswesen und führte den Kampf mit demKlerus ebenso taktvoll wie entschieden. Sein bekanntes Hauptwerkist: "Das Tierleben der Alpenwelt" (Leipz. 1853, 10. Aufl. 1875;vielfach übersetzt), ein auf eignen Forschungen undsorgfältigster Beobachtung beruhendes, auch sprachlichausgezeichnetes Buch; andre Schriften von ihm sind: "Der Sonderbundund seine Auflösung" (unter dem Pseudonym C. Weber, St. Gallen1848); "Landwirtschaftliches Lesebuch" (8. Aufl., Frauenfeld 1888);"Der Obstbau und seine Pflege" (mit Schultheß, 4. Aufl., das.1887).

Tschudisches Meer, See, s. v. w. Peipus.

Tschugujew, Kreisstadt im russ. Gouvernement Charkow, ander Mündung der Tschugewka in den Donez, hat Obstbau, Handelund (1885) 10,147 Einw.

Tschukiang (Perlfluß), Fluß in der chines.Provinz Kuangtung, welcher aus dem Ssi-, Pe- und Tungkiangzusammenfließt und unterhalb Kanton in eine Bucht desChinesischen Meers mündet.

Tschuktschen (auch Tschautschen), ein zu den Arktikernoder Hyperboreern gehöriges Volk im nordöstlichstenSibirien (s. Tafel "Asiatische Völker", Fig. 1). Nach ihrerLebensweise unterscheidet man nomadisierende oderRenntiertschuktschen und seßhafte oder Jagd und Fischereitreibende T. Die erstern ziehen zwischen der Beringsstraße,Indigirka und der Penschinabai herum, ihre Zahl ist unbekannt. Dieandern wohnen in festen oder verrückbaren Zelten am Ufer desEismeers von Kap Schelug bis zum Ostkap und weiter von hier an denUfern des Beringsmeers bis zum Anadyrbusen. Die sogen.Tschuktschenhalbinsel ist ein ödes Land mit sterilen Bergenund Thälern, auf denen nur Renntiermoos gedeiht. DieSeßhaftigkeit ist nicht wörtlich zu nehmen; wenn aneinem Orte die Lebensmittel mangeln, so wird auch im Winter einandrer Aufenthalt gewählt. Man schätzt die Zahl derseßhaften T. auf 2000-2500 Köpfe, die beider Abteilungenauf 4-5000. Unzweifelhaft sind die T. hervorgegangen aus derMischung mehrerer früher kriegerischer und wilder, von fremdenEroberern von S. nach N. gejagter Rassen, die daselbst einegemeinsame Sprache annahmen, und denen die Lebensbedingungen amPolarmeer einen unvertilgbaren Stempel aufdrückten. Dergewöhnliche Typus ist: Mittellänge, steifes,großes, schwarzes Haar, fein gebildete Nase, horizontalliegende, keineswegs kleine Augen, schwarze Augenbrauen, langeAugenwimpern, hervorstehende Backenknochen und helle, wenig brauneHaut, die bei jungen Weibern nahezu ebenso weiß und rot istwie bei den Europäern. Trotz der großten Unsauberkeit amKörper und in ihren Behausungen erfreuen sie sich doch guterGesundheitsverhältnisse. Ihre Kleidung besteht aus einemPäsk aus Renntier- oder Seehundsfell, der auf dem bloßenKörper getragen wird, und über den man bei Regen oderSchnee noch einen Rock von Gedärmen oder Baumwollenzeug zieht.Unter dem Päsk, der bis an die Kniee reicht, werden zwei PaarHosen aus demselben Stoff getragen, das innere mit den Haaren nachinnen, das äußere mit den Haaren nach außen. DieFüße stecken in Strümpfen aus Seehundshaut oder inMokassins mit Sohlen aus Walroß- oder Bärenfell; derKopf ist mit einer Haube geschützt, über welche beistrenger Kälte noch eine andre gezogen wird. Ihre Nahrungbilden Fisch, Fleisch und Gemüse, soweit sie deren habhaftwerden können. Außer Fischfang und Renntierzucht treibensie Jagd auf Walrosse und Robbenarten. Die Walroßzähnesind ein Haupthandelsartikel im Verkehr mit den Amerikanern, vonwelchen sie Tabak, Branntwein, Pulver, Blei, Flinten etc. erhalten.Zu den Russen haben sie äußerst geringe Beziehungen;einen Jasak (s. d.) entrichten nur die T., welche nachNishne-Kolymsk zum Jahrmarkt fahren. Von irgend einergesellschaftlichen Ordnung gibt es keine Spur; anerkannteHäuptlinge oder dem Ähnliches kennen sie nicht. Sie sindHeiden und haben nicht die geringste Vorstellung von einemhöhern Wesen. Die religiösen Begriffe, die sich anvorhandene Schnitzereien (Menschenbilder) knüpfen, sindäußerst unbestimmt und scheinen weniger ein im Volkfortlebendes Bewußtsein als eine Erinnerung von

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Tschuma - Tsuga.

ehemals. Die wenig entwickelte Sprache der T. zeigt mit keinerandern bekannten Sprache als mit den Sprachen der benachbartenKorjaken und Kamtschadalen Verwandtschaft. Den Zahlwörternliegt das Vigesimal- (Zwanziger-) System zu Grunde. Vgl. dieSchilderungen von Nordquist in Nordenskjölds Reisewerk und inKrause ("Die Tlinkitindianer", Jena 1885); Radloff, über dieSprache der T. (in den "Mémoires" der Petersburger Akademie,1860).

Tschuma, s. Chinagras.

Tschumak (russ.), der kleinruss. Ochsenfuhrmann;insbesondere Bezeichnung der Fuhrleute aus der Ukraine undPodolien, die, zu großen Gesellschaften vereinigt,alljährlich im Frühjahr unter einem eignen Anführernach dem Schwarzen Meer zogen, um dort Salz und getrocknete Fischezu laden, womit sie dann das innere Rußland versorgten. Inder Volkspoesie spielen die Tschumakenlieder eine besondereRolle.

Tschungking, Stadt in der chines. Provinz Setschuan, ander Mündung des Kialing in den Jantsekiang, eine bedeutendeHandels- und Fabrikstadt für Seide und Zucker, mit 120,000Einw. Seit Abschluß des Vertrags von Tschifu (1876) ist T.den Engländern eröffnet worden, doch beschränktesich die englische Regierung bis jetzt auf die Unterhaltung einesKonsularbeamten.

Tschupria (Cuprije), Kreishauptstadt im KönigreichSerbien, rechts an der Morawa, mit (1884) 3408 Einw. Eine hierstationierte Pontonierkompanie überwacht dieSchiffbrücken über die Morawa. Zur Zeit derRömerherrschaft stand hier Horreum Margi, von dem nochÜberreste einer steinernen Brücke vorhanden sind. DerKreis umfaßt 1635 qkm (27,9 QM.) mit (1887) 74,094 Einw. Indemselben, beim Dorf Senje, 8 km südöstlich von T.,befindet sich ein großes Steinkohlenlager.

Tschusan, Insel, s. Tschouschan.

Tschussowaja (bei den Wogulen Suscha), Fluß imruss. Gouvernement Perm, entspringt am westlichen Abhang des Urals,fließt nordwestlich und westlich und mündet nach einem500 km langen Lauf oberhalb Perm in die Kama. Die T. hat einenungewöhnlich raschen Lauf und große Steinmassen in ihremBett, wodurch der Transport der Uralprodukte, mit Ausnahme desHolzes, auf ihr erschwert wird.

Tschuwanzen, Volksstamm in Sibirien, eine Unterabteilungder Jukagiren (s. d.).

Tschuwaschen, ursprünglich ein finnisches, jetzttatarisiertes Volk, das in seiner Lebensweise sehr denTscheremissen gleicht, aber eine zum türkisch-tatarischenZweig des uralaltaischen Sprachstammes gehörende Sprachespricht. Sie leben in einer Zahl von 570,000 Köpfen am rechtenWolgaufer und der Sura in den Gouvernements Simbirsk, Samara, Ufa.Sie gelten als phlegmatisch, fleißig, sittenrein, gutartig,sehr reinlich. Die Frauen sind bei ihnen gleichberechtigt. Viele T.sind noch Heiden, die Mehrzahl hat das Christentum angenommen; dochsteht auch bei den Christen der Jomsa oder heidnischeZauberpriester in hohem Ansehen. Sie sind Ackerbauer, Vieh- undBienenzüchter, Fischer und Jäger.

Tseng, Y-Yong, Marquis von, chines. Diplomat, geb. 1839in der Provinz Honan, stammte aus einer der ältesten FamilienChinas; sein Vorfahr Tseng-Tzü war einer der vier Schülerdes Konfucius und Verfasser des klassischen Buches "Taheo". Erbegleitete seinen Vater Tseng-Kuo-Fan im Kriege gegen die Taipingund erwarb sich durch Klugheit und Umsicht große Verdienste,ward aber durch die Trauer um seine Eltern lange Zeit von weitereröffentlicher Thätigkeit fern gehalten. Erst als 1879Tschunghan in Livadia den Vertrag mit Rußland überKuldscha abschloß, welchen die chinesische Regierung nichtanerkennen wollte, wurde T. zum Botschafter beim russischen Hofernannt mit dem Auftrag, eine Änderung des Vertrags zuerwirken. Unterstützt von seinem geschickten SekretärMacartney, erlangte T. wirklich die Rückgabe der wichtigenProvinz Ili von Rußland. Darauf zum chinesischen Botschafterin London und Paris ernannt, führte er 1882-84 dieVerhandlangen mit der französischen Regierung überTongking. 1885 von Paris abberufen, blieb er Gesandter in Londonund Petersburg bis 1886 und ist seitdem Mitglied desTsungli-Yamen.

Tsetsefliege (Glossina morsitans Westw., s. Tafel"Zweiflügler"), Insekt aus der Ordnung der Zweiflüglerund der Familie der Fliegen (Muscariae), unsrer gemeinenStechfliege (Stomoxys calcitrans L.) verwandt, 11 mm lang, mit langgekämmter Borste an der Wurzel des langen, messerförmigenEndgliedes der angedrückten Fühler, vier schwarzenLängsstriemen auf dem grau bestäubten, kastanienbraunenRückenschild, zwei dunkeln Wurzelflecken und kräftigemBorstenhaar auf dem schmutzig gelben Schildchen,gelblichweißem Hinterleib mit dunkelbraunen Wurzelbinden aufden vier letzten Ringen, welche nur je einen dreieckigenMittelfleck von der Grundfarbe freilassen, gelblichweißenBeinen und angeräucherten Flügeln. Die T. findet sich imheißen Afrika, wo ihre Verbreitung von noch nicht hinreichendbekannten Verhältnissen, z. B. dem Vorkommen des Büffels,des Elefanten, des Löwen, abhängig zu sein scheint. Sienährt sich vom Blute des Menschen und warmblütiger Tiereund verfolgt ihre Opfer besonders an gewitterschwülen Tagenmit der größten Hartnäckigkeit, sticht aber nur amTag. Dem Menschen und den Tieren des Waldes, Ziegen, Eseln undsäugenden Kälbern bringt der Biß keinen Schaden;andre Haustiere aber erliegen dem Anfall selbst sehr wenigerFliegen nach kürzerer oder längerer Zeit, meist kurz vorEintritt der Regenzeit, so sicher, daß die als "Fliegenland"bekannten Gegenden ängstlich gemieden und mit Weideviehhöchstens nachts durchzogen werden. An den gebissenen Tierenverschwellen zuerst die Augen und die Zungendrüsen; nach demTod zeigen sich besonders die Muskeln und das Blut, auch Leber undLunge krankhaft verändert, während Magen und Eingeweidekeine Spur von Störungen zeigen. Nach neuern Beobachtungen istzweifelhaft geworden, ob Glossina morsitans die berüchtigte T.ist, ja ob die, wie es scheint, sehr übertriebeue Plageüberhaupt auf den Stich eines Insekts und nicht vielmehr aufeine Infektionskrankheit zurückzuführen ist.

Tsién (Mas, Mehs), chines. Gewicht, = 3,757 g.

Tsinan, Hauptstadt der chines. Provinz Schantung, Sitzeiner katholischen Mission, mit angeblich 60,000 Einw.

Tsing (Taitsing), die seit 1644 in China regierendeMandschudynastie; s. China, S. 17.

Tsjubo (Tsubu), Einheit des japan. Feldmaßes, = 36QSchaku (Fuß) = 3,319 qm.

Tsuga Endl. (Hemlocktanne), Gattung der Familie derAbietineen, Bäume mit in der Regel nach zwei Seitengestellten, flachen, am obern Ende fein gezähnelten, auf derUnterfläche mit Ausnahme des Mittelnervsbläulichweißen Blättern und kleinen,gewöhnlich am Ende der Zweige stehenden, meistüberhängenden Zapfen, deren Fruchtteller sich nicht vonder Achse lösen. T. (Abies) canadensis Carr. (ka-

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Tsun - Tuareg.

nadische Hemlocktanne, Schierlings-, Sprossentanne, s. Tafel"Gerbmaterialien liefernde Pflanzen"), ein 19-25 m hoher Baum mitwagerecht abstehenden untern Hauptästen,pyramidenförmiger, später ausgebreiteter Krone, kurzen,am obern Ende abgerundeten, in der ersten Jugend fein behaartenNadeln und 2 cm langen, eiförmig länglichen, oft mehrereJahre am Baum bleibenden Zapfen und geflügelten Samen,wächst in ganz Nordamerika, besonders auf der Ostseite, vonKanada bis Nordcarolina und westwärts bis ins Felsengebirge,liefert Terpentin, Harz, Gerberrinde, und aus den jungen Sprossenbereitet man Bier; bei uns wird er seit etwa 1730 vielfach alsParkbaum angepflanzt. Die Rinde wird in der Gerberei benutzt. T.Douglasii Carr. (Douglasfichte), ein schöner, 70 m hoher Baummit kurzen oder mäßig langen, am obern Ende stumpfenNadeln und aufrechten, 6-8 cm langen, länglichen, obenabgerundeten, am Ende sehr kurzer Zweige stehenden Zapfen mitüber die Fruchtteller weit hervorragenden, an der Spitzedreiteiligen Deckblättern, bildet im nordwestlichenNordamerika große Wälder und verdient als prachtvoller,schnell wachsender, auch in Norddeutschland, wenn einmal gutangewachsen, harter Baum größte Beachtung. Mankultiviert ihn in Europa seit etwa 1830. Vgl. Booth, DieDouglasfichte (Berl. 1877).

Tsun, chines. Längenmaß, s. Fen.

Tsungli-Yamên, in China das Ministerium desAuswärtigen, 1860 errichtet, besteht meist ausPräsidenten des exekutiven Departements unter dem Vorsitzeines Prinzen erster Klasse.

Tsungming, Insel an der Ostküste von China, ProvinzKiangsu, vor der Mündung des Jantsekiang in das ChinesischeMeer, mit einem Hafenplatz gleiches Namens.

Tu, große Oase in der östlichen Sahara, s.Tibesti.

Tuam, Stadt in der irischen Grafschaft Galway, am Clare,Sitz eines katholischen Erzbischofs und eines protestantischenBischofs, hat ein katholisches Seminar (St. Jarlath's), 2Klöster, eine Lateinschule und (1881) 3567 Einw.

Tuamotuinseln (Paumotu- oder Niedrige Inseln),großer Archipel des Stillen Ozeans, erstreckt sichöstlich von den Gesellschaftsinseln zwischen14°5'-23°12' südl. Br. und 135°33'-148°45'östl. L. v. Gr. (s. Karte "Ozeanien"). Es sinddurchgängig flache Korallen- und fast ohne AusnahmeLaguneninseln, aber nach Größe und Beschaffenheit derRiffe und Lagunen sehr verschieden. Der dürre und wasserarmeKorallenboden trägt eine einförmige und dürftigeVegetation (Kokospalmen, Pandanus); nur in den westlichen Inselnsind von Tahiti aus auch einige Kulturpflanzen (Brotfrucht,Bananen, Arum, Ananas) eingeführt worden. Die Landtiere(Ratten, einige Landvögel, sehr wenige Insekten) zeigen einegleiche Einförmigkeit; dagegen sind die Seetiere (Delphine,Seevögel, Schildkröten, Fische, Mollusken, darunterbesonders Perlenmuscheln, Krustaceen etc.) ebenso häufig wieverschiedenartig. Das Klima gilt für gesund und erfrischend;der Wechsel der Jahreszeiten ist weniger regelmäßig alsin andern Archipelen. Der Passatwind (von SO. und NO.) ist dervorherrschende Wind, wird aber nicht selten von Westwinden undWindstillen unterbrochen; Regengüsse und Nebel sind nichtungewöhnlich. Man teilt den Archipel in fünf Gruppen:eine zentrale Hauptgruppe, darunter Rangiroa (Rairoa), Fakarawa,Anaa, Makemo und Hao; eine nördliche Seitengruppe, darunterOahe, Raroia, Ahangatu, Fakaina, Disappointmentinsel, Tatakotorou,Pukaruha, Natupe; eine südliche Seitengruppe, darunterHereheretue, Duke of Gloucester-Insel, Tematangi (Bligh), Mururoa,Actäon- (Amphitrite-) Gruppe, Marutea, die Mangarewagruppe unddie Pitcairngruppe, wozu noch die Osterinsel mit Sala y Gomezkommt. Danach berechnet sich das Gesamtareal auf ca. 1100 qkm (20QM.). Die Inseln stehen mit Ausnahme der Pitcairngruppe, derOsterinsel und Sala y Gomez unter französischem Schutz, alsoein Gesamtareal von ca. 1000 qkm (18 QM.) mit (1885) 5500 Einw.,davon 49 Europäer, von denen die meisten auf Anaa (s. d.) sichbefinden. Die Bewohner (s. Tafel "Ozeanische Völker", Fig. 28)sind Polynesier und im ganzen den Tahitiern ähnlich. Sieführen eine Art Wanderleben, indem sie in Familien oderkleinen Stämmen von Insel zu Insel ziehen und sammeln, wasdiese an Nahrungsmitteln bieten. Von Charakter zeichnen sie sichdurch Redlichkeit, Zuverlässigkeit und Keuschheit aus; dazusind sie ausdauernde und mutige, aber auch grausame Krieger. VonKörper groß und stark gebaut, übertreffen sie dieTahitier an Kraft und Gewandtheit, sind aber dabei viel dunkler,überaus schmutzig und (namentlich die Frauen) oft vonauffallender Häßlichkeit. Früchte der Kokospalmeund Pandanus, Fische, Schildkröten, Krebse etc. sind ihreNahrung. Auf den östlichen Inseln finden sich auch nochAnthropophagen. Ein schmaler, aus Matte geflochtener Gürtelbildet fast ihre einzige Kleidung, die Tättowierung, rohausgeführt, ihren einzigen Schmuck. Die Bewohner derwestlichen Inseln stehen schon seit Ende des 18. Jahrh. unter derpolitischen Herrschaft von Tahiti und sind von dort aus auchfür das (evangelische) Christentum gewonnen worden,während sich in neuester Zeit katholische Missionärenicht ohne Erfolg mit der Bekehrung der Einwohner deröstlichen T. beschäftigt haben. Seit die Europäerauf Tahiti Fuß gefaßt, sind die T. Schauplatz einesnicht unbedeutenden Handelsverkehrs geworden, als dessenAusfuhrartikel besonders Trepang, Perlen (auch Perlmutter) undKokosöl sowie etwas Schildpatt zu nennen sind, währendZeuge, eiserne Geräte, Mehl, Tabak etc. eingeführtwerden. - Einzelne Inselgruppen fanden schon Quiros, Le Maire undSchouten. Genaueres erfuhr man erst seit 1767. Krusenstern gabihnen den Namen Niedrige Inseln, Bougainville nannte sie wegenihrer für die Schiffahrt schwierigen und gefährlichenNatur Gefährliche Inseln, auch Perleninseln sind sie vonHändlern genannt worden. Schouten nannte diese Meeresgegenddie Böse See, Roggeveen das Labyrinth.

Tuareg (Tuarik, Singul. Targi), arab. Name des zu denBerbern gehörigen Volkes der mittlern Sahara, das sich selbstImoscharh (Imuharh, Imazirhen) nennt, im N. bis an den Atlas, im S.bis über den Niger, im W. bis zu den maurischen Stämmenund im O. bis zu den Tibbu seine Wohnsitze ausgebreitet hat. Die T.zerfallen in zwei Abteilungen, in die sogen. freien (Ihaggaren) undin die unterworfenen Stämme (Imrhad), und in mehrere, meisteinander feindliche Stämme: die Asgar und Hogar im N., dieKelowi, Itissa, Sakomaren weiter südlich, die Auelimiden amNiger u. a. Sie sind ein schöner, bräunlicherMenschenschlag mit echt kaukasischen Gesichtszügen, wo er sichvon Negerbeimischung frei erhalten hat. Als Nomaden durchstreifensie, raubend und Viehzucht treibend, die Wüste; wichtig sindsie als Vermittler des Karawanenverkehrs zwischen dem NordrandAfrikas und dem Sudan, ausgezeichnet in der Tracht vor denübrigen Völkern

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Tua res agitur - Tuberkulose.

Afrikas durch ein Mundtuch (Litham). Sie werden als treulos undunzuverlässig geschildert; Alexine Tinne, E. v. Bary u. a.fielen ihrer Mordlust zum Opfer. Alle sind fanatische Mohammedaner.Ihre Zahl dürfte 300,000 nicht übersteigen. Ihre Sprache,Ta-Maschek oder Ta-Maschirht, ist als Abkömmling deraltlibyschen zu betrachten. Vgl. Duveyrier, Les Touaregs du Nord(Par. 1864); Rohlfs, Quer durch Afrika, Bd. 1 (Leipz. 1874);Nachtigal, Sahara und Sudân, Bd. I (Berl. 1879); Bissuel, LesTouareg de l'ouest (Par. 1889).

Tua res agitur (paries cum proximus ardet, lat.), "eshandelt sich um deine Habe (wenn das Haus des Nachbars brennt)",Citat aus Horaz ("Epist.", I, 18, 84).

Tuât, Oasengruppe in der Sahara, bestehend aus denOasen Tidikelt, T., Gurara u. a., im SO. von Marokko gelegen und zudiesem in einem losen politischen Verhältnis stehend. Es istein im allgemeinen flaches Land, bewässert vom Wadi Saura(Msand) und einigen aus dem algerischen Tell kommenden Wadis,welche T. indessen nur unterirdisch erreichen. Unter den Produktenstehen die Datteln obenan; von Getreide baut man Gerste, Weizen undBischna, jedoch reicht das Korn zur Ernährung der Bewohnernicht aus. Schlecht gedeihen Wein und Granatäpfel, anGemüse fehlt es nicht. Baumwolle wird kultiviert, Henna undSenna wachsen wild. Opium wird in den nördlichen, Tabak in densüdlichen Oasen gewonnen. Als Haustiere hält man Kamele,Esel, wenige Pferde, Schafe und Ziegen. Die Hühner haben dieGröße von Küchelchen. Die Bewohner, ca. 300,000 ander Zahl, sind teils Araber, teils Berber (Schellah), beide starkmit Negern gemischt. Gastfreundschaft, Rechtlichkeit, Treue werdenihnen nachgerühmt; als fanatische Mohammedaner verweigern sieChristen den Eintritt in ihr Land, das 1864 von Rohlfs unter derMaske eines Mohammedaners erforscht und im J. 1874 von demFranzosen Soleillet besucht wurde. Von Tasilet werden Thee undKattun, aus dem Sudan Goldstaub, Elfenbein und Sklaveneingeführt. Hauptort ist Inçalah oder Ain Salah in derOase Tidikelt. Vgl. Rohlfs, Reise durch Marokko (Bremen 1869);Derselbe, Mein erster Aufenthalt in Marokko (das. 1873); Soleillet,Exploration du Sahara (Algier 1874).

Tuba (lat., "Röhre"), die Kriegstrompete derRömer, ward zum Signalgeben, beim Zusammenrufen vonVersammlungen, dann bei Opfern, Spielen und selbst beiLeichenbegängnissen gebraucht. Die T. unsrer Orchester(Baßtuba in F) ist ein 1835 von Moritz und Wieprechtkonstruiertes Blechblasinstrument von weiter Mensur und das tiefsteKontrabaßinstrument, das bis zum Doppelkontra-A undchromatisch hinauf bis zum eingestrichenen as reicht. Sie hatfünf Ventile; ihr Klang ist voller, edler als der desBombardons, doch ist sie nur zu brauchen, wenn andre (höhere)Blechinstrumente mitwirken, weil sie sonst mit ihrem dicken Tonunangenehm auffällt. In Frankreich behandelt man dieBaßtuba als transponierendes Instrument und baut sie auch inEs und D. Die eine Oktave höher stehende Tenortuba ist nachdenselben Prinzipien konstruiert. - T. stentorea. das Sprachrohr,auch: erhabener Stil.

[Antike Tuba (Kriegstrompete).]

Tuba Eustach.i.i, Eustachische Röhre, Ohrtrompete(s. Ohr, S. 349). T. Fallopii, Eileiter, Muttertrompete.

Tubai (Motu-iti), die nördlichste Laguneninsel derGesellschaftsinseln im südöstlichen Polynesien, 12 qkmgroß mit 200 Einw. Die Insel wird wegen desSchildkrötenfanges und der roten Federn des Tropikvogelsbesucht.

Tubalkain, Sohn Lamechs, nach 1. Mos. 4, 22 Erfinder derErz- und Eisenarbeit (daher der Vulkan der Hebräer, Stammvaterder Schmiede und Handwerker).

Tubangummi, s. v. w. Guttapercha.

Tuben, s. Tubus.

Tuber (lat.), Höcker, z. B. T. frontale,Stirnhöcker. In der Botanik s. v. w. Knolle, z. B. T. Mich.,Pilzgattung, s. Trüffel; T. Aconiti, Akonitknolle; T. (Radix)Jalappae, Jalappenknolle; T. (Radix) Salep, Salepknolle.

Tuberaceen (Trüffelpilze), eine Familieder Pilze,aus der Ordnung der Askomyceten; s. Pilze (13), S. 72.

Tuberaster, s. Polyporus.

Tuberkel (lat.), ursprünglich kleiner Höckeroder kleines Knötchen, gegenwärtig Name für eineganz bestimmte Gewebsneubildung, welche in der Form vonhirsekorngroßen (miliaren), selten größern Knotenin den verschiedensten Organen und Geweben auftritt und aus einerAnhäufung kleiner Rundzellen ohne Gefäße besteht;s. Tuberkulose.

Tuberkulose (Tuberkulosis), eine Krankheit, bei welcherin den Organen des Körpers kleine, von der Größedes eben Sichtbaren zu Hirsekorngröße wechselnde, graueKnötchen entstehen, welche in ihrer Mitte käsig zerfallenund erweichen. Wenn diese Knötchen in der Haut oder in derOberfläche von Schleimhäuten liegen, so entstehen durchihren Zerfall anfangs kleine, linsenförmige(lentikuläre), später durch Hinzukommen immer neuerKnötchen in der Nachbarschaft große, tuberkulöseGeschwüre, durch welche schließlich ein Schwund derSchleimhäute, z. B. des Kehlkopfes, der Luftröhre, desDarms, der Gebärmutter, der Harnblase, des Nierenbeckens,bedingt werden kann, welcher insgemein als tuberkulöseEntzündung dieser Organe oder als Schwindsucht derselbenbezeichnet wird. Auch in den Gehirnhäuten kommen solcheKnötchen vor, doch führen sie hier wie in dem Gehirnselbst nicht zur Geschwürsbildung, es kommt dagegen oft zueiner eiterigen Gehirnhautentzündung oder zur Bildunggrößerer Geschwulstknoten. In der Leber kommen entwedersehr kleine, kaum ohne Mikroskop wahrnehmbare, odergrößere Knoten vor, welche nicht zerfallen. Ein sehrmannigfaltiges Bild bieten die Lungenschwindsucht (s. d.) sowie dieT. der Lymphdrüsen, welche durch käsigen Zerfall desDrüsengewebes ausgezeichnet sind, und die durch T. bedingtenGelenkentzündungen (Tumor albus, s. Gelenkentzündung, S.58). Die T. wurde zwar schon lange für eine übertragbareKrankheit gehalten, doch ist es erst Koch 1882 gelungen, dieeigentliche Ursache in einem Bacillus von außerordentlicherKleinheit zu entdecken. Dieser Tuberkelbacillus (s. Tafel"Bakterien", Fig. 4) siedelt sich in den Geweben an, ruft durchseine Wucherung jene knotenförmigen und flächenhaftausgebreiteten Entzündungen hervor, welche unter Einwirkungeigenartiger chemischer Spaltungsprodukte der Bacillenverkäsen, und bringt durch ihren Verfall allmählich ganzeOrgane zum Schwund. Am Krankenbett stellen sich die Erscheinungender T. natürlich in höchst mannigfacher Form dar, je nachdem Organ, welches Sitz der T. geworden ist. Am häufigsten istHauptsitz der T. der Atmungsapparat, besonders die

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Tuberogemma - Tübingen.

Lungen; bei Kindern nicht selten der Darm, die Gelenke, Knochenund Hirnhäute, während vielleicht in den Lungen wenigoder gar keine Veränderungen vorhanden sind; zuweilen ist derHarn- u. Geschlechtsapparat zuerst befallen, selten dieäußere Haut, die Zunge, der Magen. Die T. befälltvorwiegend Kinder und schwächliche, schlecht genährtejüngere Personen; die Anlage zur Erkrankung ist häufigererbt (s. Skrofeln), indessen kommt T. auch bis ins höchsteAlter vor und ist unzweifelhaft diejenige Krankheit, welche bei unsdie meisten Opfer fordert, da etwa ein Siebentel aller Menschen anT. zu Grunde geht. Der Verlauf der T. kann sich über Jahre undJahrzehnte erstrecken, sofern die T. auf einen Teil der Lungen odereines andern Organs beschränkt bleibt. Sehr gewöhnlichaber werden die Bacillen im Lymphstrom fortgespült, diebenachbarten Lymphdrüsen werden ergriffen, die Bacillen gehenins Blut über, und es erfolgt Verbreitung der T. auf alleOrgane. Wenn der übertritt großer Massen von Bacillenins Blut auf einmal erfolgt, etwa durch Durchbruch käsigerHerde direkt in ein Blutgefäß, so verläuft die T.unter dem Bild einer fieberhaften, typhösen Erkrankung inwenigen Wochen tödlich (akute Miliartuberkulose). DieBehandlung der T. erfordert, wenn der erkrankte Teil chirurgischenEingriffen zugänglich ist, Entfernung der von Tuberkelndurchsetzten Gewebe, wodurch bei Gelenkentzündungen,Lymphdrüsengeschwülsten, Hoden-, Brustdrüsen- undHauttuberkulose zuweilen völlige Heilung erzielt wird. BeiErkrankung innerer Organe ist außer der lokalen Behandlungeine sehr wesentliche Rücksicht auf Hebung desAllgemeinbefindens, gute Ernährung, frische Luft etc. zunehmen, um den Körper nach Möglichkeit gegen dasVordringen der Bacillen widerstandsfähig zu machen.Unzweifelhaft können selbst weiter vorgeschritteneZerstörungsprozesse in Lungen und Darm zum völligenStillstand, d. h. zu relativer Heilung, kommen. Vgl. Villemin,Études sur la tuberculose (Par. 1868); Hérard u.Cornil, La phthisie pulmonaire (das. 1867); Waldenburg, T.,Lungenschwindsucht und Skrofulose (Berl. 1869); Langhans,Übertragbarkeit der T. (Marb. 1867); Virchow, Die krankhaftenGeschwülste (Berl. 1863 bis 1867, 3 Bde.); Buhl,Lungenentzündung, T., Schwindsucht (2. Aufl., Münch.1874); Schüppel, Untersuchungen überLymphdrüsentuberkulose (Tübing. 1871); Predöhl,Geschichte der T. (Hamb. 1888); Cohnheim, Die T. vom Standpunkt derInfektionslehre (2. Aufl., Leipz. 1881); Koch, Berichte aus demkaiserlichen Gesundheitsamt. - Über T. des Rindes s.Perlsucht.

Tuberogemma, s. Knospenknöllchen.

Tuberose, Pflanzengattung, s. Polianthes.

Tübet, Land, s. Tibet.

Tubifloren, Ordnung im natürlichen Pflanzensystemaus der Abteilung der Dikotyledonen, charakterisiert durchregelmäßige, mit Kelch- und verwachsenenBlumenblättern versehene, fünfzählige Blüten,fünf mit der Blumenkrone verwachsene Staubblätter und 2-5verwachsene Fruchtblätter, umfaßt nach Eichler dieFamilien der Konvolvulaceen, Polemoniaceen, Hydrophyllaceen,Borragineen und Solanaceen.

Tübingen, Oberamtsstadt im württemb.Schwarzwaldkreis, am Neckar, Knotenpunkt der LinienPlochingen-Villingen und T.-Sigmaringen der WürttembergischenStaatsbahn, in schöner Lage auf einem Bergrücken zwischendem Neckar und der Ammer, 340 m ü. M., istunregelmäßig gebaut und hat freundliche Vorstädte.Hervorragende Gebäude sind: das 1535 vollendete SchloßHohentübingen mit schönem Portal, das 1845 vollendeteUniversitätsgebände, das Rathaus mit schönerFreskomalerei u. die 1469-1483 erbaute gotische Stiftskirche mitden Grabmälern von zwölf meist württembergischenFürsten, welche hier residierten. Die Bevölkerungzählte 1885 mit der Garnison (ein Füsilierbat. Nr. 127)12,551 Seelen, darunter 1749 Katholiken und 106 Juden. T. hatFabrikation von chemischen Artikeln, Handschuhen, Essig,physikalischen und chirurgischen Instrumenten etc., eine bedeutendeDampfziegelei, Kunstmühlen, Färberei, Buchdruckerei,Buchhandel, Obst-, Hopfen- und Weinbau, besuchte Fruchtmärkteetc. Außer den Verwaltungsbehörden befindet sich dortein Landgericht. Unter den Schulen steht die Universität(Eberhard Karls-Universität) obenan. Sie wurde 1477 gestiftetund mit derselben 1817 die katholisch-theologische Studienanstaltzu Ellwangen als katholisch-theologische Fakultät vereinigt;außer dieser kamen zu den vier alten Fakultäten 1818noch eine staatswirtschaftliche und naturwissenschaftliche. DieGesamtzahl der Dozenten betrug 1888/89: 95, die der Studierenden1228. Mit der Universität in Verbindung stehen: dieUniversitätsbibliothek von 300,000 Bänden, einphysiologisches und ein anatomisches Institut, ein botanischerGarten, 2 chemische Laboratorien, verschiedene Kliniken undwissenschaftliche Sammlungen, ein bedeutendes Münz- undMedaillenkabinett, eine große geognostische Sammlung, eineSternwarte (im Schloß) etc. Außerdem besitzt T. einhöheres evangelisch-theologisches Seminar (das sogen. Stift,1537 gegründet, im ehemaligen Augustinerkloster) und einkatholisches Konvikt (Wilhelmsstift, in der ehemaligenRitterakademie), ein Gymnasium und eine Oberrealschule. ZumLandgerichtsbezirk T. gehören die 9 Amtsgerichte zuHerrenberg, Kalw, Nagold, Neuenbürg, Nürtingen,Reutlingen, Rottenburg, T. und Urach. Am Fuß desÖsterbergs die schöne Besitzung des Dichters Uhland, derhier seinen Wohnsitz hatte, und dem 1873 in T. ein von Kietzmodelliertes Denkmal gesetzt wurde. - T. wird zuerst 1078erwähnt und war frühzeitig der Sitz von Grafen, die 1148die Pfalzgrafschaft in Schwaben erwarben, doch erscheint es erst1231 als Stadt. Die Pfalzgrafen von T. teilten sich im 13. Jahrh.in die Linien: Horb, Herrenberg, Asperg und Böblingen.Pfalzgraf Gottfried von Böblingen, dessen Hause Burg und StadtT. 1294 zugefallen waren, verkaufte sie 1342 an Württemberg.Sein Zweig erlosch als der letzte des pfalzgräflichenGeschlechts 1631. Eberhard im Bart, Graf von Württemberg,stiftete 1477 die Universität T., welche zu Ende des 15.Jahrh. schon 230 Studierende zählte, und verlieh der Stadt1493 ein neues Stadtrecht. Am 8. Juli 1514 wurde in T. derberühmte Tübinger Vertrag zwischen dem Herzog Ulrich vonWürttemberg und den Landständen abgeschlossen, die durchÜbernahme der Schulden des Herzogs ihn auf dem Thron erhieltenund zugleich das Land vor weiterm Druck bewahrten. 1519 ward dieStadt von dem Schwäbischen Bund unter Herzog Wilhelm vonBayern belagert und 25. April erobert. 1647 wurde sie von denFranzosen besetzt, ebenso 1688, bei welcher Gelegenheit auch dieMauern

[Wappen von Tüdingen.]

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Tübinger Schule - Tuch.

geschleift wurden. Vgl. Eifert, Geschichte der Stadt T.(Tübing. 1849); Klüpfel, Die Universität T. in ihrerVergangenheit und Gegenwart (das. 1877); "T. und seine Umgebung"(2. Aufl., das. 1887, 2 Hefte).

Tübinger Schule, Bezeichnung für die von F.Chr. Baur (s. d. 1) in Tübingen begründete und von seinenSchülern (Zeller, Schwegler, K. R. Köstlin u. a.)befolgte kritische Richtung. Vgl. die betreffenden Artikel.

Tubize (spr. tübihs'), Gemeinde in der belg. ProvinzBrabant, Arrondissem*nt Nivelles, an der Senne, Knotenpunkt an derStaatsbahnlinie Brüssel-Quiévrain, mit Eisen- undBaumwollindustrie und (1888) 4386 Einw.

Tubu, Volksstamm, s. Tibbu.

Tubuaiinseln (Australinseln), Gruppe im Stillen Ozean,südlich von den Gesellschaftsinseln und diesen in ihrer Natursehr ähnlich, besteht aus sieben Inseln: Tubuai, 103 qkmgroß mit (1885) 385 Einw., Vavitao oder Raiwawai, 660 qkmgroß mit 309 Einw., Rurutu (s. d.), Oparo (s. d.), Rimitara,Morotiri (Baß) und dem unbewohnten Hull oder Narurota,zusammen 286 qkm (5,2 QM.) mit 1350 Einw., welche ebenfalls denBewohnern der Gesellschaftsinseln gleichen, seit 1822 durchenglische Missionäre zum Protestantismus bekehrt sind und inden westlichen Inseln einen tahitischen, in Oparo (Rapa) aber einenrarotongischen Dialekt sprechen. Die Insel Tubuai wurde 1777,Rurutu 1769 von Cook entdeckt. Politisch hingen die T. schonfrüh von den Gesellschaftsinseln ab, daher dehnten dieFranzosen ihr Protektorat zuerst über Tubuai, Vavitao undOparo, 1889 auch über Rurutu und Rimitara aus, so daßdie ganze Gruppe dem französischen Einflußuntersteht.

Tubulus (lat., "Röhrchen", Tubulatur), die mitStöpseln verschließbaren kurzen Hälse auf denKugeln der Retorten oder Kolben.

Tubus (lat.), Rohr, Röhre, besonders s. v. w.Fernrohr; Tuben, röhrenförmige Behälter fürÖlfarben etc.; Orgeltuben, s. v. w. Orgelpfeifen.

Tucacas, Hafenstadt in der Sektion Yaracuy des StaatsLara der Republik Venezuela, an der Mündung des Aroa. EineEisenbahn verbindet sie mit den reichen Kupferminen von Bolivar, amobern Aroa, die 1880-83: 75,200 Ton. Erz und Regulus im Wert von16,137,951 Frank erzeugten.

Tuch, aus Streichwollgarn hergestellter, meistleinwandartig gewebter Stoff, welcher durch Walken verfilzt unddurch Rauhen mit einer Decke feiner Härchen versehen wird, diegewöhnlich durch Scheren gleich gemacht sind und daher eineglatte, feine Oberfläche bilden. Der Tuchmacherstuhlunterscheidet sich von den Webstühlen zu andern glattenStoffen hauptsächlich nur durch seine große Breite, weildas T. wegen seines beträchtlichen Eingehens in der Walke vielbreiter gewebt werden muß, als es im fertigen Zustanderscheint. Ein T., das nach der Appretur 8/4 breit sein soll,muß auf dem Stuhl 14/4-17/4 Breite haben. Aus dem rohenGewebe (Loden) werden durch das Noppen Holzsplitterchen, Knotenetc. entfernt. Dies geschieht mit Hilfe von kleinen Zangen durchHandarbeit oder mit der Noppmaschine. Nach dem Noppen folgt dasWaschen in besondern Waschmaschinen, wodurch Fett, Leim und Schmutzaus dem Loden entfernt werden. Dann wird das Gewebe zum zweitenmalgenoppt und unter Zusatz von Seife, gefaultem Urin oder Walkererdegewalkt. Hierdurch verfilzen sich die feinen aus dem Garnhervorstehenden Fäserchen und bis zu einem gewissen Grade dieGarnfäden selbst, so daß man aus gut gewalktem T. keinenFaden von einiger Länge unversehrt ausziehen kann. Dasgewalkte Gewebe wird wieder gewaschen und auf dem Trockenrahmenunter einer gewissen Spannung getrocknet. Die Appretur (s.Appretur) des Tuches beginnt nun damit, daß die Härchen,welche aus der Filzdecke ohne alle Regelmäßigkeithervorragen, mehr und gleichmäßiger herausgezogen undnach Einer Richtung niedergestrichen werden (das Rauhen). Hierzudienen die voll kleiner Widerhaken sitzenden Fruchtköpfchender Kardendistel (Dipsacus fullonum), mit welchen das nasse T.bearbeitet wird. Die Handrauherei ist gegenwärtig durch dieMaschinenrauherei fast vollständig verdrängt worden; aberes ist noch nicht gelungen, für die teuern Weberkarden einengenügenden Ersatz zu finden. Ungemein erleichtert wird dasRauhen, wenn man auf das T., während die Karden daraufeinwirken, Wasserdampf strömen läßt. Dieherausgezogenen Härchen werden auf dem trocknen T. gegen denStrich aufgebürstet und durch große Handscheren oderdurch scherenartige mechanische Vorrichtungen (Schermaschinen) zugleicher und geringer Länge abgeschnitten, damit sie zusammeneine glatte, feine Oberfläche bilden (das Scheren). Das Zieldes Rauhens und Scherens kann aber nur durch einen stufenweisenGang erreicht werden, weshalb beide Behandlungen je nach derFeinheit des Tuchs ein- bis fünfmal abwechselnd hintereinandervorgenommen werden. Die abgeschnittenen Härchen bilden dieScherwolle. Nach dem Scheren wird das T. zum drittenmal genoppt,dann dekatiert und gepreßt. Hinsichtlich des Färbensunterscheidet man in der Wolle, im Loden oder im T. gefärbtes.Ersteres ist aus gefärbter Streichwolle gefertigt, daslodenfarbige ist vor dem Walken gefärbt und das tuchfarbigenach dem Walken. Letzteres T. zeigt oft einen weißlichenAnschnitt und verliert die Farbe beim Gebrauch. Feine hellfarbigeTuche können aber in der erforderlichen Lebhaftigkeit nur imStück gefärbt werden. Weiße Tuche werdengeschwefelt und in Wasser mit abgezogenem Indigo gebläut, dieschlechtesten aber in einer Brühe von Wasser undSchlämmkreide bearbeitet, so daß die nach dem Trocknen,Klopfen und Bürsten zurückbleibenden Kreideteilchen dengelblichen Stich der Wolle verdecken. Die schwarzen Tucheprüft man auf ihre Farbe mit verdünnter Salzsäureund unterscheidet Falschblau, das durch Behandeln mit derSäure ganz rot wird, Halbechtblau, welches einen violettenSchein bekommt, wenn der Grund mit Indigo angeblaut ist, undGanzechtblau, welches durch die Säure nicht verändertwird, also mit reinem Indigo gefärbt worden ist. In derTuchfabrikation nehmen neben Preußen und Sachsen, welchedurch ihre ausgezeichneten Wollen begünstigt sind,Österreich, Frankreich, England und Belgien den ersten Rangein. Von den preußischen Tuchen war vormals das BrandenburgerKerntuch sehr beliebt, die rheinpreußischen Tuche gehen alsNiederländer. Holland liefert wenig, aber vortreffliches T.Österreich fertigt alle Sorten Tuche, vorzüglich vielfarbige Tuche für den Orient. Die englische und belgischeTuchfabrikation erstreckt sich vorzugsweise nur auf die mittlernund ordinären Qualitäten. Vgl. Stommel, Das Ganze derWeberei der T.- und Buckskinfabrikation (2. Aufl., Düsseld.1882); Ölsner, Lehrbuch der T.- und Buckskinweberei (Altona1881, 2 Bde.); Behnisch, Handbuch der Appretur (Grünb.1879).

Tuch, Johann Christian Friedrich, Orientalist, geb. 17.Dez. 1806 zu Quedlinburg, studierte in Halle, ward 1830Privatdozent der Philosophie daselbst, 1841 Professor der Theologiezu Leipzig, später noch Domherr und Kirchenrat; starb daselbst12. April 1867.

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Tuchel - Tudor.

Sein Hauptwerk ist der "Kommentar über die Genesis" (Halle1838; 2. Aufl. von Arnold, das. 1871). Sonst sind zu erwähnenseine Abhandlungen über Ninive (Leipz. 1845), ChristiHimmelfahrt (1857), Josephus (1859-60), Antonius Martyr (1864), zurLautlehre des Äthiopischen u. a.

Tuchel, Kreisstadt im preuß. RegierungsbezirkMarienwerder, unweit der Brahe und an der Linie Konitz-Laskowitzder Preußischen Staatsbahn, hat eine evangelische und einekath. Kirche, ein altes Schloß, ein katholischesSchullehrerseminar, ein Amtsgericht und (1885) 3061 meist kath.Einwohner. Östlich von T. erstreckt sich im Gebiet desSchwarzwassers und der Brahe die 112 km lange und 30-35 km breite,meist mit Kiefernwald bedeckte Tuchelsche Heide.

Tüchersfeld, Dorf im bayr. RegierungsbezirkOberfranken, Bezirksamt Pegnitz, in dem engen, romantischenTüchersfelder Thal der Fränkischen Schweiz, an derPüttlach, mit auf und unter den obeliskenartig aufsteigenden,seltsam gebildeten Kalkfelsen erbauten Häusern und (1885) 199kath. Einwohnern.

Tuchfarblg heißt im Stück nach dem Walkengefärbtes Tuch.

Tuchleder, s. v. w. Ledertuch.

Tückebote, s. v. w. Irrlicht.

Tuckerman (spr. tockermän), Henry Theodore,amerikan. Schriftsteller, geb. 20. April 1813 zu Boston, besuchte1833 Frankreich und Italien, 1837 England, Malta, Sizilien etc. undließ sich 1845 in New York nieder, wo er 17. Dez. 1871 starb.Seit W. Irving hat kaum ein Amerikaner im anmutigen undgefälligen Genre der nationalen SchriftstellereiGrößeres geleistet und als Kunstkritiker die Pflege derkünstlerischen Interessen der Republik in höherm Gradgefördert als T. Er debütierte als Autor mit dem mehrfachaufgelegten "Italian sketch-book" (1835), dem nach seiner zweitenReise "Isabel, or Sicily" (1839) folgte. Als gewiegter Kritikerthat er sich dann hervor in den Werken: "Thoughts on the poets"(1846; deutsch, Marb. 1857); "Artist life, or sketches of Americanpainters^ (1847); "Characteristics of literature" (1849-51, 2Serien) und "The optimist", Essays (1850). Außerdem sind zuerwähnen: das Reiseskizzenbuch "A month in England" (1853);"The leaves from the diary of a dreamer" (1853); "A memorial ofHoratio Greenough" (1853); "Biographical essays" (1857) und dastreffliche "Book of the artists", Charakteristiken amerikanischerKünstler (1867); endlich eine Biographie des Novellisten I. P.Kennedy (1871). Auch Poetisches, z. B. das didaktische Gedicht "Thespirit of poetry" (1851) und "Poems" (1864), hat T.veröffentlicht.

Tuckum, Kreisstadt in Kurland, westlich von Riga, mitwelchem es durch eine Eisenbahn verbunden ist, mit hebräischerKreisschule und (1885) 6678 Einw. Die vom Heermeister Gottfried vonRogge im 14. Jahrh. erbaute Ordensburg gleiches Namens istlängst in Trümmer gesunken. In der Nähe der BergHüning (250 m).

Tucopiainseln, drei östlich von dem SantaCruz-Archipel gelegene kleine Inseln: Tucopia, Anuda oder Cherryund Fataka oder Mitre, zusammen 66 qkm (1,2 QM.) mit 650polynesischen Einwohnern. Auf den T. lebte Martin Bucher, eindeutscher Matrose aus Stettin, 1813-26 mit einem indischenGefährten.

Tucson (spr. töcks'n), Hauptstadt des nordamerikan.Territoriums Arizona, am Santa Cruz, einem Nebenfluß derGila, in ergiebigem Bergbaurevier, mit (1886) 9000 Einw.

Tucuman (von tucma, "Baumwollland"), Binnenprovinz derArgentin. Republik, umfaßt 31,166 qkm (566 QM.) mit (1887)210,000 Einw., ist einer der gesegnetsten Teile des Staats mitlieblichem Klima, im W. von der malerischen Sierra de Aconquijadurchzogen, im O. aber fruchtbares, vom Rio Dolce bewässertesGelände, wo Mais, Weizen, Zuckerrohr, Reis, Tabak, Kaffeegedeihen. Baumwolle wird jetzt nur wenig gebaut. Überhauptsind 66,370 Hektar der Kultur gewonnen. Bedeutend ist auch dieViehzucht, und der nach einer ehemaligen Hacienda der Jesuitengenannte Tasikäse erfreut sich eines guten Rufs. Bergbau wirdnicht getrieben, obgleich verschiedene Metalle vorkommen. - DieHauptstadt T. liegt am Sil (obern Rio Dolce), 6 km vom Fußdes Gebirges, 450 m ü. M. und hat (1884) 26,300 Einw. Ihreöffentlichen Gebäude sind meist in sonderbar barockemGeschmack aufgeführt, dagegen sind viele der Privathäuserrecht hübsch und zeugen von Wohlstand. An der PlazaIndependenzia liegen die dorische Hauptkirche (1856 vollendet), dasCabildo (Regierungsgebäude), ein Klub und einFranziskanerkloster, an der Plaza Urquiza die Gerichtshöfe unddas Gefängnis. Ferner hat T. eine höhere Schule, einLehrerseminar, ein Theater, 2 Waisenhäuser, ein Hospital undein Versorgungshaus. Die Industrie ist vertreten durch 7Sägemühlen, 8 Kornmühlen und 3 Brauereien, und inder Umgegend liegen außer Orangewäldchen auchgroße Zuckerplantagen und Brennereien. T. wurde 1564gegründet. Am 24. Sept. 1812 siegte Belgrano in derbenachbarten Ebene über die Spanier, und 9. Juli 1816erklärte der in T. eröffnete Kongreß dieUnabhängigkeit der La Plata-Staaten.

Tudela, Bezirksstadt in der span. Provinz Navarra, linksam Ebro (mit breiter Steinbrücke von 17 Bogen) und an denEisenbahnen Saragossa-Alsasua und T.-Bilbao in fruchtbarer Ebenegelegen, mit sehenswerter romanischer Kathedrale, einem Instituto,gutem Weinbau, Fabrikation von Tuch, Seiden- und Thonwaren,lebhaftem Handel und (1878) 10,086 Einw. Südöstlich dabeidas große Schleusenwerk am Ebro (Bocal del Rey), wo derKaiserkanal von Aragonien beginnt. T. war von 1784 bis 1851Bischofsitz. Die Stadt wurde 1141 von Alfons V. den Maurenentrissen. Hier 23. Nov. 1808 Sieg der Franzosen unter Lannesüber die Spanier unter Palafox.

Tudor (spr. tjuhdor), engl. Dynastie, regierte von 1485bis 1603, leitete ihren Ursprung von einem Walliser Edelmann, Owenap Mergent (Meridith) ap T. (Theodor), ab, welcher 1422 Katharinavon Frankreich, die Witwe Heinrichs V. von England, heiratete unddadurch der Stiefvater Heinrichs VI. von England wurde. Sein SohnEdmund T., Graf von Richmond, vermählte sich 1455 mitMargarete von Beaufort, welche durch ihren Vater von Johann vonGent, dem Stammvater des Hauses Lancaster, abstammte, und der Sohndieser Ehe, Heinrich T., Graf von Richmond, bestieg, nachdem er beiBosworth 1485 dem König Richard III. aus dem Haus York Thronund Leben geraubt, als Heinrich VII. den englischen Thron, indem erzugleich durch seine Vermählung mit Elisabeth, derältesten Tochter Eduards IV. aus dem Haus York, dieAnsprüche der beiden Rosen in seiner Person vereinigte. Erhinterließ drei Kinder: Margarete, zuerst mit Jakob IV. vonSchottland vermählt und durch ihn

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd.

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Tudorblatt - Tugendbund.

Mutter Jakobs V. und Großmutter der unglücklichenMaria Stuart, nachher mit dem Grafen Douglas von Angusvermählt und durch ihn Mutter Margaretes, der Gemahlin desGrafen von Lennox, sowie Großmutter Heinrich Darnleys, desGemahls der Maria Stuart, so daß also der Sohn dieserletztern, welcher als Jakob I. 1603 den englischen Thron bestieg,väterlicher- wie mütterlicherseits der UrenkelMargaretes, der Tochter Heinrichs VII., war; Heinrich, der seinemVater als Heinrich VIII. (1509) in der Regierung folgte, welchenach seinem Tod (1547) nacheinander auf seine drei Kinder EduardVI. (1547-53), Maria (1553-58) und Elisabeth (1558-1603)überging; Maria, zuerst mit dem König Ludwig XII. vonFrankreich und nach dessen Tod 1515 mit Charles Brandon, Herzog vonSuffolk, vermählt, durch welche Ehe sie Großmutter derunglücklichen Johanna Gray wurde. Mit Eduard VI. starb derletzte männliche T.; nach dem Tod seiner Schwester Elisabeth1603 ging die Krone auf die Stuarts über.

Tudorblatt, ein der engl. Spätgotikeigentümliches, epheuähnliches Blatt, das in Firsten oderals Dachkamm oder als oberer Schmuck einer Krone häufigvorkommt (s. Abbild.). Als einzelnes Vierblatt gestaltet,heißt es auch Tudorblume.

[Tudorblatt.]

Tudorbogen, in der Baukunst ein gedrückterSpitzbogen, meist in England angewandt, deshalb auch englischerSpitzbogen genannt; s. Bogen, Fig. 9.

Tudorstil, in der engl. Baukunst die letzte Periode desgotischen Stils (ca. 1380-1540), s. v. w. Perpendikularstil (s.d.).

Tü-düc, Kaiser (Hoangti, d. h. Erdenwalter) vonAnam, geb. 1830, war der zweite Sohn des Kaisers Thinutri undhieß eigentlich Hoang-Nham. Mit Übergehung seinesältern Bruders, Hoang-Bao, ward er von seinem Vater zumNachfolger bestimmt und bestieg nach dessen Tod 1847 den Thron.Anfangs Freund der Christen, begann er sie 1848 zu verfolgen, alsder französische Missionsbischof Lefèvre sich fürseinen enterbten und in strenger Kerkerhaft gehaltenen Brudererklärte. Lefèvre rief nun die Einmischung Frankreichsan, das 1856 einen Gesandten an T. schickte. Als dieser die Annahmeeines Schreibens der französischen Regierung verweigerte, jasogar den Gesandten nicht landen ließ, bemächtigten sichdie Franzosen der Citadelle von Turan, räumten sie aber 1857wieder. Da die Christenverfolgungen fortdauerten und ein spanischerMissionsbischof, Diaz, hingerichtet wurde, nahm einfranzösisch-spanisches Geschwader 1858 von neuem Turan unddann 1859 Saigon, das T. 1862 an Frankreich abtreten mußte.In einem spätern Vertrag vom 15. März 1874 ward ergenötigt, die französische Schutzherrschaft anzuerkennenund den Franzosen die Häfen in Tongking zu öffnen. Alsein neuer Streit mit Frankreich auszubrechen drohte, starb T. 20.Juli 1883.

Tuff, in der Geologie oft gebraucht für lockereAbsätze aus Wasser (wie Kalktuff, Kieseltuff), besser aber zubeschränken auf die Bezeichnung des erhärteten,ursprünglich in Aschenform ausgestoßenen Materialsjetziger oder prähistorischer Vulkane (Diabastuff, Trachyttuffetc.).

Tüffer, Marktflecken in Steiermark,Bezirkshauptmannschaft Cilli, am linken Ufer des Sann und an derSüdbahn, hat ein Bezirksgericht, ein Schloß, Burgruinenund (1880) 706 Einw. Am rechten Sannufer das KaiserFranz-Josephsbad, mit drei indifferenten Thermen (35-39° C.)und Badehaus; unfern das Römerbad (slaw. Teplitz), inherrlicher Lage an der Südbahn, mit gleichartigen Thermen, guteingerichteten Bädern, Kurhaus etc. In der Umgebungbedeutender Braunkohlenbergbau (im Becken von T.-Hrastnigg-Trifail,jährliche Ausbeute über 4 Mill. metr. Ztr.), Glas- undChemikalienfabrik. Vgl. Brum, Das Mineralbad T. (Wien 1875).

Tuffkalk (Tuffstein), s. v. w. Kalktuff.

Tuffstein, s. v. w. Tuffkalk oder Kalktuff (s. d.), auchvulkanischer Tuff (s. Tuff).

Tuffwacke, s. v. w. Tuff.

Tugéla, Fluß in Südafrika, bildet dieGrenze zwischen Natal und dem Zululand, mündet in denIndischen Ozean.

Tugend, der Etymologie nach s. v. w. Tauglichkeit,Tüchtigkeit, dem jetzigen Sprachgebrauch nach insbesonderediejenige Tüchtigkeit, Ordnung und Harmonie des geistigenLebens, welche auf der zur Gewohnheit gewordenen Betätigungder sittlichen Freiheit und Thatkraft beruht. Der Begriff der T.entspricht durchaus dem Begriff des Sittengesetzes und dermoralischen Pflicht. Da nun diese in einer Mehrheit von Normenbestehen, insofern das Wollen und Handeln des Menschen aufverschiedene Interessen gerichtet sein kann, so pflegt man zwischender "T. im allgemeinen" und einzelnen "Tugenden" zu unterscheiden.Letztere lassen sich auf einige Hauptarten, die sogen.Kardinaltugenden (s. d.), zurückführen. Der Begriff derT. ist von den verschiedenen philosophischen Schulen immer nach dembestimmt worden, was ihnen als der Ausdruck des sittlichen Idealsgalt. Kant bestimmte die T. als moralische Stärke des Willensdes Menschen in Befolgung seiner Pflicht oder in der Unterordnungder Neigungen und Begierden unter die Vernunft.

Tugendbund, der "sittlich-wissenschaftliche Verein",welcher sich im Frühjahr 1808 zu Königsberg durch denZusammentritt einiger Männer (Mosqua, Lehmann, Velhagen, Both,Bardeleben, Baczko und Krug) bildete, 30. Juni vom Königgenehmigt wurde und sich zum Zweck setzte: die durch dasUnglück verzweifelten Gemüter wieder aufzurichten,physisches und moralisches Elend zu lindern, fürvolkstümliche Jugenderziehung zu sorgen, die Reorganisationdes Heers zu betreiben, Patriotismus und Anhänglichkeit an dieDynastie allenthalben zu pflegen etc. Diesen offenen Bestrebungenreihte sich die geheime Tendenz an, die Abschüttelung desfranzösischen Jochs anzubahnen. In Schlesien und in Pommernfand die Idee Anklang, weniger in der Mark, am wenigsten in Berlin.Übrigens wirkte manches zusammen, was einer größernAusbreitung des Vereins hinderlich ward. Viele ängstlicheVorsteher von Zivil- und Militärbehörden verboten ihrenUntergebenen den Beitritt. Andern erschienen die Statuten zu weitaussehend und unpraktisch; am meisten schadete dem Verein aber derUmstand, daß Preußen sich nicht schon 1809 der ErhebungÖsterreichs anschloß, und daß die SchillscheUnternehmung, die mit Unrecht dem T. aufgebürdet wurde,mißlang. Die Zahl der Teilnehmer belief sich auf 300-400.Unter ihnen fanden sich Namen wie Boyen, Witzleben, Grolman,

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Tugendrose - Tula.

v. Thile, v. Ribbentrop, Merkel, Ladenberg, Eichhorn, Manso u.a., wogegen mehrere, welche man als Hauptträger der ganzenIdee zu betrachten pflegt, wie Stein, Niebuhr, Gneisenau,Scharnhorst, nie zum Verein gehört haben. Am 31. Dez. 1809dekretierte der König auf Drängen Napoleons I. durch eineKabinettsorder die Auflösung des Vereins. Später wurdeder T. von der Reaktionspartei in Preußen wegenBeförderung der Demagogie verdächtigt. Vgl. Voigt,Geschichte des sogen. Tugendbundes (Berl. 1850); Baersch,Beiträge zur Geschichte des Tugendbundes (Hamb. 1852);Lehmann, Der T. (Berl. 1867).

Tugendrose, s. v. w. Goldene Rose.

Tuggurt, Hauptort der Oase Wad-Rir im algerischenDepartement Konstantine, in ungesunder, sumpfiger Lage, ist eineder Hauptetappen der Wüste, hat große Haine vonDattelpalmen (170,000), lebhaften Handel und 6000 Einw. (meistBerber). T. ward 1854 von den Franzosen erobert.

Tugra (türk.), Handzeichen des Sultans aufoffiziellen Aktenstücken, Münzen, auch als Insignie auföffentlichen Gebäuden angebracht, besteht eigentlich auskünstlich verschlungenen Linien in der Form einer offenenHand, von welcher drei Finger in die Höhe und je einer nachrechts und links laufen, enthält jetzt aber meist inverschlungenen Initialen die Namen des regierenden Fürsten undseines Vaters.

Tugraorden, türk. Orden, nach Vertreibung derJanitscharen von Sultan Mahmud II. bei Errichtung einerdisziplinierten Armee gestiftet, besteht in einem goldenen, vonDiamanten umgebenen Medaillon, in dessen Mitte die Tugra (s. d.)sich befindet.

Tuilerien (franz. Tuilerien, spr. tuile-), ehemaligerPalast in Paris, ward 1564 unter Katharina von Medici von PhilibertDelorme im Bau begonnen und in den folgenden Jahrhundertenstückweise, nach oft veränderten Plänen, vonverschiedenen Architekten vollendet, war zeitweilig Residenz, soLudwigs XV. während seiner Minderjährigkeit und LudwigsXVI. von 1789 bis 1792, dann ständige Residenz Napoleons I.und der folgenden Herrscher Frankreichs. Napoleon III. ließdie T. mit dem Louvre (s. d.) in Verbindung bringen. Ende Mai 1871wurden die T. von den Kommunarden in Brand gesteckt und lagen langein Ruinen. In neuester Zeit wurden der nördliche undsüdliche Flügel wiederhergestellt, wogegen die Reste desHaupttraktes 1883 gänzlich abgetragen wurden. Westlich von denT. liegt der vielbesuchte Tuileriengarten. Vgl. auch Paris, S.722.

Tuisco (Tuisto), der erdgeborne Gott, welchen die altenGermanen nach Tacitus' Bericht ("Germania", Kap. 2) als den erstenUrheber ihres Volkes besangen. In seinem Namen liegt der Begriffdes Zwiefachen, Zwiegeschlechtigen: er erscheint als einezwitterhafte Gottheit, welche noch die männliche (zeugende)mit der weiblichen (empfangenden) Kraft in sich verbindet und soaus sich selbst den Mannus (s. d.), das erste Wesen inMenschengestalt, zeugt.

Tukan (Ramphastus L.), Gattung aus der Ordnung derKlettervögel und der Famtlie der Pfefferfresser(Ramphastidae), Vögel mit auffallend großem, am Grundsehr dickem, gegen das Ende hin stark Zusammengedrücktem, aufder Firste scharfkantigem Schnabel, dessen Wandungen sehr dünnsind und ein schmales, großmaschiges Knochennetzumschließen, so daß der Schnabel sehr leicht ist. DieZunge ist schmal, bandartig, hornig, am Rand gefasert; dieabgerundeten Flügel reichen nur bis zum Anfang des kurzen,breiten, stumpf gerundeten Schwanzes. Die starken, langzehigenLäufe sind vorn und hinten mit tafelförmigenGürtelschildern versehen. Das Gefieder zeigt auf meistschwarzem Grund sehr lebhafte Farben; auch die Augen, Beine und derSchnabel sind glänzend gefärbt. Die Tukane leben in densüdamerikanischen Urwäldern, nähren sich vonFrüchten und Fruchtkernen, richten in den Bananen- undGuavapflanzungen großen Schaden an, fressen auch Eier undjunge Vögel, sollen zwei Eier in hohle Bäume oderBaumäste legen und werden ihres Fleisches und der Federnhalber in Menge gejagt. Der Pfefferfresser (Toko, Ramphastus TocoL., s. Tafel "Klettervögel"), 58 cm lang, schwarz, an Kehle,Vorderhals, Wangen und Oberschwanzdeckfedern weiß, amBürzel blutrot, mit orangerotem Schnabel, der an der Spitzedes Unterkiefers feuerrot, an der Spitze des Oberkiefers schwarzist, dreieckigem, gelbem Fleck vor dem Auge, blauem Augenring,dunkelgrünem Auge und hellblauem Fuß, bewohnt diehöher gelegenen Teile Südamerikas von Guayana bisParaguay, be^ sonders bewaldete Flußufer und die offeneSavanne, welche er in kleinen Trupps durchschweift; er hältsich gewöhnlich hoch oben in den Waldbäumen auf, istbeweglich, scheu, neugierig und mordlustig. In der Gefangenschafterscheint er sehr anziehend. In Europa sieht man oft mehrere Artenin den zoologischen Gärten. Man jagt die Tukane des Fleischesund der schönen Federn halber. Die Eingebornen erlegen sie mitganz kleinen Pfeilen, welche mit äußerst schwachem Giftbestrichen sind, so daß der Vogel nur betäubt wird und,nachdem er seiner wertvollsten Federn beraubt ist, sich wiedererholt und davonfliegt, um später vielleicht abermalsgeschossen zu werden. Vgl. Gould, Monograph of the Ramphastidae (2.Aufl., Lond. 1854-55, 3 Tle.).

Tula, Zentralgouvernement Großrußlands,grenzt im N. an das Gouvernement Moskau, im O. an Rjäsan undTambow, im S. an Orel, im W. an Kaluga, umfaßt 30,959,2 qkm(562,25 QM.). Das Land ist im allgemeinen eben und flach, mit nureinigen Hügeln an den Ufern der Oka und Upa. Der Untergrundist devonischer Formation, an der Oka lehmiger, gelber undgrünlicher Mergel, gemischt mit unreinem, sandigem Kalkstein;in den Flußthälern im südlichen Teil desGouvernements tritt Kalkstein der obern Schicht der devonischenFormation zu Tage, und an der Upa und dem Osetr sind ergiebigeSteinbrüche. Der Boden ist von sehr geringer Fruchtbarkeit,doch findet sich in mehreren Kreisen fruchtbare Schwarzerde(Tschernosem). Das Areal setzt sich zusammen aus 73,4 Proz. Acker,10,5 Wald, 10,7 Wiese und Weide, 2,4 Proz. Unland. Von Flüssensind erwähnenswert: die Oka (teilweise Grenzfluß gegenW. und N.), der Osetr, die Plawa, die Upa und der Don. Das Klimaist mild und gesund. Die Einwohnerzahl beläuft sich auf (1885)1,409,432 (45 pro Quadratkilometer), die fast nur Großrussensind. Die Zahl der Eheschließungen war 1885: 11,043, derGeburten 73,017, der Sterbefälle 56,589. Hauptprodukte sind:Getreide, Runkelrüben, Tabak, Ölpflanzen, währendFlachs und Hanf minder gute Ernten geben. Die Ernte betrug 1887: 6Mill. hl Roggen, 7-8 Mill. hl Hafer, 3,6 Mill. hl Kartoffeln, andreCerealien in bedeutend geringerer Menge. Die Viehzucht wird imganzen Gouvernement sehr schwach betrieben; seit neuester Zeitfindet die Bienenzucht starke Verbreitung. Der Viehstand beziffertesich 1883 auf 203,495 Stück Rindvieh, 380,622 Pferde, 780,935grobwollige Schafe, 94,096 Schweine. Dagegen ist neben derLandwirtschaft die Fabrikthätigkeit sehr entwickelt. Sie geht(1884) in 558 gewerblichen Anstalten mit 11,790 Arbeitern vor sichund bringt für

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Tula - Tulipa.

28½ Mill. Rubel Waren hervor. BemerkenswerteIndustriezweige sind: Rübenzuckerfabrikation und Raffinerie(2,3 Mill. Rub.), Kupferverarbeitung (1 1/2 Mill.),Branntweinbrennerei (1,2 Mill. Rub.), Gewehr- undPatronenfabrikation, Lederindustrie, Getreidemüllerei,Schlosserindustrie, Stärkefabrikation, Verfertigungmusikalischer Instrumente (besonders Harmoniken), Ziegeleien.Trotzdem suchen jährlich sehr viele Bauern in andernGouvernements Arbeit. Der Handel vertreibt Getreide,Schweinsborsten, Runkelrüben, Eisen-, Stahl- und Bronzewarenund hat seinen Hauptsitz in der Stadt T. und in Bjelew.Bildungszwecken dienen (1885) 728 Elementarschulen mit 39,270Schülern, 12 mittlere Lehranstalten mit 2572 Schülern und5 Fachschulen mit 672 Lernenden (darunter ein geistliches Seminar,eine Feldscher- und eine Hebammenschule). Im Tulaischen befindensich einige alte Erdwälle (Gorodischtschi) und Kurgane, Zeugender mit den Litauern und Tataren hier geführten Kämpfe.T. zerfällt in zwölf Kreise: Alexin, Bjelew, Bogorodizk,Epifan, Jefremow, Kaschira, Krapiwna, Nowosil, Odojew, Tschern, T.und Wenew. Die gleichnamige Hauptstadt, an der Upa, Knotenpunkt derEisenbahnen Moskau-Kursk und Wjasma-Rjaschsk, eine dergewerbthätigsten Städte des russischen Reichs, hat 28Kirchen (darunter die Himmelfahrtskirche und dieAllerheiligenkirche), 2 Klöster, und unter den sonstigenöffentlichen Bauten ragen hervor das Exerzierhaus und dieGouvernementsgebäude. Die Zahl der Einwohner betrug 1885:63,928. Die Bedeutung der Stadt beruht vornehmlich auf dergroßen kaiserlichen Gewehrfabrik, die 1712 von Peter I.gegründet wurde, jetzt über 7000 Arbeiterbeschäftigt und jährlich 70,000 Gewehre, eine großeMenge blanker Waffen sowie treffliche andre Stahl- und Eisenwarenliefert. Die tulaischen Waren aus Stahl und Eisen (physikalischeund mathematische Instrumente, Messer, Scheren, Zangen etc.), ausWeißkupfer und andern Kompositionen, vorzüglich demsogen. Tulametall (s. Niello), wie Theemaschinen, Dosen undGalanteriewaren, sind berühmt. Ferner sind noch hervorzuhebendie großen Gerbereien, Talgschmelzereien, Fabrikation vonSeife, Kerzen, Siegellack etc. (im ganzen 133 Fabriken). T. istBischofsitz, hat ein klassisches Gymnasium, eine Realschule, einMilitärgymnasium, ein Mädchengymnasium, ein geistlichesSeminar und mehrere andre Lehranstalten, ein Armen-, Zucht-,Arbeits- und Findelhaus, ein Arsenal, ein Museum einheimischerIndustrieprodukte, ein Theater. Die Stadt wird zuerst im 12. Jahrh.erwähnt.

Tula, Stadt im mexikan. Staat Hidalgo, 2080 m ü. M.,am Rio de T. und an der Eisenbahn nach Mexiko, angeblich die alteHauptstadt der Tolteken, mit Baumwollfabrik und (1880) 5834Einw.

Tulacingo (spr. -ssingo), Stadt im mexikan. StaatHidalgo, 1820 m ü. M., in reizender Vega, hat eine Kathedrale,ein bischöfliches Seminar, eine Baumwollfabrik und (1880) 9739Einw. im Munizipium.

Tulametall, s. v. w. Niello.

Tularesee, See im S. des nordamerikan. StaatsKalifornien, 1683 qkm groß, wird vom Kernfluß gespeistund hat durch einen Sumpf periodischen Abfluß zum St.Joaquinfluß.

Tulasne (spr. tülahn), Louis René, Botaniker,geb. 12. Sept. 1815 zu Azay le Rideau (Indre-et-Loire), warAide-naturaliste am Museum der Naturgeschichte zu Paris, trat 1872in den Ruhestand und starb 22. Dez. 1885 in Hyeres. Seine erstenArbeiten bezogen sich auf Systematik der Phanerogamen (Leguminosen,Podostemaceen, Monimiaceen); dann veröffentlichte er mitseinem Bruder Charles T. (geb. 5. Sept. 1816 zu Langeais imDepartement Indre-et-Loire) mykologische Arbeiten, durch welche dieKenntnis mehrerer Familien der Pilze, besonders der kleinernparasitischen Pilze, wesentlich vervollkommt, insbesondere diePleomorphie der Fruktifikationsorgane und der Generationswechseldieser Pilze, zumal der Pyrenomyceten und Diskomyceten,nachgewiesen wurden. Außer zahlreichen Abhandlungen schrieber: "Fungi hypogaei" (Par. 1851) und "Selecta fungorum carpologia"(das. 1861-65, 3 Bde.).

Tulbau (Tulbend), s. v. w. Turban.

Tulcan, Stadt im südamerikan. Staat Ecuador, 2077 mü. M., dicht bei der Grenze von Kolumbien, am Nordfußdes 3405 m hohen Passes Paramo de Balicho, mit 4000 Einw.

Tulcea, Stadt, s. Tultscha.

Tulipa L. (Tulpe), Gattung aus der Familie der Liliaceen,Zwiebelgewächse mit riemenförmigen oderlineal-lanzettlichen, häufig blaugrünen Blättern,einblütigem Stengel, sechsblätteriger, glockigerBlütenhülle u. oblonger oder verkehrt-eiförmiger,stumpf dreikantiger, vielsamiger Kapsel. Etwa 50 Arten, meist imOrient. T. silvestris L. (wilde Tulpe), mit breitlineal-lanzettlichen Blättern und gelben, äußerlichgrünen, wohlriechenden Blüten, wächst in Süd-und Mitteleuropa und in Sibirien auf Waldwiesen und in Weinbergen.T. suaveolens Roth, mit sehr kurzem Stengel und roten, am obernRand gelben, wohlriechenden Blüten, findet sich inSüdeuropa und wird in mehreren Varietäten, auch mitgefüllten Blumen kultiviert; eine der beliebtesten Formen istDuc van Toll. Auch von T. praecox Tenor, bei Neapel, und T. turcicaW., in der Türkei, hat man Varietäten (von letzterer dieMonströsen oder Perroquetten mit zerschlitztenBlumenblättern). Viel wichtiger aber ist T. Gesneriana L.(Gartentulpe), mit 30-45 cm hohem Schaft, eirund-lanzettlichenBlättern und ursprünglich karmesinroten, im Grundgelblichen Blüten. Sie ist in Südosteuropa, bis zum Altaiund zur Dsungarei heimisch, kam durch Busbecq, den GesandtenFerdinands I. in Konstantinopel, wo sie damals schon von denTürken kultiviert wurde, nach dem westlichen Europa,blühte 1560 in Augsburg, wurde von Gesner zuerst gezogen undbeschrieben, kam 1573 an Clusius in Wien, 1577 nach England undBelgien und ward schon 1629 in 140 Spielarten kultiviert. 1634-40erreichte in Haarlem die Tulpenliebhaberei ihren Gipfel, und manzahlte für eine einzige Zwiebel bis 13,000 holländ.Gulden; es gab Sammlungen mit mehr als 500 klassifiziertenVarietäten. Gegenwärtig ist die Zahl der verbreiteternVarietäten verhältnismäßig niedrig. Manunterscheidet als Hauptvarietäten Früh- undSpättulpen. Die frühen Tulpen, mit kürzerm Stengel,blühen an einem warmen Standort schon im April oder nochfrüher und lassen sich sehr gut treiben. Ihre Hauptfarbensind: Weiß, Gelb, Rot und Purpurrot, einfarbig oderschön geflammt. Die Spättulpen teilen dieholländischen Blumisten in einfarbige (Exspektanten oderMuttertulpen, welche anfangs nur eine Farbe haben, nach 2-4 Jahrenaber nach und nach mehr Illuminationsfarben annehmen und aus denSamen neue bunte Sorten liefern) und bunte und gestreifte Tulpen.Nach der Beschaffenheit ihrer Zeichnung teilt man letztere inBaquetten, Bybloemen und Bizarden. Die gefüllt blühendenVarietäten werden von den Blumisten den einfachen nachgesetzt.Die Monströsen (Perroquet- oder Papa-

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Tüll - Tümpling.

geientulpen) haben sehr große, unförmliche Blumen vonschöner Farbe (gelb und rot), mit weit abstehenden, zerrissengefransten Kronblättern. Die Kultur stimmt im wesentlichen mitder der Hyazinthen überein. Die zur Erlangung neuer Spielartenaus Samen gezogenen Tulpen blühen meist erst im siebentenJahr.

Tüll, Gewebe, bei welchen feine, untereinander gutgebundene Fäden regelmäßige Zellen bilden, indem jezwei beisammenliegende Kettenfäden nach jedem Einschußsich kreuzend verschlingen. T. wird aus Gespinsten vonverschiedener Feinheit (bis zu Nr. 120) gewebt und kommt glatt undeinfach oder gestreift, gemustert, in Seide broschiert oder auchauf weißem oder schwarzem Grund mit bunten Blumen gesticktvor. Englischer T., s. v. w. Bobbinet.

Tullamóre, Hauptstadt der irischen King's County,hat lebhaften Handel, Brennerei, Tabaksfabrikation und (1881) 5098Einw. Dabei Tullabeg mit Jesuitenschule.

Tulle (spr. tüll), Hauptstadt des franz.Departements Corrèze, früher Hauptstadt vonNiederlimousin, am Einfluß der Solane in die Corrèzeund an der Eisenbahn Clermont-Brive, hat meist alte Häuser undabschüssige Straßen, aber schöne Promenaden, eineKathedrale aus dem 12. Jahrh., ein Kommunalcollège, einPriester- und ein Lehrerseminar, eine Gewerbeschule, eineöffentliche Bibliothek und ein Theater. T. hat einegroße Waffenfabrik, dann Fabriken für Papier, Leder,Woll- und Baumwollenzeuge, Eisenwaren, Schokolade etc.,Färbereien, starken Handel und (1886) 8974 (als Gemeinde16,277) Einw. Die Fabrikation der nach der Stadt benannten Spitzen(Plisse de T.) hat aufgehört. Die Stadt ist der Sitz einesBischofs, eines Präfekten, eines Gerichts- und Assisenhofs undeines Handelsgerichts. In der fränkischen Zeit kommt T. alsTutela vor.

Tullins (spr. tüllang), Stadt im franz. DepartementIsère, Arrondissem*nt St.-Marcellin, an der EisenbahnValence-Chambéry, hat Fabrikation von Maschinen,Bändern, Packpapier, wollenen Decken etc. und (1881) 3342Einw.

Tullius, röm. Geschlecht, dem unter andern dieplebejische Familie der Ciceronen angehörte. S. Cicero.

Tulln, Stadt in der niederösterreich.Bezirkshauptmannschaft Hernals, an der Mündung der beidenTullnbäche in die Donau und an der StaatsbahnWien-Gmünd-Prag, welche hier die Donau auf einer großenGitterbrücke überschreitet, und an welche hier die LinieT.-St. Pölten anschließt, hat ein Bezirksgericht, 2Kirchen, eine alte Dreikönigskapelle, Kasernen, Schiffahrt und(1880) 3234 Einw. T. ist eine der ältesten Städte an derDonau, das Comagenä der Römer, Standort ihrerDonauflotte. Nach dem Nibelungenlied empfing hier Etzel Kriemhild.Die fruchtbare Umgebung der Stadt heißt das Tullner Feld.Vgl. Kerschbaumer, Geschichte der Stadt T. (Wien 1874).

Tüllpapier, s. v. w. Spitzenpapier.

Tullus Hostilius, der dritte röm. König,672-640 v. Chr., Nachfolger des Numa Pompilius, Enkel des HostiusHostilius, der unter Romulus gegen die Sabiner gekämpft hatte,zerstörte Albalonga und siedelte die Einwohner auf dem MonsCälius in Rom an. Auch mit den Sabinern führte T.glückliche Kriege. Da er aber den Dienst der Göttervernachlässigte, so schickten diese erst einen Steinregen,dann eine Pest und schlugen ihn endlich selbst mit einer schwerenKrankheit, und als er deshalb den Jupiter Elicius durch gewissegeheime Gebräuche nötigen wollte, ihm die Mittel derSühne zu offenbaren, traf ihn Jupiters Blitz, der ihn und seinHaus verbrannte.

Tuloma, Fluß im russ. Lappland, kommt aus demNuotsee, fließt nordöstlich und mündet unterhalbKola in eine tiefe Bucht des Eismeers.

Tulpe, s. Tulipa.

Tulpenbaum, Pflanzengattung, s. Liriodendron.

Tultscha (Tulcea), Hauptstadt eines Distrikts in derrumän. Dobrudscha, rechts an der Donau, welche sich in derNähe der Stadt in ihre drei Hauptmündungsarme teilt, hat7 Kirchen, darunter eine armenische und eine katholische, 2Moscheen, ein Gymnasium, einen stark besuchten Hafen und 21,826Einw. (darunter 3000 Russen, 1600 Griechen, 800 Türken, 700Tataren, 200 Deutsche). T. ist Sitz eines Divisionskommandos.Zwischen Matschin und T. 9. Juni 1791 Sieg der Russen unter Repninüber 20,000 Türken.

Tulu, drawidische Volkssprache in Südindien (s.Drawida), in und um Mangalur, mit eignem, aber mit derSanskritschrift verwandtem Alphabet, nur von etwa 30,000 Menschengesprochen. Vgl. Brigel, Grammar of the T. language (Mangalur1872).

Tulucunaöl, s. Carapa.

Tulumbadschi (türk.), Name der Feuerwehr inKonstantinopel, die seit alten Zeiten ein strenges Zunftwesenbildete und ihre Hilfe für Geld verdingte. In neuerer Zeit hatdie Pforte eine Umgestaltung der T. nach europäischem Musterveranlaßt, welche von dem Grafen EdmundSzéchényi ins Werk gesetzt wurde.

Tuluniden, die älteste selbständige arab.Dynastie in Ägypten, nach ihrem Gründer Achmed ibn Tulun(gest. 888) genannt, herrschte 872-904.

Tum, ägypt. Gott in menschlicher Gestalt mit derPschentkrone abgebildet (s. Figur) ist eine Form des Sonnengottes,die besonders in Heliopolis verehrt wurde. Wie Ra die Sonne desTags ist, so T. die der Nacht, welche die untere Hemisphäreerleuchtet.

[Tum.]

Tumaco, Bai und kleine Hafenstadt auf gleichnamiger Inselim Staat Cáuca der Republik Kolumbien, am Stillen Ozean, mitZollhaus und (1870) 2642 Einw. Es ist der Hafen vonBarbacóas.

Tumba (lat.), ein kistenartiges oder auf Füßenruhendes Grabdenkmal.

Túmbes, Hafenort im Departement Piura (Peru), amFluß gleiches Namens, mit (1876) 1851 Einw. Hier landete 1527Pizarro.

Tumerikwurzel, s. Curcuma.

Tumlung, siames. Münze, = 4 Bat od. Tikal (s.d.).

Tummler (niederd., hochd. Taumler), einhalbkugelförmiges, henkel- u. fußloßesGlasgefäß zum Trinken, welches sich, zur Seite gelegt,wieder aufrichtet, im Volksmund auch Stehauf genannt (s.Abbildung).

[Tummler.]

Tümmler, s. Delphine (S. 652) und Tauben (S.536).

Tumor (lat.), Geschwulst; T. albus, Gliedschwamm.

Tümpling, Wilhelm von, preuß. General, geb.30. Dez. 1809 zu Pasewalk, studierte anfangs die

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Tumult - Tungusische Sprache

Rechte, trat 1830 in das Regiment Garde du Korps ein und machtespäter seine Karriere hauptsächlich im Generalstab. Von1853 an kommandierte er die Gardekürassiere, von 1854 an das1. Gardeulanenregiment, als Oberst dann die 11. Kavalleriebrigade.1863 führte er als Generalleutnant die 5. Division nachSchleswig-Holstein, kommandierte dieselbe Division mit Auszeichnungim österreichischen Feldzug 1866, in dem er bei Gitschin 29.Juni schwer verwundet wurde, und erhielt zu Beginn des Kriegs von1870/71 als General der Kavallerie das Kommando des 6. Armeekorps,fand aber wenig Gelegenheit, sich auszuzeichnen. 1883 zurDisposition gestellt, starb er 13. Febr. 1884 in Thalstein beiJena.

Tumúlt (lat.), s. v. w. Aufruhr; tumultuarischesVerfahren, diejenige Behandlung eines Prozesses, in welcher dieprozessualischen Handlungen nicht in der ordnungsmäßigenReihenfolge geschehen.

Tumulus (lat.), Erd-, Grabhügel; s. Gräber,prähistorische.

Tun (spr. tönn), engl. Flüssigkeitsmaßfür Wein, = 252 Gallons, für Bier = 216 Gallons (s.d.).

Tûn, ansehnliche Stadt in der pers. ProvinzChorasan, unter 34° nördl. Br. gelegen und mit einemfür jene wüsten Gegenden bedeutenden Kulturgürtelumgeben. Obwohl eine der festesten Städte Persiens, vermag siedoch einem regelrechten Angriff nicht standzuhalten, weil die Werketotal vernachlässigt sind. Sie mißt ca. 6 km im Umfang(wovon jedoch nur etwa ein Achtel mit Häusern bedeckt ist) undzählt etwa 8000 Einw. Produziert wird viel Tabak, Opium undauch Seide.

Tunbridge (Tonbridge, spr. tönnbriddsch), Stadt inder engl. Grafschaft Kent, am schiffbaren Medway, hat eine 1554gegründete Lateinschule, ein Schloß mitnormännischem Thorweg, Fabrikation von lackierten Holz- undDrechslerwaren und (1881) 9317 Einw.

Tunbridge Wells (spr. tönnbriddsch), Stadt in derengl. Grafschaft Kent, 8 km südlich von Tunbridge, nächstBath der älteste Badeort Englands, aber mehr wegen seinerguten Luft als seiner Stahlquellen besucht, hat einen Kursaal,Badeanstalten, zahlreiche Villen, liegt malerisch auf dreiHügeln, hat Fabrikation von lackierten Holz- undDrechslerwaren und (1881) 24,309 Einw.

Tundra ("Moossteppe"), die im nördlichsten Asien undEuropa jenseit der Baumgrenze gelegenen weiten Landstrecken mitkümmerlichem Pflanzenwuchs, der hauptsächlich aus Moosenund Flechten besteht. Bedingt wird diese mangelhafte, mit einemVorwiegen der Kryptogamenflora und einem Zurücktreten derPhanerogamen verbundene Entwickelung der Vegetation einerseitsdurch die Bodenform und Höhenlage der betreffenden Gebiete,anderseits durch das Klima und die mangelhafte Wirkung derSonnenstrahlen. Letztere vermögen den Boden nur bis zu sehrgeringer Tiefe aufzutauen, die Luft nur dicht am Boden zuerwärmen, so daß die Existenz tiefwurzelnder undhochstämmiger Pflanzen unmöglich wird. In neuester Zeitwird der Name T. auch auf die gleichartigen Barren Grounds vonNordamerika angewandt.

Tundscha, Fluß in Ostrumelien, entspringt auf demBalkan bei Kalifer, fließt erst östlich zwischen Balkanund Tscherna Gora, dann südlich und fällt bei Adrianopellinks in die Maritza.

Tunesien, s. Tunis.

Tungbaum, s. Aleurites.

Tungrer (Tungri), german. Völkerschaft in GalliaBelgica, welche die Sitze der 53 vernichteten Eburonen an dermittlern Maas einnahm, mit dem Ort Aduatuca Tongrorum (jetztTongern).

Tungstein, s. Scheelit.

Tungsteinsäure, s. Wolfram.

Tungting, See, s. Hunan.

Tunguragua, Provinz des südamerikan. Staats Ecuador,umfaßt die Hochebene von Ambato (2573 m) und den Ostabhangder Kordillere und hat ein Areal von 5050 qkm (91,7 QM.) mit (1885)79,526 Einw. Genannt ist die Provinz nach dem noch thätigenVulkan von T. (5087 m) in der östlichen Kordillere. Hauptstadtist Ambato.

Tunguragua, 1) Vulkan der Kordilleren im sudamerikan.Staat Ecuador, nordöstlich von Riobamba, 5087 m hoch; 1873 vonA. Stübel zum erstenmal bestiegen. Ein furchtbarer Ausbruch,bei welchem mehrere Berggipfel zusammenstürzten, erfolgte1797. -

2) Fluß, s. Amazonenstrom, S. 444.

Tungusen (s. Tafel "Asiatische Völker", Fig. 11),zur mongol. Rasse gehöriges Jägernomadenvolk in Sibirien,das in ganz Ostsibirien verbreitet ist und in zahlreiche, nachSprache und Sitte mehr oder weniger weit auseinander gegangeneStämme zerfällt. Ihre eigentliche Heimat scheint dasAmurland zu sein, in welchem sie das höchste Maß derihnen bisher zugänglichen Kultur erreicht, und von wo aus siesich bis zum Jenissei, den Eismeerküsten und Kamtschatkaverbreitet haben. Sie sind von mittlerm Wuchs mitverhältnismäßig ziemlich großem Kopf, breitenSchultern, etwas kurzen Extremitäten und kleinen Händenund Füßen; ihre Konstitution ist eine trockne, hagere,sehnig-muskulöse; fettleibige Gestalten findet man unter ihnennicht. Die Hautfarbe ist mehr oder weniger gelbbräunlich, dasAuge braun, das Haar schwarz, schlicht, struppig und stark, dasBarthaar auf Lippen, Backen und Kinn sehr spärlich; dieKopfbildung ist entschieden, wenn auch abgeschwächt,mongolisch. Das Gesicht trägt den Ausdruck derGutmütigkeit und Indolenz. Ihre Zahl wird auf 70,000geschätzt. Unter den verschiedenen Stämmen lassen sich insprachlicher Beziehung vier Gruppen bilden: 1) Dauren und Solonen,Stämme mit starker mongolischer Beimischung; 2) Mandschu,Golde, Orotschen; 3) Orotschonen, Manägirn, Biraren, Kile; 4)Oltscha, Oloken, Negda, Samagirn (s. Tungusische Sprache). Diebeiden ersten Gruppen bilden den südlichen odermandschurischen Ast des tungusischen Volksstammes, die beidenandern umfassen Zweige seines nördlichen, bis zum Jenissei,dem Eismeer und Kamtschatka verbreiteten sibirischen Astes. DerHauptreichtum der T. ist das Renntier, die Jagd auf Pelztiere ihreHauptbeschäftigung; ihre Hauptnahrung besteht in Fleisch undMilch des Renntiers, getrockneten Fischen, einer Art Käse undButter u dgl. Ihre Kleidung setzt sich zusammen aus Beinkleidern,der Parka, einer Art Bluse, die vorn geschlossen ist und überden Kopf weg angelegt wird, der Dacha, einem Mantel ohneÄrmel, alles aus Renntierfell, wobei die beiden letzternStücke mit den Haaren nach außen getragen werden. Dazueine Pelzmütze und Stiefel und Strümpfe von demselbenMaterial wie Parka und Dacha. Wenige T. sind Christen, die Mehrzahlbekennt sich zum Schamanismus. Vgl. Hiekisch, Die T. (2. Aufl.,Dorpat 1882); F. Müller, Unter T. und Jakuten (russischeOlenek-Expedition, Leipz. 1882); Schrenck, Die Völker desAmurlandes (St. Petersb. 1881).

Tungusische Sprache. Tungusisch im weitern Sinn heißenalle zur tungusischen Gruppe des uralaltaischen Sprachstammes(s. d.) gehörigen Sprachen, von denen die Mandschusprache (s.d.) die hervorra-

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Tunguska - Tunikaten.

gendste ist. Im engern Sinn versteht man darunter die Spracheder Orotschonen und andrer in Sibirien lebender Stämme, dievon Castren ("Grundzüge einer tungusischen Sprachlehre",Petersb. 1856) und Schiefner (im "Bulletin der PetersburgerAkademie" 1859) grammatisch bearbeitet worden ist.

Tunguska (Obere T.), Fluß, s. Angara.

Tunika (lat.), röm. Kleidungsstück fürMänner und Frauen, das unter der Toga unmittelbar auf demKörper getragen wurde. Sie wurde über den Hüftendurch einen Gürtel zusammengehalten und reichte bis unter dieKniee herab. Sie war von weißer Wolle gefertigt und anfangsohne Ärmel; später wurden kurze, nicht bis an dieEllbogen reichende Ärmel üblich. Die Frauen trugenüber der innern, ärmellosen T. noch eine zweite mitÄrmeln (stola), die den halben Oberarm bedeckte und nach derAußenseite einen durch Agraffen (tibulae) zusammengehaltenenSchlitz hatte. Die T. der Knaben und Soldaten war hochrot (tunicarussa). An der T. der Senatoren war in der Mitte von der Brustherab bis zum untern Saum ein Purpurstreif angewebt (t.laticlavia); die der Ritter war durch zwei dergleichen schmaleStreifen ausgezeichnet (t. angusticlavia), doch trugen letztere zurKaiserzeit auch die t. laticlavia. Die Triumphatoren trugenPurpurtuniken, auf deren Saum Palmen in Gold gestickt waren (t.palmata). Die einfarbige, unverzierte T. (t. recta) erhielten dieJünglinge zugleich mit der toga virilis und Jungfrauen, wennsie heirateten, als Brautkleid von ihren Eltern. - Die T. derrömischen Bischöfe ist ein leinenes Gewand vonweißer Farbe, das bis auf die Füße reicht unddurch das Cingulum (s. d.) um die Hüften festgehaltenwird.

Tunikaten (Tunicata Lam., Manteltiere), hoch entwickelteSeetiere, deren meist sack- oder tonnenförmiger Körpervon einem Mantel, d. h. einer eigentümlichen, oftaußerordentlich dicken, bald gallertigen, bald lederartigenoder knorpeligen Hülle, umgeben ist (s. Tafel "Mollusken undTunikaten"). Diese wird von der eigentlichen Haut des Tiersabgeschieden und enthält einen der pflanzlichen Celluloseungemein nahe verwandten Stoff. Sie besitzt zwei Öffnungen,die eine zur Einfuhr von frischem Wasser mit den in ihmbefindlichen Nahrungssubstanzen, die andre zur Entfernung des zumAtmen unbrauchbar gewordenen Wassers sowie der Exkremente, Eieretc. Beide Öffnungen liegen entweder einander sehr nahe oderan den entgegengesetzten Körperenden und sind durch Muskelnmehr oder weniger verschließbar. Der Innenfläche desMantels, welcher zu seiner Ernährung vonBlutgefäßen durchzogen wird, liegt die Hautschicht desTiers dicht an. Von ihr umschlossen ist im Vorderende die sehrgeräumige Atemhöhle, in welcher das aufgenommene Wassermit der in ihr befindlichen Kieme in Berührung kommt und sodie Atmung vermittelt. Die Kieme selbst besteht bei vielen T. auseinem grobmaschigen Sack, bei andern aus einem hohlen Cylinder mitdurchbrochener Wandung oder einfach aus einer dünnen, in derAtemhöhle ausgespannten Scheidewand mit vielen Lücken. Inallen Fällen bewegt sich das Wasser, durch zahlloseFlimmerhaare in fortwährender Strömung längs denWandungen der Kieme erhalten, vom Vorderende weiter nach hinten, woim Grunde der Atemhöhle der eigentliche Mund des Tiers liegt.Die Nahrungsteilchen, welche es mitbringt, werden aber schon vonder Eingangsöffnung ab durch eine besondere Flimmerrinne,welche einen zähen Schleim zu ihrer Festhaltung absondert, demMund zugeführt und gelangen darauf in den Magen. Der Darmendet durch den After entweder direkt in den hintern Teil derAtemhöhle oder in einen besondern Abschnitt derselben, diesogen. Kloake. Neben dem Darm liegt das dünnwandige,beutelförmige Herz. Das Blut wird von demselben einige Minutenin den Gefäßen in einer bestimmten Richtungvorwärts getrieben, hört dann kurze Zeit ganz zufließen auf und zirkuliert darauf in der entgegengesetztenRichtung, so daß die kurz vorher als Arterien fungierendenGefäße nun zu Venen werden und umgekehrt. DasNervensystem besteht in der Hauptsache aus einem zwischen Einfuhr-und Ausfuhröffnung gelegenen Ganglion, in dessen Nähesich meist ein Auge sowie ein Gehörbläschen befindet.Über die Niere ist nichts Genaueres bekannt. DieGeschlechtsorgane sind im allgemeinen einfach gebaut. Alle T. sindim anatomischen Sinn Zwitter, befruchten sich jedoch nicht selbstund haben gewöhnlich auch nicht einmal zu gleicher Zeit reifeEier und reifen Samen, sondern vielfach erstere früher alsletztern. Außer der geschlechtlichen Fortpflanzung ist abernoch die ungeschlechtliche durch Knospung sehr verbreitet. Sieliefert Kolonien, bei welchen die Individuen häufig ganzbestimmt und charakteristisch gruppiert sind. Die Eier entwickelnsich in der Atemhöhle oder der Kloake, so daß meist dieJungen lebendig geboren werden. Bei den im Alter festsitzenden T.(s. Ascidien) schwärmen sie, mit einem später abfallendenRuderschwanz versehen, noch eine Zeitlang umher, heften sich dannan und bilden unter Umständen sofort durch Knospung einekleine Kolonie. Bei der andern, frei schwimmenden Gruppe (s.Salpen) wechselt geschlechtliche u. ungeschlechtliche Fortpflanzungregelmäßig miteinander ab, so daß einGenerationswechsel vorliegt. Über die Stellung der T. imTierreich sind die Forscher nicht einig. Früher ordnete mansie aus Grund ihres weichen Körpers allgemein den Molluskenunter, hat sie aber gegenwärtig von diesen abgetrennt undvereinigt sie entweder mit den Bryozoen (s. d.) zu der Gruppe derMolluskoideen oder läßt sie besser ganz selbständigsein. Da sie aber aus andern Tieren hervorgegangen seinmüssen, so gibt man ihnen als Vorfahren entweder dieWürmer, und zwar eine ausgestorbene Gruppe derselben, oder dieWirbeltiere. Mit den letztern haben sie nämlich in derEntwickelung so viel Gemeinsames (vgl. Ascidien und Amphioxus),daß nahe Verwandtschaft zwischen beiden mit Recht angenommenwerden darf. Indessen ist bisher noch nicht festgestellt worden, obdie Wirbeltiere von den T. oder diese von jenen abstammen. Imerstern Fall gäbe es eine stetig aufsteigende Linie:Würmer; T. (Ascidien); Amphioxus als ältestes Wirbeltier;fischähnliche Wesen; echte Fische etc.; im zweiten dagegensowohl eine absteigende: fischähnliche Wesen; Amphioxus alserst wenig rückgebildet; T. (Ascidien) als völligrückgebildet, als auch eine aufsteigende: fischähnlicheWesen; Fische etc., so daß dann die T. sozusagen einenherabgekommenen Seitenzweig des Hauptstammes der Wirbeltieredarstellen würden. Die T. sind ohne Ausnahme Bewohner desMeers. Teils sind sie auf allen möglichen Unterlagenfestgewachsen und finden sich dann sowohl an der Flutgrenze als inbedeutenden Tiefen; teils schwimmen sie auf der Oberfläche oftweit von den Küsten und in großen Scharen umher. Sienähren sich von kleinsten tierischen und pflanzlichen Wesen,die mit dem Wasser in ihre Atemhöhle geraten und dort zum Mundgelangen. Viele unter ihnen leuchten mit prachtvollem Licht.Fossile Formen sind bisher nicht aufge-

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Tunis (Beschreibung des Landes).

funden worden. - Man teilt die T. in zwei große Gruppen:die meist festsitzenden Ascidien (s. d.) oder Seescheiden und diefrei schwimmenden Salpen (s. d.).

Tunis (Tunesien), ehemaliger Vasallenstaat des türk.Reichs in Nordafrika (s. Karte "Algerien etc."), seit 12. Mai 1882Schutzstaat Frankreichs, wird im N. und O. vomMittelländischen Meer, im SO. von Tripolis, im SW. und W. vonAlgerien begrenzt und hat ein Areal von 116,000 qkm (2107 QM.). Deröstliche Küstensaum ist flach, sandig und unfruchtbar,der nördliche dagegen hoch, steil und felsig. Dernördliche und westliche Teil des Innern ist im allgemeinensehr gebirgig. Waldreiche Gebirgsmassen bilden eine maritimeGebirgszone, welche im S. durch eine breite ebene Zone begrenztwird, und an welche sich weiter im S. eine zweite hoheGebirgsregion als dritte Zone anschließt, sich im DschebelMechila bis 1477 m erhebt und in einem langen Ast in den Ras Addar(Kap Bon) ausläuft. Im SW. des Landes, nach Gafsa zu, steigennochmals Bergmassen auf, und südlich von diesen bilden diewüsten, felsigen Ebenen des Biled ul Dscherid eine vierteZone. Am Küstenrand treten zahlreiche Vorgebirge hervor, so ander Nordküste Ras Addar (Kap Bon), Kap Blanc u. a. Von denMeerbusen sind im NO. der Golf von T., an der Ostseite dieMeerbusen von Hammamet und Gabes (Kleine Syrte) die ansehnlichsten;vor dem letztern liegen die Inseln Kerkena und Dscherba. Diegebirgigen Teile im N., NW. und W. des Landes sind sehrquellenreich; desto wasserärmer sind die großen Ebenenim südlichen Teil des Landes, in denen jedoch ausgedehnteunterirdische Wasserbecken nachgewiesen worden sind. Die meistenvon den Gebirgen herabkommenden Bäche und Flüßchen(Wadi) verlieren sich im Sand oder erreichen alsKüstenflüsse nach kurzem Lauf das Meer. Kein einzigerFluß ist schiffbar. Der bedeutendste ist der Medscherda, derbei Porto Farina in das Mittelmeer mündet, nächst ihm derWadi el Kebir und der Wadi el Miliana. Man meinte früher,daß die Schotts im S. des Landes eine Depression bildeten,indes ist dies nur mit dem Schott Gharsa (-21 m), welcher mit demschon auf algerischem Gebiet liegenden Schott Melrir (-29 m) inVerbindung steht, der Fall. Die von diesen durch eine Bodenschwellegetrennten, weit größern Schotts Dscherid undFedschedsch liegen bereits 16-25 m ü. M.; die (von Roudairebefürwortete) Durchstechung der Landenge von Gabes würdedaher nur ein beschränktes Binnenmeer schaffen. Mineralquellengibt es bei Tunis (Hammam el Enf), zu Gurbos, Tozer und Gafsa. Ander Küste ist das Klima gemäßigt, gleichförmigund gesund, der Winter gleicht unserm Frühjahr. Im Juli undAugust steigt unter dem Einfluß der Glutwinde aus der Saharadas Thermometer bis auf 40, ja 50° C. Vom Oktober bis zum Aprilregnet es häufig. Die Vegetation hat mediterranen Charakter;auch an kahlen Hochebenen wächst massenhaft das Halfa*gras undharzgebende Akazien, die Schotts sind von großenDattelpalmenhainen umsäumt; Wälder befinden sich zwar nuran der Nordküste, enthalten dort aber prachtvolle Bäume.Aus dem Tierreich ist Rindvieh in großer Zahl vorhanden, auchhat man eine zur Fettschwanzgattung gehörige Art von Schafen;ausgezeichnet sind die Pferde und Dromedare. Bei Tabarka fischt manKorallen. Mineralprodukte sind außer dem an der Küstegewonnenen Salz nur die Salpeterablagerungen bei Kairuan, Bleierzean mehreren Stellen, bei Bescha und am Dschebel Resas (Bleiberg)bei Tunis, endlich Quecksilber, das nicht gefördert wird, beiPorto Farina. Die Bevölkerung beträgt ca. 1½ Mill.Seelen, darunter 45,000 Israeliten, 35,000 Katholiken, 400Griechisch-katholische und 100 Protestanten; den Rest bildenMohammedaner. Die Juden, meist aus Spanien und Portugal stammend,wohnen in den Städten, wurden vor der französischenOkkupation sehr unterdrückt, haben jetzt aber gleiche Rechtemit andern. Die Zahl der Fremden (schnell zunehmend) war 1881:55,987, davon 10,249 Italiener, 8979 englische Malteser, 3395Franzosen. Der Ackerbau wird bei der hohenProduktionsfähigkeit des Bodens sehr lässig betrieben.Fabriziert werden besonders rote tunesische Mützen (Fesse),Saffian, Seiden- und Wollwaren und irdene Geschirre. Deransehnliche Handel konzentriert sich besonders in Tunis (Goletta),Sfaks, Susa und Dscherba. Ausfuhrartikel sind: Olivenöl,Esparto, Olivenabfälle, Schwämme, Datteln, Leder, Wolle,Wollenstoffe, Fesse, Wachs, Felle etc.; Einfuhrartikel: baumwolleneZeuge, Eisen, Blei und Manufakturwaren aus England, Wein undBranntwein aus Spanien, Eisen aus Schweden, Uhren, feine Leinwand,wollene und baumwollene Stoffe, Gewürze, Zucker und Kaffee ausFrankreich, Glaswaren aus Triest, Gewehre und Säbel aus Smyrnaetc. Die Karawanen aus dem Innern Afrikas bringen Senna,Straußfedern, Goldsand, Gummi, Elfenbein und nehmendafür Tuch, Musselin, Seidenzeuge, rotes Leder, Gewürze,Waffen und Kochenille zurück. Der Wert der Gesamteinfuhr derRegentschaft betrug 1887: 27,7, der Ausfuhr 21,4 Mill. Frank, davonWeizen 6,1, Gerste 2,5, Olivenöl 4,5, Esparto 1,7,Schwämme 8, Wollenstoffe 0,6 Mill. Fr. In die verschiedenenHäfen liefen ein: 6725 Schiffe (1056 französische) von1,672,266 Ton., aus: 6596 Schiffe (1056 französische) von1,674,323 T. Die Handelsmarine zählte 300 Fahrzeuge von 10-150T. Die Länge der Eisenbahnen von Tunis nach Goletta, Bardo,Bone, Hammamet el Lis beträgt 410,5, die der Telegraphenlinien(mit 31 Büreaus) 2004 km, untermeerische Kabel verbinden T.mit Algerien und Europa, Postverbindung hat T. mit Europa dreimalwöchentlich. An der Spitze der Regentschaft steht der Bei(seit 1882 Sidi Ali), welcher den Titel "Besitzer desKönigreichs T." führt und durch den Vertrag von Kasr elSaid (12. Mai 1881) zum Vasallen Frankreichs geworden

[Kärtchen der Umgebung von Tunis.]

905

Tunis (Stadt; Geschichte).

ist, indem die verschiedenen in T. funktionierenden Dienstzweigein Abhängigkeit von den entsprechenden französischenMinisterial-Departements gebracht wurden. Von der 1882aufgelösten tunesischen Armee ist nur noch die dem Beibewilligte Ehrengarde (ein Bataillon, eine Schwadron, eineBatterie) geblieben; die übrigen Mannschaften sind in dieneugebildeten 4 Tirallleurregimenter übergegangen. Vonfranzösischen Truppen stehen in der Regentschaft 3 RegimenterInfanterie, 2 Regimenter Kavallerie, 2 Batterien Artillerie. Eineeigne Kriegsmarine besteht nicht mehr; ein französischesKriegsschiff ist beständig hier stationiert. Die Einnahmen derRegentschaft betrugen 1886-87: 25,853,848, die Ausgaben 5,852,381,die Staatsschuld 142,550,000 Fr. Die Flagge s. Tafel "FlaggenI".

Die gleichnamige Hauptstadt liegt 45 km von der Küstezwischen dem seichten Salzsee El Bahira im O. und dem im Hochsommerfast ganz trocknen Sebcha el Seldschumi und wird von einer Mauerumgeben, durch welche zehn Thore führen, und derensüdlicher Teil durch das europäische Viertel durchbrochenist, in welchem das Zollhaus und das Seearsenal liegen. Die meistenStraßen sind eng, krumm, ungepflastert und namentlich imJudenviertel im höchsten Grad unsauber. Im W. liegt die halbin Ruinen befindliche Citadelle (Kasba). T. hat zahlreicheMoscheen, eine katholische Kirche, ein Kapuzinerkloster, eingriechisches Kloster mit Kirche, einen im maurischen Stil erbautenPalast des Beis, der aber 3 km westlich außerhalb der Stadtim Bardo, einem einer kleinen Stadt gleichendenGebäudekomplex, oder in Marsa wohnt, ferner zahlreicheöffentliche Bäder, Bazare und Karawanseraien, bedeutendeIndustrie, namentlich in Seidenweberei, roten Mützen,Saffianleder und Waffen, ansehnlichen Handel, besonders nachMarseille, Ägypten, Genua, der Levante und nach dem innernAfrika, und etwa 150,000 Einw., darunter 25,000 Juden, 7000Malteser, 6000 Italiener, 2500 Franzosen und 500 andre Christen.Der Hafen von T. ist Goletta (s. d.). Die Stadt hat mehrereMedressen, viele Koranschulen, ein katholisches Collège, 23jüdische und 33 französische Elementarschulen und istSitz eines deutschen Berufskonsuls. Eisenbahnen gehen von T. nachallen Richtungen aus. Vgl. Kleist, T. und seine Umgebung (Leipz.1888).

[Geschichte.] T. (Tunes) bestand schon im Altertum, war aberneben Karthago ohne Bedeutung. 255 v. Chr. wurde bei T. derrömische Feldherr Regulus von den Karthagern unter Xanthipposbesiegt und gefangen. Erst nach Karthagos Zerstörung durch dieAraber 699 kam T. empor. Es gehörte zum Reich Kairwan, seit1100 zu Marokko. Seit 1140 herrschten die Almohaden, seit 1260 dieMeriniden in T., das ein blühendes Land war. 1270 unternahmLudwig IX. von Frankreich den letzten Kreuzzug gegen T., starb aberbei der Belagerung. 1534 bemächtigte sich der KorsarChaireddin Barbarossa der Herrschaft in T. und begründeteeinen gefürchteten Seeräuberstaat, der 1535, als Karl V.T. eroberte und 20,000 Christensklaven befreite, zerstörtwurde. Seitdem war T. spanisch. 1574 ward es aber wieder derOberherrschaft des Sultans unterworfen. Der türkische AdmiralSinan Pascha, der es eroberte, behielt es als Lehnsmann der Pforte.Nach seinem Tod (1576) entriß der Boluk-Baschi seinemNachfolger Kilik Ali die höchste Gewalt. Die türkischeMiliz wählte nun einen Dei als Inhaber der höchstenGewalt, entthronte und ermordete aber die meisten nach einer kurzenRegierung. Unter dem dritten, Kara Osman, bemächtigte sich derBei (anfangs nur ein mit der Eintreibung der Steuern und desTributs beauftragter Beamter) Murad der öffentlichen Gewaltund machte dann dieselbe in seiner Familie erblich, denwählbaren Dei in gänzlicher Abhängigkeit erhaltend.Murad Beis Nachkommen regierten über 100 Jahre undvergrößerten ihre Macht durch Eroberungen auf demFestland und durch Seeraub. Doch mußten sie die Oberhoheitdes Deis von Algier durch Tributzahlung anerkennen. Die jetzigeDynastie von T. begann 1705 mit Hussein Ben Ali. Indessen bietetdie Geschichte von T. wenig mehr als eine Reihe vonPalastrevolutionen, Janitscharenaufständen und Hofintrigen.Nach der Eroberung von Algier durch die Franzosen unterstützteT. anfangs Abd el Kader, ward aber schon 8. Aug. 1830 zu einemVertrag gezwungen, in welchem es die Abschaffung derSeeräuberei und Sklaverei sowie die Abtretung der InselTabarka versprach. Der Bei Sidi Mustafa, der 1835 seinem BruderSidi Hussein folgte, schloß sich gegen die Franzosen mehr andie türkische Regierung an. Sidi Mustafas Sohn und Nachfolgerseit 1837, Sidi Achmed, unternahm große Bauten und verwendetebeträchtliche Summen auf die Erweiterung seinerMilitärmacht, geriet aber dadurch mit der Psorte in ernstlicheKonflikte und ward von derselben durch Intervention derGroßmächte zur Reduktion seiner Armee undjährlichen Ablegung eines Rechenschaftsberichts über denStand der Finanzen gezwungen. Ihm folgte 1855 sein ältesterSohn, Sidi Mohammed, in der Regierung, der das Heer reduzierte,dagegen namentlich den Handel förderte. Eine im Juni 1857ausbrechende Judenverfolgung veranlaßt die europäischenKonsuln zur Intervention, und es kam hierauf unter dem Beistand desfranzösischen und englischen Generalkonsuls eine liberaleGesetzgebung und Verwaltungsorganisation zu stande. Am 23. Sept.1859 starb der Bei Sidi Mohammed. Sein Bruder und NachfolgerMohammed es Sadok gab im April 1861 in Gegenwart der Vertreter derchristlichen Mächte dem Land sogar eine konstitutionelleVerfassung. Doch entfaltete der neue Bei einenübermäßigen Glanz und ahmte ohne Anlaß dieEinrichtungen der Großstaaten nach. Die großen Kostenseiner Regierung, welche er überdies unwürdigen,habgierigen Günstlingen überließ, beschaffte erdurch Anleihen, deren Erträge zum geringsten Teil in dieStaatskasse flossen, deren Zinsen aber einen verderblichenSteuerdruck notwendig machten. Der Bei mußte endlich dieZinszahlung der Staatsschulden (275 Mill.) einstellen. Dies gab1869 den Anlaß zu einer Einmischung, welche die ganzeVerwaltung in T. und namentlich ihre finanzielle Seite invollkommene Abhängigkeit von Frankreich zu bringen strebte.Unter Mitwirkung der ebenfalls dort interessierten MächteEngland, Italien und Preußen kam dann eine Art voneuropäischer Kontrolle über die tunesischen Finanzen zustande, und es wurde durch Abtretung der Zolleinnahmen für dieVerzinsung der auf 125 Mill. Fr. reduzierten Staatsschuld Sorgegetragen. Das Verhältnis von T. zur Pforte ward auf Betreibendes Ministers Chaireddin während Frankreichs Ohnmacht nach demdeutsch-französischen Krieg durch Ferman vom 25. Okt. 1871 sogeregelt, daß der Sultan auf den Tribut verzichtete, der Beidafür seine Oderhoheit anerkannte, ohne seine Erlaubnis keinenKrieg zu führen, in keine diplomatischen Verhandlungen mit demAusland einzutreten etc. versprach. 1877 schickte der Bei demSultan ansehnliche Hilfsmittel an Geld und Truppen für denKrieg gegen Rußland. Die Mißwirtschaft wurde

906

Tunja - Tunnel.

unter dem Minister Mustafa ben Ismain immer ärger. Unterden Ausländern erlangten inzwischen die Italiener immergrößere Bedeutung, und selbst deren Regierung suchtesich in T. festzusetzen. Dies veranlaßte Frankreich 1881,einen Einfall der räuberischen Krumirs zum Vorwand zu nehmen,um in T. einzurücken und den Bei 12. Mai zum Bardovertrag zuzwingen, der T. unter französisches Protektorat stellte. EineErhebung der Eingebornen gegen die Fremdherrschaft wurde durch dieEroberung von Sfaks und Kairuan niedergeschlagen und die Verwaltung1882 nach französischem Muster organisiert. Die Ämterwurden mit Franzosen besetzt, und der französischeMinisterresident ist der Herr des Landes; eine französischeBesatzung sichert den Besitz. Ein neuer Vertrag mit dem Bei vom 8.Juni 1883 gab der französischen Regierung Vollmacht zu allenReformen und zur Regelung der Finanzen. Der Bei (seit 28. Okt. 1882Sidi Ali) erhielt eine Zivilliste von 1,200,000 Fr. DieKapitulationen und die Konsulargerichtsbarkeit wurden 1884abgeschafft. Vgl. Rousseau, Annales tunisiennes (Algier 1863);Hesse-Wartegg, T., Land und Leute (Wien 1882); die Monographien vonDuveyrier (Par. 1881), Brunialti (Mail. 1881), Dona (Padua 1882),La Berge (Par. 1881), Rivière (das. 1886), Lanessan (das.1887), Antichan (2. Aufl., das. 1887); Tissot, Explorationscientitique de la Tunisie (das. 1884 ff.); Kobelt,Reiseerinnerungen aus Algerien u. T. (Frankf. 1885); Baraban, Atravers la Tunisie (Par. 1887); Graham und Ashbee, Travels inTunisia (Lond. 1887); Leroy-Beaulieu, Algérie et Tunisie(Par. 1887); Vignon, La France dans l'Afrique du Nord (das. 1887);Bois, La France a Tunisie 1881-82 (das. 1886); Piesse,Algérie et Tunisie, Reisehandbuch (das. 1885); Karte vonKiepert (l : 800,000).

Tunja, Hauptstadt des Staats Boyacá dersüdamerikan. Republik Kolumbien, 2760 m ü. M., aufsteilem Terrain, hat eine Universität, 2 Lehrerseminare, einHospital, Fabrikation von Woll- und Baumwollzeugen und (1870) 5479Einw. Dabei eine Kupfergrube und heiße Quellen. T. ist diealte Hauptstadt der Cipas von Bogota und wurde 1538 von denSpaniern besetzt.

Tunkers (spr. tönkers, Sekte, s. Baptisten.

Tunnel (engl., "Röhre"), unterirdischer Stollen,welcher zur Herstellung entweder eines Land- oder einesWasserverkehrs durch hügeliges oder gebirgiges Terrain(Landtunnel), oder zur Herstellung eines Landverkehrs, einerWasserzuleitung oder einer Ableitung von Abfallstoffen unter demBett eines Flusses, Sees oder Meeresarms (Unterwassertunnel) erbautwird. Bauten dieser Art führten bereits die Römer aus,unter welchen der wahrscheinlich von Furius Camillus 396 v. Chr.herrührende, etwa 1900 m lange Ablaßstollen desAlbanersees, der durch Kaiser Claudius ausgeführte, etwa 3700m lange Ablaßstollen des Lacus Fucinus sowie der um 37 durchCoccejus hergestellte, etwa 1000 Schritt lange Stollen durch denPosilipo und der um 79 n. Chr. unter Vespasian in der Straßevon Rom nach Ariminum ausgeführte, etwa 200 Schritt langeStollen (petra pertusa) hervorzuheben sind. Das einzigegrößere Werk des Mittelalters ist der 1450 zurVerbindung von Nizza und Genua begonnene, jedoch bis jetztunvollendete T. durch den Col di Tenda. Die bedeutendsten, gegenEnde des 17. und im Lauf des 18. Jahrh. in Frankreichausgeführten Tunnels sind der von Riquet 1679-81 zurDurchleitung des Kanals von Languedoc hergestellte Malpastunnelsowie der 1770 im Givorskanal erbaute T. von Rive de Gier und der1787 im Centrekanal erbaute T. von Torcy. Erst im Anfang des 19.Jahrh. führte man den für den Kanal von St.-Quentinbestimmten 8 m breiten T. bei Tronquoi durch sandiges, druckreichesGebirge, während in den Jahren 1803-30 Tunnels teils in festemGebirge, wie die zum Schutz vor Lawinen dienenden Galerien derAlpenstraßen über den Simplon, Mont Cenis, Splügen,Bernhardin und St. Gotthard, teils in weicherm Gebirge inFrankreich und England, meist behufs Durchführung vonKanälen zur Ausführung kamen. Die bei weitem schwierigsteund kühnste Leistung dieser Zeit war jedoch der von IsambertBrunel 1825 begonnene und trotz elfmaligen Einbruchs des Wassersnach 16jähriger harter Arbeit vollendete T. unter der Themse.Den größten Aufschwung erfuhr der Tunnelbau erst durchden Eisenbahnbau. Die ersten Eisenbahntunnels baute Stephenson inder Linie Liverpool-Manchester 1826-30. In Deutschland begann mandie ersten Eisenbahntunnels 1837 in der Linie Köln-Aachen beiKönigsdorf und in der Linie Leipzig-Dresden bei Oberau,während 1839 der erste österreichische Bahntunnel in derLinie Wien-Triest bei Gumpoldskirchen zur Ausführung kam. Vonda ab nahm der Tunnelbau in Eisenbahnlinien so zu, daß 1874die Gesamtlänge der Tunnels auf preußischen Bahnen 46km, auf allen österreichischen Bahnen 43 km betrug,während sie in Frankreich 1868 bereits eine Ausdehnung von 193m erreicht hatte. Zum Vergleich einer Anzahl der bedeutendstenEisenbahntunnels diene folgende Tabelle. Es beträgt dieLänge:

Meter

St. Gotthard-Tunnel 14920

Mont Cenis-Tunnel 13233

Arlbergtunnel 10270

Giovigalerie (Novi-Genua) 8260

Hoosac-Tunnel (Massachusetts) 7640

Tunnel von Marianopoli (Catania-Palermo) 6480

Sudrotunnel in Nevada 6000

Tunnel bei Slandridge (London-Birmingham) 4970

Nerthetunnel (Marseille-Avignon) 4620

Belbo-Galerie (Turin-Savona) 4240

Kaiser Wilhelm-Tunnel bei Kochem (der längste inDeutschland) 4216

Blaisytunnel (Paris-Lyon) 4100

Krähbergtunnel (Odenwaldbalm) 3100

Brandleitetunnel (Thüringerwald) 3030

Hauensteintunnel (Schweiz) 2490

Sommerautunnel (Schwarzwaldbahn) 1696

Semmeringtunnel 1431

Mühlbachtunnel (Brennerbahn) 855.

Zu den bedeutendsten Wasertunnels der Gegenwart zählen derzur Versorgung von Chicago mit reinem Wasser aus dem Michiganseedienende Wasserleitungstunnel sowie die für Eisenbahnverkehrbestimmten unter dem Meer und unter dem Mersey in England und derHudsonflußtunnel in Nordamerika. Zu den bedeutendstenProjekten von Tunnelbauten zu Verkehrszwecken gehören derfür Eisenbahnverkehr bestimmte T. unter dem Kanal zurVerbindung von Frankreich und England, dessen Ausführungübrigens aus militärischen Rücksichten von demenglischen Oberhaus zunächst nicht genehmigt worden ist (vgl.über ihn in geologisch-technischer Beziehung die Schrift vonHesse, Leipz. 1875), ferner die Tunnels unter der Meerenge vonMessina zur Verbindung von Italien und Sizilien und unter derMeerenge von Gibraltar.

Landtunnels sind entweder ein- oder zweigeleisigeEisenbahntunnels, Straßentunnels oder zur Durchführungeines Kanalbettes bestimmte Kanaltunnels. Bei geringer Tiefe unterder Oberfläche und bei unfester Beschaffenheit des Bodenswerden dieselben mit Vorteil in zuvor hergestellte offeneEinschnitte eingebaut, und, nachdem das Mauerwerk der Sohle, derWandungen und der Gewölbe vollendet, also das Querprofilgeschlossen ist, der T. mit einem hinreichen-

907

Tunnel (Unterwassertunnels).

den Teil des Einschnittmaterials bedeckt. Beigrößerer Tiefe unter der Oberfläche und bei festerBeschaffenheit des Bodens müssen die Tunnels bergmännischhergestellt werden. Je nach der Art des Arbeitsvorganges beim Abbauihres Profils und der Herstellung ihrer Mauerung unterscheidet mandie "deutsche", "belgische", "englische", und"österreichische" Tunnelbaumethode, wobei je nach derAnordnung des Zimmerwerks und der Lage des sogen. Richtstollensweitere Unterscheidungen gemacht werden. Die beim Tunnelbauvorkommenden bergmännischen Arbeiten bestehen in demLösen des Bodenmaterials, des sogen. "Gesteins", dem Entfernender gelösten Massen, dem sogen. "Schleppen" und "Fördern"der "Berge", und dem "Verbauen", d. h. der Sicherung deshergestellten Hohlraums gegen Einsturz, provisorisch durch"Verzimmerung" in Holz oder Eisen, definitiv durch "Ausbau" meistin Stein, unter besondern Verhältnissen jedoch auch in Holz(Amerika) oder Eisen. Die Landtunnels werden bei günstigenSteigungsverhältnissen gerade, andernfalls in Kurven und, woes sich um Ersteigung bedeutender Höhen mit mäßigemGefälle auf beschränktem Terrain handelt, in Schleifen(Kehrtunnels) oder selbst in Spiralen (Spiraltunnels) angelegt.

Unterwassertunnels sind für einen Eisenbahn- undStraßenverkehr oder für die Zuleitung von reinem Wasseroder Ableitung von Abfallstoffen bestimmt und erfordern hiernachdie verschiedensten Querschnitte und Gefälle. Von besondererWichtigkeit sind die erstern, Verkehrszwecken dienendenUnterwassertunnels, welche an die Stelle unsicherer, durchStürme, Nebel u. Eisgänge bedrohter Schiffsverbindungen,zumal da, wo der Bau fester Brücken wegen der notwendigenErhaltung des Verkehrs großer Schiffe zu hohe Pfeiler, tiefe,kostspielige Fundamente und lange, gegen Sturmdruck schwer zusichernde Träger erfordern würde, eine feste, stetsbenutzbare, den Schiffsverkehr nicht hindernde, raschfördernde Verbindung setzen. Die Schwierigkeiten, welche sichder Ausführung dieser Tunnels entgegenstellen undhauptsächlich in der mangelhaften Kenntnis des zudurchfahrenden Bodens und der etwa eintretenden Wasserzuflüssesowie in der Notwendigkeit, mehr oder minder lange,größtenteils unterirdische Zufahrtswege anlegen zumüssen, bestehen, haben dazu geführt, dieUnterwassertunnels entweder nur so viel wie nötig in den Grundzu versenken, um sie gegen die Berührung durch den Kiel derSchiffe und gegen Wellenschlag zu schützen (Senktunnels), odersie nur so tief unter die Sohle des Wassers zu legen, als es dieSicherheit des Baues und des Betriebs durchaus erfordern(Bohrtunnels). Dagegen ist die Versenkung eisernerTunnelröhren nur bis zu einer durch Schiffsverkehr undWellenschlag bedingten Tiefe unter Wasser, wo sie schwimmenderhalten und durch Verankerungen gegen nachteilige Bewegungengesichert werden sollten, oder bis auf die Sohle des Wassers, wosie durch Verankerungen gegen den Auftrieb und gegen Wellenbewegunggeschützt werden sollten, wegen der damit verbundenenUnsicherheit bis jetzt nicht zur Ausführung gelangt. AlsVorläufer der unter Wasser bergmännisch hergestelltenTunnels sind die bereits im vorigen Jahrhundert allmählichvorgetriebenen Stollen des Bergwerks von Huel-co*ck in Englandanzusehen, welche sich weit unter den Meeresboden erstreckten, undwobei die zwischen Stollenscheitel und Meeressohle verbliebeneBodenschicht stellenweise nicht über 1,5 m betrug, sodaß die hier beschäftigten Bergleute bei bewegter Seedas Rollen der Gesteine auf dem Meeresboden deutlich hörenkonnten. Der erstere in größern Dimensionen fürFußverkehr ausgeführte Wassertunnel ist der eingangserwähnte, von Brunel zur Verbindung der Stadtteile Rotherhitheu. Wapping erbaute Themsetunnel (s. d.). Der zweite, 1869 vonBarlow im festen blaugrauen Thon mit einer Öffnung von 2,2 mDurchmesser erbaute, 375 m lange Themsetunnel verbindet dieStadtteile Tower Mill und Tooley Street und ist an beiden Uferndurch 18 m tiefe, 3 m weite Schächte, in welchen Treppen mitje 96 Stufen angeordnet sind, zugänglich. Die neuestenenglischen Bauwerke dieser Art sind die beiden zweigeleisigenWassertunnels unter dem Severn und unter dem Mersey. Der 9 m breiteSeverntunnel erreicht eine Länge von 7250 m, wovon sich 3620unter dem Fluß befinden, fällt mit 1:100 von den beidenUfern nach dem Fluß und durchfährt meist hartenSandstein, der jedoch unter der Mitte des Flusses zerklüftetist und die Anwendung mächtiger Dampfpumpen zurBewältigung des Wassers erforderte. Die von beiden Ufern ausbegonnenen Stollen wurden teilweise mit Mac Keanschen Bohrmaschinenaufgefahren und trafen mit nur 7 cm Abweichung von derHauptrichtung zusammen. Der 7,5 m breite und 6,5 m hoheMerseytunnel (Fig. 1) nebst den beiden erforderlichenEntwässerungsstollen wurde von den an beiden Ufern abgeteuftenSchächten aus begonnen und durchsetzt roten Sandstein so tiefunter der Flußsohle, daß zwischen ihr und derTunnelfirst eine Felsschicht von mindestens 8 m Stärkeverbleibt. Unter den amerikanischen Wassertunnels ist dieEisenbahnunterführung unter dem Hudson

Fig. 1. Längenprofil des Merseytunnels.

Fig. 2. Hudsonflußtunnel.

Fig. 2. Grundriß am New Jersey-Ufer.

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Tunnelkrankheit - Turban.

(Fig. 2) hervorzuheben, welche New York mit Jersey Cityverbindet. Der 1670 m lange, unter dem Fluß befindliche Teildesselben besteht aus zwei 4,9 m breiten, 5,5 m hohen, dichtnebeneinander liegenden elliptischen Röhren mit je einemGeleise, während die beiden Zufahrtstunnel eine Weite von 7,5m erhalten haben und die beiden Geleise aufnehmen. Unter den zurZuleitung reinen Wassers dienenden Wassertunnels sind die zurWasserversorgung der Stadt Chicago aus dem Michigansee und derStadt Cleveland aus dem Eriesee bestimmten Tunnels hervorzuheben,wovon der erstere aus zwei 15 m voneinander entfernten, je 3200 mweit und 10 m tief unter dem Seegrund liegenden Tunnels von 1,52und 2,1 m Weite bei 1,75 m Höhe, der letztere aus einemüber 2 km langen, 1,5 m weiten, 1,6 m hohen und 12,5-21 munter dem Seegrund liegenden elliptischen T. besteht. Der zurEntwässerung und Abführung der Fäkalien der StadtBoston bestimmte, 45 m unter dem Wasserspiegel der Dorchesterbai,dem Hafen dieser Stadt, durchgeführte Wasserstollen besitzteine Länge von 1860 m und eine Weite von 2,3 m.

Senktunnel. Bei geringen Wassertiefen läßt sich derT. zwischen wasserdichten Einschließungen, den sogen.Saugdämmen, aus welchen das Wasser durch Pumpen entfernt wird,fast ganz im Trocknen herstellen und erst dann unter Wasser setzen.Bei größern Wassertiefen und ungünstigemMeeresgrund hat man vorgeschlagen, die Tunnels mit Hilfe von untenoffenen hölzernen oder eisernen Kasten, aus welchen das Wasserwährend des Baues durch verdichtete Luft von einem derWassertiefe entsprechenden Druck hinausgepreßt wird, d. h.pneumatisch, zu versenken. In Bezug auf die Beschreibung einzelnerbesonders hervorragender Tunnelbauten der neuern Zeit verweisen wirauf die Spezialartikel (Themse, Mont Cents, St. Gotthard, Arlbergetc.). Vgl. Lorenz, Praktischer Tunnelbau (Wien 1860); Schön,Der Tunnelbau (das. 1874); Rziha, Lehrbuch der gesamtenTunnelbaukunst (Berl. 1872); Zwick, Neuere Tunnelbauten (2. Aufl.,Leipz. 1876); Mackensen u. Richard, Der Tunnelbau (das. 1880);Dolezalek, Der Tunnelbau (Hannov. 1888 ff.); Birnbaum, DasTunnellängsträger-System, System Menne (Berl. 1878).

Tunnelkrankheit, s. v. w. Minenkrankheit.

Tunstall, Stadt in Staffordshire (England), in den sogen.Potteries, hat Töpfereien, Ziegelbrennerei, chemische Fabrikenund (1881) 14,244 Einw.

Tupan (Tupana), Gewittergott und Stammvater brasilischerIndianerstämme, von dem die Tupistämme, -Sprachen und-Religionen ihren Namen herleiten.

Tupelostifte, aus einer in Maryland, Virginia, Carolinawachsenden Sumpfpflanze, Nyssa aquatica Mich., aus der Familie derKorneen geschnittene Stifte, welche bei ihrer großenQuellbarkeit ähnlich wie Laminaria in der Chirurgie zurErweiterung von Kanälen und Öffnungen benutzt werden.

Tüpfelfarn, s. Polypodium.

Tupi (Tupinamba, Tupiniquim), eine mit den Guarani undOmagua (vgl. Brasilien, S. 336) nahe verwandte, jetzt sehrzusammengeschmolzene indianische Völkerfamilie inSüdamerika, welche ursprünglich vom Amazonenstrom bisüber den Uruguay hinaus wohnte, durch die Weißen abervielfach zurückgedrängt worden ist. Wahrscheinlichgehören ihnen die Völkerstämme der brasilischenOstküsten an, mit Ausnahme der Botokuden; die Bestimmung derZugehörigkeit ist dadurch sehr erschwert, daß dieJesuiten überall in ihren Missionen die Tupisprache als Lingoageral eingeführt und frühere Sprachen verdrängthaben. Wirklich herrschend ist die Tupisprache aber nur zwischendem Tapajos und Xingu (Nebenflüssen des Amazonenstroms) und inder bolivianischen Provinz Chiquitos. Mit den ihnen nahestehendenGuarani bilden sie eine Gruppe, welche die Caracara, Albegua,Carios, Choras, Munnos, Bates, Gualaches, Apiacas, Bororos u. a. m.umfaßt. Vgl. Martius, Die Pflanzennamen und die Tiernamen inder Tupisprache (in den Berichten der bayrischen Akademie 1858 u.1860); Porto Seguro, L'origine touranienne des AméricainsTupis-Caribes (Wien 1876).

Tupinamba, Volksstamm, s. Tupi.

Tupiza, Stadt in der südamerikan. Republik Bolivia,Departement Potosi, unweit des San Juan, 3050 m ü. M.,Grenzort gegen Jujuy, hat Landbau, ergiebige Silbergruben,lebhaften Verkehr u. 3000 Einw.

Tupy, Eugen, unter dem Pseudonym Boleslaw Jablonskibekannter tschech. Dichter, geb. 14. Jan. 1813 zu KardaschRjetschitz, studierte Theologie, wurde 1847 Propst desPrämonstratenserklosters in Krakau, wo er im März 1881starb. T. ist einer der beliebtesten Lyriker Böhmens, dessenLiebeslieder ("Pisne milosti") namentlich weite Verbreitung fanden,auch vielfach komponiert wurden. Auch ein Lehrgedicht: "DieWeisheit des Vaters" ("Moudrost otcova"), schrieb T. EineGesamtausgabe seiner Gedichte ("Básne") erschien in 5.Auflage (Prag 1872).

Túquerres, Stadt im Staat Cáuca dersüdamerikan. Republik Kolumbien, am obern Patía, 3057 mü. M., mit höherer Schule und (1870) 7I95 Einw.

Tura, Fluß in Rußland, entspringt amöstlichen Abhang des Urals im Gouvernement Perm, fließtsüdöstlich in das Gouvernement Tobolsk an denStädten Werchoturje, Turinsk und Tjumen vorbei und mündetlinks in den Tobol. Nebenflüsse sind: der Tagil (mit Solda),die Niza und die Pyschma (mit Gold- und Steinkohlenlagern an ihrenUfern).

Turacin, roter Farbstoff der Schwungfedern desBananenfressers, enthält gegen 6 Proz. Kupfer, welches beimVerbrennen der roten Federn die Flamme grün färbt.

Turalinzen, Hauptstamm der eigentlichen Tataren (s. d.)am Irtisch und der Demjanka, meist Christen.

Turan, im Gegensatz zu dem persischen Tafelland Iran (s.d.) das im N. desselben gelegene, zur aralokaspischen Niederungsich abdachende Land, gleichbedeutend räumlich mit demrussischen Anteil an Turkistan (s. d.).

Turanische Sprache, s. Uralaltaische Sprachen.

Turanius, Kirchenschriftsteller, s. Rufinus 2).

Turbae (lat., "Haufen"), in den Passionen, geistlichenSchauspielen, Oratorien etc. die in die Handlung eingreifendenChöre des Volkes (der Juden oder der Heiden) zum Unterschiedvon den betrachtenden Chören (Chorälen etc.).

Turbaco, Indianerdorf in der Republik Kolumbien(Südamerika), 15 km südöstlich von Cartagena,bekannt durch seine Luft- und Schlammvulkane sowie Fundort goldenerund kupferner Gefäße. Ruinen einer alten Indianerstadtund indianischer Gräber.

Turban (pers. dulband, dulbend, "doppelt gebunden"), diebei den Mohammedanern, insbesondere den Türken, üblicheKopfbedeckung, eine bald höhere, bald niedrigere Kappe,künstlich umwunden mit einem Stück Musselin oder Seide;die Kappe gewöhnlich rot, die Umwindung weiß,ausgenommen bei den Emiren, denen ausschließlich einegrüne Umwindung zustand. Den sonstigen Schmuck des Turbansbilden Edelsteine, Perlschnüre, Reiherfedern etc.

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Turban - Turenne.

Der T. des Sultans war sehr dick, mit drei Reiherbüschennebst vielen Diamanten und Edelsteinen geziert. Der Großwesirhatte auf seinem T. zwei Reiherbüsche; andre Beamte undBefehlshaber die Paschas u. dgl. erhielten Einen als Auszeichnung.Heute ist der T. in der Türkei bei der Beamtenwelt und derIntelligenz durch das Fes, in Persien durch das Kulahverdrängt, und vorschriftsmäßig ist er nur noch beiden Mollas (Geistlichen). (S. die Abbildung.)

[Turbane.]

Turban, Ludwig Karl Friedrich, bad. Staatsminister, geb.5. Okt. 1821 zu Bretten, studierte Philologie, dann Jurisprudenz inHeidelberg und Berlin, machte darauf größere Reisen nachFrankreich und Italien und bestand 1845 das juristischeStaatsexamen. Nachdem er bei verschiedenen Behörden alsRechtspraktikant beschäftigt gewesen, ward er 1851 zumSekretär im Ministerium des Innern, 1852 zumRegierungsassessor in Mannheim und 1855 in Karlsruhe ernannt und1856 zum Regierungsrat befördert; 1860 trat er alsMinisterialrat in das neuerrichtete Handelsministerium ein. Auchwar er litterarisch als Mitarbeiter an mehreren Zeitschriftenthätig und gab einen Kommentar zum badischen Gewerbegesetz von1861 und der norddeutschen Gewerbeordnung mit dem badischenEinführungsgesetz von 1871 heraus. Im Landtag vertrat er dieRegierung öfters und gehörte der Zweiten Kammer 1860-70und seit 1873 auch als Abgeordneter an; er schloß sich dernationalliberalen Partei an. 1872 wurde er zum Präsidenten desHandelsministeriums und 1876 nach Jollys Rücktrittgleichzeitig zum Staatsminister und Präsidenten des Staats-und Auswärtigen Ministeriums ernannt; auch war er seit 1872Mitglied des Bundesrats. Als 1881 das Handelsministerium aufgehobenwurde, übernahm T. das Ministerium des Innern.

Turbanigel, s. Echinoideen.

Turbation (lat.), Verwirrung, Störung; turbieren,beunruhigen, stören.

Turbe (Türbe, arab.), Mausoleum, Grabstätte.Besonders glänzend sind die der verstorbenen türkischenHerrscher in Konstantinopel und Brussa: meist architektonischprachtvoll geschmückte Kapellen, in deren Innerm der Sarg desToten steht.

Turbellarien (Strudelwürmer), s. Platoden.

Turbiglio (spr. -billjo), Sebastiano, ital. Philosoph,geb. 7. Juli 1842 zu Chiusa in Piemont, widmete sich dem Studiumder Philosophie an der Universität zu Turin, wurde 1873Professor der Philosophie am Lyceum Quirino Visconti undspäter an der Universität zu Rom. Er schrieb: "Storiadella dottrina di Cartesio" (1866); "La filosofia sperimentale diGiovanni Locke ricostrutta a priori" (1867); "La mente dei filosofieleatici ridotta alla sua logica espressione" (1869); "Trattato difilosofia elementare, parte logica" (1869); "L'impero della logica"(1870); "B. Spinoza e le trasformazioni del suo pensiero" (1875);"Le antitesi tra il medio evo e l'età moderna, nella storiadella filosofia" (l878); "Analisi storico-critica della Criticadella ragion pura" (8 Vorlesungen, 1881). Seine von ernster Arbeitzeugenden Werke haben auch im Ausland Beachtung gefunden.

Turbine, s. Wasserrad.

Turbinolia, s. Korallen.

Turbot, s. Schollen.

Turbulént (lat.), stürmisch,ungestüm.

Türckheim, Johann, Freiherr von, bad. Staatsmann,geb. 17. Okt. 1778 zu Straßburg, Sohn des Freiherrn Johannvon T., frühern Ammeisters von Straßburg, danngroßherzoglich hessischen Gesandten (gest. 28. Jan. 1824),studierte erst in Tübingen und Erlangen die Rechte, war1799-1803 österreichischer Offizier, dann sächsischerGesandter bei der Kreisversammlung in Nürnberg, trat 1808 inden badischen Staatsdienst, ward 1813 Direktor des Dreisamkreises,1819 Staatsrat und Mitglied der Ersten Kammer, wo er diehistorischen Rechte des Adels gegen die Büreaukratieverteidigte, aber eine echt deutsche nationale Gesinnung bekundete,1831 Minister des großherzoglichen Hauses und derauswärtigen Angelegenheiten, in welcher Stellung ergenötigt war, die reaktionären Bundesbeschlüsse zurAusführung zu bringen, trat 1835 zurück, lebte seitdemmeist auf seinem Landsitz in Altdorf und starb 30. Juli 1847 zuRagaz in der Schweiz. Er schrieb: "Betrachtungen auf dem Gebiet derVerfassungs- und Staatenpolitik" (Freiburg 1845, 2 Bde.). - SeinSohn Hans, Freiherr von T., geb. 15. Dez. 1814 zu Freiburg i. Br.,war 1849-64 vortragender Rat im Auswärtigen Ministerium zuKarlsruhe und 1864-83 badischer Gesandter in Berlin.

Turco (ital.), türkisch; alla turca, auftürkische Art (von Tonstücken mit vollgriffiger, zwischenwenigen Akkorden wechselnder Begleitung).

Turdetaner, eine der Hauptvölkerschaften derHispanier, in der Provinz Bätica, westlich vom Flusse Singulis(Jenil), an beiden Ufern des Bätis (Guadalquivir) und bis inssüdliche Lusitanien hinein seßhaft. Sie waren alsKüstenanwohner (ihr Land ist das Tarschisch der Bibel) zuerstmit zivilisierten Phönikern in engere Berührung gekommenund hatten von ihnen neben andrer Kultur den Gebrauch der Schrift,das Wohnen in wohlgebauten Städten den Betrieb vielerHandwerke gelernt, aber zugleich als friedliches Kulturvolk denkriegerischen Charakter der übrigen Stammesgenossenallmählich ganz eingebüßt, daher ihre Romanisierungleicht fiel. Hauptstädte ihres Gebiets waren: Gadeira oderGades (Cadiz) und Hispalis (Sevilla).

Turduler, ein mit den Turdetanern (s. d.) nahe verwandtesVolk in Hispania Baetica, das höher hinauf am Bätiswohnte, aber bald ganz mit den Turdetanern verschmolz. IhreHauptstadt war Corduba (Cordova).

Turdus, Drossel; Turdidae (Drosseln), Familie derSperlingsvögel (s. d.).

Turek, Kreisstadt im russisch-poln. Gouvernement Kalisch,mit (1885) 7320 Einw.

Turenne (spr. türenn), Henri de Latour d'Auvergne,Vicomte de, Marschall von Frankreich, geb. 11. Sept. 1611 zu Sedan,zweiter Sohn des Herzogs Heinrich von Bouillon und der PrinzessinElisabeth von Nassau-Oranien, wurde, nachdem er 1623 seinen Vaterverloren, von seinem Oheim, dem

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Turf - Turgenjew.

Prinzen Moritz von Oranien, in Holland erzogen, trat 1625 inholländische Kriegsdienste und lernte unter Prinz FriedrichHeinrich die Kriegskunst. 1630 trat T. als Oberst in diefranzösische Armee, machte unter Laforce einen Feldzug nachLothringen und 1634 als Marechal de Camp unter Lavalette einen Zugan den Rhein mit, wo er Mainz entsetzte. Zum Generalleutnanternannt, stieß er 1638 mit einem Hilfskorps zum HerzogBernhard von Weimar, diente 1639-43 in Piemont unter dem Grafend'Harcourt, dann unter Prinz Thomas von Savoyen, siegte namentlich1640 bei Casale und Turin, eroberte Montecalvo und Ivrea undsäuberte Piemont vom Feind. Zum Marschall ernannt und mit demOberbefehl über die französischen Truppen in Deutschlandbetraut, reorganisierte er rasch die Truppen im Elsaß,überschritt im Mai 1644 den Rhein, entsetzte mit dem Herzogvon Enghien (Condé) Freiburg i. Br., das General Mercybelagerte, und befreite das ganze Rheingebiet von den Kaiserlichen.1645 wagte er einen Einfall in Württemberg, wurde aber vonMercy 5. Mai bei Mergentheim geschlagen und zum Rückzug hinterden Rhein genötigt. Hier vereinigte er sich wieder mit demHerzog, und beide erfochten 3. Aug. bei Nördlingen einen Sieg,worauf T. 18. Nov. noch Trier eroberte. Durch seine Leidenschaftfür die Herzogin von Longueville bestimmt, mit an die Spitzeder Fronde zu treten, vereinigte er nach der Verhaftung der Prinzen(18. Jan. 1650) die Truppen der Fronde mit den spanischen und fielvon Belgien aus in Frankreich ein. Er eroberte Le Catelet, LaCapelle und Rethel, ward aber 15. Dez. 1650 vom Marschall Duplessisbei Chamblanc geschlagen und söhnte sich 1651 mit derKönigin Anna aus, worauf er seinen ehemaligenWaffengefährten, den großen Condé, 1652 bis andie Grenze von Flandern zurückdrängte. In den folgendenFeldzügen eroberte T. eine Stadt nach der andern und bis zumPyrenäischen Frieden (1659) auch fast ganz Flandern. ZumGeneralmarschall ernannt, erhielt er im Devolutionskrieg 1667 unterdes Königs Oberbefehl das Kommando über die Armee, welchein die spanischen Niederlande einrückte. Auf Ludwigs XIV.Wunsch trat er 1668 zum Katholizismus über. In dem Kriegegegen Holland 1672 befehligte er die Armee am Niederrhein gegen dieKaiserlichen und Brandenburger, zwang den GroßenKurfürsten 16. Juni 1673 zum Frieden von Vossem, ward aberdann von Montecuccoli zurückgedrängt. 1674überschritt er bei Philippsburg den Rhein, schlug 16. Juni denHerzog von Lothringen bei Sinzheim und eroberte die ganze Pfalz,die er auf das entsetzlichste verwüstete. Er besiegte daraufBournonville bei Enzheim (4. Okt.), räumte im Oktober dasElsaß, trieb aber Anfang 1675 die Verbündeten wieder ausdiesem Land, ging über den Rhein und traf im Juli bei Sasbachauf die Kaiserlichen unter Montecuccoli. Ehe es aber zur Schlachtkam, wurde T. beim Rekognoszieren des Terrains 27. Juli 1675 voneiner Kanonenkugel getötet. Sein Leichnam ward auf LudwigsBefehl in der königlichen Gruft zu St.-Denis beigesetzt, beider Zerstörung der Gräber in der Revolution gerettet undauf Napoleons I. Befehl im Dom der Invaliden, Vaubans Grabmalgegenüber, bestattet. Bei Sasbach ward T. durch den KardinalRohan 1781 ein Denkstein errichtet, den 1829 die französischeRegierung durch einen Granitobelisken ersetzen ließ. In Sedanwurde ihm eine Statue errichtet. T. war ein methodisch gebildeterund vorsichtiger Feldherr, ein ausgezeichneter Taktiker, danebenüberaus sorgsam in der Verpflegung und Verwendung der Truppen.Er hat noch mehr Unglücksfälle verhütet oder wiedergutgemacht, als Schlachten gewonnen. Eine gewinnendeLiebenswürdigkeit und Bescheidenheit zeichneten ihn aus. T.hat selbst Memoiren hinterlassen, die von 1643 bis 1658 reichen undunter dem Titel: "Collection des mémoires du maréchalde T." (Par. 1782, 2 Bde.) veröffentlicht wurden. EineErgänzung dazu sind die "Mémoires" von Deschamps (Par.1687, neue Aufl. 1756). Seine Briefe gaben Grimoard (1782, 2 Bde.)und Barthélemy (Par. 1874) heraus. Das Leben Turennesbeschrieben unter andern Ramsay (Par. 1733, 4 Bde.), Raguenet(1738, neue Ausg. 1877), Duruy (5. Aufl. 1889) und Hozier (Lond.1885). Vgl. außerdem Neuber, T. als Kriegstheoretiker undFeldherr (Wien 1869); Roy, T., sa vie et les institutionsmilitaires de son temps (Par. 1884); Choppin, La campagne de T. enAlsace (das. 1875); "Précis des campagnes de T."(Brüssel 1888).

Turf (engl., spr. törf, "Rasen"), die Rennbahn unddas darauf Bezügliche (s. Wettrennen).

Turfan, Grenzprovinz Ostturkistans gegen China, grenzt andie Gobiwüste, ist wasserlos und, bei einerLängenausdehnung von 320 km, von nur l26,000 Einw. (Dunganen,dann Chinesen) bevölkert. Die Stadt T. war sonst einblühender Karawanenplatz (für Thee und Seide) auf dem Wegvon China nach dem westlichen Asien, verlor aber zwischen 1860 und1870 ihren Reichtum wie ihre Kaufleute infolge desDunganenaufstandes und der Kämpfe des ehemaligen Beherrschersvon Kaschgar um ihren Besitz.

Turfol, aus Kohlenwasserstoffen bestehendes Leuchtölaus Torfteer.

Turgenjew, 1) Alexander Iwanowitsch, russ. Geschichts-und Altertumsforscher, geb. 1784, gest. 17. Dez. 1845 zu Moskau alsGeheimer Staatsrat, erwarb sich durch Forschungen fürRußlands Geschichte, Diplomatie, alte Statistik und altesRecht Verdienste. Die Resultate seiner Forschungen wurden von derarchäographischen Kommission veröffentlicht unter demTitel: "Historiae Russiae monumenta" (Petersb. 1841-42, 2 Bde.;Nachtrag 1848).

2) Nikolai Iwanowitsch, russ. Historiker, Bruder des vorigen,geb. 1790, studierte in Göttingen, trat dann in denStaatsdienst seines Vaterlandes und ward 1813 dem Freiherrn vomStein in der Verwaltung der Frankreich abgenommenen deutschenProvinzen als russischer Kommissar beigegeben. Nach Rußlandzurückgekehrt, ward er Wirklicher Staatsrat, trat 1819 in den"Bund des öffentlichen Wohls" und ward dadurch in dieVerschwörung von 1825 verwickelt. Eben auf Reisen begriffen,ward er in contumaciam zum Tod verurteilt und lebte seitdem inParis, wo er im November 1871 starb. Er schrieb: "La Russie et lesRusses" (Par. 1847, 3 Bde.; deutsch, Grimma 1847).

3) Iwan Sergejewitsch, berühmter russ. Dichter undSchriftsteller, geb. 28. Okt. (a. St.) 1818 in derGouvernementsstadt Orel als der Nachkomme einer alten russischenAdelsfamilie, die zur Zeit der Mongolenherrschaft in russischeDienste trat. Seine Eltern waren sehr wohlhabend und ließendem künftigen Dichter und seinen beiden (vor ihm gestorbenen)Brüdern eine gute häusliche Erziehung angedeihen, wobeiein großer Nachdruck auf die Sprachen, namentlichFranzösisch und Deutsch, gelegt wurde. 1828 siedelte dieFamilie nach Moskau über, und der junge Iwan kam in einePrivatlehranstalt. Seine weitere Ausbildung erfolgte unterbesonderer Anleitung und

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Turgeszieren - Turgot.

Fürsorge des Professors Krause, des Direktors desLazarewschen Instituts. Mit 16 Jahren bezog der frühreifeKnabe die Moskauer Universität, wo er sichhistorisch-philologischen Studien widmete, vertauschte dieselbeaber schon nach einem Jahr, als 1835 sein Vater starb, mit derPetersburger Universität, auf welcher er den vollen Lehrkursusabsolvierte. Nachdem er 1838 mit dem Grad eines Kandidaten dieUniversität verlassen, begab er sich zurVervollständigung seiner Kenntnisse ins Ausland, wobei er aufder Überfahrt nach Deutschland bei dem Brande des DampfersNikolai I. in Travemünde fast ums Leben gekommen wäre. Erhielt sich namentlich in Berlin auf, wo er an der UniversitätGeschichte und Philosophie hörte. 1840 kehrte er zurückund erhielt eine Anstellung in der Kanzlei des Ministers desInnern, welche Stellung er schon im folgenden Jahr aufgab, um sichganz ins Privatleben zurückzuziehen. Er lebte nun bald aufseinem Gut Sposikoje (Kreis Mzensk, Gouvernement Orel), bald in St.Petersburg, bald im Ausland. Sein erstes Werk war das Poem"Parascha" (1842), worauf in den folgenden Jahren einige kleineSkizzen erschienen, welche später in das "Tagebuch einesJägers" aufgenommen wurden. 1852 wurde er plötzlich wegeneines von ihm verfaßten, im übrigen durchaus nichtpolitisch verfänglichen Artikels: "Ein Brief über Gogol"("Moskauer Zeitung" 1852, Nr. 32), arretiert, bei der Polizeieingesperrt und dann auf sein Gut verwiesen, welches er zwei Jahrelang (bis 1855) nicht verlassen durfte. Seit 1863 lebte T. fastganz im Ausland, meist in Baden-Baden oder Paris, in der Regel nurdie Sommermonate auf seinem Gut zubringend. Er starb 3. Sept. 1883in Bougival bei Paris. In Rußland werden nicht nur dieepischen, sondern auch die im Ausland weniger gekannten lyrischenund dramatischen Dichtungen sehr hoch geschätzt. Seinelyrischen Versuche erschienen 1841-47 in verschiedenen russischenMonatsschriften; sie bilden zusammen einen kleinen Band. Aufepischem und dramatischem Gebiet besitzt die russische Litteraturfolgende Dichtungen von T., die wir in chronologischer Reihenfolgeanführen: "Parascha" (Poem, 1842); "Unvorsichtigkeit",dramatische Skizze; "Andrei" (Poem, 1843); "Eine Unterredung",Poem; "Andrei Kolossow", "Drei Porträte" (Erzählungen,1844); "Kein Geld!" (Szenen aus dem Petersburger Leben einesrussischen Edelmanns, 1846); "Der Jude", "Der Raufbold", "PaterPetrowitsch Karatajew" (Erzählungen, 1847); "Petuschkow",Erzählung; "Allzudünn reißt bald "(Lustspiel,1848); "Der Junggeselle" (Lustspiel, 1849); "Das Tagebuch einesüberflüssigen Menschen", Erzählung; "Ein Monat imDorfe" (Lustspiel, 1850; letzteres hatte T. auf Verlangen derZensur umarbeiten müssen, und es erschien erst 1869 in seinerursprünglichen Form); "Eine Unterredung auf derLandstraße", Erzählung; "Eine Dame aus der Provinz"(Lustspiel, 1851); "Tagebuch eines Jägers", "DreiBegegnungen" (Erzählungen, 185.2); "Zwei Freunde", "Rudin"(Erzählungen, 1854); "Fern von der Welt", "Jakow Passynkow",Erzählungen; "Ein Imbiß beim Adelsmarschall" (Lustspiel,1855); "Fremdes Brot" (Lustspiel, 1857); "Asja" (Erzählung,1858); "Das adlige Nest", Roman; "Ein Fragment aus einem Roman"(1859); "Am Vorabend, oder Helene", "Erste Liebe"(Erzählungen, 1860); "Väter und Söhne" (Roman,1862); "Visionen", Phantasiebild; "Der Hund" (Skizze, 1865);"Rauch", Roman; "Geschichte des Leutnants Jergunow", "DieUnglückliche", "Der Brigadier" (Erzählungen 1867); "Einewunderliche Geschichte", "Ein König Lear der Steppe"(Erzählungen, 1870); "Es klopft" (Erzählung, 1871);"Frühlingswogen", "Tscherptochanows Ende" (Erzählungen,1872); "Eine lebende Mumie" (Erzählung, 1874); "Punin undBaburin" (Erzählung, 1875); "Die Uhr" (Erzählung, 1876);"Neuland", Roman; "Die Erzählung des Vaters Alexei" und "DerTraum" (Erzählungen, 1877). Außerdem sind noch, voneinigen kritischen Artikeln abgesehen, zu nennen: "Hamlet und DonQuichotte", eine Parallele, und "Erinnerungen an W. Belinskij".Turgenjews Romane und Erzählungen sind weniger durchsensationelle Verwickelungen als durch eine wunderbareMeisterschaft in der Gestalten- und Charakterzeichnung wie in derDarlegung psychologischer Vorgänge ausgezeichnet. Ganz demnationalen Boden und der unmittelbaren Gegenwart angehörend,spiegeln sie die jeweiligen Zustände und Bewegungen inRußland so treu wider, daß man an ihnen die Geschichteder innern Entwickelung der Gesellschaft von Werk zu Werk wie anMarksteinen verfolgen kann. Sie wurden vielfach ins Deutscheübertragen; eine Sammlung "Ausgewählter Werke" in dereinzig vom Dichter autorisierten Ausgabe erschien deutsch seit 1871in Mitau (12 Bde.); seine "Briefe" gab Ruhe in Übersetzungheraus (erste Sammlung, Leipz. 1886). Vgl. Zabel, Iwan T. (Leipz.1883); Thorsch, I. T. (das. 1886).

Turgeszieren (lat.), an-, aufschwellen.

Túrgor (lat., Turgeszenz), der natürlichestraffe Zustand der Gewebe des lebenden Körpers; in derBotanik der hydrostatische Druck im Innern der lebenden Zelle.

Turgot (spr. türgo), Anne Robert Jacques, Baron del'Aulne, franz. Staatsmann, geb. 10. Mai 1727 zu Paris, studierteTheologie und ward 1749 Prior der Sorbonne, trat jedoch 1751 ausderselben aus und wandte sich den Rechts- und Staatswissenschaftenzu. Schon 1752 ward er Substitut des Generalprokurators, sodannParlamentsrat, 1753 Requetenmeister, endlich Mitglied derköniglichen Kammer (chambre royale). In dieser Stellungwidmete er sich besonders nationalökonomischen Studien undneigte sich zu den Prinzipien von Quesnays physiokratischer Schulehin. Von 1761 bis 1773 Intendant von Limoges, richtete er seinHauptaugenmerk aus Entlastung, Hebung und Bildung des gemeinenMannes, Gründung öffentlicherWohlthätlgkeitsanstalten, Anlage von Kanal- und Wegebauten,Beförderung des Ackerbaues etc. Ludwig XVI. ernannte ihn kurznach seiner Thronbesteigung 24. Aug. 1774 zum Generalkontrolleurder Finanzen (Finanzminister). Die in seinem berühmten Briefan den König entwickelten Reformpläne Turgotsumfaßten eigentlich alles, was später die Revolutiondurchsetzte: Dezentralisation und Selbstverwaltung, Reform desSteuerwesens, Beseitigung des Zunftzwanges u. a., verletzten aberalle, die dabei ein Opfer bringen sollten. Als T. 1775 dieErlaubnis gab, an Fasttagen Fleisch zu verkaufen, bezichtigte ihnder Klerus des Versuchs, die Religion zu vernichten, und alsinfolge des vorjährigen Mißwachses eine Teurungentstand, welcher T. durch Freigebung des Getreidehandels im Innernvon Frankreich 13. Sept. 1774 hatte abhelfen wollen, schob man dieSchuld jener Not auf diese Maßregel des Ministers. Es kam zumehreren Aufständen (dem sogen. Mehlkrieg, guerre desfarines), denen die privilegierten Stände noch Vorschubleisteten. Von allen Plänen Turgots kamen so nur wenige,wenngleich wichtige Verbesserungen und Ersparungen in den Finanzenzur Ausführung, und der König

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Turin (Provinz) - Turin (Stadt).

sah sich durch den allgemeinen Widerstand der privilegiertenStände gegen Turgots neue Edikte, betreffend die Aufhebung derWegfronen und Zünfte, genötigt, seinen Minister im Mai1776 plötzlich zu entlassen. T. widmete sich fortan nurwissenschaftlichen Arbeiten und starb 8. März 1781 in Paris.Seine "OEuvres" veröffentlichten Dupont de Nemours (Par.1808-11, 9 Bde.) und Daire (das. 1844, 2 Bde.). Vgl. Batbie, T.,philosophe, économiste et administrateur (Par. 1861);Tissot, T., sa vie, son administrativ, ses ouvrages (das. 1862);Mastier, T., sa vie et sa doctrine (das. 1862); Foncin, Essai surle ministère de T. (das. 1877); Jobez, La France sous LouisXVI, Bd. 1: T. (das. 1877); Neymarck, T. et ses doctrines (das.1885, 2 Bde.); kleine Biographien von L. Say (das. 1888) undRobineau (das. 1889).

Turin (ital. Torino), ital. Provinz, umfaßt dennordwestlichen Teil von Piemont, grenzt östlich an dieProvinzen Novara und Alessandria, südlich an Cuneo, westlichan Frankreich, nördlich an die Schweiz (Kanton Wallis) und hatein Areal von 10,535, nach Strelbitsky 10,452 qkm (189,8 QM.). DasLand ist zum größten Teil gebirgig und wird von denKottischen, Grajischen und Penninischen Alpen nebst ihrenAusläufern durchzogen. An der Grenze gegen die Schweiz erhebensich die Hochgipfel des Montblanc, Matterhorn und Monte Rosa. Diezahlreichen Thäler münden alle in die bei Turin auf 12 kmverengerte Ebene des Po, der von hier an schiffbar wird und denPellice mit Clusone, die Chisola, Dora Riparia, Stura und DoraBaltea aufnimmt. Die Bevölkerung belief sich 1881 auf1,029,214 Einw. Der Boden ist namentlich in der Poebene höchstfruchtbar und liefert Weizen (1887: 761,000 hl), Mais (692,000 hl),Flachs, Hanf, Kastanien, Wein (333,691 hl) etc. Von Bedeutung istauch die Viehzucht (1881 zählte man 288,042 StückRindvieh, 154,792 Schafe, 54,825 Ziegen); die Seidenzucht lieferte1887: 1,3 Mill. kg Kokons. Das Mineralreich bietet Eisen, Blei,Kupfer, Silber, Kobalt, Marmor, Salz etc. Die Industrie istnamentlich durch Seidenspinnereien u. -Zwirnereien,Seidenwebereien, Schaf- u. Baumwollmanufakturen, Papierfabriken,Gerbereien und sonstige Lederverarbeitung, Fabriken fürKerzen, Seife, Chemikalien, metallurgische Produkte, Ziegel, Glas-u. Thonwaren u. a. vertreten. Die Provinz zerfällt infünf Kreise: Aosta, Ivrea, Pinerolo, Susa und T.

Turin (Augusta Taurinorum), Hauptstadt der gleichnamigenital. Provinz, bis 1861 Hauptstadt des Königreichs Sardinienund bis 1865 des Königreichs Italien, liegt 239 m ü. M.,in einer herrlichen, ostwärts von den Höhen dermontferratischen Berge begrenzten Ebene. Die Lage ist fürkriegerischen wie friedlichen Verkehr hervorragend günstig,denn es geht hier die obere piemontesische Ebene mit den dortvereinigten Straßen durch die Verengerung von T. in diemittlere und untere Poebene über, so daß hier derVerkehr zwischen beiden Ebenen, den das Bergland von Montferratsonst hindern würde, vermittelt wird. Der Po wird hier durchAufnahme der Dora Riparia schiffbar, in deren Thal die beidenwichtigen Alpenstraßen von Savoyen über den Mont Cenis(jetzt Eisenbahn) und aus der Dauphiné über den MontGenèvre vereinigt auf T. gehen, das damit zu einem wichtigenStraßenknoten und Schlüssel der gangbarsten Pässeüber die Westalpen wird. Selbst die Straßen überden Großen und Kleinen Bernhard im Dora Baltea-Thalaufwärts lassen sich noch von T. aus beherrschen. So hat T.als natürlicher Mittelpunkt des ganzen obern Pogebiets in derKriegsgeschichte, bis 1801 auch als starke Festung, einegroße Rolle gespielt (s. unten, Geschichte). Dank seiner Lageund dem durch die Mont Cenis-Bahn mächtig gewachsendenVerkehr, hat es die Verlegung der Hauptstadt leicht verwunden undist in hoffnungsvollem Aufschwung begriffen. Außer dieserBahn vereinigen sich hier die Linien über Novara nach Mailand,über Alessandria nach Genua und Piacenza, über Brànach Savona, nach Cuneo, Pinerolo, Rivoli, Lanzo, Rivarolo,über Ivrea nach Aosta, Biella, Arona. Die reizende Lage unddie regelmäßige Bauart machen T. zu einer derschönsten Städte Italiens. Es zerfällt in siebenStadtteile (Dora, Moncenisio, Monviso, Po, Borgo San Salvatore,Borgo Po und Borgo Dora) und hat langgedehnte, breite und geradeStraßen und weite, stattliche Plätze. Die ehemaligenFestungswerke sind zu schönen Spaziergängen umgewandelt.Die schönsten Straßen sind die Via di Po, die Via diRoma, die Via Garibaldi und der Corso Vittorio Emmanuele. Unter den40 Plätzen zeichnen sich aus: die Piazza Castello, rings vonHallen umgeben; die Piazza Carlo Alberto; die Piazza Carlo Felice(mit hübschen Anlagen versehen); die große, 1825angelegte Piazza Vittorio Emmanuele, welche sich bis zu der 1801unter Napoleon I. erbauten großen steinernen Pobrückehinzieht; die Piazza del Palazzo di Città, die Piazza delloStatuto mit dem Denkmal für den Bau des Mont Cenis-Tunnels unddie Piazza Cavour (mit Anlagen). Die hervorragendenMonumentalbauten sind nicht die Kirchen, sondern die Paläste,welche mit Ausnahme des Palazzo Madama auf der Piazza Castello (von1416) meist einer spätern Zeit angehören (17. und 18.Jahrh.). Dazu gehören das königliche Schloß auf derNordseite der Piazza Castello (1660 erbaut), mit den Reiterstatuenvon Kastor und Pollux und dem Reiterbild des Herzogs Viktor AmadeusI. (im Vestibül), der königlichen Bibliothek (50,000Bände, 2000 Manuskripte), einer reichen Sammlung vonHandzeichnungen (über 20,000 Stück) und Münzen, derberühmten königlichen Rüstkammer (armeria reale),einem schönen Schloßgarten und, hieran anstoßend,einem zoologischen Garten; der Palazzo Carignano (von 1680),ehemals Sitz des Parlaments, jetzt der Gemeinde gehörig; derPalast der Akademie der Wissenschaften (früherJesuitenkollegium, 1678 von P. Guarini erbaut); dasUniversitätsgebäude (von 1713), das Stadthaus (von 1665),der Palazzo delle due Torri, das Teatro regio (von 1738) und dasTeatro Carignano (von 1787), wozu neuerdings der Zentralbahnhof(1865-68 von Mazzucchetti erbaut), die Galleria Industriale undmehrere kleinere Theater hinzugekommen sind. Unter den 40 Kirchenvon T. zeichnen sich aus: die Kathedrale San Giovanni, einRenaissancebau mit der schwarzmarmornen Grabkapelle del Sudario(1657-1694 von Guarini erbaut); die Kirchen Beata Vergine dellaConsolazione (1679 ausgeführt), San Filippo (1714 vollendet),Corpus Domini (von 1753), die Kuppelkirche San Massimo, die RotundeGran Madre di Dio (1818-49 erbaut) und die protestantische Kirche(tempio Valdese, 1851 erbaut). T. ist außerordentlich reichan Denkmälern, welche das savoyische Haus, dieStaatsmänner und großen Geister

[Wappen von Turin.]

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Turinsk - Türk.

des Landes verherrlichen. Dazu gehören: das ReiterbildEmanuel Philiberts auf der Piazza San Carlo (von Marochetti, 1838);das Denkmal Amadeus' VI. auf der Piazza Palazzo di Città;die Marmorstatuen des Prinzen Eugen von Savoyen und des PrinzenFerdinand (1858) vor dem Rathaus; die der Könige Karl Albertund Viktor Emanuel in der Vorhalle des Rathauses; ferner auf derPiazza Carlo Alberto die Reiterstatue Karl Alberts (von Marochetti,1861); auf der Piazza Carignano das Denkmal Giobertis (vonAlbertoni, 1860); auf der Piazza Carlo Felice die Statue d'Azeglios(von Balzico, 1873); auf der Piazza Carlo Emmanuele II. dasgroße Denkmal Cavours (von Dupré, 1873); fernerStatuen von Lagrange, Brofferio, Cassini, Micca (des Retters derStadt 1706), Pepe, Bava, Balbo, Manin, des Herzogs Ferdinand vonGenua u. a.

Die Zahl der Bewohner beträgt (1881) 230,183, mit demGemeindebezirk 252,832. Die Industrie hat in der neuern Zeiterhebliche Fortschritte gemacht, besonders in der Fabrikation vonSeidenstoffen und Tapeten; außerdem bestehen Fabrikenfür Bijouteriewaren, Möbel, Pianofortes, Maschinen,Liköre, Leder, Handschuhe und andre Lederarbeiten, Tuch,Zündhölzchen, Papier, Tabak u. a. Zur Förderung derIndustrie und des Handels besitzt die Stadt eine Sparkasse, 10Bankinstitute, 25 Aktiengesellschaften u. a. Für den Verkehrsorgen die oben erwähnten Eisenbahnen, mehrere Pferdebahnenund Dampftramways und die Poschiffahrt. Unter den Bildungsanstaltender Stadt behauptet den ersten Rang die 1412 gegründeteUniversität (250 Lehrer, über 2100 Studierende,nächst der Universität in Neapel die größteFrequenz in Italien) mit vier Fakultäten und einer Bibliothekvon 225,000 Bänden nebst zahlreichen Manuskripten. Sie istauch mit allen notwendigen Museen und Instituten ziemlich gutversehen. Andre Bildungsinstitute sind: eine Ingenieurschule, einSeminar, ein Lyceum, ein Lycealgymnasium, 2 Gymnasien, einGewerbeinstitut, die Kriegsschule, eine Artillerie- undGenieschule, eine Militärakademie, 4 technische Schulen, eineTierarzneischule etc.; ferner die Akademie der Wissenschaften (1759gegründet) mit wertvoller Bibliothek (40,000 Bände) u.Altertumsmuseum, eine medizinisch-chirurgische Akademie mitBibliothek (20,000 Bände), eine Akademie der schönenKünste (Albertina), ein Kunstverein, ein Industriemuseum(welches auch Gewerbeschullehrer heranbildet), eins der reichstenStaatsarchive in Europa (mit Urkunden der Karolinger), eineGemäldesammlung (über 500 Nummern, darunter Gemäldevon P. Veronese, Raffael, van Dyck, Memling u. a.), einstädtisches Museum, ein Museum der Renaissance (1863 alsSynagoge erbaut), zahlreiche Gesellschaften und Vereine. T. besitztferner eine bedeutende Anzahl gut dotierterWohlthätigkeitsanstalten verschiedenster Art und ist der Sitzdes Präfekten, eines Erzbischofs, eines Kassationshofs, einesAppell- und Assisenhofs, eines Zivil- und Korrektionstribunals,einer Finanzintendanz, eines Generalkommandos, einer Handelskammerund eines Handelstribunals sowie eines deutschen Konsuls. Unter denöffentlichen Spaziergängen sind namentlich der NuovoGiardino pubblico, woran sich der botanische Garten und dasmalerische Castel del Valentino anschließen, und von wo eineKettenbrücke aufs rechte Ufer des Po führt, derSchloßgarten mit dem zoologischen Garten und der Giardino diCittà anzuführen. Der schönste Punkt der weiternUmgegend ist die 678 m hoch gelegene, seit 1884 durch eineDrahtseilbahn zugängliche prachtvolle Klosterkirche La Supergamit der königlichen Familiengruft und herrlicher Aussicht aufdie Alpen.

Geschichte. T. war im Altertum unter dem Namen Taurasia Hauptortder gallischen Taurini, wurde 218 v. Chr. von Hannibal erobert underhielt unter Augustus eine römische Kolonie und den NamenAugusta Taurinorum. Die Langobarden, in deren Besitz die Stadt um570 n. Chr. kam, ließen sie durch Herzöge verwalten. Inder Folge bemächtigten sich die Markgrafen von Susa derHerrschaft, und nach deren Aussterben (um 1060) folgte das HausSavoyen. Venedig u. Genua schlossen 1381 unter Vermittelung desHerzogs Amadeus von Savoyen in T. Frieden. 1506 von den Franzosenerobert, blieb T. in deren Besitz bis 1562. Damals erhielt esHerzog Philibert zurück, machte es zu seiner Residenz underbaute 1567 die Citadelle. 1640 nahmen die Franzosen unterHarcourt T. nach 17tägiger Belagerung ein. Am 29. Aug. 1696wurde hier der Separatfriede zwischen Savoyen und Frankreichgeschlossen. Von den Franzosen unter dem Herzog von Orléansbelagert, ward T. durch den Sieg der Kaiserlichen unter Prinz Eugen7. Sept. 1706 befreit. 1798 von den Franzosen eingenommen, ward es25. Mai 1799 von den Österreichern und Russen unter Suworowwieder befreit. Nach der Schlacht bei Marengo (1800) kam T. aufsneue in die Gewalt der Franzosen und blieb in derselben alsHauptstadt des Podepartements, bis es, seiner Befestigungswerke bisauf die Citadelle beraubt, 1814 durch den Pariser Frieden demKönig von Sardinien zurückgegeben ward und nun wiederResidenz und Hauptstadt wurde. Es blieb dies, bis infolge dersogen. Septemberkonvention (15. Sept. 1864) die Residenz und derSitz der Zentralbehörden des Reichs im Mai 1865 nach der neuenHauptstadt Italiens, Florenz, verlegt wurde. Nach dem Bekanntwerdender Septemberkonvention kam es 20.-22. Sept. 1864 zu einem blutigenAufruhr, der nur durch Waffengewalt unterdrückt werden konnte.Vgl. Promis, Storia dell' antica Torino (Tur. 1869); Cibrario,Storia di Torino (das. 1847, 2 Bde., für das Mittelalter);Borbonese, Torino illustrata e descritta (das. 1884).

Turinsk, Stadt im russisch-sibir. Gouvernement Tobolsk,an der Mündung der Jalimka in die Tura, hat eine Kirche, einNonnenkloster und (1885) 4658 Einw., welche ansehnliche Gerbereibetreiben.

Turiones (lat.), Sprosse; T. (Gemmae) Pini,Kiefernsprosse.

Türk, 1) Daniel Gottlob, ausgezeichneter Organistund Musiktheoretiker, geb. 10. Aug. 1756 zu Klaußnitz beiChemnitz, besuchte die Kreuzschule in Dresden, 1772 dieUniversität Leipzig, wo er unter Hiller die schon früherbegonnenen Musikstudien fleißig fortsetzte, wurde 1776 Kantoran der Ulrichskirche in Halle, 1779 Universitätsmusikdirektorund 1787 Organist an der Frauenkirche; starb 26. Aug. 1813 daselbst. Seine theoretischen und didaktischen Werke sind: "Von denwichtigsten Pflichten eines Organisten" (Leipz. u. Halle 1787, neueAusg. 1838); "Klavierschule", mit kritischen Anmerkungen (das.1789); "Kurze Anweisung zum Generalbaßspielen" (das. 1791; 5.Aufl. von Naue, 1841); "Anleitung zu Temperaturberechnungen" (das.1806) etc. Von seinen Kompositionen erschienen ein Oratorium: "DieHirten bei der Krippe in Bethlehem", 18 Klaviersonaten, Lieder u.a. im Druck.

2) Karl Christian Wilhelm von, namhafter Schulmann, geb. 8. Jan.1774 zu Meiningen, studierte in Jena die Rechte und ward 1794mecklenburgischer

Meyers Konv.-Lexikon, 4 Aufl., XV. Bd.

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Turka - Türkische Sprache und Litteratur.

Kammerjunker und Justizrat in Neustrelitz. Seit 1800 mitSchulsachen betraut, faßte er für diese entschiedeneVorliebe, besonders seit einer Reise durch Deutschland und dieSchweiz mit längerm Aufenthalt bei Pestalozzi (1804). Erfolgte 1805 einem Ruf als Justiz- und Konsistorialrat nachOldenburg, legte aber wegen der Schwierigkeiten, denen seinepädagogischen Bestrebungen begegneten, sein Amt 1808 niederund widmete sich anfangs als Gehilfe Pestalozzis zu Yverdon, dannals Leiter einer selbständigen Anstalt in Vevay der Erziehung.1815 als Regierungs- und Schulrat nach Frankfurt a. O. berufen,1816 nach Potsdam versetzt, reorganisierte er das Schul- undSeminarwesen der Mark in Pestalozzis Sinn. 1833 legte er seineStelle nieder, um sich der Leitung einer von ihm gegründetenZivilwaisenanstatt zu widmen, und starb 31. Juli 1846 inKleinglienecke bei Potsdam. Auch um Einführung des Seidenbauesin Deutschland hat er sich verdient gemacht. Türks zahlreicheSchriften haben seiner Zeit Aufsehen erregt, sind aber jetztüberholt worden. Vgl. "Leben und Wirken des Regierungsrats W.v. T., von ihm selbst niedergeschrieben" (Potsd. 1859).

Turka, Stadt in Galizien, an der Nordseite der Karpathen,Sitz einer Bezirkshauptmannschaft und eines Bezirksgerichts, mit(1880) 4685 Einw.

Türken, einer der drei Zweige der altaischenVölkerfamilie, der sich gegenwärtig in seinen einzelnenAusläufern von den grünen Gestaden des Mittelmeers bis andie eisigen Ufer der Lena in Sibirien erstreckt. Ihre Urheimat istTurkistan, von wo wahrscheinlich schon vor Beginn unsrerZeitrechnung mehrere Stämme nach verschiedenen Richtungenausgezogen sind und sich den einzelnen Eroberungen derhochasiatischen Völker angeschlossen haben. Schon von denRömern gekannt, haben sie gleich den Mongolen große,mächtige Reiche gegründet, das Römerreichgezüchtigt und ganz Europa in Schrecken versetzt. Die ThroneChinas, Persiens, Indiens, Syriens, Ägyptens und desKalifenreichs wurden von den T. in Besitz genommen. Man hat zu denT. die jetzt nicht mehr existierenden Petschenegen, Kumanen,vielleicht auch die Chasaren und weißen Hunnen zu rechnen,gegenwärtig gehören zu ihnen die Jakuten, die sibirischenTataren, Kirgisen, Uzbeken (Özbegen), Turkomanen,Karakalpaken, Nogaier, Kumüken, basianischen T., Karatschai,die sogen. kasanschen Tataren, Osmanen (die von den frühernSeldschukken abstammen), Dunganen und Tarantschi; sprachlich sindhierher auch zu rechnen die Baschkiren, Tschuwaschen,Meschtscherjäken u. Teptjaren im südlichen Ural und ander Wolga. Mit Ausnahme der Jakuten sind die T. durchwegAnhänger des Islam, alle sind trotz der vielfachen Eroberungennomadisierende Hirten geblieben, die sich aber bei gebotenerGelegenheit in räuberische Kriegshorden verwandelten.Gegenwärtig versteht man unter T. gewöhnlich die Osmanen(Osmanly) und bezeichnet die von ihnen eroberten und beherrschtenLänder als Türkei oder türkisches Reich. Vgl.Vambéry, Skizzen aus Mittelasien (Leipz. 1868); Derselbe,Das Türkenvolk in seinen ethnologischen und ethnographischenBeziehungen (das. 1885); Radloff, Ethnographische Übersichtder Türkstämme Sibiriens und der Mongolei (das.1883).

Türkenbund, s. v. w. Turban; dann eine Pflanze, s.v. w. Lilium Martagon L. (s. Lilium).

Türkenpaß, s. Algierscher Paß.

Türkensattel, eine Vertiefung im Keilbein, s.Schädel, S. 373.

Türkensteuern, Steuern, welche seit dem 16. Jahrh.aus Veranlassung der Türkenkriege (besonders inÖsterreich) erhoben wurden.

Turkestan, s. Turkistan.

Turkestan, Stadt im asiatisch-russ. GeneralgouvernementTurkistan, Provinz Sir Darja, an der Poststraße nachOrenburg, mit (1881) 6700 Einw. Die alte Moschee Asret war bis zurEroberung der Stadt durch die Russen (1864) ein in hohem Rufstehender Wallfahrtsort der Mohammedaner.

Turkeve, Stadt im ungar. KomitatJász-Kis-Kun-Szolnok mit (1881) 12,042 ungar. Einwohnern(Katholiken und Reformierte).

Türkheim, Stadt im deutschen Bezirk Oberelsaß,Kreis Kolmar, an der Fecht, aus der hier der Logelbach nach Kolmarführt, und an der Eisenbahn Kolmar-Münster, hat einekath. Kirche, Baumwollspinnerei, Papierfabrikation, vortrefflichenWeinbau und (1885) 2544 Einw. Nordwestlich davon, auf der Höheder Vogesen, liegt Drei-Ähren (s. Ammerschweier). -T., ehemalsThorencoheim oder Türnicheim, erhielt 1312 Stadtrecht undgehörte dann zu den zehn elsässischen freienReichsstädten. Hier 5. Jan. 1675 Sieg der Franzosen unterTurenne über den kaiserlichen Feldherrn v. Bournonville, denHerzog Karl von Lothringen und den Kurfürsten FriedrichWilhelm von Brandenburg. Vgl. Gérard, La bataille de T.(Kolmar 1870).

Türkis (Kalait, Agraphit, Johnit), Mineral aus derOrdnung der Phosphate, findet sich amorph in Trümern oderAdern, nierensörmig und stalaktitisch, auch derb, eingesprengtund als Gerölle, ist blau oder grün, undurchsichtig,wenig glänzend, Härte 6, spez. Gew. 2,62-2,80, bestehtaus wasserhaltiger phosphorsaurer Thonerde Al2P2O8 + H2A2O6 + 2H2Omit etwas Eisen und Kupfer, letzteres als färbendes Prinzip.Der orientalische T., der in Adern, Thonschiefer durchsetzend, zuNischapur und Mesched in Persien (s. Tafel "Edelsteine", Fig. 8)und im Porphyr des Megarathals in Arabien vorkommt, war ein imMittelalter als glückbringendes Amulett hochgeschätzterund ist auch jetzt ein vielbenutzter Edelstein, aber von geringemWert. Weniger schöne Varietäten stammen von derJordansmühle in Schlesien, von Ölsnitz in Sachsen, vonMexiko und Nevada. Der sogen. Zahntürkis (Beintürkis,occidentalischer T., T. vom jüngern Stein) ist natürlichoder künstlich gefärbter Zahnschmelz oder Elfenbein, inersterm Fall von Mastodon und Dinotherium. Er erreicht beinahe dieHärte des mineralischen Türkises, ist meist intensivergefärbt, erscheint aber bei Kerzenbeleuchtungbläulichgrau. Natürliche Zahntürkise kommen inSibirien und im Languedoc vor.

Türkische Becken, s. Becken, S. 588.

Türkische Kresse, s. v. w. Tropaeolum majus.

Türkische Melisse, s. Dracocephalum.

Türkischer Klee, s. v. w. Esparsette, s.Onobrychis.

Türkischer Weizen, s. Mais.

Türkische Sprache und Litteratur. Die türkischeoder osmanische (türk. Osmanli) Sprache gehört zurtürkisch-tatarischen Abteilung der großen uralaltaischenSprachenfamilie (s. d.). Im weitern Sinn bezeichnet man alleSprachen dieser Abteilung, die bis zur Lena in Sibirien reichen undsehr nahe miteinander verwandt sind, als türkische;gewöhnlich versteht man aber im engern Sinn die Sprache derOsmanen, d. h. der europäischen und klein-asiatischen(anatolischen) Türken, darunter. Die beiden charakteristischenEigentümlichkeiten des uralaltaischen Sprachstammes, dieAgglutination und die Vokalharmonie (s. d.), treten imTürkischen in

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Türkische Sprache und Litteratur

kräftigster Weise hervor. Erstere ermöglichtnamentlich die Bildung einer bedeutenden Menge von Konjugationen,wobei der Stamm des Verbums stets unverändert an der Spitzedes Wortes stehen bleibt. So heißt sev-mek "lieben",sev-isch-mek "einander lieben", sev-isch-dir-mek "einander liebenmachen", sev-isch-dir-il-mek "einander lieben gemacht werden",sev-isch-dir-il-me-mek "nicht einander lieben gemacht werden" etc.Während so der grammatische Bau rein uralaltaisch ist, hat derWortschatz eine mannigfache Versetzung mit europäischen,namentlich aber mit arabischen und persischen Sprachelementenerfahren. Die natürliche Folge dieser Vermischung mit fremdenSprachelementen ist eine beträchtliche Verminderung desursprünglichen türkischen Wortschatzes gewesen. IhrAlphabet haben die Türken von den Arabern entlehnt, den 28arabischen Konsonantenzeichen aber fünf neue Konsonantenhinzugefügt, von denen drei ihnen mit den Persern gemein sind,einer rein persisch und einer rein türkisch ist. Wie dieAraber und Perser, schreiben und lesen die Türken von rechtsnach links. In der Schrift und im Druck werden die Zeichen desAlphabets in verschiedener Weise kalligraphisch gemodelt. Es gibtdaher besondere Schriftgattungen für den Bücherdruck, dieFermane (amtlichen Erlasse), die Poesie, den Briefverkehr(Kursivschrift) etc. Vgl. Grimm, Über die Stellung, Bedeutungund einige Eigentümlichkeiten der osmanischen Sprache (Ratib.1877, Schulprogramm); ferner die Grammatiken von Redhouse("Grammaire raisonnée de la langue ottomane", Par. 1846;"Simplified grammar", Lond. 1884) und Kazem Beg (deutsch vonZenker, Leipz. 1848), die zur praktischen Erlernung der Sprachedienenden Handbücher von Bianchi ("Guide de la conversation enfrançais et en turc", Par. 1839), Wahrmund ("PraktischesHandbuch der osmanisch-türkischen Sprache, mitWörtersammlung etc.", 2. Aufl., Gieß. 1884), Wells ("Apractical grammar of the Turkish language", Lond. 1880), A.Müller ("Türkische Grammatik", Berl. 1889) u. a. und dieWörterbücher von Meninski ("Thesaurus linguarumorientalium", Wien 1660; 2. Ausg., das. 1780, 4 Bde.), Kieffer undBianchi ("Dictionnaire-turc-français", 2 Tle., 2. Aufl.,Par. 1850), von Bianchi ("Dictionnaire francais-turc àl'usage des agents diplomatiques", 2. Aufl., das. 1843-46, 2 Tle.),Redhouse ("Turkish dictionary", 2. Aufl., 1880), Barbier de Meynard("Dictionnaire turc-français", Par. 1881 ff., bisher 2Bde.), Zenker ("Türkisch-arabisch-persischesHandwörterbuch", Leipz. 1866-76, 2 Bde.), Mallouf("Dictionnaire français-turc", 3. Aufl., Par. 1881);für seinen besondern Zweck sehr wertvoll ist v.Schlechte-Wssehrds "Manuel terminologique français-ottoman"(Wien 1870), ein bequemes Handbuch Vambérys"Deutsch-türkisches Handwörterbuch" (Konstantinop. 1858).Für Reisezwecke dienen Finks "Türkischer Dragoman" (2.Aufl., Leipz. 1879) und Heintzes "TürkischerSprachführer" (das. 1882). Die beste Chrestomathie istdiejenige von Wickerhausen (Wien 1853), für Anfängerrecht praktisch die von Dieterici (Berl. 1854, mit grammatischenParadigmen und Glossar).

Wie den Islam, haben die Türken auch ihre geistige Bildungdurch die Araber und Perser erhalten. Die türkische Litteraturbietet uns daher wenig Originelles dar, sie ist vielmehrgrößtenteils eine Nachahmung persischer und arabischerMuster. Eins der ältesten poetischen Denkmäler derosmanischen Sprache ist das "Bâz nâmeh", ein Gedichtüber die Falknerei, welches Hammer-Purgstall mit einemneugriechischen und mitteldeutschen von ähnlichem Inhaltzusammen unter dem Titel: "Falknerklee" herausgegeben undübersetzt hat (Pest 1840). Die osmanischen Dichter sind sehrzahlreich; Hammer-Purgstall hat in seiner "Geschichte derosmanischen Dichtkunst" (Pest 1836-38, 4 Bde.) uns allein 2200Dichter mit Proben aus ihren Werken und kurzen biographischenNotizen vorgeführt. Hier heben wir nur diehauptsächlichsten hervor. Vor allen ist Lami (s. d.) zunennen, wohl der fruchtbarste unter den osmanischen Dichtern (gest.1531) und besonders durch seine vier großen epischen Gedichteberühmt. Ein sehr selbständiger Dichter ist Fasli, derunter Soliman d. Gr. lebte und 1563 starb. Sein allegorischesGedicht "Gül u Bülbül" ("Rose und Nachtigall",deutsch von Hammer-Purgstall, Pest 1834) ist unter allentürkischen Gedichten europäischem Geschmack am meistenentsprechend. Der größte Lyriker der Osmanen ist Baki(gest. 1600), dessen "Diwan" Hammer-Purgstall (Wien 1825, wozu nochzu vergleichen "Geschichte der osmanischen Dichtkunst", Bd. 2, S.360 ff.) deutsch herausgegeben hat. Die Osmanen selbst haben eineerhebliche Anzahl von Blumenlesen aus ihren Dichternzusammengestellt. Die größte unter denselben ist"Subdet-ul-esch'âr" ("Creme der Gedichte") von Mollah Abd ulhajj ben Feisullah, genannt Kassade (gest. 1622), welcheAuszüge aus 514 Dichtern nebst biographischen Notizenenthält. Auf dem Gebiet der Märchen und Erzählungensind zu erwähnen: das "Humajunnâme" ("Kaiserbuch", vgl.v. Diez, Über Vortrag, Entstehung und Schicksale desKöniglichen Buches, Berl. 1811; gedruckt Bulak 1836), eineÜbersetzung der persischen Bearbeitung der Fabeln des Bidpaivon Ali Tschelebi; ferner das "Tutinâme" ("Papageienbuch")des Sari Abdallah, ebenfalls aus dem Persischen (gedruckt Bulak1838, Konstantinop. 1840; übers. von G. Rosen, 2 Bde., Leipz.1858, und Wickerhauser, Hamb. 1863); die aus dem Arabischenübersetzten Geschichten der vierzig Wesire von Scheich Sade(türkisch hrsg. von Belletête, Par. 1812; deutsch vonBehrnauer, Leipz. 1851). Zur Volkslitteratur gehören vor allemder unter dem Namen "Sîret-i Sejjid Batthâl" bekannteRitterroman (vgl. Fleischer, Kleinere Schriften, Bd. 3, S. 226 ff.;gedruckt Kasan 1888, übers. von Ethé, Leipz. 1871, 2Bde.) und die "Latha'if-i Chodscha Nassreddin Efendi"("Schwänke des Herrn Meisters Nassr ed din", destürkischen Eulenspiegel, Konstantinop. 1837 u. ö., Bulak1838; franz. von Decourdemanche, Par. 1876, Brüss. 1878;deutsch von Murad Efendi, Oldenb. 1877). Türkische Volksliederveröffentlichte I. Kunos in der Wiener "Zeitschrift fürdie Kunde des Morgenlandes", 2. u. 3. Bd. (1888-89);Volksmärchen derselbe (ungarisch, Budapest 1887; deutsch inder "Ungarischen Revue" 1888-89), ebenso ein Volksschauspiel("Ortaojunu", Budapest 1888, türk. u. ungar.). Zahlreich undcharakteristisch sind die türkischen Sprichwörter, vondenen eine beliebte Sammlung Schinasi veranstaltet hat (gedrucktKonstantinop. 1863 u. öfter); eine andre ist von der Wienerorientalischen Akademie herausgegeben worden ("OsmanischeSprichwörter", Wien 1865, mit deutscher und franz.Übersetzung); "1001 proverbes turcs" übersetzteDecourdemanche (Par. 1878). Für die Geschichte ihres Reichshaben die Osmanen viel Material zusammengetragen. IhreReichsannalen beginnen mit dem Ursprung des osmanischenHerrscherhauses und reichen bis in die Gegenwart. Die Verfasserderselben sind: Saad ed

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din, dessen Annalen bis 1522 reichen (bis Murad I.,türkisch und lateinisch hrsg. von Kollar, Wien 1750); NaimaEfendi, von 1591 bis 1659 (Konstantinop. 1734, 2 Bde.; 1863, 6Bde.; engl. von Fraser, Lond. 1832, 2 Bde.); Raschid, von 1660 bis1721 (Konstantinop. 1741, 3 Bde.; 1865); Tschelebisade, von 1721bis 1728 (das. 1741); Sami, Schakir und Sübhi, von 1730 bis1743 (das. 1784); Izzi, von 1744 bis 1752 (das. 1784));Waßif, von 1752 bis 1773 (das. 1805, 2 Bde., und Kairo 1827u. 1831); Enweri, von 1759 bis 1769 (Bulak 1827); Dschewdet, von1774 bis 1825 (Konstantinop. 1855-84, 12 Bde.; Bd. 1-8, neue Ausg.,das. 1886); Aßim, von 1787 bis 1808 (das. 1867); Lutfi, von1832 bis 1838 (das. 1873-85). Eine Art Zusammenfassung undErgänzung zu den Reichsannalen bildet die große"Geschichte der osmanischen Dynastie" von Cheirullah Efendi (15Bde., Konstantinop. 1853-69; Bd. 1-10 in neuer Ausg., das. 1872).Ein großer Teil des in diesen Reichsannalen niedergelegtenhistorischen Materials ist von Hammer-Purgstall in seiner"Geschichte des osmanischen Reichs" verarbeitet worden; danebenfehlt es nicht anzahlreichen Einzelschriften, wie desKemâlpaschasâde "Geschichte des Feldzugs vonMohácz" (türk. u. franz. von Pavet de Courteille, Par.1859). Die neuern türkischen Geschichtschreiber hat v.Schlechta-Wssehrd ("Die osmanischen Geschichtschreiber der neuernZeit", Wien 1856) behandelt. Als einer der gelehrtesten Historikerder Türken ist noch Hadschi Khalfa zu erwähnen. Erschrieb das "Takwim-ut-tewarich" ("Tafel der Geschichte",Konstantinop. 1733) und das "Tochfet-ul-kibâr" ("Geschenk derGroßen"), welches die Seekriege der Osmanen behandelt (das.1729 u. 1873-76; ein Teil engl. von I. Mitchell, Lond. 1831). Umdie Geographie machte er sich verdient durch sein geographischesWörterbuch "Dschihân-numâ" ("Buch der Weltschau",Konstantinop. 1732; lat. von Norberg, Lund 1818, 2 Bde.). Vonsonstigen geographischen Werken erwähnen wir die Reisen inEuropa, Asien und Afrika des Evlia Efendi (von Hammer-Purgstall insEnglische übersetzt, Lond. 1834-46), des Mohammed Efendi(hrsg. von Jaubert, Par. 1841) und eine geographische BeschreibungRumeliens und Bosniens, die Hammer-Purgstall (Wien 1812)übersetzt hat. Auf dem Gebiet der Sprachwissenschaft dienenden Türken die Araber zum Vorbild. Eine brauchbare Grammatikihrer eignen Sprache haben Mohammed Fuad Efendi und Ahmed DschewdetEfendi geliefert. Das Buch führt den Titel: "Kawâid-iOsmânijje" ("Grundregeln der osmanischen Sprache",Konstantinop. 1851 u. 1859) und ist von H. Kellgren (Helsingf.1855) ins Deutsche übersetzt worden. Auf dem Gebiet derLexikographie haben die Türken ihre eigne Sprachevernachlässigt, desto eifriger aber das Arabische, das beiihnen die Gelehrtensprache ist, und das Persische bearbeitet. Zunennen sind hier: Wânkûlis Übersetzung desarabischen Wörterbuchs von Dschauhari (Konstantinop. 1803, 2Bde.); Aßim Efendis Übersetzung des arabischenWörterbuchs "Kamus" (das. 1814-17, 3 Bde.; 1856, 3 Bde.; Kairo1835, 3 Bde.), mit vielen gehaltvollen Zusätzen; Achmet EminEfendis Übersetzung des persischen Wörterbuchs"Burhân-i kati" (Konstantinop. 1799, Kairo 1836). Das zuKonstantinopel 1742 in 2 Bänden erschienenepersisch-türkische Wörterbuch "Ferheng-i Schu'uri" istdurch seine zahlreichen Citate aus persischen Dichtern besonderswichtig. Es existieren ferner eine Reihe sachlicher undgrammatischer Kommentare zu den beliebtesten persischenDichterwerken, wie die Kommentare des Sudi zu Saadis "Gulistan"(Konstantinop. 1833) und zu den Gedichten des Hafis (Kairo 1834, 3Bde.; zum Teil von H. Brockhaus seiner Ausgabe der Gedichte desHafis, Leipz. 1855-63, beigefügt), des Ismael Hakki zu dem"Pendnâme" des Ferid ed din Attar (Kairo 1834) und zu dem"Mesnewi" des Dschelâl ed din Rumi (das. 1836, 6 Bde.). DieMedizin ist in neuerer Zeit durch außerordentlich zahlreicheSchriften vertreten, welche zeigen, daß die türkischenÄrzte mehr und mehr den Forschungen ihrer westlichen KollegenRechnung zu tragen bemüht sind. Die eigentliche türkischeJurisprudenz ruht auf der festen Grundlage des Korans und derSunna. An den türkischen Akademien wird sie neben derTheologie des Islam am meisten kultiviert. Viele juristische Werkesind auch bereits durch den Druck veröffentlicht, so:große Sammlungen der sogen. Fetwas, gerichtlicherEntscheidungen in schwierigen Fällen, der sogen. Sakks,Urkunden oder Formulare für alle möglichen Fälle derGerichtsordnung, das Strafgesetzbuch etc. In neuerer Zeit haben dieBerührungen mit dem Abendland eine von der islamitischenTradition unabhängige Nebengesetzgebung erzwungen, die mehrund mehr auf das Gebiet des echten islamitischen Rechtsübergreift, wenn sie auch zunächst auf die Erfordernissedes internationalen Verkehrs (Handelsgesetzbuch, Zollreglements u.dgl.; Verträge aller Art; Verfassungsurkunden und sonstigediplomatische Aktenstücke) zugeschnitten ist. Mit derjuristischen Litteratur steht auch bei den Türken diereligiös-dogmatische in enger Verbindung; doch wird fürdieses Gebiet die arabische Sprache vorgezogen, so daß sichin türkischer hauptsächlich populäre, zum Teilkatechismusartige Schriften geringern Wertes finden. Sehr beliebtist von diesen der Abriß der Glaubenslehre von Mohammed PirAli el Birgewi (Konstantinop. 1802 u. öfter; franz. von Garcinde Tassy, Par. 1822); erwähnenswert auch der mystische Traktat"Die Erfreuung der Geister" von Omar ben Suleiman (hrsg. u.übers. von L. Krehl, Leipz. 1848). Die Bibel ist mehrere Maleins Türkische übersetzt worden, so das Neue Testament vonRedhouse (Lond. 1857, Bibelgesellschaft) und Schauffler(Konstantinop. 1866), Teile des Alten Testaments von Schauffler (5Bücher Mosis, Wien 1877; Jesaia, das. 1876; Psalmen,Konstantinop. 1868). Eine vollständige türkische Bibelerschien Paris 1827 (für die englische Bibelgesellschaft).

Eine mangelhafte Übersicht über das ganze geistigeLeben der Türken gab Toderini in seiner "Letteraturaturchesca" (Vened. 1787, 3 Bde.; deutsch von Hausleutner,Königsb. 1790, 2 Bde.). Vgl. Hammer-Purgstalls Darstellung dertürkischen Litteratur im 3. Band von Eichhorns "Geschichte derLitteratur" (Götting. 1810-12); Dora d'Istria, Lapoésie des Ottomans (Par. 1877); Redhouse, On the history,system and varieties of Turkish poetry (Lond. 1879). Eine denjetzigen Ansprüchen genügende Darstellung der ganzentürkischen Litteratur fehlt (vgl. indes den Artikel von Gibbu. Fyffe in der "Encyclopaedia britannica", 9. Ausg., Bd. 23); zumErsatz muß man sich an Zenkers "Bibliotheca orientalis"(Leipz. 1846-61, 2 Bde.) und an die Kataloge der größernHandschriftensammlungen halten (besonders Pertsch, Dietürkischen Handschriften der Bibliothek zu Gotha, Wien 1864;Flügel, Die arabischen, persischen und türkischenHandschriften der Hofbibliothek zu Wien, das. 1865-67, 3 Bde.;Rieu, The Turkish manuscripts in the British Museum,

TÜRKISCHES REICH.

Maßstab 1:10.000.000.

Die Hauptstädte der Wilajets sind unterstrichen.

D=Dagh (türk.) od. Dschebel (arab.)=Berg.

BALKAN-HALBINSEL.

Maßstab 1:6.000.000

Die Hauptstädte der Staaten sind doppelt, die der Wilajetsin der Türkei einfach unterstrichen.

Eisenbahnen.

Dampferrouten.

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Türkisches Reich (europäische Türkei: Grenzen,Gebirge, Flüsse).

Lond. 1888). Über die in den letzten Jahrzehnten inKonstantinopel selbst gedruckten Bücher haben berichtetHammer-Purgstall und Schlechta-Wssehrd in den "Sitzungsberichtender Wiener Akademie" seit 1849, Bianchi, Belin und Huart im"Journal asiatique" seit 1843; s. das Einzelverzeichnis bei A.Müller, Türkische Grammatik (Berl. 1889, S. 43* f.).

Türkisches Reich (vgl. beifolgendeÜbersichtskarte "Türkisches Reich"). Das türkischeoder osmanische Reich (türk. Memâlik-i Osmanije, "dieosmanischen Länder", oder Devlet-i Alije, "das hohe Reich")umfaßt die gesamte Ländermasse, welche unter derHerrschaft des Sultans (Padischah) in Konstantinopel steht, d. h.also Teile der sogen. Balkanhalbinsel, Kleinasien, Syrien, Teilevon Armenien, Kurdistan und Arabien sowie den Nordosten von Afrika.Es sind dies teils unmittelbare Besitzungen, teils tributäreStaaten (wie Bulgarien, Samos, Ägypten). Doch ist dabei zubemerken, daß große, namentlich gebirgige StreckenLandes in Albanien, Kleinasien und Kurdistan faktisch derTürkenherrschaft gänzlich entzogen sind, daßBosnien (s. d.), die Herzegowina und Teile des Sandschaks Novipasarsowie Cypern nur in der Theorie zum türkischen Reich,tatsächlich aber zu Österreich, resp. (Cypern) Englandgehören, und daß die Grenzen des Reichs besonders gegendas unabhängige Arabien und Afrika hin nicht feststehen.Deswegen und wegen des Fehlens jeder brauchbaren offiziellenStatistik können die Angaben über Grenzen, Areal undBevölkerung stets nur beschränktes Vertrauenbeanspruchen; auch ist die Bemerkung, daß das Areal desReichs selbst nicht auf Zehntausende von Quadratkilometern genauanzugeben ist, für die Erkenntnis türkischerZustände wertvoller als genaue Ziffern, welche ganzimaginäre und wertlose Zahlenreihen darstellen.

Die europäische Türkei.

(Hierzu die Karte "Balkanhalbinsel".)

Die europäische Türkei, zu welcher nach den letztenVeränderungen (Vertrag von Berlin, 13. Juli 1878, undKonferenzen von Berlin und Konstantinopel, 24. Juni 1880, resp. 24.Mai 1881) als unmittelbare Besitzungen nur noch die WilajetsKossowo (nebst einem Teil des Sandschaks Novipasar), Monastir,Skutari, Janina, Saloniki, Adrianopel, Kreta und ein Teil desWilajets Konstantinopel gehören, liegt (ohneBerücksichtigung der Inseln, privilegierten Provinzen etc.)zwischen 39° und 43½° nördl. Br., inkl.Bulgariens und Ostrumeliens zwischen 39° und 44° 12'nördl. Br. und grenzt im N. an Rumänien und Serbien, imNW. an den österreichischen Kaiserstaat (d. h. an das vonÖsterreich-Ungarn besetzte Bosnien), im W. an das Adriatischeund Ionische Meer, im S. an Griechenland, das Ägeische und dasMarmarameer, im O. an das Schwarze Meer.

Physische Beschaffenheit.

Die Balkanhalbinsel wird zum größten Teil vonBergketten erfüllt, in denen sich drei Hauptrichtungenunterscheiden lassen. Das Gebirgssystem des Hämos erstrecktsich vom Thal des Timok an als Hämos im engern Sinn oderBalkan (s. d.) in westöstlicher Richtung bis zum Kap Emineh amSchwarzen Meer. Es bildet, von dem dasselbe durchbrechenden Iskerabgesehen, die Wasserscheide zwischen der Donau und demÄgeischen Meer. Vom Schardagh (s. d.) zieht sich eine zweiteHauptkette als Wasserscheide zwischen dem Ionischen undÄgeischen Meer nach S., bildet die Grenze zwischen Albanienund Makedonien, zwischen Thessalien und Epirus und findet ihreFortsetzung in den Gebirgen Moreas. Auf sie wird der Name desPindos (zwischen 39° und 40° nördl. Br.)verallgemeinert angewendet. Die dritte Hauptrichtung vertritt einSystem von Bergzügen, die unter verschiedenen Namen in derRichtung von NW. nach SO., also dem Apennin parallel, dieHerzegowina und Bosnien erfüllen. Neben diesen Hauptkettenerheben sich teils selbständige, denselben parallele Gebirgevon geringerer Ausdehnung (z. B. im W. die Akrokeraunien oder dasTschikagebirge, im O. die Gruppe des Olympos), teils zweigen sichvon den Hauptketten Nebenketten ab, welche die Provinzen dereuropäischen Türkei meist als terrassenförmig gegendie Hauptketten ansteigende Bergländer erscheinen lassen.Albanien (s. d.) wird in seinem östlichen Teil vonzusammenhängenden, von NW. nach SO. streichendenHochgebirgsketten durchzogen: dem Pindos (Tsurnata 2168 m,Budzikaki 2160 m), dessen nördlichen Fortsetzungen (Smolika2570 m) und dem jenen parallelen Peristeri östlich vomPresbasee (2350 m) bis hinauf zum 2280 m hohen Prokletjagebirge,unweit der Südgrenze Montenegros. Eine abweichende Richtung,von NO. nach SW., hat der etwa in gleicher Breite gelegeneSchardagh (bis 3050 m hoch). Das Land zwischen dem Adriatischen undIonischen Meer einerseits und jenen Gebirgen anderseitsenthält an den Mündungen der Flüsse ziemlichausgedehnte Alluvialebenen, welche durch Gebirgszüge getrenntwerden. Die bedeutendste Erhebung liegt nördlich von 40°nördl. Br., wo die Viosa (Aoos) durchbricht und das bis 2040 mhohe Tschikagebirge nebst seiner halbinselförmigenVerlängerung, den Akrokeraunien des Altertums, senkrecht zumMeer abfällt. Das Zentrum der europäischen Türkeibildet die zu 2300 m ansteigende, auf allen Seiten von niedrigernund höhern Gebirgszügen umgebene gewaltige Syenitmassedes Witosch, südlich von Sofia, auf bulgarischem Gebietgelegen. Zwischen Mesta (dem alten Nestos) und Maritza erhebt sichzu 2300 m das Rhodopegebirge (s. d.). Es umfaßt eine Reihevon NW. nach SO. verlaufender Bergzüge, zwischen denen sichLängenthäler hinziehen. Das größte derselbenist das der Arda, deren Quellgebiet die Zentralmasse des Rhodopebildet. Zwischen Balkan und Rhodope liegen Mittelgebirgszüge,dem erstern parallel streichend, wie die Sredna Gora und TschernaGora, und ausgedehnte Ebenen am Oberlauf der Maritza und ihrenNebenflüssen. Makedonien (s. d.) wird durch den demRhodopegebirge parallelen Perimdagh (Orbelos 2700 m) von Thrakien,durch die Pindoskette von Epirus geschieden; nach N. und S. hat eskeine so bedeutenden Grenzgebirge. Einen Anhang dazu bildet dieChalkidike mit ihren drei langgestreckten Halbinseln und demheiligen Berg Athos. Von Thessalien (s. d.) ist nur dernördlichste gebirgige Teil mit dem Olympos beimtürkischen Reich verblieben, der fruchtbare Süden aber1881 an Hellas abgetreten worden. Von Ebenen, die einen geringenRaum des Gesamtareals einnehmen, sind der Türkei namentlichgeblieben die Tiefebenen an der Maritza, am Strymon oder Karasu, anden Mündungen des Wardar, der Vistritza und der albanischenFlüsse.

An schiffbaren Flüssen ist die europäische Türkeisehr arm; ein Teil der Maritza ist dank der Nachlässigkeit dertürkischen Behörden jetzt das einzige schiffbareBinnenwasser. Die übrigen bedeutenden Flüsse sind imGebiet des Schwarzen Meers: der Kamtschyk, welcher zwischen Warnaund Misivri mündet; im Gebiet des Ägeischen Meers: dieMaritza mit der Arda, in den Meerbusen von Enos mündend,der

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Türkisches Reich (Klima, Areal und Bevölkerung).

Karasu (Mesta), der Strymon (türk. Karasu), den Tachynoseedurchfließend und in den Busen von Orfano mündend, derWardar und die Vistritza, alle in den Meerbusen von Salonikimündend; im Gebiet des Ionischen Meers: die Arta, in denMeerbusen von Arta mündend, der Kalamas und Pawla, durch denLiwarisee fließend; im Gebiet des Adriatischen Meers: Viosa,sem*ni mit Dewol, Schkumbi, Mati, Drin und die aufösterreichischem Gebiet mündende Narenta. Unter denLandseen sind die bedeutendsten: die Seen von Skutari, Ochrida,Janina, der Presba- und Ventroksee in Albanien, der See vonKastoria, von Ostrowo, Doiran, der Beschik- und Tachynosee inMakedonien. Von Mineralquellen finden sich in der Türkeivornehmlich warme in Bosnien und namentlich am Südfußdes Balkans sowie Schwefelquellen.

Das Klima ist im ganzen mild und angenehm, wenn auch dieTemperatur infolge der vorherrschend gebirgigen Beschaffenheit desLandes sehr wechselnd und wegen der rauhen Nordostwinde kälterist als in Italien und Spanien, welche Länder mit derTürkei unter gleicher Breite liegen. Im ganzen werden dadurchKlima und Vegetation denen Mitteleuropas sehr ähnlich. DerBalkan macht eine sehr merkliche Wetterscheide, denn währendin den Donauländern der Winter ziemlich streng, oftschneereich ist und das Thermometer nicht selten auf -10° C.und darunter sinkt, steigt im S. dieses Gebirges die Kälteselten über -3° und ist der Sommer bei fast beständigheiterm Himmel oft drückend heiß. Während diekalten Nordwinde für die Gegenden am BosporusSchneestürme bringen, kennt man in den Küstenländerndes Ägeischen Meers und auf den Inseln winterliche Witterungnur auf den Gebirgshöhen. Die Luft ist, wenige Sumpfstricheausgenommen, überall rein und gesund; wohl aber werden mancheGegenden durch Erdbeben heimgesucht. Konstantinopel hat mit Venediggleiche mittlere Jahrestemperatur. Die Türkei gehört zumgrößten Teil zu der subtropischen Regenzone mitdürren Sommern. Der Balkan und der Westen des Landes (Bosnienund Albanien) empfangen durchschnittlich noch über 100 cmjährlichen Niederschlags, der Rest noch über 70 cm undnur das Thal der Maritza weniger.

Areal und Bevölkernng.

Das Areal der europäischen Türkei beträgtinsgeamt 326,375 qkm (5927,3 QM.), nämlich:

Unmittelbare Besitzungen . . 165438 qkm (3004,5 QM.)

Ostrumelien ....... 35900 ( 652 - )

Bulgarien. ....... 63972 - (1161,8 - )

Bosnien, Herzegowina u. Novipasar ...... 61065 - (1109 - )

Was die Zahl der Bevölkerung anlangt, so fand die erstepartielle Volkszählung im osmanischen Reich 1830-31 statt, derseitdem mehrere gefolgt sind. Auf dieselben ist aber deshalb wenigGewicht zu legen, weil es zunächst erwiesen ist, daß dieBeamten möglichst niedrige Summen angeben, um die von demverheimlichten Überschuß an Unterthanen eingehendenSteuern zu unterschlagen. Sodann wird nur die erwachsenemännliche Bevölkerung gezählt, und es fehlt anAngaben, in welchem ungefähren numerischen Verhältnisdieselbe zu den Frauen und den Kindern beiderlei Geschlechts steht.Als dritter Faktor kommen die (unbekannten) Verluste durch denKrieg von 1877 bis 1878 hinzu, um sämtliche Schätzungenals durchaus unzuverlässig erscheinen zu lassen. DasStaatshandbuch (Salname) für 1879 gab folgende Übersichtder Bevölkerung der europaischen Türkei:

Wilajets Einw.

Edirne (Adrianopel) ......... 597794

Selanik (Saloniki) ......... 1000558

Kossowo. ............. 1079654

Jania (Janina) ........... 736904

Schkodra (Skutari) nach Abzug des 1880 an Montenegroabgetretenen Gebiets . ca. 203000

Girid (Kreta) . ........... 449246

Unmittelbare Besitzungen: 4167156

Dazu kommen noch nach Behm und Wagner (VI):

Wilajet Konstantinopel (europ. Anteil) . . 540000 Einw.

Inseln Thasos, Imbros, Lemnos, Samothrake 42374 -

Die in Europa stehende Armee .... 130 000 Mann (?)

Fremde und Polizei . . ...... 170000 -

Im ganzen ca.: 5050000 Seelen,

wovon etwa 2 Mill. Mohammedaner. (Die Bevölkerungsziffernvon Bosnien, Bulgarien, Ostrumelien s. unter diesenLändernamen.) Die neueste Schätzung (für 1887) nahmfür die unmittelbaren Besitzungen nur etwa 4½ Mill. undfast ebensoviel für Bosnien, Bulgarien und Ostrumelien an; esentfielen danach auf das Quadratkilometer in den unmittelbarenBesitzungen 27, in der gesamten europäischen Türkeieinschließlich der tributären und von Österreichbesetzten Länder 28 Bewohner. Ein sicherer Maßstab, umdie entschieden in letzter Zeit eingetretene Abnahme derBevölkerung zu schätzen, fehlt uns vollständig, undes läßt sich lediglich die Thatsache, daß einesolche infolge des Kriegs mit Rußland stattgefunden hat,konstatieren. Auch auf alle sonstigen Fragen derBevölkerungsstatistik fehlt absolut jede Antwort, und nurüber die räumliche Verteilung der Nationalitätensind wir durch Arbeiten westeuropäischer Forschereinigermaßen unterrichtet. Der herrschende Stamm derosmanischen Türken sitzt auf der Balkanhalbinsel, vonKonstantinopel abgesehen, nirgends in größerer Masse,sondern nur inselartig zerstreut, meist in der Nähegrößerer Städte, wie Adrianopel, Seres, Istib,Saloniki, Monastir, Skutari u. a. Im westlichen und mittlernBulgarien, wo sie früher zwischen den Bulgaren wohnten, sollensie ziemlich verschwunden sein, im östlichen Bulgarien, ineinem großen Teil von Ostrumelien und im N. des WilajetsAdrianopel wohnen sie mit Bulgaren gemischt. Den Westen des nochunmittelbar türkischen Gebiets nehmen Albanesen ein, von denGrenzen Montenegros und Serbiens an bis zum 40.° nördl.Br. und vom Adriatischen Meer östlich bis etwa zum 21.°östl. L. v. Gr., den sie bei Prischtina in einzelnenSprachinseln sogar überschreiten. Im nördlichen Epiruswohnen sie mit Griechen gemischt. Den Süden von Epirus undMakedonien, die Chalkidike und viele Küstenpunkte desÄgeischen und des Schwarzen Meers haben Griechen besetzt, diein der südlichen Hälfte des Wilajets Adrianopel mitTürken gemischt sind. Den Westen Bulgariens, Ostrumelienssowie des alten Thrakien haben in kompakter Masse Bulgaren inne. ImPindos (Grenze zwischen Epirus und Thessalien) sitzen Zinzaren(Kutzowlachen), in Altserbien und dem nördlichen MakedonienSerben. Die Tscherkessen sind meist nach Kleinasienausgewandert.

Die Osmanen (Osmanli), das herrschende Volk, obwohl siekeineswegs die Mehrzahl bilden, sind ein Turkmenenstamm, einschöner Menschenschlag mit edlen Gesichtszügen. Ihrehervorstechenden Nationalzüge sind: Ernst und Würde imBenehmen, Mäßigkeit, Gastfreiheit, Redlichkeit im Handelund Wandel, Tapferkeit, anderseits Herrschsucht, übertriebenerNationalstolz, religiöser Fanatismus, Fatalismus und Hang zumAberglauben. Trotz ihrer hohen körper-

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Türkisches Reich (Religionsverhältnisse, geistigeKultur).

lichen und geistigen Befähigung sind sie in wahrer Kulturhinter den meisten europäischen Völkernzurückgeblieben und haben nur langsam und mit Widerstreben derabendländischen Zivilisation Eingang bei sich gestattet. DieEhe ist durch zahlreiche ins einzelne gehende Bestimmungengeregelte Polygamie, die aber nur vier rechtmäßigeFrauen gestattet, während das Halten von Konkubinen undSklavinnen unbeschränkt ist. Die Frauen der Reichen, aufwelche sich die Polygamie beschränkt, leben in Haremseingeschlossen. Die gemeinen Osmanen haben selten mehr als eineFrau. Die Ehe ist nur ein bürgerlicher Kontrakt, welcher vondem Mann mit der Familie der Frau vor dem Kadi geschlossen wird.Die mit Konkubinen und Sklavinnen erzeugten Kinder sind ebensolegitim wie die mit rechtmäßigen Frauen erzeugten.Scheidung der Ehe ist nicht erschwert, kommt aber selten vor. DieWohnungen sind unansehnlich und schmucklos, meist von Holz undeinstöckig; sie haben im Innern einen viereckigen Hof, nachwelchem die Fenster gehen, während nach der Straße zunur einige Gitterfenster vorhanden sind. Die Kleidung derMänner besteht in einem faltenreichen Rock (Kaftan) oder einerkurzen Jacke, weiten, faltigen Beinkleidern, einer Weste ohneKragen, einer um den Leib gewundenen Binde von farbigem Zeug undmeist gelben Pantoffeln oder Stiefeln. Kopfbedeckung ist derTurban. Bei den Beamten und Vornehmern ist diese Nationaltrachtdurch den fränkischen schwarzen Rock, die engern Pantalons undden roten Fes mit schwarzer Quaste verdrängt worden. Der Kopfwird bis auf einen Büschel am Scheitel glatt geschoren, derBart lang getragen und wohl gepflegt. Die Frauen, wenigstens in denStädten, haben eine Kleidung, welche sackförmig denganzen Leib einhüllt, und gehen nie aus, ohne das Gesichtdurch Musselinbinden und Schleier zu verhüllen. Die Osmanensind die Inhaber der Zivil- und Militärstellen oder treibenGewerbe, Ackerbau aber besonders in Kleinasien.

[Religionsverhältnisse.] Die Hauptreligionen in derTürkei sind die mohammedanische und diegriechisch-katholische. Zu jener, zum Islam, bekennen sich dieBewohner osmanischen Stammes sowie diejenigen ältern Bewohner,welche bald nach ihrer Unterwerfung diesen Glauben angenommenhaben, und die vereinzelten Gruppen neuerer Renegaten. Die Bekennerdes Islam heißen Moslems (danach verderbt Muselmanen). IhreHeilige Schrift und ihr Gesetzbuch ist der Koran (s. d.). DieAdepten des Koranstudiums, das sowohl zu juristischen alskirchlichen Ämtern befähigt (denn einen Unterschiedzwischen Staat und Kirche kennt der Islam nicht), sind die Ulemas("Gelehrte"), deren Rat in allen zweifelhaften Fällen desreligiösen und bürgerlichen Lebens in Anspruch genommenwird. Der Ulema tritt, wenn er, 10-12 Jahre alt, dieElementarschule verlassen hat, als Novize in eine der mit dengroßen Moscheen verbundenen Medressen (Seminare des Islam),in welcher er als Softa Unterricht in der Grammatik, Logik, Moral,Rhetorik, Philosophie, Theologie, Rechtsgelehrsamkeit, im Koran undin der Sunna erhält. Er empfängt dann vom Scheich ulIslam das Diplom als Kandidat (Mulazim), und dadurch zur unterstenStufe der Ulemas erhoben, kann er Richter (Kadi) werden. Will eraber zu den höchsten Würden gelangen, so muß ernoch sieben Jahre auf das Studium der Rechtsgelehrsamkeit, Dogmatiketc. verwenden, worauf er zum Grad eines Muderris befördertwird. Die Gotteshäuser der Moslems, die sogen. Moscheen, worinam Freitag Gottesdienst abgehalten wird, sind entwedergrößere (Dschami) oder kleinere (Medschid,Bethäuser). Die Geistlichkeit teilt sich in fünf Klassen:Scheichs ("Älteste"), die ordentlichen Prediger der Moscheen,die alle Freitage nach dem Mittagsgottesdienst über moralischeund dogmatische Gegenstände Vorträge halten; Chatibs oderVorbeter des Chutbeh (Kutbé), des öffentlichen Gebets,welches alle Freitage in den großen Moscheen für denSultan verrichtet wird; Imame, denen der gewöhnliche Dienst inden Moscheen und die Besorgung der Trauungs- undBegräbniszeremonien obliegen; Muezzins, welche von denMinarets die Stunden des Gebets verkündigen; Kaims,Wächter und Diener der Moscheen, die nicht zu den Ulemasgehören. Wenn die Ulemas gewissermaßen dieWeltgeistlichkeit repräsentieren, können die Orden derDerwische als Ordensgeistlichkeit bezeichnet werden. Diegriechisch-orthodoxe Kirche der Türkei hat ihre ältesteVerfassung, insoweit dies unter der Herrschaft der Moslemsüberhaupt möglich war, treu bewahrt. Die Würden derPatriarchen zu Konstantinopel, Antiochia und Alexandria bestehennoch. Das höchste Ansehen besitzt der Patriarch vonKonstantinopel, in welchem die zahlreichen Metropoliten,Erzbischöfe und Bischöfe, welche unter ihm stehen, sowiedie übrigen Patriarchen das Oberhaupt dermorgenländischen Kirche verehren. Er präsidiert auf derbeständigen Synode zu Konstantinopel, welche aus denPatriarchen, 12 Metropoliten und Bischöfen und 12 angesehenenweltlichen Griechen besteht, im ganzen türkischen Reich dieoberste geistliche Gerichtsbarkeit über die Bekenner desgriechisch-katholischen Glaubens ausübt und die Patriarchen,Metropoliten, Erzbischöfe und Bischöfe, die aber von derPforte bestätigt werden, wählt. Der Patriarch vonKonstantinopel wird zwar scheinbar frei gewählt, in Wahrheitwerden aber die Stimmen der Wähler gekauft. Um nun die beiseiner Wahl verausgabten Summen wiederzubekommen, verkauft derPatriarch die ihm untergeordneten Bischofsitze gleichfalls an denMeistbietenden; die Bischöfe machen es ebenso mit den ihnenuntergebenen Pfarreien, und die Pfarrer endlich pressen dieGemeinden aus. Diesem Mißbrauch sind vornehmlich die geringeBildung und die Entwürdigung der griechischen Geistlichkeitzuzuschreiben. Erst 1857 fand sich der Patriarch veranlaßt,die Wahl eines Ausschusses anzuordnen, der sich mit dennötigen Reformen befassen sollte. Die Mönche und Nonnenfolgen der Regel des heiligen Basilius; die berühmtestengriechischen Klöster sind die auf dem Berg Athos (s. d.) inMakedonien. Die armenisch-christliche Kirche steht unter den vierPatriarchen zu Konstantinopel, Sis, Achtamar und Jerusalem. Dierömisch-katholische Kirche zählt in der Türkei, mitEinschluß der ihr unierten orientalischen Christen, 27Patriarchen und Erzbischöfe, von denen 3 auf dieeuropäische Türkei kommen. Die Juden haben inKonstantinopel einen Großrabbiner (Chacham Baschi), unterwelchem 7 Oberrabbiner und 10 Rabbiner stehen. Alle nicht zum Islamsich bekennenden Bewohner der Türkei werden unter dem NamenRajah (Volk, Herde) zusammen begriffen. Der Islam duldet diechristliche und die jüdische Religion neben sich und gebietetnur, die Götzendiener zu vernichten.

[Bildung und Unterricht.] Die geistige Kultur steht imtürkischen Reich im allgemeinen noch auf einer ziemlichniedrigen Stufe. Die Lehranstalten zerfallen in drei Kategorien: 1)Elementarschulen, deren Lehrgegenstände Lesen, Schreiben,Rechnen, Religion, Erdbeschreibung und Türkisch sind, und dievon allen

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Türkisches Reich (Landwirtschaft, Industrie).

mohammedanischen Kindern, welche das Alter von sechs Jahrenerreicht haben, besucht werden müssen, und die etwashöher stehenden Vorbereitungsschulen; 2) die Ruschdijeschulen,470 an Zahl, eine Art Mittel- oder Realschulen mit denLehrgegenständen Türkisch, Arabisch, Persisch,Geschichte, Geographie, Arithmetik und Geometrie; 3) diehöhern Schulen, wie das kaiserliche Lyceum von Galata-Serai,die Verwaltungs-, Rechts-, Forst- und Bergwerksschule, die Kriegs-u. Marine-, zwei medizinische Schulen, Kadettenanstalten etc.Bedeutend ist die Anzahl und Leistungsfähigkeit der imtürkischen Reich verbreiteten armenischen und namentlichgriechischen Schulen, darunter die griechische Nationalschule inKonstantinopel zur Heranbildung von Lehrern, die Handels- und dietheologische Schule auf Chalki bei Konstantinopel. In dengrößern Küstenplätzen finden sich aucheuropäische, meist von katholischen Geistlichen geleiteteSchulen.

Landwirtschaft. Industrie.

Den Vorschriften des Korans gemäß beansprucht in derTürkei der Staatsschatz das Obereigentumsrecht alles Grundesund Bodens, dessen Verwalter demgemäß der Sultan ist.Bei der Eroberung eines Territoriums teilte derselbe letzteres indrei Teile, von denen einer dem Staat, einer den Moscheen undreligiösen Stiftungen (Wakuf) und ein dritter der Benutzungder Privaten überlassen ward. Zu den Staatsdomänengehören: 1) Miri, d. h. Güter, deren Einkünfte inden Staatsschatz fließen; 2) unbewohnte oder unbebauteLandstriche; 3) die Privatdomänen des Sultans und seinerFamilie; 4) verwirkte oder verfallene Ländereien; 5)Länder, die den Wesirämtern, Paschas zweiten Ranges,Ministern und Palastbeamten zugewiesen sind, und 6)militärische Lehnsgüter (je nach der GrößeBeiliks, Ziamets und Timars genannt), die unter Sultan Mahmudeingezogen wurden. Die Wakufgüter gehören Moscheen,religiösen Instituten und wohlthätigen Stiftungen, welchevon einer besondern Behörde (Evkaf) verwaltet werden; es sindteils Grund und Boden oder dessen Ertrag, teils Privatpersonengehöriges, aber mit einer Abgabe belastetes Land, welches beimTode des Besitzers, sofern er keine direkten Erben hat, zum Wakufwird. Der Privatgrundbesitz (Mulk) ist auf den Namen des Besitzerseingeschrieben, kann vererbt, verkauft und dabei mit gewissenServituten belastet werden. Erst seit 18. Juni 1867 könnenFremde Grund und Boden in der Türkei erwerben. DieGutsbesitzer in der Türkei wohnen fast ausnahmslos nicht aufihren Besitzungen, welche vielmehr von einem Verwalter und einerAnzahl Pachter bewirtschaftet werden. Meist müssen letzteredem Besitzer die Hälfte der Ernte nach Abzug der Saat und desZehnten abgeben, so daß dieser in schlechten Jahren sehrwenig, in guten aber viel erhält. Die Landwirtschaft,insbesondere der Ackerbau, steht noch auf tiefer Stufe. DieLändereien bleiben in der Regel ein Jahr in der Brache undwerden höchstens durch darauf getriebenes Vieh gedüngt.Die Hauptgetreidearten sind: Weizen, Roggen, Gerste und Mais, undzwar produzieren die unmittelbaren Besitzungen: Weizen 8 Mill. hl,Roggen 4,700,000, Gerste 4,400,000, Hafer 700,000, Mais 3 Mill. hl.Als Durchschnittszahl gilt eine achtfache Ernte, eine zehnfache alsgut; Mais gibt den 200-300fachen Betrag. Der Cerealienexport betrug1863-72 jährlich durchschnittlich 13½ Mill. Frank ausKonstantinopel und nahe 16 Mill. Fr. aus Saloniki, ist aberneuerdings hinter der Einfuhr sehr zurückgeblieben (1887 bis1888 bei Weizen um 7,3 Mill., Gerste um 3,1 Mill., Mehl um 9,6Mill. Mk.). Von Hülsenfrüchten werden vornehmlich Bohnen,Erbsen, ägyptische Faseln und Linsen gebaut; die verbreitertenGemüse sind: Zwiebeln, Knoblauch, Kohl, Gurken. Als sonstigeGartengewächse sind zu nennen: spanischer Pfeffer, dieEierpflanze, Melonen, Kürbisse etc. Von Öbstbäumenwerden besonders Pflaumenbäume gezogen, deren Früchtegedörrt ein bedeutender Ausfuhrartikel sind oder zurBranntweinfabrikation dienen. Außerdem finden sich Kirsch-,Apfel-, Birn-, Aprikosen-, Quitten-, Nuß- undMandelbäume an den Küsten des Adriatischen Meers und desArchipels. Von Ölpflanzen wird außerdem namentlich Sesamund zwar in den Ebenen Thrakiens, im südlichen Makedoniensowie in einzelnen Gegenden von Epirus gebaut und besonders ausSaloniki ausgeführt. Die Kultur des Weinstocks istüberall verbreitet und hat ebenso wie die Weinausfuhr seit derVerwüstung der französischen Weinberge durch die Reblausnamentlich in Rumelien (sowie im westlichen Kleinasien) bedeutendeFortschritte gemacht. Von Gespinstpflanzen sind besonders Hanf,Lein und Baumwolle hervorzuheben. Tabak wird in Menge gebaut(jährlich 15-18 Mill. kg), der beste in Makedonien; doch istdiese Kultur in den letzten Jahren durch unvernünftigeFinanzmaßregeln schwer geschädigt worden. 1883 wurde dieTabaksregie eingeführt und einem Bankkonsortium auf 30 Jahreübertragen. Ein Teil wird im Inland konsumiert, der bei weitemgrößere Teil nach Rußland, England,Österreich ausgeführt. Von Farbepflanzen ist Krapp dieverbreiterte. Große Aufmerksamkeit wird in manchen Gegenden,namentlich in Ostrumelien, der Rosenzucht zugewendet. DieForstwissenschaft steht noch auf sehr niedriger Stufe, und dieWaldverwüstung ist ungeheuer. Einzelne Provinzen sindstellenweise noch mit dichten Waldungen bedeckt, während inandern es an Holz fast gänzlich mangelt. EineHaupterwerbsquelle der Landbewohner der europäischenTürkei ist außerdem die Viehzucht. Die türkischenPferde, klein, aber sehnig und ausdauernd, dienenhauptsächlich zum Lasttragen; die Esel und Maulesel derTürkei wetteifern an Schönheit mit denen Italiens. DieStelle des Kamels, das nur in Konstantinopel vorkommt, vertritt derBüffel, der die schwersten Fuhren bewältigt. Das Rindviehist klein, gut gebaut und meist gelblichgrau mit braunen Flecken.Kühe werden fast nur für die Zucht gehalten. Sehrerheblich ist die Schafzucht, insbesondere in Albanien, von wojährlich im Frühjahr große Schafherden nachMakedonien und Thessalien zum Weiden getrieben werden. DieWollausfuhr aus der europäischen Türkei, besonders nachFrankreich, wertete früher im Durchschnitt an 24 Mill. Frank,ist aber auf 7¾ Mill. Fr. (1887/88) gesunken; feinere Wolleproduziert die Gegend von Adrianopel. In den Gebirgsgegenden werdenviele Ziegen gehalten. Von Wichtigkeit ist auch die Bienen- undSeidenraupenzucht, obwohl letztere infolge der großenPreisschwankungen jetzt sehr abgenommen hat. Der Fischfang wirdvornehmlich an den Küsten betrieben. Hierher gehört auchdas Einsammeln von Badeschwämmen an den Küsten desÄgeischen Meers, während der Blutegelfang in Makedonienvon der Regierung als Monopol betrieben wird. Der Bergbau liegtnoch ganz danieder, wiewohl reiche Erzlager vorhanden sind, welchespäter in der wirtschaftlichen Wiederbelebung dieserLänder eine Rolle zu spielen berufen sind.

Was die technische Kultur anlangt, so findet der Gewerbebetriebin der Türkei noch ganz nach al-

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Türkisches Reich (Handel).

ter Art statt. Mit Ausnahme der für den täglichenVerkehr unentbehrlichen Gewerbe sind letztere, soweit sieüberhaupt in der Türkei betrieben werden, auf gewisseOrte und gewisse Personen beschränkt; fabrikmäßigerBetrieb findet fast nirgends statt. Früher bezog das Abendlandeine Menge kostbarer Stoffe (Seidenstoffe, Teppiche,Fayencearbeiten etc.) aus der Türkei; jetzt hat dies nicht nuraufgehört, sondern es werden auch dieselben Stoffe und zwarvon besserer Qualität und um wohlfeilern Preis aus dem Auslandeingeführt. Die industrielle Thätigkeit beschränktsich jetzt auf Herstellung der notwendigen Verbrauchsartikel durchdie bäuerliche Bevölkerung selbst und in einigen Gegendenauf die nach ererbten Mustern betriebene Hausindustrie.Inländische und ausländische Spekulanten haben wiederholtversucht, irgend eine Industrie ins Leben zu rufen; aber jedesmalscheiterten alle diese Projekte an dem bösen Willen derProvinzialstatthalter, welche in ihrem Fremdenhaß dieAuswärtigen fern hielten, während das inländischeKapital mit Steuerpachten, Lieferungen und Börsenspielleichter und besser sich verzinste. Grundsätzlich wurden z. B.Ausländer vom Betrieb der Bergwerke fern gehalten. Erstneuerdings ist eine kleine Wendung zum Bessern eingetreten.

Handel und Verkehr.

Haupthindernis des für die Türkei sehr wichtigen Land-und Seehandels sind die immer noch mangelhaften Verkehrsmittel.Kunststraßen besitzt die Türkei, von den neuerdingserbauten Eisenbahnen abgesehen, nur wenige, und die Landwege sindselbst in der Gegend von Konstantinopel so schlecht, daß siefast nur Saumwege und für das landesübliche Fuhrwerkbenutzbar sind. Für den Binnenhandel sehr förderlich sinddie Messen und Märkte, die in verschiedenen Orten abgehaltenwerden, und deren wichtigste vom 23. Sept. bis 2. Okt. zu UsundschaOwa, nordwestlich von Adrianopel, stattfindet. Der Handel mitMittel- und Westeuropa befindet sich vorwiegend in den HändenFremder, besonders der Griechen; im Levantiner undKüstenhandel sind dagegen auch viele türkischeUnterthanen beschäftigt. Bankier- und Wechselgeschäftewerden fast nur von Armeniern und Griechen betrieben, in derenHänden sich auch fast ausschließlich der Binnenhandelbefindet. Im Frühjahr 1882 hatte das türkische Reichsämtliche Handelsverträge gekündigt und 1884 und1885 vorläufig einen einheitlichen 8proz. Wertzolleingeführt, welcher seit 24. April 1888 auch im Verkehr mitOstrumelien in Kraft getreten ist. Von Waren, welche vom Auslandkommen, werden 7/8 des 8proz. Wertzolls (bei den überTrapezunt gehenden der gesamte Zoll) zurückerstattet, wenn dieWiederausfuhr nach dem Ausland innerhalb sechs Monaten nach derEinfuhr erfolgt. Erst neuerdings ist es wieder zum Abschlußvon neuen Handelsverträggen gekommen, nach welchen jeder Staatauf die Einfuhr des andern die mit einem dritten vereinbartenniedrigsten Zölle anwendet, nämlich mit Rumänien(ratifiziert 12. Jan. 1888) und Serbien (ratifiziert 28. Aug.1888). Die Statistik über Aus- und Einfuhr ist noch keineswegseine befriedigende zu nennen; doch veröffentlicht das "Journalde la chambre de commerce de Constantinople" seit 1881 offizielleTabellen, die einen gewissen Anhalt geben. Danach nehmen in derAusfuhr bei weitem die erste Stelle ein die Rosinen, dann folgenSeide, Wolle, Mohair, Valonen, Opium, Häute, Feigen, Kokons,Wein, Olivenöl, Erze, Datteln, Teppiche, Seife,Haselnüsse etc. Es betrug der Wert der Ausfuhr in MillionenPiaster (zu 16-17 Pfennig):

1885/86 1886/87 1887/88

Rosinen 146 183 172

Mohair 59 86 50

Opium 90 80 42

Seide 77 79 84

Baumwolle 55 53 31

Valonen 43 51 46

Wolle 34 50 57

Häute 30 37 38

Feigen 34 35 30 Kokons 27 34 39 Wein 23 31 29 Olivenöl 3827 36 Erze 14 16 18 Datteln 17 15 21 Teppiche 13 14 16 Seife 16 1410 Haselnüsse 15 13 7

Im ganzen aber übersteigt die Einfuhr den Export: dasVerhältnis beider ist wie 10:6. Eingeführt werdenbesonders Tuche, Baumwollwaren, Garne, Eisen- und Stahlwaren,Droguen, Farben, Öle, Zucker, Getränke, Lebensmittel,Spiritus, Petroleum, Stearinlichte, Zündwaren, Glaswaren,Papier, Bijouterien, Arzneien, Parfümerien, Möbel,Waffen, Kurzwaren, Modeartikel etc., vorzüglich englischen,französischen, österreichischen, deutschen undschweizerischen Ursprungs. Nach offiziellen Angaben, welcheindessen wegen der vielen Betrügereien der Beamten und derDefraudationen um ein Viertel zu niedrig ausfallen sollen, betrug,unter Ausschluß Ägyptens, der Waffen etc. für dieRegierung, der Gegenstände für Gesandte, Konsuln,Schulen, Stiftungen, der Maschinen und Geräte für Gewerbeund Ackerbau etc., der Wert der

1884/85 1885/86 1886/87 1887/88

Einfuhr 2063,8 2000,4 2070,3 2010,6 Mill. Piaster

Ausfuhr 1279,8 1207,6 1270,7 1128,9 -

Davon entfällt mehr als ein Drittel allein aufKonstantinopel. Hauptausfuhrplätze sind ferner: Saloniki undDedeaghatsch und in der asiatischen Türkei Smyrna, Trapezunt,Mersina, Alexandrette und Beirut. Von diesem Handelsverkehr besorgtden Hauptanteil Großbritannien (1887/88: 42,38 Proz. derEinfuhr, 31,66 Proz. der Ausfuhr); dann folgen Frankreich mit12,06, bez. 37,26 Proz. und Österreich-Ungarn mit 19,14, bez.8,79, dann Rußland (11,25, bez. 2,56 Proz.), endlich Italien,Ägypten, Griechenland etc. Die Sendungen aus und nach demDeutschen Reich, ebenso wie der Schweiz und Belgiens gehengewöhnlich über Marseille und Triest und werden darum alsfranzösische und österreichische Provenienzen, resp.Ausfuhr bezeichnet, was bei nachstehender Tabelle zuberücksichtigen ist. Der Anteil der wichtigsten Länder ander Handelsbewegung der Türkei beträgt in TausendenPiaster:

Einfuhr Ausfuhr

1886/87 1887/88 1886/87 1887/88

Großbritannien. . . . 894028 851812 434923 357444

Deutsches Reich. ... 2513 3802 729 216

Österreich-Ungarn. . . 417600 384771 111718 99314

Italien . . . . . . 635l4 48976 37351 33461

Persien ...... 48867 53402 1070 1206

Amerika ...... 12352 15596 15333 12751

Belgien ...... 38395 42913 28 203

Bulgarien ..... 49370 50974 2325 2292

Tunesien ...... 7742 10353 12 382

Rußland ...... 178614 226155 30715 28910

Rumänien ..... 32238 25903 10770 13094

Serbien ...... 7266 7006 1019 623

Niederlande ..... 3389 2878 12771 10245

Frankreich ..... 250079 242483 473802 420701

Ägypten ...... 1957 1770 90527 87765

Griechenland. .... 41138 37739 46519 59108

Die türkische Handelsmarine selbst ist unbedeutend, und esexistieren darüber keine sichern Angaben. 1879 wurde ihrGesamtinhalt auf 181,500 Ton. geschätzt; 1886 umfaßtesie nur 17 Dampfer (7297 T.), 416 große Segelschiffe (69,627T.) und eine große Anzahl kleiner Küstenfahrzeuge.

922

Türkisches Reich (Verkehrswesen, Münzen, Maßeetc.; staatliche Verhältnisse).

Für die Schiffahrtsbewegung liegen, abgesehen von Datenfür einzelne große Hafenstädte (Konstantinopel,Saloniki, Smyrna, Dedeaghatsch, Trapezunt, Beirut, Samsun, Jafaetc., s. d.), nur Angaben für das Jahr vom 1. März 1881bis 28. Febr. 1882 vor. Danach umfaßte dieselbe 195,703Schiffe, darunter 37,924 ausländische mit 15,864,032 Ton. und157,779 türkische mit 3,703,261 T. Während desKriegsjahrs war die Tonnenzahl auf 12,810,003 gesunken, bis 1887/88jedoch wieder auf 21,984,576 T. in der fremden Schiffahrt und5,597,351 T. in der Küstenschiffahrt gestiegen. Die am meistendabei beteiligten Nationen sind England mit 9,274,752 T.,Österreich-Ungarn mit 3,722,122, Frankreich mit 2,979,457,Griechenland mit 2,425,124, Rußland mit 2,030,714, Italienmit 956,537, Schweden und Norwegen mit 208,587, das Deutsche Reichmit 163,833 T. Am auswärtigen Schiffsverkehr ist der Hafen vonKonstantinopel mit 36,36 Proz. der Tonnenzahl beteiligt.Regelmäßige Dampfschiffsverbindungen werden zwischen denHauptseeplätzen der Türkei und den Häfen desSchwarzen, Ägeischen und Adriatischen Meers wie des westlichenMittelmeerbeckens (Odessa, Triest, Brindisi, Messina, Marseilleetc.) durch die österreichischen Lloyddampfer, die Messageriesmaritimes, Fraissinet & Comp., Navigazione Generale Italiana,die Compagnie Russe de navigation à vapeur et de commerce,griechische und türkische Schiffe unterhalten. Dastürkische Postwesen wurde 1840 neu eingerichtet (1886: 408Postämter, im ganzen Reich 1187); doch haben bei derUnsicherheit desselben das Deutsche Reich, Österreich,Frankreich, Großbritannien etc. ihre Postämter inKonstantinopel und einigen andern Hafenstädten beibehalten.Eisenbahnbauten sind in der europäischen Türkei erst inneuerer Zeit in Angriff genommen worden; bis jetzt sindeinschließlich Ostrumeliens 1170 km im Betrieb (in derasiatischen Türkei 660 km); die sehr wichtigen Verbindungender Bahnen Saloniki-Mitrowitza und Konstantinopel-Sarambei sind1888 eröffnet worden. Das Telegraphennetz ist (wohl imInteresse der Regierung) ziemlich ausgedehnt, selbst überabgelegene und menschenarme Provinzen. Es existieren 233 (im ganzenReich 683) Telegraphenbüreaus. Die bedeutendsten Orte dereuropäischen Türkei sind: Konstantinopel, Adrianopel,Gallipoli, Saloniki, Janina, Skodra, Prisrend, Prischtina undMonastir. Münzeinheit ist der Piaster (zu 40 Para), deren 100auf die türkische Lira (= 18½ Mk.) gehen sollen. Daaber Gold Agio genießt, so ist der Piaster weniger wert(16-17 Pf.). Es kursieren Goldstücke zu 500, 250, 100, 50 und25 Piaster, Silbermünzen zu 20, 10, 5, 2, 1 und ½Piaster und Münzen aus einer Legierung von Silber mit Kupfer,nämlich ganze, halbe und viertel Altilik (ein Altilik,nominell = 6 Piaster, enthält 52 Proz. Silber und verliert ca.17 Proz.) und ganze, halbe, 2/5, 1/5 und 1/10 Beschlik(enthält 25 Proz. Silber, nominell = 5 Piaster, und verliertim Verkehr 50 Proz.). Der Kurs der Gold- und Silbermünzen istübrigens in den verschiedenen Städten ein verschiedener.In Bezug auf Maß und Gewicht gilt offiziell seit 1871 dasfranzösische (metrische) System. Frühere Gewichtseinheitwar die Okka = 1284 g, Getreidemaß das Kilé = 25-37Lit., Längenmaß der Pik Hâlebi ("Elle von Aleppo")= 0,686 m. Diese Maße sind noch überall im Gebrauch.

Staatliche Verhältnisse.

Das osmanische Reich ist eine absolute Monarchie, derenHerrscher, Sultan oder Padischah ("Großherr"), diehöchste weltliche Gewalt mit dem Kalifat, der höchstengeistlichen Würde, verbindet. Der Sultan gilt bei seinenUnterthanen als Nachfolger des Propheten und hat seineAutorität von Gott. Der Thron ist erblich im Mannesstamm desHauses Osman und geht in der Regel auf das älteste Mitglieddesselben über. Der Padischah wird in der Moschee Ejub zuKonstantinopel von dem Mufti, unter Assistenz des Vorstehers derEmire, mit dem Säbel Osmans, des ersten Sultans der Osmanen(1299), umgürtet, wobei er die Aufrechterhaltung des Islamverspricht und einen Schwur auf den Koran ablegt. Der jetzig Sultanist Abd ul Hamid Chan, geb. 21. Sept. 1842, Sohn des Sultans Abd ulMedschid Chan (seit 3l. Aug. 1876), der 34. Souverän aus demHaus Osmans und der 28. seit der Eroberung von Konstantinopel. DerHof des Sultans heißt die Hohe Pforte. DieWürdenträger desselben zerfallen in zwei Klassen: dieeinen, die Agas des Äußern, wohnen außerhalb desPalastes oder Serails; die andern, die Agas des Innern, bewohnenden Mabeïn, einen Teil des Serails neben dem Harem. In dieerste Kategorie gehören: der erste Imam oderGroßalmosenier des kaiserlichen Palastes, der erste Arzt, dererste Sekretär, der erste Adjutant, der Oberstallmeister etc.Zur zweiten Kategorie (Mabeïndschi) gehören fast lauterEunuchen, welche zu ihrem Namen den Titel "Aga" setzen. Der erstean Rang und darin einem Feldmarschall gleich ist der Kislar-Aga("Hauptmann der Mädchen"), der Chef der schwarzen Eunuchen.Dann folgen: der Chef der Privatkasse des Sultans, derSchatzmeister der Krone, der Kapu-Aga oder der Chef derweißen Eunuchen, der Oberhofmeister, der Oberkämmerer,der erste Kammereunuch, der Pagendirektor etc. Die Frauen desHarems, der als Staatseinrichtung gilt, zerfallen je nach ihremRang in mehrere Klassen. Die ersten im Rang sind die Kadinen, derengesetzmäßige Zahl 7 ist, die Beischläferinnen desSultans; diesen folgen 50-60 Odalik, d. h. kaiserlicheStubenmädchen, die zu besondern Diensten des Sultans bestimmtsind, auch wohl mit den Kadinen die Gunst desselben teilen. Imganzen enthält der Harem 300-400 Frauen, meistTscherkessinnen. Den Titel Sultanin führen nur dieTöchter oder Schwestern des Großherrn. Seine Mutterheißt Sultan-Walidé oder Sultanin-Mutter und hat nachdem Sultan den ersten Rang im Reich. Die osmanische Gesetzgebungbesteht aus zwei Hauptteilen, dem theokratischen(religiös-bürgerlichen) Gesetz oder Scheriat und dempolitischen Gesetz oder Kanun. Das Scheriat ist basiert auf denKoran, die Sunna oder Überlieferung, das Idschma i ümmet(die Auslegungen und Entscheidungen der vier ersten Kalifenenthaltend) und das Kyas oder die Sammlung gerichtlicher, durch dievier großen Imame (Ebn Hanifé, Maliki, Schafi'i undHambali) gegebenen Entscheidungen in den ersten drei Jahrhundertender Hedschra bis zu den Sammlungen der Fetwas (s. d.). Das Systemder türkischen Gesetzgebung ist das Werk von ca. 200Rechtsgelehrten, aus deren Arbeiten man zuletzt umfassendeSammlungen bildete, welche die Stelle der Gesetzgebung vertreten.Die erste, "Dürrer" ("Perlen") genannt, reicht bis 1470 (875der Hedschra); die zweite, "Mülteka ül Buhur"("Verbindung der Meere"), das Werk des gelehrten Scheichs IbrahimHalebi (gest. 1549), ward 1824 gänzlich umgearbeitet und istreligiöses, politisches, militärisches,bürgerliches, Zivil- und Kriminalgesetzbuch; dasHandelsgesetzbuch ist eine ungeschickte Kopie desfranzösischen Code de commerce von 1807.

923

Türkisches Reich (Staatsverwaltung, Rechtspflege).

In der Türkei besteht jetzt der Theorie nach die 23. Dez.1876 erlassene Verfassung zu Recht, obwohl die Regierung sich umdieselbe sehr wenig kümmert. Im wesentlichen setzt dieselbefest: die Unteilbarkeit des Reichs; die Unverantwortlichkeit undUnverletzlichkeit des Sultans, dessen Vorrechte die derübrigen europäischen Herrscher sind; die Freiheit derUnterthanen, die ohne Unterschied Osmanen heißen, istunverletzlich. Staatsreligion ist der Islam, doch dürfen dieanerkannten Konfessionen frei ausgeübt werden und behaltenihre Privilegien. Sodann wird Preßfreiheit, Petitions- undVersammlungsrecht, Gleichheit aller Unterthanen vor dem Gesetz (dieSklaverei existiert aber faktisch noch!), Unterrichtsfreiheit,Befähigung aller Osmanen ohne Unterschied der Religion zuallen Beamtenstellungen, gerechte Verteilung der Steuern etc.garantiert. Der Konseil der Minister soll unter dem Präsidiumdes Großwesirs beraten. Die Minister sind für ihrRessort verantwortlich und können von dem Abgeordnetenhausangeklagt werden; Auflösung des letztern oder Entlassung derMinister bei einem Konflikt zwischen beiden, Interpellationsrechtder Abgeordneten, Unabsetzbarkeit der Beamten, sofern keinrechtlicher Grund gegen sie vorliegt, alles wie in zivilisiertenStaaten; ebenso die Zusammensetzung des Parlaments (seit 1878 nichtmehr einberufen) aus zwei Kammern, das Institut der Thronrede, dieFreiheit der Abstimmung, die Öffentlichkeit der Sitzungen, dieVotierung des Budgets etc. Doch ist diese Verfassung bald nachihrer Entstehung nicht weiter berücksichtigt worden.

[Staatsverwaltung.] Was die Staatsverwaltung betrifft, soübt der Sultan seine gesetzgebende und vollziehende Gewaltdurch den (1878 vorübergehend abgeschafften) Großwesirund den Mufti (Scheich ul Islam) aus. Der Großwesir(Sadrasam) ist der Repräsentant des Sultans, führt imGeheimen Rat den Vorsitz und ist tatsächlich der Inhaber derExekutivgewalt. Er erhält seine Gewalt durch einenHattischerif des Sultans und hat seinen amtlichen Aufenthalt beider Hohen Pforte. Dem Mufti oder Scheich ul Islam (eingesetzt 1543durch Mohammed II.) liegt die Auslegung des Gesetzes ob. Er istChef der Ulemas (s. unten), selbst aber weder Priester nochGerichtsperson. Er nimmt an der Ausübung der gesetzgebendenGewalt teil in dem Sinn, daß seine Zustimmung notwendig istzur Gültigkeit jeder Verordnung, jedes von der höchstenBehörde ausgehenden Aktes. Außerdem stehen an der Spitzeder Staatsverwaltung die für die einzelnen Zweige derselbenbestimmten Staatsminister, nämlich: der Präsident desStaatsrats, der Minister der auswärtigen Angelegenheiten, derKriegsminister und Großmeister der Artillerie (Seraskier),der Finanzminister, der Marineminister (Kapudan-Pascha), derMinister des Innern, der Minister des Handels, deröffentlichen Arbeiten und des Ackerbaues, der Minister desöffentlichen Unterrichts, der Justizminister und der Intendantdes Evkaf (d. h. der den Moscheen und frommen Stiftungengehörigen Güter). Der Geheime Rat oder Diwan, dessenMitglieder den Titel Muschir (Räte des Staatsoberhauptes)führen, besteht ans dem Scheich ul Islam, den oben genanntenMinistern und dem Präsidium des Staatsrats und versammelt sichin der Regel wöchentlich. Dann folgen die beidenReichsräte, der für Ausführung der Reformen und der1868 gegründete Staatsrat (nachdem Muster desfranzösischen Conseil d'État). Mit jedem derverschiedenen ministeriellen Departements, mit Ausnahme des derauswärtigen Angelegenheiten, sind permanente Räte (z. B.für das Gesundheitswesen, für Post und Telegraphie etc.)verbunden, welche die Gegenstände bearbeiten und dieVerbesserungsprojekte vorbereiten. Alle Ämter des osmanischenReichs zerfallen in wissenschaftliche oder Ämter desLehrerstandes (Ulema), Ämter der Feder(Administrativämter), Ämter des Säbels (Armee undFlotte) und Hofämter. Die Minister führen den Titel"Muschir" (und "Wesir"), die andern hohen Staatsbeamten der Pforteund die Generale den Titel "Pascha", die höhern Beamten denTitel "Efendi", die Söhne der Paschas und die obern Offiziereden Titel "Bei", alle niedern Offiziere und Beamten den Titel"Aga". Behufs der Verwaltung ist das türkische Reich inWilajets oder Generalgouvernements eingeteilt. Die Wilajetszerfallen in Liwas oder Provinzen, diese wiederum in Kazas oderDistrikte. An der Spitze eines jeden Wilajets steht ein Wali oderGeneralgouverneur als Chef der Verwaltung. Unter ihm fungieren,ohne von ihm ernannt zu werden: der Defterdar für dasFinanzwesen, der Mektubdschi oder Generalsekretär, derSekretär der fremden Geschäfte, die Beamten für denöffentlichen Unterricht, für Handel, Ackerbau,Straßenbau, Landesvermessung, Polizei etc. Jedes Liwa wirdvon einem Mutessarrif verwaltet, jedes Kaza von einem Kaimakam; ander Spitze der Nahijes oder Kommunen steht ein von den Eingebornengewählter Mudir sowie dessen Beigeordneter, der Muavin. Injedem Wilajet, Liwa, Kaza und Nahije steht dem betreffendenVerwaltungsbeamten ein Medschlis i idareh (Verwaltungsrat) zurSeite, worin die richterlichen, finanziellen, religiösenSpitzen und 3-4 von der Einwohnerschaft gewählte Personensitzen. Am Schluß des Jahrs 1878 wurde der Entwurf einesneuen organischen Reglements für die europäischenProvinzen der Türkei veröffentlicht, wonach der Sultandie Walis aller Wilajets auf fünf Jahre ernennt. Die Pfortesoll unter je drei von dem Wali vorgeschlagenen Kandidaten dieMutessarrifs wählen und die Provinzialbeamten möglichstaus den Einwohnern der betreffenden Provinz entnehmen. EinGeneralrat, zusammengesetzt aus je zwei Delegierten jedes Kazas,soll in jedem Wilajet eingesetzt werden. Außer denZolleinnahmen soll der Ertrag einer Grund- und Bodensteuer sowieandre Einkünfte zur Bestreitung der Ausgaben der Provinzenfür die öffentlichen Arbeiten und die Gendarmerieverwendet werden. Die Urteilssprüche der Gerichte sollen inöffentlichen Sitzungen gefällt werden.

[Rechtspflege.] Die türkischen Justizbehördenzerfallen in die ganz mohammedanischen Tscheris, an deren Spitzeder Scheich ul Islam steht, und in die weltlichen Nisâmijes,die aus Christen und Mohammedanern zusammengesetzt sind. DasTribunal der Tscheris besteht aus dem hohen Appellhof (Arsadassi)mit je einer Kammer für Europa und Asien, die einenKâsi-asker (Kazilesker, s. d.) und 14 Richter zählt. Injedem Wilajet befindet sich ein Tscherigericht unter dem Vorsitzeines Mollas mit dem Titel Nâib, der zugleich demDiwan-Temyisi (Appellationsgericht des Wilajets) präsidiert.Ebenso hat jedes Liwa und Kaza sein Tscheri-Gericht, dashäufig der Bestechung sehr zugänglich ist. FürStreitigkeiten zwischen Bekennern verschiedener Religionen,zugleich auch für Kriminalfälle dienen dieNisâmijes, deren jedes Wilajet, Liwa und Kaza eins hat, undderen Mitglieder von der Bevölkerung gewählt werden.Jedes höhere Gericht bildet die Appellinstanz für die

924

Türkisches Reich (Heer u. Flotte, Wappen u. Orden;außereuropäische Besitzungen).

untern. Die höchste ist das Obertribunal in Konstantinopel(gegründet 1868), welches unter anderm alle Todesurteile zubestätigen hat. Außerdem bestehen in Seestädten 49Handelsgerichte, die 1847 errichtet wurden. In Prozessen, bei denenbeide Parteien Fremde sind, entscheiden die Konsulargerichte.

[Finanzen.] Was die Finanzen anlangt, so haben sich dieselbennach dem Staatsbankrott vom 13. April 1876 (Einstellung derZinszahlungen) ein wenig gehoben infolge der am 20. Dez. 1881dekretierten Konsolidation und Reduktion der äußern undder Regulierung der schwebenden Schuld. Die Anleihen von 1858 bis1874 im Betrag von 190,997,980 Pfd. Sterl. wurden auf 106,437,234Pfd. Sterl. reduziert, und letztere werden seitdem aus denErträgnissen gewisser Steuern (Tabaks- und Salzmonopol,Getränke- und Fischereisteuer, Stempel, Seidenzehnt, Tributvon Bulgarien und Ostrumelien, Überschuß derEinkünfte von Cypern) unter Aufsicht von Vertretern derGläubiger mit 1 Proz. verzinst und mit ¼ Proz.amortisiert. Am 13. März 1887 betrug diese Schuld noch104,458,706 Pfd. Sterl., die zu ihrer Verzinsung bestimmten innernSteuern ergaben 1887/88: 114 Mill. Piaster (noch nicht 1 Mill. Pfd.Sterl.). Außerdem gibt es aber noch eine innere Schuld vonca. 22 Mill. türk. Pfd. (à 100 Piaster), eineschwebende Schuld von ca. 9 Mill. türk. Pfd., dieunverzinsliche russische Kriegsschuld von 32 Mill. Pfd. Sterl., diean russische Private zu leistende Entschädigung von 38 Mill.Frank und Schulden für neuerdings geliefertes Kriegsmaterial(ca. 3 Mill. Pfd. Sterl.). Das Budget ist ein ganz ungeregeltes;die Zahlen desselben, soweit solche überhaupt nochveröffentlicht werden, stehen lediglich auf dem Papier undverdienen kein Vertrauen, das ständige Defizit wird durchVerringerung und Nichtauszahlung der Beamtengehalte, kleineAnleihen, selbst Zwangsanleihen nicht ausgeschlossen, undähnliche Mittelchen gedeckt. 1881/82 belief sich dasselbe aufca. 5¼ Mill. türk. Pfd., es schwankt meist zwischen 4und 8 Mill. Im Finanzjahr 1884/85 waren die sonst ca. 12 Mill.türk. Pfd. betragenden Einnahmen angeblich auf 7 Mill.gesunken! Für 1887/88 schätzt man sie wieder auf17½ Mill. türk. Pfd., ob mit Recht, ist sehr fraglich.Die Hauptposten der Einnahmen, soweit dieselben nicht an dieStaatsgläubiger verpfändet sind, sind: Grundsteuer,Einkommensteuer von einzelnen Gewerben, der Zehnte von denBodenerzeugnissen, der aber in der Höhe von 12½ Proz.erhoben wird, die Hammelsteuer, die auf den Nichtmohammedanernlastende Steuer für Befreiung vom Militärdienst, der8proz. Einfuhr- und der 1proz. Ausfuhrzoll.

[Heer, Flotte, Wappen.] Im Mai 1879 erließ dieArmee-Reorganisationskommission eine neue Ordre de bataillefür den Friedensstand des türkischen Heers. Danachumfaßt letzteres sieben Armeekorps (Ordu) mit denHauptquartieren in Konstantinopel (Garde), Adrianopel, Monastir,Ersindschan, Damaskus, Bagdad und Sana'a in Arabien. JedesArmeekorps soll im Frieden durchschnittlich umfassen: 6Infanterieregimenter zu 3 Bataillonen à 800 Mann, 6Jägerbataillone zu 800 Mann, 4 Kavallerieregimenter zu 800Pferoen, 1 Artillerieregiment zu 12 Batterien à 6Geschütze und 100 Mann, 1 Pionierbataillon zu 400 Mann undmehrere Gendarmeriebataillone. Das gäbe einen Etat von 210,000Mann (134,400 Infanteristen, 22,400 Reiter, 9600 Mann Artillerie,3600 Pioniere und 40,000 Gendarmen) mit 576 Geschützen, wozuim Krieg noch je 100,000 Mann Reserven und Landwehr kämen mitresp. 192 und 120 Geschützen. Die Feldarmee betrüge also410,000 Mann mit 888 Geschützen, eine Zahl, die durchIrreguläre und das ägyptische Kontingent auf eine halbeMillion gebracht würde. Faktisch zählte dietürkische Armee 1885: 63 Regimenter Infanterie zu 4Bataillonen, 2 Zuavenregimenter zu 2 Bataillonen, 15 BatailloneJäger und 1 Bataillon berittene Infanterie; 39 RegimenterKavallerie zu 5 Schwadronen; 13 Regimenter Artillerie mit 144fahrenden Batterien, 18 reitende und 36 Gebirgsbatterien, 8Bataillone Festungsartillerie und 10 BatailloneArtilleriehandwerker, 6 Bataillone Genietruppen, eineTelegraphenkompanie, 5 Train-, 3 Feuerwehr- und 3Handwerkerbataillone, zusammen 12,000 Offiziere, 170,000 Mann,30,000 Pferde, 1188 Feld- und 2374 Festungsgeschütze;außerdem Kadres für 96 Redifregimenter zu 4 Bataillonen.Die Flotte, durch Verluste im letzten russischen Krieg undnachherige Verkäufe an England wesentlich verringert,zählte zu Ende 1886 wieder 12 Panzer-, 50 hölzerne und 12Torpedofahrzeuge; im Bau befanden sich eine Panzerfregatte und 2Panzerkorvetten. Die Flagge besteht aus einem roten Flaggtuch mitweißem Halbmond und weißem achtstrahligen Stern (s.Tafel "Flaggen I"); die Handelsflagge aus drei HorizontalstreifenRot-Grün-Rot.

Das Wappen des türkischen Reichs ist ein grüner Schildmit wachsendem silbernen Monde. Den Schild umgibt eineLöwenhaut, auf der ein Turban mit einer Reiherfeder liegt;hinter demselben stehen schräg zwei Standarten mitRoßschweifen. Es bestehen vier Ritterorden: der Orden desRuhms (Nischani iftichar, 1831 gestiftet), mit 4 Klassen; derMedschidieh-Orden (1852 gestiftet, s. Tafel "Orden", Fig. 33), mit5 Klassen, der Osmanje-Orden (1861 gestiftet), mit 3 Klassen, derVerdienstorden (Nischani-Imtiaz, 1879 gestiftet), außerdemein Damenorden (1880 gestiftet). Sonstige Auszeichnungen sindKriegsmedaillen, Ehrenkaftane und Ehrensäbel.

Außereuropäische Besitzungen.

Die asiatische Türkei umfaßt eine Anzahlverschiedenartiger Gebiete, welche den westlichsten Teil von Asienbllden. Diese Gebiete sind: Armenien, Kurdistan, Irak Arabi oderBabylonien, El Dschesireh oder Mesopotamien, Kleinasien, Syrien undPalästina, die Halbinsel Sinai und das westlicheKüstenland von Arabien. Hinsichtlich der Verwaltung zerfallendiese Länder in Wilajets, von denen jedes unter einem Paschaals Statthalter steht, deren Grenzen und Namen aber häufigwechseln. Dieselben sind im Sommer 1888, abgesehen von den zumPolizeibezirk von Konstantinopel gehörigen Liwas Bigha undKodscha-Ili, das Inselwilajet (Dschezâiri-bahri-sefîd),Chodawendikjâr, Aïdin, Kastamuni, Angora, Konia, Siwas,Adana, Trapezunt, Erzerum, Wan, Bitlis, Diarbekr, Charput(Ma'amuret el Aziz), Mosul, Bagdad, Basra, Aleppo, Surija oderDamaskus und Beirut und in Arabien die Wilajets Hidschas und Jemen(s. die einzelnen Artikel). Die Bevölkerung der asiatischenBesitzungen der Pforte wird auf 16,133,000 Seelen veranschlagt, dasAreal derselben auf ca. 1,890,000 qkm (ca. 34,300 QM.). Diedirekten afrikanischen Besitzungen zählen auf 1,033,000 qkmnur etwa 1 Mill. Einw. Die gesamten unmittelbaren Besitzungen destürkischen Reichs umfassen also ca. 3,088,400 qkm mit21½ Mill. Einw., unter Hinzurechnung allerTributärstaaten etc. aber 4¼ Mill. qkm mit 33 Mill.Einw.

[Litteratur.] Vgl. v. Hammer-Purgstall, Die Staatsverfassung undStaatsverwaltung des osma-

KARTE ZUR GESCHICHTE DER EUROPÄISCHEN TÜRKEI.

Türkei und Nachbarländer.

XIV. Jahrhundert bis vor 1453.

Türkei und Schutzstaaten.

Größte Ausdehnung bis zum Karlowitzer Frieden1699.

Türkei und Schutz Staaten

1699 - 1877.

Türkei und Nachbarländer

nach dem Berliner Vertrag.

1878, 1881 u. 1885.

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Türkisches Reich (Geschichte bis zum 15. Jahrhundert).

nischen Reichs (Wien 1814, 2 Bde.); v. Moltke, Briefe überZustände und Begebenheiten in der Türkei 1835 bis 1839(Berl. 1841, 4. Aufl. 1882); Rigler, Die Türkei und derenBewohner (Wien 1852, 2 Bde.); Ubicini, Lettres sur la Turquie.Tableau statistique, religieux, politique, administratif etc. (Par.1854); Derselbe, État présent de l'empire ottoman(mit Pavet de Courteille, das. 1877); Michelsen, The Ottoman empireand its resources (Lond. 1853); Heuschling, L'empire de Turquie(Brüssel 1860); "Stambul und das moderne Türkentum. Voneinem Osmanen" (Leipz. 1878); J. Baker, Die Türken in Europa(deutsch, Stuttg. 1878); Aristarchi Bei, La legislation ottomane(Konstant. u. Par. 1873-88, 7 Bde.); Baillie, Digest of moohummudanlaw (2. Aufl., Lond. 1875 u. 1887, 2 Bde.); Zur Helle, DieVölker des osmanischen Reichs (Wien 1877); Menzies, Turkey,historical, geographical, statistical (Lond. 1880, 2 Bde.); L.Diefenbach, Die Volksstämme der europäischen Türkei(Frankf. 1877); Meyers Reisebücher: "Türkei undGriechenland" (2. Aufl., Leipz. 1888); "Karte der Balkanhalbinsel"(1:300,000, vom österreichischen militärtopographischenInstitut, seit 1876); H. Kiepert, Generalkarte dersüdosteuropäischen Halbinsel (Berl. 1885).

Geschichte des türkischen Reichs.

(Hierzu "Geschichtskarte des türkischen Reichs".)

Übersicht der osmanischen Herrscher.

Osman (1288-1326)

Urchan (1326-59)

Murad I. (1359-89)

Bajesid I. (1389-1403)

(Suleiman, Musa) Mohammed I. (1413-21)

Murad II. (1421-51)

Mohammed II. (1451-81)

Bajesid II. (1481-1512)

Selim I. (1512-20)

Suleiman II. (1520-66)

Selim II. (1566-74)

Murad III. (1574-95)

Mohammed III. (1595-1603)

Achmed I. (1603-17)

Mustafa I. (1617-18)

Osman II. (1618-22)

Murad IV. (1623-40)

Ibrahim (1640-48)

Mohammed IV. (1648-87)

Suleiman III. (1687-91)

Achmed II. (1691-95)

Mustasa II. (1695-1703)

Ach.ned III. (1703-30)

Mahmud I. (1730-54)

Osman III. (1754-57)

Mustafa III. (1757-74)

Abd ul Hamid I. (1774-89)

Selim III. (1789-1807)

Mustafa IV. (1807)

Mahmud II. (1808-39)

Abd ul Medschid (1839-61)

Abd ul Asis (1861-76)

Murad V. (1876)

Abd ul Hamid II. (seit 1876)

[Gründung des türkischen Reichs.] Die Türken, einStamm der schon im Altertum Turan bewohnenden, im 8. Jahrh. zumIslam bekehrten Bevölkerung, von der bereits früherzahlreiche Scharen unter Führung der Seldschukken (s. d.)Vorderasien überschwemmt hatten, wanderten, 50,000 Seelenstark, um 1225 unter ihrem Stammeshäuptling Suleiman I., umdem Schwerte der Mongolen zu entrinnen, von Chorasan nach Armenienaus. Suleimans Sohn Ertogrul (1231-88) trat als Lehnsträger indie Dienste Ala ed dins, des seldschukkischen Sultans von Konia,und erhielt einen Landstrich im nordwestlichen Phrygien zumWohnsitz, wo die Türken Gelegenheit fanden, im Kampf gegen dasabsterbende griechische Kaiserreich Eroberungen zu machen. Osman,Ertogruls Sohn und Nachfolger (1288-1326), erweiterte sein Gebietdurch glückliche Kämpfe gegen die Griechenbeträchtlich und nahm 1299 nach Ala ed dins Tode den Titel"Sultan" an; nach ihm führten die Türken fortan den Namenosmanische Türken oder Osmanen. Türkische Freibeuterwagten sich auf die See, eroberten 1308 Chios und plündertenund verwüsteten zahlreiche Städte der kleinasiatischenWestküste. Osmans Sohn Urchan (1326-59), einer derbedeutendsten Herrscher seines Geschlechts, eroberte 1326 das festeund volkreiche Brussa, wo er sich einen Palast erbaute, dessen Thordie "hohe Pforte" genannt wurde, und unterwarf sich bis 1340 dasganze Land bis an die Propontis mit Nikäa und Nikomedeia sowieweite Länderstrecken im Innern Kleinasiens. Sein Sohn Suleimansetzte sich 1356 schon auf der europäischen Seite desHellesponts, in Gallipoli, fest. Unter dem Beirat seineseinsichtsvollen Bruders Ala ed din, des ersten Wesirs der Osmanen,organisierte Urchan das Reich nach den Satzungen des Korans und desosmanischen Staatsrechts (Kanun) und teilte es in dreiMilitärdistrikte, Sandschaks (Fahnen). Auch schuf er einstehendes Heer und errichtete die Janitscharen (d. h. neue Truppe),ein aus christlichen Knaben rekrutiertes vortrefflich geschultesFußvolk, sowie die Spahis, eine reguläre Reitertruppe,deren Mannschaften gegen erbliche Dienstpflicht mit denEinkünften von Dörfern der unterworfenen Gebiete belehntwurden. Die Türken bildeten also ein politisch organisiertesHeerlager, dessen Unterhaltung den unterworfenen christlichenVolkerschaften oblag, und das sich trotz der fortwährendenKriege durch den massenhaften Übertritt von Christen zumIslam, welchen sofort alle Vorrechte des herrschendenKriegerstammes gewährt wurden, rasch und unaufhörlichvermehrte. Diese wohl organisierte Kriegsmacht gab zu einer Zeit,der stehende Heere fremd waren, den Osmanen ihre Übermachtüber ihre Nachbarn.

Urchans zweiter Sohn, Murad I. (1359-89), eroberte Thrakien,verlegte 1365 seine Residenz nach Adrianopel und beschränktedas griechische Kaiserreich auf Konstantinopel und Umgebung. Serbenund Bulgaren mußten nach der Niederlage auf dem Serbierfeldbei Adrianopel (1363) Tribut zahlen und sich zu Heeresfolgeverpflichten; die Fürsten Kleinasiens mußten dieOberhoheit des Sultans anerkennen. Die Erhebung desSerbenkönigs Lazarus, dem sich die Fürsten von Bosnien,Albanien, der Herzegowina und der Walachei anschlössen, endetemit der blutigen Niederlage auf dem Amselfeld bei Kossowa (15. Juni1389); der siegreiche Murad wurde auf dem Schlachtfeld selbst voneinem verwundeten Serben ermordet. Sein Sohn Bajesid I. (1389-1403)machte die Walachei zinspflichtig, unterjochte Bulgarienvöllig, eroberte ganz Makedonien und Thessalien und drangsiegreich in Hellas ein. Auch in Asien vermehrte er dietürkische Macht, indem er die Länder zwischen dem Halysund dem Euphrat eroberte. Das christliche Kreuzheer, welchesKönig Siegmund von Ungarn aus dem Abendland herbeiführte,schlug er 28. Sept. 1396 bei Nikopoli und schickte sich zurBelagerung Konstantinopels an, als das Vordringen der Mongolenunter Timur in Vorderasien ihn zwang, sich gegen diese zu wenden.Doch unterlag er 20. Juli 1402 in der Schlacht bei Angora undgeriet selbst in Gefangenschaft, in welcher er 1403 starb. Durchden Zwist seiner Söhne Suleiman, Musa und Mohammed geriet dasReich in Gefahr, zu zerfallen. Doch glückte es dem letztern1413, nach der Besiegung und dem Tode seiner Brüder dasosmanische Reich wieder in seiner Hand zu vereinigen und seineHerrschaft gegen auswärtige Feinde und Aufstände imInnern siegreich zu behaupten. Sein Sohn Murad II. (1421-51) konnte1422 wieder die Eroberung Konstantinopels versuchen; dochAufstände in Asien sowie heftige Kriege an der Donau gegen dieUngarn und Serben unter Johannes Hunyadi und in Albanien gegenGeorg Kastriota, in denen die Osmanen wiederholt Unfälleerlitten, zwangen Murad, Illyrien den Serben, die Walachei denUngarn ab-

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Türkisches Reich (Geschichte: 15.-17. Jahrhundert).

zutreten und von der völligen Vernichtung desbyzantinischen Reichs abzustehen. Erst als seine glänzendenSiege über die Christen bei Warna (10. Nov. 1444) und auf demAmselfeld bei Kossowa (17.-20. Okt. 1448) die Herrschaft derOsmanen an der Donau dauernd begründet hatten, zugleich auchder südliche Teil der griechischen Halbinsel erobert wordenwar, konnte die wieder erstarkte Osmanenmacht unter MuradsNachfolger Mohammed II. (1451-81) sich gegen Konstantinopel wenden,das nach tapferer Verteidigung 29. Mai 1453 in die Hände derTürken fiel und zur Hauptstadt ihres Reichs erhoben wurde.

Höchste Macht und Blüte des Reichs.

Mohammed ordnete darauf die Angelegenheiten der zahlreichenunterworfenen Christen (Rajah) und ihres Klerus; dieselben wurdenzwar nicht gewaltsam zum Islam bekehrt, vielmehr in der freienAusübung ihrer Religion belassen, blieben aber doch derwillkürlichen Gewalt der Türken preisgegeben, welche alsherrschendes Kriegervolk die Hilfsmittel der eroberten Länderrücksichtslos zu ihrer Bereicherung und zur Verstärkungihrer militärischen Kraft verwendeten und durchunaufhörliche Erweiterung ihres Machtgebiets sich selbst unddem Islam die Welt zu unterwerfen strebten. 1456 wurde derPeloponnes, 1460 das Kaiserreich Trapezunt, 1470 Albanien erobert,1475 der Tatarenchan der Krim zur Unterwerfung gezwungen, 1478 dieMoldau Polen entrissen und unter die Oberhoheit der Türkeigestellt. Mohammeds Nachfolger Bajesid II. (1481-1512), unter demin der gewaltigen Machtentfaltung des Osmanenstaats ein Stillstandeintrat, da seine Kriegsunternehmungen gegen das Abendland wenigglücklich waren, hatte trotz der in der osmanischen Dynastiebereits üblichen Sitte, die Alleinherrschaft durch grausamenVerwandtenmord zu sichern, mit fortwährenden Aufständenzu kämpfen und ward, nachdem er einen Bruder (Dschem) und zweiSöhne hatte hinrichten lassen, von seinem jüngsten Sohn,Selim I. (1512-20), gestürzt und vergiftet. Selim besiegte1514 den Schah von Persien, den er durch die Ermordung von 40,000auf türkischem Boden lebenden Schiiten zum Kriege gereizthatte, bei Tschaldyran, eroberte Armenien und den Westen vonAserbeidschân, dann nach Besiegung der Mamelucken 1517Syrien, Palästina und Ägypten und wurde von den heiligenStädten Mekka und Medina als Schirmherr anerkannt, worauf erden Titel eines Kalifen annahm. Unter seinem Nachfolger Suleiman(Soliman) II. (1520-66) erreichte die türkischeMachtentwickelung ihren Höhepunkt: er eroberte 1521 Belgrad,vertrieb 1522 die Johanniter von der Insel Rhodos, vernichtete 29.Aug. 1526 das ungarische Heer unter König Ludwig II. beiMohács, drang 1529 bis Wien vor und vereinigte Ungarn,nachdem es seit 1533 unter dem siebenbürgischen FürstenJohann Zápolya ein türkisches Vasallenreich gewesen,1547 zur Hälfte mit seinem Reich. Die Venezianer mußten1540 ihre Inseln im Ägeischen Meer und ihre letztenBesitzungen auf dem Peloponnes abtreten. Im Osten eroberte er durcheinen siegreichen Krieg mit Persien (1533-1536) Georgien undMesopotamien. Seine Flotten beherrschten das Mittelmeer bisGibraltar und beunruhigten durch Raubzüge im Indischen Ozeandie portugiesischen Kolonien. Die Barbareskenstaaten Nordafrikaserkannten seine Oberhoheit an. Er starb 1566 im Lager vor Szigethin Ungarn. Mit ihm schloß die glänzende Reihehervorragender Kriegsfürsten, welche die osmanische Dynastieauszeichnete und den großartigen Aufschwung dertürkischen Macht ermöglichte. Dem türkischenStaatswesen galt nicht der Friede, sondern der Krieg als dernormale Zustand; um in diesem die nötige Kraft zu entfalten,war in jenem ein rücksichtslos egoistischer, von allen Bandendes Rechts und der Sitte befreiter Despotismus nötig, der aberallmählich ertötend wirkte. Die grausame Vertilgung allerhervorragenden, aber deshalb gefährlichen Mitglieder derDynastie, die Serailerziehung und strenge Abschließung derjungen Prinzen vom öffentlichen Leben vernichteten die Kraftdes Herrschergeschlechts. Das tapfere Kriegervolk verweichlichte inden Genüssen des Friedens, die Soldateska der Janitscharenwurde immer zügelloser.

Verfall des Reichs.

Selim II. (1566-74) war ein schwacher Fürst und ließseinen Großwesir Sokolli regieren. Dieser entriß zwarden Venezianern Cypern, Zante und Kephalonia; dagegen wurde dietürkische Flotte 7. Okt. 1571 bei Lepanto von den Christenbesiegt. Murad III. (1574-95), welcher sich den Thron durchErmordung von fünf Brüdern sicherte, und Mohammed III.(1595-1603), der 19 Brüder erdrosseln ließ, führtenerfolglose Kriege gegen Österreich und Persien; letztererverlor Tebriz und Bagdad und mußte Frankreich um Vermittelungdes Friedens mit Österreich angehen. Achmed I. (1603-17)schloß 1612 mit den Persern einen ungünstigen Frieden.Sein Bruder Mustafa I. (1617-18) ward nach dreimonatlicherHerrschaft durch ein Fetwa des Muftis als blödsinnigabgesetzt, Achmeds Sohn Osman II. (1618-22), als er nach einemunglücklichen Feldzug gegen die polnischen Kosaken dieJanitscharen, denen er die Schuld beimaß, vernichten wollte,von diesen ermordet und, nachdem Mustafa wieder als Sultananerkannt, aber 1623 zum zweitenmal abgesetzt worden war, Osmansjüngerer Bruder, Murad IV. (1623-40), auf den Thron erhoben.Dieser eroberte im Kriege gegen Persien (1635-38) Eriwan, Tebrizund Bagdad wieder, züchtigte die Kosaken und legte denVenezianern einen nachteiligen Frieden auf; auch stellte er dieManneszucht wieder her und füllte durch strenge Sparsamkeitden Staatsschatz. Sein Bruder und Nachfolger Ibrahim (1640-48), einfeiger Wollüstling, unter dessen toller und blutigerSerailwirtschaft die von Murad gewonnenen Vorteile wieder verlorengingen, ward 1648 von den Janitscharen abgesetzt und erdrosselt undsein siebenjähriger Sohn Mohammed IV. (1648-87) auf den Thronerhoben.

Durch den Streit um die Vormundschaft ward das Reich derAuflösung nahegebracht: Zerrüttung der Finanzen,Meutereien der Janitscharen, Empörungen derProvinzialstatthalter, Niederlagen gegen die Venezianer (1656 inden Dardanellen) und Polen brachen über das Reich herein, bisMohammed Köprili, 1656 zum Großwesir ernannt, durchblutige Strenge die Manneszucht in der Armee, den Gehorsam derProvinzen und die Ordnung der Finanzen herstellte und dieVenezianer zurückschlug. Achmed Köprili eroberte imKriege gegen Österreich Gran und Neuhäusel undbehauptete, obwohl 1 Aug. 1664 bei St. Gotthardt geschlagen, dieseEroberungen im Frieden von Vasvár, unterwarf 1669 Kreta undzwang Polen im Frieden von Budziak 1672 zur Abtretung Podoliens undder Ukraine, welche türkischer Schutzstaat wurde, freilichnach Achmeds Tod (1676) durch einen neuen Krieg mit Polen und einenKrieg mit Rußland nebst Asow 1681 wieder verloren ging. Derneue Eroberungskrieg, den Achmeds Nachfolger Kara Mustafa 1683gegen Österreich unternahm, verlief nach der vergeblichen

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Türkisches Reich (Geschichte: 17.-19. Jahrhundert).

Belagerung Wiens (24. Juli bis 12. Sept. 1683) sounglücklich, daß ganz Mittelungarn mit Ofen verlorenging und die Kaiserlichen nach dem Sieg bei Mohács (12. Aug.1687) in Serbien eindrangen, während gleichzeitig dieVenezianer den Peloponnes und Kephalonia wieder eroberten. Mohammedward daher 1687 entthront; aber weder Suleiman III. (1687-91) nochAchmed II. (1691-95) vermochten den türkischen Waffen wiederden Sieg zu verleihen. Nach den großen Niederlagen beiSlankamen (19. Aug. 1691) und Zenta (11. Sept. 1697) mußteMohammeds Sohn Mustafa II. (1695-1703) im Frieden von Karlowitz(Januar 1699) Ungarn und Siebenbürgen an Österreich, Asowan Rußland, Podolien und die Ukraine an Polen, den Peloponnesan Venedig abtreten. Mustafa ward 1703 von den Janitscharenabgesetzt und sein Bruder Achmed III. (1703-30) zum Sultan erhoben.Derselbe nahm nach der Schlacht bei Poltawa (1709) denflüchtigen Schwedenkönig Karl XII. gastlich auf,erklärte auch seinetwegen Rußland den Krieg; dochließ sein Großwesir 1711 den am Pruth eingeschlossenenZaren Peter d. Gr. gegen Rückgabe Asows frei. 1715 ward derPeloponnes den Venezianern wieder entrissen; doch verloren dieTürken nach einem neuen unglücklichen Kriege gegenÖsterreich im Frieden von Passarowitz (21. Juli 1718) einenTeil von Serbien mit Belgrad. 1730 ward Achmed wegen einesunglücklichen Kriegs mit Persien gestürzt.

Unter Mahmud I. (1730-54) ward die Türkei 1737 vonÖsterreichern und Russen von neuem angegriffen. Diese fielenin die Krim ein und eroberten Asow wieder; die Österreicherkämpften aber so unglücklich, daß die Türkenim Frieden von Belgrad (1. Sept. 1739) das Gebiet südlich derSave und Donau sowie ihre an Rußland verlornen Grenzfestungenmit Asow wieder zurückerhielten. Auf Mahmud folgte Osman III.(1754-57), auf diesen sein Vetter Mustafa III. (1757-74), der 1768mit Rußland wegen dessen drohender Haltung gegen Polen einenKrieg begann, der aber höchst unglücklich für ihnverlief. Die Russen besetzten die Moldau und Walachei, einerussische Flotte erschien im Ägeischen Meer und vernichtetedie türkische 5. Juli 1770 bei Tscheschme; 1771 ward die Krimden Türken entrissen, und 1773 drangen die Russen sogar inBulgarien ein, so daß Mustafas Nachfolger Abd ul Hamid I.(1774-89) im Frieden von Kütschük Kainardschi (21. Juli1774) die Krim aufgeben, alle Plätze an der Nordküste desSchwarzen Meers abtreten, den Russen freie Schifffahrt im Schwarzenund Ägeischen Meer zugestehen und für die Moldau undWalachei Verpflichtungen übernehmen mußte, die einSchutzrecht Rußlands begründeten. Infolge derunersättlichen Eroberungssucht Katharinas II. vonRußland, die 1783 die Krim und die Kubanländer mit ihremReich vereinigte und 1786 mit Kaiser Joseph II. ein Bündnisschloß, brach 1788 ein neuer Krieg gegen Rußland undÖsterreich aus, in dem die Türken sich mutig und tapferbehaupteten, zwar Suworows siegreiches Vordringen nicht hemmenkonnten, aber den Österreichern wiederholt Verlustebeibrachten. Unter preußischer Vermittelung schloßSelim III. (1789-1807) mit Österreich den Frieden von Sistova(4. April 1791), mit Rußland den von Jassy (9. Jan. 1792) underhielt von beiden Mächten deren Eroberungen mit Ausnahme desGebiets rechts vom Dnjestr zurück.

Reformversuche.

Im Innern hatten die wiederholten langwierigen Kriege denVerfall beschleunigt: die Finanzen waren völligzerrüttet, das Ansehen der Regierung geschwächt, dieBande des Gehorsams gelockert und die Einheit des Reichs durchUnabhängigkeitsbestrebungen mehrerer Paschas erschüttert.Selims Reformversuche blieben diesen Schwierigkeiten gegenüberwirkungslos. Dazu kamen wieder auswärtige Verwickelungen: 1798der Einsall Bonapartes in Ägypten, 1806 wegen Verletzung desFriedens von Jassy eine neue russische Kriegserklärung. AlsSelim die Errichtung eines neuen, nach europäischem Musterausgehobenen und organisierten Heers versuchte, welches dieJanitscharen ersetzen sollte, ward er 29. Mai 1807 auf Betrieb derbeim Volk beliebten Janitscharen durch die Ulemas abgesetzt und Abdul Hamids Sohn Mustafa IV. zum Sultan ernannt, und als sich derSeraskier Mustafa Bairaktar, Pascha von Rustschuk, im Juli 1808für Selim erhob, ward dieser im Gefängnis ermordet.Bairaktar rückte nun auf Konstantinopel, erstürmte dasSerail und setzte an Mustafas Stelle dessen jüngern Bruder,Mahmud II. (28. Juli 1808), auf den Thron, der einen neuen Aufstanddes von den Janitscharen aufgereizten fanatischen Volkes imNovember 1808 blutig niederschlug u. Mustafa IV. hinrichtenließ; sein Großwesir Bairaktar, vom Pöbel in einenTurm eingeschlossen, sprengte sich mit diesem in die Luft.

Mahmud II. (1808-39), der jetzt als einzig überlebenderNachkomme Osmans von den Türken als rechtmäßigerHerrscher anerkannt wurde, machte sich besonders dieWiederherstellung der Autorität der Pforte gegen diezahlreichen Unabhängigkeitsbestrebungen der Paschas und derchristlichen Stämme zur Aufgabe. Die drohende HaltungNapoleons gegen Rußland bewog dieses, trotz seinerglänzenden Siege im Frieden von Bukarest (28. Mai 1812) diemeisten seiner Eroberungen wieder herauszugeben. Zwar gelang esMahmud, mehrerer unbotmäßiger Paschas, namentlich AliPaschas von Janina (1822), Herr zu werden und durch blutigeAusrottung des sich jeder Neuerung widersetzenden Janitscharenkorps(Juni 1826) wie durch Errichtung eines regulären, nacheuropäischem Muster organisierten Heerwesens seine Machtwiederherzustellen. Dagegen glückte es ihm nicht, den Aufstandder Serben (seit 1804) und der Griechen (seit 1821) zuunterdrücken; die Grausamkeit Mahmuds gegen die Griechenisolierte die Pforte völlig den europäischen Mächtengegenüber, und so konnte Rußland dem wehrlosen Reicherst den Vertrag von Akjerman (6. Okt. 1826) abnötigen,welcher die staatsrechtlichen Verhältnisse Serbiens und derDonaufürstentümer im Sinn Rußlands regelte, undnachdem die türkisch-ägyptische Flotte 20. Okt. 1827mitten im Frieden bei Navarino durch die vereinigten GeschwaderRußlands, Englands und Frankreich vernichtet worden, im April1828 den offenen Krieg beginnen, indem es seine Heere in Bulgarienund in Armenien einrücken ließ. 1828 eroberten dieRussen bloß Warna, Kars und Achalzych, 1829 aber auchErzerum, und Diebitsch drang sogar bis Adrianopel vor, wo 14. Sept.unter preußischer Vermittelung ein Friede zustande kam, inwelchem die Türkei die Donaumündungen und Achalzych anRußland abtrat, die Privilegien derDonaufürstentümer und des vergrößerten Serbienbestätigte und die Unabhängigkeit Griechenlandsanerkannte.

Nun nahm Mahmud seine Bestrebungen, die Einheit des Reichswiederherzustellen, von neuem auf, geriet dabei aber in Konfliktmit dem Pascha von Ägypten, Mehemed Ali, welchem er fürseine beim griechischen Ausstand geleistete Hilfe großeZugeständnisse hatte machen müssen. Mehemeds AdoptivsohnIbrahim Pascha fiel 1831 in Syrien ein, schlug die

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Türkisches Reich (Geschichte 1832-1856).

Türken dreimal, eroberte 1832 Akka und drang 1833 inKleinasien bis Kutahia vor. Die Pforte rief in ihrerBestürzung Rußlands Hilfe an, welches auch 15,000 Mannzur See an den Bosporus warf und zugleich mit andern Truppen dieDonau überschritt, während Frankreich und England ihreFlotte vor den Dardanellen vor Anker gehen ließen. Jetztverstand sich Mehemed Ali zum Frieden von Kutahia (4. Mai 1833), inwelchem der Sultan in Form eines großherrlichenAmnestiefermans den Vizekönig als Erbstatthalter Ägyptensanerkannte und ihm auf Lebenszeit die Verwaltung Syriens undKretas, Ibrahim die von Adana und Tarsos zugestand. Zum Dankfür die russische Hilfe schloß Mahmud mit Rußlandden Vertrag von Hunkiar Skelessi (8. Juli 1833), in welchem er sichverpflichtete, allen Feinden Rußlands die Dardanellen zuschließen und keinem Kriegsschiff die Einfahrt in dasSchwarze Meer zu gestatten. Um den Krieg mit Ägypten wiederaufnehmen zu können, bemühte sich der Sultan, diekriegerischen Hilfsmittel der Pforte durch straffe Zentralstationzu steigern; den Bosniern, Albanesen und verschiedenenkleinasiatischen Stämmen wurden die Reste ihrerSelbständigkeit genommen, das obere Mesopotamien und Kurdistanunterworfen. Als 1839 verschiedene Empörungen gegen dieägyptische Herrschaft in Syrien ausbrachen, erklärte imMai Mahmud dem Vizekönig den Krieg. Doch starb er 1. Juli, eheer Kunde erhielt von der völligen Niederlage seines Heers beiNisib (24. Juni); dieser folgte der Abfall der Flotte, welche derKapudan-Pascha Achmed 14. Juli in Alexandria an Mehemed Aliüberlieferte. Die Lage der Türkei, in der Abd ul Medschid(1839-61), Mahmuds 16jähriger Sohn, die Regierung antrat, wardaher eine höchst kritische, und sie wurde nur gerettet durchdie Intervention der vier Mächte England, Rußland,Österreich und Preußen; dieselben schlossen, umFrankreichs ehrgeizige Pläne zu durchkreuzen, 15. Juli 1840die Quadrupelallianz, welche durch eineösterreichisch-englische Flotte Mehemed Ali zur RäumungSyriens zwang; demselben blieb nur die Erbstatthalterschaft vonÄgypten. Unter dem Beirat Reschid Paschas erließ Abd udMedschid das großherrliche Edikt vom 3. Nov. 1839, welchesunter dem Namen Hattischerif von Gülhane berühmt gewordenist. Dies Dokument, dessen Wichtigkeit in der Bestimmung gipfelte,daß die "Unterthanen jeder Nationalität und Religion",also auch Christen und Juden, gleiche Sicherheit in betreff ihresVermögens, ihrer Ehre und ihres Lebens haben sollten, bildeteeinen gewaltigen Fortschritt in der sozialen Gesittung und hattedurch Einleitung mannigfacher Reformen auf administrativem undkommerziellem Gebrauch für die Staatswirtschaft eine hoheBedeutung. Übrigens sollte der Hatt nur die Grundsätzeaufstellen, aus denen die zu erlassenden Spezialgesetze zuerfließen hätten; diese Gesetze, von den TürkenTanzimatihairijeh ("heilsame Organisation") genannt, solltenfür das gesamte Pfortengebiet Gültigkeit haben, und auchMehemed Ali mußte sich zu ihrer Annahme bequemen. 1841 wurdein London zwischen den Großmächten und der Pforte dersogen. Dardanellenvertrag abgeschlossen, durch welchen die letzteresich verpflichtete, die Dardanellenstraße und den Bosporusfür fremde Kriegsschiffe in Friedenszeiten verschlossen zuhalten.

Der Krimkrieg mit seinen Folgen.

Das Jahr 1848 mit seinen Freiheitsideen ging an der eigentlichenTürkei spurlos vorüber; dagegen bildete sich in denDonaufürstentümern, wo Rußland unter dem Nameneiner Schutzmacht jede freiere Entwickelung despotisch niederhielt,eine Reformpartei, deren Häupter gern mit Hilfe der Pforteeine liberale Repräsentativverfassung eingeführthätten. Um den Russen keinen Vorwand zu einer Besetzung derDonaufürstentümer zu geben, gab die Pforte die Liberalenpreis; dennoch erfolgte die Besetzung. Die Hoffnungen, welche manin Konstantinopel für eine Wiederherstellung der frühernHerrschaft an der Donau auf die ungarische Insurrektion von 1849gesetzt hatte, wurden durch die Kapitulation von Vilagos (13. Aug.1849) vernichtet. Doch hatte die Pforte wenigstens den Mut,unterstützt durch eine vor den Dardanellen erscheinendeenglische Flotte, die Auslieferung der ungarischen Flüchtlingezu verweigern. Rußland und Österreich wichen damalszurück, ließen aber bald nachher die Pforte ihren Zornempfinden. Als die französische Republik im Herbst 1850 inKonstantinopel eine Reklamation wegen der heiligen Stätten inPalästina erhob und die Pforte dieselbe nicht ganz ablehnte,sondern wenigstens die Mitbenutzung einer Kirchenthür inBethlehem den Katholiken zugestand, erklärte Kaiser Nikolaussofort, daß hierdurch das religiöse Gefühl derorthodoxen Russen aufs äußerste verletzt werde, undverlangte Bürgschaften für die griechisch-katholischeKirche in der Türkei, welche Rußland ein völligesSchutzrecht über Unterthanen der Pforte gewährthätten. Zugleich forderte Österreich die sofortigeZurückziehung der eben damals siegreich in dasaufständische Montenegro eingedrungenen türkischenTruppen aus diesem österreichischen Grenzland und dieErledigung einer Anzahl privatrechtlicher Forderungenösterreichischer Unterthanen. Als der außerordentlicheösterreichische Gesandte Graf Leiningen 14. Febr. 1853 dieunbedingte Erfüllung dieser Forderungen erreichte, schickteauch Kaiser Nikolaus den Fürsten Menschikow nachKonstantinopel, um in schroffster Form den Abschluß einesförmlichen Vertrags über die der orthodoxen Kirche zugewährenden Privilegien zu verlangen. Die Ablehnung dieserForderung hatte einen neuen russisch-türkischen Krieg zurFolge (1853-56, s. Krimkrieg). Die türkische Armee bewies sichtüchtiger und leistungsfähiger, als man geglaubt hatte,und verteidigte die Donaufestungen sowie Armenien mit großerZähigkeit und die erstern mit solchem Erfolg, daß dieRussen über die Donau zurückgehen mußten. Dagegenwurde gleich zu Anfang des Kriegs die Flotte der Türkei beiSinope vernichtet, und auch ihre Truppen kämpften, seit dieverbündete Armee der Westmächte auf dem Kriegsschauplatzerschienen war, nur in Armenien selbständig; in der Krimspielten sie bloß die Rolle von Hilfstruppen.

Für die innern Verhältnisse der Türkei hatte derKrimkrieg besonders die Wirkung, daß die Westmächte,gewissermaßen als Belohnung und Rechtfertigung ihrerthatkräftigen Hilfe, die Einführung gründlicherReformen in dem türkischen Reich forderten. DieseBemühungen gipfelten in einem neuen großherrlichenEdikt, welches, von einer Diplomatenkommission zusammen mit demtürkischen Minister der auswärtigen Angelegenheitenausgearbeitet, unter dem Namen Hatti-Humayum 8. Febr. 1856publiziert und später dem am 30. März d. J. zu Parisunterzeichneten Friedensinstrument als Annex beigegeben wurde.Dieser Hatt proklamierte die bürgerliche Gleichstellung allerUnterthanen, verbot die Bevorzugung einer Religionsgenossenschaftvor der andern, gewährte allen Staatsbürgern gleichesRecht auf Anstellung im Pfortendienst, gleiches Recht aufSchulbesuch, verordnete

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Türkisches Reich (Geschichte 1856-1860).

die Einsetzung gemischter (mohammedanisch-christlicher)Tribunale, die Wehrpflicht der Christen bei Befugnis desStellvertreterkaufs, das Recht des Grundeigentumserwerbs fürAusländer, unbedingte Toleranz etc. Türkischerseits wargegen die gleichmäßige Zulassung von Nichtchristen zuden Staatsämtern, gegen die dem Exterritorialitätsprinzipwiderstreitende Grunderwerbsbefugnis der Ausländer und gegendie unbedingte Toleranz, d. h. die Aufhebung der vommohammedanischen Rechtsbewußtsein geforderten Strafenfür Abfall vom Islam, vergeblich Einsprache erhoben worden;der Hatt, welcher den Christen die Wehrpflicht für den vonihnen immer als etwas Feindliches betrachteten Osmanenstaatauferlegte, wurde von diesen mit ebensoviel Verdruß undArgwohn aufgenommen wie von den Mohammedanern allerParteischattierungen mit patriotischem und religiösem Ingrimm,und die türkischen Staatsmänner konnten wenigstens mitRecht beanspruchen, daß der Pforte hinlängliche Zeitfür die allmähliche Ausführung der Reformengewährt werde. Auch bei dem Pariser Friedenskongreßkamen die türkischen Interessen nur, insofern sie mit denender Westmächte zusammenfielen, zur Geltung. Rußlandwurde um die Donaumündungen und einen denselben anliegendenStreifen Bessarabiens gekürzt, trat aber diesen letztern andie Moldau ab, während die Pforte sich mit denDonaumündungen begnügen mußte. Eine erheblicheEinbuße für Rußland war dagegen dieNeutralisierung des Schwarzen Meers. Die Aufnahme der Pforte in dieeuropäische Staatenfamilie und die Gewährleistung ihrerUnverletzlichkeit schienen die Stellung der Türkei in Europabeträchtlich zu heben; dagegen wurden durch die Erneuerung desDardanellenvertrags und die Gewährung autonomer Stellung andie drei Donaufürstentümer, unter Bürgschaft derVertragsmächte gegen Tributzahlung an die Pforte, ihreSelbständigkeit und ihre Macht erheblich verringert.

In der That wurden die Befugnisse der Pforte über dieVasallenstaaten nicht nur nicht vermehrt, sondern, da daseuropäische Konzert, von dem die Türkei bloß einenTeil bildete, sich die oberste Entscheidung beimaß, mehr undmehr verringert und schließlich beinahe völligaufgehoben. Sie konnte nicht hindern, daß 1859 auf BetriebFrankreichs in der Moldau und der Walachei derselbe Mann, Cusa, zumFürsten erwählt und so die Union faktischdurchgeführt wurde, und mußte sich begnügen, ihreInvestitur mittels zweier verschiedener Diplome zu erteilen. InSerbien wurde der der Pforte ergebene Alexander Karageorgiewitsch1858 zur Abdankung gezwungen und die Obrenowitschzurückgerufen, unter denen Serbien der Herd panslawistischerAgitationen wurde, welche 1861 auch einen Aufstand in derHerzegowina erregten. Dem Druck der Großmächtenachgebend, befahl die Pforte 1862 allen außerhalb derFestung in Serbien lebenden Türken, auszuwandern, undschleifte mehrere Binnenbefestigungen. Die unter den Auspizien derWestmächte begonnenen Reformen in den Immediatprovinzengerieten bald ins Stocken. Es gelang nur, eine Anzahl wichtigermaterieller Verbesserungen durchzuführen: neueHeerstraßen wurden erbaut, Häfen angelegt, die Postbesser eingerichtet und Telegraphenlinien gezogen. Die Kehrseitedieser Fortschritte bildete die Zerrüttung der Finanzen.Während die Pforte sich früher in bedrängten Zeitenmit Münzverschlechterung und Papiergeld beholfen hatte, derennachteilige Folgen bald beseitigt waren, war während desKrimkriegs neben einer bedeutenden schwebenden Schuld im Inlandeine Anleihe von 7 Mill. Pfd. Sterl. in England aufgenommen worden.Dieser folgten 1858, 1860 und 1861 drei weitere Anleihen. DieAusgaben stiegen infolge der hohen Zinsen auf 14 Mill. Pfd. Sterl.jährlich, während die Einnahmen nur 9 Mill. betrugen.186l brach wegen der Finanznot eine Handelskrisis aus, welcher mandurch Ausgabe von 1250 Mill. Piaster Papiergeld mit Zwangskurs zubegegnen suchte. Die willkürlich verteilten und mit Härteeingetriebenen Steuern bedrückten die Bevölkerung aufsäußerste und führten in den Provinzenallmähliche Verarmung herbei, während die hohen Beamtenund die Bankiers sich übermäßig bereicherten.

Zerrüttung des Staats unter Abd ul Asis.

Am 25. Juni 1861 starb Abd ul Medschid; sein Nachfolger Abd ulAsis (1861-76) ward, weil er für nüchtern, sparsam undenergisch galt, mit Übertriebenen Hoffnungenbegrüßt. Dieser Enthusiasmus kühlte sich bald ab,als man sah, daß dem neuen Großherrn allerdings diegutmütige, wohlwollende Gesinnung seines Bruders fehle,daß aber, was man für Charakterfestigkeit gehalten, nurEigensinn sei, welcher sich, seiner mangelhaften geistigen Bildungentsprechend, in der Regel nach verkehrter Richtungäußerte. Er nahm, wie sein Vater, einen Anlauf, derRegenerator seines Reichs zu werden; er wollte sogar dafürOpfer bringen, seinen Harem abschaffen, auf einen Teil derZivilliste verzichten etc. Aber das auch bei ihm hervortretendeMißverhältnis zwischen Wollen und Können erzeugteSchwermutsanfalle und Ausbrüche von Despotenlaune. DieMinister wechselten unaufhörlich, kein Regierungsplan konntesystematisch zu Ende geführt werden, die Staatseinkünftewurden oft auf unsinnige Weise verschwendet. Den Ränken derMächte, den Bestechungen der hohen Beamten durch Unternehmerund Bankiers waren Thür und Thor geöffnet. Dazu kam,daß die Türkei bald auch mit ihren westlichenSchutzmächten in mancherlei Konflikte geriet, welche ihr derFanatismus der mohammedanischen Bevölkerung und die steigendeUnzufriedenheit der christlichen Unterthanen verursachten. ZuDschidda in Arabien wurden im Juni 1858 der englische und derfranzösische Konsul ermordet. Am gräßlichsten kamdie christenfeindliche Stimmung in Syrien zum Ausbruch, woselbst1860 zunächst im Libanon nach wiederholten gegen die Christenbegangenen Gewaltakten die friedliche maronitische Bevölkerungvon Hasbaia, Raschaia und Deir el Kamer, nachdem sie unter Zusagevollkommenen Schutzes ihre Waffen an die türkischenPlatzkommandanten jener Orte abgegeben, von herbeieilenden Drusenmassenhaft abgeschlachtet wurde, und dann in Damaskus, der altensyrischen Landeshauptstadt, wo unter heimlicher Zustimmung derBehörde ein volles Viertel (5000 Seelen) der christlichenBevölkerung dem Fanatismus der Mohammedaner erlag. Entsetztüber die verübten Greuelthaten, verlangte dieöffentliche Meinung ein Einschreiten derGroßmächte. Bis aber diese über die Modalitäteines solchen schlüssig geworden waren, verstrichen Monate.Inzwischen hatte die Pforte den Großwesir Fuad Pascha alsKommissar mit unbedingter Vollmacht an Ort und Stelle geschickt,und derselbe hatte sich angelegen sein lassen, durch zahlreicheHinrichtungen in Damaskus und im Libanon die Einmischung derMächte unnötig zu machen. Doch war die Ende Augusterfolgte Absendung eines französischen Okkupationsheers nachdem Libanon nicht überflüssig, indem erst jetzt diehochgestellten Urheber und Förderer des Blutbades zur

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Türkisches Reich (Geschichte 1861-1875).

Strafe gezogen wurden. Erst im Juni 1861, nachdem über dieEntschädigung der heimgesuchten christlichenBevölkerungen für die erlittenen materiellen Verlusteeine Einigung erzielt worden war, wurden die französischenTruppen wieder abberufen. Der Libanon wurde zu einem besondern,direkt von Konstantinopel abhängenden Verwaltungsbezirkgemacht und unter einen Statthalter christlicher Konfession mitWesirsrang gestellt.

Auch in der christlichen Bevölkerung der europäischenTürkei regte es sich unter dem Einfluß derpanslawistischen und panhellenischen Agitationen an verschiedenenOrten. Besonders gefährlich ward der Aufstand in Kreta imFrühjahr 1866. Erst im August schickte die Pforte Truppen nachder Insel, um die Ordnung herzustellen; doch brach der Kampf imFruhjahr 1868 mit erneuter Heftigkeit aus, und erst, als die PforteGriechenland ein Ultimatum stellte, wenn es nicht aufhöre, denkretischen Aufstand zu unterstützen, und die im Januar 1869 inParis zusammengetretene Konferenz der Mächte Griechenlandnötigte, sich diesem Ultimatum zu unterwerfen, gelang diePacifizierung der Insel, nachdem sie große Opfer an Gut undBlut gekostet, für welche kein Ersatz geleistet wurde. DieserAusgang mußte die andern unterworfenen Völker ermutigen.1866 trat Serbien mit dem Verlangen der gänzlichenRäumung des Landes seitens der türkischen Truppen hervor,und im Mai 1867 fügte sich die Pforte auch wirklich demselben,da Österreich entschieden darauf drang. BloßÄgypten gegenüber gelang es dem Sultan, seineAutorität aufrecht zu erhalten. Er hatte 1866 demVizekönig Ismail Pascha bereitwilligst die Zustimmung zurneuen Thronfolgeordnung und 1867 den Titel Chedive mit erweitertenBefugnissen erteilt. Als dieser aber 1869 auf einer Reise nachEuropa seine völlige Souveränität zu erlangensuchte, befahl ihm die Pforte 29. Nov. d. J., seine Armee auf30,000 Mann zu reduzieren, keine neuen Panzerschiffe zu kaufen,ohne Genehmigung des Sultans keine Anleihen zu kontrahieren,selbständigen Verhandlungen mit fremden Mächten zuentsagen etc. Der Chedive unterwarf sich, erlangte aber im Mai 1873bei einem persönlichen Besuch in Konstantinopel durch eingroßes Geldgeschenk und Erhöhung des Tributs, daßder Sultan ihm alles, mit Ausnahme der Vermehrung der Flotte,wieder erlaubte.

Bei allen Übelständen genoß die Regierung Abd ulAsis' noch eines gewissen Ansehens, solange tüchtigeStaatsmänner, wie Fuad und Aali Pascha, welche, allerdings mitUnterbrechungen, gegen 15 Jahre lang in den wichtigen Posten desGroßwesirs und des Ministers der auswärtigenAngelegenheiten abwechselten, an der Spitze des Staats standen. Alsaber Fuad 1869 und Aali 1871 gestorben waren, da schwand mit derGeschäftskunde der Regierung auch das äußereVertrauen zu ihr mehr und mehr. Der Sultan behielt bei der Wahlseiner Räte nur das eine Kriterium im Auge, ob sie ihn beiseinem Plan, die Thronfolge zu ändern und durchEinführung des Rechts der Erstgeburt seinen Sohn Jussuf zumNachfolger zu bestimmen, unterstützen würden.Zunächst ernannte er Mahmud Nedim Pascha zum Großwesir,einen unwissenden und habsüchtigen Mann, welcher, um seineKreaturen in die einflußreichen Stellen zu bringen, auf daswillkürlichste unter den tüchtigern Beamtenaufräumte und sich eine große Unpopularität zuzog,von welcher ein beträchtlicher Teil auf seinen Gebieterüberging. Ganz gewissenlos wurden die Finanzen verwaltet. DerSultan selbst ging mit der Verschwendung durch Prachtbauten voran.Das Heer und die Flotte verschlangen ungeheure Summen für dieNeubeschaffung von Kanonen, Gewehren und Panzerschiffen.Telegraphen und Eisenbahnen, mit großen Kosten, aber nur nachden Wünschen und dem Vorteil der fremden Mächte und derUnternehmer angelegt, dienten wenig dazu, die Hilfsquellen desLandes zu vermehren, und belasteten zunächst bloß denStaatsschatz. Althergebrachte Hilfsmittel, wie stärkereAnziehung der Steuerschraube, Verpachtung von Staatsgütern,von Einkünften und Gerechtsamen, Verminderung des Gehalts dermittlern und niedern Beamten, wurden durch unverständigeAusbeutung bald abgenutzt und erfolglos und vermehrten nur dieVerarmung und Unzufriedenheit im Volk. Zu immer drückendernBedingungen mußten demnach von Jahr zu Jahr Darlehenaufgenommen werden; um nur zu Geld zu kommen, schien dietürkische Regierung in ihren Zugeständnissen an dieKapitalisten keine Grenze zu kennen. Sie konnte daher bald auch dieZinsen ihrer auf 5000 Mill. Frank angewachsenen äußernSchuld nicht mehr bezahlen. Am 6. Okt. 1875 erklärte diePforte, daß sie außer stande sei, von den Zinsen derStaatsschuld mehr als 50 Proz. zu bezahlen, daß sie aberüber die restierenden 50 Proz. 5proz. Obligationen ausstellenwolle, welche später bar eingelöst werden sollten. Aberalle Versuche, der Mißwirtschaft im Innern Einhalt zu thun,waren erfolglos. Im Juli 1872 war es der patriotischen Oppositiongelungen, Mahmud zu stürzen; aber seine Nachfolger erlagenalle nach kurzer Herrschaft den Ränken des russischenBotschafters Ignatiew, bis im August 1875 Mahmud wieder in dieRegierung zurückberufen ward.

Innere Unruhen und neuer Krieg mit Rußlaud.

Rußland, seit 1864 durch Ignatiew in Konstantinopelvertreten, hatte unaufhörlich und mit wachsendem Erfolg darangearbeitet, seine durch den Krimkrieg verlorne Stellung im Orientwiederzugewinnen. Da Ignatiew in Griechenland nicht mehr einenohnmächtigen Schützling, sondern einen gefährlichenNebenbuhler sah, so trat er fortan nicht sowohl als Protektor derorthodoxen Kirche als der slawischen Unterthanen der Türkeiauf. Von ihm angestachelt, verlangten die Bulgaren ihreLoslösung von dem griechischen Patriarchat in Konstantinopelund erlangten im März 1870 auch wirklich die Errichtung eineseignen Exarchats. Um die Autorität der Westmächte zuerschüttern, stellte Rußland im Oktober 1870während des deutsch-französischen Kriegs die Forderung,daß das durch den Pariser Frieden Rußland auferlegteVerbot, auf dem Schwarzen Meer Kriegsschiffe zu halten, aufgehobenwerde. Die Pforte suchte vergeblich Hilfe bei Europa: Frankreichwar zu Boden geschmettert, England hatte sich durch seineegoistische Politik im Sommer 1870 um alles Ansehen und allenEinfluß gebracht, und auf der Londoner Konferenz im März1871 mußte sich die Pforte dem von Bismarckunterstützten russischen Verlangen fügen. Nach diesemErfolg setzte Ignatiew seine Bemühungen, keinvernünftiges Verwaltungssystem aufkommen zu lassen, dieTürkei mit Europa zu verfeinden, im Innern durch Unruhen u.dgl. zu zerbröckeln und so die völlige Unterwerfungderselben unter Rußland herbeizuführen, rastlos fort,und es gelang ihm, Mahmud Nedim Pascha durch Bestechung, den Sultandurch die Aussicht auf russische Unterstützung seinesThronfolgeplans völlig in seine Gewalt zu bringen.

1875 brach in der Herzegowina, angeblich durch Steuerdruckhervorgerufen, ein Aufstand aus. Mon-

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Türkisches Reich (Geschichte 1875-1877).

tenegro und Serbien machten sich trotz offiziellerNeutralitätserklärung zu Vermittlern der vonRußland ausgehenden Förderung des Aufstandes. Dielässige Bekämpfung des Aufstandes zog den Türkeneinige Schlappen zu; sofort wurde der Pforte auf BetriebRußlands von den Mächten eine Konsularkommission zurHerstellung des Friedens aufgenötigt, und als dieBemühungen dieser an der ablehnenden Haltung derAufständischen gescheitert und sogar eine diePacifikationsbedingungen zusammenfassende Note der Mächteverworfen worden war, als auch eine österreichischerseitsversuchte Vermittelung zu nichts geführt hatte: da glaubte diePforte endlich selbständig agieren zu können. Durch zweibefestigte Lager hielt sie Serbien in Schach und schnitt dieInsurgenten von Montenegro ab, worauf sofort der Aufstand aufeinige rauhe Gebirgsgegenden beschränkt wurde. Nun aber tratIgnatiew energisch gegen eine Bedrohung Montenegros auf und erzwangeine Verlegung der turkischen Truppen von der montenegrinischenGrenze. In diesem Augenblick trat ein andres verhängnisvollesEreignis für die Pforte ein: in Saloniki wurden 6. Mai 1876der deutsche und der französische Konsul bei einem Tumult vonfanatischen Mohammedanern, nicht ohne Verschulden derBehörden, ermordet. Die Pforte beeilte sich, den sehr strengenGenugthuungsforderungen der Mächte gerecht zu werden; doch warihre vermehrte Isolierung die natürliche Folge desVerbrechens. Die gegen sie ganz Europa durchzuckendeMißstimmung wurde von Rußland geschickt benutzt.Dasselbe wußte von den beiden verbündetenKaiserhöfen die Zustimmung zu dem sogen. GortschakowschenMemorandum zu erlangen, welches die Schuld an dem Nichtgelingen derPacifikation der Herzegowina lediglich dem Sultan beimaß undunter Androhung wirksamerer Maßregeln einen zweimonatlichenWaffenstillstand verlangte, um mit den Insurgenten wegen desFriedens zu unterhandeln. Auch die übrigen Mächte, mitAusnahme Englands, erklärten sich mit dieser Staatsschrifteinverstanden.

Alle Schichten der türkischen Nation waren überzeugt,daß Rußland auf das Verderben der Pforte sinne, unddaß Eigennutz und Unverstand den Großherrn und seinenersten Wesir dem Erbfeind als Gehilfen zuführten. Überdie Verbindung des Sultans mit Rußland wurden dieaufregendsten Gerüchte verbreitet, als wolle RußlandKonstantinopel mit seinen Truppen besetzen, um die neueThronfolgeordnung mit Gewalt durchzuführen und dieUnzufriedenen zu züchtigen, und der russische Botschafter tratdenselben mit keiner Ableugnung entgegen. Am 11. Mai kam es zustürmischen Auftritten vor dem Palast des Sultans; die Softas(theolog. Studenten) hatten sich bewaffnet und verlangtenEntlassung Mahmuds, Entfernung Ignatiews und Krieg gegenMontenegro. Keine Hand rührte sich für Abd ul Asis.Umsonst suchte derselbe durch Berufung eines populären Mannesauf den Posten Mahmuds sich aus der Verlegenheit zu ziehen, er warselbst unmöglich geworden. Am 29. Mai vereinigte sich der neueGroßwesir, Mehemed Ruschdi, mit dem Kriegsminister HusseinAvni und Midhat Pascha, den Sultan abzusetzen und den ältestenSohn Abd ul Medschids, Murad V., auf den Thron zu erheben. In derNacht zum 30. Mai ward die Palastrevolution ohneBlutvergießen durchgeführt. Der abgesetzte Sultan wurdedarauf 4. Juni in dem Palast Tscheragan, wohin man ihn gebrachthatte, auf Befehl der Minister ermordet; man gab vor, er habe sichdurch Aufschneiden der Pulsadern selbst getötet. Am 15. Junidrang von neuem die Kunde einer grauenhaften Blutthat ins Publikum:drei Minister, darunter der energische Hussein Avni, wurden im HausMidhats von einem tscherkessischen Offizier ermordet!

Während dies in Konstantinopel geschah, brach anverschiedenen Stellen Bulgariens der von Rußland vorbereiteteAufstand aus. Es war ein Ausrottungskrieg der Bulgaren gegen ihrein der Minderzahl befindlichen mohammedanischen Mitbürger,aber die Urheber hatten sich in betreff der Ohnmacht der Pforteverrechnet. Von den gegen ihn aufgebotenen Irregulären, denensich später Linientruppen beigesellten, wurde der Aufstandunter noch barbarischern Greueln und entsetzlichemBlutvergießen zu Boden geworfen. Inzwischen hatte auchSerbien seine Rüstungen vollendet und überschritt nunmehrdie Grenze, um, wie es in dem Manifest vom 2. Juli 1876 hieß,den aufständischen Nachbarprovinzen den Frieden wiederzugeben.Rußland sandte nach Serbien die Erfordernisse für denKrieg an Geld, Waffen, Munition und vor allem an Mannschaften. Dochfochten die Serben unglücklich und sahen sich 29. Aug.genötigt, die Mächte um Vermittelung einesWaffenstillstandes anzugehen, den sie verräterisch brachen,sobald sie durch russische Hilfe ihre Kampffähigkeitwiederhergestellt zu haben glaubten. Neue Siege bei Alexinatz (EndeOktober) eröffneten nunmehr den Türken den Weg in dasHerz Serbiens; aber ihren Erfolgen gebot ein Telegramm des KaisersAlexander II. aus Livadia vom 30. Okt. 1876 Halt, welches unterAndrohung sofortigen diplomatischen Bruches ihnen binnen 24 StundenEinstellung ihrer Operationen auferlegte. Inzwischen war inKonstantinopel Murad V. wahnsinnig geworden; 31. Aug. folgte ihmsein Bruder Abd ul Hamid II. In der nichtigen Hoffnung,Rußland durch Nachgiebigkeit zu entwaffnen, unterzeichnetedieser 31. Okt. die Waffenstillstandsakte, berief seine Truppen ausSerbien zurück und gewährte dem treulosen Vasallenstaat1. März 1877 den denkbar günstigsten Frieden unterHerstellung des Status quo ante.

Gleich nach dem Abschluß des serbisch-türkischenWaffenstillstandes schlug England eine Konferenz vor, welche unterWahrung der Integrität des Osmanenreichs eine administrativeAutonomie für die slawischen Balkanprovinzen feststellensollte. Beim Zusammentritt derselben, welche in Konstantinopeltagte, ließ Midhat Pascha, seit 19. Dez. 1876Großwesir, den Sultan seinem Reich eine Verfassungoktroyieren, welche, 23. Dez. 1876 publiziert, die völligeRechtsgleichheit aller Pfortenunterthanen proklamierte und alsTrumpf von der türkischen Regierung gegen die Ansprücheder Mächte zu gunsten der Slawen nicht ohne Geschickausgespielt wurde. Die Konferenz endigte ohne Resultat. Nachdem sieselbst ihre Beschlüsse herabgemildert, wurden diese von Midhatdem Großen Diwan, einer Versammlung von gegen 300 angesehenenPersonen, darunter 60 Christen, zur Prüfung vorgelegt undeinstimmig zurückgewiesen. Doch wurde der thatkräftigeMidhat schon im Februar 1877 infolge einer Palastrevolutionabgesetzt und verbannt; an seine Stelle als Großwesir tratEdhem Pascha. Daher hatte auch die erste und einzige Session dertürkischen Kammer im Februar 1877 kein Ergebnis. Um so mehrfühlte sich Rußland zu energischem Vorgehen ermutigt,und nachdem es seine Rüstungen vollendet, erklärte es 24.April 1877 an die Türkei den Krieg (vgl. Russisches Reich,Geschichte, S. 94). Derselbe entbrannte zuerst in Asien, woselbstim obern Kurthal 17. Mai die kleine Festung Ardahan

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Türkisches Reich (Geschichte: neueste Zeit).

von den Russen erobert wurde. Im Juni gingen die Russenüber die Donau, ohne daß der türkischeOberbefehlshaber Abd ul Kerim es hinderte, eroberten 6. JuliTirnowa, überstiegen 12. Juli mittels des Twyodischkapassesden Balkan,wiegelten die Bulgaren Nordthrakiens auf,erstürmten 19. Juli den für schweres Geschützpassierbaren Schipkapaß, besetzten Jamboli, Karlowo und andreStädte im Süden des Balkans, eroberten Nikopoli an derDonau und belagerten Rustschuk. Diesem glänzenden Anfang desFeldzugs entsprach aber der Fortgang nicht. Bei dem Versuch, diebefestigten Höhen von Plewna zu nehmen, erlitten die Russen20., 21. und 31. Juli Niederlagen, die eine rückgängigeBewegung zur Folge hatten. In Thrakien von Suleiman Paschaangegriffen, mußten sie sich in den Schipkapaßzurückziehen, den sie mannhaft verteidigten; in derDonaugegend wurden sie über den Schwarzen Lom geworfen. Siesahen sich genötigt, die früher nicht rechtgewürdigte Bundesgenossenschaft mit den Rumänenanzunehmen, erlitten aber bei erneuten Angriffen gegen Plewna vom7. bis 12. Sept. abermals Niederlagen, so daß bedeutendeTruppennachschübe nötig wurden. Auch in Asien strittensie bei Zewia unglücklich gegen die Türken und wurden aufihr eignes Gebiet zurückgeworfen, bis es ihnen 15. Okt.gelang, auf dem Aladjaberg einen glänzenden Siegdavonzutragen. Die Türken hatten militärisch mehrgeleistet, als man, namentlich nach dem Beginn des Kriegs, vonihnen erwartet hatte. Da sie indes gar keine Unterstützungfanden, mußten sie endlich doch der Übermachtunterliegen. Auf dem asiatischen Kriegsschauplatz ging 18. Nov.Kars verloren, und die Türken wurden nach Erzerumzurückgetrieben; in Bulgarien aber besiegelte der Fall deslange heldenmütig verteidigten Plewna (10. Dez.) den Verlusteines großen Teils der westlichen Bulgarei, in welche zugleicher Zeit die Serben eindrangen, während die Montenegrinerin Albanien siegreich vorrückten. Anfang 1878überschritten die Russen den Balkan an mehreren Stellenzugleich. Die Armee Suleimans wurde bei Philippopel völligzersprengt, die Schipkaarmee gefangen genommen und 31. Jan. 1878 inAdrianopel, das die Türken freiwillig geräumt, von denRussen, welche bereits bis zum Marmarameer und bis an die ThoreKonstantinopels vorgedrungen waren, der Waffenstillstand diktiert.Diesem folgte 3. März, da die Türken nirgends Hilfefanden, der Friede von San Stefano. In diesem wurden dieUnabhängigkeit Rumäniens und Serbiens, des letztern undMontenegros Vergrößerung, die Abtretung der Dobrudschaund eines Teils von Armenien, die Bildung eines autonomenFürstentums Bulgarien, welches außer dem eigentlichenBulgarien einen großen Teil Rumeliens und Makedoniensumfaßte, stipuliert und die Zahlung einer beträchtlichenKriegsentschädigung der Türkei auferlegt.

Die Ausführung des Friedens verzögerte sich indesinfolge des Konflikts zwischen Rußland und England, das eineFlotte in das Marmarameer einlaufen ließ. Während dieenergische Haltung der englischen Regierung den Ausbruch einesKriegs mit Rußland erwarten ließ, wenn dieses sichnicht nachgiebig zeigte, und die Mächte sich eifrigbemühten, durch einen Kongreß eine friedlicheLösung der orientalischen Wirren herbeizuführen, fehltees in Konstantinopel an jeder klaren, entschiedenen Haltung. DieMinister kamen und gingen je nach den Launen des Sultans und seinerGünstlinge. Die Kammern waren schon im Februar nach Hausgeschickt und damit die Komödie einer "osmanischen Verfassung"geschlossen worden. Der unerfahrene Abd ul Hamid litt an fastkrankhafter Furcht vor Verschwörungen zu gunsten seinesBruders Murad; eine solche wurde in der That im Mai 1878 versucht,aber blutig unterdrückt. Am 1. Juni ward Mehemed RüschdiPascha wieder zum Großwesir ernannt. Unter ihm warf sich diePforte endlich England in die Arme, indem sie 4. Juni einengeheimen Vertrag mit diesem schloß, wonach England den Schutzder asiatischen Besitzungen der Türkei übernahm, solangeRußland nicht seine Eroberungen in Armenien herausgegebenhaben würde, und dafür das Recht erhielt, Cypern zubesetzen. Mehemed ward bereits 8. Juni durch Savfet Pascha ersetzt.Dieser leitete die türkische Politik während des BerlinerKongresses (13. Juni bis 13. Juli 1878). Allerdings wurden inBerlin mehrere Bestimmungen des Friedens von San Stefano zu gunstender Türkei verändert: Aladschkert und Bajesid in Armenienfielen an sie zuruck; das autonome Fürstentum Bulgarien wurdeauf das Gebiet nördlich vom Balkan nebst Sofiabeschränkt, der südliche Teil, aber ohne Makedonien undden Küstenstrich, als eine Provinz Ostrumelien (s. d.) untertürkischer Oberhoheit belassen. Dagegen wurde Österreich29. Juni mit der Okkupation Bosniens und der Herzegowina beauftragtund der Protest der türkischen Bevollmächtigten dagegenzurückgewiesen. Ferner wurde Griechenland das Recht zuerkannt,auf eine Rektifikation seiner nördlichen Grenze (Abtretung dessüdlichen Thessalien und Epirus mit Larissa und Janina)Anspruch zu erheben. Die Pforte unterzeichnete und ratifiziertezwar den Berliner Vertrag vom 13. Juli 1878, beeilte sich abernicht mit seiner Ausführung. Der definitive Friede mitRußland wurde 8. Febr. 1879 unterzeichnet und die anRußland zu zahlende Kriegsentschädigung auf 802 Mill.Frank festgesetzt. Gegen die Okkupation Bosniens und derHerzegowina durch österreichische Truppen im August 1878leistete die Türkei keinen Widerstand und schloß 21.April 1879 mit Österreich eine Konvention, durch welche siedie Souveränität des Sultans in jenen Proinzen formellwahrte.

Neueste Zeit.

Die Macht des türkischen Reichs war durch den BerlinerFrieden erheblich geschwächt worden, namentlich in Europa, unddie große Finanznot mußte ebenfalls dazu beitragen, dieAutorität der Pforte im Land selbst und bei denauswärtigen Mächten herabzusetzen. Es blieben daherweitere Zumutungen an sie nicht aus. Die Griechen verlangtendringend die Verwirklichung der Grenzrektifikation durch Abtretungvon Epirus und Thessalien und erlangten auf der Berliner Konferenz1880 eine Grenze zugebilligt, welche ihre Ansprüche beinahevöllig befriedigte, so daß die Pforte 3. Juli 1881 fastganz Thessalien u. den epirotischen Bezirk Arta an Griechenlandabtreten mußte. In Albanien sah sie sich 1880 genötigt,ihre eignen Unterthanen in Dulcigno mit Gewaltkur Unterwerfungunter ihre Abtretung an Montenegro zu zwingen. Ihr Versuch, 1879bei der Absetzung des Chedive von Ägypten ihre Hoheitsrechteüber dies Land zu vermehren, wurde durch den Einspruch derMächte vereitelt; ihre Unthätigkeit während der vonArabi Pascha 1882 verursachten Unruhen ermöglichte England daseigenmächtige Einschreiten in Ägypten und diemilitärische Besetzung des Landes. Das 1871 enger an dastürkische Reich gekettete Tunis ging 1881 an Frankreichverloren. Dennoch hatte die Pforte bei diesen Vorgängen einesolche Geschicklichkeit und Sicherheit in den diplomatischenVerhandlungen gezeigt, daß sich ihre Stellung denGroßmächten ge-

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Türkischrot - Turkistan.

genüber zu ihrem Vorteil veränderte. Während sieden Anmaßungen Englands mit Ruhe und Festigkeit entgegentrat,gewann sie an Deutschland und Österreich seit Auflösungdes Dreikaiserbündnisses eine immer wirksamere Stütze,wodurch es ihr möglich wurde, ihren Besitzstand in Europa zubehaupten und ihren Einfluß in Afrika und Asien zu vermehren.Im Innern scheiterte allerdings ein Reformversuch, den der zumGroßwesir ernannte, ehemals tunesische Minister KhereddinPascha 1879 machte, an dem Widerstand der alttürkischen Parteiund einiger allmächtiger Günstlinge des Sultans, wieOsman und Mahmud Damat. Indes befreite sich der Sultan Abd ulHamid, je mehr er in Staatsgeschäften ein selbständigesUrteil erlangte und handelnd eingriff, allmählich von diesemverderblichen Einfluß. Um die Finanzreformdurchzuführen, berief er deutsche Beamte, welche auch 1881eine durch Irade vom 20. Dez. bestätigte Einigung mit denGläubigern zu stande brachten, durch die der Betrag derStaatsschuld von 250 aus 106 Mill. Pfd. Sterl. herabgesetzt undfür diese ein zunächst auf mindestens 1 Proz. reduzierterZinsfuß, zugleich aber auch eine Amortisation von 1/3 Proz.und deren Zahlung durch Garantie mehrerer Einkünfte gesichertwurde. Zur Vermehrung der Einnahmen wurde die Tabaksregieeingeführt. Deutsche Offiziere begannen auf Grund eines 1880vom Sultan genehmigten Plans eine Reorganisation des Heerwesens undarbeiteten ein Militärgesetz für das ganze Reich aus, das1887 in Kraft trat. Nach außen hin beobachtete dieTürkei eine große Zurückhaltung, da sie vor neuenkriegerischen Verwickelungen zurückscheute. Dies zeigte sichbesonders 1885, als im September der Generalgouverneur vonOstrumelien, Chrestowitsch, in Philippopel gestürzt wurde undFürst Alexander von Bulgarien diese türkische Provinz mitseinem Fürstentum vereinigte. Obwohl die Türkei eineansehnliche Truppenmacht an der Grenze aufstellte, konnte sie sichdoch nicht zu bewaffnetem Einschreiten, um ihre Rechte zu wahren,entschließen und gab im Frühjahr 1886 auf der Konferenzzu Konstantinopel ihre Zustimmung dazu, daß der Fürstvon Bulgarien zum Generalgouverneur von Ostrumelien ernannt wurde.Ebenso verhielt sie sich unthätig, als im August 1886Fürst Alexander durch russische Ränke gestürztwurde, und ließ alle weitern Ereignisse in Bulgariengeschehen, ohne sich anders als diplomatisch einzumischen, obwohlRußland die Pforte zum thätlichen Einschreitendrängte, um die ihm verhaßte Regentschaft, dann denFürsten Ferdinand zu beseitigen. Sie gab damittatsächlich die Herrschaft über Ostrumelien auf. DieEreignisse in Bulgarien, welche wie Serbien so auch Griechenland zueiner kriegs- und eroberungslustigen Haltung veranlaßten,nötigten aber die Türkei zur Aufstellung einergroßen Heeresmacht, welche so große Kosten verursachte,daß sie wieder Anleihen bei der Ottomanischen Bank machen unddafür mehrere einträgliche Zölle verpfändenmußte. 1889 kam durch Schiedsspruch endlich eine Einigung mitdem Baron Hirsch, der die türkischen Eisenbahnen gebaut hatteu. ausbeutete, zu stande, welche der Türkei die Verfügungüber die Bahnen teilweise zurückgab.

Vgl. Hammer-Purgstall, Geschichte des osmanischen Reichs (2.Aufl., Pest 1834-36, 4 Bde.); Zinkeisen, Geschichte des osmanischenReichs in Europa (Hamb. u. Gotha 1840-63, 7 Bde.); Rosen,Geschichte der Türkei, 1826-56 (Leipz. 1866-67, 2 Bde.);Schmeidler, Geschichte des osmanischen Reichs im letzten Jahrzehnt(das. 1875); Blochwitz, Die Türken, kurzer Abriß ihrerGeschichte (Berl. 1877); de la Jonquière, Histoire del'empire ottoman (Par. 1881); Hertzberg, Geschichte der Byzantinerund des osmanischen Reichs (Berl. 1884); v. Schlechta-Wssehrd, DieRevolution 1807-1808 (Wien 1882); Engelhardt, La Turquie et leTanzimat ou l'histoire des réformes dans l'empire ottomandepuis 1826 (Par. 1882-83, 2 Bde.).

Türkischrot, s. Färberei, S. 42.

Türkisgrün, s. Kobaltgrün.

Turkistan (Turkestan, "Land der Türken"), Name derLänder in der großen Längssenkung des Tarimbeckensin der östlichen, der Flußsysteme des Amu Darja und SirDarja in der westlichen Hälfte Innerasiens, zwischen welchendie Gebirgsketten, welche die Pamirhochthäler einfassen, dieWasserscheide bilden (s. Karte "Zentralasien"). Geographischgehört die Osthälfte zu dem großen Gebiet der seitlangen geologischen Zeitperioden abflußlosen WasserbeckenZentralasiens (s. d.); die Westhälfte dagegen endigt in dererst seit jüngerer Zeit vom Meer verlassenen aralokaspischenNiederung. Politisch bildet die westliche Hälfte das russischeGeneralgouvernement T., die östliche Hälfte einen Teildes chinesischen Kaiserreichs. Im folgenden sind beide Teileselbständig behandelt.

I. Das russische Generalgouvernement Turkistan

grenzt im N. an die Kirgisensteppe (Akmollinsk, Turgai etc.), imO. an das chinesische Ostturkistan, im S. an Bochara, im W. anChiwa und hat einen Flächeninhalt von 1,604,892 qkm (29,148QM.) mit (1885) 3,426,324 Einw. Administrativ zerfällt es indie folgenden Verwaltungsbezirke:

QKilom. QMeilen Einwohner

Transkaspische Provinz 550629 10000 301476

Semiretschinsk 381609 6930 666339

Ferghana 95227 1729 716133

Serasschan 54633 992 394446

Sir Darja 449822 8169 1214300

Amu Darja 102972 1870 133630

An der Spitze der Militär- und Zivilverwaltung steht einGeneralgouverneur, der seinen Sitz in Taschkent hat, und welchemGouverneure und Kreis-, resp. Distriktschefs untergeordnet sind.Die untersten Vollzugsorgane sind Eingeborne. AllgemeineWehrpflicht besteht hier nicht; von russischen Truppen stehen hier1 Schützenbrigade, 19 Linienbataillone, 1 Artilleriebrigade (7Batterien), 1 Gebirgsbatterie, 1 Sappeurhalbbataillon, 3 Orenburgerund 2 Ural-Kosakenregimenter, 3 Festungsartilleriekompanien, 11Lokallommandos. Das Territorium wird in seinem gebirgigen Ostteilvon den westlichen Ketten des Thianschan (s. d.), welcher selbstals Narat, Mustag, Sary-dshaß, Kok-schaal, Alai undHissarrücken die südöstliche Grenze bildet,ausgefüllt. Im Pik Chan-Tengri erreicht er eine Höhe von6558 m. Hier entspringen der Naryn, einer der Quellflüsse desSir Darja (s. d.), und der Tekeß, Quellfluß des Ili.Das rechte Ufer des letztern bilden der Borochorskische undDsungarische Alatau. Rechts des Flußgebiets des Naryn und SirDarja zieht sich der Alatau hin, welcher sich beim Chan-Tengri vomThianschan abzweigt. Anfangs heißt er Terskei-tau, weiternach W. Sussamir-tau und endlich Urtak-tau. Durch die FlüsseTschirtschik, Aryß, Talaß, Tschu, den See Issi-kul, dieFlüsse Tschirik und Tscharyn und die rechten Zuflüsse desNaryn wird der Alatau in verschiedene Gebirgszüge geteilt,welche bald russische, bald kirgisische Namen haben. Diesergebirgige Teil des Territoriums ist teilweise bewaldet und vonvielen Flüssen

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Turkistan (Russisch -T.: Geographisches).

(die hauptsächlichsten sind erwähnt) durchströmt.Die Ebenen dagegen zeichnen sich im allgemeinen durch das Fehlengeglichen Baumwuchses und durch Wassermangel aus. Je nach der Mengeder Feuchtigkeit und der Bodenbeschaffenheit zerfallen sie insolche mit salzhaltigem Thonboden, am Fuß der Gebirge gelegen(sie werden durch künstliche Bewässerung zuaußerordentlich fruchtbaren Gegenden), und in dieunbegrenzten wasserlosen Sandwüsten, wie im W. die Kisilkum,im N. die Karakum, Dschitikonur und Mojunkum und endlich die amBalchasch gelegenen Wüsten. Die Wasserlosigkeit ist jedoch nureine bedingte: in der Tiefe findet sich Wasser, so daß aucheine gewisse Vegetation vorhanden ist; ferner sind längs derKarawanenstraßen Brunnen angelegt. Die Sandsteppen scheidensich in veränderliche und feste. Erstere liegen zumeist an denRändern der Sandstrecken; sie sind vollständigvegetationslos. Letztere werden dadurch charakterisiert, daßsie mit einer dünnen Erdschicht von dunkelgrauer Farbe bedecktsind und infolge der in der Tiefe vorhandenen Feuchtigkeit einegewisse Vegetation haben; in den tiefer gelegenen Gegenden wachsensogar Bäume und Futterkräuter. Am meisten kommen Saxaul,Wacholder und Disteln vor. Die wenigen Flüsse, welche dieSandstrecken durchfließen, sind seicht und großtenteilsmit Schilf bewachsen, das an den Mündungen unpassierbareMoräste bildet. Weite Sumpfflächen liegen am Balchasch,am Alakulsee, am Tschu, an der Mündung des Sir Darja und andem untern Amu Darja. Schließlich sind noch die Seen (wieBalchasch, Issi-kul, Karakul u. a.) und die Salzmoräste zuerwähnen. Letztere sind meist ausgetrocknete Seen und findensich häufig in den Sandsteppen. Das Klima wird durch diekontinentale Lage und außergewöhnliche Trockenheitbedingt. Zwischen Tag und Nacht und in den verschiedenenJahreszeiten treten sehr große Temperaturunterschiede hervor.Abgesehen von der Gebirgsgegend ist Regen nur eine seltene undaußergewöhnliche Erscheinung im Sommer. Dagegen regnetes in den Gebirgen bei einer Hohe von 1200-1500 In im Mai und Junifast taglich zwischen 4 und 7 Uhr nachmittags, selten morgens undnachts; in der Höhe von 2400 m regnet und schneit esabwechselnd in den Sommermonaten; in einer Höhe von 2700 mfällt nur noch Schnee. Wälder, vorzugsweiseTannenwälder, trifft man nur in den SemiretschinskischenGebirgen, hier aber auch nur an den nördlichen undnordwestlichen Abhängen, sofern die Berge mit Schnee bedecktsind. In klimatischer Beziehung kann man das gesamte Gebiet in vierTeile teilen: 1) Der Norden etwa bis zum 45.° nördl. Br.;Jahresmittel im W. +6,2° C., im O. +7,5. Winter von 2-3 MonatenDauer. Der Sir ist 123 Tage zugefroren. 2) Die südlich daransich schließende Gegend der Forts Tschulek, Perowski, derStädte T., Aulinata und Wiernyi, mit der Jahrestemperatur von+7° (Sommer +30, Winter -24°). Der Sir ist nur 97 Tagezugefroren; Aprikosen werden reif. 3) Die Gegend um Tschemkent,Taschkent, Kuldscha, Samarkand, Petro-Alexandrowsk; Jahresmittel inKuldscha +9,2° C., in Taschkent +14,3°; Pfirsich-,Mandelbäume, Weinstock gedeihen. 4) Das Thal von Chodshent,die Gegend der Stadt Chokand und südlich vom 42.°nördl. Br.; mittlere Temperatur im Januar +2,4° C., imJuli +28,8° C.; Pistazien gedeihen noch in 1000 m Höhe,wilde Mandelbäume bis zu 1200 m, Aprikosen bis zu 1500 m,wilde Apfelbäume bis zu 1900 m Höhe. Hinsichtlich derKultur sind 2,06 Proz. des Areals kultiviertes Land, 43,30Weideland, 54,61 Proz. Unland. Ferghana und Serafschan nehmen dieerste Stelle ein. Ackerbau ist nur bei künstlicherBewässerung möglich. Dieselbe wird durch Aksakali(Beamte) geleitet. Die erste Arbeit im Frühjahr ist dieReinigung der Kanäle; dann wird das Land gepflügt,gedüngt, bewässert und geeggt. Eine mittlere Ernte gibt20, im Samarkander Distrikt von Weizen 25 Korn. Nach der Ernte vonWinterweizen und Gerste säet man noch in demselben Jahr Hirse,Sesam, Linsen, Mohrrüben, seltener Mohn. Auf demgrößten Teil des zur Sommerernte bestimmten Bodens wirdReis und Dschugara gebaut; dann folgt Baumwolle; Luzerne ist daswichtigste Futterkraut; Krapp, Lein, Tabak werden nur noch inunbedeutender Menge kultiviert, haben aber eine gute Zukunft,ebenso wie der Weinbau; von Gartenfrüchten sind besondershervorzuheben: Melonen, Arbusen, Gurken, Kürbisse; unsreGemüse geben einen reichen Ertrag. Die Baumwolle, allerdingsvon keiner guten Qualltät, hat für T. doch einegroße Bedeutung: 1867 wurde bereits für über 5Mill. Rubel nach Rußland ausgeführt. Der Seidenbauspielt ebenso eine wichtige Rolle: die Produktion ergibtjährlich 1,816,000 Kokons. Die Wollproduktion bildetausschließliche Beschäftigung der Nomaden: Schafe,Ziegen, Kamele werden geschoren. Auch die Viehzucht fälltjenen ausschließlich zu und hat einen ganz bedeutendenUmfang: man berechnet die Zahl der Kamele auf 390,361, der Pferdeauf 1,602,116, des Rindviehs auf 1,180,000, der Schafe auf11,351,278. Die Flüsse und Seen sind überaus reich anFischen; der Fischfang wird aber noch wenig, fast nur von denNomaden, betrieben. An wilden Tieren gibt es Tiger, Panther, wildeSchweine, Bären, Wölfe, Füchse, wilde Esel, wildeZiegen, wilde Katzen etc. An Salz ist großer Reichtumvorhanden; die Nutzbarmachung ist aber unbedeutend. In Ferghanagibt es Naphthaquellen, deren Ausbeute sehr nutzbringend werdenkann. Auch Goldsand, Silber-, Kupfer-, Blei- und Eisenerze,Steinkohle, Schwefel, Salpeter, Türkise sind dort zu finden.Die Ausbeute ist noch eine ganz unbedeutende. Vorläufig istder Besitz Turkistans für Rußland noch keineHilfsquelle; letzteres muß sogar für dies neuerworbeneLand noch erhebliche Opfer bringen.

Die Bevölkerung gehört zwei Rassen an: derkaukasischen und der mongolischen. Die erstere umfaßt Russen,Tadschik (s. d.), Perser und Afghanen, ferner Juden und Araber; dieletztere zerfällt in die altaischen (turkotatarischen)Völkerschaften, welche hier als Kirgisen, Karakirgisen,Uzbeken, Karakalpaken, Kiptschak, Turkmenen, Tataren (s. dieseArtikel) auftreten, und in die eigentlich mongolischen:Kalmücken, Chinesen, Sibo, Solonen u. a. Die Sarten (s. d.),Tarantschen (s. d.) und Kuraminzen, ein Gemisch verschiedenerVölkerschaften, können füglich zu den Turkotatarengerechnet werden, ebenso wohl die Dunganen (s. d.), welche einenÜbergang von den türkischen zu den mongolischenVölkerschaften bilden. Annähernd wird das ganze Gebietbewohnt von 59,283 Russen, 7300 Tataren, 690,305 Sarten, 137,283Tadschik, 182,120 Uzbeken, 58,770 Karakalpaken, 70,107 Kiptschak,5860 Turkmenen, 20,000 Dunganen, 36,265 Tarantschen, 1,462,693Kirgisen, 77,301 Kuraminzen, 24,787 Kalmücken, 22,117Mangow-Mandschuren, 2926 Persern, 857 Indern. Die Russen,ungefähr 1 Proz. der Gesamtbevölkerung, konzentrierensich hauptsächlich in dem Semiretschinskischen Bezirk alsKosaken, Bauern und Einwohner der Städte; in dem SirDarja-Gebiet wohnen sie groß-

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Turkistan (Russisch-T.: Geschichte).

tenteils in Taschkent und in Kasalinsk und in sehrbeschränkter Anzahl in den übrigen Flecken etc.: nur 4000(ca. 1 Proz. der Bevölkerung) bewohnen den Bezirk Serafschan,1184 (1 Proz.) den Amu Darja-Distrikt als Kolonisten derUralkosaken, 1229 den Ferghanabezirk. Tataren sind das Handeltreibende Element in den Städten. Sarten, angesiedelteNomaden, beschäftigen sich mit Ackerbau und Handel und bildenden Kern der eingebornen Stadt- und Landbevölkerung in densüdlichen Kreisen des Sir Darja-Bezirks und in ganz Ferghanasowie im Serafschanbezirk; in Semiretschinsk kommen sie nurvereinzelt vor. Kirgisen treiben als Nomaden Viehzucht, nur diearmen Stämme (die Igintschamen) sind angesessen und treibenAckerbau; sehr ungleichmäßig verteilt, bilden sie inSemiretschinsk 78 Proz., im Slr Darja-Distrikt 62, im AmuDarja-Distrikt 29, in Ferghana 17 und in Serafschan nur 0,2 Proz.der Bevölkerung. Kuraminzen bewohnen als Ackerbauer denKuraminzkischen Kreis der Provinz Sir Darja. Kiptschak wohnen alsHandel und Ackerbau treibend ausschließlich imnördlichen Teil von Ferghana. Nomadisierende Uzbeken treten ingrößerer Masse im Kreis Serafschan, dann am rechten Uferdes Amu Darja und in geringer Anzahl in der Provinz Sir Darja auf.Karakalpaken haben sich als Ackerbauer und Viehzuchttreibendehauptsächlich im Amu Darja-Distrikt angesiedelt. Turkmenenleben ausschließlich als halbangesessene Nomaden in derProvinz Amu Darja. Die Tarantschen nehmen das Ilithal ein undsiedeln jetzt zum großen Teil aus dem an China abgetretenenKuldschadistrikt auf russisches Gebiet über, Dunganenhauptsächlich in dem an China abgetretenen Kuldschadistrikt,dann aber auch in der Provinz Ferghana und im Kreis Serafschan; diegrößte Ansiedelung, 4000 Seelen, befindet sich im ThalKarakunuß im Kreis Tokmak. Kalmücken nomadisieren in denKreisen Wlärnyl und Issi-kul der Provinz Semiretschinsk.Tadschik gibt es im Kreis Chodshent, im Kreis Serafschan, im KreisKurama in dem Gebirge und in Ferghana. Perser, früher Sklaven,kommen im Kreis Serafschan und im Kreis Amu Darja vor. Inder sindin den Handelszentren verteilt; es sind nur Männer. Zigeunerund Juden wohnen hauptsächlich im Kreis Serafschan. Araberführen ein halbangesessenes Leben in der Umgegend vonSamarkand und Kattykurgan. Nach den Glaubensbekenntnissen teiltsich die Einwohnerschaft des Generalgouvernements T. in 2,900,000Mohammedaner (hauptsächlich Sunniten), 57,000Griechisch-Orthodoxe, 2000 Katholiken, 1000 Protestanten, 50,000Heiden, 3000 Juden. 1877 betrug die angesessene Bevölkerung1,620,535, die nomadisierende 1,417,584. Vgl. Kostanco, Turkestan;Materialien für die Geographie und Statistik Rußlands(russ., Petersb. 1880).

[Geschichte.] Die ersten Beziehungen Rußlands zuMittelasien, speziell zu Chiwa (s. d.), datieren aus derRegierungszeit Peters d. Gr. Einen positiven Erfolg hattendieselben nur insofern, als die zwischen der Wolga und dem Uralwohnenden Kirgiskasaken russische Unterthanen wurden. 1725 lief dierussische Grenze in Asien längs der Flüsse Ural und Mijasmit Kurgas und Omsk, längs des Irtisch und der Vorberge desAltai zwischen Biisk und dem Telezkischen See hindurch, an denQuellen des Abankan vorbei nach der jetzigen Grenzlinie mit Chinahin. In Mittelasien hatte Rußland somit damals noch keineBesitzungen. 1732 erlangte Rußland südlich dieser Grenzedie Herrschaft über die Kleine und Mittlere Horde derKirgisen. Um diese nur nominellen zu wirklichen Unterthanen zumachen, legte man 1820 befestigte Punkte an zum Schutz der neuenGrenze und zur Aufrechterhaltung der Ordnung in dem neuerworbenenGebiet. So entstand eine Linie in der Mittlern und die ilezkischeLinie in der Kleinen Horde der Kirgisen. Dieunbotmäßigen Kirgisen fanden Unterstützung an demChan von Chiwa. Infolgedessen fand die unglückliche Expeditiondes Generals Perowski 1839 nach Chiwa (s. d.) statt. Vorher jedochhatte man den Posten Nowo-Alexandrowsk an der Kaidakbucht desKaspischen Meers, den Embaposten 400 km südlich von Orenburgund Akbulak etwa 160 km noch weiter südlich nach demUst-Urt-Plateau zu angelegt. Nach dem niedergeworfenenKirgisenaufstand 1846 erhielten Embinsk und Akbulak festeGarnisonen, und in der Steppe entstanden die Posten Uralskoje undOrenburgskoje. 1846 erkannten auch die Kirgisen der GroßenHorde die russische Oberherrschaft an: Kopal südöstlichdes Balchaschsees wurde als Stützpunkt angelegt. Raimskoje ander Mündung des Sir Darja entstand um dieselbe Zeit. 1847 zogdie russische Grenze von Osten nach Westen über denIlifluß zum Alataurücken und längs des Tschu zumSir Darja. Es begannen die Kämpfe mit Chokand (s. d.). Schon1854 war die Linie des Sir Darja durch die Forts Nr. 1 (Raimskojewar aufgegeben), 2 und Perowski, etwa 350 km östlich vomAralsee gelegen, gut befestigt. 1860 unterwarf man von Kopal herdie Karakirgisen und nahm an der Sirlinie die Forts Djulek undJany-Kurgan. 1864 wurden Aulinata, die Städte T. undTschimkent genommen. Anfang 1865 wurde das neuerworbene Land mitder Sir Darja-Linie und den am See Issi-kul gelegenen Erwerbungen,wo man vom Fort Wiernoje aus bis an den Naryn vorgegangen war, zudem Grenzgebiet T. verbunden. Am 10. März 1865 fiel Taschkent.Jetzt trat Bochara (s. d.) in den Kampf mit Rußland ein. Am8. Mai 1866 wurde der Emir auf der Ebene Ir Djar geschlagen, dieStadt Chodshent 24. Mai erstürmt; 2. Okt. fiel Dschisak, am18. Ura-Tjube, beides strategisch wichtige Befestigungen anPässen des Kaschgar-Dawan. Zu Ende dieses Jahrs war letztererdie Südgrenze Rußlands. Im Frühjahr 1867 wurdeJany-Kurgan besetzt. Ein Ukas vom 11. Juli d. J. verfügte dieOrganisation des bis dahin dem Generalgouverneur von Orenburgunterstellt gewesenen mittelasiatischen Gebiets zu einemselbständigen Generalgouvernement T., das in den SirDarinskischen und Semiret-schinskischen Oblaßtj geteiltwurde. Die Friedensverhandlungen mit Bochara hatten keinen Erfolg,und so fielen im März 1868 Samarkand, Kurgan, Katty Kurgan undTschilek und wurden später als Serafschanbezirk einverleibt;am 2. Juli wurde endlich die letzte bocharische Armee auf denHöhen von Schachrissiabs total geschlagen. Waren so Bochara u.Chokand Vasallenstaaten Rußlands geworden, so widerstand nochChiwa. Russischerseits verschaffte man sich zunächstStützpunkte im Osten dieses Chanats. 1869 entstand dasrussische Fort Krassnowodsk an dem Ostufer des Kaspischen Meers. ImFrühjahr 1870 besetzte man das in dem Balchangebirge gelegeneTasch-Arwat mit den beiden Etappen Michael und Mulla-Kari-Posten.Im Herbste desselben Jahrs führte eine Expedition die Russenschon 200 km weiter nach Osten, um die mit Chiwa verbündetenTurkmenen für deren Räubereien zu strafen. WeitereRekognoszierungen in der Richtung auf den See Sary-Kamysch fanden1871 statt; das Fort Tschikischljar an der Mündung des Atrekwurde angelegt.

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Turkistan (Ostturkistan: Geographisches).

Im März 1873 trat Rußland nun in den Krieg gegenChiwa (s. d.) ein. In dem am 12. Aug. 1873 geschlossenen Friedenwurde das Amu-Delta sowie das rechte Amu-Ufer demGeneralgouvernement T. als Amu Darja-Distrikt einverleibt. Hierentstand das Fort Petro-Alerandrowsk, 2½ km vom rechten Uferdes Amu Darja zwischen Chanka und Schurachana gelegen. An dieExpedition gegen Chiwa reiht sich der Feldzug der Russen gegenChokand (s. d.). Dieses Chanat wurde erobert und durch Befehl vom19. Febr. 1876 als das Gebiet Ferghana dem Generalgouvernement T.einverleibt. Das zeitweise von den Russen 1871 in Besitz genommeneund dem Generalgouvernement T. zugewiesene Kuldschagebiet (s. d.)ist bis auf einen kleinen Teil durch den Vertrag vom 2. (14.) Febr1881 an China zurückgegeben. Durch Verfügung vom 25. Mai1882 ist schließlich der Semiretschinskische Oblaßtjvon dem Generalgouvernement T. abgezweigt und mit demAkmollinskischen und Semipalatinskischen Oblaßtj zu einemSteppen Generalgouvernement vereinigt, das mit dem Tobolskischenund Tomskischen Gouvernement den Militärbezirk Omskbildet.

II. Ostturkistan.

Ostturkistan (chines. Thianschan Nanlu, "Weg südlich desThianschan", türk. Altischahar oder Dschitischahar, sonst auchKaschgarien) liegt zwischen 36-43° nördl. Br. und73-92° östl. L. v. Gr. oder zwischen dem RandagebirgeTibets im S., dem Thianschan im N., dem Alai- und Pamirplateau mitdem Kisiljart als Randgebirge im W., während im O. das Reichin die Gobiwüste ausläuft, und hat ein Areal von1,118,713 qkm (20,135 QM.), wovon aber der größte Teilunbewohnbar ist. Am Fuß der Hochgebirge, an der Grenze,über welche Paßübergänge nirgends unter 3400 mführen, liegt der anbaufähigste Boden, eine nach demInnern sich abdachende schiefe Ebene, von zahlreichen Flüssenbewässert, die aber sämtlich nur für Fischerboote(im untern Teil) schiffbar, doch sehr fischreich sind. Den tiefstenTeil des Landes nehmen Steppen und Sandwüsten ein (700-1200 mü. M.) Vom Thianschan fließen ab: Kaidugol, Scharjar undKisilkungai (Aksu); vom Kisiljart: Kaschgar, Jamunjar; vomKarakorum: Jarkand und Karakasch, später Chotanflußgenannt; sie alle vereinigen sich im Tarim, der in den Sümpfenund Süßwasserseen des zuerst 1877 von Prschewalskijbefahrenen Lobsees sein Ende findet. Das Klima kennzeichnengroße Trockenheit, mehr oder weniger dichter, mitWüstenstaub versetzter Duft, der selten ganz verschwindet,heftige Nord- oder Nordwestwinde im Frühjahr und Herbst,Windstille zu andern Zeiten, große Hitze im Sommer, strengeKälte im Winter. Im Sommer machen Trockenheit der Luft undAusstrahlung des erhitzten Bodens Arbeiten im Sonnenscheinunmöglich, man sieht dann weder Feldarbeiter noch Trägeroder Fußreisende; der August hat eine Wärme vondurchschnittlich 26° E. im Schatten. Im Winter fällt dasThermometer bis zu -25° C.; das Frühjahr geht rasch in denSommer, ebenso der Herbst in den Winter über. In der Ebenesäet man Winterfrucht Ende August, Sommerfrucht Anfang Aprilund erntet im Juli. Für Jarkand ist die mittlereJahrestemperatur zu 12,2° C. geschätzt (genauereBerechnungen geben Bkanfords "Indianmeteorological memoirs", Kalk.1877). Die Gold- und Nephritlager Chotans waren schon im Altertumberühmt; ausgezeichnete Steinkohle brennt man in Aksu undTurfan. Von Eisen, Kupfer, Alaun, Blei kennt man ergiebige Lager,die aber noch schlecht ausgebeutet werden; Salz stellt man sehrunvollkommen aus ausgetrockneter Moorerde dar. Das Hochgebirgeliefert saftige Fettweiden, tiefer hinab folgen Dickichte vonWacholder, Weiden, Tamarisken, Rosen etc. mit Pappeln alshochstämmigen Bäumen. In den nicht angebauten Teilen derEbene und den Wüsten ist die Vegetation äußerstspärlich, im Ackerland dagegen herrscht üppiges Wachstum.Hauptfrüchte sind: Weizen, Gerste, Mais und Hirse, dann Reis;Baumwolle, Flachs und Hanf werden als Gespinstpflanzen, Mohn zurOpiumgewinnung fleißig angebaut. Die Gärten sind mitunsern Gemüsen und Obstsorten bepflanzt; es reifen aber auchFeige und Granatapfel, die Weinrebe wird am Spalier gezogen und imWinter gedeckt; Seidenbau findet im S. und SW. statt. Das Tierreichzeigt viel Eigenartiges. In den Umgebungen des Lobsees gibt es nochwilde Kamele, wilde Pferde und Ochsen, im Hochgebirge dasgroße wilde Schaf (Ovis Ammon), stattliche Hirsche, Antilopenund Hasen; dann Tiger, Panther, Luchse, Füchse undWildschweine in den Dickichten an den Flußufern. ZahlreicheSchwäne und Wasservögel hausen an den Ufern des Lobsees.Haustiere sind: Grunzochse (Yak), Kamel, Pferd, Esel, Schaf,Schwein, Hund, Katze, Hühner und Tauben; großeRinderherden sind zahlreich. Das Pferd ist klein, aber sehrausdauernd. Maultiere sind selten, dagegen werden Schafe ingroßer Zahl gehalten, und Wolle und Fleisch sind gleichausgezeichnet (erstere ein Hauptausfuhrartikel). DieGewerbthätigkeit hat geringe Bedeutung; die altberühmteSeidenkultur und -Weberei in Chotan ist verfallen; gesucht imAusland sind Filze und Teppiche, im Innern die landesüblichengroben Baumwollenstoffe. Der Handel ging sonst nach China und ingeringern Beträgen nach Chokand und der Mongolei. Seit 1867machten die Engländer große Anstrengungen, einen Verkehrmit Indien einzurichten, setzten in Leh einen Handelsagenten ein,verbesserten die Zugänge durch Tibet (Ladak) und erwirkten1873 zu Jarkand den Abschluß eines günstigenHandelsvertrags mit verhältnismäßig niedrigenZollsätzen (2½ Proz. Wertsatz) sowie die Zulassungeines Engländers in Kaschgar als Konsularagenten. 1874 bildetesich mit dem Sitz in Lahor eine ZentralasiatischeHandelsgesellschaft auf Aktien, die alle zwei Jahre einegroße Karawane nach Kaschgar abfertigt und sie imnächsten Jahr beladen zurückgehen läßt. DieseGesellschaft hat belebend eingegriffen, und der Umsatz, der 1867kaum 1 Mill. Mk. wertete, war 1874 bereits auf 2½ Mill. Mk.gestiegen. Ebenso große Anstrengungen, Ostturkistan mitseinen Waren zu versehen, macht Rußland. Durch den am 14.Febr. 1881 abgeschlossenen Vertrag mit China hat dasselbe das Rechterworben, neben den bereits bestehenden Konsulaten in Ili,Tarbagatai, Kaschgar und Urga auch solche in Sutschshan und Turfanzu errichten. Den russischen Unterthanen steht das Recht zu, in denBewirken Ili, Tarbagatai, Kaschgar, Noumzi Handel zu treiben, ohneAbgaben zu zahlen.

Die Bevölkerung beträgt annähernd 580,000 Seelen;am dichtesten ist die Provinz Jarkand bevölkert.Städtische und ländliche Bevölkerung zeigen imÄußern und in der Lebensweise merkliche Unterschiede. Inden Städten hat weitgehende Mischung von vielerleiVölkerschaften stattgefunden; "alles, was man sagen kann, ist,daß Tatar- (mongolisches) Blut überwiegt, daßTurkblut in größerer oder geringerer Menge zugesetztist, und daß fremde Tadschik- (persische) Formen mehr oderweniger dick eingesprengt

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Turkistan (Ostturkistan: Geschichte).

sind; was immer die Beschäftigung ist, der großeHaufe zeigt Gesichtszüge, die aus Tatar und Mandschu, ausKalmuk und Kirgis gemischt und keiner dieser Nationen bestimmtzuzurechnen sind". Die Größe ist bei Männern 1,62,bei Frauen 1,51 m, die Hautfarbe hell. Die seßhafteLandbevölkerung ist von Turkabstammung und stellt die altenHiungnu oder Uighur dar, die Hunnen von Attilas anstürmendenScharen; dem Menschenschlag ist aber im W. deutlich arisches Blutbeigemengt, was sich in Statur, Gesichtsbildung und Bartfülleausspricht. Noch heute sitzen reine Arier in den Hochthälern,die sich vom Mustag (Karakorum) herabziehen, ohne Zweifel Reste derindogermanischen Urrasse, welche einst die Abhänge deswestlichen Thianschan bevölkerte. Echte Kirgisen ziehen sichum das ganze Land herum und weiden die Steppen im Hochgebirge ab;die Kalmücken sitzen in der Niederung und an den Sümpfenim Lobdistrikt. Die Sprache ist türkisch mit vielenaltertümlichen Formen (vgl. Shaw, Turki language as spoken inKaschgar and Yarkand, Lahor 1875). Die Nahrung ist nahezu dieselbewie unter Europäern; man ißt alles, was genießbarist, insbesondere Fleisch und Fische in großen Mengen. DasGetränk bildet Thee, gebrannte Getränke sind verboten.Der Anzug besteht aus Hemd, Hose und darüber langem Rock; dieFüße stecken bei beiden Geschlechtern in Schuhen oderStiefeln, den Kopf schützt eine Mütze. Die Frauen tragenHemd, Hose, weiten Kittel, langen Rock und Schulterüberwurf,auf dem Kopf eine niedrige Mütze. Unter den Sitten fälltGleichgültigkeit gegen weibliche Schamhaftigkeit, gegenAbstammung und Glaubensbekenntnis auf. Zwischen dem 14. und 16.Jahr erfolgt die Verlobung; Scheidung der Frau vom Mann isthäufig und wird geradezu als Geschäft betrieben. DieReligion ist der Islam, aber die jahrhundertelangeZugehörigkeit zu China bewirkte Lauheit im Glauben. NachdemJakub Beg (s. unten) sich die Regierung angeeignet hatte, hielt erstreng auf die Erfüllung aller Gebräuche desmohammedanischen Glaubens. Nur diesen duldete er im Land; fürdie Kalmücken fand indes eine Ausnahme statt. Er bot allesauf, um Sittenstrenge wieder einzuführen. Seitdem aber dieChinesen wieder Herren sind, griff auch die frühere lockereMoralität wieder Platz.

[Geschichte.] Die Geschichte Ostturkistans reicht hinauf bis zum2. Jahrh. v. Chr.; damals unterwarfen die Chinesen, die jedenfallsschon seit längerer Zeit Beziehungen zu Ostturkistan hatten,dieses wie das jenseit des Gebirges liegende Chokand, und wenn auchChinas Beziehungen zu Ostturkistan zeitweise unterbrochen wurden,so gebot doch China im ganzen bis zum Einfall der Mongolen; dieReligion war in der ersten Zeit der Buddhismus, dem hier im 5. und7. Jahrh. n. Chr. weitberühmte Klöster errichtet waren;auch alte Christengemeinden (Nestorianer) gab es. Im 8. Jahrh. (713nach arabischen Quellen) zogen Araber über den Terekpaßöstlich bis Turfan, der Buddhismus dauerte aber fort; erstMitte des 10. Jahrh. nahm Satuk (auch Ilikchan), der in Kaschgarregierende (Türken-) Fürst, den Islam an. Dieser Satukvereinigte alle türkischen Stämme unter seinem Zepter,überzog Bochara, selbst Chiwa, mit Krieg und starb 1037; einAngriff, den der Herrscher von Chotan auf das von Satukhinterlassene Reich machte, mißlang, brachte aberZerrüttung und erleichterte den Mongolen den Sieg. 1218überzog Dschengis-Chan mit seinen Scharen Ostturkistan, unddessen Herrscherfamilien, welchen die Regierung in Kaschgar,Jarkand, Chotan etc. belassen wurde oder im Weg der Auflehnungzufiel, blieben von nun an in größerer oder geringererAbhängigkeit von den mongolischen Herrschern aus derDschagataidynastie, lagen auch unter sich in stetem Hader undhatten wiederholt Kämpfe mit den Tibetern zu bestehen. Dieislamitische Geistlichkeit erlangte seit dem 14. Jahrh.großen Einfluß; in Kaschgar bildete sich aus ihrenVorständen (Chodscha, Chwadscha) eine Partei der WeißenBerge und der Schwarzen Berge; erstere wurde Mitte des 17. Jahrh.mit Hilfe des ihr abgeneigten Herrschers von dort vertrieben,wandte sich an den Kalmückenchan der Dsungarei und erwirkte,daß dieser 1678 gegen Kaschgar zog und ihren Führer alsVasallen einsetzte. 1757 besetzten die Chinesen unter ungeheuremBlutvergießen das Land. Die Chodschas fanden Zuflucht imbenachbarten Chokand, und ihre Mitglieder benutzten imEinverständnis mit den Eingebornen und mit Unterstützungdes Chans von Chokand jeden Anlaß, um den Chinesen dieHerrschaft wieder zu entreißen. Madalichan von Chokand zog1820 selbst gegen Kaschgar und eroberte es; wenn auch der von ihmals Regent eingesetzte Chodscha sich gegen die Chinesen nichthalten tonnte, so sahen sich letztere doch veranlaßt, 1831mit Madalichan einen Vertrag abzuschließen. Hauptbedingungwar, die Chodschas zu überwachen. Als indes Chudojarchan 1846den Thron von Chokand bestiegen hatte, erhoben diese von neuem ihrHaupt; ein Bund von sieben Chodschas kam zu stande, hatte aberkeinen Erfolg; ebensowenig die weitern Versuche 1855 und 1856.Neues Blutvergießen brachte 1857 der vorübergehenderfolgreiche Einfall Walichans; demselben fiel 26. Aug. d. J.leider unser Landsmann Adolf v. Schlagintweit (s. d.) zum Opfer,der erste Europäer, der Kaschgar von Indien aus erreichte. Vonnun an aber kam das Land nicht mehr zur Ruhe; eine kleineRevolution folgte der andern. Der Aufstand der Dunganen (s. d.)hatte einen solchen Erfolg, daß die Chinesen 1863 sich nurnoch in der Citadelle von Kaschgar und Jarkand und in der StadtJani-Hissar halten konnten. Schon 1862 hatte Rascheddin-Chodschaden "Hasawat" (heiligen Krieg) gegen die Chinesen erklärt, undzu Anfang 1864 war er bereits als Herrscher von Kaschgarienanerkannt. Da aber Rascheddin kein direkter Nachfolger der inKaschgarien herrschenden Chodschas war, so entstand bald ihmgegenüber eine feindliche Partei. An die Spitze der letzternstellte sich Sadyk Beg. Dieser wandte sich an den damals inTaschkent und Chokand regierenden Alim-Kul mit der Bitte, den inKaschgarien sehr populären Busuruk-Chodscha zu senden, welchemer zur Herrschaft verhelfen wollte. 1864 erschien Busuruk inBegleitung eines Gefolges von 50 Mann, unter welchen sich Jakub Beg(s. d.) als Befehlshaber befand, vor den Thoren Kaschgars und wurdemit Freuden aufgenommen. Sadyk Beg übergab ihm die Herrschaft.Jakub Beg wußte sehr bald Sadyk zu verdrängen und wurdezum Oberkommandierenden ernannt. Die Organisation des Heers warsein erstes Werk; schnell hatte er einige tausend Mann zusammen,welche bei der Belagerung der noch von den Chinesen besetztenCitadelle von Kaschgar im Waffenhandwerk geübt wurden. Baldlehnten sich Rascheddin-Chodscha, welcher im Osten von Aksuregierte, Abd ur Rahmân, der Regent von Jarkand, sowie dieStädte Aksu, Kutscha und Chotan gegen Busuruk auf. Jakub Begbesiegte deren Truppen und gelangte noch 1865 in den Besitz derCitadelle von Kaschgar. Der schwache Busuruk, nicht im stande,Jakub entgegenzutreten, übergab ihm jetzt alle Geschäfte.Ein Aufstand der

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Turkistan - Turkmenen.

Kiptschak, mit welchen Busuruk im Bund war, wurde von Jakubniedergeworfen; er setzte Busuruk ab, erhob an seiner StattKattatjura, vergiftete denselben aber schon nach vier Monaten undsetzte Busuruk von neuem als Chan ein. 1866 u. 1867 hatte Jakubschon die Bezirke von Kaschgar, Jangi-Hissar, Jarkand und Chotanunter seine Herrschaft gebracht. Busuruk wurde nun abgesetzt undJakub als Chan ausgerufen. Er nannte sich anfangs Herrscher von"Alti Schahar" (s. d.), dann von "Dschiti Schahar". Zuerstführte er den Titel "Atalik Ghazi" ("Verteidiger des Glaubens)und schließlich "Badaulet" ("der Glückliche"). Seineinziger Gegner in Kaschgarien blieb Rascheddin in Aksu, gegenwelchen er sich 1867 wandte. Durch List kam derselbe in die GewaltJakubs, wurde getötet und Aksu genommen, ebenso Kurlja. Mitden Dunganen wurde ein Vertrag geschlossen und die Grenze zwischenihnen und Kaschgarien festgesetzt. Bald waren aber diese mit denAbmachungen nicht zufrieden, sie überschritten die Grenze,waren auch anfangs siegreich, wurden aber schließlich dochvon Jakub geschlagen, welcher nun Kunja-Turfan und Urumtschi (1869bis 1870) in seine Gewalt brachte. Ein zweiter wiederniedergeworfener Aufstand der Dunganen ließ noch 1872Manaß in seine Gewalt kommen. 1872-1876 genoßKaschgarien endlich der Ruhe, und Jakub wurde von Türken undEngländern als Emir anerkannt. Den Chinesen gelang esmittlerweile, die Dunganen nach und nach niederzuwerfen und auchManaß und Urumtschi wiederzuerobern. Im Winter 1876-1877hielten die Chinesen Urumtschi, Jakub Beg die kleine FestungDawantschi besetzt. Die Truppen des letztern waren in moralischerBeziehung merklich schlechter geworden: die Desertion nahmüberhand; selbst auf die bis dahin ergebensten Diener konnteJakub nicht mehr rechnen. Die Überläufer wurden von denChinesen sehr freundlich aufgenommen. Am 3. April 1877 rücktendie Chinesen aus Urumtschi gegen Diwantschi aus; nachdreitägiger schwacher Verteidigung ergab es sich, ebensoKunja-Turfan. Mit den Gefangenen verfuhr der chinesischeOberbefehlshaber Lutscha darin sehr geschickt, daß er sie zumTeil wieder freiließ und ihnen versicherte, daß erlediglich Krieg mit Jakub Beg führe. Um die Verbreitung dieserNachrichten zu verhindern, wurde ein großer Teil derzurückgekehrten Gefangenen auf das Geheiß des Badauletermordet. Diese Maßregel erregte in ganz Kaschgarien denbittersten Haß gegen den Chan. Am 28. Mai 1877 war Jakubgegen seinen Sekretär Chamal wegen Nichterfüllunggegebener Befehle so aufgebracht, daß er ihn tötete. Mitseinem Schatzmeister Sabir Achun wollte er ebenso verfahren, wurdeaber plötzlich vom Schlage getroffen. Der Sprache und desBewußtseins beraubt, starb Jakub Beg 29. Mai 2 Uhr morgens(daß er von seinem Sohn getötet oder sich selbstvergiftet, sind Fabeln). Jakub hinterließ drei Söhne,Bik Kuly Beg, Chak Kuly Beg und Chakim Chan Tjurja. Chak Kuly Begwurde, als er mit der Leiche seines Vaters auf dem Weg nachKaschgar war, von dem Abgesandten seines ältesten Bruders,Machmed-siapanssat, ermordet. Kaschgarien stand nunmehr unter dreiHerrschern: in Kaschgar regierte Bik Kuly Beg, in Aksu Chakim ChanTjurja und in Chotan Nias Beg. Anfang Oktober war Bik Kuly Beg nachBesiegung der beiden andern Alleinherrscher. Aber auch erverließ als Flüchtling das Land, das unter Jakub Begeine so große Rolle zu spielen begann, als Anfang Dezemberdie Chinesen gegen Kaschgar zogen. Mit ihrem Einzug hier sind siewieder Herren des Landes geworden: Kaschgarien ist jetztvollständig in den Besitz Chinas übergegangen. Vgl.Gregorjew, Ostturkistan (russ., Petersb. 1873); Wenjukow, Dierussisch-asiatischen Grenzlande (deutsch, Leipz. 1874); Shaw, Reisenach der Hohen Tatarei (deutsch, Jena 1872); Forsyth, Report of amission to Yarkand (Kalk. 1875; deutsch im Auszug, Gotha 1878), undbesonders Kuropatkin, "Kaschgarja, historisch-geographischerAbriß" (russ., Petersb. 1879; engl. Ausg., Lond. 1883).

Turkmenen (Turkomanen, Türkmen, vom EigennamenTürk und dem Suffix men, "schaft", also "Türkenschaft"),der Gesamtname für mehrere zum türkischen Zweig derAltaier gehörige Volksstämme, deren Wohnplätze undErnährungsquellen sich in dem anbaufähigen Land finden,das einem Ringe gleich die in dem Raum zwischen dem Kaspischen Meerund dem Amu Darja gelegene ungeheure Sandwüste Karakumumschließt. Die T. zerfallen in verschiedene Stämme,Zweige, Geschlechter und Familien, die nicht selten sich feindlichgegenüberstehen; ihre Rasseneinheit haben sie aber dennochtreu bewahrt. Ursprünglich waren wohl alle T. Nomaden; dochhaben die Beschränkung ihres Weideterrains sowie ihreEinengung durch die sie umgebenden Staaten, besondersRußland, einen Teil derselben zu Ackerbauern gemacht. Oftnomadisiert der eine Teil der Glieder einer Familie, währendder andre Ackerbau treibt und ansässig ist. Die Nomadenheißen Tschorwa, die Angesessenen Tschomur. Verliert einTschorwa seine Kamele und Schafe, so wird er Tschomur, währendauch umgekehrt ein Tschomur wieder zu einem Tschorwa werden kann.Die einzelnen Stämme sind:

1) Die Jomuden, deren einer Hauptzweig, die Kara Tschuka,zwischen den Flüssen Atrek und Gurgen, der andre,Bairam-Schali (20,000 Kibitken), ganz in Chiwa lebt. Die KaraTschuka zerfallen in die 8000 Kibitken zählenden Dschafarbaimit 2 Untergeschlechtern und 10 Familien und die Atabai (7000Kibitken) mit 7 Untergeschlechtern. Erstere gelten fürrussische, letztere für persische Unterthanen. Von beidenzusammen gehören etwa 6000 Kibitken zu den Tschomur, welcheneben Ackerbau noch Fischerei treiben.

2) Die Ogurdschalen wohnen in der Stärke von 800 Familienan der Küste des Kaspischen Meers und auf der InselTschaleken, wo sie sich mit der Fischerei und der Gewinnung vonNaphtha und Salz beschäftigen, und in 50 Kibitken auf derInsel Ogurtschinskij, wo nur Fischerei getrieben wird.

3) Die Schichzen auf der Landzunge Bekowitsch und zwischen denBuchten von Krassnowodsk und Kara Bugas fischen und gewinnenSalz.

4) T. verschiedener Stämme, besonders Igdyr, leben auf derHalbinsel Mangyschlak vom Kara Bugas bis zum Kap Tjub Kargan, etwa1000 Kibitken stark. Während der Ackerbau der kaspischenTschomur sich hauptsächlich am Atrek und Gurgen konzentriertund hier die Ernten in guten Jahren oft das 20., ja das 30. Korngeben, ist das Dorf Hassan Kuli der Mittelpunkt der Fischerei. Salzwird aus Seen, Salzmooren und Steinsalzlagern gewonnen, jedochnicht in bedeutendem Maß; Persien und auch Transkaukasienbilden das Absatzgebiet. Die Naphthaproduktion gewinnt immerbedeutendern Umfang, seitdem es den Einwohnern gestattet ist, ihreAnteile an den Naphthabrunnen Industriellen in Pacht zu geben.

5) Goklanen, persische Unterthanen, nomadisieren östlichvon den Jomuden zwischen Atrek und Gurgen in der Stärke vonetwa 4000 Kibitken, während etwa 2000 in den Grenzstrichen vonChiwa leben; sie teilen sich in 6 Zweige: die Gaï mit 25,Bajandyr mit 6, Kyryk

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Turkos - Turm.

mit 8, Ai-Derwisch mit 7, Tschakyr Beg Deli mit 10 und dieJangak Sagri mit 7 Familien.

6) Die Tschoudoren leben in etwa 12,000 Kibitken in denGrenzstrichen Chiwas.

7) Dem linken Ufer des Amu Darja weiter aufwärts folgend,leben die Sakar, 3000 Kibitken, 20 km oberhalb der bocharischenStadt Tschardschui, und

8) die 30,000 Kibitken zählenden Erssary mit 4Geschlechtern; sie sind mehr oder weniger von Bochara abhängigund erstrecken sich bis Afghanistan.

9) Die Teke, der mächtigste, tapferste und zahlreichsteStamm, haben die Achal-Oase und Merw-Oase inne. Die Achal-Tekezählen etwa 30,000, die Merw-Teke etwa 50,000 Kibitken; derganze Stamm zerfällt in die Tochlamysch mit den beiden ZweigenBeg (5 Geschlechter, 11 Familien) und Wekil (2 Geschlechter, 12Familien) und die Otamysch mit den Zweigen Sytschmes (6Geschlechter) und Bachschi (5 Geschlechter). Die Merw-Teke scheinensich in der Mitte der 30er Jahre von den Achal-Teke abgelöstzu haben und sind weiter ostwärts gezogen, wo es ihnen inblutigen Kriegen gegen Persien gelang, des ganzen Merwgebiets sichzu bemächtigen. Die Achal-Teke wurden 1881 von den Russenunterworfen, die Merw-Teke unterwarfen sich 1883 freiwillig; ihreGebiete wurden dem transkaspischen Bezirk einverleibt.

10) Die Saryk bewohnen die südöstlich von Merw amMurghab gelegenen Landschaften Juletan und Pandsh-Dech; 12,000Kibitken in 5 Geschlechtern mit 16 Familien; sie treiben Garten-und Ackerbau und leben mit den Merw-Teke in Feindschaft.

11) Die Salyr, 3000 Kibitken, hatten sich in der persischenLandschaft Sur-Abad niedergelassen, verlegten dann ihren Wohnsitznach Alt-Sarachs am Heri-Rud, wurden hier aber von den Merw-Tekeüberfallen, mit ihrer ganzen Habe fortgeschleppt und dieseneinverleibt. Im ganzen beziffert sich somit die Stärke allerT. auf 900,000-950,000, auch wohl 1 Mill. Köpfe.

Alle T. betrachten den Raub als eine vollständig gestatteteErwerbsquelle; sie leben deshalb in fast steter Feindschaftuntereinander, sind aber besonders eine entsetzliche Geißelfür die benachbarten Völkerschaften, zumal wenn sie alsSunniten den Schiiten gegenüberstehen. Nachdem aberRußland bis in das Herz Turkmeniens vorgedrungen ist, wirddiesen Räubereien wohl bald ein Ziel gesetzt werden, zumalwenn Persien in seinen Nordprovinzen einen größernWiderstand leistet, als dies jetzt der Fall ist. Das einzige, wasdie T. achten, ist die Macht der Stärke und das Adat, dasuralte Gewohnheitsrecht. Die Stämme wählen wohl aus ihrerMitte Chane; doch haben diese keinerlei Gewalt, wenn sie auch durchpersönliche Vorzüge zuweilen bedeutenden Einflußausüben. Die Mollas sind wenig geachtet, wie überhauptdie T. sich leicht über die Lehren des Korans hinwegsetzen. Jemehr aber die seßhafte Lebensweise Platz greift, desto mehrwerden die T. auch einer gesellschaftlichen Ordnung zugänglichwerden. Die den Frauen zugestandene geachtete Stellung, die Liebezu den Kindern, das Halten des gegebenen Wortes und steteGastfreiheit sind als Charaktereigenschaften hervorzuheben. Dabeisind sie äußerst mäßig. Ein magerer,zäher Körper, fast bronzefarbige Gesichter mit kleinen,tief liegenden Augen, schwarze Haare, ungewöhnlich weißeZähne, lange Bärte kennzeichnen das Äußere.Das nationale Kostüm besteht aus einem weiten, langen Gewand,je nach dem Stand von Seide oder einem andern Stoff, und hohenLammfellmützen, welche die Frauen durch einen um den Kopfgewundenen Shawl ersetzen. Letztere lieben und tragen viel Schmuckund verhüllen sich nicht. Zur Wohnung dient die Filzjurte, inwelcher die Frauen frei schalten. Gewöhnlich hat der Turkmenezwei Frauen, für welche er einen gewissen Kaufpreis zu zahlenhat. Die Ehe kann aber willkürlich gelöst werden.Ackerbau, Gartenbau, Fischerei, Viehzucht sind je nach denWohnplätzen die Hauptbeschäftigungen. Die Jagd wird nichtsehr kultiviert. Die Industrie beschränkt sich auf Anfertigungvon Reitzeug, Kamelhaartuch, Ackergerätschaften etc.; dieFischerboote, in Hassan Kuli gefertigt, und die Teppiche der Tekehaben einen großen Ruf. Vorläufig ist von Handel nochkeine Rede, daß aber die Transkaspische Eisenbahn in dieserBeziehung einen Umschwung hervorbringen wird, dürfte kaumbezweifelt werden. Vgl. "Petermanns Mitteilungen", Bd. 26 (1880);v. Hellwald, Zentralasien (Leipz. 1880); Wenjukow, Dierussisch-asiatischen Grenzlande (deutsch, das. 1874);Vambéry, The Turkomans between the Caspian and Merw (im"Journal of the Anthropological Institute etc.", Februar 1880);Weil, La Tourkménie et les Tourkmènes (Par. 1880);Vambéry, Das Türkenvolk (Leipz. 1885).

Turkos, frühere Bezeichnung für die heutigenTirailleure Algeriens, afrikanische Fußtruppe derfranzösischen Armee, 1842 errichtet, jetzt 4 Regimenterà 4 Bataillone zu je 4 Kompanien und einer Depotkompanie.Die Offiziere vom Hauptmann aufwärts und pro Kompanie zweiLeutnants sind Franzosen. Ihre Uniform entspricht der arabischenTracht: hellblaue Jacke und Weste, Turban, Burnus, Gamaschenetc.

Turksinseln, Inselgruppe der brit. Bahamainseln(Westindien), bestehend aus der Insel Grand Turk (18 qkm mit 2500Einw.) und dem kleinern Inselchen Salt Cay (s. d.). Grand Turk istniedrig und sandig und liefert außer Fischen undSchildkröten noch Salz. Es bildet mit den Caicos (s. d.) einenVerwaltungsbezirk, der seit 1874 vom Gouverneur von Jamaicaabhängt, und insgesamt ein Areal von 575 qkm (10,4 QM.) mit(1881) 4732 Einw. hat. Die Ausfuhr belief sich 1887 auf 26,015 Pfd.Sterl., die Einfuhr auf 26,721 Pfd. Sterl. Lokalrevenue 1887: 6203Pfd. Sterl.

Turlupin (franz., spr. türlüpäng),ursprünglich Name einer übel berüchtigtenfanatischen Sekte, die im 13. und 14. Jahrh. in Frankreichumherzog; dann Beiname des französischen Komikers Legrandunter Ludwig XIII., daher s. v. w. Possenreißer. Turlupinade,Hanswurstiade, Hänselei.

Turm, Gebäude von regulär prismatischer odercylindrischer Grundform, dessen Höhe die Abmessungen seinerGrundfläche mehr oder minder bedeutend übertrifft. DieTürme werden meist andern Gebäuden, wie Kirchen,Schlössern, Rathäusern, Stadtthoren, Festungen,angefügt und mit ihnen zu einem architektonischen Ganzenverbunden, oder sie stehen isoliert. Bei der ägyptischenBaukunst erkennen wir in den Pylonen ihrer Tempel und in ihrenPyramiden die ersten Vorläufer der Turmbauten; von denGriechen ist uns nur der achteckige, mit niederm Zeltdach versehene"T. der Winde" (s. Tafel "Baukunst IV", Fig. 10) erhalten. DieRömer kannten nur feste, oben mit Plattform und Zinnenversehene Verteidigungstürme. Ähnlich waren die meistrunden oder quadratischen Festungstürme des Mittelalters,welche oft noch eine Laterne auf den Zinnen oder einen kurzenSteinhelm erhielten. Indes zeigten sich die Türme hierüberall noch als mehr oder minder willkürliche An- oderAufbauten. Erst der christlichen Baukunst war es vorbehalten, dieTürme zu einem integrieren-

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Turma - Turmalin.

den Bestandteil der Kirchen und ihrer Architektur zu machen,indem man in der Zeit Konstantins die christlichen Tempel mitGlockentürmen zu versehen begann. Dieselben waren anfangs rundund trugen einen Pavillon mit niedrigem Zeltdach, späterwurden sie viereckig, geböscht und mit einem Pavillon unterhohem Zeltdach geschlossen. Anfangs standen die Türme isoliertneben der Kirche; eine organische Verbindung des Turms mit derKirche zeigt sich erst im romanischen Stil. Die echtarchitektonische Ausbildung und vollkommen organische Verbindungmit den übrigen Gebäudeteilen zu einem Ganzen erhieltendie Türme aber erst in dem gotischen Kirchenbaustil, dessenIdee in dem Bau des Turms ihren eigentlichen Ausdruck findet. Unterdie sowohl durch den Adel ihrer Bauart als die Höhe ihrerHelme ausgezeichneten Turmbauten gehören unter andern dieMünster und Kirchen zu Köln, Straßburg, Freiburg,Wien, Magdeburg, Marburg, Regensburg, Nürnberg, Trier,Antwerpen, Brüssel, Venedig und Mailand. Der für diePariser Weltausstellung von 1889 auf dem Marsfeld von Eiffel undSauvestre errichtete T. ist 300 m hoch, bedeckt eineGrundfläche von mehr als 1 Hektar und ruht auf vierMauerwerkskörpern, die durch Mauern zu einem Fundamentvereinigt sind. Der T. hat das Aussehen eines riesigenGerüstes, ist ganz aus Eisen konstruiert und enthält in60 m Höhe das erste, in 115 m Höhe das zweite und in 275m Höhe das dritte Stockwerk. Eine 250 qm großeGlaskuppel krönt den T. In quadratischen Röhren an denvier Ecken des Turms befinden sich Treppen und acht hydraulischeAufzüge. Die Erbauungskosten sollen 5-6 Mill. Frank betragen.Vgl. Schmidt, Vergleichende Darstellung der höchstenDenkmäler und Bauwerke (Berl. 1881); Sutter u. Schneider,Turmbuch (das. 1888).

Übersicht der höchsten Türme.

Paris: Eiffelturm 300 m.

Washington: Washingtondenkmal (projektiert) 175 m.

Köln: Dom 156 m.

Rouen: Kathedrale 151 m.

Ulm: (projektiert) Münster 151 m.

Hamburg: Nikolaikirche 147 m.

Reval: Olauskirche 145 m.

Hamburg: Michaeliskirche 143 m.

Rom: Peterskirche 143 m.

Straßburg: Münster 142 m.

Riga: St. Peter 140 m.

Pyramide des Cheops 137,2 m.

Wien: St. Stephan 136,7 m.

Pyramide des Chefren 136,4 m.

Hamburg: Petrikirche 134,5 m.

Landshut: Martinskirche 133 m.

Rostock: Petrikirche 132 m.

Amiens: Kathedrale 130 m.

Petersburg: Peter-Paulsk. 128 m.

Lübeck: Marienkirche 124 m.

Antwerpen: Dom 123 m.

Hamburg: Katharinenk. 122 m.

Freiburg i. Br.: Münster 122 m.

Brüssel: Justizpalast 122 m.

Salisbury: Kathedrale 122 m.

Brügge: Liebfrauenkirche 120 m.

Cremona: Torrazzo 120 m.

Paris: Notre Dame (proj.) 120 m.

Florenz: Dom 119 m.

Gent: Belfried 118 m.

Chartres: Kathedrale 115 m.

Brüssel: Rathaus 114 m.

Hamburg: Jakobikirche 114 m.

Lüneburg: Johanniskirche 113 m.

London: St. Paulskathedrale 111 m.

Sevilla: Giraldakirche 111 m.

Dschagaunath: Pagode 110 m.

Breslau: Elisabethkirche 108 m.

Brügge: Hallenturm 107,5 m.

Wien: Rathaus 107 m.

Bordeaux: St.-Michel 107 m.

Chartres: Kathedrale 106,50 m.

Mailand: Dom 105 m.

Groningen: Martinikirche 105 m.

Paris: Invalidendom 105 m.

Moskau: Erlöserkirche 105 m.

Magdeburg: Dom 103,6 m.

Utrecht: Dom 103 m.

London: Parlamentsgeb. 102 m.

Augsburg: Dom 102 m.

Petersburg: Isaakskirche 102 m.

Nördlingen: Georgskirche 102 m.

Brannschweig: Andreask. 101 m.

Dresden: Schloßturm 101 m.

München: Frauenkirche 99 m.

Berlin: Petrikirche 96 m.

Berlin: Rathaus 88 m.

Meißen: Dom 78 m.

Schiefe Türme oder Turmhelme verdanken ihre Abweichung vonder lotrechten Stellung entweder einseitiger Senkung oder einerbeabsichtigten Baukünstelei. Bei dem berühmten schiefenGlockenturm zu Pisa streitet man zur Zeit noch über den Grundder Abweichung seiner Achse vom Lot, während man z. B. denschiefen Turmhelm der Pfarrkirche in Gelnhausen als dasKunststück eines Zimmermeisters zu betrachten hat, da er nichtnur geneigt, sondern auch spiralförmig gewunden ist.

In der Kriegsbaukunst war der Gebrauch von Türmen schon beiden Alten und im Mittelalter an der äußern Seite derStadtmauern in teils runder, teils viereckiger Gestalt zurErmöglichung der Seitenverteidigung üblich. Der Hauptturmeiner jeden Burg hieß Bergfried, bei den Burgen des DeutschenOrdens bildete ein T. (Danziger) ein vorgeschobenesAußenwerk. Nach Erfindung des Schießpulvers wurden sieenger mit den Mauern verbunden, und es entstanden aus ihnen dieBastione, während eigentliche Türme außer Gebrauchkamen. Erst später wandte sie Vauban unter dem NamenBollwerkstürme wieder an. Montalembert verbesserte dieseTürme und gab ihnen eine vielfach veränderte Gestalt. Siesind kasemattiert und so eingerichtet, daß die innernGewölbe nicht auf den äußern Umfassungsmauern,sondern auf innern Strebepfeilern ruhen und in bedecktenGeschützständen mehrere Reihen Geschützeübereinander stehen. Ähnlich eingerichtet sind die sogen.Martellotürme (s. d.) in England zur Küstenverteidigung.In neuester Zeit kommen Türme, mit Eisenpanzerung versehen undmit ihrem obern Teil auf einer Unterlage drehbar, beiLandbefestigungen, namentlich aber zum Küstenschutz und aufden Kriegsschiffen selbst vor. Vgl. Panzerungen.

Turma (lat., "Haufe, Trupp"), die kleinste taktischeAbteilung in der Reiterei der alten Römer und ihrerBundesgenossen, betrug bei den erstern 30, bei den letztern 60 Mannund hatte eine eigne Fahne.

Turmair, Johannes, s. Aventinus.

Turmalin (Schörl), Mineral aus der Ordnung derSilikate (Turmalingruppe), kristallisiert rhomboedrisch,ausgezeichnet hemimorphisch, meist mit vorwaltender,gewöhnlich stark gestreifter Säule. Er findet sich aberauch in derben, stängeligen (Stangenschörl) undfaserigen, auch körnigen Varietäten; er ist seltenfarblos und durchsichtig, gewöhnlich grau, gelb, grün,blau (Indikolit), rot (Rubellit), braun oder schwarz (Schörl),glasglänzend, durchsichtig bis undurchsichtig, wird durchReiben oder Erhitzen stark elektrisch (daher sein Name:Aschenzieher); Härte 7-7,5, spez. Gew. 2,94-3,21. Diechemische Zusammensetzung des T. ist eine äußerstkomplizierte; nach Rammelsberg lassen sich indessen alleVarietäten als isomorphe Mengungen der Silikate R(I)6SiO5,R(II)3SiO5 und (R2)(IV)SiO5 [s. Bildansicht] auffassen, worinKalium, Natrium, Lithium, auch Wasserstoff als einwertige,Magnesium, Eisen, Mangan und Calcium als zweiwertige Elemente,Aluminium, Bor und Eisen in sechswertigen Doppelatomen auftretenund ein Teil des Sauerstoffs durch Fluor ersetzt ist (s. Tafel"Edelsteine", Fig. 17 u. 18). Von den Varietäten des T. findetsich der Schörl in vielen alten Silikatgesteinen (Granit,Gneis, Talk-, Chlorit- und Glimmerschiefer) sowie in Kalken undDolomiten und bildet im grob- oder feinkörnigen Gemenge mitQuarz den Turmalinfels (Schörlfels), in lagenweiser Anordnungden Turmalinschiefer (Schörlschiefer). Hauptfundorte fürgroße Kristalle sind der Hörlberg in Bayern, dasZillerthal und andre Orte in Tirol, Norwegen, für farblosen T.Elba, für Rubellit Elba und Rozna in Mähren; grüne,braune und doppelfarbige kommen von Penig in Sachsen, vom St.Gotthard, aus Kärnten, vom Ural, aus

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Turmalinfels - Turners Gelb.

Massachusetts, Maine etc., Indikolith von der Insel Utö inSchweden und aus Brasilien. T. dient als polarisierende Substanz inPolarisationsinstrumenten, namentlich den sogen. Turmalinzangen,und ist in einigen Varietäten (edler T.) ein geschätzterEdelstein. Im Handel heißen die roten Turmaline Rubellit,Sibirit oder sibirischer T., die blauen brasilischer T., diegrünen brasilischer Smaragd, die gelblichgrünenceylonischer Chrysolith.

Turmalinfels (Schörlfels), wenig verbreitetesGestein, aus Quarz und schwarzem Turmalin (in Körnern oderNadeln) gebildet. Gewöhnlich gleichzeitig mitturmalinführenden Graniten, selten (Cornwall, Eibenstock undim Erzgebirge) selbständig vorkommend, ist es teils dicht,teils körnig, teils schieferig (Turmalinschiefer).

Turmalinzange, s. Polarisationsapparate.

Turmberg, s. Karthaus.

Turmequé (spr. -ke), Stadt im Staat Boyacáder südamerikan. Republik Kolumbien, südlich von Tunja,2720 m ü. M., mit (1870) 8182 Einw.

Turmero, Stadt in der Sektion Guzman Blanco desgleichnamigen Staats der Bundesrepublik Venezuela, in reizenderLage am gleichnamigen Fluß und am Fuß derKüstenkordillere, mit (1873) 6040 Einw.

Turmfalke, s. Falken, S. 10.

Turmforts, s. Panzerungen.

Türmitz, Stadt in der böhm.Bezirkshauptmannschaft Aussig, an der Biela und derAussig-Teplitzer Eisenbahn gelegen, mit einem Schloß, (1880)2547 Einw., einer Zuckerfabrik, Bierbrauerei, Chemikalienfabrik,Obst- und Weinbau und bedeutenden Braunkohlenwerken.

Turmkrähe, s. v. w. Dohle, s. Rabe.

Turmschiff, s. Panzerschiff, S. 661.

Turmschwalbe, s. Segler (Cypselus).

Turm- und Schwertorden, portugies. Orden, gestiftet 1459von Alfonso V., erneuert 1808, und 1832 von Dom Pedro, Herzog vonBraganza, vollständig neu organisiert unter dem Titel: "Deralte und sehr edle Orden vom Turm und Schwert für Tapferkeit,Ergebenheit und Verdienst". Die Grade sind: Großmeister,Großoffiziere, Großkreuze, Kommandeure, Offiziere undRitter, deren Zahl unbestimmt ist. Der Orden wird verliehenfür persönliches Verdienst, ausgezeichnete Thaten undbürgerliche Treue, ist aber auch durch Nachweis derselbenInländern und Ausländern zugänglich. Die Dekorationder Ritter besteht aus einem silbernen (höhere Gradegoldenen), weiß emaillierten, fünfspitzigen Kreuz, aufdessen Mittelschild im Avers ein Schwert in einem Eichenkranz ruht,im Revers ein aufgeschlagenes Buch, links mit dem portugiesischenWappen, rechts mit dem Titel der Konstitution, sich befindet,während auf dem blauen Ring vorn: "Valor, lealdade, merito",hinten: "Pelo Rei e pela lei" steht. Das Kreuz hat zwischen denzwei obern Armen einen Turm, an dem es hängt, und ist voneinem Eichenkranz umgeben. Großkreuze und Komture trageneinen goldenen Stern mit dem Orden obenauf; die Ordenskette bestehtaus den Türmen und Schwertern in Kränzen des Ordens,dessen Band dunkelblau ist. Ordenstag: der 29. April.

Turn (Dorne), Dichter, s. Reinbot von Turn.

Turnau, Stadt im nördlichen Böhmen, an der Iserund an der Pardubitz-Reichenberger Eisenbahn, in welche hier dieEisenbahn Prag-Kralup-T. einmündet, hat eine Dechantei- undeine gotische Marienkirche, ein Franziskanerkloster, ist Sitz einerBezirkshauptmannschaft und eines Bezirksgerichts, hat eineGewerbeschule für Edelsteinbearbeitung, Bierbrauerei,Mühlenbetrieb, Dampfsäge, Druckerei, Wachs- undSeilerwarenfabrikation, Schleiferei böhmischer Granate undandrer (echten und unechten) Edelsteine (früher vielbedeutender) und zählt (1880) 4948 Einw. Hier 26. Juni 1866siegreiches Gefecht der Preußen gegen die Österreicher.In der durch ihre Sandsteinformation bemerkenswerten Umgebung sinddie Kaltwasserheilanstalt Wartenberg, die Ruine Waldstein,Stammburg des berühmten Geschlechts, die SchlösserGroßskal, Sichrow, Groß-Rohosetz mit Parkanlagen zuerwähnen.

Turnbulls Blau, s. Berliner Blau.

Turnen, s. Turnkunst.

Turner, 1) Sharon, engl. Geschichtschreiber, geb. 24.Sept. 1768 zu London, widmete als Advokat in seiner Vaterstadtseine Muße vorzüglich der Erforschung der Geschichteseines Vaterlandes und begründete seinen Ruf durch die"History of the Anglo-Saxons" (Lond. 1799 ff.; 7. Aufl. 1852, 3Bde.). Es folgten: "History of England during the middle ages"(neue Ausg. 1853, 4 Bde.); "The history of the reign of HenryVIII." (neue Ausg. 1835, 2 Bde.); "Modern history of England" (1826ff., 2 Bde.); "The history of the reigns of Edward VI., Mary andElizabeth" (neue Ausg. 1854, 2 Bde.); "Sacred history of the world"(2. Aufl. 1848, 3 Bde.). T. starb 13. Febr. 1847 in London.

2) Joseph Mallord William, engl. Maler, geb. 23. April 1775 zuLondon, trat 1789 als Schüler in die königliche Akademieund erwarb sich durch seine Fluß- und Seelandschaften nachenglischen Motiven, die zumeist von den Holländern, ClaudeLorrain und Poussin beeinflußt waren, bald solchen Ruf,daß ihn die Akademie 1802 zu ihrem Mitglied ernannte. Durchwiederholte Studienreisen nach Schottland, Frankreich, der Schweiz,Italien und nach dem Rhein erweiterte er seinen Gesichtskreis. 1807wurde er zum Professor der Perspektive an der Akademie ernannt,hielt aber nur wenige Jahre Vorlesungen. Er starb 19. Dez. 1851 inChelsea. T. nimmt unter den englischen Landschaftsmalern eine derersten Stellen ein. Obwohl seine Bilder, namentlich diejenigenseiner letzten Zeit, oft an Maßlosigkeit der Phantasie undÜbertreibung im Kolorit leiden, besonders in denLichtwirkungen, so sind sie doch nach Auffassung und Behandlunghöchst originell. Außer Landschaften hat er auch Marine-und Historienbilder gemalt, und eine besondere Virtuositätentfaltete er im Aquarell. Eine reiche Sammlung seiner Gemälde(112) besitzt die Londoner Nationalgalerie, darunter seineHauptwerke: Jason, die Schmiede, Apollo und Python, derSchiffbruch, Dido und Äneas, der Fall Karthagos, die Bai vonBajä, Odysseus verhöhnt den Polyphem, Hannibals Zugüber die Alpen, der Pier von Calais. Eine Sammlung seinerSkizzen veröffentlichte er unter dem Titel: "Liber studiorum".Außerdem lieferte er Illustrationen zu den Gedichten vonByron, Campbell, Scott, Roger u. a. Von seinem großenVermögen setzte er 200,000 Pfd. Sterl. zum Bau eines Asylsfür arme Künstler aus. Vgl. Thornbury, Life of J. M. W.T. (neue Ausg. 1877, 2 Bde.); Dafforne, The works of J. M. W. T.(1878); Hamerton, T. (Par. 1889).

Turneraceen, dikotyle, etwa 100 Arten umfassende,vorzugsweise im tropischen Südamerika einheimischePflanzenfamilie aus der Ordnung der Passiflorinen, von dennächsten Verwandten durch gedrehte Knospenlage derBlumenblätter und den Mangel eines stielförmigenFruchtknotenträgers unterschieden.

Turners Gelb, s. Bleichlorid.

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Turnhout - Turnkunst.

Turnhout (spr. törnhaut), Hauptstadt einesArrondissem*nts in der belg. Provinz Antwerpen, in der sogen.Campine, durch Eisenbahnen mit Tilburg und Lierre verbunden, hatein altes, 1371 von Maria von Geldern erbautes Schloß (jetztJustizpalast), eine höhere Knabenschule, ein Tribunal,lebhafte Industrie in Baumwolle, Leinwand, Spitzen, Papier,Branntwein etc., Färberei, Gerberei, Bleicherei, Handel nachden Niederlanden und (1888) 17,800 Einw. Hier 22. Jan. 1597 Siegder Niederländer unter Moritz von Oranien über dieSpanier und 27. Okt. 1789 Sieg der belgischen Insurgenten(Patrioten) über die Österreicher.

Turnier (Turnei, franz. Tournoi, lat. Torneamentum,Hastiludium), eine im 11. Jahrh. angeblich von demfranzösischen Ritter Godefroy de Preuilly erfundeneUmgestaltung der bei allen kriegerischen Völkern nachweisbarenWaffenspiele. Während der Buhurt (s. d.) bloß dieGelegenheit bot, die Gewandtheit des Reiters zur Geltung zubringen, in der Tjost (franz. joute, lat. justa, ital. giostra) nurzwei Gegner sich gegenüberstanden, die mit abgestumpften, oftaber auch mit scharfen Waffen miteinander kämpften, ist das T.ursprünglich das Abbild einer großen Reiterschlacht,vertritt gewissermaßen unsre Manöver. Vor Beginn desTurniers wurden die Scharen geteilt, so daß auf jeder Parteigleichviel Kämpfer sind. Schon den Tag vor dem Kampffpielhatten die Ritter in der Tjost ihre Kräfte gemessen; das istdie Vesperie oder Vespereide. Das T. begann mit dem Speerkampf;jeder suchte seinen Gegner durch einen geschickten Stoß gegendas Kinnbein, gegen das Zentrum des Schildes (die vier Nägel)etc. aus dem Sattel zu heben. Zugleich aber manövrierte auchSchar gegen Schar unter Kommando ihrer Befehlshaber. Auch überdiese Angriffsarten sind wir ziemlich unterrichtet. Waren dieSpeere verstochen, so wurde das Gefecht mit den Schwerternfortgesetzt, endlich durch Ringen der Kampf entschieden; daßeiner unterlag und sich als Gefangener seinem Gegner ergab, das istdie Sicherheit, die Fîanze. Das Roß des Besiegtengehörte dem Sieger, der es von seinen Leuten in Sicherheitbringen ließ; ebenso nahm er den Harnisch und die Waffen inAnspruch und verlangte von seinem gefangenen Gegner auch noch einangemessenes Lösegeld. So ist die Teilnahme an einem T. eineArt Glücksspiel: man konnte alles verlieren, aber auch vielgewinnen, und es gab deshalb damals schon Leute("Glücksritter"), die aus reiner Gewinnsucht sich an Turnierengewohnheitsmäßig beteiligten. Aber auchlebensgefährlich war das T.; zahllose Unglücksfällehaben sich bei ihnen ereignet, und deshalb erschien es durchausgerechtfertigt, daß die Päpste Innocenz II., Eugen III.,Alexander III. und Cölestin III. die Teilnahme an denTurnieren, freilich ohne jeden Erfolg, bei Strafe derExkommunikation verboten. Damen haben wohl hin und wieder bei denTurnieren zugesehen, und in der zweiten Hälfte des 13. Jahrh.mag auch zuweilen ein Preis dem hervorragendsten Ritter zuerkanntworden sein; aber alle diese Verschönerungen, die das T. zueinem höfischen Fest umgestalten, haben eigentlich mit derHauptsache: den Rittern Gelegenheit zu geben, sich im Reitergefechtpraktisch zu üben, nichts zu thun. Vgl. Niedner, Das deutscheT. des 12. und 13. Jahrhunderts (Berl. 1881); Reinh. Becker,Ritterliche Waffenspiele nach Ulrich v. Lichtenstein (Düren1887); A. Schultz, Das höfische Leben zur Zeit derMinnesinger, Bd. 2, S. 106 ff. (2. Aufl., Leipz. 1889).

Die Geldgier der Ritter machte schon in der zweiten Hälftedes 13. Jahrh. die Turniere zu Schauplätzen der Roheit und dergemeinen Raubsucht. Im 14. Jahrh. wird das T. als ein adligesVergnügen noch eifrig gepflegt, besonders war Johann vonLuxemburg, der König von Böhmen, ein großer Freunddieser Leibesübung. Auch im 15. Jahrh. finden noch vieleTurniere statt, aber es sind schon mehr bloße Schaustellungenvon persönlicher Geschicklichkeit; den Charakter einesReitermanövers haben sie verloren. In der Regel handelt essich nur um einen Zweikampf, der auch bei den schwerenEisenrüstungen kaum mehr gefährlich ist, natürlichnur ganz kurze Zeit andauern konnte. Über die verschiedenenArten des Turniers, das Stechen und Rennen, im hohen Zeug etc., hatQ. v. Leitner in der Einleitung seiner Ausgabe des "Freidal, desKaisers Marimilian I. Turniere und Mummereien" (Wien 1880-82) wohldas Beste veröffentlicht. Die Ritter hatten sich im 15. Jahrh.zu Turniergesellschaften vereinigt, welche die neugeadeltenKaufleute von ihren Kampfspielen ausschlossen, über die Artdes Turniers, die Ehrenhaftigkeit der Teilnehmer etc.Beschlüsse faßten. Diese Partie des ehedem sohochgeehrten Turnierbuchs von dem bayrischen Herold GeorgRüxner (2. Ausg. 1532) ist wohl unbedingt glaubwürdig.Kaiser Maximilian I. war ein eifriger Pfleger der Turnierkunst undhat sich um die Ausbildung derselben viele Verdienste erworben.Nach dem Tod Maximilians werden die Turniere seltener, und derUnglücksfall, der 1559 dem französischen KönigHeinrich II. das Leben kostete, brachte das eigentliche Waffenspielimmer mehr in Mißkredit. Statt des Turniers wird nun beliebtdas ungefährliche Karussellreiten, das Ringelrennen, dasStechen nach der Quintane und wie alle diese Spiele heißen,die dem Reiter Gelegenheit boten, seine Kunst und Geschicklichkeitins beste Licht zu setzen. Dabei konnte aller Prunk entfaltetwerden, und so entsprach ein solches Fest allen Anforderengen, dieman im 17. und 18. Jahrh. an höfische Vergnügungenstellte. Seit dem Tode des Königs August des Starken sind auchdiese Leibesübungen in Vergessenheit gekommen, nur beigroßen Hoffestlichkeiten werden von Zeit zu Zeit nochSchauspiele veranstaltet, die zwar als "Turniere" zuweilenbezeichnet werden, mit den mittelalterlichen Turnieren derältern Zeit aber nichts als den Namen gemein haben.

Turnierkragen, s. Beizeiten.

Turnikett, s. v. w. Tourniquet.

Turnips, s. v. w. Wasserrübe, Brassica rapa rapifera(s. Raps); in einigen Gegenden s. v. w. Runkelrübe (s.d.).

Turnkunst (Turnen), die Kunst der Leibesübung(Gymnastik) in ihrer deutschen Entwickelungsform. Der Name stammtvom Turnvater Jahn, der ihn als einen vermeintlich echt deutschendem altdeutschen turnan (drehen) entnahm, welches aber nur einLehnwort aus dem griechisch-lateinischen tornare (runden, drehen)ist, verwandt mit Turnier und Tour. Die T. umfaßt dieGesamtheit der bei uns einer geregelten Ausbildung des menschlichenKörpers um dieser selbst willen dienenden Leibesübungen,bietet so aber auch die Grundlage für die bestimmten Zweckendienenden leiblichen Fertigkeiten, wie z. B. für den Tanz unddie militärischen Bewegungsformen, für Fechten undReiten, schließt aber solche nicht schon in sich. Sie istsomit als allgemein vorbildend ein wesentlicher Teil der Erziehungund eine Pflicht der letztern insofern, als ihr die Ausbildung dermenschlichen Kräfte innerhalb der Grenzen eines harmoni-

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Turnkunst (geschichtliche Entwickelung in Deutschland).

schen Zusammenwirkens derselben obliegt. Durch letzteresunterscheidet sie sich von der die leibliche Kraft und Gewandtheitausschließlich und berufsmäßig ausbildendenAthletik wie von dem nur einzelne Fertigkeiten pflegenden Sporte.Die T. hat mit ihrem Einfluß auf die Funktionen derLeibesorgane eine wesentliche Bedeutung für die Gesundheit,sowohl durch Bewegung, Kräftigung und Abhärtung Krankheitverhütend als eingetretenen Störungen des Organismusentgegenwirkend. Das Turnwesen bildet somit einen wichtigen Teilder auf Volksgesundheitspflege gerichteten Bestrebungen. Da nunaber Leib und Geist als Teile desselben Organismus in steterWechselwirkung stehen, so wird die leibliche Ausbildung zur Pflichtnicht nur um des Leibes willen, sondern die T. kann und will auchan ihrem Teil geistige Frische und Rüstigkeit, Selbstvertrauenin die Leibeskräfte, männliche Wehrhaftigkeit, sittlicheBeherrschung des Leibes mit fördern helfen. Auf den Nameneiner Kunst hat die T. nur in bedingter Weise, aber insofernAnspruch, als sie, wie die Baukunst und andres Kunsthandwerk, beider Ausführung ihrer einem praktischen Zweck dienendenÜbungen nach Schönheit der Form strebt. Auch werdenmanche ihrer reigenartigen Gebilde in den Ordnungsübungen,gewissen Formen der Tanzkunst verwandt, oft nur um der Gestaltungwohlgefälliger Formen willen geschaffen. Für denZusammenhang der T. mit geistigen Bestrebungen ist bezeichnend,daß, wie die griechische Gymnastik sich bei dem geistig amhöchsten und vielseiligsten entwickelten Volk des Altertumsfindet, so auch die T. einer Zeit voll höchster geistigerRegsamkeit und begeisterten patriotischen Aufschwunges ihrenAnstoß verdankt, und daß auch ihre weitern Schicksalemit den Wandlungen unsers nationalen Geisteslebens engenZusammenhang zeigen.

[Geschichte.] Das Leben setzt in jeder Form ein gewissesMaß leiblicher Fertigkeit und Übung voraus, und wenn manvon mönchisch-asketischen, auf Ertötung desLeiblich-Sinnlichen gerichteten Bestrebungen absieht, konnte derNutzen leiblicher Kraft und Gewandtheit kaum irgendwo verkanntwerden, ja vielmehr hat sich die Lust an leiblicher Regung, inwelcher Form es auch sei, noch zu allen Zeiten geltend gemacht.Daher finden sich auch in Deutschland seit der Zeit desMittelalters, wo die Bewegungslust mit dem Waffenhandwerk den Bundzu ritterlichem Kampf- und Turnierwesen eingegangen war,mannigfache Leibesübungen in den verschiedenen Kreisen unsersVolkslebens, an welche vielfach dann die T. nur anzuknüpfenbrauchte (vgl. Gymnastik); so einmal als eine Art Nachklang jenerritterlichen Zeit die Fechtkünste und das Voltigieren (s. d.)am lebenden oder am nachgebildeten Pferd, wie besonders anUniversitäten und adligen Schulen; ferner die mehr allgemeinals Jugendspiele oder gelegentliche Volksbelustigungen auftretendenBallspiele (s. d.), das Ringen (s. d.), Wettlaufen, Klettern u. a.;endlich besondere Fertigkeiten, wie Schwimmen, Schlittschuhlaufenund die mancherlei Schießübungen mit Armbrust undFeuergewehr. Der Leibesausbildung um ihrer selbst willen redetenzuerst wieder Vertreter der in der Zeit vor der Reformationerwachenden humanistischen Studien das Wort, die ja auch in dieserHinsicht auf das Vorbild des klassischen Altertums hinweisenkonnten; ein Zeugnis solcher Bestrebungen ist das Buch desitalienischen Arztes Hieron. Mercurialis: "De arte gymnastica" (2.Aufl. 1573). Daß man seitdem besonders um der Erziehungwillen Leibesübungen befürwortete, ihreVernachlässigung beklagte, hier und da auch zu einem Versuchleiblicher Schulung Hand anlegte, dafür sind Aussprücheund Lehren von Männern wie Luther, Zwingli, Camerarius undComenius am bezeichnendsten. Auch von seiten der realistischenphilosophischen Betrachtung kam man wegen der Wirkung desSinnlichen auf das Geistige zu der Forderung einer geregeltenLeibeserziehung, wie besonders Locke in seinen "Gedanken überErziehung" (1693) als höchstes Ziel der Erziehung den gesundenGeist im gesunden Körper hinstellte. Mit nochgrößerm Nachdruck und weit allgemeinerer Wirkungbesonders auf das deutsche Erziehungswesen erhob dieselbe ForderungJ. J. Rousseau (s. d.) in seinem epochemachenden Erziehungsroman"Émile" (1762), der ein Ideal naturgemäßerErziehung geben sollte gegenüber der unnaturlichkünstelnden Erziehung seiner Zeit. Zum Teil unter dem EindruckRousseauscher Ideen und selbst wieder weitern Kreisen Anregunggebend, machte in Deutschland Basedow in der 1774 zu Dessau insLeben gerufenen, Philanthropin genannten Erziehungsanstalt auchzuerst den Versuch einer geregelten Leibesausbildung, zu der er denStoff teils aus den an den Ritterakademien dauernd in Pflegeerhaltenen Künsten des Tanzens, Fechtens, Reitens undPferdspringens, teils auf Anregung seines Gehilfen Joh. Friedr.Simon der griechischen Gymnastik in den Übungen des Laufens,Springens u. a., teils aus militärischen Bewegungsformenentnahm. Von hier übertrug diese Übungen Salzmann in dievon ihm 1784 zu Schnepfenthal gegründete Erziehungsanstalt, inwelcher die Leibesübungen seit 1786 mit größterSorgfalt und nachhaltigster Wirkung J. Chr. Guts Muths (s. d.)leitete, welchem außerdem das große Verdienstgebührt, in seiner zuerst 1793 erschienenen "Gymnastikfür die Jugend" öffentlich nicht nur als ein begeisterterFürsprecher der Leibesübungen aufgetreten zu sein,sondern auch besonders den von ihm in emsigem Nachforschen undPrüfen stark erweiterten und geordneten Übungsstoffweitern Kreisen erschlossen zu haben. Zu gleicher Zeit gab G. U. A.Vieth in Dessau (1763-1836) in seinem "Versuch einerEncyklopädie der Leibesübungen" (Tl. 1 u. 2, 1794-95; Tl.3 mit Nachträgen, 1818) sowohl eine Übersicht derLeibesübungen vieler Völker aus alter und neuer Zeit alsauch den ersten Versuch einer systematischen Einteilung derLeibesübungen. Auch Pestalozzi stellte sich seit 1807 in derSchweiz die Aufgabe, Leibesübungen nach einem derBewegungsfähigkeit der Körperteile folgendensystematischen Plan zu erfinden und zu üben. Der sogen.Tugendbund (s. d.) machte 1809 den ersten Versuch mit Einrichtungeines öffentlichen Turnplatzes zu Braunsberg. Währendaber die bisher angegebenen Anregungen nur zu ganz vereinzelterEinführung der Leibesübungen und meist an geschlossenenErziehungsanstalten geführt hatten, war es das Verdienst vonF. L. Jahn (s. d.), mit dem nach Deutschlands tiefer Erniedrigungin den Napoleonischen Kriegen zumal in Preußen erwachendenernsten Streben nach einer Wiedergeburt unsers Volks- undStaatslebens und unsrer Wehrkraft, wie es sich besonders in Arndts"Geist der Zeit", in Fichtes "Reden an die deutsche Nation", inJahns "Volkstum", in Steins Reformen und in denGneisenau-Scharnhorstschen Plänen zur Einführung einerallgemeinen Wehrpflicht zeigte, den lauten Ruf nach einer"volkstümlichen" Leibeskunst zu verbinden und mit Einsetzungseiner ganzen kraftvollen, jugendliche Begeisterung weckendenPersönlichkeit in Berlin dieser "T." die ersteöffentliche Stätte zu bereiten. Im

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Turnkunst (Bankanstalten, Unterricht).

Frühjahr 1811 wurde von ihm der Turnplatz in der Hasenheidebei Berlin eröffnet, von dem aus durch seine Schüler dieKeime einer wirklich jugendfrischen, die Knaben in ihrer Vollkraftpackenden Leibeskunst bald auch nach andern Orten Deutschlands,insbesondere an die Hochschulen Halle, Jena und Breslau, verpflanztwurden. Nachdem das Treiben auf dem Turnplatz natürlich durchdie Unruhe der folgenden Kriegsjahre beschränkt worden, auchmanche der eifrigsten Jünger der Turnsache, wie besondersFriedr. Friesen (s. d.), im Feld geblieben waren, wurde die Sachemit erneutem Eifer und größerer Vertiefung und Sichtungdes Übungsstoffes wieder aufgegriffen. Den letztern durchEinführung von reicher Ausnutzung fähigen Geräten,wie des Recks und des Barrens, erweitert und über das Gebietder einfachen volksüblichen Übungen noch mehr erhoben zuhaben, ist neben seiner Sorge für die sprachliche Bezeichnung(s. unten) Jahns entscheidendes technisches Verdienst um die T. DieErgebnisse dieser Bemühungen sind von ihm in der 1816 mitseinem Schüler E. Eiselen zusammen herausgegebenen "DeutschenT." niedergelegt. Die in dieser Zelt im Gegensatz zu der erwartetenfreiheitlichen Gestaltung unsers Staatslebens eintretende Reaktionglaubte natürlich gegen die mit freiheitlichen und nationalenIdeen erfüllten, dazu allerdings hier und da auch ungebundenesund ungeschlachtet, renommistisches Wesen zur Schau tragendenJahnschen Turnerscharen besonderes Mißtrauen hegen zumüssen. Die Schattenseiten des turnerischen Treibens und dasunreife Gebaren von Mitgliedern der mit der Turnerei engeFühlung unterhaltenden Burschenschaften auf dem Wartburgsest(18. Okt. 1817) veranlaßten zunächst die litterarischeBreslauer Turnfehde, die besonders durch Henrich Steffens (s. d.)und K. A. Menzel auf gegnerischer Seite, auf turnerischergeführt ward von Franz Passow, Chr. W. Harnisch (s. d.) unddem Hauptmann W. v. Schmeling, dem Verfasser von "Die Landwehr,gegründet auf die T." Nach Kotzebues Ermordung durch denBurschenschafter und Turner Sand (1819) folgte die Schließungsämtlicher (über 80) preußischen, bald auch dermeisten andern deutschen Turnplätze und Jahns Verhaftung. Nunwurde zwar auch während dieser Zeit der sogen. Turnsperre annicht wenigen Orten fortgeturnt, und namentlich hatte Ernst Eiselen(s. d.) Verdienste um die dauernde Pflege und innere Weiterbildungder T., desgleichen Klumpp in Stuttgart, H. F. Maßmann (s.d.) in München; der eigentliche Lebensnerv war aber der Sachedurch den Ausschluß der Öffentlichkeit und Jahnserzwungene Fernhaltung unterbunden. Erst der durch Ignaz Lorinsers(s. d.) Schrift "Zum Schutz der Gesundheit in den Schulen"hervorgerufene Schulstreit über die körperlicheSchädigung der Jugend durch den Schulunterricht, ferner dieErweckung des deutschen Nationalgefühls durch diefranzösischen Rheingrenzgelüste im J. 1840 und dergleichzeitige Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV. brachtenfür die Turnsache wieder bessere Zeiten; durch dieKabinettsorder vom 6. Juni 1842 wurden die Leibesübungen alsein "notwendiger und unentbehrlicher Bestandteil dermännlichen Erziehung" anerkannt und 1843 Maßmann behufsEinrichtung des Turnunterrichts im preußischen Staat nachBerlin berufen. Während jedoch letzterer an dieÜberlieferungen des Jahnschen, eine gemeinsame Beteiligung vonjung und alt auf den Turnplätzen voraussehenden, also Schul-und Vereinsturnen noch nicht scheidenden Turnbetriebs engeranknüpfte, als es sich mit der Aufgabe einer allgemeinenEinführung des Turnens an den Schulen vertrug, warmittlerweile durch Adolf Spieß (s. d.), welcher die Gebieteder Frei- und Ordnungsübungen erschlossen, den turnerischenÜbungssteff systematisch gegliedert und mit Rücksicht aufdas Schulturnen beider Geschlechter reich entwickelt hatte, der T.die nötige Ergänzung zu teil geworden, um alsSchulunterrichtsfach allgemein zur Einführung gelangen zukönnen.

[Bilduugsanstalten. Unterricht.] Für die weitereEntwickelung des Schulturnens und die methodische Verarbeitung desÜbungsstoffes war nicht ohne Bedeutung die Gründung vonTurnlehrerbildungsanstalten, wie der zu Dresden (1850) unter demauch als fruchtbarer Turnschriftsteller wirkenden Moritz Kloss(gest. 1881, seitdem unter Bier) und der preußischenZentralturnanstalt zu Berlin. Die letztere, die 1851-77 dieAbteilungen für die Ausbildung von Militär- undZivilturnlehrern vereinigte, suchte unter Rothsteins (s. d.)Oberleitung (bis 1863) die auf Lings (s. d.) System beruhende,sogen. schwedische Gymnastik zur Einführung zu bringen, dieaber von seiten der deutschen T. entschieden und erfolgreichbekämpft wurde und auch mehr und mehr dem deutschen TurnenPlatz machte, in der Zivilabteilung, die 1877 in eineselbständige Turnlehrerbildungsanstalt umgewandelt wurde,unter Karl Eulers (s. d.) Vermittelung. Für Württembergbesteht eine Turnlehrerbildungsanstalt seit 1862 in Stuttgart unterOtto Jäger (s. d.), der ein eignes Turnsystem eingeführthat, für Baden seit 1869 in Karlsruhe unter Maul (s. d.),für Bayern in München seit 1872 unter Weber. Auchfür Turnlehrerinnen bieten die meisten der gedachten Anstaltenneuerdings entsprechende Ausbildungsgelegenheit. In einzelnenkleinern deutschen Staaten werden Turnlehrerausbildungskurse vonZeit zu Zeit durch geeignete Kräfte abgehalten. - Auch dieTurnlehrerversammlungen, deren seit 1861 an verschiedenen Ortenzehn stattgefunden, haben durch Vorträge, Verhandlungen undVorführungen zur Förderung des Turnunterrichts undKlärung der für ihn geltenden Grundsätzebeigetragen.

Der Turnunterricht ist jetzt in Deutschland an den höhernSchulen und den Seminaren so gut wie allgemein, wenn auch an vielenOrten noch in unzulänglicher Form, eingeführt; auchfür die Knabenvolksschulen ist er in den meisten Staaten, inPreußen seit 1862, in Baden seit 1868, in Sachsen seit 1873,in Württemberg seit 1883, gesetzlich zur Pflicht gemacht,läßt aber hier noch vieles, an den Landschulenvielerorts noch so gut wie alles zu wünschen übrig. Mitdem Turnunterricht an Mädchenschulen ist man bisher meist nurin Städten vorgegangen. In der Regel beschränkt sich dieEinführung des Schulturnens auf zwei wöchentlicheUnterrichtsstunden, und selbst diese können wegen Mangelsgeeigneter Winterturnräume noch nicht überall das ganzeJahr hindurch fortgesetzt werden. Schulneubauten in Städtenerhalten jetzt in der Regel eigne Schulturnhallen. Außer demSchulturnen werden auch an nicht wenigen Orten noch Turnspielegepflegt, besonders seit dem dahin gehenden Erlaß despreußischen Ministers v. Goßler vom Oktober 1882. EineÜbersicht über die Entwickelung des Turnunterrichts undseinen Stand um das Jahr 1870 gibt die "Statistik des Schulturnensin Deutschland", hrsg. von I. K. Lion (Leipz. 1873); vgl. Pawel,Kurzer Abriß der Entwickelungsgeschichte des deutschenSchulturnens (Hof 1885). Vgl. auch Euler und Eckler, Verordnungenund amtliche Bekanntmachungen, das Turnwesen in

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Turnkunst (Vereine; das Turnen außerhalbDeutschlands).

Preußen betreffend (Leipz. 1869); Rud. Lion, Verordnungenund amtliche Bekanntmachungen, das Turnwesen in Bayern betreffend(2. Aufl., Hof 1884). - In der preußischen Armee wurde dasTurnen durch die "Instruktion für den Betrieb der Gymnastikund des Bajonettfechtens bei der Infanterie" von 1860 als denübrigen Dienstzweigen gleichtrechtigt anerkannt und geregelt.An die Stelle dieser seit 1871 für das ganze deutsche Heermaßgebenden Instruktion traten 1876 die "Vorschriftenüber das Turnen der Infanterie", die 1886 in veränderterForm erschienen. Entsprechend traten an die Stelle der "Instruktionfür den Betrieb der Gymnastik bei den Truppen zu Pferde" vomJahr 1869 die "Vorschriften über das Turnen der Truppen zuPferde" vom Jahr 1878.

[Vereine.] Auch das Vereinsturnwesen hat seit den 40er Jahrenmehr und mehr an Boden gewonnen, am raschesten in Sachsen, amMittelrhein und in Württemberg; dasselbe ist auch auf dieEinführung des Jugendturnens wie auf die technische Gestaltungdes Turnbetriebs von großem Einfluß gewesen. BesondereAnregung für die Vereinsbildung gab, nachdem auch hierin nach1848 ein Rückschlag eingetreten, der Aufschwung unsersNationalgefühls im Jahr 1859; die deutschen Turnfeste zuKoburg (1860), Berlin (1861) und Leipzig (1863) gaben untersteigender Beteiligung und Begeisterung dem neuerwachtenturnerischen Leben Ausdruck und neue Anregung. Die Anzahl derVereine war von kaum 100, die sich bis 1859 erhalten hatten, bis1864 auf 1934 mit gegen 200,000 Angehörigen gestiegen. DieKriege der nächstfolgenden Zeit wirkten auf dieVereinsthätigkeit hemmend; doch war, während dieStatistik von 1869 nur noch gegen 1550 Vereine aufwies, derenAnzahl schon 1876 wieder auf 1789 mit gegen 160,000 Mitgliederngestiegen und betrug nach stetigem Wachstum 1889 an etwa 3600 Orten4300 mit gegen 370,000 Mitgliedern über 14 Jahre, darunter50,000 Zöglinge. An Turnübungen nahmen teil 190,000 unter18,600 Vorturnern und zwar auch im Winter aus 3400 Vereinen; eigneTurnplätze besitzen 512, eigne Turnhallen 238 Vereine. (Vgl.die "Statistischen Jahrbücher der Turnvereine Deutschlands"von G. Hirth 1863 u. 1865, das dritte "Statistische Jahrbuch" vonGoetz und Böhme 1871 und "Turnzeitung" 1889, Nr. 27.) Diegroße Masse dieser Vereine (zur Zeit 3850) bildet, nachdemsie von 1860 an durch einen ständigen Ausschuß vertretenwar, seit 1868 die Deutsche Turnerschaft, deren Grundgesetz 1875neugestaltet, 1883 und 1887 revidiert worden ist. Dieselbe ist in17 Kreise geteilt: Kreis I umfaßt den Nordosten, II Schlesienund Südposen, IIIa Pommern, IIIb die Mark, IIIc die ProvinzSachsen, IV den Norden, V Niederweser und Ems, VI Hannover, VIIOberweser, VIII Niederrhein und Westfalen, IX Mittelrhein, XOberrhein, XI Schwaben, XII Bayern, XIII Thüringen, XIV dasKönigreich Sachsen, XV Deutsch-Österreich. Jeder dieserKreise ist in sich besonders organisiert, in Gaue gegliedert undhat an seiner Spitze einen Kreisvertreter. Letztere bilden mitfünf vom Turntag zu wählenden Mitgliedern denAusschuß der Deutschen Turnerschaft. An der Spitze desletztern stand von 1861 bis 1887 Theodor Georgii (Rechtsanwalt inEßlingen, geb. 1826 daselbst u. wohlverdient besonders um dasschwäbische Turnwesen; vgl. seine "Aufsätze undGedichte", hrsg. von I. K. Lion, Hof 1885); ihm folgte A. Maul (s.d.). Geschäftsführer der Deutschen Turnerschaft ist seit1861 der um die deutsche Turnsache hochverdiente Dr. med. Ferd.Goetz (geb. 1826 zu Leipzig, praktischer Arzt in Lindenau, seit1887 Abgeordneter zum deutschen Reichstag; vgl. seine"Aufsätze und Gedichte", Hof 1885). Aus den Abgeordneten derDeutschen Turnerschaft (auf je 1500 Turner einer) werden die in derRegel alle vier Jahre abgehaltenen Turntage gebildet. DieTurnfestordnung enthält insbesondere die Bestimmungen derWettturnordnung (s. d.). Weiteres über die Organisation derDeutschen Turnerschaft s. Goetz, Handbuch der DeutschenTurnerschaft (3. Ausg., Hof 1888). Das vierte deutsche Turnfest hat1872 in Bonn stattgefunden, das fünfte 1880 in Frankfurt, dassechste 1885 in Dresden, die letztern beiden von 9800, resp. 18,000Turnern besucht und große Fortschritte in denvorgeführten Leistungen aufweisend. Das siebente, 1889 inMünchen abgehaltene war von 21,000 Turnern besucht.

Leibesübungen außerhalb Deutschlands.

Die Wiederbelebung der Gymnastik in der deutschen T. hat auchden meisten Kulturländern außerhalb Deutschlands zugeregelter Pflege der Leibesübungen die Anregung und vielfachauch den Stoff gegeben; insbesondere sind der Aufschwung desdeutschen Vereins- und Schulturnens seit dem Jahr 1859 sowieDeutschlands Kriegserfolge in den darauf folgenden Jahren, vielfachauch die Gründung von Turnvereinen durch Deutsche im Auslanddie Veranlassung gewesen, sich in Förderung und Betrieb vonLeibesübungen mehr oder minder eng an das Vorbild desdeutschen Turnens anzuschließen. Schon die Wirksamkeit vonGuts Muths hat im Ausland kaum weniger Nachfolge gefunden als beiuns. So haben vor allem in Dänemark die Leibesübungennach seinem Vorbild durch F. Nachtegall früh Eingang undseitdem in Schule und Heer, weniger im Vereinsturnen, Verbreitunggefunden. Schon 1827 wurde hier Turnunterricht für alleKnabenschulen vorgeschrieben. Auf in Dänemark erhaltenenAnregungen fußend, hat in Schweden P. H. Ling (s. d.) eineignes System der Gymnastik aufgestellt, das bei uns so genannteschwedische Turnen, aber im Gegensatz zu der aus lebendiger Praxisherausgewachsenen deutschen T. auf Grund von dürren,scheinwissenschaftlichen anatomischen und physiologischenSpekulationen. Dasselbe hat, abgesehen von seiner Verwendung alsHeilgymnastik (s. d.), außer Schweden vorübergehenddurch Rothstein (s. d. und oben) in Preußen Eingang gefunden.An den Schulen Schwedens, wenigstens den höhern, werden jetztdie Leibesübungen, und zwar nicht mehr in der vollenEinseitigkeit des Lingschen Systems, in ausreichenderer Zeitgepflegt als in Deutschland; auch werden sie hier und in Norwegendurch Vereine (in Schweden i. J. 1885: 46 mit 2500 Mitgliedern)betrieben. Am unmittelbarsten ist mit der Entwickelung derdeutschen T. außer den Erziehungsanstalten der deutschenOstseeprovinzen Rußlands das Turnwesen Österreichs undder Schweiz Hand in Hand gegangen. In den deutschen LändernÖsterreichs, vor allen in Siebenbürgen, wurde das Turnennach den Befreiungskriegen vereinzelt in Schulen und Vereinengepflegt; das Mißtrauen der Behörden wich auch hier nach1848 allmählich einer wohlwollenden Duldung, bis derTurnunterricht seit 1869 an allen Knabenvolksschulen, fastallgemein an den Realanstalten und zumeist an den Gymnasiengesetzlich eingeführt wurde. Dies war auch hier wesentlich miteine Folge großer Verbreitung und rührigerThätigkeit der Turnvereine seit 1860. Letztere blieben mit derdeutschen Turnerschaft (als deren XV. Kreis, s. oben) dauernd

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Turnkunst (Turngeräte).

in Verbindung und beteiligen sich an ihren Festen. Auch ohnesolche Gemeinsamkeit der Vereinsorganisation hat das Turnwesen derSchweiz schon durch Wirken von Männern wie Spieß undMaul (s. d.) enge Fühlung mit dem deutschen behalten. Auchhier liegen die Keime der spätern Entwickelung, abgesehen vonder Thätigkeit des durch Guts Muths angeregten OffiziersPhokion Heinrich Clias (Käslin; geb. 1782, gest. 1854),hauptsächlich im Vereinsturnen, besonders an den Hochschulendeutschen Stammes, und schon 1832 wurde ein EidgenössischerTurnverein gebildet, der in "Sektionen" (1886: 122 mit 6000Mitgliedern; außerdem noch viele freie Vereine) zerfälltund seit 1873 alle zwei Jahre (früher alljährlich) daseidgenössische Turnfest feiert, in dessen Wettkämpfeschon 1855 auch die in der Schweiz seit langem volkstümlichenKünste des Schwingens, Ringens (s. d.), Steinstoßens u.a. mit aufgenommen wurden (vgl. Niggeler, Geschichte desEidgenössischen Turnvereins, Bern 1882). Auch das Schulturnender Schweiz ist infolge des Wirkens trefflicher Turnlehrer, wieIselin, Niggeler, Jenny, dem deutschen entsprechendfortgeschritten. In einigen größern Städten gehenneben ihm noch die auf unmittelbare militärischeJugenderziehung abzielenden sogen. Kadettenkorps her (s.Jugendwehren); auf dem Land ist es vor allem um der Vorbildungfür das Milizsystem willen nach der "Turnschule für denmilitärischen Vorunterricht" zur Einführung gekommen. Ausder Schweiz wurde die T., und zwar wesentlich auf Grund derBetriebsweise von Spieß, nach Italien, wo schon vorher GutsMuthssche Anregungen gefruchtet hatten, verpflanzt durch Rud.Obermann, der (geb. 1812 zu Zürich, gest. 1869 in Turin) 1833nach Turin berufen wurde zur Einführung der Gymnastik in dassardinische Heer, doch auch den Anstoß gab zur Verbreitungdesselben in Schulen und Vereinen, hierbei insbesondereunterstützt durch den Grafen Ernesto Ricardi di Netro. 1883gab es 143 zu mehreren Bünden vereinigte Vereine mit 17,000Mitgliedern. Für die höhern Schulen wurde das Turnen 1861als freies, für fast alle Schulen 1878 als Pflichtfacherklärt und kommt allmählich zur Durchführung. Seit1863 gibt es eine Turnlehrerbildungsanstalt in Turin, seit 1888 inRom. In den Gymnasien Griechenlands ist teils gymnastischer, teilsmilitärischer Unterricht durch Verfügung von 1862 undGesetz von 1883 zur Einführung gekommen und in Athen eineTurnlehrerbildungsanstalt errichtet worden. In Erneuerung derOlympischen Spiele werden hier auch volkstümlicheWettkämpfe abgehalten. In Belgien und Holland sind nachschwachen Anfängen in den 30er Jahren seit 1860 sowohlzahlreiche Vereine entstanden mit einer der deutschen T. entlehntenBetriebsweise als auch ein entsprechendes Schulturnen. In Belgienumfaßte die Fédération belge de gymnastique1888: 70 Vereine mit etwa 7000 Angehörigen. In Holland gab esin demselben Jahr 230 Vereine, von denen 120 dem NederlandschGymnastik Verbond angehörten. Hier sind auch Vereine fürallerlei Sport stark vertreten. Letzterer beherrscht in Englandnoch so sehr das Feld mit der Pflege von angewandten Fertigkeiten,wie Rudern, Boxen, und von Ballspielen, daß die allgemeineGymnastik hier außer dem Heer, in das sie schon 1822-28 Clias(s. oben) einführte, und den von Deutschen gegründetenVereinen noch nicht viel Boden gewonnen hat. Auch Sport und Spielewerden fast nur von der wohlhabenden Minderheit gepflegt. InFrankreich haben sich gymnastische Übungen, besonders durchdie Thätigkeit des von Pestalozzi und Guts Muths angeregtenSpaniers Amoros (1770-1847), in erster Linie in der Armee Eingangverschafft und sind auch seitdem hauptsächlich als einwichtiger Zweig der militärischen Vorbildung in undaußer dem Heer gepflegt worden. Einen noch engernAnschluß der leiblichen Jugendbildung an das Heerwesenveranlaßten die Erfuhrungen von 1870/71 in Form derSchülerbataillone, die aber auch hier mehr und mehr Gegnerfinden und einer allgemeinen Gymnastik weichen. Seit 1880 ist dergymnastische Unterricht an sämtlichen Knabenschulen gesetzlichzur Pflicht gemacht. Die Militärturnschule zu Joinville lePont dient auch zur Ausbildung für Schulturnlehrer. Die vonder deutschen T. eingeführten Geräte, wie Reck undBarren, sind auch hier in Benutzung. Vereine entstanden ingeringerer Zahl in den 60er Jahren, in größerer seit1871, so daß im J. 1886 gegen 600 Vereine (mit 20,000Mitgliedern) bestanden, von denen die Union fédéraledes sociétés de gymnastique de France 171umfaßte. Die Gründung von Turnvereinen inüberseeischen Ländern ist in der Regel durch Deutscheerfolgt. Am ausgebreiteten ist das Turnvereinswesen der VereinigtenStaaten, wohin unter andern Schüler Jahns, wie Franz Lieberund Karl Follen (s. d.), die T. übertrugen, und wo derNordamerikanische Turnerbund 1888 über 250 Vereine mit 30,000Mitgliedern umfaßte und zeitweise ein Turnlehrerseminar,zuletzt in Milwaukee unter Brosius, bestand.

Turngeräte. Übungsgebiet.

Während die hellenische Gymnastik (s. d.) zu ihrenÜbungen außer dem Diskus, dem Wurfspeer, den Halterenund Bällen fast kein Gerät brauchte, sehen wir die neuereKunst der Leibesübung von vornherein darauf bedacht, fürihre Übungen, die planmäßig den Leib schulen, nichtnur im Wettkampf gipfeln und auch in geschlossenen Räumenbetrieben werden sollen, Geräte in ihren Dienst zu nehmen oderzu erfinden. So wurde das Springen und Schwingen (Voltigieren, s.d.) am künstlichen Pferd (s. d.) schon von Basedow (imAnschluß an den Reitunterricht der Zöglinge) und dannauch von Guts Muths und Jahn aus den Fechtböden undReitschulen herübergenommen, Basedow verwendete außerdemden Schwebebalken (Balancierbalken), einen Springel zur Messung vonHochsprüngen, Stäbe zum Stangenspringen, Sandsäckezur Belastung u. a. Bei Guts Muths finden wir auch Vorrichtungen zuWeit- und Tiefsprung und ferner vor allem ein Gerüst mitMastbaum, Leitern, Strickleitern, Kletterstangen, einen schrägansteigenden Querbalken und Seile zum Ziehen, Schwingen undSpringen u. a. Die der vielseitigsten Verwendung fähigenGeräte Reck und Barren und außerdem den Pfahl zumGerwerfen fügte Jahn hinzu. Bei Clias findet sich um dieselbeZeit (1816) auch der Triangel (Trapez, Schaukelreck) und einKlettertau mit Sprossen in großen Abständen. Bei Eiselenbegegnen uns zuerst der Bock (Springbock), die sogen.Streckschaukel (die sogen. römischen Ringe), der Rundlauf, dasSturmlaufbrett, die wagerechte Leiter, die Wippe und die wohl schonvon Jahn eingeführten Hanteln. Den schon von Eiselen benutztenkurzen Stab (Windestab) verwendete als Eisenstab (Wurfstab)besonders Jäger. Lion verwendete zuerst den kurzen und dendreiholmigen Barren und Gerätverbindungen, wie das Kreuzreck,das Doppelreck (mit zwei Stangen untereinander), den hohen Barren(mit zwei Stangen nebeneinander). Die Militärgymnastikführte an Stelle des Recks den Querbaum ein, an

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Turnkunst (Frei-, Ordnungs-, Gerätübungen; Vereins- u.Schulturnen etc.).

Stelle des Pferdes den Kasten (s. Tisch), der seit 1881 wiederabgeschafft ist, und die Hindernisbahn mit demEskaladiergerüst. Über den seit Jahn vielfachvervollkommten Bau der Turngeräte und die Einrichtung vonTurnräumen vgl. Lion, Werkzeichnungen von Turngeräten (3.Aufl., Hof 1883); Euler und Kluge, Turngeräte undTurneinrichtungen (Berl. 1872); W. Angerstein, Anleitung zurEinrichtung von Turnanstalten (das. 1863).

Das Übungsgebiet der T. umfaßt Übungen ohneGeräte und Übungen mit oder an solchen. Die ersternbeschränken sich aus die Ausnutzung derBewegungsfähigkeit des Leibes in sich oder mit andern, imerstern Fall als sogen. Freiübungen (s. d.) die einfachen odermiteinander verbundenen Gliederbewegungen im Stehen, Gehen, Laufen,Hüpfen und Springen umfassend, im letztern FallOrdnungsübungen (s. d.) genannt, welche die Aufstellungen,Gliederungen und Bewegungen einer Mehrzahl von Übenden lehrenund sich mit den militärischen (taktischen) Formen desExerzierens oder denen des Tanzes berühren. Beide,insbesondere die letztern, können ihres rhythmischen Gehaltswegen mit Gesang oder Musikbegleitung in Verbindung treten. Hierreihen sich dann die Bewegungsspiele an, welche die T. mit in ihrenBereich gezogen hat (vgl. Spiel), ferner das Ringen (s. d.) undBoxen und auch die Turnfahrten genannten Dauermärsche. DieGerätübungen sind einmal solche, bei denen das Gerätselbst bewegt wird, also die Übungen mit Hanteln (s. d.),Stäben (s. Stabübungen), Keulen (s. d.) u. dgl., dasZiehen und Schieben, das Werfen von Kugeln, Steinen, Stangen(Gerwerfen), Scheiben (vgl. Diskos) und Bällen, endlichverschiedene Arten des Fechtens. Die andern Gerätübungengliedern sich nach der Art der an ihnen vollzogenenLeibesbewegungen in die sogen. Turnarten des Schwebens aufbeschränkter (Schwebepfähle, Schwebebaum, Kante) oderbeweglicher Unterlage (z. B. Stelzen, Schaukeldiele), des Springens(Springbrett, Schwungbrett, Sturmspringel, Springen im Reifen undim Seil), des Stützens auf den obern Gliedern (besonders amBarren, Reck und Pferd), des Hangens (Leiter, Ringe, Rundlauf,Reck). Aus abwechselndem Hangen der obern und Stemmen der unternGlieder bildet sich das Klettern (Kletterstange, -Mast und -Seil);das mit vorübergehendem Stützen verbundene Springenergibt die Übungen des gemischten Sprunges (besonders am Bock,Pferd, Tisch, doch auch am Reck und Barren, dazu auch dasStangenspringen). Die Verbindung von Hangen und Stützenerlaubt am ausgiebigsten das Reck (vgl. Schaukelgeräte).

Daß das reiche Gebiet der Turnübungen auch eineangemessene sprachliche Bezeichnung gefunden hat, ist wesentlichdas Verdienst F. L. Jahns, den sowohl in Aufnahme von im Volksmundüblichen Worten für Übungen und Geräte als infreier Gestaltung von neuen Bezeichnungen ein sicherer Blickgeleitet hat. Neuerdings hat sich um die Turnsprache besondersWaßmannsdorff (s. d.) Verdienste erworben. - DieÜbungsauswahl und Betriebsweise richten sich natürlichsowohl nach dem Zweck, der die Übenden auf den Turnplatzgeführt hat, als nach dem Alter und Geschlecht derselben.Daher beim Turnen der Soldaten außer den Rücksichten aufdie besondere Verwendung der einzelnen Waffengattungen(Übungen der Hindernisbahn) eine beschränktere Auswahlvon den der großen Masse erreichbaren Übungen in derstraffen Übungsform militärischer Disziplin; beimVereinsturnen, der freiwilligen Beteiligung und der Vereinigung derverschiedensten Altersklasen entsprechend, ein Zurücktretender lehrhaften Form, größerer Einfluß derBewegungs- und Leistungslust auf Auswahl und Ausführung derÜbungen, also eine Bevorzugung des Kunstturnens anGeräten; dabei größere Freiheit sowohl für dasVortreten von Stammeseigentümlichkeiten als fürindividuelle Ausbildung. Das Schulturnen zeigt je nach der Art derSchule und dem Alter und der Menge der Übenden bald eine mehrspielartige Form des Betriebs, bald eine Annäherung an diestraffe militärische Drillung, wie besonders in der Form derGemeinübungen mit und ohne Geräte, oder auch an diefreiere Betriebsart der Vereine in Riegen unter Schülern alsVorturnern. Doch weicht die letztere Form wegen der für sie zuoft mangelnden Vorbedingungen mehr und mehr dem Turnen dergeschlossenen Schulklassen unter einzelnen Lehrern. Speziell dasMädchenturnen bevorzugt unter Beschränkung derÜbungen an Geräten die tanzähnlichen Hüpfartenund reigenartigen Ordnungsübungen. (Über Zimmergymnastikund Heilgymnastik s. d.) In allen diesen Betriebsformen hat dasfrühere meist Übungen verschiedenster Art regellosdurcheinander werfende Verfahren in den letzten Jahrzehnten mehrund mehr dem auf der systematischen Gliederung des Turnstoffsfußenden, Gleichartiges zusammenstellenden, schwierigereÜbungen stufenweise aus ihren Elementen entwickelnden sogen.Schuleturnen, bez. Gruppenturnen Platz gemacht.

[Litteratur.] Aus der schon stark angewachsenen Litteratur desTurnwesens sind außer den oben und in den betreffendenArtikeln aufgeführten Werken von Spieß,Waßmannsdorff, Jäger, Lion, Euler und Maul noch zuerwähnen: a) Allgemeines: G. Hirth, Das gesamte Turnwesen(Leipz. 1865, eine Sammlung von 133 Aufsätzen verschiedenerVerfasser mit geschichtlicher Einleitung); F. A. Lange, DieLeibesübungen (Gotha 1863); Ed. Angerstein, TheoretischesHandbuch für Turner (Halle 1870); b) für dieÜbungslehre: A. Ravenstein, Volksturnbuch (3. Aufl., Frankf.1876); Kloss, Katechismus der T. (6. Aufl., Leipz. 1887); Puritz,Merkbüchlein für Vorturner (8. Aufl., Hannov. 1887; auchins Französische, Englische und Holländischeübersetzt); Derselbe, Handbüchlein turnerischerOrdnungs-, Frei-, Hantel- und Stabübungen (2. Aufl., Hof1887); c) für das Schulturnen: Niggeler, Turnschule fürKnaben und Mädchen (2 Tle.; 8. u. 5. Aufl., Zürich 1888und 1877); Kloss, Die weibliche T. (4. Aufl., Leipz. 1889); F.Marx, Leitfaden für den Turnunterricht in Volksschulen (4.Aufl., Bensh. 1886); Derselbe, Das Mädchenturnen in der Schule(das. 1889); Hausmann, Das Turnen in der Volksschule (4. Aufl.,Weim. 1882); Stöckl, Das Schulturnen (Graz 1885); Schettler,Der Turnunterricht in gemischten Volksschulklassen (Hof 1881);Schurig, Hilfsbuch für das Gerätturnen in der Volksschule(das. 1883); Schettler, Turnschule für Mädchen (2 Tle.;6. u. 5. Aufl., Plauen 1887); d) Geschichtliches: Iselin,Geschichte der Leibesübungen (Leipz. 1886); Brendicke,Grundriß zur Geschichte der Leibesübungen (Köthen1882); e) Verschiedenes: Kohlrausch, Physik des Turnens (Hof 1881);Bach und Fleischmann, Wanderungen, Turnfahrten undSchülerreisen (2. Aufl., Leipz. 1885-87, 2 Tle.); f)Zeitschriften: "Deutsche Turnzeitung" (Leipz., seit 1856, Organ derdeutschen Turnerschaft); "Jahrbücher verdeutschen T." (hrsg.von Kloss, Dresd., seit 1855; neue Folge hrsg. von Bier, Leipz.,seit 1882); "Monatsschrift für das Turnwesen" (hrsg. vonEuler

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Turn-out - Turretin.

und Eckler, Berl., seit 1883); g) Literaturnachweis: Lentz,Zusammenstellung von Schriften über Leibesübungen (4.Aufl., das. 1881); "Bücherverzeichnis des Archivs derdeutschen Turnerschaft" (2. Aufl., Leipz. 1885); Brendicke,Verzeichnis einer Turnvereinsbibliothek (Eisl. 1885).

Turn-out (engl., spr. törn-aut, "Ausrücken,Herausgehen"), in England die Einstellung der Arbeit durchFabrikarbeiter in Masse.

Turnpike (engl., spr. törnpeik), Drehkreuz, inEngland an Straßen bei Mauthäusern angebracht zum Zweckder Erhebung des Wegegeldes, daher Turnpike-roads, Straßenmit solchen Drehkreuzen.

Turnu-Magurele, Hauptstadt des rumän. KreisesTeleorman (Walachei), am Einfluß der Aluta in die Donau,gegenüber dem bulgarischen Nikopoli, mit lebhaftem Hafenfür Getreideausfuhr und 5780 Einw.; nach einigenrömischen Ursprungs. Hier 1598 Schlacht zwischen Michael demTapfern und den Türken, 1853 zwischen Türken undRussen.

Turnus (neulat.), die wiederkehrende Reihenfolgeirgendwelcher Verrichtungen, zu denen verschiedene Personenberechtigt oder verpflichtet sind.

Turnu-Severin, Hauptstadt des Kreises Mehedintzi in derWalachei, bedeutender Donauhafen und Station der Eisenbahn Chitila-(Bukarest-) Verciorova, ist Sitz des Präfekten und einesTribunals und hat 9 Kirchen, eine Gewerbeschule, 8000 Einw. (meistFremde, darunter viele Deutsche), welche einen lebhaftenHandelsverkehr (namentlich mit Wolle und Fellen) sowie dieGetreideausfuhr nach Österreich und Deutschland vermitteln.Hier hat die Donaudampfschiffahrtsgesellschaft eine Agentur, eineansehnliche Schiffswerfte, Maschinenbauwerkstätte (300Arbeiter) und ein Hospital. Dabei die Pfeilerüberreste der vonKaiser Trajan 104-106 n. Chr. erbauten steinernen Donaubrückesowie die Ruinen einer vom Kaiser Alexander Severus erbauten Burg,von welcher die Stadt ihren Namen hat.

Turócz (spr. tuhroz), ungar. Komitat am linkenDonauufer, von den Komitaten Trentschin, Árva, Liptau, Sohl,Bars und Neutra begrenzt, 1150 qkm (20,9 QM.) groß, bildeteine ringsum von Karpathenzweigen umgebene, wellenförmige,flache und fruchtbare Ebene. Im NO. erhebt sich das bewaldeteFátragebirge. Den nördlichen Teil durchströmt dieWaag, in die sich der Fluß T. ergießt. Hauptproduktesind: Kartoffeln, Hafer, Heidekorn, Flachs, Hanf u. Holz; Getreidewird wenig gewonnen. Die üppigen Wiesen und Triftenbegünstigen die Viehzucht (besonders Schafzucht). Unter denMineralquellen verdienen die Thermen in Stuben Erwähnung. DieEinwohner, (1881) 45,933 an der Zahl, sind meist Slawen, teilskatholisch, teils evangelisch. Das Komitat wird von derKaschau-Oderberger Bahn durchschnitten, an welche sich bei Ruttkadie Ungarische Staatsbahn anschließt. Sitz des Komitats istT.-Szent-Márton, Station der Ungarischen Staatsbahn, mitUntergymnasium, Handelsschule, Bezirksgericht und (1881) 2341Einw.

Turon, s. Kreideformation, S. 183.

Turopolje (ungar. Túrmezö), privilegierterDistrikt im kroatisch- slawon. Komitat Agram, südlich vonAgram, mit 24 Ortschaften, deren Einwohner vom König Bela IV.geadelt wurden und besondere Vorrechte erhielten. In letzter Zeithatte T. nur noch das Recht der selbständigen Verwaltung undwar in der Komitatskongregation durch einem Comes (Zupan)vertreten. Hauptort ist Gorica velika, Dorf an der BahnlinieAgram-Sissek, mit 672 Einw. und Bezirksgericht.

Turpethum minerale, s. v. w. basisch schwefelsauresQuecksilberoxyd.

Turpin, Johann, Benediktinermönch im KlosterSt.-Denis, ward 753 Erzbischof von Reims, befand sich 769 auf demzu Rom wegen der Bilderverehrung abgehaltenen Konzil und starb 800.Die Angabe, daß T. Karls d. Gr. Geheimschreiber, Freund undWaffengefährte gewesen sei, gehört ins Gebiet der Sage.Die unter Turpins Namen vorhandene lateinische Chronik überKarls Zug nach Spanien, die seit 1160 in einer lateinischenHandschrift im Kloster St.-Denis aufbewahrt wird und Anfang des 12.Jahrh. auf Befehl des damaligen Erzbischofs Guido von Vienne, desspätern Papstes Calixt II., der eine 1050 in Compostelaverfaßte Schrift aus Spanien mitgebracht hatte, auf Grundderselben verfaßt worden ist, enthält Lieder und Sagenaus dem karolingischen Sagenkreis, doch in kirchlichem Interesseund legendenartig umgestaltet. Die besten Ausgaben lieferten Ciampi(Flor. 1822) und Reiffenberg (in der "Chronique de PhilippeMouskes", Brüssel 1836, 2 Bde.); ins Deutsche übersetztesie Hufnagel (im "Rheinischen Taschenbuch" 1822). Vgl. GastonParis, De Pseudo-Turpino (Par. 1865).

Turpithwurzel, s. Ipomoea.

Türr, Stephan, ungar. Patriot, geb. 10. Aug. 1825 zuBaja, trat als Leutnant in ein ungarisches Grenadierregiment,welches 1848 in Italien focht, ging im Januar 1849 zu denPiemontesen über und organisierte eine ungarische Legion,focht nach der Schlacht bei Novara auf seiten der Insurgenten inBaden, trat 1854 in englische Dienste, ward 1855 auf einer Reisebehufs Ankaufs von Pferden in Pest verhaftet, aber wiederentlassen, kämpfte 1859 als Hauptmann der Alpenjägerunter Garibaldi gegen die Österreicher, 1860 in Sizilien undNeapel und erlangte den Rang eines Divisionsgenerals, nachdem erals Gouverneur von Neapel viel zu dessen Vereinigung mit Italienbeigetragen. 1866 bereitete er eine Insurrektion in Ungarn vonSerbien aus vor. 1867 kehrte er nach Ungarn zurück, wo er, mitEntwürfen von Kanalbauten und industriellen Unternehmungenbeschäftigt, lebt. Mitunter nahm er als vertrauterUnterhändler zwischen Österreich, Italien und Frankreich(so bei den Verhandlungen über ein Bündnis 1869-70) nochan der Politik teil; seit 1881 leitet er den Bau des Kanalsüber den Isthmus von Korinth. Vgl. Schwarz, Stephan T. (Wien1868, 2 Bde.).

Turretin (Turretin), ein Genfer Theologengeschlecht,abstammend von dem 1579 in die Schweiz eingewanderten Franz T. ausLucca. Sein Sohn Benedikt T., geb.1588 zu Zürich, ward in Genf1612 Pfarrer und 1618 Professor der Theologie; er starb 1631.Dessen Sohn Franz T., geb. 1623, bekleidete eine gleiche Stelle bis1653 und starb 1687, nachdem er sich an der Herstellung desConsensus helveticus (s. d.) beteiligt hatte, welcher dann 1706 aufBestreben seines Sohns wieder abgeschafft wurde. Dieser, JohannAlfons T., geb. 1671, gebildet in Holland, England und Frankreich,trat 1693 in geistlichen Dienst und lehrte seit 1697Kirchengeschichte, daneben seit 1705 auch Dogmatik und übtebis zu seinem 1. Mai 1737 erfolgten Tod einen großen undwohlthuenden, durchaus ermäßigenden und auf Herstellungder Union mit den Lutheranern gerichteten Einfluß auf diereformierte Kirche in und außerhalb der Schweiz. Ebensoerfreuten sich seiner Zeit seine dogmatischen undkirchenpolitischen, exegetischen und kirchenhistorischen Werkeeines begründeten Ansehens. Vgl. die biographischen Schriftenvon Budé über

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Turris ambulatoria -- Tussilago.

Benedikt T. (Genf 1871), Franz T. (Laus. 1871) und Joh. AlfonsT. (das. 1880).

Turris ambulatoria, s. Wandelturm.

Türschmann, Richard, Recitator, geb. 26. Mai 1834 zuPenig in Sachsen, besuchte die Thomasschule und dieUniversität in Leipzig, ging dann zur Bühne und fand,nachdem er an verschiedenen Orten aufgetreten war, am Hoftheater zuBraunschweig als erster Charakterdarsteller Anstellung. Infolgefast gänzlicher Erblindung warf er sich dann auf die Kunst derdramatischen Recitation, die er seit 1872 mit großem undverdientem Erfolg ausübte. Sein Repertoire umfaßt dieMeisterwerke Sophokles', Shakespeares, Goethes, Lessings etc., dieer alle frei aus dem Gedächtnis vorträgt. Seinen Wohnsitzhat T. gegenwärtig in Blasewitz bei Dresden.

Tursellinus, s. Torsellino.

Tursi, Stadt in der ital. Provinz Potenza, KreisLagonegro, Bischofsitz, mit Kathedrale, Baumwollbau und (1881) 3174Einw.; wurde im 9. Jahrh. von den Arabern erbaut.

Turteltaube, s. Tauben, S. 535.

Turtle (engl., spr. törtl), Schildkröte;Turteltaube.

Turtmanthal, linksseitiges Nebenthal des Rhône inder Schweiz. Der Thalbach, als Abfluß des vom Weißhornherabsteigenden Turtmangletschers (s. Matterhorn),durchfließt ein hohes, einsames Alpenthal und erreicht denRhône mit einem 24 m hohen Fall bei dem an der BahnlinieBouveret-Brieg liegenden Orte Turtman (Tourtemagne).

Turtur (lat.), Turteltaube.

Turuchansk, Stadt im sibir. Gouvernement Jenisseisk, nahedem Polarkreis, an der Grenze, wo die Jagd- und FischervölkerOstjaken, Samojeden und Tungusen aneinanderstoßen, hathölzerne Befestigungen und (1886) 157 Einw., welche Pelzhandelbetreiben.

Turzovka, Dorf im ungar. Komitat Trencsin, an derKisucza, mit (1881) 6952 slawon. Einwohnern.

Tuscaloosa (spr. -lusa), Stadt im nordamerikan. StaatAlabama, am schiffbaren Black Warrior River, ist Sitz der 1831gegründeten Universität von Alabama und derStaatsirrenanstalt und hat (1880) 2468 Einw. Bis 1847 war T.Hauptstadt des Staats.

Tuscaróra, nordamerikan. Indianerstamm vom Volkder Irokesen, früher am Tar und der Neuse in Nordcarolinaansässig, wurde 1711 in einen Krieg mit den Kolonistenverwickelt und zog sich infolge dessen ins Innere des Staats NewYork zurück, wo die Reste des Stammes (1883: 434 Seelen) eineReservation bewohnen.

Tuscarora-Expedition, s. Maritime wissenschaftlicheExpeditionen, S. 257.

Tusch, das weder an Rhythmus noch Melodie gebundene, aberinnerhalb eines und desselben Akkords vor sich gehendeDurcheinanderblasen der Trompeter und Harmoniemusiker bei Toastenetc. Burschikos (Touche) s. v. w. Beleidigung.

Tusche, Farben zum Kolorieren von Zeichnungen, stimmen inden bessern Sorten mit den Ackermannschen und LeFrance-Aquarellfarben überein, werden aber auch von sehr vielgeringerer Qualität dargestellt. Die Farbkörper werdenwenigstens für die bessern Sorten ebenso angerieben wiefür die Aquarellfarben und zwar mit einem in Wasser nicht zuschwer löslichen Bindemittel (Leim, Gummi arabikum, Tragant,auch wohl etwas Zucker), dann zum steifen Teia eingetrocknet,geformt, gepreßt und völlig getrocknet. Für jedeeinzelne Farbe ist Quantität und Beschaffenheit desBindemittels durch besondere Versuche zu ermitteln. Die chinesischeT. (chinesische Tinte), eine schwarze Wasserfarbe, wird in Chinaaus sehr sorgfältig bereitetem Ruß hergestellt, den manaus vorher möglichst entharztem Nadelholz gewinnt und mit 1/10Ruß aus Sesamöl, auch mit etwas Kampferrußvermischt, mit tierischem Leim bindet und mit Moschus und Kampferparfümiert. Die im Handel vorkommenden Täfelchen sind mitoft vergoldeten Handelszeichen versehen. Die T. soll um so bessersein, je tiefer sie in Wasser einsinkt; am meisten schätzt mansolche, welche auf Papier mit zimtfarbenem Schimmerglänzt.

Tuschen (Tuschmanier, franz. Dessin au lavis),Mittelglied zwischen Zeichnen und Malen, besteht in dem Eintragender Schatten in eine bloß in den Umrissen angelegte Zeichnungdurch allmähliches Überarbeiten mit immer dunklernFarben. Gewöhnlich werden Tuscharbeiten einfarbigausgeführt, meist schwarz mit chinesischer Tusche, oft auchbraun mit Sepia, hin und wieder aber auch bunt. Bei einergetuschten Zeichnung ist hauptsächlich Gewicht auf zarte,genaue Umrisse, weichen, saftigen Schatten, recht rein gehalteneLichter und markige Drucker in den dunkelsten Stellen zu legen. DieTuschzeichnung ist gegenwärtig durch die vielseitigereAquarellmalerei in den Hintergrund gedrängt worden. Vgl. auchSchattierung.

Tusculum, im Altertum Stadt in Latium, im Albanergebirgegelegen, schloß sich nach der Niederlage der Tarquinier amSee Regillus um 496 an die Römer an und erhielt 379römisches Bürgerrecht. Am Latinerkrieg (340-338)beteiligte sich T. gegen Rom, wurde aber nach seiner Besiegung mildbehandelt. In der Umgegend lagen seit der letzten Zeit der Republikdie Villen vornehmer Römer, z. B. des Lucullus, Jul.Cäsar, Hortensius, Cato, Marius und namentlich Cicerosberühmtes Tusculanum. Im Mittelalter geriet T. mit Rom inheftige Feindschaft, indem es auf seiten der Kaiser stand. Als aber1191 Papst Cölestin III. und Kaiser Heinrich VI. Friedenschlossen, zerstörten die Römer die Stadt. IhreTrümmer (Amphitheater, Theater, Burg) liegen östlichoberhalb Frascati. Vgl. Canini, Descrizione del antico T. (Rom1841).

Tuscumbia, Stadt im nordamerikan. Staat Alabama, unferndes Tennesseeflusses, mit (1880) 1369 Einw.; hier 13. Dez. 1864Sieg der Unionsarmee über die Konföderierten.

Tuskar, Inselchen mit Leuchtturm im St. Georgskanal ander Südostspitze von Irland, 10 km vom Carnsore Point.

Tusker (Tusci), die alten Bewohner Etruriens (s. d.);daher Tuscia, s. v. w. Etrurien; Tuskisches Meer (Mare Tuscum), s.v. w. Tyrrhenisches Meer.

Tuslü (Tusly), Salzsee im russ. GouvernementTaurien, Kreis Eupatoria, hat 15 km im Umfang, trocknet im Sommerfast ganz aus und wird zu Salzgewinnung und Schlammbädernbenutzt.

Tusnád, Badeort im ungar. Komitat Csik(Siebenbürgen), 656 m hoch, in einer Bergschlucht amAltfluß, mit alkalisch-muriatischen Eisensäuerlingen. Inder Nähe der schieferhaltige Berg Büdös (TorjaerStinkberg) und der St. Annensee.

Tussackgras, s. Festuca.

Tussilago Tourn. (Huflattich), Gattung aus der Familieder Kompositen, mit der einzigen Art T. Farfara L. (Brust-,Eselslattich, Roßhuf, Quirinkraut), einer ausdauerndenPflanze mit tief gehendem, kriechendem Wurzelstock,grundständigen, langgestielten, herzförmigen, eckigen,unten dicht- und weißfilzigen Blättern und einzelnend-

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Tussis - Tuzla.

ständigen, gelben, vor den Blättern sich entwickelndenBlüten, wächst auf feuchten, thonigen Feldern in Europaund dem gemäßigten Asien, auf Äckern ein schwerauszurottendes Unkraut. Offizinell sind die geruchlosenBlätter als bitterschleimiges und adstringierendes Mittel. T.Petasites, s. Petasites.

Tussis (lat.), Husten.

Tussoo (Tössuh), ind. Längenmaß, = 1/16Hath = 1/32 engl. Yard = 0,029 m.

Tutamen (lat.), Schutzmittel. Tutauiablech, s.Britanniametall.

Tute, s. Blatttute. Tutel (lat.), s. Vormundschaft.

Tutela, bei den Römern Schutzgöttin eines Ortesoder einer Person.

Tuten, in der Probierkunst benutzte Schmelztiegel mitFuß.

Tutenag, ordinäres chines. Neusilber.

Tutenmergel, s. Nagelkalk.

Tuthmofis, Name mehrerer ägypt. Könige, vondenen T. III. (1625-1565 v. Chr.) nach der Vertreibung der Hyksoszahlreiche Feldzüge nach Syrien unternahm und die Küstewie das Bergland bis Damaskus und Hamat unterjochte; ebensounterwarf er das untere Nubien; seine Siege verherrlichte er durchInschriften auf feinen prachtvollen Bauten in Theben undanderwärts.

Tutikorin (Tutukudi), Hafenstadt an derSüdostküste der indobrit. Präsidentschaft Madras, amGolf von Manaar, Endstation der Südindischen Eisenbahn, mitkatholischer Mission, einem Nonnenkloster und (1881) 16,281 Einw.(ein Drittel Katholiken), welche bedeutenden Handel undPerlenfischerei betreiben. T. ist Sitz eines deutschenKonsulats.

Tutiliina , röm. Gött.n desGetreideeinfahrens.

Tutor (lat.), Vormund, s. Vormundschaft. In England istT. (spr.tjuhter) Titel für gewisse Universitätslehrer,und zwar unterscheidet man College tutors und Private tutors ; dieerstern, angestellte Professoren, fungieren in den einzelnenColleges als Aufseher und Studienleiter, während die letztern,als Fellows (s.d.) der Universität attachiert, zu denStudenten im Verhältnis bezahlter Privatlehrer stehen.

Tutowa, rumän. Kreis in der Moldau, mit derHauptstadt Berlad.

Tutti Frutti (ital."alle Früchte"), Gericht, ausverschiedenen Gemüsen oder Früchten zusammengesetzt,Allerlei (auch als Büchertitel gebraucht, z. B. von FürstPückler).

Tutilingen, Oberamtsstadt im württembergischenSchwarzwaldkreis, an der Donau, unweit der badischen Grenze,Knotenpunkt der Linien Rottweil-Immendingen und T.-Sigmaringen derWürttembergischen Staatsbahn, 643 m ü. M., hat eineevangelische und eine kath. Kirche, eine Kinderrettungs- undErziehungsanstalt, ein Denkmal des Dichters Schneckenburg er, einAmtsgericht, ein Kameralamt, ein neues Schlachthaus, bedeutendeSchuhfabrikation, Fabriken für chirurgische Instrumente,Messer, Leder und Wollwaren, Bierbrauerei, einen Wollmarkt,lebhaften Getreidehandel u. (1885) 8659 meist evang. Einwohner. Inder Nähe das königliche Eisenhammerwerk Luwigsthal.Über der Stadt auf einem Berg liegen die schönen Ruinendes Schlosses Honberg, das im

Krieg zerstört wurde. Südöstlich davon, meist aufbadischem Gebiet, die Tuttlinger Höhe (864 m) mit herrlicherAussicht nach den Alpen. Die Stadt T. stammt wohl schon aus derRömerzeit; sie gehörte dann zur Grafschaft Baar und kamim 15. Jahrh. an Württemberg. Hier 24. Nov. 1643 Sieg derÖsterreicher und Bayern unter Johann v. Werth, Hatzfeld undMercy über die Franzosen unter dem Grafen Rantzau.

Tutto (ital.), ganz; Tutta la forza, musikal.Vortragsbezeichnung, s. v. w. mit ganzer Kraft; Tutti, s.v.w. alle,womit im Gegensatz zu Solo (s. d.) der Einsatz des Orchesters oderChors angezeigt wird.

Tutuila, eine der Samoainseln (s. d., S. 260).

Tütz, Stadt im preuß. RegierungsbezirkMarienwerder, Kreis Deutsch-Krone, zwischen drei Seen, hat eineevangelische und eine kath. Kirche, ein Schloß und (1885)2045 Einw.

Tutzing, Dorf im bayr. Regierungsbezirk Oberbayern,Bezirksamt München II, am Starnberger See, Knotenpunkt derLinien München -Peißenberg und T.-Penzberg derBayrischen Staatsbahn, ein beliebter Sommeraufenthalt derMünchener, hat eine kath. Kirche, ein Schloß,schöne Villen, Bierbrauerei und (1885) 800 Einw.

Tuwumba (engl. Toowoomba), Stadt in der britisch-austral.Kolonie Queensland, Grafschaft Aubigny, an der EisenbahnlinieBrisbane-Roma, das Zentrum des reichen Weidedistrikts der DarlingDowns, mit Hospital, 5 Bankfilialen und (1881) 6270 Einw., darunterüber 1000 Deutsche, die hier 2 Kirchen und 2 Schulenhaben.

Tüxpam, Seehafen im mexikan. Staat Veracruz, an derMündung des gleichnamigen Flusses, hat ein Hospital, einGefängnis und (1880) 5979 Einw. im Munizipium. In derNähe (bei Chapopote) ist eine Petroleumquelle. Ausfuhr1883-84: 401,892 Pesos, bestehend aus Honig, Rohfellen, Kautschuk,Ze-dernholz, Gelbholz, Sassaparille etc.

Tuxtla, thätiger Vulkan an der Küste vonMexiko, südlich von Veracruz, 1560 m hoch.

Tuxtla Gutierrez, Stadt im mexikan. Staat Chiapas, am RioMescalapa, 50 km westlich von San Cristobal, hat Kakao- undTabakshandel und (1880) 6963 Einw.

Tuy, Bezirksstadt und Festung in der span. Pro-vinzPonteveora, am Minho und an der Eisenbahn von Monforte nach Vigo,gegenüber der portugiesischen Festung Valenca gelegen, mitLeinwandfabriken, Bereitung von Konfitüren, starkem Obstbau,Ausfuhr von Rindvieh und (1878) 11,710 Einw. T. ist ein Hauptsitzdes Schleichhandels nach Portugal. Es ist seit dem 6. Jahrh.Bischofsitz. In der Nähe warme Schwefelquellen.

Tuzla (Unter-T., Doljnja-T.), Kreisstadt in Bosnien, anbeiden Ufern der Ialta, Station der Bahnlinie Doboj-T.-Siminhan,Sitz eines griechischoriental. Bischofs, einesMilitär-Platzkommandos und eines Bezirksgerichts, hat 3Brücken, zahlreiche Mo-

scheen, ein Nonnenkloster, (1885) 7189 Einw. (5171Mohammedaner), lebhaften Handel, besonders mit Vieh und Pferden,eine Volks- und Handelsschule, ein Spital, einen Park, reicheKohlenlager und berühmte Salzquellen, von welch letztern T.seinen Namen hat (Tuz = Salz). Bei T., dessen Umgebung reich anBogumilengräbern ist, und das 1225 Hauptstadt der Provinz Soliwar, 1693 Sieg des kaiserlichen Feldherrn Percinlija über dieTürken und 9.bis 10. Aug. 1878 Gefechte zwischenösterreichischen

Truppen und den Insurgenten.

Twain - Twer.

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Twain (spr. twähn), Mark, Pseudon., s. Clemens 2).

Twalch, s. v. w. Taumellolch, s. Lolium.

Twardowski, in der poln. Volkssage ein Edelmann im 16.Jahrh., der, um sich übernatürliche Kenntnisse undGenüsse zu verschaffen, sich auf dem Berge Krzemionki beiKrakau dem Teufel verschrieb und eine Menge lustiger Abenteuerbestand. Als ihn schließlich der Teufel durch die Luftdavonführte, rettete sich T. zwar durch Anstimmen einesgeistlichen Liedes, muß aber bis zum jüngsten Tagzwischen Himmel und Erde in der Luft schweben. Das Ganze ist diepolnische Version der Faustsage und wurde von polnischen Dichtern(z. B. von Kraszewski) vielfach bearbeitet. Vgl. Vogl, T., derpolnische Faust (Wien 1861).

Tweed (spr. twihd), Fluß im südöstlichenSchottland, bildet in seinem untern Lauf die Grenze zwischenSchottland und England und fällt bei Berwick nach einem Laufevon 154 km in die Nordsee.

Tweed (spr. twihd), William Mercy, amerikan. Politiker,geb. 3. April 1823 zu New York, ward Handwerker, wandte sich baldden öffentlichen Angelegenheiten zu, wurde 1852 zum Aldermanvon New York und 1853 in den Kongreß gewählt, dem er bis1855 angehörte. Er verwaltete darauf die städtischenÄmter eines Supervisors, eines Schulkommissars und einesKommissars für die Straßen, war auch 1867-71 Mitglieddes Senats des Staats New York und ward 1870 Kommissar desDepartements für die öffentlichen Arbeiten der Stadt NewYork. Den großen Einfluß, den er im Tammany-Ring (f.d.) erlangt hatte, benutzte er zu schamloser Bereicherung, die ihmdie Entfaltung eines ungeheuern Luxus gestattete. Mehrere Versuche,diesem frechen Raubwesen ein Ende zu machen, blieben erfolglos; T.ward im Oktober 1871 auf eine Anklage hin verhaftet, aber gegeneine Bürgschaft von 1 Mill. Doll., die sofort beschafft wurde,freigelassen und sogar wieder zum Staatssenator gewählt. ImJanuar 1873 ward er zum zweitenmal verhaftet und vor Gerichtgestellt, aber von den Geschwornen freigesprochen. Erst im November1873 ward seine Verurteilung wegen Betrugs zu zwölf JahrenGefängnis erreicht, dieses Urteil aber als ungesetzlich vomAppellhof umgestoßen und T. 1875 wieder freigelassen. Dochwar er zu gleicher Zeit wegen Wiedererstattung von 6 Mill. Doll.nebst Zinsen angeklagt worden, und da er die Bürgschaft von 6Mill., welche man verlangte, nicht leisten konnte, so ward er vonneuem in Haft genommen, aus der er im Dezember entsprang, um nachSpanien zu gehen, dessen Regierung ihn aber 1876 wiederauslieferte. T. starb 12. April 1878 im Gefängnis zu NewYork.

Tweeddale (spr. twihdehl), s. Peeblesshire.

Tweedmouth (spr. twihdmoth), nördliche Vorstadt vonBerwick upon Tweed, in der engl. Grafschaft Northumberland, mitMaschinenbau, einem Hafen und (1881) 4819 Einw.

Twehle, s. Zwehle.

Twelfth-cake (spr. -kehk), nach engl. Sitte amDreikönigstag verzehrter Kuchen; vgl. Bohnenfest.

Twenthe, eine den südöstlichen Teil derniederländ. Provinz Overyssel bildende Landschaft, Hauptsitzder niederländischen Baumwollindustrie, mit den Städten:Ryssen, Almelo, Goor, Enschede u. a. Die T. führt ihren Namenvon dem alten Volk der Tubanten.

Twer, russ. Gouvernement, wird von den GouvernementsNowgorod, Jaroslaw, Wladimir, Moskau, Smolensk und Pskowumschlossen, umfaßt 64,682 qkm

(nach Strelbitsky 65,329,7 qkm = 1186,46 QM.). DerWolchonskiwald, aus Kalksteinhügeln von 300 m Höhebestehend und mit undurchdringlichen Waldungen bedeckt, durchziehtmit seinen Ausläufern zwischen Seen und Sümpfen fast dasganze Gouvernement. Der Boden besteht aus bläulichrotem Lehm,über welchem lehmiger Sand, häufig auch Kalkstein liegt;außerdem ist das devonische System entwickelt und zwar in derForm glimmerigen Sandsteins ohne Versteinerungen. SiebenMineralquellen sind im Gouvernement. Der wichtigste Fluß istdie Wolga, welche innerhalb des Gouvernements eine Länge vonbeinahe 530 km hat und von rechts die Shnkopa, Pesotschnja, Wasusa,Dersha, Schoschtscha, Dubna, von links die Selicharowka, dieGroße Koscha, Itomlja, Tma, Twerza, Medwjediza , Kaschinkaund Mologa aufnimmt. Die Düna hat im SW. ihren obern Lauf,ferner die Flüsse Msta und Zna. Unter den Hundertenflachuferiger Seen sind der Seliger, Ochwat-Shadenje, Steresh,Wselug, Budbino, Mstino, Udomlja und Weristowo diegrößten. Das Areal setzt sich zusammen aus 32,2 Proz.Wald, 28,3 Wiese und Weide, nur 26,8 Acker- und 12,7 Proz. Unland.Die großen Wälder bestehen im N. vorzugsweise aus Tannenund Kiefern, im S. aus Birken und Erlen. Das kontinentale Klimawird ein wenig durch die Seen und Sümpfe gemäßigt.Die mittlere Jahrestemperatur beträgt +5,3° C.; die Hitzedes Sommers steigt bisweilen bis 35°, während im Winterschon Kälte von -45 °C. herrschte. Unter den (1885)1,681,790 Einw. des Gouvernements, 24 pro QKilometer (außerGroßrussen auch Deutsche, Polen und Juden), sind 100,000Karelen, Überreste der finnischen Urbevölkerung desLandes. Die Zahl der Eheschließungen war 1885: 11,199, derGebornen 76,142, der Gestorbenen 67,200. Die Landwirtschaft wirdbei der Unfruchtbarkeit des Bodens, der nur das zweite oder dritteKorn liefert, schwach betrieben. Die Ernte besteht (1887)vorzugsweise in Roggen (4,8 Mill. hl) und Hafer (5,7 Mill. hl), undes müssen aus den andern Gouvernements beträchtlicheZufuhren an Getreide stattfinden. Flachs wird ingrößerer Ausdehnung gebaut. Auch die Viehzucht ist vongeringer Bedeutung. 1885 wurden 583,671 Stück Rindvieh,351,632 Pferde, 373,779 grobwollige Schafe, 20,612 Schweinegezählt. Ansehnlicher ist die Fischerei, namentlich im SeeSeliger. Die Waldwirtschaft besteht einesteils im Aushauen undFlößen der Baumstämme, welche wolgaabwärtsoder längs der Düna nach Riga geschafft werden,andernteils in der Gewinnung von Teer, Pech und Terpentinöl.Ein früherer Erwerbszweig, der Bau von Flußfahrzeugen,sinkt seit der Eröffnung der Eisenbahnen fortwährend.Sonst beschäftigen sich die Bauern mit dem Verfertigen vonHolzgegenständen und Hausgeräten oder mitSchmiedearbeiten (Beile, Sensen, Nägel etc.). Torshok erfreutsich eines trefflichen Rufs durch seine Saffianarbeiten. DieIndustrie wurde 1884 von 644 Anstalten mit 20,378 Arbeiternbetrieben und bringt für 22,386,000 Rubel Waren hervor.Besonders entwickelt find: Baumwollspinnerei (10 Mill. Rub.),Industrie in Hanf (1 1/2 Mill.), Leder (1 1/2 Mill.), Glas (1,2Mill. Rub.). Außerdem sind bemerkenswert: dieFayenceindustrie, Getreidemüllerei, Baumwollweberei,Papierfabrikation, Ziegelei, Holzsägemühlen,Branntweinbrennerei. Die Industrie wird wesentlich angetroffen inden Städten Twer, Rshew, Wyschnij-Wolotschok, Ostaschkow undKoljäsin. Der Handel konzentriert sich hauptsächlich inRshew, Torshok, Bjeshezk und Bologoje. Bildungszwecken oienen1885:1095 Elementar-

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Twerza - Tyana.

schulen mit 57,392 Schülern, 16 Mittelschulen mit 2720Schülern und 4 Fachschulen mit 842 Schülern. T.zerfällt in zwölf Kreise: Bjeshezk, Koljäsin,Kaschin, Kortschewa, Nowotorshok, Ostaschkow, Rshew, Stariza,Subzow, T., Wessegonsk, Wyschnij-Wolotschok. - Das Land war einstvom finnischen Stamm der Wessen bewohnt; mit dem Erscheinen derSlawen wurden die Finnen meistens nach N. gedrängt. Ob dieKurgane (Grabhügel) an der Mologa finnischen oder slawischenStämmen angehörten, ist unentschieden. Nach der TeilungRußlands unter die Söhne Jaroslaws im 12. Jahrh. wurdedas Land unter die Fürsten von Nowgorod, Smolensk und Susdalgeteilt. Während der innern Fehden im 12. Jahrh. entstand dasFürstentum T.; 1484 ward dasselbe mit dem Moskowiterreichvereinigt. Die gleichnamige Hauptstadt liegt an derPetersburg-Moskauer Eisenbahn, zu beiden Seiten der hier 213 mbreiten Wolga, welche hier die Twerza und Tmaka aufnimmt, und derenUfer durch eine Schiffbrücke verbunden sind, hat schönePlätze, Straßen und Anlagen, ein kaiserliches Palais,eine Kathedrale und 33 andre Kirchen (darunter eine evangelische),mehrere Klöster, ein geistliches Seminar, ein klassischesGymnasium, eine Realschule, eine Kavallerie-Junkerschule, einLehrerseminar, weibliches Gymnasium, ein Theater, ein DenkmalKatharinas II., eine Abteilung der Reichsbank, eine Stadtbank,einen Bazar, 28 Fabriken (darunter 2 Baumwollspinnereien, 2Baumwollwebereien und eine Zitzfabrik) und (1885) 39,280 Einw. AlsEisenbahnstation und Wolgahafen hat T. sehr bedeutendenZwischenhandel, dessen wichtigste Gegenstände Getreide undMetallfabrikate bilden. T. ist Sitz eines griechisch-orthodoxenErzbischofs. Unweit der Stadt befinden sich 2 eisenhaltigeMineralquellen, das Sheltikow-Kloster und das Mönchsklosterdes heil. Nikolaus. T. wurde 1182 als fester Platz gegen denFreistaat Nowgorod angelegt; 1763 zerstörte eine Feuersbrunstdie ganze Stadt, die aber unter der Kaiserin Katharina II. baldwieder aufgebaut wurde.

Twerza, schiffbarer linker Nebenfluß der Wolga imruss. Gouvernement Twer, entspringt in der Nähe vonWyschnij-Wolotschok, ist 185 km lang und 45-90 m breit,stießt bis zur Stadt Torshok in südlicher Richtung,später in südöstlicher und ergießt sich beider Stadt Twer in die Wolga. Die T. bildet einen Teil desWyschnij-Wolotschokschen Kanalsystems.

Twesten, 1) August Detlev Christian, protest. Theolog,geb. 11. April 1789 zu Glückstadt, ward Gymnasiallehrer inBerlin, 1814 außerordentlicher Professor der Theologie zuKiel, 1819 daselbst Ordinarius und 1835 Professor in Berlin anSchleiermachers Stelle, dessen theologische Richtung er im Sinn derlutherischen Rechtgläubigkeit umbildete. Von seinen Schriftensind zu nennen: "Logik, insbesondere die Analytik" (Schlesw. 1825);"Vorlesungen über die Dogmatik der evangelisch-lutherischenKirche" (Bd. 1, Hamb. 1826, 4. Aufl. 1838; Bd. 2, 1. Abt., 1837);"Grundriß der analytischen Logik" (Kiel 1834); "MatthiasFlacius Illyricus" (Berl. 1844). Er starb 8. Jan. 1876 alsOberkonsistorialrat und (bis 1874) Mitglied des evangelischenOberkirchenrats. Vgl. Heinrici, A. T. nach Tagebüchern undBriefen (Berl. 1889).

2) Karl, Politiker, Sohn des vorigen, geb. 22. April 1820 zuKiel, studierte 1838-41 in Berlin und Heidelberg die Rechte, trat1845 in den preußischen Justizdienst und wardStadtgerichtsrat in Berlin. Er schrieb 1861 eine Broschüre:"Was uns retten kann", in welcher er den General Manteuffel alsChef des Militärkabinetts verderblichen Einflussesbeschuldigte, und hatte deshalb mit diesem ein Duell, in welchem eram Arm verwundet wurde. Er ward 1861 Mitglied desAbgeordnetenhauses, in welchem er zu den hervorragendsten Rednernder Fortschrittspartei gehörte, schied aber 1866 aus derselbenaus und wurde Mitbegründer der nationalliberalen Fraktion.Außer im preußischen Abgeordnetenhaus, saß T.auch in dem Reichstag des Norddeutschen Bundes. Wegen mehrererseiner Reden im Abgeordnetenhaus (namentlich 20. Mai 1865 überdie Justizpflege unter Lippes Leitung und 10. Febr. 1866 überden bekannten Obertribunalsbeschluß) ward er in langwierigegerichtliche und disziplinarische Untersuchungen verwickelt. Warauch der schließliche Ausgang derselben ein ziemlichglimpflicher (T. erhielt 1868 eine Geldstrafe), so fand sich T.doch 1868 veranlaßt, aus dem preußischen Justizdienstauszuscheiden, um eine Stelle in der Berliner Stadtverwaltung zuübernehmen. Er starb 14. Okt. 1870. T. schrieb noch: "Schillerin seinem Verhältnis zur Wissenschaft" (Berl. 1863);"Macchiavelli" (das. 1868) und "Die religiösen, politischenund sozialen Ideen der asiatischen Kulturvölker und derAgypter" (hrsg. von Lazarus, das. 1873, 2 Bde.).

Twickenham (spr. -häm), Dorf in der engl. GrafschaftMiddlesex, an der Themse, oberhalb London, Richmond gegenüber,Lieblingsaufenthalt litterarischer Berühmtheiten (Essex,Bacon, Hyde, Pope und Fielding), mit zahlreichen Landsitzen und(1881) 12,479 Einw. Dabei Strawberry Hall, 1747 von Richard Walpoleerbaut, und Orleans-Haus, 1852-71 vom Herzog von Aumale bewohnt,jetzt Klubhaus.

Twilled Sackings, s. Jute, S. 341.

Twiß, Sir Travers, engl. Rechtsgelehrter, geb. 1810zu Westminster, studierte in Oxford, wirkte 1842-47 als Professorder Nationalökonomie daselbst und ward 1852 zum Professor desinternationalen Rechts am King's College zu London ernannt, kehrteaber 1855 als Professor des bürgerlichen Rechts nach Oxfordzurück. Er war außerdem 1852 Generalvikar desErzbischofs von Canterbury geworden und erhielt 1858 die Stelleeines Kanzlers der Diözese London. Später wurde er zumköniglichen Rat, 1867 zum Generaladvokaten befördert undzugleich geadelt. Unter seinen politischen, historischen undrechtswissenschaftlichen Schriften sind zu nennen: "Epitome ofNiebuhr's History ofRome" (Oxf. 1837, 2 Bde.); "The Oregon questionexamined" (Lond. 1846); "View of the progress of political economyin Europe since the XVI. century" (das. I847); "On the relations ofthe duchies of Schleswig and Holstein to the crown of Denmark"(das. 1848; deutsch, Leipz. 1848); "The letters apostolic of popePius IX. considered" (Lond. 1851); "Lectures on the science ofinternational law" (das. 1856); "The law of nations considered asindependent political communities" (Oxf. 1861-63, 2 Bde.; 3. Aufl.1884); "The black book of the admiralty" (Lond. 1871-76, 4Bde.).

Twist, s. v. w. Baumwollgarn, s. Garn, S. 911.

Tworog, Dorf im preuß. Regierungsbezirk Oppeln,Kreis Tost-Gleiwitz, zur Herrschaft des Prinzen zuHohenlohe-Ingelfingen gehörig, an der Stola und der LinieKreuzburg-Tarnowitz der Preußischen Staatsbahn, hat einekath. Kirche, ein Schloß, eine Oberförsterei und (1885)1150 Einw.

Tyana, im Altertum Stadt im südlichen Kappadokien,in der Nähe der Kilikischen Pässe, angeblichGründung der Assyrer, wurde unter Caracalla römischeKolonie, dann, da sie zum Reich der Zenobia

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Tyburn - Tyler.

gehörte, von Aurelianus 272 n. Chr. erobert. Valens machtesie zur Hauptstadt von Cappadocia Secunda. Ruinen beim heutigenKilisse Hissar.

Tyburn (spr. teibörn), früher ein Bach und Dorfauf der Nordseite des Hyde Park in London, bis 1783 deröffentliche Richtplatz. 1839-50 wurde an derselben Stelleeiner der schönsten Stadtteile Londons erbaut, dessen NameTyburnia an die alte Zeit erinnert.

Tyche, in der griech. Mythologie ursprünglich dieGöttin des guten Glücks, Tochter des Okeanus oder desZeus, wurde namentlich als Beschirmerin und Erhalterin derStädte verehrt und hatte als solche in vielen StädtenGriechenlands und Kleinasiens Tempel und Statuen. Allmählichbildete sich dann die Vorstellung aus, daß T. sowohlGlück als Unglück verleihe, worin sie der römischenFortuna (s. d.) gleichkommt. In den Kunstdenkmälern wird derT. entweder ein Steuerruder als Sinnbild lenkender Gewalt oder einRad, auf die Flüchtigkeit derselben anspielend, oderKopfaufsatz und Fruchthorn als Zeichen der Fruchtbarkeitbeigegeben. Eigenartig charakterisiert waren die Tychen derStädte, meist mit der Mauerkrone geschmückt und mitverschiedenen Symbolen ausgestattet (so die T. von Antiochia, einWerk des Eutychides, im Vatikan, s. Abbild.). Vgl. Lehrs,Populäre Aufsätze, S. 175 ff. (2. Aufl.).

Tycho Brahe, s. Brahe 1).

Tychsen, 1) Olaus Gerhard, Orientalist, geb. 14. Dez.1734 zu Tondern, studierte in Halle und ward Lehrer am dortigenWaisenhaus, 1763 Professor der orientalischen Sprachen zuBützow und nach Aufhebung dieser UniversitätOberbibliothekar in Rostock, wo er 30. Dez. 1815 starb. SeineHauptschrift ist "Bützowsche Nebenstunden" (Bützow1766-1769, 6 Bde.), ein reichhaltiges Magazin für Geschichteund Wissenschaft des Judentums. T. gilt auch als Begründer derarabischen Paläographie, und er beteiligte sich lebhaft undmit Erfolg an den ersten Versuchen, die Keilschrift zu entziffern.Seine Sammlung wertvoller Manuskripte über orientalische undspanische Litteratur und andre Antiquitäten kaufte dieRostocker Universität. Vgl. Hartmann, Olaf Gerhard T. (Brem.1818-20, 5 Tle.).

2) Thomas Christian, Orientalist, geb. 8. Ma. 1758 zu Horsbyllim Schlesischen, studierte in Kiel und Göttingen, machte danneine wissenschaftliche Reise durch Deutschland, Italien, Frankreichund Spanien, ward 1784 Professor der Theologie zu Göttingen,1797 Präsident der Göttinger Akademie der Wissenschaftenund starb 23. Okt. 1834. Von seinen Schriften sind zu nennen:"Grundriß einer Archäologie der Hebräer"(Götting. 1789); "Grammatik der arabischen Schriftsprache"(das. 1823); die Ausgabe des Quintus Smyrnäus (Straßb.1807) und verschiedene Essays über Numismatik,Paläographie etc. - Seine durch Schönheit und Talenteausgezeichnete Tochter Cäcilie (gest. 1812 im Alter von 18Jahren) besang der Dichter Ernst Schulze (s. d. 4) in demgleichnamigen epischen Gedicht.

Tydeus, im griech. Mythus Sohn des Öneus,flüchtete wegen eines begangenen Mordes nach Argos zuAdrastos, der ihn sühnte und ihm seine Tochter Deipyle zumWeib gab. T. zog mit ihm gegen Theben, wurde von Melanipposverwundet und starb an den Folgen der Wunde.

Tyfon, Wirbelsturm, s. Teifun.

Tyl, Joseph Cajetan, tschech. Schriftsteller, geb. 4.Febr. 1808 zu Kuttenberg, war Theaterregisseur in Prag und starbdaselbst 11. Juli 1856. Er schrieb ca. 50 Dramen, zum großenTeil nach deutschen Vorbildern. Am gelungensten sind: "Der blindeJüngling", "Jan Hus", "Strakonicky Dudak" etc. Von 1834 bis1847 redigierte T. die Zeitschrift "Kvety" und veröffentlichtedarin seine Erzählungen, unter denen zu erwähnen sind:"Der letzte Tscheche", "Patriotische Liebe", "Das KuttenbergerDekret" etc. T. dichtete auch das böhmische Nationallied "Kdedomuv moj?" Sein Leben beschrieb Turnovsky (Prag 1881).

Tyldesley (spr. teilsli oder tillsli), Stadt inLancashire (England), 12 km westnordwestlich von Manchester, mitKohlengruben, Baumwollweberei und (1881) 9954 Einw.

Tyler (spr. teiler), 1) John, zehnter Präsident derVereinigten Staaten, geb. 29. März 1790 als der Sohn einesPflanzers in Virginia, studierte die Rechte, ward 1816 Mitglied desRepräsentantenhauses zu Washington, dann Gouverneur vonVirginia und war 1827-36 Senator für diesen Staat. 1840 vonder Whigpartei als Kandidat aufgestellt und mit großerMajorität zum Vizepräsidenten der Vereinigten Staatengewählt, wurde er durch den Tod des Präsidenten Harrisoneinige Wochen nach dessen Amtsantritt 4. April 1841 Präsident.T. rechtfertigte in dieser Stellung die Erwartungen seiner Parteinicht, indem er vielmehr auf die Seite der Demokraten neigte. Alser der im Juli 1841 vom Kongreß beschlossenen Bill wegenErrichtung einer Bank sein Veto entgegenstellte, reichte dasMinisterium seine Entlassung ein, und Tylers Bildnis ward anmehreren Orten öffentlich verbrannt. Dennoch machte er nochwiederholt von seinem Vetorecht Gebrauch, so daß er inbeständigem Hader mit der Volksvertretung lebte. Am 4.März 1845 trat er von der Regierung ab und zog sich auf seinLandgut in Virginia zurück. Er starb, nachdem er sich nacheinem fruchtlosen Friedensversuch bei Ausbruch desBürgerkriegs in den Senat der Sezessionisten hatte wählenlassen, 18. Jan. 1862 in Richmond. Tylers Leben beschrieb sein SohnLyon Gardiner T. (Richm. 1884, 2 Bde.).

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Tyloma - Typha.

2) S. Wat Tyler.

Tyloma (grch.), Schwiele, Verhärtung derOberhaut.

Tylopoda (Schwielensohler, Kamele), Familie derpaarzehigen Huftiere.

Tylor (spr. teilor), Edward Burnett, Anthropolog, geb. 2.Okt. 1832 zu Camberwell, wurde 1871 Fellow der Royal Society, 1883Direktor des Universitätsmuseums in Oxford, wo er auchVorlesungen hält. Auch ist er Präsident der EnglischenAnthropologischen Gesellschaft. Er schrieb: "Anahuac or Mexico andthe Mexicans" (Lond. 1861); "Early history of mankind and ofcivilisation" (3. Aufl., das. 1878; deutsch, Leipz. 1866);"Primitive culture: researches into the development of mythology,philosophy, religion, art and custom" (2. Aufl., Lond. 1873, 2Bde.; deutsch, Leipz. 1873); "Anthropology" (Lond. 1881; deutsch,Braunschw. 1883).

Tympanitis (griech.), s. Blähungen.

Tympanon (griech.), mit Pergament überzogenebeckenförmige Pauke, vorzugsweise beim Dienste der Rhea undbei Bacchusfesten gebraucht (s. Abbildung); in der Anatomie s. v.w. Trommelfell (s. Ohr, S. 349); in der Architektur jedes meisthalbrund vertiefte, zur Aufnahme von Reliefs dienende Feld vonGiebeln über Fenstern oder Thüren.

Tympanum (lat.), s. Trommelrad.

Tyndale (spr. tinndel), William, ein Vorkämpfer derReformation in England, geboren vor 1500 an der Grenze von Wales,studierte in Oxford, schloß sich der Reformation an undpredigte die neue Lehre in London. Er mußte deshalb 1524 ausEngland fliehen, ging nach Deutschland, wo er Luther kennen lernte,und dann nach den Niederlanden. 1526 wurde seine Übersetzungdes Neuen Testaments gedruckt, welche von Sir Th. Morebekämpft wurde, jedoch in England große Verbreitungfand. T. ward deshalb in Antwerpen auf englische Veranlassungverhaftet und nach einer langen Gefangenschaft zu Vilvoord imSeptember 1536 erdrosselt und verbrannt. Die gewöhnlicheenglische Bibelübersetzung hat sich eng an die Tyndalesgehalten. Seine Schriften erschienen gesammelt Oxford 1848-50, 3Bde. Vgl. "W. T. a biography" (Lond. 1886).

Tyndall (spr. tinndel), John, Physiker, geb. 21. Aug.1820 in Irland, arbeitete bei der trigonometrischen AufnahmeGroßbritanniens, studierte seit 1848 in Marburg und Berlin,wurde Lehrer am Queenwod College und wirkt seit 1853 als Professorder Physik an der Royal Institution. Er lieferte Untersuchungenüber Diamagnetismus, strahlende Wärme,Schallfortpflanzung etc. und brachte in allen seinen Arbeiten dieLehre von der Erhaltung der Energie zur Geltung. 1856 mit Huxleyund später allein machte er Studien und Beobachtungenüber die Gletscher, die er in dem Werk "The glaciers of theAlps" (Lond. 1860) veröffentlichte. Auch hielt er musterhaftepopuläre Vorträge über verschiedene Gebiete derPhysik, die große Verbreitung fanden und meist von Helmholtzund Wiedemann ins Deutsche übersetzt wurden, so: "Der Schall"(2. Aufl., Braunschw. 1874), "Das Licht" (6 Vorlesungen in Amerika,das. 1876; daneben veröffentlichte er noch Vorlesungen in derRoyal Institution über denselben Gegenstand) und die"Fragmente aus den Naturwissenschaften" (das. 1874). Von seinenzahlreichen übrigen Schriften nennen wir: "Heat, a mode ofmotion" (7. Aufl. 1887; deutsch, 3. Aufl., Braunschw. 1875); "Formsof water in clouds and rivers, ice and glaciers" (6. Aufl. 1876;deutsch, 2. Aufl., das. 1878); "On diamagnetism" (1856 u. 1870,neue Ausg. 1888); "On radiation" (1865); "Hours of exercise in thealps" (1871; deutsch, Braunschw. 1875); "Contributions to molecularphysics" (1872); "Notes on electricity" (1870) und "Lectures onelectricity" (1870; beide deutsch, Wien 1884); "Natural philosophyin easy lessons" (1869); "Faraday as a discoverer" (4. Aufl. 1884;deutsch, Braunschw. 1870) und den Vortrag über denMaterialismus in England (deutsch, Berl. 1875).

Tyndareos, mythischer König von Sparta, floh, vonseinem Halbbruder Hippokoon vertrieben, nach Ätolien zuThestios, dem er im Kriege gegen seine Nachbarn beistand, und mitdessen Tochter Leda (s. d.) er sich vermählte. Herakles setzteihn wieder in die Herrschaft von Sparta ein. Leda gebar ihm dieKlytämnestra und den Kastor, dem Zeus die Helena und denPolydeukes. Als Kastor uno Polydeutes (die Tyndariden) unsterblichgeworden waren, rief T. seinen Schwiegersohn Menelaos nach Spartaund übergab ihm die Herrschaft.

Tyne (spr. tein), Fluß im nördlichen England,entsteht in der Grafschaft Northumberland aus demZusammenfluß des North- und South-T., fließtöstlich, bildet in seinem untern Lauf die Grenze zwischen denGrafschaften Northumberland und Durham und fällt nach einemLaufe von 117 km bei Tynemouth in die Nordsee. Zu den HäfenNewcastle, Shields und Tynemouth, die an ihm liegen, gehörten1887: 855 Seeschiffe (darunter 666 Dampfer) von 380,913 Ton.Gehalt. Steinkohlen, Eisen u. Maschinen bilden die Hauptartikel derAusfuhr. Vgl. Guthrie, The river T., its history and resources(Lond. 1880); Palmer, The T. and its tributaries (das. 1882).

Tynemouth (spr. teinmoth), Stadt und besuchtes Seebad inder engl. Grafschaft Northumberland, an der Mündung des Tyne,hat ein altes Schloß, Ruinen einer Abtei, einMatrosenhospital und mit dem oberhalb liegenden North Shields, mitdem es Eine Gemeinde bildet, (1881) 43,863 Einw. (s. Shields).

Typen (griech., Mehrzahl von Typus, s. d.), in der Chemiegewisse einfache Verbindungen, die als Vorbilder zahlreicher andrerVerbindungen betrachtet werden können. Nach GerhardtsTypentheorie waren die vier wichtigsten T.: Chlorwasserstoff H ClWasser H H O Ammoniak H H H N Methan H H H H C Ein Körper istnach dem Typus Wasser, Methan etc. konstituiert, wenn seine Atomein analoger Weise miteinander verbunden sind. Der Typus bleibt aucherhalten, wenn in der Verbindung ein oder mehrere Atome durch andreAtome oder Atomgruppen ersetzt werden. Aus Methan können dieSubstitutionsprodukte Cl H H H C oder Cl Cl H H C etc. entstehen,ebenso aus Ammoniak die Verbindungen CH3 H H N oder CH3 C2H5 C2H5N. Über die Typentheorie s. Chemie, S. 985. - T. auch s. v. w.Buchdruckschriften oder Lettern.

Typenschreiber (engl. Type-Writer, spr. teip-reiter), s.Schreibmaschine.

Typha L. (Teichkolben, Rohrkolben), Gattung derTyphaceen, Sumpfgewächse mit langen, grund-

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Typhaceen - Typhus.

ständigen, linealen Blättern, einfachen, rundenStengeln und sehr kleinen Blüten, welche in großer Zahl(100,000) in walzigen oder länglichen, gelb- oderbraunschwarzen Kolben bei einander stehen; von den zwei Kolbeneines Stengels trägt der obere männliche, der untereweibliche Blüten. Von zehn Arten, die in den Tropen und dengemäßigten Zonen weit verbreitet sind, kommen T.latifolia L. und T. angustifolia L. mit 2 m hohen Stengeln instehenden Gewässern Deutschlands vor. Man benutzt dieBlätter zu Matten und zum Verlieschen der Fässer, auchmit den Stengeln als Packmaterial, die Blüten zumPolstern.

Typhaceen, monokotyle Familie aus der Ordnung derSpadicifloren, krautartige Sumpfpflanzen mit perennierendem,kriechendem Rhizom, knotenlosen, cylindrischen, einfachen oderästigen Stengeln, wechselständigen, am Grunde desStengels zusammengedrängten, bescheideten, linealischen,ganzen, parallelnervigen Blättern und unvollständigen,einhäusigen Blüten, welche dichte, cylindrische oderkugelige Kolben bilden, die mit abfallenden Blütenscheidenversehen sind, und von denen die obern männliche, die unternweibliche Blüten tragen. Die männlichen Blüten habenstatt des Perigons einfache Fäden oder häutigeSchüppchen, welche ordnungslos zwischen den zahlreichen demKolben aufsitzenden Staubgefäßen stehen. Die weiblichenBlüten haben an Stelle des Perigons zahlreiche Borsten oder jedrei hypogyne Schüppchen. Die Fruchtknoten sind sitzend odergestielt, einblätterig, einfächerig, mit einer einzigenhängenden, anatropen Samenknospe und einem einfachen,endständigen Griffel, welcher in eine einseitige,zungenförmige Narbe endigt. Die Früchte sind durchgegenseitigen Druck eckig, durch den Griffel spitz, nichtaufspringend, fast steinfruchtartig wegen des häutigen oderschwammigen Epi- und des leder- oder holzartigen Endokarps. DieSamen haben eine häutige Schale und in der Achse einesmehligen Endosperms einen geraden, fast ebenso langen Keimling.Vgl. Schnizlein, Die natürliche Pflanzenfamilie der T.(Nördling. 1845). Die T. zählen nur etwa 15 Arten in zweiGattungen, welche am häufigsten in den außertropischenZonen der nördlichen Halbkugel sind. Überreste fossilerGattungen, Aethophyllum und Echinostachys, kommen im BuntenSandstein, Arten der Gattungen Typha und Sparganium inTertiärschichten vor.

Typhlitis (griech.), Entzündung des Blinddarms, s.Darmentzündung, S. 555.

Typhlosis (griech.), Blendung, Blindheit.

Typhlotypographie (griech.), s. v. w. Blindendruck (s.d.).

Typhoid (griech., "typhusähnlich"), einKrankheitszustand, der wegen seines heftigen Fiebers und derdadurch bedingten schweren Gehirnsymptome dem Typhus nahesteht,ohne dessen anatomische Veränderungen zu zeigen. Namentlichhat man zwei Krankheitsformen mit dem Namen des Typhoids belegt,nämlich das biliöse T. und das Choleratyphoid. Ersteresist eine Infektionskrankheit, welche am nächsten dem Typhussteht. Es wurde bisher beobachtet in Ägypten, in der Krim, inKleinasien; über seine Ätiologie ist man nicht mehrunterrichtet als über die der typhösen Krankheitenüberhaupt. Während das biliöse T. mit dem letzterndie allgemeinen klinischen und anatomischen Erscheinungen teilt,ist es symptomatologisch charakterisiert durch die frühzeitigstark hervortretenden Erscheinungen seitens des Verdauungsapparats:Schmerz im Unterleib, Erbrechen, Durchfälle dysenterischerArt, Gelbsucht. Dem entspricht auch der anatomische Befund: starkekatarrhalische Entzündung des Magens und Darms, Schwellung undgelbliche Verfärbung der Leber, in den spätern Stadienausgesprochene fettige Entartung dieses Organs. Die Milz istkolossal vergrößert, von Tausenden von kleinenAbscessen, den vereiterten Malpighischen Bläschen, durchsetzt;daneben in allen Stadien der Entfärbung und Schrumpfungbegriffene blutige Infarkte von zum Teil enormer Größe.Das Choleratyphoid ist eine Nachkrankheit der eigentlichen Cholera(s. d.).

Typhon, Wirbelsturm, s. Teifun.

Typhon (Typhoeus, Typhaon, Typhos), in der griech.Mythologie ein Ungeheuer, Personifikation des wilden Sturms,besonders des Glutwindes, der aus feuerspeienden Bergenhervorbricht. Er liegt nach Homer im Arimerland (Kilikien?),welches von Zeus mit Blitzen gegeißelt wird. Nach Hesiod sindTyphaon und Typhoeus verschiedene Wesen. Ersterer ist der Sohn desletztern und zeugt mit der Echidna den Hund Orthros, den Kerberos,die lernäische Hydra und die Chimära; Typhoeus ist derjüngste Sohn des Tartaros und der Gäa und hat 100Drachenhäupter. Er sucht die Herrschaft über Götterund Menschen zu gewinnen, aber Zeus bezwingt ihn mit dem Blitz.Seine Söhne sind die Winde, mit Ausnahme der wohlthätigen(Notos, Boreas, Zephyros etc.). Ebenso ist T. bei Äschylos undPindar ein 100köpfiger Sohn der Erde, der die kilikischenHöhlen bewohnt. - In Ägypten war T. (Seth oder Set, auchTebha genannt) in alter Zeit ein hoch angesehener Gott, ein Sohndes Seb (Kronos) und der Nut (Rhea). Hier war er der Gott desKriegs. Die Könige Seti der 19. Dynastie führten von ihmden Namen. Eine besondere Kultusstätte des Set war die StadtOmbos; allgemeiner jedoch war seine Verehrung in Unterägypten,namentlich unter den dort ansässigen Fremden. Am Ende der 21.Dynastie wurde dieser Gott aus Oberägypten verstoßen; ergalt seitdem als Gott der Feinde Ägyptens und wurdeallmählich vollständig zum Prinzip alles Bösenumgebildet. Nach der Sage hat er seinen Bruder Osiris umgebracht,dessen Sohn Horos sich dann an ihm in siegreichen Schlachtenrächte. Er wird unter der Gestalt eines fabelhaften,eselähnlichen Tiers dargestellt oder doch mit dem Kopfdesselben (vgl. Abbildung). Einigemal, wo er in menschlicher Formerscheint, trägt er ein Hörnerpaar. Vgl. E. Meyer, Set-T.(Leipz. 1875).

Typhus (griech.), eigentlich s. v. w. Betäubung,gegenwärtig aber ausschließlich Bezeichnung fürverschiedene schwere und unter heftigem Fieber verlaufendeKrankheitszustände, bei welchen das Nervensystem in derschwersten Weise ergriffen zu sein und der Kranke in einemanhaltenden Zustand von Betäubung sich zu befinden pflegt(Nervenfieber). Wir unterscheiden drei Formen des T., nämlichden exanthematischen T., den Unterleibs- oder Darmtyphus (t.abdominalis) und den Rückfalltyphus (t. recurrens).

1) Der exanthematische T. (Petechialtyphus,

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Typhus (Fleck-, Lazarett-, Hunger-T.; Unterleibs-T.).

Fleckfieber) ist eine in ausgesprochenster Weise ansteckendeKrankheit. Der Ansteckungsstoff ist in der Atmosphäre desKranken enthalten und besitzt eine außerordentlicheBeständigkeit, so daß er sich in schlechtgelüfteten Zimmern ein halbes Jahr lang halten kann, ohneseine Wirksamkeit zu verlieren. Der Ausbruch der Krankheit scheint7-14 Tage nach erfolgter Ansteckung stattzufinden. Er ist um soansteckender, in je größerer Zahl die Kranken in einemZimmer beisammenliegen, und tritt namentlich an solchenPlätzen, an welchen eine große Anzahl von Menschen aufeinen engen Raum zusammengedrängt ist, wie auf Schiffen, inGefängnissen, in Lazaretten etc., auf (Schiffstyphus, Kerker-,Lazarettfieber). Hier scheinen die Ausdünstungen undExkremente, die Beimischung ihrer Zersetzungsprodukte zu dereingeatmeten Luft, den Nahrungsmitteln und Getränken denwesentlichsten Faktor für die Entstehung des Typhusgiftsabzugeben. In Gegenden ferner, wo ein großer Teil derBevölkerung in Armut und Elend lebt, kommt der exanthematischeT. endemisch vor. Besonders nach Mißernten und Teurungensteigert sich mit der Not auch die Häufigkeit derTyphusfälle, und es treten die verheerenden Epidemien desHungertyphus auf. Ebenso sind belagerte Städte und schlechtversorgte Feldlager häufig der Sitz verheerenderTyphusepidemien (Kriegstyphus). Das frühste Kindesalter unddas Greisenalter bleiben gewöhnlich vom exanthematischen T.verschont, alle übrigen Lebensalter sind dafür gleichempfänglich. Hat jemand den exanthematischen T. einmalüberstanden, so ist seine Disposition für eine neueErkrankung derselben Art bedeutend abgeschwächt, dochkeineswegs ganz getilgt. Der exanthematische T. war von Anfang des16. bis zum Ende des 18. Jahrh. über alle Länder Europasverbreitet. Während der Kriege im Anfang dieses Jahrhundertserreichte er seine größte Ausbreitung. Nach jener Zeitschien er auf dem Kontinent ganz verschwunden zu sein, erst in den40er Jahren zeigte er sich wieder epidemisch in Oberschlesien etc.Gegenwärtig bildet er auf den britischen Inseln und ineinzelnen Gegenden Mitteleuropas (Oberschlesien, Polen, russischeOstseeprovinzen) die endemische Form des T. Kleine Epidemien desexanthematischen T. werden überall von Zeit zu Zeit beobachtetund sind dann stets durch Einschleppung von andern Orten herhervorgerufen. Vor dem Ausbruch der Krankheit, in der Zeit derInkubation, klagen die Kranken meist schon über leichtesFrösteln, Kopfweh, gestörten Schlaf, Appetitlosigkeitetc. Die eigentliche Krankheit beginnt mit einem einmaligenSchüttelfrost und Fiebersymptomen von großer Heftigkeit.Sofort fühlen sich die Kranken aufs äußerste mattund kraftlos, klagen über Schwere und Benommenheit des Kopfes,zuweilen auch über heftigen Kopfschmerz. Dazu gesellen sichSchwindel, Flimmern vor den Augen, Ohrensausen,Schwerhörigkeit, Schmerzen in den Gliedern, Zittern bei denBewegungen der Arme und Beine. Die Kranken liegen meist schon sehrapathisch im Bett und haben leichte Delirien. Andre Patienten sindaufgeregt und kaum im Bett zu erhalten. Am 3.-5. Tag der Krankheittreten am Rumpf kaum linsengroße rote Flecke auf, welche sichmit dem Finger leicht wegdrücken lassen, aber sofortwiederkehren. Von diesem Exanthem, den Flecken, rührt der NameFleck-, exanthematischer T. her. Dieselben vermehren sich, breitensich gegen den Hals und die Gliedmaßen aus, bis endlich derganze Körper, mit Ausnahme des Gesichts, von ihnen bedecktist. Sie verlieren sich erst gegen das Ende der zweitenKrankheitswoche, wobei das Fieber und die tiefe Benommenheit desBewußtseins gleichzeitig abnehmen. Sie werden späterblau-rot, lassen sich dann nicht mehr vollständigwegdrücken und gehen manchmal sogar in wirkliche Petechien, d.h. in kleine Blutergüsse in die Haut, über. Trotz derschweren Fieberbewegung ist der Ausgang in Genesung bei weitem derhäufigste. Tritt der Tod ein, so erliegen die Kranken entwederin der zweiten Woche dem hohen Fieber, oder sie enden durchhinzutretende Lungenentzündung. Die Sektion ist im Gegensatzzu dem Unterleibstyphus ohne örtliche Befunde, nur Milz, Leberund Nieren zeigen die allen Infektionskrankheiten gemeinsamenSchwellungen.

2) Der Unterleibs- oder Darmtyphus (T. abdominalis) istebenfalls eine Infektionskrankheit, aber nur selten von Person zuPerson ansteckend (kontagiös), während Übertragungendes Giftes durch Dejektionen und Wäsche besonders aufKrankenwärter, Wäscherinnen etc. in zahlreichenFällen außer allem Zweifel gesetzt sind. Eine wichtigeRolle bei der Bildung des Typhusgifts spielen jedenfalls dieZersetzungen tierischer Substanzen und die Beimengung derZersetzungsprodukte zu den Speisen, Getränken und zu der Luft.Das häufige Vorkommen des T. in dicht bevölkertenStädten, in welchen die Krankheit niemals vollständigerlischt, wohl aber von Zeit zu Zeit eine epidemische Ausbreitungerfährt, scheint meist auf der enormen Zersetzung undVerwesung zu beruhen, in welcher sich der Boden großerStädte wegen massenhafter Aufnahme von Auswurfstoffenbefindet. Die Erzeuger des Typhusgifts sind, wie Klebs 1881nachgewiesen, kleine, stäbchenförmige Spaltpilze(Bakterien), deren nähere Eigenschaften indes noch derAufklärung harren. - Typhusepidemien pflegen vorzugsweise infeuchten Jahren während des Spätsommers, im Herbst und zuAnfang des Winters zu herrschen. Das Auftreten des T. steht ineiner gewissen Wechselbeziehung zu den Schwankungen desGrundwasserstandes (s. Grundwasser). Erreicht infolgeatmosphärischer Verhältnisse zu gewissen Zeiten dasGrundwasser einen relativ hohen Stand, um später zu seinernormalen Tiefe zu fallen, oder fällt es anderseits einmalabsolut sehr tief, so werden relativ große und dickeSchichten des mit organischen, in Zersetzung begriffenen Substanzendurchtränkten Erdreichs trocken gelegt. Infolgedessen tritteine vermehrte Fäulnis dieser Stoffe ein; diegesundheitsschädlichen Produkte dieser Zersetzung mischen sichdem Trinkwasser bei und werden so als Typhusgift selbst denmenschlichen Wohnungen zugeführt. Säuglinge und Greiseerkranken sehr selten am T., das mittlere Lebensalter ist ammeisten dazu disponiert. Die Zahl der am T. erkrankten Männerist etwas größer als die der Frauen; kräftige undwohlgenährte Individuen erkranken um vieles leichter alsschwächliche und schlecht genährte, und unter denärmern Klassen der Bevölkerung ist die Krankheit etwashäufiger als unter den wohlhabenden. Schwangere und stillendeFrauen sind vor dem T. fast absolut sicher. Nach dem einmaligenÜberstehen der Krankheit erlischt mit seltenen Ausnahmen dieDisposition zu neuer Erkrankung. Der eigentliche Sitz desTyphusprozesses ist der Darmkanal, besonders die untere Hälftedes Dünndarms. Die Schleimhaut des Dünndarms befindetsich in einem katarrhalischen Zustand. Die Drüsenapparateschwellen durch eine reichliche Zellenwucherung zu markig weichen,flachen Knoten an, in gleicher Weise beteiligen sich dieGekrösdrüsen. Die Milz ist in allen Fällenvergrößert bis

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Typhus (Unterleibs- T.)

zu dem Fünf-, ja Zehnfachen des normalen Volumens; dasGewebe derselben ist in eine äußerst blutreiche, weiche,dabei sehr brüchige Substanz verwandelt. Regelmäßigsind auch in geringerm Grade die Leber und Nieren geschwollen undentzündlich verändert. Die Drüsenhaufen des unternDünndarms wandeln sich nach kurzem Bestehen an ihrerOberfläche in eine bräunliche oder galligdurchtränkte, schorfartige Masse um, welche abgestoßenwird. Auf der Schleimhaut zeigt sich dann ein typhösesGeschwür, welches ohne Zurücklassung einer Narbe zuheilen pflegt. In ungünstigen Fällen geht dasGeschwür in der Schleimhaut auf die darunterliegendeMuskelhaut über und kann sogar zur Durchbohrung der Darmwand,damit zu allgemeiner Bauchfellentzündung und zum Todführen. Außer dem untern Dünndarm (Ileotyphus) wirdhäufig auch der Anfangsteil des Dickdarms (Kolotyphus), seltendie Schleimhaut des obern Dünndarms und noch seltener die desMagens (Gastrotyphus) der Sitz der typhösen Geschwüre. Anmanchen Orten und in manchen Epidemien treten dieTyphusgeschwüre auch auf der Kehlkopfschleimhaut(Laryngotyphus) auf. Stets trifft man bei T. auch einenhochgradigen Katarrh der Schleimhaut der Luftwege an, welchem sichLungenentzündung, Pleuritis etc. anschließenkönnen. Der T. beginnt gewöhnlich mit einem allgemeinenKrankheitsgefühl, psychischer Verstimmung, großerMattigkeit, Appetitlosigkeit, unruhigem Schlaf, Kopfschmerzen,Schwindel, Schmerzen in den Gliedern und manchmal wiederholtemNasenbluten. Bald setzt dann mit einem Frostanfall das hohe Fiebermit seinen oben beschriebenen nervösen Zufällen ein. DerUnterleib ist gewöhnlich schon in den ersten Tagen etwasaufgetrieben und gespannt; ein tiefer Druck auf denselben ist demKranken empfindlich, namentlich wenn er in der rechtenUnterbauchgegend ausgeübt wird. An dieser Stelle pflegt manbei Druck, sobald Durchfälle eingetreten sind, auch eineigentümliches gurrendes Geräusch(Ileocökalgeräusch) wahrzunehmen. Auf der Haut desBauches und der Brust findet man jetzt auch vereinzelte rote,linsengroße Flecke (roseolae), welche sich durch Fingerdruckentfernen lassen, alsbald aber wieder zurückkehren. DieKörpertemperatur erreicht in den ersten acht Tagen eineHöhe bis zu 40° C. und ist am Abend um 1/2° höherals am nächstfolgenden Morgen. Die Pulsfrequenz ist dabeiverhältnismäßig gering, 90-100 Schläge in derMinute. Der Harn ist dunkel, in seiner Menge gewöhnlichvermindert. In der zweiten Woche des T. hören die Kranken auf,über Kopfschmerz und Gliederschmerzen zu klagen; der Schwindelaber wird heftiger, zu dem Ohrenbrausen gesellt sichSchwerhörigkeit. Der Gesichtsausdruck des Kranken wirdstupider, seine Teilnahmlosigkeit immer größer. DasBewußtsein wird umnebelt, und die Kranken verfallenallmählich in einen Zustand von Schlafsucht undBetäubung. Sie lassen jetzt Stuhl und Urin häufig untersich gehen, liegen fast regungslos in anhaltender Rückenlage,sind im Bett herabgesunken und haben die Kniee gespreizt. Nurzeitweilig verrät eine zitternde Bewegung der Lippen odereinzelne unverständltche Worte, welche die Kranken murmeln,daß die psychischen Funktionen nicht gänzlich ruhen.Andre Kranke zeigen, daß sie gegen die sie umgebendeAußenwelt vollständig unempfindlich sind, werfen sichfortwährend im Bett hin und her, versuchen das Bett zuverlassen, sich zu entblößen; sie gestikulieren,führen Gespräche oder bringen unzusammenhängendeWorte hervor. Fast immer erfolgen in der zweiten Woche täglichmehrere (meist 3-4) Durchfälle von wässerigerBeschaffenheit. Die Atmung ist beschleunigt und oberflächlich.Die Wangen haben anstatt der hochroten Färbung eine mehrbläuliche angenommen, die Augenlider sind halb geschlossen,die Augenbindehaut gerötet, die Nasenlöcher erscheinen(von eingetrocknetem Schleim) wie angeraucht, Zahnfleisch,Zähne und Zunge sind mit einem schwärzlichen Belagversehen, der Atem ist stinkend. Der Unterleib ist durchgrößern Luftgehalt der Därme trommelartigaufgetrieben, die Empfindlichkeit desselben gegen Druck und dasIleocökalgeräusch bestehen fort. Die Milzanschwellung hatzugenommen, die Roseolae auf dem Bauch haben sich manchmal nochvermehrt, dazu ist die Haut mit zahllosen kleinenSchwitzbläschen bedeckt. Die Körpertemperatur zeigt sichin den Abendstunden auf 40-41,5° C. gesteigert, in denMorgenstunden tritt nur ein schwacher Nachlaß derselben ein.Der Puls macht 110-120 Schläge in der Minute. In der drittenWoche des T. erreicht die Schwäche des Kranken ihrenhöchsten Grad, die lauten Delirien hören auf, dieAufregung und Unruhe weicht einer stets zunehmendenUnempfindlichkeit für alles, was ringsumher vor sich geht. DieErscheinungen am Unterleib und an der Brust nehmen noch zu, auchdie Körpertemperatur und die Pulsfrequenz sind eher gesteigertals vermindert. Die meisten Fälle eines tödlichenAusganges fallen in die dritte Woche. In günstigen Fällenstellt sich etwa in der Mitte der dritten Woche eine Abnahme derKrankheitserscheinungen ein. Die Körpertemperatur erreichtzwar am Abend noch 40-41° C., pflegt aber des Morgens um 2°niedriger zu sein. Nach mehreren Tagen gehen auch dieAbendtemperaturen ganz allmählich herab, mit derKörpertemperatur sinkt auch die Pulsfrequenz. Diese allgemeineBesserung, welche häufig auch erst in der vierten Wocheeintritt, geht entweder direkt in Genesung über, welche aberstets sehr langsam verläuft, oder es schließen sichNachkrankheiten verschiedener Art oder neue Ablagerung vonTyphusmasse im Darm an (Typhusrecidiv), und der Kranke gehtdarüber bald zu Grunde, bald wenigstens vergehen noch Wochenbis zum Beginn der definitiven Genesung. Der bisher geschilderteVerlauf des T. zeigt mannigfache Modifikationen. UnterAbortivtyphus (Febricula, Febris typhoides) versteht man diebesonders leicht und schnell fast nach Art eines akutenMagenkatarrhs verlaufenden Fälle von T. Eine andreModifikation ist der T. ambulatorius. leichte Typhusfälle, beiwelchen unter verhältnismäßig leichten anatomischenund klinischen Erscheinungen die Kranken umhergehen und, wenn auchmangelhaft und unter großer Selbstüberwindung, ihregewöhnlichen Geschäfte zu besorgen im stande sind. Inandern Fällen zeigt der T. einen höchst tumultuarischenVerlauf, die Krankheitserscheinungen folgen schneller alsgewöhnlich auf einander, die Kranken gehen dann oft schonfrühzeitig (Ende der ersten, Anfang der zweiten Woche) zuGrunde. Zwischen allen den genannten Typhusformen besteht jeder nurdenkbare Übergang. Unter den Zwischenfällen, welche dennormalen Verlauf des T. in den ersten Krankheitswochenunterbrechen, sind die wesentlichsten die Verschwärungen vonDarmarterien, durch welche profuse und in nicht seltenenFällen tödliche Blutungen des Darms hervorgerufen werden.Unter den zahlreichen Nachkrankheiten des T. sind zu nennen: dieLungenentzündung, Pleuritis, die Parotitis, dieNierenentzündung etc., Nachkrantheiten, welche in den meistenFällen den Tod des Patienten herbeiführen. Der

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Typik - Typolithographie.

T. geht am häufigsten in Genesung über. Währendfrüher eine Sterblichkeit von etwa 25 Proz. bestand, istdieselbe heute auf durchschnittlich 10 Proz. herabgemindert, undman bezeichnet eine Typhusepidemie mit höhererDurchschnittssterblichkeit als "schwere", mit niedrigerer als"leichte". Was die Behandlung des T. anbetrifft, so ist eszuvörderst geraten, den Kranken zu isolieren. DasKrankenzimmer muß groß sein und oft und gründlichgelüftet werden. Die Zimmertemperatur darf 14° nichtüberschreiten. Der Körper des Kranken mußängstlich reinlich gehalten und vor dem Aufliegengeschützt werden (durch sorgfältige Zubereitung desLagers). Der Mund muß mit einem reinen angefeuchtetenLeinwandläppchen regelmäßig gereinigt und derstinkende Belag der Zähne etc. entfernt werden. AlsGetränk gibt man einfach Wasser und fordert zu fleißigemTrinken auf. Von Medikamenten gibt es kein Spezifikum gegen T.Vielfach wird, besonders im Anfang der Krankheit, Kalomel mit gutemErfolg verabreicht, von manchen eine Mischung von Jod und Jodkaligerühmt, außerdem kommen unter UmständenAntipyretika, wie Chinin, Salicylsäure etc., in Anwendung.Viel wichtiger ist eine richtige Diät, die im Hinblick auf denlangwierigen und konsumierenden Verlauf des T. kräftigend undleicht verdaulich sein muß. Deshalb wird Milch in reichlichenQuantitäten, Kakao mit Milch, Bouillon mit Ei, bei Appetit auffeste Speisen eingeweichtes Weißbrot und Wein gereicht. DieHeftigkeit des Fiebers, von welcher im Anfang der Krankheit diemeiste Gefahr droht, bekämpft man durch energischeWärmeentziehung, namentlich durch kalte Bäder. Diesesystematische, von E. Brand eingeführte Kaltwasserbehandlungbesteht in Vollbädern, die man von 24° C. auf 20°abkühlt, und in welche man den Kranken, solange dieKörperwärme 39° C. übersteigt, von Anfang bisEnde der Krankheit, bei Tag und bei Nacht alle 3 Stunden auf etwa15 Minuten hineinträgt. Neben der Herabsetzung des Fieberserreicht man durch diese Bäderkur einmal eine Reinigung desKörpers und ferner eine allgemeine Erfrischung und Ermunterungbesonders der unbesinnlichen Kranken. Nach dem Bad wird der Krankein wollenen Laken frottiert, abgetrocknet und durch Weingestärkt. Die schweren Typhusfälle werden hierdurch inleichte umgewandelt, die Sterblichkeit auf ein Minimumherabgesetzt. Während der Rekonvaleszenz muß dieDiät der Kranken mit ängstlicher Sorgfalt überwachtwerden. Die Genesenden pflegen einen außerordentlichenAppetit zu entwickeln und müssen daher vor zu reichlichenMahlzeiten, schwerverdaulichen, groben Speisen sorgfältiggehütet werden. Man wiederholt deshalb die Mahlzeiten lieberhäufiger, gibt aber nur kleine Portionen; anfangs ist nurflüssige oder halbflüssige Nahrung (Milch, weiche Eier)zu gewähren, allmählich geht man zu Fleischdiät undzu Pflanzenkost über. Jeder Diätfehler bringt denGenesenden wieder in Gefahr, und jede scheinbar geringfügigeStörung der Verdauung erfordert die sorgfältigsteBerücksichtigung.

3) Mehr mit dem Flecktyphus als dem Unterleibstyphus verwandtist der Rückfalltyphus (das rekurrierende Fieber, T.recurrens, engl. Relapsing Fever). Auch diese Form des schwerennervösen Fiebers ist ansteckend und tritt epidemisch auf,namentlich wo eine dichte arme Bevölkerung in unreinlichenWohnungen und von kärglicher Nahrung lebt, so daß alsHunger- oder Kriegstyphus bald die exanthematische, bald dierekurrierende Krankheitsform im Vordergrund steht. DerRückfalltyphus ist dadurch ausgezeichnet, daß nach einemmehrtägigen heftigen Fieber, das 40° C. und darübererreicht, plötzlich unter reichlichem Schweiß ein Abfallbis zu 37 oder 36,5° C. einsetzt, an den sich einemehrtägige, völlig fieberfreie Pause anschließt.Ebenso plötzlich kommt nun der Rückfall, er währt 3,4 oder 5 Tage, und wieder sinkt er ebenso schnell wie das ersteMal. Drei bis vier solcher Fieberperioden folgen einander, danntritt langsame Genesung ein. Der Tod ist so selten, daßbeinahe immer eine Lungenentzündung oder Ähnliches zuvermuten ist, wenn ein Kranker im Fieberanfall zu Grunde geht. DieUrsache des Rückfalltyphus ist besser gekannt als die derandern Typhen: Obermeier hat gefunden, daß zur Fieberzeit dasBlut der Kranken zahllose mikroskopische Pilzfädchen(Spirochäten, s. Spirillum) von geschlängelter Gestaltenthält, welche in der fieberfreien Periode fehlen; nur daspilzhaltige Blut vermag bei Impfungen das Krankheitsgift zuübertragen, wie direkte Versuche an Menschen, in Odessaausgeführt, dargethan haben. Leider besitzen wir noch immerkeine Kunde von der Herkunft der Spirochäte und noch wenigervon einem Mittel, ihre Vegetation im lebenden Körper zubekämpfen. Die Behandlung besteht daher nur in Darreichungkräftiger, anreizender Diät. Der Rückfalltyphus istschon im vorigen Jahrhundert in einzelnen Ländern vorgekommen;doch hat man ihn erst genauer kennen gelernt in der von 1843 bis1848 andauernden großen Epidemie, die Schottland und Irlandüberzog, ferner bei Gelegenheit der ägyptischen Epidemieund neuerdings 1864-1865, als die Seuche in Petersburg ingroßer Ausbreitung herrschte. Seit dem Jahr 1871 ist derRückfalltyphus auch in einzelnen Gegenden Deutschlands inepidemischer Verbreitung beobachtet worden. Er wurde aus Polen undden russischen Ostseeprovinzen eingeschleppt und trat in denöstlichen Provinzen Preußens, vorzugsweise in Breslau,1873 auch in Berlin, Leipzig, Dresden, Wien etc. auf. Vgl.Griesinger, Infektionskrankheiten (2. Aufl., Erlang. 1864);Girgensohn,Die Rekurrensepidemie in Riga 1865-75; Virchow,Über den Hungertyphus und einige verwandte Krankheitsformen(Berl. 1868); v. Pastau, Die Petechialtyphus-Epidemie in Breslau1868/69 (Bresl. 1871); Murchison, Die typhoiden Krankheiten(deutsch, Braunschw. 1867); Brunner, Die Infektionskrankheiten(Stuttg. 1876); Seitz, Der Abdominaltyphus (das. 1888); Brand,Über den heutigen Stand der Wasserbehandlung des Typhus (Berl.1887).

Typik (griech., typische Theologie), s. Typus.

Typographie (griech.), Buchdruckerkunst.

Typolithographie (griech.), sowohl der Druck von hochgeätzten Steinen auf der Buchdruckpresse(Tissiérographie, s. d.) als auch der Druck von Umdrucken,die vom Schriftsatz oder von Holzschnitten auf Stein gewonnenwurden, deren Vervielfältigung alsdann auf derSteindruckpresse allein oder mit lithographierten Zeichnungenvereinigt erfolgt; letzteres geschieht meist in Fällen, wo einwortreicher Text, dessen Herstellung für den Lithographenschwierig und zeitraubend sein würde, bildliche Darstellungenzu begleiten hat. Der überdruck wird mit starker Farbe aufglattes, festes Papier gemacht, dessen bedruckte Seite man auf denvorgängig mit trocknem Bimsstein geschliffenenlithographischen Stein legt, der nun durch die Presse gezogen wird.Auch ältere Drucke lassen sich vermittelst chemischerBehandlung auffrischen, auf Stein übertragen undvervielfältigen (s. Anastatischer Druck undReproduktionsverfahren).

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Typologie - Tyrone

Typologie (griech.), s. Typus.

Typometer (griech.), ein in der Schriftgießereigebrauchtes Meßinstrument zur mathematisch genauenFeststellung der Kegelstärke der Schrift. Seit 1879 bildet dasvon H. Berthold in Berlin auf wissenschaftlicher Basisbegründete T. die Norm für die Schriftgrößenin den deutschen Gießereien.

Typometrie (griech.), das Verfahren, auf typographischemWeg Landkarten, Pläne, geometrische Figuren herzustellen. Dieersten Versuche von Haas in Basel (1770) und Breitkopf in Leipzigwurden später von Didot in Paris und namentlich vonRaffelsberger in Wien vervollkommt. Die T. ist durch die Chemitypieund die photomechanischen Reproduktionsverfahren vollständigverdrängt.

Typoskop, s. Kaleidoskop.

Typus (griech., Mehrzahl: Typen), Vorbild, Urbild; diemehreren Dingen einer und derselben Art oder Gattung gemeinsame(ideelle) Grundform, z. B. T. einer Tier-, einer Pflanzengattung,einer Krankheit etc. Typik und Typologie, in der älternTheologie die Wissenschaft von der vorbildlichen Beziehung, inwelcher gewisse Personen, Ereignisse, Einrichtungen undAussprüche des Alten Testaments mit ihren entsprechendenGegenbildern (Antitypen) im Christentum stehen sollten.

Tyr, in der nordischen Mythologie Sohn Odins und derFrigg, der Gott des Kriegs und des Schwerts, einer der vornehmstenAsen. Er allein besaß den Mut, den grimmigen Fenrirwolf, derdie Asen in Asgard bedrohte, zu bändigen, wobei er seine eineHand einbüßte. Beim Weltuntergang kämpft er mit demHöllenhund Garm, und beide töten sich wechselseitig. Nachihm wurde der Dienstag (s. d.) benannt. Bei den alten Sachsenhieß T. Saxnot (angels. Saxneat), bei den Schwaben Ziu.

Tyralin, s. v. w. Fuchsin, s. Anilin, S. 591.

Tyrann (griech. Tyrannos), ursprünglich jederunbeschränkte Herrscher, dann insbesondere einAlleinherrscher, der nicht durch Erbschaft, sondern durch dengewaltsamen Umsturz der bestehenden Verfassung an die Spitze desStaats gekommen war, so daß man unter T. im geschichtlichenSinn den Inhaber einer angemaßten Alleinherrschaft (Tyrannis)zu verstehen hat, während Äsymnet (s. d.) einen durchfriedliche Übereinkunft zur Neuordnung der Verfassungeingesetzten Herrscher bezeichnet. Die Tyrannis ist im 7. und 6.Jahrh. v. Chr. in vielen griechischen Staaten die Zwischenstufezwischen der oligarchischen oder aristokratischen Staatsform undder Demokratie, indem sich ein ehrgeiziges Mitglied derAristokratie an die Spitze des unterdrückten Volkes stellte,sich eine Leibwache geben ließ und mit dieser den Staat nachunbeschränkter Willkür beherrschte; während derreiche Adel unterdrückt wurde, hoben die Tyrannen das Volkdurch Erhaltung des Friedens, Begünstigung von Handel undGewerbe, Bauten u. dgl. Daher gab es unter den Tyrannen vieletreffliche Herrscher, wie Peisistratos in Athen, Gelon und HieronII. in Syrakus, Periandros in Korinth, Kleisthenes in Sikyon u. a.;jedoch auch diese oder ihre Nachkommen wurden meist durch dengewaltthätigen Ursprung ihrer Macht schließlich doch zuneuen Gewalttaten getrieben. Als daher nach dem allgemeinen Siegder republikanischen Staatsform in Griechenland die Monarchieüberhaupt als eine unwürdige, sklavische Staatsformangesehen wurde, verband man mit dem Namen eines Tyrannen denBegriff eines grausamen, willkürlichen Herrschers, wie esderen in der Zeit des Verfalls mehrere gab; in diesem Sinnheißen auch die von Lysandros in Athen zur Einführungeiner neuen Verfassung eingesetzten 30 Männer, welche ihr Amtzu grausamer Willkürherrschaft mißbrauchten, dieDreißig Tyrannen. In der spätern römischenGeschichte werden die Statthalter, die sich unter Gallienus in denverschiedenen Provinzen des Reichs 260-268 n. Chr. zu Gegenkaisernaufwarfen, aber bald wieder gestürzt wurden, auch alsdreißig Tyrannen bezeichnet. Vgl. Plaß, Die Tyrannisbei den Griechen (Leipz. 1859, 2 Bde.).

Tyrann (Königswürger, Tyrannus intrepidusTemm.), Vogel aus der artenreichen, nur in Amerika vertretenenFamilie der Tyrannen (Tyrannidae) und der Ordnung derSperlingsvögel, 21 cm lang, mit ziemlich langen, spitzenFlügeln, ziemlich langem, breitem, abgerundetem Schwanz,kräftigen, hochläufigen, starkzehigen Beinen und etwakopflangem, starkem, geradem, an der Spitze hakig herabgebogenemSchnabel, ist oberseits dunkel blaugrau mit einer Haube ausfeuerfarbig gerandeten Federn, auf der Unterseite grauweiß,an Hals und Kehle weiß, mit bräunlichschwarzen, an derSpitze weißen Schwingen und Steuerfedern. Er lebt alsZugvogel in Nordamerika, findet sich in Baumgärten, anWaldrändern, Ufern und auf Feldern, nährt sich vonKerbtieren und verfolgt mit dem größten MutRaubvögel, Krähen und Katzen, besonders während dasWeibchen brütet, zum Schutz des eignen Nestes. Das Gelegebesteht aus 4-6 rötlichweißen, braun getüpfeltenEiern. Man jagt ihn seines zarten Fleisches halber.

Tyrannius, Kirchenschriftsteller, s. Rufinus 2).

Tyras, antiker Name des Dnjestr.

Tyraß, Deckgarn zum Fang von Rebhühnern etc.von etwa 20 m Länge und 15 m Breite mit 4 cm. Maschenweite,von starkem Garn spiegelig gestrickt. Zwei Jäger ziehen dasGarn an einer daran befestigten Leine über die Hühner,vor welchen ein sicherer Hühnerhund feststeht, nach diesen zuund bedecken sie mit dem Rock, wenn sie unter dem Netzaufflattern.

Tyree (spr. tirríh), Insel, s. Tiree.

Tyres (engl., spr. teirs), s. v. w. Tires.

Tyrnau, s. Tirnau.

Tyrnavos, Hauptort der gleichnamigen Eparchie imgriechischen Nomos Larissa (Thessalien), am nördlichen Uferdes Xerias (Europos), 3 km von der türkischen Grenze gelegen,hat (1883) 4337 Einw., gute Schulen, eine Kaserne und Baumwoll- undSeidenweberei.

Tyroglyphus, s. Milben; Tyroglyphidae (Käsemilben),Familie aus der Ordnung der Milben (s. d., S. 606).

Tyrolienne (franz.), s. Ländler.

Tyrone (spr. tirróhn) , Binnengrafschaft in deririschen Provinz Ulster, umfaßt 3264 qkm (59,3 QM.), wovon 42Proz. auf Seen, Sümpfe und Moore kommen, ist, mit Ausnahme desöstlichen Teils am See Neagh, ein Hügelland und reich anNaturschönheiten, weshalb sie vielfach von Touristen besuchtwird. Indes steigen die Hügel nur an der Nordgrenze (SlieveSawel 683 m) zu bedeutenderer Höhe an. Unter den zahlreichenkleinen Flüssen sind der Foyle (Strule), mit seinenZuflüssen Moyle und Derg, und der Blackwater die wichtigsten.Der Boden ist an einzelnen Stellen, besonders in den Sumpf- undMoorgegenden, der Kultur ganz unzugänglich, an andern Stellendagegen höchst fruchtbar und erzeugt dort alle in Irlandüberhaupt heimischen Produkte. Von Mineralien werdenSteinkohlen in geringer Menge gewonnen. Die Bevölkerung istsehr im Abnehmen begriffen (1851 : 251,865, dagegen 1881 nur noch197,719 Seelen, worunter 56 Proz. Katholiken) und lebt in

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Tyros - Tzetzes.

größter Dürftigkeit. Haupterwerbsquelle ist dieViehzucht (1881: 23,823 Pferde, 155,116 Rinder, 45,933 Schafe,28,417 Schweine), weniger der Ackerbau. Die Industriebeschränkt sich auf Flachs- und Garnspinnerei; ebenso ist derHandel ohne wesentliche Bedeutung. Hauptstadt ist Omagh.

Tyros (hebr. Sor, "Felsen"), eine der berühmtestenStädte des Altertums, nebst Sidon die wichtigste und reichsteSee- und Handelsstadt Phönikiens, 200 Stadien (38 km) vonSidon, lag teils auf dem Festland, teils auf zwei kleinen, flachen,aber felsigen Inseln und war weniger bedeutend, bis im 10. Jahrh.v. Chr. König Hiram, der Freund Davids und Salomos, die beidenInseln durch Aufschüttung vereinigte und erweiterte, zweiHäfen anlegte und die Stadt mit hohen Mauern umgab. DieDoppelinsel, 1600 Schritt von der Festlandküste entfernt,hatte nur 22 Stadien (5300 Schritt) im Umfang, weshalb mangenötigt war, die Häuser sehr hoch (5-6 Stockwerke) zubauen. Auf ihr befand sich ein uralter Tempel des Melkart, der vonden Kolonien jährlich mit Geschenken beschickt wurde. T.überflügelte bald Sidon, beherrschte den Handel und dieKolonisation im westlichen Mittelmeer (von hier ging 846 v. Chr.die Gründung Karthagos aus) und brachte die ganzesüdliche Küste bis zum Berg Karmel unter seine Gewalt.Die assyrischen Könige Salmanassar und Sargon belagerten T.fünf Jahre lang, 725-720, vergeblich, und Nebukadnezar konntees erst 573 nach 13jähriger Belagerung erobern. Als Alexandernach dem Sieg bei Issos 333 Phönikien betrat, verweigerte T.dem Sieger den Einzug, wurde von diesem belagert, aber erst nachsiebenmonatlicher schwerer Anstrengung der Flotte und Landarmee,welch letztere auf einem vom Festland aus geführten Erddammvorging, erobert (332). Dieser Damm hat sich allmählich durchAnspülung zu jenem Isthmus verbreitert, welcher die Inselheute mit dem Festland verbindet. Die Stadt hatte dann noch einmaleine 14monatliche Belagerung durch Antigonos auszuhalten. Unter derrömischen Herrschaft behielt sie ihre Freiheit und eigneVerfassung, blühte durch Handel und Industrie (Metallwaren,Weberei und Purpurfärberei) und ward vom Kaiser Severus zurrömischen Kolonie erhoben. In den Kreuzzügen galt siefür einen festen Platz, der von den Kreuzfahrern bis 1191standhaft behauptet wurde. Friedrich Barbarossa wurde 1190 dortbegraben. Unter der türkischen Regierung kam T. herab;verheerende Erdbeben hatten das Versinken ganzer Stadtteile unterden Meeresspiegel zur Folge. Das heutige Sur erfüllt kaum einDritteil der ehemaligen Insel und ist ein Ort von einigen hundertelenden Häusern mit ca. 5000 Einw. (zur HälfteMohammedaner, zur Hälfte Christen, wenige Juden). Der Hafenist versandet. Das interessanteste Gebäude ist die aus dem 12.Jahrh. stammende Kreuzfahrerkirche.

Tyrosin C9H11NO3 findet sich in einigen tierischenGeweben, besonders in der Leber und Bauchspeicheldrüse,entsteht neben Leucin bei der Fäulnis eiweißartigerStoffe (daher im alten Käse) und bei Behandlung derselben, derWolle und des Horns mit verdünnter Schwefelsäure oderkaustischen Alkalien. Es bildet feine, farb- und geruchloseKristalle, löst fich in Wasser und Alkohol, nicht inÄther und verbindet sich mit Säuren, Basen und Salzen,gibt bei schnellem Erhitzen Phenol, mit schmelzendem ÄtzkaliParaoxybenzoesäure, Essigsäure und Ammoniak.

Tyrrhener (Tyrrheni,Tyrseni), pelasgischer Volksstamm,der, vor dem Trojanischen Krieg aus Kleinasien verdrängt, sichnach Attika gewendet, dann aber, auch von dort vertrieben, sichzerstreut und namentlich auf Lemnos, Imbros und an der Küstevon Italien angesiedelt haben soll, wo er sich durch seineSeeräubereien den Hellenen furchtbar machte. Von den Griechenwerden aber auch die Etrusker T. sowie deren Land Tyrrheniengenannt, und es wird erzählt, daß Tyrrhenus, Sohn deslydischen Königs Atys, dahin ausgewandert sei und dem Land undVolk den Namen gegeben habe. S. Etrurien.

Tyrrhenisches Meer (Toscanisches Meer), der Teil desMittelländischen Meers, welcher zwischen derSüdwestküste Italiens und den Inseln Corsica, Sardinienund Sizilien liegt und die Golfe von Gaeta, Neapel, Salerno, Sant'Eufemia und Gioja bildet; hieß im Altertum Mare Tyrrhenumoder Mare Tuscum (nach dem an seiner Küste herrschendentyrrhenischen Stamm der Etrusker oder Tusker), auch Mare inferum.S. Karte "Mittelmeerländer".

Tyrtäos, griech. Elegiker des 7. Jahrh. v. Chr., ausAthen oder aus Aphidnä in Attika, verpflanzte die ionischeElegie nach dem dorischen Sparta. Nach der Sage erbaten dieSpartaner in der Bedrängnis des zweiten Messenischen Kriegsauf die Weisung des delphischen Orakels einen Führer von denAthenern, die ihnen den lahmen T. schickten; diesem gelang es,durch seine Elegien die entzweiten Spartaner zur Eintrachtzurückzuführen und zu solcher Tapferkeit zu entflammen,daß sie den Sieg gewannen. Gewiß ist, daß sichT.' Gesänge bis auf die spätesten Zeiten im Munde derspartanischen Jugend erhielten. Sie waren teils im elegischenVersmaß und in episch-ionischer Mundart, teils imanapästischen Marschmetrum abgefaßt. AußerBruchstücken einer "Eunomia" ("Gesetzmäßigkeit")betitelten Elegie, durch welche er die Zwietracht der Spartanerbeschwichtigte, und eines Marschliedes besitzen wir von seinen"Ermahnungen" ("Hypothekar") genannten Kriegselegien noch dreivollständig, die zu den schönsten Überresten derantiken Poesie gehören. Ausgaben von Schneidewin ("Delectuspoesis graecae elegiacae", Bd. 1, Götting. 1838) und Bergk("Poetae lyrici graeci", Bd.2); Übersetzung von Weber("Dieelegischen Dichter der Hellenen", Frankf. 1826) u. a.

Tysmienica, Stadt in Galizien, BezirkshauptmannschastTlumacz, an der Staatsbahnlinie Stanislau-Husiatyn, mitBezirksgericht, Schloß, Dominikanerkloster, Handel (Pferde)und (1880) 7180 Einw.

Tyssaer Wände, s. Tetschen.

Tzako, s. v. w. Tschako.

Tzendalen (Tsendals), Indianerstamm, zum Mayastammgehörig, im mexikan. Staat Chiapas und im benachbartenGuatemala, an den Quellen von Tabasco und Uzumazinta. Vgl. Stoll,Zur Ethnographie der Republik Guatemala (Zürich 1884).

Tzetzes, Johannes, griech. Grammatiker und Dichter ausder zweiten Hälfte des 12. Jahrh., lebte in Konstantinopel vomHof, namentlich von der Kaiserin Irene, begünstigt und war einfür seine Zeit belesener, aber oberflächlicher unddünkelhafter Gelehrter, wie seine zahlreichen Schriftenerkennen lassen. Außer Kommentaren zu Homer, Hesiod,Aristophanes, Lykophron u.a., deren Wert in den benutzten Schriftenberuht, verfaßte er ein Epos in 1665 schlechten Hexametern:"Iliaca", bestehend aus drei Abteilungen: "Antehomerica","Homerica" u. "Posthomerica" (hrsg. von Bekker, Berl. 18I6; vonLehrs, Par. 1840), und ein "Geschichtenbuch" ("Biblos historike")von 12,661 politischen Versen, gewöhnlich nach einerunbegründeten Einteilung in 13 Abschnitte von ca. 1000 Versen"Chiliades" genannt (hrsg. von Kießling,

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Tzimisces - Ubbelohde.

Leipz. 1826), eine ebenso ungenießbare wie durch dieFülle sonst verlorner Notizen wertvolle Sammlung mythischerund historischer Erzählungen.

Tzimisces, Johannes, oström. Kaiser, geboren um 925in Armenien, kämpfte siegreich gegen die Araber,unterstützte Nikephoros Phokas 963 bei seiner Thronbesteigung,ermordete ihn aber 11. Dez. 969 auf Anstiften der KaiserinTheophano, welche er darauf nach der Insel Prote verbannte, undnahm selbst vom Thron Besitz. Obwohl zu Ausschweifungen geneigt,regierte er mild und gerecht, besiegte den russischen FürstenSwätoslaw, welcher das zerrüttete Bulgarenreich zuerobern suchte, in heftigen Kämpfen 970 und 971, machte selbstdie Bulgaren unterthänig und setzte ebenso glücklich dieEroberungen seines Vorgängers in Syrien und Armenien fort. Mitdem deutschen Kaiser Otto I. schloß er Frieden und sandte diePrinzessin Theophano als Gattin für den Sohn desselben, OttoII. (972). Er starb schon 976, wahrscheinlich vergiftet.

Tzschirner, Heinrich Gottlieb, protest. Theolog, geb. 14.Nov. 1778 zu Mittweida in Sachsen, ward Diakonus in seinerVaterstadt, 1805 Professor der Theologie zu Wittenberg und 1809 inLeipzig, 1815 auch Superintendent daselbst, 1818 Domherr desHochstifts Meißen; starb 17. Febr. 1828. Als akademischerLehrer übte T. großen Einfluß. Unter seinendurchweg den rationalistischen Standpunkt vertretenden Schriftennennen wir: "Der Fall des Heidentums" (Leipz. 1829); dieFortsetzung der "Kirchengeschichte" Schröckhs (s. d.);"Protestantismus und Katholizismus aus dem Standpunkt der Politik"(4. Aufl., das. 1824); "Das Reaktionssystem" (2. Aufl., das. 1825).Mit Stäudlin gab er das "Archiv für alte und neueKirchengeschichte", mit demselben und Vater das "KirchenhistorischeArchiv", mit Keil und Rosenmüller die "Analekten" heraus undredigierte seit 1822 das "Magazin für Prediger". Aus seinemNachlaß erschienen "Vorlesungen über die christlicheGlaubenslehre" (Leipz. 1829).

U

U, u, lat. U, u, der dumpfste und tiefste der Vokale,entsteht dadurch, daß bei der Aussprache die ganze Zunge nachhinten gezogen und in ihrem hintern Teil zum Gaumen emporgehobenwird, während die Lippen sich bis auf eine kleinekreisförmige Öffnung zusammenziehen und gleichzeitigetwas vorgeschoben werden. Es bildet sich dadurch ein ziemlichgroßer Resonanzraum mit kleiner runderAusflußöffnung von der Gestalt einer bauchigen Flascheohne Hals; solche Flaschen geben die tiefsten Töne. Daher istes bei musikalischen Kompositionen eine Regel, auf ein u keinenhohen Ton zu setzen, weil derselbe nicht gesungen werden kann. Inder Sprachgeschichte zeigt das u vielfach die Tendenz, in dashellere v, namentlich aber in das noch hellere üüberzugehen. So wird das französische u schon imAltfranzösischen wie ü gesprochen; hieraus ist dasenglische u = ju, z. B. in hue (spr. hjuh), entstanden,während das kurze englische u meist wie ö gesprochenwird. Auch das griechische Zeichen υ von dem unser uabstammt, nahm früh die Bedeutung eines ü an,während der einfache Laut u durch die zwei Buchstaben ouausgedrückt wurde. Als die Römer ihr Alphabet von denunteritalischen Griechen übernahmen, hatte u oder v noch denLautwert eines u; sie gaben ihm aber die Doppelbedeutung eines uund eines w. Erst im Mittelalter begann man zwischen u (u) und v(v) auch in der Schrift den noch jetzt bestehenden Unterschied zumachen; dazu kam dann ein neues Zeichen für w (s. W). Nochjetzt ist das u Vertreter des w in der deutschen und englischenAussprache des qu, worin q für k steht. Das deutsche ü,der Umlaut von u, tritt ebenso wie das u der Kurrentschrift mitu-Häubchen (u-Strich) erst im spätern Mittelalter auf;ersteres stammt von einem u mit darübergeschriebenem e,letzteres von u mit darübergesetztem o ab.

Abkürzungen.

Als Abkürzung bezeichnet U bei den Römern unter andermUrbs ("Stadt", nämlich Rom), insbesondere u. c. beichronologischen Angaben urbis conditae (urbe condita). d. h. vonder Erbauung der Stadt (Rom) an gerechnet. In der Chemie ist UZeichen für Uran; in den Blaufarbenwerken für Kobaltblau(s. d.).

u. = Ultimo (s. d.).

u. A. w. g. = um Antwort wird gebeten.

u. c., in der Musik = una corda (s. Corda).

u. i. = ut infra (lat.), wie unten

u. j. d. = utriusqae juris doctor (lat.), Doktor beiderRechte.

U. K. = United Kingdom, Vereinigtes Königreich(Großbritannien).

U. L. F. = Unsre Liebe Frau, d. h. die Jungfrau Maria.

ü. M. = über dem Meeresspiegel (beiHöhenangaben).

u. s. = ut supra (lat.), wie oben.

U. S. oder U. S. A. (Am.) = United States (of America),Vereinigte Staaten von (Nord-)Amerika; vgl. "Uncle Sam".

U. S. A. = United States Army, Armee der Verein. Staaten.

U. S. N. = United States Navy, Marine der Verein. Staat.

U. S. S. = United States Ship, Schiff der Ver.Staat.-Marine.

U. T. = Utah Territory.

Ü, ü, s. U

Ualan (Kusaie), Insel der Karolinen (s. d.).

Uapou, eine der Markesasinseln (s. d.).

Uba, Stadt im S. der brasil. Provinz Minas Geraes, hatwichtige Kaffeekultur und steht mit Rio de Janeiro durch eineEisenbahn in Verbindung.

Ubaldo del Monte, Guido, Militär und Mathematiker,geb. 1545 zu Pesaro, 1588 Generalinspektor der toscanischenFestungen, starb 1607. In seinem "Mechanicorum liber" (Pesaro 1577)kommt zuerst das mechanische Prinzip der virtuellenGeschwindigkeiten in Anwendung; außerdem schrieb er:"Planisphaericorum theorica" (das. 1579); "De perspectiva libri VI"(das. 1600); "Problematorum astronomicorum libri VI" und "Decochlea libri VI" (Vened. 1610).

Ubangi (Mobangi), großer Nebenfluß des Congovon N. her, nach van Gele der Unterlauf des Uelle (s. d.).

Ubate, Stadt im Staat Cundinamarca der südamerikan.Republik Kolumbien, 2562 m ü. M., am Sabia, der nördlichdavon durch den Alpensee Fuquera fließt, mit (1870) 7256Einw.

Ubbelohde, August, namhafter Romanist, geb. 18. Nov. 1833zu Hannover, wo sein Vater Wilhelm U., der sich auch alsSchriftsteller durch sein "Statistsches Repertorium über dasKönigreich Hannover" (Hannov. 1823) und die Schrift "Überdie Finanzen des Königreichs Hannover" (das. 1834) bekannt

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Übeda - Überfracht.

machte, vortragender Rat im Finanzministerium war, studierte inGöttingen, Berlin und wieder in Göttingen die Rechte,trat 1854 in den praktischen Justizdienst und habilitierte sich1857 in Göttingen als Privatdozent für römischesRecht. 1862 wurde er zum außerordentlichen Professor fürhannöversches Privatrecht und Landwirtschaftsrecht ernannt,1863 Sekretär des Provinzial-Landwirtschaftsvereins fürGöttingen und Grubenhagen, 1865 geschäftsführenderRedakteur des "Journals für Landwirtschaft". Ostern 1865folgte er einem Ruf als ordentlicher Professor des römischenRechts an die Universität Marburg, die er seit 1871 impreußischen Herrenhaus vertritt. 1886 ward er zum GeheimenJustizrat ernannt. Außer zahlreichen Abhandlungen inverschiedenen Zeitschriften veröffentlichte er: "Über denSatz 'ipso jure compensatur'" (Götting. 1858); "Die Lehre vonden unteilbaren Obligationen" (Hannover 1862); "Über dierechtlichen Grundsätze des Viehhandels" (Götting. 1865);"Erbrechtliche Kompetenzfragen" (das. 1868); "Zur Geschichte derbenannten Realkontrakte auf Rückgabe derselben Spezies" (Marb.1870); "Über die Usucapio pro mancipato" (das. 1870);"Grundriß zu Vorlesungen über die Geschichte desrömischen Privatrechts" (2. Aufl., das. 1881); "ÜberRecht und Billigkeit" (Hamb. 1887).

Ubeda, Bezirksstadt in der span. Provinz Jaen, auf einemPlateau (600 m ü. M.) zwischen dem Guadalquivir und Guadalimargelegen, hat ein großes Kastell, einige gotische Kirchen,Fabrikation von Tuch, Leder und Seife, Wein- und Ölhandel und(1878) 18,149 Einw. U. war zur Zeit der Mauren eine sehrblühende Stadt. Hier 1210 Sieg der Könige von Navarra undKastilien über Abdallah Mohammed von Marokko.

Übelkeit (Übelsein, Nausea), s. Ekel.

Über Bank feuern Geschütze in Feldlafetten,wenn sie hinter der Brustwehr auf einer Geschützbank (s. d.)stehen, um nach allen Richtungen über die Brustwehrhinwegfeuern zu können.

Überbaurecht, s. Baurecht, S. 526.

Überbein (griech., Ganglion), eineeigentümliche harte Anschwellung in der Nähe gewisserGelenke, namentlich des Handgelenks, am Fußrücken etc.,welche meist eine länglichrunde Gestalt und mäßigeGröße, etwa die einer Bohne, besitzt, nicht schmerzhaftund von gesunder Haut bedeckt ist. Die Überbeine stehen immerin einer nahen anatomischen Beziehung zu den Gelenkkapseln undSehnenscheiden, neben denen sie liegen, und erweisen sich beigenauerer Untersuchung als cystenartige Bildungen, welche von einerdünnen fibrösen Hülle umgeben und mit einerdickflüssigen, gallertartigen oder erstarrten und glasigdurchsichtigen Masse erfüllt sind. Diese Inhaltsmasse istwahrscheinlich eingedickte Synovia oder Gelenkschmiere, der Sackdes Überbeins aber ist als Ausstülpung der innernAuskleidungsmembran einer Sehnenscheide oder eines Kapselbandes zubetrachten. Das Ü. entsteht bald ohne nachweisbare Ursache,bald auch durch übermäßige Anstrengung, Dehnung undZerrung eines Gelenks. Die meisten Überbeine veranlassen keineBeschwerden, zuweilen aber beeinträchtigen sie die Bewegungender Hand oder des Fußes mehr oder weniger erheblich.Behandlung des Überbeins besteht am besten im Zerdrückender kleinen Geschwulst mit den Fingern. Geschieht dies nicht, soreicht auch fortgesetztes Kneten aus. Gewaltsam kann man dasÜ. sprengen durch Ausschlagen mit einem Hammer, nachdem manzuvor die Stelle durch Watte gut geschützt hat. Führt dasangegebene Verfahren nicht zum Ziel, so muß das Ü.entweder angestochen und sein Inhalt ausgedrückt, oder dieganze Geschwulst Mithilfe des Messers ausgeschält werden. Dieoperative Behandlung ist jedoch nicht ganz unbedenklich, weil dabeileicht eine Verletzung, ja selbst Eröffnung benachbarterGelenke stattfinden kann.

Überbildung, s. Viehzucht.

Überblasen heißt auf einem Blasinstrument anstattdes Grundtons einen seiner höhern Naturtönehervorbringen. Bei sämtlichen Blasinstrumenten des Orchestersist das Ü. notwendig, und sind die Tonlöcher, Klappen,Ventile etc. nur dazu da, die Lücken zwischen denNaturtönen (s. Obertöne) auszufüllen. Manunterscheidet Instrumente, bei denen beim Ü. nur diegeradzahligen Töne der harmonischen Reihe ansprechen, alserster also die Duodezime, als quintierende von den oktavierenden,bei denen auch die geradzahligen ansprechen; zu erstern gehörtdie Klarinette und ihre Verwandten, zu letztern die Flöte,Oboe, fa*gott, Horn, Trompete, Posaune etc.

Überbrochenes Feld, im Bergbau ein Feld, welchesvöllig abgebaut ist.

Überbürgschaft, s. Afterbürgschaft.

Überdruck (Umdruck), s. Lithographie, S. 837.

Überfahren, im Bergbau eine Lagerstätte mittelseines bergmännischen Baues durchschneiden oder auch eineLagerstätte ihrem Streichen nach verfolgen; auch die Grenzeder Grubenfelder beim Abbau überschreiten.

Überfahrtsvertrag (Passagevertrag), der von demVerfrachter mit einem Reisenden zum Zweck derPersonenbeförderung zur See abgeschlossene Vertrag (s. Fracht,S. 477). Wird das Schiff als Ganzem oder zu einem Teil oderdergestalt verfrachtet (gechartert), daß eine bestimmte Zahlvon Reisenoen, z. B. von einer Auswanderungsagentur, befördertwerden soll, so kommen die Grundsätze des deutschenHandelsgesetzbuchs (Art. 557 ff.) über den Frachtvertrag beiBeförderung von Gütern zur See insoweit zur Anwendung,als die Natur der Sache dieselbe nicht ausschließt (s.Fracht). Vgl. Deutsches Handelsgesetzbuch, Art. 665 ff.

Überfall, auf Überraschung des Feindesberechneter Angriff, besonders ein solcher, dem ein geheimerAnmarsch gegen die feindliche Aufstellung vorhergeht, wie ihn dieÖsterreicher unter Daun 14. Okt. 1758 gegen die bei Hochkirchlagernde Armee Friedrichs d. Gr. während der Nacht und vomNebel begünstigt ausführten. Nach einem mißlungenenÜ. muß auf das Rückzugszeichen alles schnell demfestgesetzten Sammelplatz zueilen, wo eine Reserve in vorteilhafterStellung die einzelnen Abteilungen aufnimmt oder wenigstens dasSammeln und einen geordneten Rückzug erleichtert. WegenÜ. einer Festung s. Festungskrieg, S. 188.

Überfälliger Wechsel, schon verfallenerWechsel.

Überfallsrecht, s. Überhangsrecht.

Überfangen, in der Glasfabrikation, s. Glas, S.390.

Überflügeln, in taktischer Bedeutung: diefeindliche Fronte dergestalt angreifen, daß sie von derdiesseitigen an einem oder beiden Enden überragt, der Feindalso an den Flügeln auch in der Flanke und im Rückengefaßt wird. Zur Zeit der Lineartaktik überflügelteman den Gegner direkt durch Ausdehnung der eignen Linie. Das kommtheute nur noch bei Kavallerieangriffen vor; sonst schickt manaußer Sehweite und Schußbereich des Feindes besondereAbteilungen gegen dessen Flügel und Flanke.

Überfracht, der über den bedungenen Betraghinausgehende Teil an Frachtkosten, welcher entsteht, wenn einSchiff durch Havarie genötigt wird, seine Güter

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Überfruchtung - Überlieferung.

in ein andres Schiff umzuladen. Die Ü. ist eventuell durchden Versicherer zu erstatten.

Überfruchtung (Superfoecundatio) undÜberschwängerung (Superfoetatio), die abermaligeBefruchtung und Schwängerung einer Person, welche bereitsempfangen hat. Beide unterscheiden sich nur durch die Zwischenzeit,welche zwischen der ersten und zweiten Empfängnis liegt.Erfolgt nämlich die zweite Befruchtung kurze Zeit nach derersten, wenn die hinfällige Haut (decidua) an derInnenfläche der Gebärmutter noch nicht gebildet und daszuerst befruchtete Ei noch nicht in die Gebärmutterhöhlegelangt ist, so nennt man dies Ü. Dagegen versteht man unterÜberschwängerung denjenigen Vorgang, wo nach bereitserfolgtem Eintritt des befruchteten Eies in dieGebärmutterhöhle und nach bereits gebildeter Deciduadaselbst eine zweite Empfängnis statthaben soll. Ü. kommtbei Tieren erwiesenermaßen vor; beim Menschen ist sie wohlmöglich und denkbar, aber noch nicht durch sichere Thatsachenerwiesen. Das Faktum wenigstens, daß ein Weib Kinder vonverschiedener Rasse zur Welt bringt, nachdem sie mit Männernder gleichen Rasse den Beischlaf vollzogen hat, ist auch auf andermWeg erklärbar. Überschwängerung ist aber beimMenschen nur in den sehr seltenen Fällen denkbar, wenn einedoppelte Gebärmutter vorhanden ist; doch ist auch fürdiesen Fall das Vorkommen der Überschwängerung noch nichtsicher beobachtet worden.

Übergabe, s. Tradition.

Übergangsformen, s. Darwinismus, S. 568.

Übergangsgebirge (Grauwackegruppe), in derältern Geologie Bezeichnung der ältestenversteinerungführenden Sedimente unter dem Steinkohlengebirge,weil nach Ansicht Werners ihre Gesteine, insbesondere dieThonschiefer, ohne bestimmte Grenze in ihre kristallinischeUnterlage übergehen, sie also gleichsam einen Übergangvon seinem Urgebirge in die sekundären Sedimente bildeten.Nach jetzt gebräuchlicher Nomenklatur entsprechen diesilurische und devonische Formation dem Ü.

Übergangssteuern (Übergangsabgaben) werden inDeutschland von solchen, im allgemeinen Verbrauchssteuergebietanders als in den süddeutschen Staaten belastetenGegenständen (Branntwein, Bier, Malz) erhoben, welche dieGrenzen ihres Steuerbezirks überschreiten. Diejenigen Staaten,welche Gegenstände des Verbrauchs besteuern, können dengesetzlichen Betrag der Steuer bei der Einfuhr solcherGegenstände aus dem andern Staat voll erheben. Dagegen darfdas Erzeugnis eines andern Staats unter keinem Vorwand höheroder in lästigerer Weise besteuert werden als dasjenige derübrigen.

Übergangsstil, in der Geschichte der Baukunstdiejenige Periode, während welcher der spätromanischeStil den Spitzbogen aufnahm und unter dem Einfluß desselbensich allmählich zum gotischen Stil umwandelte. In Deutschlandherrschte der Ü. während des letzten Viertels des 12. undder ersten Hälfte des 13. Jahrh. Näheres s. Baukunst, S.495.

Übergründet nennt man eine Aktiengesellschaft,wenn die Gründer die Vermögensstärke derGesellschaft zu hoch in Ansatz bringen. Gegen solcheÜbergründungen sind die Vorschriften im deutschenAktiengesetz vom 18. Juli 1884, Art. 209b ff. gerichtet.

Überhaltbetrieb, forstliche Betriebsart, s.Hochwald.

Überhangsrecht und Überfallsrecht, derGrundsatz des deutschen Rechts, wonach dem Inhaber einesGrundstücks das Recht zusteht, die von den Bäumen undGesträuchen des Nachbargrundstücks auf das seinigeherabhängenden und herabfallenden Früchte sichanzueignen, wie das Rechtssprichwort sagt: "Wer den bösenTropfen genießt, genießt auch den guten"; auch imEntwurf eines deutschen bürgerlichen Gesetzbuchs (§ 862)anerkannt. Vgl. A. B. Schmidt, Das Recht des Überhangs undÜberfalls (Bresl. 1886).

Überhitzt, s. Dampf, S. 446.

Überkingen, Dorf im württemberg. Donaukreis,Oberamt Geislingen, in einem tiefen Thal der Alb, an der Fils, hateine evang. Kirche, Elfenbeindreherei, Zementwarenfabrikation und(1885) 550 Einw. Dazu das Stahlbad Ü. mit salinischemEisensäuerling.

Überlandbrennen, s. Hainen.

Überlandpost, diePostbeförderungs-Einrichtungen der großeninternationalen Postkurse, auf denen ein regelmäßigerAustausch bedeutender Korrespondenzmassen zwischen entferntenLändern über zwischenliegende Postgebiete auf dem Landwegstattfindet, im engern Sinn die indische Ü., d. h. dieregelmäßige Vermittelung des Briefverkehrs zwischenGroßbritannien, Indien, Ostasien und Australien auf dem Wegüber Frankreich und Italien. Die Absendung der indischenÜ. erfolgt jeden Freitag abends aus London über Dover,Calais, den Mont Cenis und Brindisi (in Brindisi Montag Mittag),von wo ab die Post durch Dampfer der Peninsular and OrientalSteam-Ship Company durch den Suezkanal, Bombay und Ceylonanlaufend, nach Kalkutta geführt wird. Jeden zweiten Freitagschließt sich in Ceylon eine Linie nach Ostasien undAustralien an (große Ü.: Indian-Australian Mail). Dieenglisch-indische Ü. umfaßt (1889) jährlich rund60,000 geschlossene Postsäcke mit einem Gesamtgewicht von900,000 kg, wovon ungefähr 45,000 Säcke auf die Richtungaus Europa und 15,000 Säcke auf die Richtung aus Indienentfallen. Einzelne größere Posten zählten bis zu2000 Säcken, welche auf der Eisenbahn eine stattliche Zahl vonPackwagen anfüllen. Von den über Brindisi gehendenÜberlandposten hat neben der britischen zur Zeit diegrößte Bedeutung die deutsche Ü. für Indien,Ostasien und Ozeanien, welche zum Teil mit den britischen Dampfern,zum Teil mit den jeden zweiten Freitag aus Brindisi abgehendendeutschen Postdampfern Beförderung erhält. Jede vierteWoche schließen die deutschen Dampfer nach Ostasien undAustralien an. In Amerika sind von großer Bedeutung dieÜberlandposten über die Landenge von Panama (nach derWestküste von Südamerika) und über dieverschiedenen, den Atlantischen und Stillen Ozean verbindendenEisenbahnlinien (für die Korrespondenz nach Kalifornien undOstasien über San Francisco). In Asien besteht schon seitgeraumer Zeit die russisch-chinesische Überlandroute überIrkutsk-Kiachta. Mit dem Ausbau der russisch-zentralasiatischenEisenbahn beginnt auch der Austausch geschlossener Briefpostenüber diesen neuen internationalen Verbindungsweg Bedeutung zugewinnen.

Überläufer (Deserteur), ein Soldat, der zumFeind übergeht, macht sich der Fahnenflucht untererschwerenden Umständen schuldig und wird nach demMilitärgesetz mit dem Tod bestraft. S. Desertion.

Überlebenswahrscheinlichkeit, s. Sterblichkeit.

Überlebsel, nach Tylor diejenigen Handlungen, Sittenund Gebräuche, die aus einem abgeschafften Kultus oder auseiner frühern Kulturepoche herstammen, weshalb sie meist ihrerBedeutung nach unverständlich geworden sind und als Aberglaubegelten.

Überlieferung, s. Tradition.

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Überliegezeit - Überschar.

Überliegezeit (Überliegetage), eine Frist,deren Vereinbarung bei dem Seefrachtgeschäft üblich ist,und innerhalb deren der Verfrachter das Fahrzeug gegen eineVergütung (Überliegegeld, Liegegeld) noch zur Einnahmeder Ladung über die eigentliche Ladezeit hinaus bereit haltenmuß. Vgl. Deutsches Handelsgesetzbuch, Art. 568-580, 595-606,623.

Überlingen, Bezirksamtsstadt im bad. Kreis Konstanz,am Überlinger See, der nordwestlichen Bucht des Bodensees, inschöner wein- und obstreicher Gegend, 410 m ü. M., hat 4kath. Kirchen, darunter die herrliche fünfschiffige gotischeMünsterkirche mit bedeutenden Kunstwerken und der 88,5Doppelzentner schweren Glocke Osanna, eine neue evang. Kirche, einaltes Rathaus mit prächtigen Holzschnitzereien von 1494, einealte Stadtkanzlei (eine Perle deutscher Renaissance von 1598), diesogen. Burg des Alemannenherzogs Gunzo mit dem Bild Gunzos und derJahreszahl 641, mehrere Patrizierhöfe, darunter besondersderjenige der Herren Reichlin v. Meldegg (von 1462) mit der sogen.Luciuskapelle und schönem, reichem Bankettsaal, alteFestungstürme und Thore und in Felsen gehaueneStadtgräben (jetzt in schöne Promenaden umgewandelt), einDenkmal des um die Stadt hochverdienten Pfarrers Wocheler, eineüber der Stadt gelegene Johanniter- und Malteserkommende St.Johann, einen Hafen, eine erdig-salinische Mineralquelle von14° C. mit Bad, Seebäder und (1885) 4006 meist kath.Einwohner. In industrieller Beziehung sind zu nennen:Eisengießerei, Glockengießerrei, Fabrikation vonFeuerspritzen und Brauereieinrichtungen, mechanischeWerkstätten, Orgelbau, Ateliers für kirchliche Kunst,Mühlen etc.; sonst hat die Stadt Weinbau, großeFruchtmärkte, Obsthandel und Dampfschiffahrt. N. ist Sitzeines Amtsgerichts, eines Hauptzollamtes und einer Bezirksforstei,auch befindet sich dort eine höhere Bürgerschule, einWaisenhaus, ein großes Hospital, eine Stadtbibliothek (30,000Bände), ein ethnographisch-kunstgewerbliches Museum, einNaturalienkabinett etc. In der nächsten Umgebung der Stadtzahlreiche Punkte mit herrlicher Aussicht. - Ü., im AltertumIburinga, wird schon 1155 urkundlich erwähnt und erhielt 1275von Rudolf von Habsburg ausgedehnte Privilegien, wurde jedoch erst1397 völlig reichsunmittelbar. Es trat dem SchwäbischenStädtebund bei und nahm 1377 am Städtekrieg teil. ImDreißigjährigen Krieg wurde die Stadt 1632 von Bernhardvon Weimar erobert, 1634 von den Schweden unter Horn vergebensbelagert, 1643 von den Schweden geplündert, 20. Mai 1644 vonden Bayern nach viermonatlicher Belagerung genommen und 1647 an dieSchweden übergeben, die sie nach dem WestfälischenFrieden wieder räumten. 1803 fiel Ü. an Baden.

Überlinger See, s. Bodensee.

Übermangansäure HMnO4 wird ausübermangansaurem Baryt durch Schwefelsäureabgeschieden. Die von dem entstandenen unlöslichenschwefelsauren Baryt abgegossene Lösung von Ü. isttiefrot mit blauem Reflex, schmeckt süßlich herb,metallisch, wirkt äußerst stark oxydierend, auchbleichend, läßt sich nicht durch Papier filtrieren,zerfällt schon bei gewöhnlicher Temperatur, schneller bei30-40° in Mangansuperoxydhydrat und Sauerstoff und kann nichtkonzentriert werden. Im festen Zustand ist Ü. nicht bekannt.Ihre Salze (Permanganate) sind purpurrot, in Wasser löslich,wirken ebenfalls stark oxydierend, verpuffen zum Teil beim Reibenmit brennbaren Körpern, geben beim Erhitzen Sauerstoff,Mangansäuresalz und Mangansuperoxyd und entwickeln mitSalzsäure Chlor. Am häufigsten wird dasübermangansaure Kali KMnO4 dargestellt und zur Bereitung vonSauerstoff, als Desinfektions- und Bleichmittel, in derFärberei und Zeugdruckerei, zum Beizen von Holz, in derMaßanalyse, zum Reinigen des Ammoniaks und derKohlensäure von empyreumatischen Stoffen, alsOxydationsmittel, zu galvanischen Elementen, in der Photographieund arzneilich als Mundwasser, bei Behandlung von Wunden etc.benutzt. Man verdampft Kalilauge mit chlorsaurem Kali und sehrfeinem Braunsteinpulver zur Trockne, erhitzt den Rückstand imhessischen Tiegel, bis er halbflüssig geworden,zerschlägt die aus mangansaurem Kali bestehendeschwarzgrüne Masse nach dem Erkalten, erhitzt sie in einemKessel mit Wasser, leitet in die grüne Lösung desmangansauren Kalis einen kräftigen Strom Kohlensäure, bissie tiefrot geworden und das mangansaure Kali unter Ausscheidungvon Mangansuperoxydhydrat vollständig in übermangansauresKali übergeführt ist. Dann filtriert man durchSchießbaumwolle, verdampft die Lösung undläßt sie kristallisieren. Das Salz bildet dunkelrote,fast schwarze, metallisch grün schimmernde Kristalle, schmecktanfangs süßlich, dann bitter herb, löst sich in 16Teilen Wasser von 15° und färbt auch sehr großeMengen Wasser intensiv violett. Die Lösung ist aber leichtzersetzbar, weil sie energisch oxydierend wirkt, und mußdaher auch vor Staub geschützt aufbewahrt werden. Eine reinekonzentrierte Lösung erträgt Siedetemperatur.Übergießt man das trockne Salz mit konzentrierterSchwefelsäure, so entwickeln sich ozonhaltiger Sauerstoff undpurpurfarbene Dämpfe von ÜbermangansäureanhydridMn2O7. Das übermangansaure Natron NaMnO4 wird wie das Kalisalzdargestellt, auch aus den bei der Regeneration des Mangansuperoxydsaus Chlorbereitungsrückständen gewonnenen Manganoxyden,indem man diese mit Ätznatron oder Chilisalpeter an der Luftauf 400° erhitzt. Bei Anwendung von Ätznatron wird dieSchmelze ausgelaugt, die verdünnte und gekochte Lösungmit Schwefelsäure neutralisiert, verdampft, um das gebildeteschwefelsaure Natron durch Kristallisation abzuscheiden, und dannweiter verdampft. Man kann auch die konzentrierte Lösung mitschwefelsaurer Magnesia oder Chlormagnesium versetzen, wobei sichunter Ausscheidung von Magnesia und Mangansuperoxydhydratübermangansaures Natron bildet. Es ist sehr leichtlöslich, schwer kristallisierbar, sonst dem Kalisalz sehrähnlich und wird wie dieses namentlich als Desinfektionsmittelund zum Bleichen benutzt; die Lösung ist als Condys Liquid undeine Mischung des Salzes mit schwefelsaurem Eisenoxyd alsKühnes Desinfektionsmittel im Handel.

Übermäßig heißen in der Musik dieIntervalle, welche um einen chromatischen Halbtongrößer sind als die großen oder reinen. DieUmkehrung übermäßiger Intervalle ergibtverminderte. Akkorde werden ü. genannt, wenn sie durch einübermäßiges Intervall begrenzt werden (im Sinn desGeneralbasses), nämlich der übermäßigeDreiklang (mit übermäßiger Quinte) und dieverschiedenen Arten übermäßiger Sextakkorde.

Überpflanznug, s. Transplantation.

Überpflichtige Werke, s. Opera supererogationis.

Überproduktion, die Warenproduktion, welche denBedarf derart übersteigt, daß der Preis unter dieHerstellungskosten sinkt. Vgl. Handelskrisis.

Übersättigt, s. Lösung, S. 920.

Überschar, das zwischen zwei verliehenen Gruben

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Überschießen - Überwallung.

(s. Bergrecht) befindliche freie Feld, welches sich wegen seinerKleinheit zu einer besondern Verleihung nicht eignet.

Überschießen, eine der Hauptursachen desKenterns von Schiffen mit beweglicher Ladung (Getreide, Kohlen,lockern Erzen) oder mit beweglichem Ballast (Sand, Wasser) in nichtgänzlich gefüllten Ballasträumen. Die Gefahr bestehtdarin, daß dergleichen Ladungen bei der Neigung des Schiffsum eine Längsachse, dieser Bewegung folgend, den Schwerpunktvon Schiff und Ladung aus der Symmetrieebene des Schiffsherausbringen.

Überschlagen, bei den Blasinstrumenten (auchOrgelpfeifen) das Ansprechen eines höhern Naturtons alsdesjenigen, den man hervorzubringen beabsichtigt (vgl.Überblasen). Bei den Singstimmen ist Ü. soviel wieUmschlagen, Versagen des Tons.

Überschmolzen, s. Schmelzen, S. 552.

Überschnitten sind zwei Bauglieder (ein wagerechtesund ein senkrechtes), die so einander durchkreuzen , daß daseine durch das andre hindurchgesteckt erscheint (s. Figur). In derGotik, welche Kröpfung und Gehrung vermeidet, müssenSimsglieder überall, wo sie sich unter einem Winkel treffen,überschnitten sein.

Überschreiben, s. v. w. das Fälligkeitsdatumüber den Text des Wechsels angeben; auch sagt man einen"Auftrag überschreiben" ,d. h. erteilen.

Überschwängerung, s. Überfruchtung.

Überschwemmung, s. Hochwasser.

Übersegeln, mit einem Schiff ein zweites so treffen,daß letzteres erheblich beschädigt, bez. Zerstörtwird^ '^in wirkliches Ü. findet nur dann statt, wenn zweiSchiffe von sehr verschiedener Größe aufeinandertreffen. Im Sprachgebrauch gehören aber alle Fälle zumÜ., wo ein Zusammenstoß zweier Schiffe den Verlust deseinen zur Folge hat.

Überse^uugsrecht, s. Urheberrecht, S. 8.

Überfichtigkeit (Hypermetropie), Fehler imRefraktionszustand des Auges, wobei Lichtstrahlen, welche parallelauf die Hornhaut auffallen, wegen zu flacher Bildung des Augapfelserst hinter der Retina ihre Vereinigung finden, so daß aufder Retina selbst kein scharfes Bild, sondern für jedenLichtpunkt ein Zerstreuungskreis zu stande kommt, der Kranke daheralle Gegenstände nur verwaschen und undeutlich sieht. AbsoluteÜ. ist vorhanden, wenn das Auge selbst bei dergrößten Akkommodationsspannung parallele Lichtstrahlennicht auf der Retina zur Vereinigung zu bringen vermag, folglichdeutliches Sehen selbst für die Ferne ohne Konvexglasunmöglich ist. Bei relativer Ü. kann das Auge zwarfür parallele (selbst schwach divergierende) Strahleneingestellt werden, aber es muß dabei die Akkommodationunverhältnismäßig stark angespannt werden. Damitdem zunehmenden Alter die Akkommodationsfähigkeit abnimmt, sowird die in der Jugend meist relative Ü. mit den Jahren eineabsolute werden; das Übel wird sich also verschlimmern. DieAugen zeigen bei äußerer Betrachtung nichts Abnormes.Die Sehschärfe ist in der Regel vollkommen. Anfänglichwird auch beim Lesen und Schreiben deutlich gesehen; bald aber,zumal bei künstlichem Licht und mangelhafter Beleuchtung, wirddas Sehen undeutlich und verschwommen, es stellt sich einGefühl von Ermüdung und Spannung ein, die Arbeitmuß für einige Zeit unterbrochen werden. Wird trotzdemdie Fortsetzung der Arbeit erzwungen, so geht das Gefühl derSpannung oberhalb der Augen in wirklichen Schmerz über. DieAugen röten sich und thränen stark. DieBehandlung derÜ. besteht in der Benutzung konvexer Brillengläser,welche auch schon von jugendlichen Individuen, zumal beim Lesen undSchreiben, benutzt werden müssen, während sie beim Sehenin die Ferne anfänglich entbehrt werden können und erstim Alter auch hierzu unentbehrlich werden.

Überfiuulich, dasjenige, was über das in dieSinne Fallende sich erhebt.

Überständig heißen Bäume oderBestände, die das Alter ihrer Haubarkeitüberschritten haben.

Überstauung, s. Bewässerung, S. 859.

Ubertas, bei den Römern Personifikation derErdfruchtbarkeit, dargestellt als schönes Weib mit umgekehrtemFüllhorn; vgl. Abundantia.

Ubertät (lat.), Fruchtbarkeit, üppigeFülle.

Übertragbar nennt man die budgetmäßigfür bestimmte Zwecke verwilligten Summen, welche, wenn undsoweit sie in der laufenden Finanzperiode nicht zur Verausgabunggelangten, als Ausgabenreservate oder Reservate ohne neueBewilligung für den gleichen Zweck in der ^nächstenPeriode (Jahr) verwandt werden dürfen.

Überübertragbarkeit von Wertpapieren s.Rektapapier.

Übertraguug, s. Zession.

Übertretung, s. Verbrechen.

Überversicherung, Versicherung zu Summen, welche denWert der versicherten Sachen oder den gesetzli^ zur Versicherungzugelassenen Prozentsatz desselben übersteigen.^ Sie kannentweder durch zu hohe Deklaration des Versicherungswerts oderdurch Versicherung eines und desselben Interesses bei verschiedenenAnstalten zur Erlangung des mehrfachen Betrags des Schadens(Doppelversicherung) herbeigeführt werden; sie ist verbotenund in der Regel als Betrug strafbar; zur Verhütung derselbenwird von manchen Staaten eine besondere Kontrolle der Versicherung,namentlich der Feuerversicherung, ausgeübt. Nicht zuverwechseln mit der n. ist diejenige Versicherung, welche dann inKraft tritt, wenn der erste Versicherer zahlungsunfähig wird.Vgl. Versicherung.

Übervölkerung, s. Bevölkerung, S. 852.

Überwallung, ein Heilungsprozeß holzigerPflanzenteile, insbesondere der Baumstämme, bei Verletzungen,welche bis auf den Splint gehen. Das durch die Wundebloßgelegte Stück des Splints kann wegen des verlorengegangenen Kambiums zunächst nicht weiter verdickt werden,sondern bleibt in der Vertiefung der Wunde längere Zeitsichtbar; an den Rändern der Wunde aber^ setzt dieKambiumschicht ihre Thätigkeit fort, und da sie sich dabeikonvex gegen die Wundsläche zusammenzieht, so werden die neuenJahresringe von Holz, welche sie erzeugt, zugleich allmählichin tangentialer Richtung über die Wunde hingeschoben. Aufdiese Weise verkleinert sich die letztere von Jahr zu Jahr und wirdendlich ganz verschlossen, wenn die Überwallungenzusammentreffen.

tewöhnlich springen die obern Ränder einer durch .sich schließenden Wunde wulstförmig vor, weil sie

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Überwälzung der Steuern - Ubicini.

durch den absteigenden Nahrungssaft, der an dieser Stelle sichaufstaut, stärker ernährt werden.

Überwälzung der Steuern, s. Steuern, S.312.

Überweg, Friedrich, philosoph. Schriftsteller, geb.22. Jan. 1826 zu Leichlingen in Rheinpreußen, studierte zuGöttingen unter K. F. Hermann Philologie, in Berlin unterBeneke Philosophie, wurde 1851 Lehrer zu Elberfeld, hieraufPrivatdozent zu Bonn, 1862 außerordentlicher, 1867ordentlicher Professor der Philosophie zu Königsberg, wo er 9.Juni 1871 starb. Als Philosoph gehörte Ü. der empirischenRichtung an; als Schriftsteller hat er sich durch sein "System derLogik" (Bonn 1857, 5. Aufl. 1882), das zugleich deren Geschichteenthält, vornehmlich aber durch seinen weitverbreiteten"Grundriß der Geschichte der Philosophie" (Berl. 1863-66, 3Tle.; 7. Aufl., hrsg. von Heinze, 1886-88), der sich durch denReichtum literarhistorischer Nachweise auszeichnet, Verdiensteerworben. Beide Werke sind ins Englische übersetzt worden.Seine Beantwortung der von der Akademie der Wissenschaften zu Wiengestellten Preisfrage: "Über die Echtheit und Zeitfolge derPlatonischen Schriften" (Wien 1861), in welcher er unter anderm dieEchtheit des Dialogs "Parmenides" bestritt, ist von jener mit demPreis gekrönt worden. Aus seinem Nachlaß gab Braschheraus: "Schiller als Historiker und Philosoph" (Leipz. 1884). Vgl.F. A. Lange, F. Ü. (Berl. 1871); Brasch, Die Welt- undLebensanschauung F. Überwegs in seinen gesammeltenAbhandlungen (Leipz. 1888).

Überweisung an die Landespolizeibehörde,Nebenstrafe, auf welche nach dem deutschen Strafgesetzbuch (§361, Nr. 3-8, S. 362) gegen Landstreicher, Bettler u. gegenFrauenspersonen, welche gewerbsmäßig Unzucht treiben,neben der verwirkten Haftstrafe erkannt werden kann. DieseÜberweisung kann auch gegen denjenigen ausgesprochen werden,der sich dem Spiel, Trunk oder Müßiggang dergestalthingibt, daß er in einen Zustand gerät, in welchem zuseinem Unterhalt oder zum Unterhalt derjenigen, zu derenErnährung er verpflichtet ist, durch Vermittelung derBehörde fremde Hilfe in Anspruch genommen werden muß.Auch wer, wenn er aus öffentlichen Armenmitteln eineUnterstützung empfängt, sich aus Arbeitsscheu weigert,die ihm von der Behörde angewiesene, seinen Kräftenangemessene Arbeit zu verrichten, und wer nach Verlust seinesbisherigen Unterkommens binnen der ihm von der zuständigenBehörde bestimmten Frist sich kein anderweites Unterkommenverschafft hat und auch nicht nachweisen kann, daß ersolches, der von ihm angewandten Bemühungen ungeachtet, nichtvermocht habe, kann durch Richterspruch derLandespolizeibehörde überwiesen werden. Letztereerhält dadurch die Befugnis, die verurteilte Person entwederbis zu zwei Jahren in ein Arbeitshaus unterzubringen, oder zugemeinnützigen Arbeiten zu verwenden.

Überwinterung der im Garten gebauten Gewächsebezweckt Schutz vor niedriger Temperatur oder auch nur vorschroffem Temperaturwechsel. Topf- und Kübelpflanzen sind imSpätherbst weniger zu gießen, zu reinigen und unter Dach(Gewächshaus, Zimmer, Keller, Schuppen u. a.) aufzustellen,der Luft wird einige Tage freier Durchzug gestattet, den Pflanzenist aber nur dann Wasser zu geben, wenn die Oberfläche desBallens trocken geworden ist. Ausgetopfte Pflanzen sind imSeptember einzutopfen und einige Zeit von der Luft abgeschlossen zuhalten. Frostfrei zu überwinternde Zwiebeln und Knollenwerden, nachdem die oberirdischen Teile bei beginnendem Frostabgeschnitten worden, von anhängender Erde gereinigt und introcknen Sand eingeschlagen, an trocknem, frostfreiem Ortaufbewahrt; nur wenige Arten bedürfen zur Ü. einerhöhern Temperatur. Nicht ganz winterharte Gehölze werdennach begonnenem Winter mit Rohr, Fichtenreisig u. dgl. eingebundenoder durch Bedecken mit Brettern, Holzkasten oder Körben, diemit trocknem Laub oder Nadelstreu ausgefüllt werden,während die Wurzeln, nachdem der Boden gefroren, ebenso zubedecken sind; andre Gehölze werden umgelegt, durch Haken oderkreuzweise gestellte Pflöcke festgehalten und mit Erde, Lauboder Nadelstreu bedeckt. Pflanzen der arktischen (kalten) Zonen undder Alpen müssen vor dem Temperaturwechsel mehr als andregeschützt werden, entweder nach dem Einfrieren, durch Bedeckenmit Schnee, dieses mit Laub u. dgl., oder durch Ü. in einemgegen N. gelegenen, gegen Sonnenstrahlen und Temperaturwechselüberhaupt geschützten Raum. Frühblühende Obst-und andre Gehölze sind gegen zu frühes Erwachen desWachstums zu schützen, indem durch Entfernen etwa gefallenenSchnees das Einfrieren des Bodens befördert, das Auftauen aberdurch Bedecken desselben nachher mit Schnee und dieses mit trockengehaltener Laub- und Nadelstreu verhindert wird. Spalierbäumesind mit Fichtenreisig, Weinreben mit Erde zu bedecken. GeerntetesGemüse, Wurzeln, Kraut u. a. wird von überflüssigemBlattwerk befreit, auf ebener Erde aufgeschichtet und mit Erdebedeckt, durch deren Aufnahme rund um die Gemüseschicht einGraben entsteht, der etwanige Niederschläge aufnimmt; nurGemüse für den Gebrauch der nächsten Zeitdürfen im Keller überwintert werden oder im Freien nochnicht ganz entwickelter Blumenkohl, der im frostfreien Raumallmählich seine Blumenkäse austreibt. Erdbeerpflanzenschützt man durch zwischen die Reihen gelegten kurzen Mistgegen den Einfluß des Winters.

Überwinterungsknospen (Winterknospen), Knospen, diebei Schluß einer Vegetationsperiode an sonst völligabsterbenden Pflanzen, wie besonders einigen Wassergewächsen,wie Ceratophyllum, Utricularia, Aldrovandia u. a., angelegt werdenund dann im nächsten Frühjahr zu neuen Sprossenaufwachsen.

Überzeichnung liegt bei der Begebung einer Anleihe oderbei der Ausgabe von Aktien und Anteilscheinen dann vor, wennder Betrag der zum Zweck der Übernahme gezeichneten Anteilegrößer ist als die durch die eröffnete Subskriptionaufzubringende Summe. Durch entsprechende undverhältnismäßige Minderung (Reduktion) dergezeichneten Beiträge pflegt man alsdann den Interessen desUnternehmens wie denjenigen der beteiligten Kreise des Publiku*msRechnung zu tragen.

Überzeugungseid, s. Glaubenseid.

Ubi (lat.), wo. Ubietät, die Eigenschaft allerKörper, einen Raum zu erfüllen.

Ubi bene, ibi patria (lat.), Sprichwort: wo es mir wohlgeht, da ist mein Vaterland.

Ubicini, Abdolonyme, franz. Publizist lombardischenUrsprungs, geb. 20. Okt. 1818 zu Issoudun, war Professor derRhetorik in Joigny, bereiste 1846 den Orient und nahm 1848 an demAufstand in der Walachei teil, kehrte aber beim Einrücken dertürkisch-russischen Truppen nach Frankreich zurück undstarb 1884 in Paris. Er schrieb: "Lettres sur la Turquie"(1851-54); "La question d'Orient devant l'Europe" (1854);"Provinces danubiennes et romaines" (mit Chopin, 1856); "Laquestion des principautes danubiennes devant l'Europe" (1858);"Etudes histo-

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Ubier - Ückermünde.

riques sur les populations chrétiennes de la Turquied'Europe" (1867); "Les constitutions de l'Europe orientale" (1872);"Etat present de l'Empire ottoman" (1876); "La constitutionottomane expliquée et annotée" (1877); "Les originesde l'histoire roumaine" (1887) u. a.

Ubier, german. Volk, wohnte zu Cäsars Zeit auf demrechten Rheinufer, südlich von den Sigambern, von der Sieg bisüber die Lahn hinaus und schloß sich enger als irgendein andrer germanischer Stamm an die Römer an. Von ihrenNachbarn im Osten und Süden, den Sueven, bedrängt,ließen sich die U. unter Augustus durch Agrippa auf das linkeRheinufer versetzen. Außer ihrer Hauptstadt Colonia Agrippinagehörten ihnen noch: Bonna (Bonn), Antunnacum (Andernach),Rigomagus (Remagen) und mehrere Kastelle. Sie gingen zuletzt in denFranken auf.

Übigau, 1) Stadt im preuß. RegierungsbezirkMerseburg, Kreis Liebenwerda, an der Schwarzen Elster, hat eineevang. Kirche, Torfgräberei und (1885) 1482 Einw. - 2) Dorf inder sächs. Kreishauptmannschaft Dresden, AmtshauptmannschaftDresden-Neustadt, rechts an der Elbe, hat Albumin-, Bleizucker-,Farben- und chemische Fabriken, eine Schiffswerfte, Schiffahrt,Obst- und Weinbau und (1885) 774 Einw.

Ubiquität (lat. Ubiquitas, "Allgegenwart"), vonLuther zur Bezeichnung derjenigen Eigenschaft des Leibes Christigebraucht, vermöge welcher derselbe, weil infolgehypostatischer (persönlicher) Vereinigung der menschlichen undgöttlichen Natur überall, so auch im Abendmahl in derForm des Brots gegenwärtig sein kann, daher die Lutheraner vonden Reformierten, die den Leib Christi im Himmel wissen und nureine durch den Glauben vermittelte Gegenwart annehmen, auchUbiquisten oder Ubiquitiner genannt wurden.

Ubstadt, Dorf im bad. Kreis Karlsruhe, am Kraichbach undder Linie Mannheim-Konstanz der Badischen Staatsbahn, hat einekath. Kirche, eine Solquelle mit Bad, Tabaks- und Hopfenbau und(1885) 1171 Einw. Hier 1849 Treffen gegen die Freischaren.

Ubuch (Ubuchen), s. Tscherkessen, S. 884.

Übungslager, s. Lager, S. 402.

Ucayali, einer der Hauptquellflüsse desAmazonenstroms, entspringt unter dem Namen Apurimac in den Andeswestlich vom Nordende des Titicacasees, empfängt auf demHochland den von SW. kommenden Rio Mantaro oder Mayo, durchbrichtdie östlichen Ketten der Kordilleren und nimmt, nachdem er inseinem mit tropischem Urwald erfüllten Thal sich mit dem vonSO. kommenden Urubamba (s. d.) vereinigt hat, den Namen U. an undmündet nach viel gewundenem Lauf Nauta gegenüber (114 mü. M.) in den Maranon. Seine Länge beträgt 1960 km.Seeschiffe befahren ihn aufwärts das ganze Jahr durch bis nachSarayacu (6° 30' südl. Br., 124 m ü. M.), kleinereSchiffe den Nebenfluß Pachitea aufwärts bis nach Maira(242 m) in der Nähe der Kolonie Pozuzu (s. d.).

Uccle (spr. ükl), Gemeinde in der belg. ProvinzBrabant, Arrondissem*nt Brüssel, 5 km von dieser Stadt an derStaatsbahnlinie Brüssel-Luttre gelegen, hat ein Irrenhaus,Gemüsebau und (1888) 12,680 Einw.

Uchard (spr. üschar), Mario, franz. Schriftsteller,geb. 28. Dez. 1824 zu Paris, war längere ZeitBörsenagent, vermählte sich 1853 mit der SchauspielerinMadeleine Brohan vom Théâtre-Francais und brachte 1857das vieraktige Schauspiel "La Fiammina" auf dem genannten Theaterzur Aufführung, zu welchem ihm seine nicht glückliche Eheden Stoff geliefert hatte, und das bald die Runde über alleBühnen des In- und Auslandes machte. Von seinen späternStücken hatte keins auch nur annähernd einenähnlichen Erfolg; dagegen erwarb er sich ein großesPublikum und teilweise auch das Lob der Kenner mit den Romanen:"Raymond" (1861), "Le mariage de Gertrude" (1862), "J'avais unemarraine" (1863), "La comtesse Diane" (1864), "Une dernierepassion" (1867), "Mon oncle Barbassou" (1876), "Ines Parker"(1880), "Mademoiselle Blaisot" (1884), "Joconde Berthier"(1886).

Uchatius, Franz, Freiherr von, Artillerieoffizier, geb.20. Okt. 1811 zu Theresienfeld in Niederösterreich, trat 1829in die österreichische Artillerie, erhielt seinemathematisch-technische Ausbildung in der Schule desBombardierkorps, versah in der chemisch-physikalischen Lehranstaltzwei Jahre lang die Dienste eines Laboranten, blieb dann vier JahreAdlatus des Professors, ward 1841 Feuerwerker in derGeschützgießerei, 1842 Offizier, 1861 Major undVorsteher der Geschützgießerei, 1871 Kommandant derArtilleriezeugfabrik, 1874 Generalmajor, 1879Feldmarschallleutnant. Er erfand 1856 ein Stahlbereitungsverfahren,konstruierte eine Pulverprobe und ballistische Apparate, eineVorrichtung zum Messen des Gasdrucks in Geschützen, einSprengpulver aus nitrifiziertem Stärkemehl, das Verfahren zurHerstellung der sogen. Stahlbronze- (Uchatiusmetall-)Geschütze und 1875 die Ringgranaten. Wegen seiner Verdiensteum Neuschaffung des österreichischen Feldartilleriematerials(1875) wurde er in den Freiherrenstand erhoben und von der k. k.Akademie der Wissenschaften zum Mitglied erwählt. Mit derHerstellung von 15 u. 18 cm Kanonen aus Stahlbronzebeschäftigt, erschoß er sich 4. Juni 1881.

Uchte, Flecken im preuß. Regierungsbezirk Hannover,Kreis Stolzenau, 33 m ü. M., hat eine evang. Kirche, einAmtsgericht, eine Oberförsterei und (1885) 1270 Einw.

Üchtland ("ödes Land"), s. Freiburg(Kanton).

Üchtritz, Friedrich von, dramat. undRomanschriftsteller, geb. 12. Sept. 1800 zu Görlitz, studiertein Leipzig die Rechte, fand 1828 in Trier und 1829 inDüsseldorf amtliche Anstellung und zog sich 1863 alspensionierter Appellationsgerichtsrat in seine Vaterstadtzurück, wo er 15. Febr. 1875 starb. Von seinen Dramen:"Alexander und Darius" (Berl. 1827), "Das Ehrenschwert","Rosamunde" (Düsseld. 1833) und "Die Babylonier in Jerusalem"(das. 1836) zeichnete sich besonders das letztere durch lyrischglänzende Sprache und gute Charakteristik aus. Von seinenübrigen Werken sind zu nennen: "Blicke in dasDüsseldorfer Kunst- und Künstlerleben" (Düsseld.1839-41, 2 Bde.); "Ehrenspiegel des deutschen Volkes und vermischteGedichte" (das. 1842); die Romane: "Albrecht Holm" (Berl. 1851-53,7 Bde.), "Der Bruder der Braut" (Stuttg. 1860, 3 Bde.), "Eleazar"(Jena 1867, 3 Bde.), in denen eine reiche Stofffülle nurteilweise poetisch belebt erscheint. Vgl. "Erinnerungen an F. v.Ü. in Briefen" (Leipz. 1884).

Ückendorf, Dorf im preuß. RegierungsbezirkArnsberg, Kreis Gelsenkirchen, Knotenpunkt der LinienÜ.-Wattenscheid, Gelsenkirchen-Wattenscheid und Ü.-Wanneder Preußischen Staatsbahn, hat Steinkohlenbergbau und (1885)8878 meist kath. Einwohner.

Uckermark, s. Ukermark.

Ückermünde (Ukermünde), Kreisstadt impreuß. Regierungsbezirk Stettin, an der Uker, die unweit

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Uckie - Udschidschi.

davon in das Pommersche Haff mündet, und an der LinieJatznick-Ü. der Preußischen Staatsbahn, hat eine evang.Kirche, ein altes Schloß, eine Irren-, eine Korrektions- undLandarmenanstalt, ein Amtsgericht, bedeutende Ziegeleien,Kalkbrennerei, Eisengießerei, Sägemühlen,Holzhandel, Fischerei, Schifffahrt und (1885) 5458 meist evang.Einwohner. - Ü. ist seit 1190 Stadt und war ehemals einewichtige Festung, die 1469 vom Kurfürsten Friedrich II. vonBrandenburg vergeblich belagert wurde.

Uckie, marokkan. Münze, = 1/10 Mitskal (s. d.).

Ucles, Stadt in der span. Provinz Cuenca, mit (1878) 1138Einw.; hier 13. Jan. 1809 Sieg der Franzosen unter Victor überdie Spanier unter dem Herzog von Infantado.

Udaipur, s. Mewar.

Uddevalla, Hafenstadt im schwed. Län Gotenburg undBohus, am innersten Ende des Byfjords und an der EisenbahnHerrljunga-U., hat eine höhere Lehranstalt, Navigationsschule,Gewerbeschule, Zoll- und Lotsenstation, ein Museum und (1885) 7354Einw., welche Baumwollspinnerei und -Weberei, Fabrikation vonMöbeln, Zündhölzern, Branntwein und Tabak,Schiffbau, Fischerei und lebhaften Handel betreiben.

Uden, Lucas van, niederl. Maler u. Radierer, geb. 18.Okt. 1595 zu Antwerpen, war Schüler seines Vaters, trat 1627in die dortige Lukasgilde und starb 4. Nov. 1672 daselbst. Er istvorzugsweise dadurch bekannt geworden, daß er für Rubensund D. Teniers den jüngern Landschaften malte, welche jene mitFiguren versahen. Doch hat er auch zahlreiche selbständigeLandschaften nach Motiven aus Brabant und Flandern gemalt, derenEigentümlichkeit in einer schlichten und treuen Auffassungberuht. Unter Rubens' Einfluß wurde seine Färbungwärmer und reicher. Landschaften von ihm besitzen die Galerienzu Dresden, Petersburg, Brüssel, Frankfurt a. M.,München, Antwerpen, Berlin, Wien u. a. Seine landschaftlichenRadierungen (etwa 30) sind mit überaus feiner Naturbeobachtungund zarter Nadel ausgeführt.

Udine, ital. Provinz in der Landschaft Venetien (s. Karte"Italien, nördliche Hälfte"), grenzt nördlich undöstlich an Österreich, südlich an das AdriatischeMeer und die Provinz Venedig, westlich an die Provinzen Treviso undBelluno und hat einen Flächenraum von 6431 qkm (nachStrelbitsky 6619 qkm [120,21 QM.]) mit (1881) 501,745 Einw. DasLand wird im N. bogenförmig von den Karnischen Alpen (Paralba2690 m hoch) durchzogen, welchen die Friauler Alpen (Premaggiore2471 m) und östlich die Julischen Alpen (Monte Canin 2582 m)vorgelagert sind, von welchen sich zahlreiche Hügelgruppenabzweigen, die sich schließlich zu der weiten und, soweit sienicht vom Gerölle der Flüsse überschüttet ist,fruchtbaren friaulischen Ebene herabsenken. Gegen die Küste zugeht die Ebene in lagunenartiges Land über. Die wichtigstenFlüsse sind: Tagliamento, Livenza und Stella. Das verschiedeneVegetationszonen umfassende Land erzeugt Weizen (1887: 243,300 hl),Mais (857,000 hl), Reis (10,878 hl), Hülsenfrüchte,Kartoffeln, Kastanien, Hanf, Wein (64,500 hl), Seide (1,5 Mill. kgKokons); ferner Vieh (1881 zählte man 180,523 Rinder, 81,444Schafe und 34,966 Ziegen) und Fische. Die Einwohner suchen ingroßer Anzahl für einen Teil des JahrsBeschäftigung außerhalb des Landes. Die Industrie derProvinz erstreckt sich auf Seiden- und Baumwollmanufaktur,Gerberei, Bierbrauerei, Holzschneiderei, Töpferei, Papier- undMetallwarenfabrikation. Die Provinz zerfällt in 17 Distrikte.- Die Hauptstadt U., in weinreicher Gegend an einem vom Torreausgehenden Kanal und an der Eisenbahn Venedig-Cormons gelegen, vonwelcher hier die Linie nach Pontebba abzweigt, ist gut gebaut undhat stattliche Mauern und Türme. Unter den Gebäuden sindbemerkenswert: die romanische Domkirche und mehrere andre Kirchenmit guten Gemälden, das Kastell (von 1517, einst Sitz desPatriarchen, jetzt Kaserne), der erzbischöfliche Palast (mitschöner, von Giovanni da Udine gemalter Decke und Fresken vonTiepolo), der Palazzo pubblico (1457 erbaut, nach dem Brand von1876 erneuert) und der Uhrturm (mit offener Säulenhalle),beide auf dem Viktor Emanuel-Platz, das Theater und mehrerePrivatpaläste. Der Campo santo von U. gehört zu denschönsten Friedhöfen Italiens. Die Stadt hat eintechnisches Institut, ein Lycealgymnasium, einerzbischöfliches Gymnasium und Seminar, ein städtischesMuseum und Bibliothek und (1881) 23,254 (als Gemeinde 32,020)Einw., welche Industrie in Seide, dann in Leder, Hüten,Metallwaren, Handschuhen etc. und Weinbau betreiben. U. ist Sitzdes Präfekten, eines Erzbischofs, eines Zivil- undKorrektionstribunals, eines Hauptzollamts etc. In der Näheliegt das Dorf Passariano mit dem Schloß des letzten Dogenvon Venedig, welches Bonaparte während derFriedensverhandlungen von Campo Formio bewohnte. - U. kommt unterdiesem Namen erst im 10. Jahrh. vor. Im 13. Jahrh. wählte derPatriarch Bertold U. zu seiner Residenz; 1445 kam die Stadt untervenezianische Herrschaft. Seit der Pest von 1515 und 1656 hat siesich nicht wieder erholt. U. fiel nach dem Aufstand in Venedig 1848von Österreich ab, zwang 23. März die Besatzung zumAbzug, mußte sich aber schon 23. April nachmehrstündiger Beschießung Österreich wiederunterwerfen. 1866 ward es mit Venetien dem Königreich Italieneinverleibt.

Udine, Giovanni da, ital. Maler, geb. 1487 zu Udine, waranfangs Schüler von Giorgione in Venedig, führte daselbstmehrere dekorative Malereien aus und ging später zu Raffael,als dessen Gehilfe er die reizvollen Ornamente (sogen. Grottesken)in den Loggien des Vatikans, in der Villa Farnesina u. a.ausführte. Seit 1527 arbeitete er in Udine und Umgegend (unteranderm im Schloß Colloredo). Auch fertigte er dieEntwürfe zu den Glasfenstern in der Biblioteca Laurenziana zuFlorenz. Er starb 1564.

Udometer (griech.), s. Regenmesser.

Udschain (Udschaiyini), Stadt im TributärstaatGwalior (Britisch-Indien), am Siprafluß, Nebenfluß desTschambal, und an einer Zweiglinie der Malwaeisenbahn, mit 4Moscheen, vielen Hindutempeln, einem Palast des Fürsten,starker, mit Türmen gekrönter Umfassungsmauer und (1881)32,932 Einw., welche bedeutenden Handel mit Opium treiben. Dasalte, jetzt in Ruinen liegende U. war bis 1000 n. Chr. Residenz desmächtigsten Herrscherhauses in Zentralindien, dannberühmt durch seine Sternwarte, welche den ersten Meridian derHindugeographen bezeichnete, wurde in spätern Kriegen hartmitgenommen, war aber dann wieder bis 1810 Residenz derFürsten von Gwalior.

Udschidschi, Handelsplatz am Ostufer des Tanganjikaseesin Äquatorialafrika, unter 5° südl. Br., mit 8000Einw., den Wadschidschi, und größere Warenmagazineenthaltend. Stanley fand hier 1871 Livingstone. U. ist in neuererZeit der Hauptausgangs- und Operationspunkt vonForschungsexpeditionen gewesen. Ein Karawanenweg verbindet dasselbemit Sansibar.

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Udschila - Uferbau.

Udschila, s. Audschila.

Udvard, Dorf im ungar. Komitat Komorn, Station derÖsterreichisch-Ungarischen Staatsbahn, mit (1881) 4035 ungar.Einwohnern.

Udvarhely (spr. -helj), ungar. Komitat inSiebenbürgen, grenzt an die Komitate Maros-Torda, Csik,Haromszek, Nagy- und Kis-Küküllö, umfaßt 3418qkm (62 QM.), wird von den Zweigen des Hargittagebirgeserfüllt und vom Großen Küküllöbewässert, hat (1881) 105,520 Einw. (Szekler) und ist nichtbesonders fruchtbar; es gedeihen jedoch alle Getreidearten und inden Thälern auch Obst und Wein. Die Industrie erstreckt sichhauptsächlich auf Spinnerei, Weberei, Strohhutflechterei unddie Verfertigung von Holzwaren. Im SW. durchkreuzt die UngarischeStaatsbahn das Komitat, dessen Hauptort Szekely-Udvarhely ist.

Uea, 1) (Uvea, Wallis) polynes. Inselgruppe unterfranzösischem Protektorat, westlich von Samoa und nordwestlichvon den Fidschiinseln, besteht aus zwölf kleinen Inseln, dievon einem Barrierriff umgeben werden, und hat ein Areal von 96 qkm(1,7 QM.) mit 3500 Einw. Die Inseln sind meist hoch, bergig undvulkanischen Ursprungs, mit mehreren, jetzt von Seenausgefüllten Kratern und, wo der Boden verwittert ist, sehrfruchtbar. Die Bewohner haben dieselben Sitten und Gebräuchewie die Samoaner und Tonganer; früher war U. eine Dependenzvon Tonga. Die Gruppe wurde 1767 von Wallis entdeckt, 1837 kamenkatholische Missionäre hierher und bekehrten die Bewohner,welche unter eignen Häuptlingen lebten, bis sie sich durcheinen 19. Nov. 1886 abgeschlossenen Vertrag in den SchutzFrankreichs begaben. - 2) (Ouvea) s. Loyaltyinseln.

Ueba (Hueba), Getreidemaß in Tunis, à 4Temen à 4 Orbah = 107,3 Liter.

Uelle (Welle), großer Fluß inÄquatorialafrika, entspringt im Lande der Monbuttu undverfolgt als Welle oder Makua, zahlreiche Zuflüsse von links(Majo-Bomokandi mit Makongo, Mbelima) u. rechts (Moruole, Werre,Mbomu mit Schinko und Mbili, Engi) aufnehmend, dem 4.°nördl. Br. erst südlich, dann nördlich parallellaufend, im allgemeinen eine westliche Richtung bis zum 19.°östl. L. v. Gr., wo er sich südostwärts wendet undals Ubangi oder Mobangi den Congo unter 17° 30' östl. L.erreicht. Dies scheint die Lösung der vielumstrittenenUellefrage durch Kapitän van Gele zu sein, welcher auf demDampfer En Avant 1887 die Zongostromschnellen des Ubangi forcierteund den Oberlauf dieses Flusses unter 4-5° nördl. Br. bisgegen 22° östl. L. v. Gr. verfolgte. Der U. wurde 19.März 1870 von Schweinfurth entdeckt, der ihn nördlich vonMunsa im Monbuttuland unter 3° 40' nördl. Br. und 28°40' östl. L. v. Gr. überschritt. Schweinfurth hieltebenso wie der später hierher gekommene Junker den U. fürden Oberlauf des in den Tsadsee mündenden Schari, währendStanley in ihm den Oberlauf des Aruwimi sah, eine Ansicht, derenFalschheit seine jüngste Reise ihm gezeigt hat.

Ufa, ein Gouvernement Ostrußlands, 1865 aus demnordwestlichen Teil des Gouvernements Orenburg gebildet und vondiesem durch den Hauptrücken des südlichen Uralsgeschieden, umfaßt 122,006,8 qkm (nach Strelbitsky 122,015,7qkm = 2215,92 QM.). Die Kama scheidet im NW. das Gouvernement vonWjatka und nimmt die Nebenflüsse Bjelaja und Ik auf, vonwelchen der erstere der schiffbare Hauptstrom des Landes ist undden Tanym, die Ufa und den Sjun empfängt. In den westlichenTeilen ist waldreiches Hügelland, das mit fruchtbarenThälern wechselt; aber auch Steppenland und einige Moorekommen vor. Von den 290 kleinen Seen im W. sind diegrößten: der Airkul, Kondrakul und Karatabyk,sämtlich sehr fischreich. Die südwestliche Seite desGouvernements wird vom Obschtschij Syrt durchschnitten. Im O. ziehtsich der südliche Ural hin. Das Klima ist kontinental und inden Gebirgsgegenden unfreundlich. Vom Areal entfallen 23 Proz. aufAckerland, 22,8 auf Wiesen und Weiden, 46,6 auf Wald und 7,6 Proz.aus Unland. Der Wald weist im N. Nadelholz, im S. Linden und Eichenauf. Im N. werden Roggen und Hafer, im S. Weizen, Gerste, Hirse undBuchweizen angebaut. Die Ernte betrug 1887: 4 1/2 Mill. hl Roggen,3,2 Mill. hl Hafer, 835,000 hl Weizen, 1 1/2 Mill. hl Buchweizen,andre Getreidearten und Kartoffeln in geringerer Menge. DerViehstand bezifferte sich 1883 auf 398,597 Stück Rindvieh,630,354 Pferde, 917,352 grobwollige Schafe, 111,017 Schweine und200,630 Ziegen. Die Bevölkerung, (1885) 1,874,154 Einw., 15pro QKilometer, besteht hauptsächlich aus Baschkiren undRussen; außerdem wohnen hier Tataren, Tscheremissen,Tschuwaschen, Teptjären, Meschtscherjäken und Wotjaken,die zum Teil noch Heiden sind. Im übrigen übersteigt dieZahl der Mohammedaner die der Christen. Die Zahl derEheschließungen war 1885: 19,989, der Gebornen 87,264, derGestorbenen 53,545. Hauptbeschäftigungen sind: Ackerbau(betrieben von Russen und Teptjären), Viehzucht (vonBaschkiren und Tataren), Bienenzucht (von Baschkiren undMeschtscherjäken), Bergbau, Holzgewinnung und Jagd. DieWälder liefern außer dem Schiffbauholz Bast, Pottasche,Pech, Teer und Kohlen. Der Bergbau liefert Gold, Eisen, Kupfer.Hervorragend ist das Eisenwerk zu Slatoust, ansehnlich dieKupferhütte von Blagowetschenskoje im Kreis U. DerProduktionswert der Hochöfen wird (1885) auf 3,7 Mill. Rubelangegeben. Die übrige Industrie ist unbedeutend, geht in 147Anstalten mit 2092 Arbeitern vor sich und produziert für 3 1/2Mill. Rub. Bildungszwecken dienen 353 Elementarschulen mit 14,376Schülern, 8 Mittelschulen mit 1326 Schülern und 7Fachschulen mit 479 Schülern. Der Handel ist fast nur in denHänden der Tataren und vertreibt Holzarbeiten, Tierfelle,Häute, Honig und Sprit. U. zerfällt in sechs Kreise:Belebej, Birsk, Menselinsk, Slatoust, Sterlitamak, U. - Diegleichnamige Hauptstadt, am Ural und am Einfluß der Ufa indie Bjelaja, hat mehrere Kirchen und Moscheen, ein Nonnenkloster,ein Gymnasium, ein geistliches Seminar, ein tatarischesLehrerseminar, ein Mädchengymnasium, einen großenKaufhof, eine zehntägige Messe und (1886) 27,290 Einw. DieStadt ist Sitz eines Erzbischofs und eines mohammedanischen Mufti.U., 1547 von dem Baschkirenhäuptling Iwan Nagingegründet, wurde 1759 und 1816 durch Brand zerstört, hatsich aber, seit es Hauptstadt ist, sehr gehoben.

Ufenau, liebliches, dem Kloster Einsiedeln gehörigesEiland im Zürichsee, auf welchem Ulrich v. Hutten ein Asylfand und starb (1523).

Ufer, die äußerste Grenze des an einGewässer stoßenden Landes; insbesondere der einen Bach,Fluß, Teich, überhaupt ein kleineres Gewässereinfassende Erdrand (lat. ripa), wogegen das U. des Meers, auchgroßer Seen, gewöhnlich mit den besondern NamenKüste, Strand (lat. litus) bezeichnet wird.

Uferaas, s. Eintagsfliegen.

Uferbau, jeder Bau, welcher an oder mit einem Uferausgeführt wird, entweder um einen Fluß schiffbarer zumachen (s. Wasserbau), oder das an-

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Ufererdröschen - Uganda.

stoßende Land gegen Überschwemmungen (s. Deich) oderdas Ufer gegen den Abbruch des Wassers zu schützen. Letzteresist der eigentliche Gegenstand der Uferbaukunst, welche zwei Artenvon Uferbauten umfaßt, je nachdem die Gewässer, derenUfer zu schützen sind, stehende oder fließende sind. Beistehenden Gewässern kann eine Beschädigung der Uferentweder durch die periodische Veränderung des Wasserstandes(Ebbe und Flut) oder durch die wellenförmige(ästuarische) Bewegung des Wassers herbeigeführt werden.Hierdurch wird nur die Oberfläche des Ufers angegriffen undeine sogen. Abschälung bewirkt. Die Abschälung einesUfers wird nach Maßgabe der örtlichen Verhältnisse,z. B. der Bodenbeschaffenheit und Stärke des Wellenschlags,verhütet: 1) durch Schlickfänge, d. h. Dämme oderZäune, welche das Wasser verhindern, die Ufer anzugreifen,oder selbst nötigen, seinen Schlamm (Schlick) aus denselbenabzulagern; 2) durch flache Böschungen, welche vom Wassernicht mehr angegriffen werden; 3) durch Uferbekleidungen: ausBohlen, wo Holz im Überfluß vorhanden ist, aus Pflastervon hinreichend großen Steinen, aus Faschinen, d. h. mitSteinen beschwerten, untereinander durch Weidenruten verbundenenlangen Reisbündeln. Bei leichtem Wellenschlag lassen sich dieUfer oft schon durch Berasung oder Anpflanzung von Strauchwerkschützen; wo die Ufer zugleich als Kais oder Lagerplätzedienen sollen, sind dieselben provisorisch durch Bohlwerke oderdefinitiv durch Futtermauern, welche man mehr oder weniger neigtund, damit sie dem Wellenschlag besser widerstehen, an derVorderseite oft konkav anlegt, zu stützen. Beifließenden Gewässern kommt zum periodischen Wechsel desWasserstandes noch eine zweite Bewegung, die strömende(progressivere), hinzu, durch welche das Ufer in der Tiefebeschädigt und ein sogen. Grundbruch, Strom- oder Uferabbruch,bewirkt werden kann. Gegen Grundbrüche schützt man dieUfer am besten: 1) durch Korrektion der Ufer, indem man dem Stromdurch Parallel- oder Einbauten einen regelmäßigen Laufanweist, wodurch der Stromstrich mehr in die Mitte des Stromsverlegt wird; 2) durch Uferschutzbauten, wie Erdüberbaue,Packwerke, Buhnen (s. d.), wodurch die Strömung vermindertwird. Wo die Ufer zugleich als Kais benutzt werden sollen, werdensie, wie im stehenden Gewässer, durch Futtermauerngestützt, welche man zur Vermeidung von Unterspülung nochdurch Spundwände (s. Grundbau) schützt.

Ufererdröschen, s. Geum.

Uferfliege (Perla Geoffr.), Gattung derAfterfrühlingsfliegen (Perlidae), aus der Ordnung derFalschnetzflügler, Insekten mit sehr kleinen, häutigenMandibeln und Kiefertastern mit dünnen Endgliedern, von denendas letzte verkürzt ist. Die zweischwänzige U. (P.bicaudata L., s. Tafel "Falschnetzflügler"), 22 mm lang,braungelb, mit zwei Schwanzborsten (Reifen), lebt am Wasser imgrößten Teil Europas. Das Weibchen legt die Eierklümpchenweise ins Wasser, die Larven haben großeÄhnlichkeit mit der Fliege, sind aber flügellos und anden Füßen mit Wimperhaaren besetzt; sie nähren sichvon Raub und leben besonders in Gebirgsbächen unter Steinenoder an Holzwerk; die Metamorphose erfolgt nach etwa einemJahr.

Uferspecht, s. Eisvogel.

Uferspindelassel (Pycnogonum litorale O. Fr. Müll.),ein den Milben nahestehendes Tier, repräsentiert die kleineGruppe der Pantopoden oder Pyknogoniden, welche früher zu denKrebstieren, dann zwischen Milben und Spinnen gestellt wurde,obwohl sie im männlichen Geschlecht mit dem Besitz einesaccessorischen, die Eier tragenden Beinpaars eine höhereGliedmaßenzahl ausbilden. Die sehr langen, vielgliederigenBeine enthalten schlauchförmige Magenanhänge und dieGeschlechtsorgane, welche mithin in achtfacher Zahl vorhanden sind.Die Eier werden an dem accessorischen Beinpaar an der Brust desMännchens bis zum Ausschlüpfen der Larven getragen. DieU. (s. Tafel "Spinnentiere") ist 13 mm lang, gelblich und lebt anden Küsten der europäischen Meere, besonders auch derNordsee, unter Steinen, Tangen, auch auf Fischen.

Uffelmann, Julius, Mediziner, geb. 1837 zu Zeven inHannover, studierte zu Göttingen Theologie und Philologie,dann Medizin, praktizierte in Hameln, habilitierte sich 1876 alsPrivatdozent in Rostock und wurde 1879 zum außerordentlichenProfessor ernannt. Er schrieb: "Die Diät in den akutfieberhaften Krankheiten" (Leipz. 1877); "Darstellung des auf demGebiet der öffentlichen Gesundheitspflege inaußerdeutschen Ländern bis jetzt Geleisteten" (Berl.1878); "Handbuch der Hygieine des Kindes" (Leipz. 1881); "Tischfür Fieberkranke" (Karlsb. 1882); "Jahresberichte überdie Fortschritte und Leistungen auf dem Gebiet der Hygieine" (Berl.1883 ff.); "Die Ernährung des gesunden und kranken Menschen.Handbuch der Diätetik" (mit Munk, Wien 1887);. "Handbuch derHygieine" (das. 1889).

Uffenheim, Bezirksamtsstadt im bayr. RegierungsbezirkMittelfranken, an der Gollach und der LinieTreuchtlingen-Würzburg-Aschaffenburg der BayrischenStaatsbahn, hat eine evang. Kirche, ein Schloß, eineLateinschule, ein Amtsgericht, eine Oberförsterei, Gerberei,Bierbrauerei, eine Dampfschneidemühle und Parkettfabrik und(1885) 2314 meist evang. Einwohner. In der Nähe dieBergschlösser Hohenlandsberg und Frankenberg.

Uffizien (Palazzo degli Uffizi), s. Florenz, S. 382.

Ufumbiro (Mfumbiro), isolierte Berggruppe imäquatorialen Ostafrika, wird von der Grenze zwischen denLandschaften Ankori und Ruanda mitten durchschnitten und hat zweiGipfel (über 3000 m hoch).

Ugaia (Kawirondo), Landschaft am Ostufer des VictoriaNyanza, mit der großen Insel Ugingo.

Ugalachmiut, s. Ugalentsi.

Ugalentsi (Ugalenzen, Ugalachmiut), ein Stamm der Kenai(s. d.), von einigen irrtümlich den Thlinkit zugerechnet, derwährend des Winters an den Ufern der Bucht gegenüber derInsel Kadyak (Alaska), im Sommer an den Mündungen desKupferflusses sich aufhält. Die Sprache der U. nimmt eineselbständige Stellung innerhalb der Kenaivölker ein.

Uganda, großes Reich in Äquatorialafrika, dassich nordwestlich und westlich vom Victoria Nyanza zwischen demLohugati im S., dem 3.° östl. L. v. Gr. im W., dem 1.°nördl. Br. im N. und dem Nil im O. erstreckt (s. Karte bei"Congo"). Es umfaßt die Landschaften U. im engern Sinn(zwischen Kivira und Katonga), Usoga, östlich vom Kivira,Unjoro, Ankori (Usagara) und Karagwe; die drei letzten sind demHerrscher von U. tributpflichtig. Das Reich begreift dreiProvinzen: Uddu im S., zwischen Kagera und Katonga, Singo im W. undChagwe im O., welchen sich noch der Sesse-Archipel, eine Gruppe von400 Inseln, am Nordostufer des Sees anschließt. Das Reich hateinen Umfang von 123,000 qkm (2234 QM.), mit den tributärenStaaten über 181,706 qkm (3300 QM.); aber während Stanleydie Bevölkerungszahl auf 2,755,000 Seelen schätzt, glaubtder Missionär

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Ugijar - Uhde.

Wilson 5 Mill. annehmen zu können, wobei 3,5 weiblicheBewohner auf 1 männlichen kommen, eine Folge der vielen Kriegeund der Einschleppung weiblicher Gefangener. Am Nyanza und eineStrecke weit ins Land hinein ist das Land gebirgig, durchschnittenvon tiefen, sumpfigen Thälern, durch welcheträgfließende Flüsse ihren Lauf zum See nehmen. DieUferabhänge bedecken herrliche Wälder, belebt von Scharengrauer Affen, von Papageien, Kolibris, Schmetterlingen. Ferner vomSee folgen weitere Thäler, niedrigere Hügel, an Stelleder Waldbäume tritt die Dattelpalme, an der Nordgrenze wirddas Land zur Ebene, durchschnitten von Schilfflüssen und vondichtem Wald bedeckt, in dem Löwen, Leoparden, Hyänen,Elentiere, Antilopen, Elefanten, Büffel, Flußpferde undWildschweine sich aufhalten. Der öftliche, hügelige Teilwird von Schluchten durchzogen, über denen sich prachtvolle,von Schlingpflanzen umzogene Waldbäume wölben, ein Landvon wunderbarer Schönheit. Der Küstenstrich istäußerst fruchtbar, er gibt zwei Ernten im Jahr. DieDörfer sind von großen Bananenwäldern umgeben. DasKlima ist außerordentlich mild und gleichmäßig,eine Folge der hohen Lage des Landes (1500-2000 m); doch herrschtdas Fieber ziemlich stark. Es gibt zwei Regenzeiten (März bisMai und September bis November). Von Mineralien werden nurEisenerz, Talk, Porzellanerde gefunden. Die Bewohner teilen sich inmehrere Stämme: Waganda, Wahuma, Wanyambo und Wasoga, vondenen die ersten in jeder Beziehung am wichtigsten sind. Sie sindmehr als mittelgroß, schlank, kräftig und vondunkelbrauner Farbe. Ungleich den umwohnenden Völkerschaften,sind die Waganda, wenn sie auf der Straße erscheinen, vonKopf bis Fuß bekleidet, auf eine Verletzung dieser Sittesteht die Todesstrafe. Sie sind fleißige Landbauer (Bananen,Durra, Mais, Bataten, Yams, Tabak, Rizinus, Sesam, Zuckerrohr,Kaffee); aus den Bananen gewinnen sie ein berauschendesGetränk (Muenge). Als Haustiere haben sie Rinder, Schafe mitFettschwanz, Ziegen, Hühner, Hunde, Katzen. Sie sindgeschickte Holzarbeiter und Schmiede, ihre Waffen sind Speer,Schild, Bogen und Pfeil; Feuergewehre werden von Sansibarimportiert, der König besitzt auch vier kleine Schiffskanonen.Außerdem werden Kleiderstoffe aus Baumrinde,Töpferwaren, Körbe und Matten, Leder u. a. gefertigt. Inden Handel kommen Elsenbein, Gummi, Harze, Kaffee, Myrrhen,Löwen-, Leoparden-, Ottern- und Ziegenfelle,Öchsenhäute und weiße Affenhäute. Hauptstadtist Rubaga, nicht weit vom Nordufer des Victoria Nyanza. VonEuropäern ist U. wiederholt besucht worden, so von Speke(1862), Long (1874), Stanley und Linant de Bellefonds (1875),Felkin und Wilson (1879); sie wurden sämtlich gastfreundlichvom König Mtesa aufgenommen, doch verbot der König schon1879 den ins Land gezogenen englischen und französischenMissionären das Lehren und bedrohte seine Unterthanen, diesich von jenen unterweisen lassen würden, mit der Todesstrafe.Zugleich wurde auch die mohammedanische Religion verboten. NachMtesas Tod (10. Okt. 1884) begann sein Nachfolger Mwanga dieChristen heftig zu verfolgen, ließ 1885 mehrere Zöglingeder englischen Mission lebendig verbrennen und 31. Okt. 1885 sogarden englischen Bischof für Zentralafrika, Hannington, in Usogahinrichten, so daß die Lage der Missionäre eine sehrgefährdete wurde. Vgl. Wilson und Felkin, U. und derägyptische Sudân (deutsch, Stuttg. 1883).

Ugijar (spr. ugichhar), Bezirkshauptort in der span.Provinz Granada, in den Alpujarras, den Südabhängen derSierra Nevada, mit (1878) 2792 Einw.

Uglitsch, Kreisstadt im russ. Gouvernement Jaroslaw, ander Wolga, hat einen alten verfallenen Kreml (in welchem der jungeZarewitsch Dmitrij, Sohn Iwans des Schrecklichen, 1591 ermordetwurde), 25 Kirchen, darunter eine Kathedrale, ein geistlichesSeminar, Fabrikation von Leder, Seife, Kupfer- und Zinnwaren,Papier etc., lebhaften Handel und (1885) 11,183 Einw.

Ugocsa (spr. úgotscha), ungar. Komitat am linkenTheißufer, von den Komitaten Bereg, Mármaros undSzatmár begrenzt, 1191 qkm (21,62 QM.) groß, wird vonder Theiß durchströmt, ist im O. gebirgig, waldreich,wenig fruchtbar und hat (1881) 65,377 Einw. Hauptprodukte sind:Getreide, Schweine, Schafe, Fische und Eisen (im Turtzer Gebirge).Sitz des Komitats ist Nagy-Szölös (s. d.).

Ugogo, Landschaft in Ostafrika, zwischen dem 6. und7.° südl. Br., grenzt an den nordwestlichen Teil vonUsagara, ein dürres, welliges Tafelland, das in seinemsüdlichen Teil vom Kisigo, einem Nebenfluß des Rueha,durchzogen und begrenzt wird und nur an den Ufern desselben und denüber die Oberfläche verstreuten Oasen bewohnbar ist. DieVegetation besteht in Akaziengestrüppen,Balsamsträuchern, Aloe, Euphorbien, Kapernsträuchern,hartem Gras; von Tieren finden sich Löwen, Schakale,Großohrfüchse, Elefanten, Nashörner, Büffel,Giraffen, Strauße, Perlhühner. Die Eingebornen, Wagogo,wohnen in Lehmhäusern, Tembe, mit flachem Dach. Das Gebietzerfällt in zahlreiche unabhängige, aus mehrerenDörfern bestehende Bezirke, deren jeder seineSouveränität hauptsächlich in der Erpressung derWegsteuer von den Reisenden ausübt. S. Karte bei "Congo".

Ugolino, s. Gherardesca.

Ugomba, Landschaft in Ostafrika, zwischen dem 3. und4.° südl. Br., an den Quellflüssen des in denTanganjika sich ergießenden Malagarasi.

Ugrische Völker, ein von Castrén gebrauchterSammelname für die Ostjaken am rechten Ufer des Ob, dieWogulen am Ostabhang des nördlichen Urals und die Magyaren,die sämtlich zur gliederreichen finnischen Völkergruppegehören. Die beiden ersten sind besonders deshalb interessant,weil sie uns noch jetzt ein Gemälde gewähren, wie dieZustände ihrer westlichen Geschwister in der Vorzeitbeschaffen waren.

Uhde, 1) Hermann, Schriftsteller, geb. 26. Dez. 1845 zuBraunschweig, ging, nachdem er sich in Hannover längere Zeitdem Journalismus gewidmet hatte, 1870 als Spezialkorrespondent der"Hamburger Nachrichten" auf den französischen Kriegsschauplatzund übernahm hierauf das Feuilleton der genannten Zeitung.Seine Berichte veröffentlichte er in einem Sonderabdruck(Hamb. 1871). Seit 1872 lebte er in Weimar, seit 1874 aberprivatisierend in Veytaux-Chillon am Genfer See, wo er 27. Mai 1879starb. Seine Thätigkeit betraf meist die äußereGeschichte der deutschen Litteratur und vorwiegend des deutschenTheaters. Unter seinen Publikationen, die fast alle auf bisherunveröffentlichten Aufzeichnungen und Briefen beruhen, sind zunennen: "Erinnerungen und Leben der Malerin Luise Seidler" (2.Aufl., Berl. 1875); "Denkwürdigkeiten des Schauspielers,Schauspieldichters und Schauspieldirektors F. L. Schmidt" (Hamb.1875, 2 Bde.); "Goethes Briefe an Soret" (Stuttg. 1877); "Goethe,J. G. v. Quandt und der Sächsische Kunstverein" (das. 1878);"Das Stadttheater in Hamburg 1827-77" (das. 1879). Außerdemgab er Karl Töpfers "Dra-

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Uhehe - Uhland.

matische Werke" (Leipz. 1873) und H. A. O. Reichards"Selbstbiographie" (Stuttg. 1877) heraus.

2) Fritz von, Maler, geb. 22. Mai 1848 zu Wolkenburg in Sachsen,ging 1866 auf die Kunstakademie in Dresden, wendete sich aber, weilihn der damals auf der Akademie herrschende Geist nichtbefriedigte, 1867 der militärischen Laufbahn zu und diente bis1877, zuletzt als Rittmeister im Gardereiterregiment. Dannquittierte er seinen Dienst und begab sich nach München, umsich der Malerei zu widmen, wobei er sich besonders an das Studiumder Niederländer hielt. Ein Zusammentreffen mit Munkacsyveranlaßte ihn, sich im Herbst 1879 nach Paris zu begeben, woer einige Wochen im Atelier Munkacsys malte, im übrigen aberseine Studien nach den Niederländern fortsetzte. Unter ihremEinfluß stehen seine ersten Bilder: die Sängerin und diegelehrten Hunde, sowie die 1881 in München gemalten: dasFamilienkonzert und die holländische Gaststube. Eine 1882 nachHolland unternommene Reise bestärkte ihn in seinenkoloristischen Grundsätzen, in welche er inzwischen auchdiejenigen der Pariser Hellmaler aufgenommen hatte. Seinenächsten Bilder: die Ankunft des Leierkastenmanns (Erinnerungaus Zandvoort) und die Trommelübung bayrischer Soldaten, warenjedoch nur die Vorbereitung zu denjenigen Aufgaben, welche er sichals das Hauptziel seiner Kunst gestellt hatte. Auf Grund seinerneuen koloristischen Anschauung und seiner naturalistischenFormenbildung wollte er die Geschichte des Neuen Testaments in engeBeziehungen zur Gegenwart setzen und mit starker Hervorhebung deruntern Volksklassen zu einer neuen, tief und schlicht empfundenenDarstellung bringen. Seine zu diesem Zwecke geschaffenenHauptbilder, welche durch ihre Neigung für dasGewöhnliche und Häßliche auf großenWiderstand stießen, wegen ihres strengen Anschlusses an dieNatur und ihrer koloristischen, bisweilen an Rembrandt erinnerndenHaltung aber auch zahlreiche Bewunderer fanden, sind: Christus unddie Kinder (1884, im Museum zu Leipzig), Komm, Herr Jesu, sei unserGast (1884, in der Berliner Nationalgalerie), Christus und dieJünger von Emmaus (1885), das Abendmahl (1886), dieBergpredigt (1887) und die heilige Nacht (1888). Er lebt alsköniglicher Professor in München. Vgl. Lücke, Fritzv. U. (Leipz. 1887).

Uhehe, Landschaft im äquatorialen Ostafrika, wirdvom 9.° südl. Br. durchschnitten und vom Ruehadurchflossen, wurde von Graf Pfeil und Schlüter 29. Nov. 1885durch Vertrag für die Deutsche Ostafrikanische Gesellschafterworben.

Uhha, Landschaft in Äquatorialafrika, am Nordostuferdes Tanganjika, wird vom Malagarasi, im südlichsten Teil voneiner vielbegangenen Straße durchzogen, ist sonst aber nochwenig bekannt.

Uhl, Friedrich, Schriftsteller, geb. 14. Mai 1825 zuTeschen, studierte in Wien und widmete sich nachmals derlitterarischen Laufbahn, welche er mit den "Märchen aus demWeichselthal" (Wien 1847) begann. Als Mitarbeiter und Redakteurverschiedener größerer Wiener Zeitungen erwarb er in derWiener Publizistik eine hochgeachtete Stellung und fungiertgegenwärtig als Chefredakteur der kaiserlichen "WienerZeitung" und k. k. Wirklicher Regierungsrat. Seinen litterarischenRuf erwarb U. zuerst durch die vortrefflichen farbenvollenBücher: "Aus dem Banat; Landschaften und Staffa*gen" (Leipz.1848); "An der Theiß; Stillleben" (das. 1851). Späterschrieb er die Romane: "Die Theaterprinzessin" (Wien 1863, 3 Bde.),"Das Haus Fragstein" (2. Aufl., das. 1878), "Die Botschafterin"(Berl. 1880, 2 Bde.) und "Farbenrausch" (das. 1886, 2 Bde.), welchesich sämtlich durch scharfe Beobachtung modernerZustände, lebendige Charakteristik, feine Detaillierung undklaren, künstlerisch durchgebildeten Stil auszeichnen. Auchseine theaterkritischen Aufsätze verdienen Erwähnung.

Uhland, 1) Johann Ludwig, hervorragender Dichter undLitteraturforscher, geb. 26. April 1787 zu Tübingen, besuchteGymnasium und Universität seiner Vaterstadt und studierte1802-1808 die Rechte, neben diesem Studium das dermittelalterlichen Litteratur, namentlich der deutschen undfranzösischen Poesie, pflegend. Seine eignen poetischenVersuche und Regungen standen in dieser Zeit durchaus unter demEinfluß der Romantik, von der er freilich nur diejenigenElemente in sich aufnahm, welche einem tiefern Bedürfnis desGemüts entsprangen und zum Humanitätsideal unsrerklassischen Dichtung eine Ergänzung, aber keinen Gegensatzbildeten. Bereits während seiner Tübinger Studienzeitbegann er, einzelne Gedichte (zum Teil unter dem Pseudonym Volker)in Zeitschriften und Musenalmanachen zu veröffentlichen. 1810unternahm er eine mehrmonatliche Reise nach dem kaiserlichen Paris,wo er auf der Bibliothek dem Studium altfranzösischer undmittelhochdeutscher Manuskripte jedenfalls eifriger oblag als demdes Code Napoléon, welches der ursprüngliche Zweckseiner Reise war. Heimgekehrt widmete er sich dann, wenn auch halbmit innerm Widerstreben, in Stuttgart der Advokatur. Seinpatriotischer Sinn jauchzte den Ereignissen der Befreiungskriege,die er als rheinbündischer Württemberger nur mitWünschen und Hoffnungen begleiten konnte, freudig entgegen ;im Vollgefühl der errungenen Befreiung veröffentlichte erdie erste Ausgabe der Sammlung feiner "Gedichte" (Stuttg. 1815, 60.Aufl. 1875). Sie enthielt zwar viele Perlen seiner Lieder- undRomanzendichtung, die in den spätern Auflagen hinzukamen, nochnicht, trug aber im ganzen bereits das charakteristischeGepräge der Uhlandschen Dichtung. "Die Eigentümlichkeitseiner dichterischen Anschauung beruht wesentlich in seinemlebendigen Sinn für die Natur. Diese wurde ihm zum Symbol dersittlichen Welt, er lieh ihr das Leben seines eignen Gemütsund machte die Landschaft, dem echten Maler gleich, zum Spiegelseiner dichterischen Stimmung. Wie aber die beseelte Landschaft diemenschliche Gestalt als notwendige Ergänzung fordert, sobelebt und individualisiert auch U. das Bild der Natur durch denAusdruck menschlichen Seins und Handelns. Und hier macht sich nunseine Vorliebe für die Erinnerungen deutscher Vorzeit geltend.Die Empfindungen, welche ausgesprochen werden, die Situationen, dieCharaktere gehören nicht der Vergangenheit an, sie haben dieewige, jugendfrische Wahrheit aller echten Poesie; aber der Dichtersucht mit Recht diese einfachen Gestalten von allgemeiner Geltungdem gewöhnlichen Kreis der täglichen Erfahrung zuentheben und hüllt sie in den Duft mittelalterlicherReminiszenzen. Seine Kunst, die verschiedenen Elemente dergemütlichen Stimmung, des landschaftlichen Bildes und dermittelalterlichen Staffa*ge zum Ganzen einer künstlerischenKomposition im knappsten Rahmen mit den einfachsten Mittelnzusammenzuschließen, ist bewunderungswürdig , und aufihr beruht wesentlich der Reiz seiner vollendetsten undbeliebtesten Gedichte. Auch ist sie seinen Liedern und Balladengleichmäßig eigen; die nahe Verwandtschaft beider istdarin begründet, nur die Mischung der Elemente ist eine

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Uhlenhorst - Uhlich.

etwas andre." (O. Jahn.) Während die "Gedichte"anfänglich langsam, dann schneller und schneller ihren Weg insdeutsche Publikum fanden, versuchte sich U. auch als Dramatiker.Seine beiden dramatischen Werke: "Ernst, Herzog von Schwaben"(Heidelb. 1818) und "Ludwig der Bayer" (Berl. 1819), denen beiallen dichterischen Vorzügen die unerläßlicheLebensfülle und die Energie spannender, vorwärtsdrängender Leidenschaft abgehen, errangen nur einenmäßigen Erfolg. Seit 1816 begannen die politischenKämpfe und die ausgebreiteten wissenschaftlichen Forschungenden Dichter von größern Schöpfungen abzuziehen. U.beteiligte sich an dem Ringen um die württembergischeVerfassung und gehörte später als Abgeordneter zurStändekammer der freisinnigen Partei an. Seine Schriftüber "Walther von der Vogelweide" (Stuttg. 1822) bekundete ihnals so feinsinnigen Kenner und Forscher der mittelalterlichenLitteratur, daß der Wunsch immer lebhafter erwachte, ihn aufeinem Lehrstuhl für seine Lieblingswissenschaften zuerblicken. Mit seiner 1829 erfolgenden Ernennung zum Professor derdeutschen Litteratur an der Universität Tübingen warddieser Wunsch erfüllt. Uhlands Lehrthätigkeit erfreutesich der reichsten Wirkung. Aber bereits 1832, als ihm dieRegierung den Urlaub zum Eintritt in die Ständekammerverweigern wollte, legte er seine Professur nieder. Voräußern Lebenssorgen namentlich auch seit seiner sehrglücklichen Ehe mit Emilie Vischer (der "Unbekannten" seinerGedichte) völlig gesichert, teilte er fortan seine Zeitzwischen der ständischen Wirksamkeit und seinenwissenschaftlichen Arbeiten. 1839 legte er sein Mandat alsAbgeordneter nieder, und erst die Bewegungen des Jahrs 1848 rissenihn wieder aus seiner frei erwählten Zurückgezogenheit.Als Abgeordneter zur ersten deutschen Nationalversammlung derLinken angehörig, stimmte er gegen das Erbkaisertum, hielt aufseinem Posten bis zur Auflösung der Nationalversammlung ausund begleitete noch das Rumpfparlament nach Stuttgart. Von 1850 anzog er sich wieder ganz nach Tübingen zurück, eifrig mitder Vollendung jener wissenschaftlichen sagen- undlitteraturgeschichtlichen Arbeiten beschäftigt, als derenZeugnisse zu verschiedenen Zeiten die Schriften: "Über denMythus von Thor" (Stuttg. 1836) und "Alte hoch- und niederdeutscheVolkslieder" (das. 1844, 2 Bde.; 2.Aufl., das. 1881 ff.)hervorgetreten waren. Alle äußern Ehrenbezeigungenkonsequent ablehnenden der schlichten Einfachheit seines Wesens undder fleckenlosen Reinheit seines Charakters von allen Parteienhochgeachtet, verlebte U. ein glückliches kräftiges Alterund starb 13. Nov. 1862 in Tübingen. Seine poetischen Werkewurden wiederholt als "Gedichte und Dramen" (Jubiläumsausgabe,Stuttg. 1886), seine wissenschaftlichen, geordnet und revidiert vonAdalb. v. Keller, W. Holland und Franz Pfeiffer, als "Schriften zurGeschichte der Dichtung und Sage" (das. 1866 bis 1869, 8 Bde.)herausgegeben. Die letztern brachten zum erstenmal jenevorzüglichen Tübinger Vorlesungen, welche U. zwischen1829 und 1832 über die "Geschichte der altdeutschen Poesie",die "Geschichte der deutschen Dichtung im 15. und 16. Jahrhundert"und die "Sagengeschichte der germanischen und romanischenVölker" gehalten hatte. Alle diese Arbeiten lassen beimhöchsten wissenschaftlichen Ernste den Dichter erkennen,welcher neben der wissenschaftlichen Methode und dem Forschereiferdas künstlerische Verständnis und die feinsteMitempfindung für Volks- und Kunstdichtung, für denZusammenhang von Dichtung und Mythe besaß. Eine Statue (vonG. Kietz) wurde U. 1873 in seiner Vaterstadt Tübingenerrichtet. Vgl. K. Mayer, L. U., seine Freunde und Zeitgenossen(Stuttg. 1867, 2 Bde.); "Uhlands Leben", aus dessen Nachlaßund eigner Erinnerung zusammengestellt von seiner Witwe (das.1874); die biographischen Schriften von O. Jahn (Bonn 1863), Fr.Pfeiffer (Wien 1862), Notter (Stuttg. 1863), Dederich (Gotha1886),Holland (Tübing. 1886), H. Fischer (Stuttg. 1887), Hassenstein(Leipz. 1887); Weismann, L. Uhlands dramatische Dichtungenerläutert (Frankf. 1863); Düntzer, Uhlands Balladen undRomanzen (Leipz. 1879); Keller, U. als Dramatiker, mit Benutzungseines handschriftlichen Nachlasses (Stuttg. 1877).

2) Wilhelm Heinrich, Ingenieur, geb. 11. Jan. 1840 zu Nordheimin Württemberg, begründete 1865 das Technikum Mittweida,die erste Privatlehranstalt für Maschinentechniker, und 1868das Technikum Frankenberg bei Chemnitz. Für dieStärkefabrikation gab er wesentliche Verbesserungen an underrichtete eine Versuchsstation mit vollständigfabrikmäßigem Betrieb und Lehrkursus. Seit 1870 lebt erin Leipzig. Er lieferte mehrere technische Kalender und schriebzahlreiche technische Werke, von denen besonders hervorzuhebensind: "Handbuch für den praktischen Maschinenkonstrukteur"(Leipz. 1883-86, 4 Bde. und Supplementband); "Die Corliß- undVentildampfmaschinen" (das. 1879); "Skizzenbuch für denpraktischen Maschinenkonstrukteur" (2. Aufl., das. 1886); auchredigiert er die von ihm begründeten Zeitschriften: "Derpraktische Maschinenkonstrukteur" und "Wochenschrift fürIndustrie und Technik" (Leipzig).

Uhlenhorst, Vorort von Hamburg, in anmutiger Lage an derAußenalster, hat ein großes Waisenhaus, schöneVillen und Gärten, Fabrikation von Maschinen, chemischenArtikeln, Goldwaren und englischen Cakes, eine lithographischeAnstalt u. (1885) 11,167 Ew.

Uhles, warmer Eierpunsch.

Uhlhorn, Gerhard, luther. Theolog, geb. 17. Febr. 1826 zuOsnabrück, wurde Repetent, 1852 Privatdozent inGöttingen, 1855 Konsistorialrat und Hofprediger in Hannover,1866 daselbst Mitglied des Landeskonsistoriums, Oberkonsistorialratund 1878 Abt von Lokkum. Unter seinen zahlreichenVeröffentlichungen nennen wir, abgesehen von mehrerenPredigtsammlungen: "Die Homilien und Rekognitionen des ClemensRomanus" (Götting. 1854); "Urbanus Rhegius" (Elberf. 1861);"Der Kampf des Christentums mit dem Heidentum" (5. Aufl., Stuttg.1889); "Vermischte Vorträge über kirchliches Leben derVergangenheit" (das. 1875); "Die christliche Liebesthätigkeitin der alten Kirche" (das. 1882-84, 2 Bde.).

Uhlich, Leberecht, freigemeindlicher Theolog, geb. 27.Febr. 1799 zu Köthen, ward 1824 Prediger in Diebzig bei Aken,1827 zu Pömmelte bei Schönebeck und 1845 an derKatharinengemeinde in Magdeburg. Er gab die Veranlassung zu denVersammlungen der "protestantischen Freunde" (s. Freie Gemeinden)seit 1841, geriet aber, da er das apostolische Symbol bei der Taufenicht nach Vorschrift der Agende anwendete, mit dem Konsistorium inKonflikt und ward im September 1847 suspendiert, worauf er aus derLandeskirche trat und Pfarrer der Freien Gemeinde zu Magdeburgwurde. Als solcher hat er fortwährend in Konflikt mit denBehörden und oft als Angeklagter vor Gericht gestanden; 1848ward er in die preußische Nationalversammlung gewählt,wo er dem linken Zentrum angehörte. Er starb 23. März1872 in Magdeburg. Sein Hauptorgan war das "Sonntagsblatt"; vonseinen zahlreichen Schriften nennen wir:

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Uhr (Taschen- und Pendeluhren).

"Bekenntnisse" (4. Aufl., Leipz. 1846); "Sendschreiben an dasdeutsche Volk" (Dess. 1845); "Die Throne im Himmel und auf Erden"(das. 1845); "Das Büchlein vom Reiche Gottes" (einKatechismus, Magdeb. 1845 u. öfter); "Sonntagsbuch" (Gotha1858); "Handbüchlein der freien Religion" (7. Aufl., Berl.1889). Sein Leben hat er selbst beschrieben (Gera 1872).

Uhr, mechan. Vorrichtung zum Messen der Zeit, speziell,da Wasser-, Sand- und Sonnenuhren (s. d.) ihre Bedeutung imwesentlichen verloren haben, ein Räderwerk, welches durch einfallendes Gewicht oder durch eine sich entspannende Feder getriebenwird. Dieses Räderwerk, bestehend aus einer Anzahl ineinandergreifender Zahnräder, zählt gewissermaßen diekleinen, aber sehr regelmäßigen Bewegungen, welche einandrer Teil der U., der Regulator, vollbringt, und registriert siedurch den Zeiger auf dem Zifferblatt. Regulator und Räderwerksind durch die Hemmung miteinander verbunden. Ersterer ist einPendel oder ein Schwungrad mit Spiralfeder, und je nach derKombination dieser Teile unterscheidet man nun Gewichtuhren, diemeist auch Pendeluhren sind, und Federuhren mit Pendel (Stutzuhren)oder Unruhe (Taschenuhren). In dem Räderwerk befindet sich einRad, welches sich genau in einer Stunde umdreht (das Minutenrad)und den Minutenzeiger trägt, während ein besondereskleines Räderwerk (Zeiger- oder Vorlegewerk) mit zwölfmallangsamerer Bewegung den Stundenzeiger treibt. Bei den Gewichtuhrenwirkt das fallende Gewicht, solange es überhaupt fällt,mit stets gleichbleibender Kraft, die spiralförmigaufgewundene Feder aber, welche, indem sie sich entspannt, dasRäderwerk treibt, wirkt weniger gleichmäßig, und esbedarf zur Erzielung eines gleichförmigen Ganges der U. einervollkommen konstruierten Hemmung. Man benutzt zu diesem Zweck aberauch die Kette, welche das die Feder enthaltende Federhaus mit derSchnecke, einem abgestutzten Kegel, verbindet und, wenn die U.aufgezogen ist, ganz um die Schnecke, vom dickern nach demdünnern Ende derselben gewunden ist. Indem nun die Feder dasFederhaus dreht, wickelt dieses die Kette von der Schnecke ab, unddie Kompensation der Ungleichheiten in der Zugkraft der Federerfolgt, weil die Kette zuerst an dem kleinsten und dann an immergrößerm Halbmesser der Schnecke thätig ist. Diesein den ältern Taschenuhren (Spindeluhren) üblicheEinrichtung findet sich jetzt nur noch in Präzisionswerken. Dadie Schwingungsdauer eines Pendels nur dann konstant ist, wennseine Länge unverändert bleibt, diese aber durch dieTemperaturschwankungen sich verändert, so benutzt man fürgenaue Uhren Kompensationspendel, bei denen durch die verschiedengroße Ausdehnung zweier Metalle der Mittelpunkt derPendellinse in gleicher Entfernung vom Aufhängepunkt erhaltenwird. Sind in Fig. 1 eee drei Eisenstäbe, z z zweiZinkstäbe, so ist bei der eigentümlichenAufhängungsweise der Pendellinse die Aufgabe gelöst, wenndie Summe der Längen eines äußern und des mittlernEisenstabes sich zu der eines Zinkstabes verhält wie dieAusdehnungskoeffizienten von Zink und Eisen. Die Unruhe, einkleines Schwungrädchen mit Spiralfeder, welches um eineGleichgewichtslage schwingt, macht Schwingungen von konstanterDauer, solange Durchmesser, Schwingungsbogen und Spiralenlängeunverändert bleiben, ist also auch von Temperaturschwankungenabhängig und bedarf bei Chronometern wie das Pendel einerKompensation. Die Hemmung (échappement) hat dem Pendel oderder Unruhe fort und fort mittels kleiner Impulse dasjenige an Kraftzu ersetzen, was sie durch Reibung und Luftwiderstand bei jederSchwingung einbüßen. Bei der viel angewandtenAnkerhemmung von Graham (Fig. 2) ist A ein sogen. Steigrad, welchesdurch Zahnräderübersetzung von der Gewichtstrommel ausbewegt wird, während der Anker B an den Schwingungen desPendels teilnimmt u. so abwechselnd links u. rechts in dieZähne des Steigrades eingreift. In der dargestellten Lage wirdim nächsten Moment der jetzt gesperrte Zahn k frei underteilt, an der schrägen Fläche g i entlang gleitend, demPendel einen kleinen Impuls. Nachdem sich hierauf das Steigrad umdie halbe Entfernung zweier Zähne bewegt hat, stößtrechts ein Zahn gegen den Arm m des Ankers, und das Rad bleibt solange gesperrt, bis das Pendel zurückkehrt. Auch hier erteiltdie Zahnspitze demselben einen Impuls, indem sie an derHebefläche m p entlang gleitet. Die Hemmung heißtruhende Hemmung, weil das Steigrad, während es gesperrt ist,vollständig unbeweglich bleibt, was bei den älternAnkerhemmungen nicht der Fall war. Dem Anschein nach wesentlich, inWirklichkeit aber nur wenig verschieden von dieser Hemmung ist dieCylinderhemmung der Taschenuhren, bei welcher statt vielerZähne nur ein einziger zwischen den beiden Armen des Ankerssich befindet, der nun durch die hohle Achse der Unruhe gebildetwerden kann. Bei der Ankerhemmung neuerer Taschenuhren (Fig. 3) istA der sogen. Anker, B die Unruhachse mit der darauf sitzendenScheibe g und C das vom Uhrwerk in der Richtung des Pfeilsgetriebene Steigrad; i ist der sogen. Hebestein, welcher an derScheibe g befestigt

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Uhr (Remontoir-, selbstaufziehende Uhren etc., Schlagwerke,Kontrolluhren etc.).

ist und den doppelten Zweck hat, den Anker in den extremenStellungen II und III zu halten, in denen das Steigrad gesperrtwird, und anderseits in dem Moment, in welchem ein Zahn desletztern an einer der beiden Hebeflächen mn oder pq entlanggleitet, durch die Hörner t und r, zwischen denen er dannliegt, den Impuls zur Erhaltung der Unruhbewegung zu empfangen. Derletztere Moment ist in der Figur, Stellung I, gezeichnet. Der Zahnk gleitet an der Hebefläche pq entlang und bewirkt dadurcheine Bewegung des obern Teils des Ankers nach links; dadurchdrückt das Horn r auf den Hebestein und unterstützt dieDrehung, in welcher sich die Unruhe augenblicklich befindet, bisdie Stellung II eingetreten ist; in dieser sperrt der Zahn z, gegenwelchen sich der Zahn v legt, das Steigrad so lange, bis die Unruheumkehrt und den Hebestein gegen r trifft, wodurch der Anker denZahn v freigibt, welcher nun auf die Hebefläche mn wirkt undeinen Impuls nach der andern Richtung erteilt. Hierauf tritt dieStellung III ein, und das Spiel wiederholt sich. Die Unruhe ist inder Figur weggelassen, ebenso der sogen. Sicherheitsmesser, welcherverhindert, daß bei Erschütterung fehlerhaftes Arbeitenstattfindet. Bei diesen Hemmungen liegt noch ein gewisser Nachteilin dem Umstand, daß der Anker während desgrößten Teils der Pendelschwingung an den Zähnendes Steigrades gleitet und dabei eine von der Größe derTriebkraft abhängige Reibung erfährt, welche leichtverzögernd auf den Gang der U. einwirken kann. Aus diesemGrund hat man freie Hemmungen konstruiert, bei welchen Pendel oderUnruhe, mit Ausnahme des vom Triebwerk aus erteilten Stoßes,während der Schwingung möglichst frei von Druck undReibung bleiben. Noch vollkommener wirken die Hemmungen mitkonstanter Kraft, bei denen der Impuls dem Regulator nicht direktdurch die Triebkraft, sondern vermittelt durch eine Feder oder einGewicht erteilt wird, welche nach jeder Pendelschwingungregelmäßig durch die treibende Hauptkraft wiederaufgezogen werden. Dieses letztere Mittel ist in Anwendungnamentlich bei den Chronometern ("Zeitmessern"), welche aufSchiffen zur Bestimmung der geographischen Länge benutztwerden (deshalb Seeuhr, Längenuhr), indem man die von ihnenangegebene Zeit mit der an Ort und Stelle sich aus Beobachtung derSonne oder der Sterne ergebenden Zeit vergleicht. Je 4 MinutenZeitunterschied entsprechen bekanntlich einem GradLängenunterschied. Der Gedanke stammt bereits aus dem Jahr1530, wo ihn Gemma Frisius kurz nach Erfindung der Taschenuhraussprach. Huygens verfertigte eine solche U. mit gutem Erfolgbereits 1665, eine vollkommnere Lösung der Aufgabe wurde 1728durch Harrison erreicht, alles bisher Geleistete übertraf aberBréguet. Die Chronometer haben sehr kräftigeKompensationsunruhen, häufig mit Spiralfedern von bedeutenderLänge aus stark gehämmertem Gold, um das Rosten zuverhindern. Alle Räder müssen aufs vorzüglichstegelagert und äquilibriert sein. Ein Chronometer muß auchvorsichtig gebraucht werden, frei von heftigen Erschütterungenbleiben und weder in zu trockner noch zu feuchter Atmosphäresich befinden. Ein mathematisch sicheres Resultat ist aber selbstbei der ausgesuchtesten Behandlung nicht zu erwarten. Das Aufziehender Taschenuhren mit besonderm Uhrschlüssel wird bei denRemontoiruhren vermieden, bei denen der äußere Griff derU., wenn man ihn dreht, auf ein kleines Zahnradsystem wirkt,welches das Aufziehen besorgt. Eine autodynamische oder selbstaufziehende Taschenuhr von Löhr ist mit einemAufziehmechanismus versehen, der nach Art der Schrittmesser mitschwingendem Hämmerchen arbeitet. Bei geringenErschütterungen, wie sie die U. beim Gehen, Reiten, Fahrenetc. erleidet, gerät ein Gewichtshebel in Schwingungen, unddiese werden auf ein Räderwerk übertragen, welches zumAufziehen der Uhrfeder dient. Lößls autodynamischeGewichtsuhr befindet sich in einem allseitig geschlossenenGehäuse und geht, einmal aufgezogen, ohne weiteres Zuthun vonaußen. Das Gehwerk wird durch ein hängendes Gewichtbetrieben, und man benutzt den stets schwankenden Barometer- oderThermometerstand, um das Gewicht stets in gleicher Höhe zuerhalten. Die Gleichmäßigkeit des Ganges ist durch eingenau adjustiertes Kompensationspendel gesichert. Eine sehr viellängere Gangbarkeit, als die gewöhnlichen Pendeluhrenbesitzen, erhielt Harder durch Anwendung eines rotierendenTorsionspendels. Dieses Pendel besteht aus einer wagerechtenScheibe, die in ihrem Mittelpunkt an einer dünnen, schmalen,sehr geschmeidigen, senkrecht an einem festen Punktherabhängenden Stahlfeder befestigt ist und, ohne ihre Lage zuändern, wie die Unruhe einer Taschenuhr abwechselnd vor- undrückwärts schwingt. Da diese Scheibe bei ihrer immergleichbleibenden Lage keine Luft verdrängt und nicht gehobenwird, so kann sie mit demselben Kraftaufwand unter sonstähnlichen Verhältnissen sehr viel länger im Gangerhalten werden als ein Pendel; ja, es gelingt, diese U. in derWeise zu konstruieren, daß sie im Jahr nur einmal aufgezogenzu werden braucht (daher Jahresuhr). Besondere Versuche habenergeben, daß die Schwingungen des Torsionspendels ebensoisochron sind wie die eines gewöhnlichen Pendels, so daßder regelmäßige Gang einer mit Torsionspendel versehenenU. in dieser Hinsicht sichergestellt ist. Die Schlagwerke der Uhrenwerden durch eine besondere Triebkraft, Gewicht oder Feder,betrieben und in gewissen Momenten durch das Gehwerkausgelöst. Bei der eintretenden Bewegung wirkt meist einWindflügel, welcher schnell um seine Achse rotiert, alsRegulator, und der Hammer wird so lange ausgehoben und fallengelassen, bis die Bewegung wieder durch das Gehwerk gesperrt wird.Bei den Repetieruhren wird das Schlagwerk nicht durch das Gehwerk,sondern durch eine äußere Kraft, z. B. den Zug an einerSchnur oder den Druck an einem Knopf, ausgelöst. FürUhren, welche eine selbst in den kleinsten Zeitteilengleichförmige Bewegung haben müssen, namentlich beisolchen zum Bewegen astronomischer Fernröhre, die dem Lauf derSterne folgen sollen, wendet man ein Zentrifugalpendel an, welchesauch konstante Umdrehungszeiten besitzt. Eine Hemmung ist beidiesen Uhren gar nicht nötig, da direkt eine schnell gehendeAchse als Pendelachse benutzt werden kann.Wächterkontrolluhren zwingen den Wächter, zuregelmäßigen Zeiten seine Rundgänge zu machen,indem sie jede Abweichung von der Vorschrift sofort verraten. Beider U. von Bürk macht der Wächter mit verschiedenen, anden einzelnen Stationen in besondern Kästchen eingeschlossenenSchlüsseln auf einem in der U. sich bewegenden PapierstreifenEindrücke, aus deren Ort in der Längenrichtung desStreifens auf den Moment der Einwirkung, aus deren Ort in derBreite aber auf die Station geschlossen werden kann, an welcher sieerfolgt, sofern jeder Schlüssel nur im stande ist, an einerbestimmten Stelle in der Breitendimension zu wirken. Versäumtder Wächter eine Station, so fehlt ein derselbenentsprechender Punkt auf dem Streifen.

976

Uhr (Geschichtliches, elektrische Uhren).

Die Zeit der Erfindung der U. ist nicht genau bekannt. Die Altenhatten nur Sonnen-, Sand- und Wasseruhren (s. d.). Der Grundgedankeder mechanischen Gewichtsuhr wurde schon von Aristotelesausgesprochen, und im frühen Mittelalter finden sichmechanische Uhren in Deutschland. Im 12. Jahrh. benutzte man inKlöstern Schlaguhren mit Räderwerk, und auch Danteerwähnt solche. Da Sultan Saladin dem Kaiser Friedrich II.eine Räderuhr zum Geschenk machte, so hat man die Sarazenenfür die Erfinder dieser Uhren gehalten, die erst durch dieKreuzzüge nach Europa gekommen seien. Der Bau der Turmuhrenläßt sich bis ins 14. Jahrh. verfolgen. Die Benutzungdes Pendels regte Galilei an, und unter seiner Leitung arbeiteteBalcetri an einer Pendeluhr, allgemein wurde die Pendeluhr abererst bekannt, als Huygens, der eine solche 1656 konstruierte, sein"Horologium oscillatorium" (1673) hatte erscheinen lassen. AlsErfinder der Taschenuhren gilt Peter Henlein (Hele) inNürnberg (um 1500); die ersten hatten cylindrische Form, dieeiförmigen (Nürnberger Eier) kamen um 1550 auf. Barlowerfand 1676 die Repetieruhren. Die Verfertigung der Uhren wirdjetzt fast durchweg fabrikmäßig betrieben, und zwarnimmt die Schweiz hinsichtlich der Produktion und Beschaffenheitihrer Taschenuhren den ersten Rang ein. Genf (seit 1587), Locle undChaux de Fonds sind die Hauptsitze dieser Industrie. Hier, in Biel,Solothurn und St.-Imier bestehen Uhrmacherschulen. Die englischenUhren besitzen zwar einen großen Ruf; doch sind ihnenwirklich gute Schweizer Uhren gleichzustellen, ja hinsichtlich derKonstruktion vorzuziehen. In Deutschland werden Taschenuhren seit1845 in Glashütte in Sachsen (mit Uhrmacherschule) und inSilberberg (Schlesien), hier auch Wächter-, Kontroll- undTurmuhren gesertigt. Die vorzüglichsten Pendeluhren mitzahlreichen Arten von Gehäusen, mit Weckern, Schlagwerken,Spielwerken, Figuren, Kuckuck etc. liefert der Schwarzwald seit derzweiten Hälfte des 17. Jahrh., besonders seit 1780. Fürdiese Uhren, die auch in Freiburg (Schlesien) dargestellt werden,besteht eine Uhrmacherschule in Furtwangen. Hauptsitze derSchwarzwälder Uhrenindustrie sind im frühern Seekreis:Hüfingen, Neustadt, Villingen und im frühernOberrheinkreis: Freiburg, Hornberg, Triberg und Waldkirch.Frankreich hat bedeutende Taschenuhrenfabrikation in Besancon.Stutzuhren werden besonders in Paris, Wien, Prag, Graz, Augsburg,Berlin und Lähn in Schlesien gefertigt. Die VereinigtenStaaten haben seit 1854 Pendel- und Taschenuhrenindustrie besondersin Waltham (Massachusetts) und Elgin (Illinois); mit vortrefflichenArbeitsmaschinen liefert man Uhren, welche bei gleichem Preis denschweizerischen mindestens gleichkommen und diesen selbst in Europaerfolgreich Konkurrenz machen. Vgl. Jürgensen, Die höhereUhrmacherkunst (2. Aufl., Kopenh. 1842); Rösling u.Stoß,Der Turmuhrenbau (Ulm 1843); Martens, Beschreibung der Hemmungender höhern Uhrmacherkunst (Furtwang. 1858);Saunier-Großmann, Lehrbuch der Uhrmacherei (Glash. 1879, 3Bde.); Derselbe, Das Regulieren der U. (das. 1880); Derselbe,Taschenwörterbuch für Uhrmacher (das. 1880); Felsz, DerUhrmacher als Kaufmann (Berl. 1884); Rüffert, Katechismus derUhrmacherkunst (3. Aufl., Leipz. 1885); Sievert, Leitfaden fürUhrmacherlehrlinge (4. Aufl., Berl. 1886); Horrmann, Repassageeiner viersteinigen Cylinderuhr (2. Aufl., Leipz. 1886);Gelcich-Barfuß, Geschichte der Uhrmacherkunst (4. Aufl.,Weimar 1886); Schilling-Baumann, Über Uhren, deren Geschichteund Behandlung (Zürich 1875); Rambol, Enseignementhéorique de l'horlogerie (Genf 1889 ff.); "Die MarfelsscheUhrensammlung" (Frankf. a. M. 1889, 18 Tafeln); vierFachzeitschriften (in Leipzig, Berlin, Romanshorn und Wien).

Elektrische und pneumatische Uhren.

(Hierzu Tafel "Elektrische Uhren".) Elektrische Uhren wurdenzuerst von Steinheil 1839, von Wheatstone u. Bain 1840 konstruiert.Man unterscheidet jetzt drei Systeme: sympathische Uhren(elektrische Zeigerwerke), bei welchen die Angaben einergewöhnlichen Normaluhr durch elektromagnetische Vorrichtungenauf eine größere Anzahl von Zifferblätternübertragen werden; elektromagnetische Stundensteller, welchemit Hilfe des elektrischen Stroms in bestimmten Zeiträumen dieRichtigstellung einer Anzahl von Uhren mit selbständigenGangwerken nach den Angaben der Normaluhr bewirken, und elektrischePendeluhren, welche ohne ein Laufwerk nur durch den elektrischenStrom in Thätigkeit gesetzt und erhalten werden. Bei densympathischen Uhren sendet die Normaluhr mittels einer in dasGetriebe eingelegten einfachen Kontaktvorrichtung in jeder Minutein die Leitung einen Strom, welcher die Fortbewegung desMinutenzeigers der sympathischen U. um ein Feld veranlaßt.Die sympathische U. von Siemens u.Halske (Fig. 1) besteht aus demElektromagnet MM, der auf der Platte g und mit dieser auf derPlatte PP festgeschraubt ist. Den Polen pp ganz nahe gegenübersteht fast vertikal der um h drehbare Anker aa; dieAbreißfeder f zieht ihn in die Ruhelage, wenn er von denPolen pp nicht angezogen ist, bis zu dem Aufhaltestift izurück. An seinem verlängerten Ende befindet sich einstählerner Stößer c sowie etwas tiefer eine kleinestählerne Schneide b. R ist ein Zahnrad mit 60eigentümlich gekrümmten Zähnen, für dessenAchse die Platte e das Lager bildet. Auf derselben Platte e ist einkleiner stählerner und leicht federnder Sperrhaken dfestgeschraubt. So oft ein galvanischer Strom

durch die Leitung LL..., also durch den Elektromagnet MM,hindurchgeht, wird der Anker aa angezogen und durch denStößer c ein Zahn des Rades R fortgestoßen. DieSchneide b fällt dabei sofort in eine Zahnlücke ein undverhütet, daß durch den Stoß desStößers mehr als Ein Zahn fortgestoßen werde,während zugleich der federnde Haken d über den schiefenRücken des zu feiner Rechten liegenden Zahns hinweggleitet undin die nächste Zahnlücke einfällt, um beimRückgang des Stößers c bei Unterbrechung des Stromszu verhindern, daß das Rad R selbst wieder mitzurückgeschleift werde. Es folgt hieraus, daß sich beijedem Durchgang des Stroms durch die Leitung LL das Rad R um eineZahnbreite bewegt und daher bei 60maliger Wiederherstellung undUnterbrechung des Stroms eine volle Umdrehung erleidet. Die Achsedes Rades R trägt den Minutenzeiger, und eine einfacheRäderübersetzung führt zur Bewegung desStundenzeigers. Um nun die einmalige Umdrehung des Rades R in einerStunde zu erreichen, muß die Batterie in jeder Minute einmalgeschlossen und wieder geöffnet werden. Dies geschieht durchdie Normaluhr, die zu diesem Behuf ein Rad enthält welches injeder Minute eine Umdrehung macht. Fig. 2 zeigt dieses Rad bei w.Der auf demselben festgelötete Zapfen z erreicht in jederMinute einmal seine tiefste Stellung, in welcher er die an derKlemme a befestigte Metallfeder f

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Elektrische Uhren.

Fig. 3. Vorderansicht.

Fig. 4. Seitenansicht.

Fig. 3. u. 4. Elektrische Zeigeruhr von Grau undWagner.

Fig. 5. Bohmeyers sympathische Wechselstromuhr.

Vorderansicht.

Vorderansicht.

Seitenansicht.

Fig. 8. Elektrische Pendeluhr nach Hipp.

Fig. 6. Elektrischer Stundensteller nach Hipp.

Fig. 7. Elektrische Pendeluhr nach Weare.

Fig. 1. Elektrische Zeigeruhr nach Siemens undHalske.

Normal-Uhr

Fig. 2. Elektrische Uhrenverbindung.

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Uhr (elektrische Uhren).

gegen einen auf die Metallfeder g gelöteten Kontaktstiftandrückt und dadurch die Batterie B schließt. Balddarauf rückt z weiter, die Federn f und g trennen sich wieder,und der Strom wird unterbrochen. Bei geschlossener Batteriezirkuliert der Strom in Richtung B, a, f, g, b, L zur elektrischenU. I, von da durch L... zur U. II etc., endlich von der letzteneingeschalteten U. in die Erdplatte Pl, durch die Erde zurückzu Pl und zur Batterie. - Ausgedehnte Verbreitung haben dieelektrischen Zeigerwerke von Hipp gefunden, deren Konstruktiondarauf berechnet ist, alle Störungen durch atmosphärischeEinflüsse, mangelhafte Kontakte und Erschütterungenmöglichst auszuschließen. Grau u. Wagner haben einZeigerwerk für Wechselstrombetrieb mit rotierendempolarisierten Anker konstruiert (Fig. 3 u. 4). E ist derElektromagnet mit den beiden Polschuhen l und k, ab einkräftiger permanenter Magnet, zwischen dessen Polen derrotierende Anker auf einer Messingachse de befestigt ist. Der Ankerbesteht aus zwei gleichen Teilen gi und hf aus weichem Eisen, dierechts und links an die Messinghülse c angeschraubt undgegeneinander um 90° verstellt sind. Beide Teile stehen denPolen des Hufeisenmagnets ab gegenüber und werden von denPolschuhen l und k des Elektromagnets überdeckt. Geht nundurch letztern ein Strom, der den Polschuhen entgegengesetztePolarität verleiht, so findet durch die Einwirkung derselbenauf den polarisierten Anker eine Drehung des letztern um 90°statt, in welcher Lage er durch eine Fangvorrichtung festgehaltenwird. Wenn nun in der nächsten Minute ein Strom vonentgegengesetzter Richtung den Elektromagnet durchfließt, soerfolgt die Drehung des Ankers dennoch in gleichem Sinn, weil auchdessen Stellung zu den Polschuhen sich bei der vorigen Bewegungumgekehrt hat. Bei der sympathischen Wechselstromuhr von Bohmeyer(Fig. 5), welche sich durch große Einfachheit und geringenKraftverbrauch auszeichnet, stehen zwei weiche Eisenkerne ab aufdem Pol c des permanenten Hufeisenmagnets d, so daß siebeständig magnetisch sind. In unmittelbarer Nähe des centgegengesetzten Pols befindet sich der weiche Eisenanker ef, derden weichen Eisenkernen entgegengesetzt polarisiert ist, solangekein Strom durch die Spulen geht. Die aus den Spulen hervorragendenEnden sind nahezu halb gefeilt, und dicht vor den flachen Seitenbewegen sich, ohne sie zu berühren, die Ankerschenkel ef. BeiStromschluß wird der eine Eisenkern südlich, der andrenördlich magnetisch, so daß einer anziehend, der andreabstoßend auf den Anker wirkt. In der Zeichnung ist e von aangezogen, f von b abgestoßen. Die Hebel hi sitzen drehbarauf der Minutenradwelle, in ihre obern gabelförmigen Endengreifen die Führungsstifte kl, welche in einem mit derAnkerachse verbundenen Querstück befestigt sind. Kommt derStrom in umgekehrter Richtung, so zieht b den Anker f an, und hbewegt sich nach rechts. Gleichzeitig hat sich i nach links bewegtund der an i befindliche Sperrkegel m das 30zähnige Minutenradum einen halben Zahn vorgeschoben. In der nächsten Minutewechselt der Strom, wobei Sperrkegel n das Minutenrad um einenhalben Zahn weiter schiebt. Damit sich das Rad nicht weiter bewegenkann, treten wechselseitig n und m unter die Stifte o und p. Derleichte Gang des Werkes ist dadurch erzielt, daß derpolarisierte Anker genau parallel gegen die Polschuhe schwingt, unddaß derselbe den Minutenzeiger vermittelst der Hebel i und him Trägheitsmittelpunkt desselben angreift und fortschiebt.Der große Weg des Ankers bewirkt, daß der Zeiger nichtgeschnellt, sondern langsam fortbewegt wird. Ein Stromatmosphärischer Elektrizität kann keine dauerndeStörung hervorbringen, denn hat er dieselbe Richtung wie derBatteriestrom, so erzeugt er keine Bewegung; bei entgegengesetzterRichtung rücken allerdings die Zeiger um eine Minute weiter,der darauf folgende Batteriestrom findet nun aber seine Arbeitschon verrichtet, und die U. zeigt wieder die richtige Zeit an. Dieelektrischen Stundensteller mit ihrem selbständigen Triebwerkhaben den großen Vorzug vor den sympathischen Uhren,daß sie weitergehen, auch wenn aus irgend einem Grunde derKorrektionsstrom ausbleibt. Man unterscheidet zwei Systeme. Bei demeinen werden die Schwingungen eines Pendels durch einen unterhalbdesselben angebrachten Elektromagnet reguliert, während beidem andern die Richtigstellung der Uhren durch direkte Einwirkungauf die Zeiger erfolgt. In Berlin sind sechs öffentlicheNormaluhren aufgestellt und in übereinstimmenden Gang miteinem Regulator der Sternwarte gebracht worden. Letztererschließt alle zwei Sekunden mittels einer am Pendelangebrachten Kontaktvorrichtung einen Strom. Am Pendel derNormaluhren ist eine Drahtspirale so befestigt, daß einseitlich angebrachter permanenter Magnet während derPendelschwingungen in den Hohlraum der Spirale eintaucht. Die Achseder letztern liegt daher rechtwinkelig zur Pendelachse. Infolge derperiodischen Stromwirkungen muß nun das Pendel derNormaluhren gleichen Takt mit demjenigen des Regulators halten. Dieelektrischen Stundensteller von Siemens u. Halske berichtigen dieZeigerstellung stündlich. Die mittels eines Elektromagnetsausgeübte Kraft löst zunächst für einen kurzenMoment ein kleines Werk aus, welches, durch Gewichts- undFederkraft getrieben, die Zeiger faßt und richtig einstellt.Man erhält so eine beliebige und auch für die Bewegungsehr großer Zeiger ausreichende Kraftäußerung.Außerdem kann man von der Zentralstation aus durch Entsendungvon Stromimpulsen mittels einer Taste unabhängig von derNormaluhr die Zeiger der abhängigen U. aus falscher Stellungauf die volle Stunde einstellen. Man kann dadurch die U. fast umeine halbe Stunde vor- oder zurückstellen. Fig. 6 zeigt dasKorrektionssystem von Hipp. An der vordern Gestellwand einerHippschen elektrischen Pendeluhr ist der kleine Elektromagnet Mangebracht, dessen Anker A an einem Winkelhebel w befestigt ist.Auf der Nase r des nach unten gerichteten Hebelarms ruht ein amHebel h sitzender Stift. Der um die Achse x drehbare Hebel hträgt ferner einen $\bigwedge$-förmigen Klotz k, welcherbeim Fallen des Hebels den auf der Stirnfläche des SteigradesR sitzenden Stift v faßt und so das Steigrad auf die volleStunde 12 oder 6 einstellt. Die Wiedereinlösung von hgeschieht durch einen der zwei auf der Stirnfläche desStundenrades Z angebrachten Stifte. Der eine oder andre derselbenhebt bei der Drehung von Z den Ansatz a in die Höhe, sodaß sich der Stift wieder am Auslösehaken v fängt.Die Wirkung des Stroms erfolgt alle 6 Stunden. Der Stromkreis desElektromagnets M ist nämlich nur dann geschlossen, wenn einerder Stifte y auf den Vorsprung c der Kontaktfeder d drückt,wodurch diese mit der zweiten Kontaktfeder b in Berührunggebracht und so eine Verbindung zwischen den Teilen L1 und L2 desStromkreises herbeigeführt wird. Von den minder einfachenelektrischen Pendeluhren zeigt Fig. 7 eine Konstruktion von Weare,welche bei Anwendung einer recht konstanten Batterie

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Uhr (pneumatische Uhren).

gleichmäßig geht. Das Pendel A greift mit einemGrahamschen Anker in das Räderwerk einer gewöhnlichenPendeluhr. NBS ist ein permanenter Stahlmagnet, N der Nordpol, Sder Südpol. Auf der Pendelstange sitzt als Linse einElektromagnet E, der auf einer schmalen Messingplatte mit denVorsprüngen aa' ruht. Das eine Ende des Umwindungsdrahts istmit dieser Messingplatte, das andre mit einem Draht hinter derPendelstange verbunden. Letzterer ist an der Aufhängefeder desPendels befestigt und steht daher mit dem von dieser Federauslaufenden, außerhalb des Gehäuses bei dem Zinkpol zmündenden Verbindungsdraht h in Kontakt. Der Stahlmagnetträgt unter jedem der seitwärts vorgebogenen Polendeneine kleine goldene Spiralfeder ff', welche beide mittels desMagnets und des Drahts b mit dem +Pol K der Batterie verbundensind. Sobald nun das Pendel dem Pol N genähert wird, kommt derVorsprung in Berührung mit der Feder f, der Strom wirdgeschlossen und zirkuliert über Kb fa durch die Windungen desElektromagnets und den hinter der Pendelstange befindlichen Drahtaufwärts zur Feder g und durch h nach z. Die Windungen desElektromagnets sind derart gewählt, daß sich bei dieserRichtung des Stroms bei a ein Nordpol, bei a' ein Südpolbildet. Es wird daher der nach der Linken gerichtete Elektromagnet,sobald man ihn frei läßt, von dem Pol Nzurückgestoßen, und diese Abstoßungüberwindet wegen der größern Nähe die von Snach a' gerichtete Abstoßung. Das Pendel schwingt daher nachder Rechten zurück, wobei sich a von f trennt und der Stromunterbrochen wird. Jene Abstoßung hört nun auf, dasPendel aber geht vermöge der Trägheit über dieRuhelage hinaus nach der Rechten und nähert sich demSüdpol S. Kommt nun a' mit f' in Berührung, so wird derStrom wieder geschlossen, es bildet sich wieder bei a' einSüdpol, bei a ein Nordpol, welche beide von den gleichnamigenPolen S und N abgestoßen werden. Aber nun überwiegt dieAbstoßung des Südpols S, und das Pendel schwingt nachder Linken zurück etc. Die Hippsche Pendeluhr (Fig. 8) besitztein Pendel P, welches in dem Punkt A mittels einer Stahlfederaufgehängt ist und die schwere Scheibe L mit dem Eisenanker eträgt, der möglichst nahe über dem Elektromagnet mschwingt. Die Pendelstange ist in halber Höhe gekröpft,und auf der Linse sitzt ein Gleitstück a aus Achat, welchesmehrere von vorn nach rückwärts verlaufende Furchenbesitzt. An den isolierten Metallstücken bb' sind zweihorizontale Stahlfedern ff' eingespannt, von denen die unterefür gewöhnlich an dem nicht leitenden Stift s, die oberean dem leitenden Stift s' anliegt. Die untere Feder ist an ihremfreien Ende mit einer aufwärts gerichteten Kontaktspitze mversehen, außerdem trägt sie das um die Achse o leichtbewegliche Stahlplättchen p, die Palette. Die von dem +Pol derBatterie ausgehende Leitung umkreist den Elektromagnet, führtdann zu f'k' und geht, sobald der Kontakt bei m geschlossen wird,über diesen nach fbk zum -Pol zurück. Außerdem istnoch die Zweigleitung dc' vorhanden, welche mit Ausschaltung derBatterie eine Schließung der Drahtwindungen desElektromagnets herstellt, sobald der Kontakt s' geschlossen wird.Beim Schwingen des Pendels schleift die Palette über a hinweg.ohne daß die Achse o gehoben wird. Während dieser Zeitbleibt der Strom unbenutzt, nimmt aber die Schwingungsamplitude soweit ab, daß a nicht mehr vollständig unter pweggeführt wird, so stemmt sich beim Rückgang des Pendelsdie Palette in eine der Furchen a, und infolgedessen wird die Achseo und die Feder f gehoben. Hierdurch wird der Kontakt mgeschlossen, der Strom magnetisiert den Elektromagnet, welcher nunstark anziehend auf den Anker e wirkt, bis dieser die tiefste Lageangenommen hat. In diesem Moment ist p wieder außerVerbindung mit a gekommen und der Strom unterbrochen, das Pendelaber hat einen so starken Antrieb erhalten, daß es wiederlängere Zeit mit größerer Amplitude schwingt. DieVerbindung dc' verhindert, daß bei m ein Unterbrechungsfunkeentsteht, indem sich f' einen Moment auf s' legt, bevor der Kontaktm geöffnet wird. Ein Pendel oder, wie bei den Taschenuhren,eine Unruhe muß bei allen elektrischen Uhren vorhanden sein,um ihren Gang zu regulieren; da aber die direkte Einwirkung desElektromagnetismus auf das Pendel dieses nur so lange vollkommenisochronisch schwingen macht, als die Batterie ihreursprüngliche Stärke völlig konstant erhält, sohaben einige Erfinder das Auskunftsmittel ergriffen, denElektromagnetismus erst auf besondere Zwischenmechanismen einwirkenzu lassen, die nun erst ihrerseits das Pendel in seiner Bewegungunterhalten. Dieselben bestehen entweder in einem ganz kleinenGewicht oder in einer Feder, welche durch den Anker einesElektromagnets bei jedem Stromschluß um ein Geringes gehoben,alsdann von dem Pendel bei seiner Schwingung losgelöst werdenund in die Ruhelage zurücksinken, wobei sie jedesmal demPendel denselben stets ganz gleichförmigen Impuls beibringen.Der Strom mag nun stark oder schwach sein; solange die Kraft desdurch ihn erzeugten Elektromagnets nur hinreicht, das Gewichtchenoder die Feder zu der vorgeschriebenen Höhe zu heben, wird dasPendel unter der gleichmäßigen Einwirkung derselbenisochronisch schwingen und die U. richtig gehen. Was diemenschliche Kraft bei der gewöhnlichen Gewicht- oder Federuhralle 24 Stunden oder 8 Tage etc. nur einmal thut, das verrichtetsomit der elektrische Strom hier jeden Augenblick (Sekunde oderhalbe Sekunde). Daß durch diese für eine vollkommeneelektrische U. notwendige Einrichtung dieselbe sehr an Einfachheitverlieren muß, ist einleuchtend. Gute Werke dieser Art sinddeshalb teuer. Vgl. Schellen, Elektromagnetischer Telegraph (6.Aufl., Braunschw. 1882); Tobler, Elektrische Uhren (Wien 1883);Merling, Die elektrischen Uhren (Braunschw. 1886); Favarger,L'électricité et ses applications à lachronometrie (Basel 1886). Pneumatische Uhren, von Mayrhofererfunden, dienen denselben Zwecken wie die elektrischen, erhaltenaber ihren Impuls durch komprimierte Luft mittels einerRohrleitung. Das ganze Gebiet einer Zentraluhrenregulierung wirdnach dem pneumatischen System in zahlreiche kleinere Bezirkezerlegt, welche je einen durch Rohrleitung unter sich verbundenenKomplex von Häusern umfassen. Sämtliche an dieRohrleitung einer Unterabteilung angeschlossene Uhren werden voneiner Normaluhr aus in der Weise in dauerndem und richtigem Gangerhalten, daß letztere den Zutritt zu der Rohrleitungstündlich einmal der Kompressionsluft öffnet, welchedurch einen hydraulischen Apparat erzeugt und in einem Reservoiraufbewahrt wird. Durch den eintretenden Luftdruck wird bei jederSekundäruhr ein Blasebalg aufgeblasen und dabei mittels Hebeletc. die U. aufgezogen und reguliert. Bei derselben Gelegenheitwerden auch die Normaluhren mittels Blasebalg aufgezogen. Letztereselbst aber werden wieder von einer Zentraluhr alle 24 Stundenrichtig gestellt. Dies geschieht ebenfalls

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Uhrdifferenz - Ujfalvy.

durch komprimierte Luft, der Antrieb dazu aber erfolgt durcheinen elektromagnetischen Apparat, der durch Herstellung einesKontakts von der Zentraluhr ausgelöst wird. Zentraluhr undNormaluhr müssen zu diesem Zweck elektrisch verbunden werden,doch kann man dazu bereits vorhandene Leitungen von Telegraphen,Telephonen etc. ohne Beeinträchtigung ihres ursprunglichenZwecks benutzen und, da die Reichspost- und Telegraphenverwaltungsich hinsichtlich der Benutzung der Telephonleitungen fürdiesen Zweck entgegenkommend gezeigt hat, so bietet sich füralle Orte mit Telephonbetrieb die Möglichkeit dereinheitlichen Zeitregulierung. Statt der komprimierten Luft kannman auch das unter hinreichendem Druck stehende Wasser derWasserleitungen benutzen. - Über elektromagnetischregistrierende Uhren s. Registrierapparate.

Uhrdifferenz, s. Zeitdifferenz.

Uhrich, Jean Jacques Alexis, franz. General, geb. 15.Febr. 1802 zu Pfalzburg, trat 1820 als Leutnant in die Armee,machte den spanischen Feldzug 1823 mit, diente seit 1834 inAlgerien, ward 1848 Oberst, 1852 Brigadegeneral, befehligte 1855vor Sebastopol eine Gardebrigade, 1859 unter dem Prinzen Napoleoneine Infanteriedivision, ward 1867 zur Reserve versetzt und 1870Kommandant von Straßburg, das er sieben Wochen lang mitTapferkeit, doch ohne die erforderliche Umsicht verteidigte und 28.Sept. übergab. Anfangs als Held gefeiert, erhielt er 1872 vonder militärischen Untersuchungskommission einen Tadel wegender Kapitulation von Straßburg. Er veröffentlichtedarauf: "Documents relatifs au siège de Strasbourg" (Par.1872). U. starb 9. Okt. 1886 in Passy bei Paris.

Uhu, s. Eulen, S. 906.

Ui, Fluß in Rußland, entspringt am Ural imGouvernement Orenburg, fließt östlich und mündet ander Grenze des orenburgischen und tobolskischen Gouvernements nacheinem Laufe von 400 km links in den Tobol. An seinen Ufern ist eineaus acht Festungen bestehende Festungsreihe (die Uiskajische Linie)gegen die Kirgisen angelegt.

Uiguren (Kaotsche), altes türk. Volk, welches inHochasien (Ostturkistan) wohnte und in der Kultur sehr weitvorgeschritten war, denn es besaß bereits frühzeitigeine eigne Schrift und Litteratur, welche von den Chinesen schon478 erwähnt werden. Später nahmen die U. vonnestorianischen Missionären die syrische Schrift an. Nach denBerichten der Chinesen waren am Hof des Uigurenchans eigneChronikenschreiber angestellt, und Buddhismus, der parsischeZoroasterglaube sowie das nestorianische Christentum fanden beiihnen Eingang. Die U. haben sich lange Zeit hindurch als ein eignerStamm behauptet und standen wegen ihrer Bildung und Kultur in hohemAnsehen. Später vermischten sie sich mit Mongolen, Chinesen,Arabern und mohammedanischen Tataren, wodurch sie sowohl ihreBildung als ihre Nationalität verloren. Die einzige undzuverlässige Nachricht über die U. erhalten wir aus einerHandschrift der kaiserlichen Bibliothek in Wien, dem "KudatkuBilik", welche von 1069 stammt und das älteste intürkischer Sprache abgefaßte Buch ist. Sie behandelt dieethischen wie sozialpolitischen Verhältnisse der U. Vgl.Vambéry, Uigurische Sprachmonumente und das Kudatku Bilik(Innsbr. 1870); Schott, Zur Uigurenfrage (Berl. 1874-76, 2 Tle.).Als entnationalisierte Nachkommen der U. werden von einigen dieDunganen (s. d.) betrachtet.

Uintah Mountains (spr. uintah mauntins), Gebirge imnordamerikan. Territorium Utah, scheidet in westöstlicherRichtung das Becken des obern Green River von dem seines unternLaufs und wird von dem Fluß in gewaltiger Schluchtdurchbrochen. Sein Gipfelpunkt ist Mount Emmons, 4175 m ü.M.

Uist, zwei Inseln der äußern Hebriden, an derWestküste Schottlands, die eine nördlich, die andresüdlich von Benbecula, North-U. mit (1881) 3371, South-U. mit3810 meist kath. Einwohnern, welche Fischerei, Vogelfang, Viehzuchtund etwas Ackerbau treiben. Die Inseln haben steile Küsten,zahlreiche gute Häfen und kleine Seen. Ben Eval auf North-U.ist 345 m, Ben More auf South-U. 621 m hoch.

Uistiti, s. Seidenaffe.

Uj (magyar.), s. v. w. neu, in zusammengesetztenOrtsnamen oft vorkommend.

Ujansi, Landschaft in Ostafrika, vom 6.° südl.Br. mitten durchschnitten, westlich von Ugogo und wie dieseswasserarm. Die große Karawanenstraße von Bagamoyoüber Tabora zum Tanganjika geht mitten durch das Land.

Ujejski, Cornel, poln. Dichter, geb. 1823 zu Beremnianyim Kreis Czortkow in Galizien, besuchte die LembergerUniversität und begründete schon früh durch seineschwungvollen und ergreifenden "Klagelieder des Jeremias" ("SkargiJeremiego", 1847), die er aus Anlaß des blutigen galizischenBauernaufstandes von 1846 schrieb, seinen dichterischen Ruf; ausdenselben wurde der Choral "Mit dem Rauch der Feuersbrünste"("Z dymem pozarów") zum allgemeinen Volkslied. Nachdem U.1847 in Paris zu dem ihm gesinnungsverwandten Dichter Slowacki innahe Beziehungen getreten, folgten seine "Biblischen Melodien"("Melodye biblijne". Lemb. 1851), worin er in erhabener Sprache denSchmerz des polnischen Volkes zum Ausdruck bringt, dievortrefflichen Dichterworte zu Tonschöpfungen Chopins sowiemehrere minderwertige Dichtungen. Während des 1863erAufstandes gehörte U. zu den eifrigsten Förderern derBewegung und entzog sich der Verhaftung durch die Flucht nach derSchweiz. Seither wurde er wiederholt in den galizischen Landtag,1876 auch in den Wiener Reichsrat gewählt, legte indessen seinMandat bald nieder. Er lebt auf dem Gut Zubrze bei Lemberg, das ihmder dortige Magistrat als Nationalbelohnung überließ;als Dichter ist er nur noch mit "Dramatischen Bildern" (1880)aufgetreten, die ihn noch in der alten romantischen Frischezeigen.

Ujesd (russ.), s. v. w. Kreis, d. h. Unterabteilung einesGouvernements in Rußland.

Ujest (poln. Viast), Stadt im preuß.Regierungsbezirk Oppeln, Kreis Großstrehlitz, an derKlodnitz, 208 m ü. M., hat 3 kath. Kirchen (darunter die sehrbesuchte Wallfahrtskirche Maria-Brunn), eine Synagoge, einAmtsgericht, Bierbrauerei, Gerberei, lebhafte Viehmärkte und(1885) 2518 Einw. U. erhielt 1222 deutsches Stadtrecht. Von U.führt der Fürst von Hohenlohe-Öhringen (sonstIngelfingen) den Herzogstitel (s. Hohenlohe).

Ujfalvy, Karl Eugen U. von Mezo Kovest, Sprachforscherund Reisender, geb. 16. Mai 1842 zu Wien als Sprößlingeiner alten ungarischen Adelsfamilie, besuchte dieMilitärakademie in Wiener-Neustadt, trat 1861 als Leutnant inein österreichisches Kavallerieregiment, verließ aber1864 die Armee und bezog die Universität in Bonn. 1866siedelte er nach Paris über, wo er 1873 Professor an derorientalischen Akademie wurde. Im Auftrag der Regierung machte U.1876-82 drei Forschungsreisen durch Zentralasien, deren Ergebnisseer in dem Werk "Expé-

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Uj-Féjértó - Ukraine.

dition scientifique française en Russie, en Siberie etdans le Turkestan" (Par. 1878-80, 6 Bde.) veröffentlichte. Vonseinen übrigen, vornehmlich ethnologischen und linguistischenArbeiten sind zu nennen: "La langue magyare, son origine, etc."(1871); "La Hongrie, son histoire, etc." (1872); "Les migrationsdes peuples et particulierement celle des Touraniens" (1873);"L'ethnographie de l'Asie" (1874); "Mélanges altaïques"(1874); "Étude comparée des langues ougro-finnoises"(1875); "Grammaire finnoise" (mit R. Hertzberg, 1876);"Éléments de grammaire magyare" (1875); "L'art descuivres en Cachemire" (1883); er redigierte die "Revue dephilologie et ethnographie" (Par. 1874-77, 3 Bde.). Auchübersetzte er Petöfis Gedichte (1871) und mitDesbordes-Valmore eine Auswahl magyarischer Dichtungen (1872), dasfinnische Epos "Kalewala" (1876) ins Französische. Deutschschrieb er: "Alfred de Musset" (Leipz. 1870) und "Aus demwestlichen Himalaja" (das. 1884). - Seine Gattin Marie, geborneBourdon, geb. 1845 zu Chartres, seine stete Begleiterin auf allenseinen Reisen, schrieb: "De Paris à Samarkand, le Ferghanah,etc." (1880); "Voyage d'une Parisienne dans l'Himaleya occidental"(1887) u. a.

Uj-Fejértó, Markt im ungar. KomitatSzabolcs, an der Debreczin-Miskolczer Bahnlinie, mit (1881) 6998ungar. Einwohnern.

Ujhely, s. Sátoralja-Ujhely.

Uj-Szentanna (spr. -ßént-), Markt im ungar.Komitat Arad, Station der Arad-Buttyiner Bahnlinie, mit (1881) 5193deutschen und ungar. Einwohnern.

Uj-Verbász (spr. -wérbaß), Dorf imungar. Komitat Bács-Bodrog, Station der Budapest-SemlinerBahn, liegt am Franzenskanal und hat (1881) 5090 deutscheEinwohner, ein Untergymnasium und eine Sparkasse.

Ukami, deutsches Schutzgebiet in Ostafrika, zwischenUsegua, Usagara und Khutu und von mehreren Zuflüssen des Rufudurchzogen, wurde für die Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaftvon Peters und Pfeil durch Verträge im Dezember 1884 erworbenund 27. Febr. 1885 unter deutschen Schutz gestellt.

Ukara, Insel im Südteil des großenafrikanischen Sees Ukerewe (s. d.).

Ukas (v. russ. ukasátj, "befehlen"), inRußland jeder direkt vom Kaiser oder vom dirigierenden Senatergehende legislative oder administrative Befehl oder Erlaß.Die Veröffentlichung der kaiserlichen Ukase erfolgt durch denSenat, doch hat letzterer auch das Recht, zur Ausführungbestehender Gesetze Ukase (Verordnungen) zu erlassen. Gesetze undVerordnungen, die vom Kaiser selbst ausgehen, heißen"allerhöchste Ukase". Dabei wird zwischen dem eigenhändigunterzeichneten (imennoj) und dem mündlichen U., dem vomKaiser auf erstatteten Vortrag erteilten Befehl, unterschieden.Ministerielle Verordnungen werden nicht als U. bezeichnet. KaiserNikolaus ließ 1827 eine Sammlung der Ukase in 48 Bändenveranstalten, der sich die spätern von Jahr zu Jahranschließen. Sie bildet die Grundlage des russischenReichskodex (Swod sakonow).

Ukelei, s. Weißfisch.

Uker (Ucker, Ücker), Fluß in Preußen,bildet sich beim Marktflecken Fredewalde in der Provinz Brandenburgaus dem Abfluß mehrerer Seen, durchfließt denOberuker-, Strelower und Unterukersee, tritt oberhalb Pasewalk nachPommern über, empfängt hier die Randow und mündetnach 103 km langem Lauf unterhalb Ückermünde in dasKleine Haff.

Ukerewe (Victoria Nyanza), großer See inÄquatorialafrika, zwischen 0° 45' nördl. bis 2°50' südl. Br. und von 31° 30'-35' östl. L. v. Gr.,liegt nach Speke 1140, nach Stanley 1160, nach Mackay 1005 mü. M. und hat einschließlich der zahlreichen in ihmgelegenen Inseln ein Areal von 43,900 qkm (1525 QM.), ist sonachgrößer als Bayern. Die Ufer des Sees werden meistbegleitet von Höhenzügen, sind aber stellenweise auch aufgroße Ausdehnungen ganz flach; an der Westseite verlaufendieselben ziemlich gleichmäßig, im N., O. und S. werdensie von zahlreichen Buchten zerschnitten (Ugoweh- und Kavirondobai,Spekegolf), und zahlreiche Inseln und Inselgruppen (Sessearchipel,Usuguru, Ugingo, Ukara, Ukerewe, Bumbire) sind ihnen vorgelagert.Im N. hat er im Kiviro, der später Somerset-Nil heißt,seinen Abfluß, dagegen gehen ihm von O. Guaso, Maroa, Rubuna,von S. Simiu, Isanga, Lohugaci, von W. Kiwala mit Kagera(Alexandra-Nil), Katonga u. a. zu. Der U. wurde 4. Aug. 1858 vonSpeke entdeckt, dann von diesem in Verein mit Grant 1861-62 weiteruntersucht, namentlich seine nördliche Ausdehnungfestgestellt, von Stanley vom Januar bis Mai 1875 umfahren undzuletzt von Mackay 1883 untersucht. S. Karte bei "Congo".

Ukermark (Uckermark), der nördlichste Teil derpreuß. Provinz Brandenburg, zwischen der Mittelmark,Mecklenburg-Strelitz, Pommern und der Neumark, wird von der Uker(von der sie den Namen hat), Oder, Welse, Randow und vielen Seenbewässert und bildet eine nur von geringen Hügelndurchzogene fruchtbare Ebene von 3700 qkm (67 QM.)Flächeninhalt. Sie umfaßt im wesentlichen die KreisePrenzlau, Angermünde und Templin. - Die U. wurde im 6. Jahrh.von einem wendischen Volksstamm, den Ukranern (Uchri, Wucri), dannnach kurzer Abhängigkeit vom Deutschen Reiche gegen Ende des10. Jahrh. von den Obotriten, um 1177 aber von den pommerschenHerzögen in Besitz genommen. 1250 wurde sie von denbrandenburgischen Markgrafen Johann I. und Otto III. erworben, nachdem Aussterben der Askanier aber von Pommern und Mecklenburgbesetzt. Letzteres blieb nur kurze Zeit im Besitz seines Anteils;den Pommern hat jedoch erst Kurfürst Friedrich I. vonBrandenburg 1415 Prenzlau, Boitzenburg und Zehdenick entrissen, undnach langwierigen Fehden hat Albrecht Achilles den Rest der U. 1472wieder mit der Mark vereinigt.

Ukermünde, s. Ückermünde.

Ukert, Friedrich August, Gelehrter, geb. 28. Okt. 1780 zuEutin, studierte in Halle und wurde 1807 Erzieher dernachgelassenen Söhne Schillers in Weimar, folgte aber schon imfolgenden Jahr einem Ruf nach Gotha, wo er zunächst Inspektoram Gymnasium, dann Bibliothekar an der herzoglichen Bibliothekwurde. Er starb 18. Mai 1851. Außer Übersetzungenhistorischer und geographischer Werke veröffentlichte er:"Geographie der Griechen und Römer" (Weim. 1816-46, 3 Bde.),gab mit Heeren seit 1828 die "Geschichte der europäischenStaaten", mit Jacobs 1834 die "Merkwürdigkeiten derherzoglichen Bibliothek zu Gotha" (Leipz. 1835-38, 3 Bde.) herausund schrieb: "Über Dämonen, Heroen und Genien" (das.1850).

Ukleisee, kleiner, sagenreicher, vielbesuchter See imoldenburg. Fürstentum Lübeck, 5 km nördlich vonEutin, 26 m ü. M. An seinen von niedrigen, schönbewaldeten Hügeln umgebenen Ufern ein Wirtshaus.

Ukraine ("Grenzgebiet"), zur Zeit des alten polnischenReichs Benennung der äußersten südöstlichenGrenzlande desselben, später eines ausgedehnten Landstrichs anbeiden Ufern des mittlern Dnjepr mit

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Ula - Uleaborg.

Einschluß der Sitze der Kosaken, welcher jetzt dengrößten Teil Kleinrußlands (s. d.) ausmacht. Durchden Vertrag von Andrussow 1667 und den Frieden zu Moskau von 1686trat Polen den östlich vom Dnjepr gelegenen Teil des Landes(die sogen. russische U.) an Rußland ab, während derwestlich von diesem Fluß gelegene Teil (die polnische U.)vorläufig noch unter polnischer Herrschaft blieb und erst 1793durch die zweite Teilung Polens an Rußland kam. Die vom Donezdurchströmte slobodische U., in die sich zur Zeit derpolnischen Herrschaft viele Kleinrussen geflüchtet hatten,bildet jetzt das Gouvernement Charkow. Über die ukrainischeSprache und Litteratur, s. Kleinrussische Sprache undLitteratur.

Ula, Rangklasse der türk. Zivilbeamten mit dem TitelExzellenz, besteht aus zwei Graden: U. sinfi ewwel und U. sinfisani.

Ulanen (Uhlanen), mit Lanzen bewaffnete Reiterei. DerName U., d. h. Wackere, Tapfere, ist tatarischen Ursprungs. DiePolen legten ihn ihrer ähnlich bewaffneten Reiterei, mit dersie die Tatareneinfälle abzuwehren suchten, ebenfalls bei, sodaß die polnischen U. die ersten in Europa waren und deshalbals polnische Nationalwaffe galten. Von den Polen nahmen dieübrigen europäischen Heere die U. sogar mit ihrereigentümlichen Uniform, bestehend in einer viereckigenpolnischen Mütze, der Czapka, und einemkurzschößigen Rock mit zwei Reihen Knöpfen undpolnischen Ärmelaufschlägen, der Ulanka, an. Die erstenUlanenregimenter nach den polnischen errichtete 1790 und 1791Österreich; ihm folgte Preußen, welches bereits seit1745 ein Regiment Lanzenreiter, die Bosniaken (Towarczy, s. d.),hatte und daraus 1808 U. bildete, später Rußland undandre Staaten. Deutschland hat 25, Österreich 11, England 5,Rußland 2 (Garde-) Regimenter U. Frankreich hat keine U.Während in Österreich die U. keine Lanze, sondern gleichden übrigen Reitern nur Säbel und Karabiner führen,begann man 1888 in Deutschland auch die Kürassiere undHusaren, 1889 auch die Dragoner mit Lanzen auszurüsten.

Ulanga (Uranga), der Oberlauf des Lufidschi (s. d.) inOstafrika.

Ulanka, s. Ulanen.

Ulbach (spr. ülback), Louis, franz. Schriftsteller,geb. 7. März 1822 zu Troyes, studierte in Paris und trat zumerstenmal 1844 mit einer Sammlung lyrischer Poesien ("Gloriana") andie Öffentlichkeit. Später nach und nach an denverschiedensten Journalen beteiligt, machte er sich durch die im"Figaro" erschienenen "Lettres de Ferragus" einen Namen alsSatiriker, zog sich aber auch durch seinen Freimut, den erspäter noch entschiedener in dem wöchentlicherscheinenden Pamphlet "La Cloche" bethätigte, gerichtlicheVerfolgung und Strafe zu. Während der Belagerung von Paris warer, obgleich der friedfertigste Mann von der Welt, Mitglied derBarrikadenkommission, und als er nach der Bewältigung desKommuneaufstandes von einem Kriegsgericht der Teilnahme an derInsurrektion geziehen wurde, gab er in seiner "Cloche" eine soindignierte Antwort, daß er dafür zu drei Jahren und inzweiter Instanz immer noch zu drei Monaten Gefängnis und 3000Frank Geldbuße verurteilt wurde. 1878 wurde er von seineninzwischen zur Regierung gelangten politischen Freunden mit demPosten eines Bibliothekars beim Arsenal entschädigt. U. hatseit 1853 eine Reihe von Romanen erscheinen lassen, welche ihn zueinem der gelesensten Schriftsteller machten. Wir nennen: "L'hommeau Louis d'or" (Par. 1854); "Les roués sans le savoir" (das.1856); "La voix de sang" (1858); "Monsieur et Madame Fernel", seinebeste Arbeit, auch nicht ohne Erfolg auf die Bühne gebracht(1860); "Françoise" (1862); "Le mari d'Antoinette" (1862);"Louis Tardy" (1864); "Le parrain de Cendrillon" (1865-67, 2 Bde.);"Histoire d'une mère et de ses enfants" (1874); "Laprincesse Morani" (1875); "Magda" (1876); "La comtesse de Tyrnau"(1876); "Le baron américain" (1877) ; "Les mémoiresd'un assassin" (1877); "Madame Gosselin" (1877); "Monsieur Paupe"(1878); "Les buveurs de prison" (1879); "Les enfants de la morte"(1879) etc. Auch im Drama hat sich U. versucht, wenn auch mitweniger Glück. Er starb 16. April 1889 in Paris.

Ulceration (lat.), Verschwärung, s.Geschwür.

Ulcus (lat.), s. v. w. Geschwür.

Ule, Otto, naturwissenschaftl. Schriftsteller, geb. 22.Jan. 1820 zu Lossow bei Frankfurt a. O., studierte seit 1840 inHalle und Berlin erst Theologie, sodann Naturwissenschaften, war1845-48 Lehrer am Gymnasium in Frankfurt a. O., hielt daselbst imWinter 1847 und 1848 Vorträge über dieEntwickelungsgeschichte des Weltalls und beteiligte sich lebhaft anden politischen Kämpfen jener Jahre. Nachdem er einige Zeitals Lehrer an der Fortbildungsschule zu Quetz bei Halle gewirkthatte, privatisierte er in Halle und starb hier 6. Aug. 1876. Vonseinen Schriften, die einerseits durch gemütvolles Eingehenauf die Vorgänge, namentlich in der unbelebten Welt, zurNaturerkenntnis zu führen, anderseits nicht bloßVerstandes-, sondern auch Humanitätshildung zu fördernsuchen, sind hervorzuheben: "Das Weltall" (3. Aufl., Halle 1859, 3Bde.); "Physikalische Bilder" (das. 1854-57, 2 Bde.); "Die neuestenEntdeckungen in Afrika" (das. 1861); "Die Wunder der Sternenwelt"(Leipz. 1861; 2. Aufl. von Klein, 1877); "Populäre Naturlehre"(das. 1865 -1867); "Warum und Weil", Fragen und Antwortenphysikalischen Inhalts (chemischer Teil, 3. Aufl., Berl. 1887;physikalischer Teil, 6. Aufl. 1886); "Kleine naturwissenschaftlicheSchriften" (Leipz. 1865-68, 5 Bde.). Auch gab er eine Bearbeitungvon Réclus' "La terre" (Leipz. 1873-76, 2 Bde.). Mit KarlMüller und Roßmäßler gründete er 1852die Zeitschrift "Die Natur".

Uleåborg (sinn. Oulu), das nördlichste undgrößte Gouvernement des GroßfürstentumsFinnland, umfaßt das nördliche Österbotten undLappland und hat einen Flächenraum von 165,641 qkm (3008,2QM.) mit (1886) 228,993 Einw. Das Land ist reich bewässertdurch mehrere Seen (Uleåträsk, Kitkajärvi,Kemijärvi, Kiandosee, Enare u. a.) und großeFlüsse, z. B. Oulunjoki, Kemijoki, Uleåelf, Ijojoki,Torneåelf. Im innern und östlichen Teil sind noch diegroßen Wälder und Moräste überwiegend, und derBoden ist meist unkultiviert; in der westlichen Küstengegendaber ist der Ackerbau vorherrschend. Der Fischfang und derHolzbetrieb sind bedeutend im ganzen Land. Im N. (Lappland) wohnennoch etwa 600 nomadisierende Lappen, deren Hauptbeschäftigungdie Renntierzucht ist. - Die Stadt U., am Bottnischen Meerbusen undan der Mündung des Uleåelf, brannte 1822großenteils ab und ist seitdem freundlicher undgeräumiger wieder aufgebaut worden. Sie ist Sitz desGouverneurs und eines deutschen Konsuls, hat ein Lyceum, einHospital, Schiffswerften, mehrere Fabriken und (1886) 11,578 Einw.,welche Handel, besonders mit Teer, Pech und Holzwaren, treiben. U.wurde 1605 gegründet. Während des Kriegs 1854 branntendie Engländer im hiesigen Hafen mehrere Schiffe nebst demTeerhof nieder.

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Ulemas - Ulibischew.

Ulemas (arab., "Wissende "), in der Türkei dieRechts- und Gottesgelehrten, welche ihr Wissengleichmäßig aus dem Koran ziehen, werden in denMedressen (s. d.) von den Muderris gebildet und zerfallen inKultusdiener oder Imame (s. d.), Gottesgelehrte oder Muftis (s. d.)und Richter oder Kadis (s. d.). Auch die Gebetausrufer oderMuezzins (s. d.) gehören zu den U. Das Oberhaupt der U. istder Scheich ul Islam.

Ulen, s. Neunauge.

Ulex L. (Stechginster, Heckensame), Gattung aus derFamilie der Papilionaceen, Sträucher mit in Dornenauslaufenden, kantig gestreiften Ästen, einfachen, ebenfallszu Dornen verhärteten, linealen Blättern, meist einzelnin den Winkeln der obern Blätter stehenden Blüten undangeschwollener, wenigsamiger Hülse, die kaum länger alsder Kelch ist. Die Samen sind mit einem Wulst versehen. U.europaeus L. (Heideginster), bis 1,6 m hoher, dem Wacholderähnlicher, aber schwach beblätterter Strauch mit gelbenBlüten, wächst im westlichen Mittel- und Südeuropa,kommt auch noch auf sandigen Heiden des westlichen Norddeutschlandvor und wird als Heckenpflanze kultiviert. Die zerquetschtenBlätter liefern gesundes Pferdefutter, und eine Varietätin der Normandie mit nicht dornig erhärtenden Blätternwird auch als Schaffutter benutzt und nebst einigen andern Artenals Zierpflanze kultiviert. Vgl. Riepenhausen-Crengen, Stechginster(Leipz. 1889).

Ulfeldt (Uhlefeld), Korfiz (Cornifex), Graf, dän.Edelmann, geb. 10. Juni 1606, lebte lange Zeit im Ausland, erlangte1636 durch die Heirat mit der Gräfin Leonore Christine vonSchleswig-Holstein, einer Tochter König Christians IV. vonDänemark von seiner Geliebten Christine Munk, großenEinfluß, Reichtum und hohe Ämter, ward Reichshofmeister,suchte nach Christians IV. Tod 1648 Friedrichs III. Thronbesteigungzu hindern, um die Krone seinem Schwager zuzuwenden, ward dennochvon Friedrich III. in seinen Ämtern belassen, verletzte aberdurch seine Anmaßung besonders die Königin Sophie Amalieund entfloh, als er eines Mordanschlags gegen den Königbeschuldigt wurde, 1651 erst nach Holland, dann nach Schweden, daser zum Kriege gegen Dänemark aufreizte, ward nach dem Friedenvon Roeskilde 1658 in seine Würden wieder eingesetzt, entflohnach Einführung der absoluten Monarchie in Dänemark vonneuem und starb 20. Febr. 1664 bei Basel, nachdem er inDänemark zum Tod verurteilt worden war. Seine Gemahlin wurdevon Karl II. von England, bei dem sie Hilfe für U. erbat, 1663an Dänemark ausgeliefert und von ihrer Feindin, derKönigin, im blauen Turm in Kopenhagen gefangen gesetzt, in demsie 22 Jahre bis nach dem Tode der Königin 1685 schmachtete.Sie starb 1698. Vgl. I. Ziegler, Denkwürdigkeiten derGräfin zu Schleswig-Holstein, Leonora Christina,vermählten Gräfin U. (2. Aufl., Wien 1879); Smith,Leonora Cristina Grevinde Ulfeldts Historie (Kopenh. 1879-81, 2Bde.).

Ulfilas (Ulfila, Wulfilas, "Wölfel"), der Apostelder Goten, geb. 310 oder 311 von christlichen Eltern, die durch dieGoten aus Kappadokien in die Gefangenschaft geführt wordenwaren. Im J. 341 wurde er von Eusebios von Nikomedia (s. d.) zumBischof geweiht, wirkte dann seit 348 unter den arianischenWestgoten, flüchtete aus Anlaß einer Christenverfolgungum 355 mit einem großen Teil derselben über die Donau indas römische Reich und starb in Konstantinopel, wohin ihnKaiser Theodosius berufen hatte, 381. Von seinenschriftstellerischen Arbeiten hat sich nur ein Teil seinergotischen Bibelübersetzung erhalten. Derselben legte er zuGrunde für das Alte Testament die Septuaginta und für dasNeue auch einen griechischen Text, aber unter beständigerZurateziehung einer lateinischen Übersetzung (Itala!).Daß er für seine Übersetzung ein gotisches Alphabeterfunden habe, berichten mehrere Schriftsteller ausdrücklich;dasselbe beruht im wesentlichen auf dem griechischen Alphabet.Jedenfalls bleibt ihm der Ruhm, zuerst die Sprache seines Volkes inzusammenhängender schriftlicher Darstellung angewandt und ihrdurch die Bibelübersetzung einen festen Halt gegeben zu haben.Aus Italien kam ein um 500 geschriebener Prachtkodex derEvangelien, mit silbernen Buchstaben auf purpurfarbenes Pergamentgeschrieben, nach dem Kloster Werden an der Ruhr, dann nach Pragund nach der Eroberung dieser Stadt durch den schwedischen GeneralKönigsmark nach Schweden, wo er seit 1669 unter dem Namen des"Codex argenteus" (faksimiliert hrsg. von Uppström, Ups. 1854)in der Bibliothek der Universität Upsala aufbewahrt wird. Vonderselben Übersetzung ward auf Palimpsesten aus dem KlosterBobbio (jetzt in der Ambrosianischen Bibliothek zu Mailand) 1817durch Angelo Mai und Castiglione ein Teil des Matthäus und derPaulinischen Briefe entdeckt, nachdem schon 1758 derWolfenbüttler Geistliche Knittel einige Stücke desRömerbriefs in einem Wolfenbüttler Palimpsest (CodexCarolinus) aufgefunden hatte. Außerdem existieren noch einigeStellen aus Esra und Nehemia. Gleichwohl reichen die genanntenBruchstücke aus, um den ganzen Bau jenes altgermanischenDialekts zu erkennen. Nach U. und mit deutlicher Benutzung seinerEvangelienübersetzung verfaßte später ein Gote,vielleicht erst im 6. Jahrh., eine paraphrasierende Erklärungdes Evangeliums Johannis, deren ebenfalls aus Bobbio stammendeBruchstücke zuerst von Maßmann herausgegeben worden sind("Skeireins aivaggeljons thairch Johannen", Münch. 1834).Derselbe Gelehrte entzifferte (in der "Germania" 1868) einigeweitere Bruchstücke von U.' Übersetzung der PaulinischenBriefe, die Reifferscheid in einem Turiner Kodex gefunden hatte.Gesamtausgaben der gotischen Sprachdenkmäler lieferten v. d.Gabelentz und Löbe (Altenb. 1843-46, 2 Bde.), auchMaßmann (Stuttg 1857), Stamm (8. Aufl. von Heyne, 1885) undBernhardt (Halle 1875, Textausg. 1884). Vgl. Waitz, Über dasLeben und die Lehre des U. (Hannov. 1840); Bessel, Über dasLeben des U. (Götting. 1860); Krafft in der"Realencyklopädie der theologischen Wissenschaften" (2. Aufl.,Bd. 16); Kauffmann, Untersuchungen zur Geschichte U.' ("Zeitschriftfür deutsches Altertum", Bd. 27).

Uliasserinseln, s. Amboina.

Uliassutai, Hauptstadt des gleichnamigen Kreises in dernordwestlichen Mongolei, aus einer Zivil- und einer befestigtenMilitärstadt bestehend, ist für den sibirischen Handelwichtig und hat etwa 4000 Einw.

Ulibischew, Alexander, russ. Staatsrat undMusikschriftsteller, geb. 1795 zu Dresden von russischen Eltern,ward hier auch erzogen und erwarb sich im Violinspiel eineungewöhnliche Fertigkeit. Später widmete er sich derDiplomatie, zog sich aber 1830 auf seine Güter bei NishnijNowgorod zurück, wo er sich bis zu seinem 24. Jan. 1858 (a.St.) erfolgten Tod als praktischer und theoretischer Musiker eifrigbeschäftigte. U. hat sich durch seine gründliche,feinsinnige und begeistert geschriebene "Biographie de Mozart"(deutsch von Gantter, 2. Aufl., Stuttg. 1859) einen verdientenNamen gemacht; weniger Erfolg hatte ein zweites Werk: "Beethoven,ses critiques et

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Ulietea - Ulm.

ses glossateurs" (Leipz. 1857; deutsch von Bischoff, das. 1859),da hier der Autor bei seiner einseitigen Verehrung Mozarts vielfachzu schiefen und ungerechten Urteilen über Beethoven gelangt.Zur Hebung und Läuterung des Musikgeschmacks in Rußlandhat U. jedenfalls viel beigetragen.

Ulietea, Insel, s. Raiatea.

Ulixes, s. Odysseus.

Ulkun, albanes. Name von Dulcigno (s. d.).

Uller, in der nord. Mythologie Sohn der SonnengöttinSif (s. d.) und Stiefsohn des Thor, der schnelle Bogenschütze,der mit seinem Bogen (dem Regenbogen) als Pfeile die Blitzeentsendet.

Ullersdorf, Dorf und Rittergut im preuß.Regierungsbezirk Breslau, Kreis Glatz, an der Biele, hat eine kath.Kirche, ein Schloß mit Park, einen 23 m hohen eisernenObelisken zu Ehren der Königin Luise, eine großeFlachsspinnerei und (1885) 2649 Einw.

Ulleswater (spr.ölleswater), See in England,zwischen Cumberland und Westmoreland, eine Miniaturausgabe desVierwaldstätter Sees, 14 km lang. Durch den Eamont entleert ersich in den Eden.

Ullmann, Karl, evangel. Theolog, geb. 15. März 1796zu Epfenbach in der Pfalz, studierte zuHeidel- berg undTübingen Theologie, habilitierte sich 1819 an erstererUniversität als Privatdozent und ward 1821 zumaußerordentlichen, 1826 zum ordentlichen Professor derTheologie ernannt. 1829 folgte er einem Ruf als Professor nachHalle, kehrte aber 1836 als Professor nach Heidelberg zurück,ward 1853 zum evangelischen Prälaten und Mitglied desOberkirchenrats von Baden berufen und 1856 zum Direktor desletztern in Karlsruhe ernannt, wo er, seit 1861 im Ruhestand, 12.Jan. 1865 starb. Seit 1828 gab er mit Umbreit die "TheologischenStudien und Kritiken" (Hamb. 1828) heraus. Von seinen Schriften,die für die sogen. Vermittelungstheologie klassisch sind,heben wir hervor: "Gregorius von Nazianz, der Theolog" (Darmst.1825; 2. Aufl., Gotha 1867); "Johann Wessel, ein VorgängerLuthers" (Hamb. 1834), später unter dem Titel: "Reformatorenvor der Reformation" (2. Aufl. 1866, 2 Bde.); "Historisch odermythisch?" (das. 1838); "Über den Kultus des Genius" (das.1840); "Über die Sündlosigkeit Jesu" (das. 1841, 7. Aufl.1863); "Die bürgerliche und politische Gleichberechtigungaller Konfessionen" (Stuttg. l848); "Das Wesen des Christentums"(Hamb. 1849; 5. Aufl., Gotha 1865). Vgl. Beyschlag, K. Ullmann(Gotha 1867).

Ullmannia, s. Holz, fossiles.

Ullmannit, s. Nickelantimonkies.

Ulloa, Don Antonio d', einer der verdienstvollstenSpanier im 18. Jahrh., geb. 12. Jan. 1716 zu Sevilla, widmete sichdem Seedienst, ward schon 1733 Kapitän einer königlichenFregatte, begleitete 1734 einige Mitglieder der Pariser Akademienach Peru, um dieselben bei der Gradmessung am Äquator zuunterstützen, durchforschte dann bis 1744 die spanischenBesitzungen in Südamerika und setzte die von den Britenbedrohten Küsten in Verteidigungszustand. Nach seinerRückkehr bereiste er noch fast alle Meere Europas und einengroßen Teil des Festlandes. Er beförderte in seinemVaterland den Aufschwung der königlichen Wollmanufakturen,vollendete die großen Kanäle und Hafenbassins vonCartagena und Ferrol und belebte die berühmtenQuecksilberminen von Almaden und Huancavelica in Peru, wohin er1755 als Geschwaderchef gegangen war. Bald darauf erhielt er denOberbefehl über die Flotte in dem westindischen Meer, nahm1762 Louisiana in Besitz und ward 1764 Gouverneur davon, kehrteaber schon 1767 nach Spanien zurück, worauf er zumGeneralleutnant der königlichen Flotten und zumGeneraldirektor der ganzen spanischen Marine ernannt wurde. 1780 inden Ruhestand versetzt, blieb er Direktor der Artillerie- undMarineschule in Cadiz. Er starb 5. Juli 1795 auf seinem Landsitzunweit Cadiz. Er schrieb: "Relacion historica del viage a laAmerica meridional" (Madr. 1748); "Noticias americanas sobre laAmerica meridional y la septentrional-oriental" (das. 1772;deutsch, Leipz. 178l, 2 Bde.); "Noticias secretas di America"(Lond. 1826).

Ullr., bei naturwissenschaftl. Namen Abkürzungfür Ullrich, Beamter in Linz. Entomolog.

Ulm, Hauptstadt des württemberg. Donaukreises, amlinken Ufer der Donau, die hier die Blau und Iller aufnimmt undschiffbar wird, Knotenpunkt der Linien U.-München-Simbach undU.-Kempten der Bayrischen und Bretten-Friedrichshafen, Aalen-U. undU.-Sigmaringen der Württembergischen Staatsbahn, 590 m ü.M., ist mit der gegenüber auf bayrischem Gebiet gelegenenStadt Neuulm (s. d.) eine Festung ersten Ranges (bis 1866 deutscheBundesfestung). Die Werke, 1842 bis 1866 angelegt und neuerdingsverstärkt, bilden einen kaum in fünf Stunden zuumschreitenden Gürtel von Mauern, Gräben, Wällen u.Türmen, um die sich wieder ein weiter Kranz von Vorwerkenlagert. Die merkwürdigsten Gebäude der nachaltreichsstädtischer Weise eng u. unregelmäßiggebauten Stadt sind: das Rathaus (15. Jahrh.) mit dem Marktbrunnen(sogen. "Fischkasten"), die ehemalige Komturei des Deutschen Ordens(jetzt Kaserne), das sogen. Palais (jetzt Sitz der Kreisregierung),das Zeughaus, Gouvernementsgebäude, mehrere Kasernen und unterden Kirchen besonders das protestantische Münster, eingroßartiger gotischer Bau in den reinsten Verhältnissen,an dessen Restauration seit Jahrzehnten gearbeitet wird, und derdemnächst seiner Vollendung entgegensieht. Er bedeckt einenFlächenraum von 5100 qm und wird hinsichtlich seines Umfangsin Deutschland nur von dem Kölner Dom übertroffen. Dasfünfschiffige, von mächtigen Säulen getragene Innereist 139 m lang, 57 m breit und durch edle Einfachheit vonerhebender Wirkung; es enthält ausgezeichneteHolzschnitzereien (Chorstühle von Jörg Syrlin demältern), Skulpturen, Ölgemälde undFensterglasmalereien und eine 1856 erbaute, 1888 verändertegroße Orgel mit 100 Registern und 6286 Pfeifen. DasMittelschiff erreicht eine Höhe von 41 m, die vierSeitenschiffe von je 23 m, das Chor von 29 m. Der über demprachtvollen Hauptportal sich erhebende Turm, welcher (dashölzerne Notdach nicht gerechnet) nur bis zur Höhe von 75m fertig gebracht war, ist seit 1885 im Ausbau begriffen und wird,nach dem Originalriß des Matthäus Böblingerausgeführt, eine Höhe von 151 m erreichen. Der Bau desMünsters wurde 1377 begonnen und bis 1494 fortgeführt.Die beiden andern Kirchen Ulms sind die HeiligeDreifaltigkeitskirche und die katholische Kirche (mit sehenswertenSkulpturen). Von neuern Bauwerken sind noch die 1832 vollendeteDonaubrücke (Wilhelm Ludwigs-Brücke), dieEisenbahnbrücke, mehrere Schulhäuser, ein Schlachthausund der Bahnhof zu erwähnen. Die Bevölkerung betrug 1885mit der Garnison (ein Grenadierreg. Nr. 123, ein Infanteriereg.

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Ulmaceen - Ulpianus.

Nr. 124, 3 Eskadr. Dragoner Nr. 26, ein Feldartilleriereg. Nr.13, ein Fußartilleriebat. Nr. 13 und ein Pionierbat. Nr. 13)33,610 Seelen, darunter 24,295 Evangelische, 8488 Katholiken und667 Juden. U. ist einer der wichtigsten Industrie- undHandelsplätze Württembergs. Man findet hier starke Lein-und Baumwollweberei, ferner Fabriken für Leder, Asphalt,Feuerwehrrequisiten, Turmuhren, künstliche Blumen, Dachpappe,Karten, Tabak, Zement, Maschinen, Gußstahl, eiserneMöbel und Kochgeschirre, Nähmaschinen, mathematische,physikalische, optische und musikalische Instrumente, Wagen,chemische Produkte, Messing-, Korb- und Holzwaren (UlmerPfeifenköpfe), Hüte, Malz etc. Außerdem hat U.bedeutende Gerbereien, Bierbrauereien, Färbereien, Eisen- undKupferhämmer, eine Glockengießerei, großeBleichen, Schiffbau etc., starken Obst- und Gemüsebau undBlumenzucht. Der lebhafte Handel, unterstützt durch eineHandels- und Gewerbekammer, durch eine Reichsbanknebenstelle undmehrere Bankinstitute, ist besonders Holz-, Produkten- undSpeditionshandel. Unter den Messen und Märkten sind noch dieTuch- und Ledermesse sowie die Fruchtmärkte von Bedeutung. AnBildungs- und andern öffentlichen Anstalten befinden sichdort: ein Gymnasium, ein Realgymnasium, eine Realanstalt, eineFrauenarbeitsschule, eine landwirtschaftliche Winterschule, einVerein für Kunst und Altertum, eine Stadtbibliothek von 30,000Bänden, ein Theater und ein Museum; ferner ein Witwen- undWaisenhaus, ein großes Hospital, eine Badeanstalt etc. U. istSitz der Kreisregierung, eines Oberamtes, eines Landgerichts, einesGeneralsuperintendenten, eines Hauptzollamtes, einesFestungsgouverneurs und -Kommandanten, des Stabes der 27. Divisionund der 53. und 54. Infanterie- wie der 27. Kavalleriebrigade. Diestädtischen Behörden zählen 19 Magistratsmitgliederund 18 Stadtverordnete. Zum Landgerichtsbezirk U. gehören die8 Amtsgerichte zu Blaubeuren, Ehingen, Geislingen, Göppingen,Kirchheim, Laupheim, Münsingen und U.

Geschichte. U., in der Karolingerzeit ein königlichesHofgut mit einer Pfalz, wird zuerst 854 erwähnt und wurde vonLudwig dem Deutschen und seinen Nachfolgern mehrfach zur Abhaltungvon Reichsversammlungen benutzt. Seit 1027 ist es als Stadtnachzuweisen und wurde bald Hauptstadt des Herzogtums Schwaben.Wegen seiner Anhänglichkeit an die Hohenstaufen wurde U. 1134von Heinrich dem Stolzen von Bayern niedergebrannt undgeplündert. Doch erhob sich die Stadt seit 1140 zu neuerBlüte und erscheint schon 1155 als Reichsstadt. 1274 erhieltsie dieselben Freiheiten wie Eßlingen. Sie stand unter derVogtei der Grafen von Dillingen, dann der von Württemberg.1247 widerstand sie heldenmütig dem Gegenkönig HeinrichRaspe. 1331 trat sie in den Schwäbischen Städtebund undbeteiligte sich auch 1376 an der Einigung der schwäbischenStädte. Eine Belagerung durch Kaiser Karl IV. in demselbenJahr blieb erfolglos. An dem Krieg von 1388 nahm U. als Vorort desStädtebundes hervorragenden Anteil. Seine Blütezeitfällt in die zweite Hälfte des 14. Jahrh., wo es jedochnur eine Bevölkerung von 20,000 Einw. und ein Gebiet von 926qkm (17 QM.) hatte. Die Reformation fand früh in U. Eingang;schon 1526 trat die Stadt dem Torgauer, 1530 dem SchmalkaldischenBund bei, mußte sich aber 1546 Karl V. unterwerfen und 1548das Augsburger Interim annehmen. Der Vertrag von U. (3. Juli 1620)stellte den Frieden zwischen der Union und Liga her; 14. März1647 wurde daselbst ein Waffenstillstand zwischen Bayern,Frankreich und Schweden abgeschlossen. Am 26. Sept. 1796 fand hierein Gefecht zwischen den Österreichern unter Latour und derfranzösischen Arrieregarde unter Moreau statt. Durch denReichsdeputationsrezeß von 1803 verlor U. die Reichsfreiheitund ward Hauptstadt des bayrischen Oberdonaukreises, 1805 aber vonden Österreichern besetzt. Bald darauf wurde hier derösterreichische Feldzeugmeister General Mack durch dieFranzosen unter Napoleon I. eingeschlossen und mußte sich 17.Okt. mit 23,300 Mann kriegsgefangen ergeben. Infolge des WienerFriedens 14. Okt. 1809 ward U. von Bayern an Württembergabgetreten, 1842 zur Bundesfestung ersten Ranges bestimmt und derBau der Befestigungen namentlich von dem preußischen Generalv. Prittwitz geleitet. Seit 1871 ist es deutsche Reichsfestung.Vgl. Jäger, Ulms Verfassung im Mittelalter (Heilbr. 1831);Pressel, Ulmisches Urkundenbuch (Stuttg. 1873); Derselbe, U. undsein Münster (Ulm 1878); Haßler, Ulms Kunstgeschichte imMittelalter (Stuttg. 1872); Fischer, Geschichte der Stadt U. (das.1863); Schultes, Chronik von U. (das. 1881); v. Löffler,Geschichte der Festung U. (das. 1881).

Ulmaceen, dikotyle Pflanzenfamilie aus der Ordnung derUrticinen, Bäume und Sträucher mitwechselbständigen, einfachen, gestielten, fiedernervigen,gesägten, rauhen Blättern mit abfallendenNebenblättern und mit zwitterigen oder durch Fehlschlageneingeschlechtigen Blüten, welche in Büscheln stehen, dieaus besondern, an der Seite der Zweige stehenden Knospenhervorkommen. Das Perigon ist krautartig oder etwas gefärbt,fast glockenförmig, mit vier- oder fünf-, bisweilenachtspaltigem Saum. Die meist in der gleichen Anzahl vorhandenenStaubgefäße sind im Grunde des Perigons, den Abschnittendesselben gegenüberstehend, inseriert. Der Fruchtknoten istoberständig, aus zwei Karpellen gebildet, zwei- odereinfächerig, mit einer hängenden, anatropen Samenknospein jedem Fach. Die zwei abstehenden Griffel sind an der Innenseitemit den Narbenpapillen besetzt. Die Frucht ist vom stehenbleibenden Perigon umgeben, bald eine häutigeFlügelfrucht, bald ein lederartiges, glattes oder schuppigesNüßchen, durch Fehlschlagen stets einfächerig undeinsamig. Der Same hat eine häutige Schale, kein Endosperm undeinen geraden Embryo mit flachen Kotyledonen und kurzem, nach obengekehrtem Würzelchen. Vgl. Planchon, Ulmaceae, in De Candolles"Prodromus", Bd. 17. Die aus ca. 140 Arten bestehenden U. sindüber die gemäßigte Zone der nördlichenHalbkugel verbreitet; Vertreter der jetzt lebenden Gattungen Ulmusund Planera kommen auch fossil in zahlreichenBlätterabdrücken in Tertiärschichten vor. Manchesind als Holzpflanzen und Zierbäume bemerkenswert

Ulme, s. Rüster.

Ulmen, im Bergbau die Seitenwände der Stollen; vgl.Bergbau, S. 723.

Ulmin, Ulminsäure, s. Humus.

Ulna (lat.), Elle, Ellbogenknochen; Arteria ulnaris,Ellenschlagader etc.

Ulothricheen, Familie der Algen aus der Ordnung derZoosporeen (s. Algen [3], S. 342).

Ulpianus, Domitius, berühmter röm.Rechtsgelehrter, geboren um 170 n. Chr. zu Tyros, begann seineöffentliche Thätigkeit in Rom unter Septimius Severus alsAssessor erst eines Prätors, dann Papinians, bekleidete unterAlexander Severus, dessen Lehrer und Vormund er gewesen war, diehöchsten Ämter und ward 228 als Praefectus praetoriovon

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Ulricehamn - Ulrich von Türheim.

den über seine Strenge erbitterten Prätorianern vorden Augen des Kaisers ermordet. Als Jurist nimmt U. den ersten Rangnach Papinian ein. Seine beiden Hauptwerke sind die dogmatischenDarstellungen des prätorischen Rechts ("Ad edictum", in 83Büchern) und des Zivilrechts ("Ad Sabinum", in 51Büchern). Sie bilden die Grundlage der Pandekten und haben dendritten Teil des in denselben angesammelten Stoffes geliefert.Wertvoll ist auch die kleine Schrift "Tituli ex corpore Ulpiani",gewöhnlich "Ulpiani fragmenta" genannt, herausgegeben von Hugo(5. Aufl., Berl. 1834), Böcking (4. Aufl., mit Faksimile dervatikanischen Handschrift, Leipz. 1855), Vahlen (Bonn 1856),Huschke (5. Aufl., Leipz. 1886) und Krüger (Berl. 1878). EinFragment von U.' Institutionen, welches 1835 in der WienerHofbibliothek gefunden wurde, gab Endlicher (Wien 1835) heraus.Vgl. Schilling, Dissertatio critica de Ulpiani fragmentis (Bresl.1824); Heimbach, Über Ulpians Fragmente (Leipz. 1834). Dersogen. "U. de edendo" ist eine mittelalterliche Prozeßschriftaus der Zeit der Glossatoren (hrsg. von Hänel, Leipz.1838).

Ulricehamn (früher Bogesund), Landstadt im schwed.Län Elfsborg, am See Asunden und an der Eisenbahn U.-Wartofta,hat ein Pädagogium, Gewerbeschule, Dampfsäge, Brauerei u.(1885) 1134 Ew. Hier 18. Jan. 1520 Schlacht zwischen den Schwedenund Dänen, in welcher der schwedische Reichsvorsteher StenSture der jüngere tödlich verwundet ward.

Ulrich, Herzog von Württemberg, geb. 1487, Sohn deswahnsinnig gewordenen Grafen Heinrich IV., wurde bei seinem Vetter,dem Herzog Eberhard I., mit dem Bart, erzogen und kam schon 1498,nach der Absetzung des Herzogs Eberhard II., zur Regierung, die er19. Juli 1503 selbständig übernahm. Er beteiligte sich1504 am bayrisch-landshutischen Erbfolgekrieg, vollstreckte imVerein mit Hessen die Acht gegen den Pfalzgrafen Philipp underlangte im Frieden eine bedeutende Gebietsvergrößerung.Hierauf aber ergab er sich den rauschendsten Vergnügungen, indenen er Ersatz für seine unglückliche Ehe mit derPrinzessin Sabine von Bayern, einer Schwestertochter des KaisersMaximilian, suchte, während er die Regierung treulosenRäten überließ. Die schon zuvor beträchtlichenSchulden der Familie wuchsen bald bis zu 1 Mill. Gulden heran;schwere Abgaben und unfruchtbare Jahre machten die Unterthanenunzufrieden, und so erhob sich 1514 der Aufstand des "armen Konrad, den U. nur dadurch dämpfen konnte, daß er imTübinger Vertrag, worin das Land die Bezahlung derfürstlichen Schulden übernahm, dem Volkaußerordentliche Rechte und Freiheiten einräumte. Am 7.Mai 1515 ermordete der Herzog auf der Jagd im Böblinger Waldeigenhändig Hans v. Hutten, den er in dem Verdacht allzugroßer Vertraulichkeit mit seiner Gemahlin hatte, und reiztedadurch auch den Kaiser, das bayrische Herzogshaus, bei welchem dieHerzogin Sabine Zuflucht gesucht, und den Adel, an dessen Spitzesich die Huttens, vor allen Ulrich v. Hutten (s. d.), alsRächer stellten, gegen sich auf. Er wurde daher 11. Okt. 1516und zum zweitenmal im Juli 1518 in die Acht erklärt und,nachdem er noch gegen seine Feinde grausam gewütet und dieReichsstadt Reutlingen erobert und sie zu einer Landstadt gemachthatte, im April 1519 vom Schwäbischen Bund vertrieben und flohnach einem mißlungenen Versuch der Wiedereroberung seinesLandes nach Mömpelgard. Das Land verkaufte derSchwäbische Bund 1520 für den Ersatz der Kriegskosten anKaiser Karl V., der 1530 auf dem Reichstag zu Augsburg seinenBruder Ferdinand damit belehnte. U. begab sich nach längermAufenthalt im Ausland zum Landgrafen Philipp von Hessen nachMarburg, wo er für die Reformation gewonnen wurde. Nachdemsich 1534 der Schwäbische Bund aufgelöst hatte,führte Philipp von Hessen U. an der Spitze von 20,000 Mannnach Württemberg zurück, wo der Sieg bei Lauffen amNeckar 13. Mai ihm sein Herzogtum wieder verschaffte; dochmußte U. dasselbe in dem am 29. Juni d. J. zu Kaaden inBöhmen mit Ferdinand zu stande gekommenen Vergleich alsösterreichisches Afterlehen anerkennen. Bald nachherführte er in seinem Lande das Reformationswerk zu Ende. AlsMitglied des Schmalkaldischen Bundes ließ er 1546 einebeträchtliche Truppenzahl zum Heer der Verbündeten an dieDonau vorrücken; nach dem unglücklichen Ausgang desKriegs mußte er nach dem Vertrag von Heilbronn eineansehnliche Summe zahlen, dem Kaiser mehrere Schlössereinräumen und in Ulm vor diesem einen Fußfall thun. Auchdem Augsburger Interim unterwarf er sich, ward aber dennoch voneinem kaiserlichen Gericht mit Absetzung bedroht, als er 6. Nov.1550 starb. Vgl. Heyd, Herzog U. von Württemberg (Tübing.1841-43, 3 Bde.); Kugler, U., Herzog zu Württemberg (Stuttg.1865); Ulmann, Fünf Jahre württembergischer Geschichteunter Herzog U., 1515-19 (Leipz. 1867).

Ulrich, Pauline, Schauspielerin, geboren um 1835 zuBerlin, wo ihr Vater am Hoftheater Orchestermitglied war, machteauf dem Liebhabertheater Konkordia in großen, auf demHoftheater in kleinen Rollen die ersten praktischen Versuche, wurde1856 in Stettin engagiert, aber fünf Monate später an dasHoftheater zu Hannover berufen, dem sie bis 1859 angehörte. Inebendem Jahr gastierte sie, von der Frieb-Blumauer empfohlen, amDresdener Hoftheater und trat im Mai 1859 in den Verband diesesInstituts, dem sie noch heute angehört. Gleich bedeutend imTrauer- wie im Lustspiel, ist sie am vorzüglichsten inDarstellung weiblich-vornehmer Rollen, worin sie ihrwürdevolles, dabei grazioses und anmutiges Äußeresehr wesentlich unterstützt.

Ulrich von Lichtenstein, mittelhochdeutscher Dichter, ausritterlichem steirischen Geschlecht um 1200 geboren, starb 1276. Inseinem Gedicht "Frauendienst", das zuerst Tieck teils inBearbeitung, teils in Übersetzung (Stuttg. 1812) bekanntmachte, gibt er eine Darstellung seines alle Wunderlichkeiten undVerirrungen des ritterlichen Minnedienstes offenbarenden Lebens inStrophen, welchen auch seine Lieder, ein Leich und mehrere"Büchlein" (Liebesbriefe) eingeflochten sind. Außerdembesitzen wir von ihm ein kleineres Lehrgedicht: "Frauenbuch". Beidesind herausgegeben von Lachmann, mit historischen Anmerkungen vonKarajan (Berl. 1841), der "Frauendienst" allein von Bechstein(Leipz. 1888, 2 Bde.); die lyrischen Gedichte hat auch v. d. Hagenin seine "Minnesinger" (Bd. 4) aufgenommen. Vgl. Falke, Geschichtedes fürstlichen Hauses Liechtenstein, Bd. 1 (Wien 1869);Knorr, Über U. v. L. (Straßb. 1875); Becker, Wahrheitund Dichtung in U. von Lichtensteins Frauendienst (Halle 1888).

Ulrich von Türheim, deutscher Dichter aus demThurgau, der im zweiten Viertel des 13. Jahrh. dichtete. Er setzteWolframs von Eschenbach "Willehalm" in dem Gedicht "Der starkeRennewart" fort und dichtete einen Schluß zu Gottfrieds vonStraßburg "Tristan und Isolde" (gedruckt in den Ausgaben desletztern Werkes von v. d. Hagen, Berl. 1823; Maßmann, Leipz.1843).

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Ulrich von dem Türlein - Ultimatum.

Ulrich von dem Türlein, deutscher Dichter aus derzweiten Hälfte des 13. Jahrh., wahrscheinlich aus Kärntenstammend, bearbeitete, als Ergänzung des "Willehalm" Wolframsvon Eschenbach, denjenigen Teil der Sage, der dem von Wolframbehandelten Stoffe vorausgeht: die Entführung Arabeles. Dieeinfache und in sich wohl abgerundete Erzählung ist inverschiedenen Handschriften erhalten, aber noch nichtveröffentlicht.

Ulrich von Winterstetten, Schenk, Minnesänger, warein schwäbischer Ritter, der seit 1241 in Urkunden vorkommtund von 1258 bis 1269 als Kanonikus in Augsburg begegnet. In seinenLiedern und Weisen, die der Mehrzahl nach aus seiner Jugendzeitstammen mögen, herrscht ausgelassene Fröhlichkeit; wie erselbst sagt, wurden sie ihrer leichten Form wegen auf den Gassengesungen. Eine Ausgabe derselben besorgte Minor (Wien 1882).

Ulrich von Zatzikhofen, deutscher Dichter des 12. Jahrh.,aus dem Thurgau (Schweiz), verfaßte um 1195 seinen "Lanzelet"nach einem französischen Original, das er durch Hug vonMorville, eine der sieben von Richard Löwenherz dem HerzogLeopold von Österreich gestellten Geiseln, erhalten hatte, dasaber noch nicht wieder aufgefunden ist (hrsg. von Hahn, Frankf. a.M. 1845). Vgl. Bächtold, Der Lanzelet des U. v. Z. (Frauenf.1870).

Ulrichs, Heinrich Nikolaus, Archäolog, geb. 8. Dez.1807 zu Bremen, studierte in Leipzig, Bonn und München, ging1833 als begeisterter Philhellene nach Griechenland und wirkte hierein Jahrzehnt erfolgreich lehrend und schreibend fürEinführung des Lateinunterrichts in Gymnasium undUniversität in Athen als Professor der lateinischen Litteraturund Altertumskunde an der letztern. Mit dem Maler K. Rottmanndurchwanderte er Nordgriechenland und andre Teile des Landes undsammelte überall wertvolle Beobachtungen, welche niedergelegtsind in dem Werk "Reisen und Forschungen in Griechenland" (Bd. 1,Brem. 1840; Bd. 2, hrsg. v. A. Passow, Berl. 1863). Er starb 10.Okt. 1843 in Athen. Aus seinen Papieren veröffentlichte W.Henzen italienisch "Viaggi ed investigazioni nella Grecia" in den"Annali dell' Istituto archeologico", Bd. 18 und 20.

Ulrichstein, Stadt in der hess. Provinz Oberhessen, KreisSchotten, in rauher Gegend am Vogelsberg und am Ursprung der Ohm,hat eine evang. Kirche, ein Amtsgericht und (1885) 873 Einw.

Ulrici, Hermann, Philosoph und Ästhetiker, geb. 23.März 1806 zu Pförten in der Niederlausitz, studierte zuHalle und zu Berlin die Rechte, war anfänglich Beamter, seit1833 Privatdozent zu Berlin, seit 1834 Professor der Philosophie zuHalle, wo er 11. Jan. 1884 starb. Als Philosoph gehört U. mitFichte dem jüngern, Wirth, Carriere u. v. a. zu derTheistenschule, deren Organ, die "Zeitschrift für Philosophieund philosophische Kritik", er seit seinem Bestehen mit redigierte;als Ästhetiker hat er sich namentlich als Shakespearekennerausgezeichnet. Von seinen philosophisch-ästhetischen Schriftenerwähnen wir: "Geschichte der hellenischen Dichtkunst" (Berl.1835, 2 Bde.); "Das Grundprinzip der Philosophie" (Halle 1845-46, 2Bde.); "System der Logik" (das. 1852); "Gruben und Wissen" (Leipz.1858); "Gott und die Natur" (das. 1862, 3. Aufl. 1875); "Leib undSeele" (das. 1866; 2. Aufl. 1874, 2 Bde.); "Kompendium der Logik"(das. 1860, 2. Aufl. 1872); "Grundzüge der praktischenPhilosophie" (das. 1873, Bd. 1); "Abhandlungen zur Kunstgeschichteals angewandter Ästhetik" (das. 1876). Durch seine Abhandlung"Der Spiritismus eine wissenschaftliche Frage" griff er in dendurch Zöllner veranlaßten Streit über dieangeblichen Thatsachen des Spiritismus ein und geriet darübermit Wundt (s. d.) in litterarische Fehde. Früchte seinerShakespeare-Studien sind: "Shakespeares dramatische Kunst" (Halle1839; 3. Aufl., Leipz. 1868,. 3 Bde.), eine Ausgabe vonShakespeares "Romeo und Julia" (das. 1853) und die "GeschichteShakespeares und seiner Dichtung" (im 1. Band der von ihm alsPräsidenten der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft besorgtenneuen Ausgabe der Schlegel-Tieckschen Übersetzung, 2. Aufl.,Berl. 1876).

Ulrike Eleonore, Königin von Schweden, Tochter KarlsXI. und der dänischen Prinzessin Ulrike Eleonore, geb. 23.Jan. 1688, stand während der Abwesenheit ihres Bruders KarlXII. 1713 und 1714 der Regierung vor, wurde 1715 mit dem ErbprinzenFriedrich, nachmaligem Landgrafen von Hessen-Kassel, vermählt,wußte nach dem Tod ihres Bruders Karl (1718) durch Intrigenmit der Adelspartei den Sohn ihrer ältern Schwester, KarlFriedrich von Holstein-Gottorp, von der Thronfolgeauszuschließen, indem sie den Reichsständen das Rechtder Königswahl zugestand und die von diesen entworfene neuearistokratische Regierungsform unterzeichnete. Hierauf wurde sie21. Febr. 1719 zum "König" von Schweden erwählt und 17.März gekrönt, trat aber 29. Febr. 1720 die Krone an ihrenGemahl ab. Sie starb kinderlos an den Blattern 24. Nov. 1741 inStockholm.

Ulrike Luise, Königin von Schweden, s. Luise 4).

Ulster (spr. öllster), die nördlichste ProvinzIrlands, wird im W. und N. vom Atlantischen Ozean, im O. von demNordkanal und der Irischen See bespült und hat einenFlächenraum von 22,189 qkm (402,97 QM.) und (1881) 1,743,075Einw. (1861 noch 2,386,372). Von der Oberfläche sind 26,9Proz. Ackerland, 5,2 Wiesen, 40,3 Weiden, 42 Wald, 3,8 Proz.Wasser. An Vieh zählte man 1881: 173,206 Pferde und Maultiere,23,672 Esel, 1,028,486 Rinder, 378,915 Schafe und 249,298 Schweine.U. ist die wohlhabendste Provinz Irlands und Hauptsitz derLeinenindustrie. Die Bevölkerung ist großenteilsschottischer und englischer Abkunft; 47,8 Proz. sind Protestanten.Irisch wird nur noch in den entlegenen Teilen Donegals gesprochen.S. Karte "Großbritannien".

Ulster, linksseitiger Nebenfluß der Werra,entspringt auf der Wasserkuppe in der Rhön, fließt nachN. durch ein schönes Thal und mündet nach 45 km langemLauf unterhalb Vacha.

ult., Abkürzung für Ultimo (s. d.).

Ultenthal, Seitenthal des Etschthals unterhalb Meran,zieht sich neun Stunden lang von den Gebirgen von Sulzberg undMartell in südwestlicher Richtung herab, wird vom FalschauerBach durchströmt, der sich vor seiner Ausmündung durcheine gewaltige Klamm Bahn bricht. Im U. liegt das Mitterbad miteiner Quelle, welche schwefelsaures Eisen enthält, und guterBadeeinrichtung (jährlich 300 Kurgäste).

Ultima ratio regum (lat.), "das letzte (Beweis-) Mittelder Könige" , d. h. die Kanonen, ein gewöhnlich aufLudwig XIV. zurückgeführter Ausspruch, findet sich im 1.Akt von Calderons Schauspiel "In diesem Leben ist alles wahr undalles Lüge".

Ultimatum (neulat.), bei diplomatischen Verhandlungen dieSchlußerklärung des einen Teils, an welcher erunwiderruflich festzuhalten gesonnen sei. Die Verwerfung desUltimatums hat daher in der Regel den unmittelbaren Abbruch derdiplomatischen Verhandlungen und unter Umständen dieErgreifung von Gewaltmaßregeln (Kriegserklärung) zurFolge.

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Ultimo - Ulva.

Ultimo (ital., abgek. ult.), der Letzte, derSchlußtag des Monats, im Börsenverkehr der üblicheStichtag für die Abwickelung von Differenzgeschäften.Daher per U. handeln und U.-Kurse, unter welchen zuweilen auch dieLiquidationskurse gemeint sind; U.-Regulierung, imBörsenverkehr die Abwickelung der Ende eines bestimmten Monatszu erfüllenden Lieferungsgeschäfte (vgl. Börse, S.236 f.). Über U.-Wechsel s. Wechsel.

Ultimus (lat.), der Letzte (z. B. in einer Klasse).

Ultra (lat.), jenseit, darüber hinaus, bezeichnetÜberschreitung des rechten Maßes, namentlich dieParteirichtung desjenigen, welcher in Gesinnung und Handlung dasvon der Vernunft und den Umständen gebotene Maßüberschreitet. Daher nennt man Ultras die Anhänger allerpolitischen Extreme, wie Ultraroyalisten, Ultrademokraten,Ultrakonservative etc., und deren Richtung Ultraismus.

Ultramarin (Lasurblau, Azurblau), blauer Farbstoff, derursprünglich durch ein rein mechanisches Verfahren aus demLasurstein gewonnen wurde und sehr hohen Wert besaß, jetztaber in gleicher Schönheit aus eisenfreiem Thon, Schwefel undSoda (Sodaultramarin) oder Glaubersalz (Sulfatultramarin) und Kohlekünstlich dargestellt wird und sehr billig geworden ist. Manunterscheidet kieselarmes U. von hellem, rein blauem Farbenton,leicht zersetzbar durch Alaun, und kieselreiches U. miteigentümlich rötlichem Ton und widerstandsfähigergegen Alaun. Zur Darstellung des Ultramarins werden dieMaterialien, der Thon nach dem Schlämmen und Glühen, sehrfein gepulvert und innig gemischt. Für Sulfatultramarinbenutzt man ein Gemisch aus

Porzellanthon . .............................100 100

kalciniertem schwefelsauren Natron...........83-100 41

kalcinierter Soda............................ - 41

Kohle........................................ 17 17

Schwefel..................................... - 13

Dieser Satz wird im Schamottetiegel eingestampft und in einerArt Muffelofen bei möglichst gehindertem Luftzutritt anhaltendstark erhitzt. Hierbei entsteht eine gesinterte, poröse,graue, oft gelbgrüne Masse, welche gewaschen, gemahlen,abermals gewaschen, getrocknet und gesiebt wird. Das Produkt, dasgrüne U., wird zum Teil als solches verwertet, zum bei weitemgrößten Teil aber durch Erhitzen mit Schwefel beiLuftzutritt in blaues U. verwandelt. Dies geschieht in liegendenCylindern, in welchen das U. während des Verbrennens des nachund nach zugesetzten Schwefels durch eine Flügelwelleumgerührt wird, um die Einwirkung der Luft zu befördern.Die gebildete schweflige Säure entweicht durch die Esse. DasEintragen von Schwefel wird fortgesetzt, bis das U. rein blauerscheint, dann wird dasselbe ausgewaschen, gemahlen,geschlämmt, eventuell mit Kaolin oder Gips vermischt,getrocknet und gesiebt. Die Waschwasser vom grünen und blauenU. werden verdampft, um in ihnen enthaltene Natronsalzewiederzugewinnen. Sodaultramarin wird in ähnlicher Weise aus100 Thon, 100 Soda, 12 Kohle und 60 Schwefel erhalten und zeichnetsich durch dunklere Färbung und größernFarbenreichtum aus. Das kieselreiche U. ist ein Sodaultramarin mit5-10 Proz. vom Gewicht des Kaolins fein zerteilterKieselsäure. Man erhält es in einer einzigen Operation,doch macht die Neigung, zu sintern, Schwierigkeiten. DiesPräparat wird mit steigendem Kieselsäuregehaltrötlicher und alaunfester. Auch violette, rote und gelbePräparate hat man dargestellt, doch sind deren Beziehungen zudem blauen U. noch wenig aufgeklärt. Selbst die chemischeKonstitution des blauen Ultramarins ist bis jetzt nicht sichererkannt. Es enthält

kieselsäurearmes U. kieselsäurreiches U.

Durch- Durch

schnitt reinstes -schnitt reinstes

Thon.... 2,36 1,87 7,64 3,61

Kieselsäurean-

hydrid ... 37,90 38,55 34,86 40,77

Thonerde ... 29,30 29,89 24,06 23,74

Kali .... - 1,21 1,01 19,58

Natron... 22,60 21,89 0,83 18,54

Schwefel... 7,86 8,27 13,25 13,58

U. ist prächtig tiefblau geruch- und geschmacklos, sehrhygroskopisch (lufttrocken 5 Proz. Feuchtigkeit), unlöslich inden gewöhnlichen Lösungsmitteln, widersteht der Luft, demLicht und dem Wasser, auch Alkalien und dem Ammoniak, wird durchSäuren und sauer reagierende Salze unter Entwickelung vonSchwefelwasserstoff zersetzt, erträgt bei Ausschluß derLuft Rotglut, wird aber in höherer Temperatur und beimGlühen an der Luft farblos. U. dient als Wasser-, Kalk- undÖlfarbe, im Buntpapier-, Tapeten- und Zeugdruck, zum Blauenvon Wäsche, Papier, Zucker, Stärke, Barytweiß,Stearin , Paraffin. Grünes U. kann nur als ordinäreTüncher- und Tapetenfarbe benutzt werden. Die gelegentlicheBildung von U. im Sodaofen beobachtete Tessaert 1814, und Vauquelinzeigte, daß die blaue Verbindung mit Lasurstein identischsei. Gmelin stellte 1828 künstliches U. dar, doch hatte esschon 1826 Guimet in Lyon als Geheimnis fabriziert. Die erstendeutschen Ultramarinfabriken wurden 1836 in Wermelskirchen vonLeverkus und 1837 in Nürnberg von Leykauf gegründet.Gegenwärtig beträgt die europäische (zum bei weitemgrößten Teil deutsche) Produktion jährlich 600,000Ztr. Vgl. Lichtenberger, Ultramarinfabrikation (Weim. 1865);Vogelsang, Natürliche Ultramarinverbindungen (Bonn 1873);Heinze, Beitrag zur Ultramarinfabrikation (Dresd. 1879);Fürstenau, Das U. und seine Bereitung (Wien 1880).

Ultramaringelb, s.v.w. Chromgelb, Zinkgelboderchromsaurer Baryt (s. Chromsäuresalze).

Ultramontanismus (lat.), diejenige Auffassung desKatholizismus, welche dessen ganzen Schwerpunkt nach Rom, alsojenseit der Berge (ultra montes), verlegen möchte; ultramontanist somit das ganze Kurial- oder Papalsystem (s. d.).

Ultra posse nemo obligatur (lat.), Unmögliches zuleisten, kann niemand verpflichtet werden.

Ultrarote und ultraviolette Strahlen, die schwächerals die roten, resp. stärker als die violetten brechbarenStrahlen, welche unsichtbar sind, aber die einen durch ihreWärmewirkung, die andern durch ihre chemische Wirkungnachgewiesen werden. Vgl.Fluoreszenz, Licht,Wärmestrahlung.

Ulua, Fluß im zentralamerikan. Staat Honduras, imOberlauf Humuya genannt, mündet in die Hondurasbai, istwasserreich und bietet mit seinen Nebenflüssen ausgedehnteWasserstraßen, wird aber an der Mündung durch eineseichte Barre geschlossen.

Ulunda, afrikan. Reich, s. Lunda.

Ulungu, afrikan. Land, s. Urungu.

Ulva L., Algengattung aus der Familie der Ulvaceen,charakterisiert durch einen häutig blattartigen, am Grundfestgewachsenen Thallus, in gegen zehn Arten in deneuropäischen Meeren vertreten. U. lactuca L. (Meerlattich),mit 5,5-16 cm großem, lebhaft grünem, wolligem,geteiltem und zerschlitztem Thallus, wird (in England) wie Salatgegessen.

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Ulverston (spr. öllwerst'n), Hauptstadt des BezirksFurneß in Lancashire (England), durch einen Kanal mit derMorecambebai verbunden, hat Eisenhütten, Papiermühlen und(1881) 10,001 Einw.

Ulwar, britisch-ind. Staat, s. Alwar.

Ulysses (unlatein. statt Ulixes), s. Odysseus.

Ülzen, Kreisstadt im preuß. RegierungsbezirkLüneburg, in der Lüneburger Heide und an der Ilmenau,Knotenpunkt der Linien Lehrte-Harburg und Stendal-Langwedel derPreußischen Staatsbahn, 35 m ü. M., hat 4 Kirchen undKapellen, ein Realprogymnasium, ein Hospital, ein Amtsgericht, eineHandelskammer,einen landwirtschaftlichen Verein,eine Zuckerfabrik,Eisengießerei, Maschinen-, Feuerspritzen-, Leder-, Tabaks- u.Zigarrenfabrikation, Bierbrauerei, Branntweinbrennerei, Flachsbau,Handelsgärtnereien, ansehnliche Vieh- und Flachsmärkteund (1885) mit der Garnison (eine Eskadron Dragoner Nr. 16) 7412meist evang. Einwohner. In unmittelbarer Nähe ergiebigeMergelgruben. U. entstand im 10. Jahrh. als Löwenwolde und warim Mittelalter Hansestadt. In der Umgegend heidnischeBegräbnisstätten und das ehemalige BenediktinerklosterUllesheim. Vgl. Ringklib und Siburg, Geschichte der Stadt Ü.(Hannov. 1859); Janicke, Desgleichen (das. 1889).

Uman, Kreisstadt im russ. Gouvernement Kiew, an der Umanka(Nebenfluß des Bug), mit Schloß, 5 Kirchen, Synagoge,Kloster, mehreren Fabriken, Handel und (1885) 15,976 Einw. In derNähe das prächtige kaiserliche Schloß Sofiowka.

Umbella (lat., "Sonnenschirm"), in der Botanik die Dolde, eineArt des Blütenstandes (s. d., S. 80).

Umbelliferen (Umbellatae, Doldengewächse), dikotylePflanzenfamilie aus der Ordnung der Umbellifloren, einjährigeund perennierende Kräuter mit wechselständigen, meistmehrfach fieder- oder handförmig eingeschnittenen odergeteilten, seltener ganzen Blättern mit am Grundverbreitertem, scheidigem Blattstiel, seltener mit blattförmigentwickeltem Stiel ohne Blattfläche. Für die ganzeFamilie ist der Blütenstand charakteristisch. Derselbe bildetmeist eine zusammengesetzte Dolde (umbella), welche aus wenigen biszahlreichen Döldchen (umbellula) besteht. Die Dolde istöfters von einer aus meist getrennten, schmalenHochblättern bestehenden Hülle (involucrum), jedesDöldchen von einem ähnlichen Hüllchen (involucellum)umgeben. Die Blüten sind zwitterig, bisweilen durchFehlschlagen eingeschlechtig, verhältnismäßigklein, gelb oder weiß, seltener rötlich, im allgemeinenregelmäßig, jedoch die äußern jedesDöldchens bisweilen strahlend, d.h. die nach außengekehrten Blumenblätter größer. Der Kelch bildetauf dem unterständigen Fruchtknoten einen aus fünfkleinen Zähnen bestehenden oder fast ganz undeutlichen Saum.Die fünf Blumenblätter sind außerhalb des denScheitel des Fruchtknotens krönenden, meist stark entwickeltenDiskus inseriert. Die fünf Staubgefäße stehen anderselben Stelle wie die Blumenblätter und abwechselnd mitihnen. Der unterständige, zweifächerige Fruchtknoten hatin jedem Fach eine einzige hängende, anatrope Samenknospe; diebeiden endständigen Griffel sind am Fuß in einenGriffelfuß vereinigt, oben auseinander stehend und jeder ander Spitze mit einer ungeteilten Narbe versehen. Die Frucht stelltbei allen ein Doppelachenium dar, welches in zwei einsamigeTeilfrüchtchen oder Merikarpien (Fig. A, m m), den beidenFruchtknotenfächern entsprechend, zerfällt. Zwischen denbeiden Teilfrüchtchen bleibt der zentrale fadenförmige,meist zweispaltige Fruchtträger (carpophorum, Fig. A, c)stehen, an dessen beiden Schenkeln die Merikarpien aufgehängtsind. Die Fläche, mit der die beiden Teilfrüchtchenaneinander liegen, heißt Fugenfläche (Fig. B u. C, c),die ihr entgegengesetzte, nach außen gewendete dieRückenfläche. Letztere hat mehrere Längsrippen,sogen. Joche, und zwar zunächst fünf Hauptrippen (jugaprimaria, Fig. B, 1, 2, 3), von denen allemal eine in der Mitte,zwei an den Seiten, der Fugenfläche zunächst, und je einezwischen diesen und der mittelsten Rippe stehen. Die Vertiefungenzwischen je zwei Hauptrippen auf der Rückenflächeheißen Thälchen (valleculae, Fig. B, t). In ihnen liegen.in der Fruchtschale von oben nach unten gerichteteÖlgänge, welche meist von außen als braune Striemen(vittae) sichtbar sind, gewöhnlich bei den einzelnen Gattungenin bestimmter Zahl vorkommen, seltener fehlen; auch in beidenSeitenhälften der Fugenfläche pflegen Striemenvorzukommen. Außer den Hauptrippen gibt es bei manchenGattungen auf der Rückenfläche jedes Teilfrüchtchensnoch 4 Nebenrippen (juga secundaria, Fig. C, 4, 5), welche zwischenjenen aus der Mitte der Thälchen sich erheben; in diesem Fallsind gewöhnlich die Hauptrippen kleiner oder fehlen. Dereinzige Same füllt das Merikarpium aus, ist mit seiner Schalemit diesem verwachsen, seltener getrennt. Er enthält einreichliches fleischiges oder etwas horniges Endosperm und im obernTeil desselben einen kurzen, geraden Embryo mit länglichenKotyledonen und nach oben gekehrtem Würzelchen. Vgl. A. P. deCandolle, Mémoire sur la famille des Ombellifères(Par. 1829). Die U. zählen über 1300 Arten, welche zumgrößten Teil der gemäßigten und kälternZone der nördlichen Halbkugel angehören. Alle enthaltenätherisches Öl oder Harz oder Gummiharz, welches in allenTeilen der Pflanze in besondern Ölgängen vorkommt,vorwiegend in den Wurzeln und Früchten. Wenige enthalten auchnarkotisch-scharfe Alkaloide. Manche sind überdies in ihrenWurzeln oder den verdickten untern Stengelteilen reich an Schleimund Zucker. Daher sind viele U. Gewürzpflanzen, mehrerewichtige Arzneipflanzen; manche liefern Nahrungsmittel, andreFutterstoffe; einige gehören zu den gefährlichstenGiftpflanzen. Fossil sind nur sehr wenige Arten von U. aus denGattungen Peucedanites Heer und Dichaenites A. Br. in denTertiärschichten gefunden.

Umbelliflören, Ordnung im natürlichen Pflanzensystemunter den Dikotyledonen, Choripetalen, charakterisiert durchverhältnismäßig kleine, meist in Dolden stehendeund meist zwitterige Blüten mit vier- oderfünfgliederigen Blütenkreisen, vier oder fünf

A Doppelachenium von Chaerophyllum; B Durchschnitt durch diebeiden Teilfrüchtchen von Aethusa, C durch eins vonDaucus.

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Umber - Umgeld.

Staubgefäßen, unterständigem Fruchtknoten,welcher meist aus zwei Karpellen zusammengesetzt, zweifächerigist und in jedem Fach eine Samenknospe enthält, und durchSamen mit Endosperm und kleinem, geradem Keimling, umfaßt dieFamilie der Korneen, Umbelliferen und Araliaceen.

Umber,s.Schaf,S.379.

Umbérto, König von Italien, s. Humbert.

Umbilicus (lat.), Nabel.

Umbra (lat.), Schatten.

Umbra, Mineral von sehr wechselnder Zusammensetzung, imwesentlichen amorphes, undurchsichtiges, wasserhaltigesEisensilikat mit viel Mangan und wenig Aluminium, dient als brauneÖl- und Wasserfarbe in der Wachstuchfabrikation, alsVergoldergrund, zum Braunbeizen des Holzes, zu Firnissen etc. Diebeste U. (türkische U.) stammt von der Insel Cypern, dochkommen an vielen Orten sehr ähnliche und gleich verwendbareSubstanzen vor. Die kölnische U. (Kölner oder Kasseler,Kesselbraun)ist erdige Braunkohle, liefert durch Lösen inKalilauge und Fällen mit Säure den braunen Karmin.Cyprische U., s. Bolus.

Umbrechen, s. Buchdruckerkunst, S. 559.

Umbreit, Friedr. Wilhelm Karl, protest. Theolog, geb. 11.April 1795 zu Sonneborn bei Gotha, studierte in Göttingen,ward daselbst 1818 Dozent der orientalischen Sprachen und 1820außerordentlicher Professor der Theologie und Philosophie;1823 ging er als ordentlicher Professor der letztern nachHeidelberg, wo er 1828 mit Ullmann die "Theologischen Studien undKritiken" begründete und 1829 Ordinarius in der theologischenFakultät wurde; starb als Geheimer Kirchenrat 26. April 1860.Er veröffentlichte unter anderm: "Lied der Liebe"(Übersetzung des Hohenliedes, 2. Aufl., Heidelb. 1828);"Übersetzung und Auslegung des Buches Hiob" (2. Aufl., das.1832); "Kommentar über die Sprüche Salomos" (das. 1826);"Übersetzung und Erklärung auserlesener Psalmen" (2.Aufl., Hamb. 1848); "Kommentar über die Propheten des AltenTestaments" (das. 184146, 4 Bde.); "Die Sünde, Beitrag zurTheologie des Alten Testaments" (das.1853); "Der Brief an dieRömer, auf dem Grunde des Alten Testaments ausgelegt" (Gotha1856).

Ümbrer (Umbrier, Umbri), altitalisches, infrüherer Zeit sehr mächtiges und verbreitetes Volk,welches in der ältesten Zeit alles Land östlich vomApennin bis zum Vorgebirge Gargano herab und außerdem auchdas später so genannte Etrurien innehatte, im Verlauf der Zeitaber aus allen übrigen Landschaften bis auf Umbria selbstverdrängt wurde und auch von diesem den an der Küsteliegenden Teil (ager gallicus) an die senonischen Gallier verlor,so daß es nur noch am östlichen Ufer des Tiber und aufdem östlien Abhang des Apennin wohnen blieb. Mit denRömern kamen die U. 3(9 v. Chr. zuerst in Berührung, siewurden 308 bei Mevania völlig geschlagen; noch einmalbeteiligten sie sich 298 in Verbindung mit den Samnitern, Etruskernund Galliern an dem Kriege gegen Rom, mußten aber nach derSchlacht bei Sentinum wiederum die Waffen niederlegen; imBundesgenossenkrieg erhielten sie 90 mit den übrigen freienBewohnern Mittel und Unteritaliens das römischeBürgerrecht. Ihre Sprache, deren wichtigstes Denkmal dieEugubinischen Tafeln (s. d.) sind, gehört zu demindogermanischen Sprachstamm und ist mit der lateinischen naheverwandt. Vgl. Grotefend, Rudimenta linguae umbricae (Hannov.183539, 8 Tle.); Aufrecht und Kirchhoff, Die umbrischenSprachdenkmäler (Berl. 1851, 2 Bde.); Savelsberg, UmbrischeStudien (das. 1873); Bücheler, Umbrica (Bonn 1883). DieGrenzen der Landschaft Umbria waren unter Augustus: im N. derRubico (gegen das cispadanische Gallien), im W. der Tiberis (gegenEtrurien), im S. der Äsis (gegen das Sabinerland), im O. dasAdriatische Meer. Das im W. durch die Apenninengebirgige und etwasrauhe, im übrigen ebene und fruchtbare Land war reich anstarken Rindern und an Obst. Die Flüsse der Landschaft sindsämtlich Küstenflüsse von kurzem Laufe, von denennur der Metaurus Erwähnung verdient, oder Nebenflüsse desTiberis, unter denen der Nar (Nera) der bedeutendste ist.Städte waren im westlichen Teil: Iguvium, Asisium, Fulginium,Nuceria, Camers oder Camerinum, Spoletium, Tuder, Ameria,Interamna, Narnia und Ocriculi; im östlichen Teil: Sarsina,Sestinum,Urbinum Hortende, UrbinumMetaurense, Sentinum; am Meer:Ariminum, Pisaurum, Fanum Fortunae und das gaische Sena (s. Kartebei "Italia").Vgl. Abeken, Mittelitalien (Stuttg. 1843).

Umbrien (Umbria), s. Umbrer. Auch Name der italienischenProvinz Perugia (s. d.).

Umdrehung (Umwälzung, Rotation, Revolution),diejenige Bewegung eines Körpers, bei welcher alle Teiledesselben um eine in Ruhe bleibende gerade Linie, die Rotations-oder Drehungsachse, Kreise beschreiben, deren Mittelpunkte indieser Geraden liegen, und deren Ebenen senkrecht auf ihr stehen.Diese Kreise heißen Parallel kreise, die Schnittpunkte derAchse mit der Oberfläche Pole.

Umdrehzähler, s. Perambulator.

Umdruck (überdruck), s. Lithographie, S.837.

Umeå (spr. úhmeo), Hauptstadt des schwed.Läns Westerbotten, an der Mündung des Umeelf, hat einehöhere Lehranstalt, Lehrerinnenseminar, Gewerbeschule,Industrieschule, einen Hafen, ansehnlichen Handel mit Holz, Butter,Fischen, Teer, Pelzwerk etc. und (1885) 2930 Einw. U. ist Sitzeines deutschen Konsuls.

Der Umeelf entspringt aus einem See an der norwegischen Grenze,durchfließt, südöstlich gewendet, außerandern den großen See Stor-Umeä, nimmt links auf deruntersten Strecke seines Laufs den fast ebenso langen Vindelelf aufund mündet nach 470 km langem Lauf (wovon 250 fürkleinere Fahrzeuge schiffbar) in den Bosnischen Meerbusen. Etwasoberhalb der Mündung bildet er zwei der schönstenWasserfälle, den Lina Link und Fällforsan.

Umfang bedeutet in der Logik nach einigen den Inbegriff allerderjenigen Begriffe, in deren Inhalt derjenige, um dessen U. essich handelt, als Merkmal erscheint, nach andern die Summederjenigen Gegenstände, auf welche ein Begriff sich bezieht.Die Angabe des Umfangs heißt Einteilung (s. d.); insofern derSubjektsbegriff eines Urteils einen gewissen U. besitzt,läßt sich auch dem Urteil ein solcher beilegen (s.Quantität). - Über U. in der Mathematik s.Peripherie.

Umgang, s. Zunftgebräuche.

Umgehung, in der Taktik jedes gegen die Flanken oder denRücken des Feindes gerichtete Unternehmen, welches entwedereinen umfassenden Angriff vorbereiten, oder die Verbindungen undRückzugslinien des Feindes bedrohen und ihn dadurch in seinenBewegungen stören und aufhalten oder selbst zum Rückzugveranlassen soll. Zu erfolgreicher U. gehören hinreichendeKräfte, so daß man die Fronte des Feindes gleichzeitigfestzuhalten vermag.

Umgeld, s. Weinsteuer.

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Umgelt - Umlauf.

Umgelt , s.Ungelt.

Uminski, Jan Nepomucen, poln. General, geb. 1780 imGroßherzogtum Posen, focht schon 1794 im BefreiungskampfKosciuszkos mit, bildete 1806 zu Warschau eine Ehrengarde fürNapoleon I, focht als Leutnant in einem poln. Ulanenregiment vorDanzig und Dirschau, fiel aber bei letzterer Stadt verwundet in dieHände der Preußen. Wieder frei, befehligte er im Kriegegegen Österreich (1809) die Vorhut des Generals Dombrowski underrichtete Ende 1809 das 10. polnische Husarenregiment, welches er1812 als Oberst in Rußland befehligte, bildete Ende 1812,zumBrigadegeneral befördert, das Reiterregiment Krakusen und ward1813 bei Leipzig verwundet. Wegen seiner Teilnahme an der Stiftungdes patriotischen Bundes der Sensenträger (kossiniery) Anfang1826 zu sechsjähriger Festungsstrafe in Glogau verurteilt,entfloh er beim Ausbruch der polnischen Revolution im Februar 1831aus der Festung und ward in der Insurrektionsarmee sofort alsDivisionsgeneral angestellt. In der Schlacht von Grochow 25. Febr.entriß er dem russischen Feldherrn Diebitsch den Sieg. Ebensoerwarb er sich am Narew (im März), bei Pultusk, am Liwiec (9.und 10. April), bei Kaluschin (im Mai) und beim Sturm auf Warschau(6. und 7. Sept.) hohen Ruhm. Nach dem Fall Polens vonPreußen und Rußland geächtet und in Posen alsDeserteur im Bild gehenkt, flüchtete er nach Frankreich.Später lebte er in London und dann zu Wiesbaden, wo er im Juni1851 starb. Er gab außer mehreren polnischen Schriftenüber die Revolution ein "Recit des evenements militaires de labataille d'Ostrolenka" (Par. 1832) heraus.

Umkehrung, eine Vertauschung des Verhältnisses vonOben und Unten derart, daß, was oben war, unten wird, und wasunten war, oben. Die U. spielt in der Theorie des Tonsatzesmehrfach eine Rolle. Man spricht von einer U. der Intervalle, dienichts ist als eine Oktavversetzung des höhern Tons unter dentiefern oder des tiefern über den höhern. Die U. einesIntervalls ist immer dasjenige andre Intervall, mit welchem es sichzur Oktave ergänzt; es stehen also im Verhältnis der U.:1) Sekunde - Septime 2) Terz - Serte 3) Quarte - Quinte und zwarist die U. eines reinen Intervalls wieder ein reines, die einesgroßen ein kleines und die eines verminderten einübermäßiges und vice versa. Unter U. der Akkordeversteht man den Wechsel des Baßtons, d.h. man nennt alleAkkorde Umkehrungen, welche nicht den natürlichen Baßtonhaben; der natürliche Baßton ist aber nach derüblichen Auffassung der, welcher der tiefste ist, wenn dieTöne des Akkords terzenweise übereinander aufgebautwerden. Man unterscheidet daher z. B. für den Dreiklang c.e.gdreierlei Lagen, d.h. zwei Umkehrungen (Umlagerungen): a)Grundlage(Baßton c) b) 2. Lage, 1. U. (Baßton e) = Sextakkorde.g.c c) 3. Lage 2. U. (Baßton g) = Quartsextakkord g.c.e DieU. eines Motivs (Thema in der Gegenbewegung), eins derinteressantesten imitatorischen Wirtungsmittel, besteht darin,daß alle Stimmschritte des Themas in umgekehrter Richtunggemacht werden (steigend statt fallend , fallend stattsteigend).

Die U. kann wie jede andre Art der Imitation eine strenge oderfreie sein. In der Fugenkomposition wird die U. des Themas vielfachverwendet, sei es, daß dieselbe als Antwort auftritt oderaber, daß sie selbständig durchgeführt wird(Gegenfuge). Vgl.Nachahmung. In der Logik versteht man unter U.diejenige Veränderung, welche mit einem logischen Satzvorgeht, wenn der Subjektbegriff zum Prädikatbegriff undumgekehrt gemacht (Konversion, s.d.) oder derselbe aus einembejahenden in einen verneinenden (oder umgekehrt) verwandelt wird(Kontraposition, s.d.).

Umladuugsrecht, s. Umschlag.

Umlagen werden vielfach wegen der Form ihrer Bemessung undVeranlagung (Umlegung, Repartierung, Verteilung einer gegebenenSumme auf die Pflichtigen) Gemeinde- und Kreissteuern im Gegensatzzu Staatssteuern genannt.

Umlageverfahren, im Versicherungswesen(Gegenseitigkeitsversicherung) dasjenige Verfahren, welches diejeweilig zu zahlenden Summen (z. B. bei eingetretenenFeuersbrünsten, Hagelschäden, Sterbefäl-len etc.)auf die Gesamtheit der Versicherten als Prämien umlegt und vondenselben einhebt. Den Gegensatz zu demselben bildet dasKapitaldeckungs- oder Anlageverfahren. Letzteres bemißt diePrämie nach Maßgabe der Wahrscheinlichkeit des Eintrittsund der Höhe der Gefahr, bez. der zuzahlenden Summe und legt,wenn diese Summe im Lauf der Zeit steigt, die Prämien alsPrämienreserve verzinslich an, um den erhöhtenAnforderungen der spätern Zeit genügen zu können unddie Lasten möglichst gleichmäßig zu verteilen. Beider Invalidenversicherung würden alle Mitglieder derversicherten (gleichalterigen) Gesellschaft von vornhereingleichviel zahlen, trotzdem die zu zahlenden Renten im Lauf derZeit steigen. Bei einem reinen U. würden nur die jeweiligfälligen Renten eingehoben. Die Last würde im Anfanggering sein, später aber so hoch werden, daß eineFortsetzung der Versicherung unmöglich würde. Um letzterewirklich fortführen zu können, müßten immerwieder jüngere beitragspflichtige Mitglieder neu herangezogenwerden. Bei Neueinführung einer Versicherung, welche nur diefortab eintretenden, nicht auch die schon früher vorgekommenenFälle der Verunglückung und der Invaliditätberücksichtigt, würden die zu entrichtenden Prämienim Lauf der Zeit steigen, bis endlich bei genügenderAusdehnung der Versicherung ein Beharrungszustand erreicht wird.Ist die Gefährdung für alle Versicherten immer diegleiche, so hat das Kapitaldeckungsverfahren mitPrämienanspeicherung keine Berechtigung. Demgemäßist das U. bei der Feuer-, bei der Hagelversicherung etc. anwendbarund am Platz. Die Frage, ob U. oder Anlageverfahren, wargelegentlich der Einführung der berufsgenossenschaftlichenUnfallversicherung in Deutschland, dann vor Erlaß desGesetzes über die Alters- und Invaliditätsversicherungder Arbeiter Gegenstand lebhafter Erörterungen. Für dieletztere Versicherung wurde ein Mittelweg eingeschlagen, indemdurch die in einem Zeitabschnitt gezahlten Beiträge dieKapitalwerte der in dieser Zeit fällig werdenden Rentengedeckt werden sollen. Vgl. Beutner, U. oder Kapitaldeckung (Berl.1884); A. Wagner in Schönbergs "Handbuch der politischenÖkonomie", Bd. 2, S.816 (2. Aufl., Tübing. 1886).

Umlauf (Umlauff), Ignaz, Komponist, geb. 1752 zu Wien,begann seine musikalische Laufbahn als Violinist des WienerHofoperntheater- Orchesters und wurde 1778 von Joseph H. zumMusikdirektor der Deutschen Oper ernannt. Zur Eröffnungderselben hatte der Kaiser selbst Umlaufs Oper "Die Bergknappen"bestimmt, welche beim Publikum großen Anklang fand und alsder erste Waffengang im Kampf

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Umlauf am Finger - Umtrieb.

gegen die Herrschaft der italienischen Oper in Deutschlandhistorische Bedeutung erlangt hat. Er starb um 1799 in Wien.- SeinSohn Michael, geb. 9. Aug. 1781 zu Wien, gest. 20. Juni 1842daselbst, ebenfalls Musikdirektor der Deutschen Oper in Wien undfruchtbarer Komponist, machte sich besonders verdient um die WerkeBeethovens, den er bei den Aufführungen des "Fidelio" (1822)und der neunten Symphonie (1825), von deren Leitung Beethovenselbst bei seiner völligen Taubheit abstehen mußte, alsDirigent aufs wirksamste unterstützte.

Umlauf am Finger, s. Fingerentzündung.

Umlaufgetriebe, s. Getriebe.

Umlaut, eine vorzugsweise den jüngern germanischenSprachen eigentümliche Trübung derjenigen Vokale, auf dieeine den Vokal i oder den Halbvokal j enthaltende Beugungs- oderAbleitungssilbe folgt oder einstmals folgte, welche Trübungaber nur die Qualität, nicht zugleich auch die Quantitätderselben verändert. Der helle Vokal i übt nämlicheine assimilierende Wirkung, indem er den Vokal der vorausgehendenSilbe sich selbst ähnlich macht. Im Althochdeutschen trittdiese Wirkung nur erst beim a ein, welches durch den Einflußeines i in der darauf folgenden Silbe zu dem hellern Vokale wird.Im Mittelhochdeutschen dagegen beeinflußt ein folgendes ialle Vokale der vorausgehenden Silbe, die nicht i-ähnlichsind. So werden die kurzen Vokale a, u, o zu e, ü, ö, dielangen â, ô, û zu ae. oe, iu, die Diphthonge uo,ou zu üe, öu. Der U. bleibt, auch wenn das i oder jausgefallen ist. So heißt es im Mittelhochdeutschen ichvalle, aber du vellest (fällst), weil die zweite Personursprünglich ein i hatte (althochd. vellis); von ruom (Ruhm)wird gebildet rüemen (rühmen), weil es imAlthochdeutschen ruomjen hieß. Doch kommt es auch anderseitsnicht selten vor, daß mit dem Verlust des i oder j auch seineWirkung, der U., verschwindet, wie z.B. im Mittelhochdeutschen undNeuhochdeutschen im Infinitiv für gotisch brannjan brennengesagt wird, aber im Imperfekt mittelhoch-deutsch brante (jetztbrannte), obwohl die entsprechende gotische Form brannida lautet.Im Neuhochdeutschen gelten als Umlautvokale und Diphthongen in derRegel ä, ö, ü, äu; ä, äu werden imallgemeinen da geschrieben, wo ein verwandtes Wort oder eineverwandte Form mit a vorhanden oder auch ohne historischeSprachkenntnis leicht zu vermuten ist, z.B. Mann, Männer,Haus, Häuser, aber welsch von dem alten Wort walhisch,"ausländisch", greulich neben grauem Der U.ist auch fürdie deutsche Flexion von immer größerer Bedeutunggeworden; so dient er jetzt zur Bezeichnung der Mehrzahl, z.B.inMänner, zum Ausdruck von Verkleinerungsformen, z.B. inHäuschen. Übrigens ist er keineswegs konsequentdurchgeführt, und einzelne Mundarten haben ihn fast gar nicht,vgl. z.B. die bayrisch-österreichische Form "ich war" für"ich wäre". Der Name U. rührt von J. Grimm her, der auchden Ausdruck "Brechung" (s. d.) erfand. In den skandinavischenSprachen hat auch das u die nämliche assimilierende Kraft.Auch andre Sprachen haben dem U. verwandte Erscheinungen, dahingehört namentlich die im Griechischen u. der Zendsprachehäusige Epenthese (s.d.) des i.

Ummanz, Insel dicht an der Westseite von Rügen, 6 kmlang und 3 km breit; 7 Dörfer mit 360 Einw.

Ummerstadt, Stadt im sachsen-meining. KreisHildburghausen, an der Rodach, hat eine evang. Kirche,Töpferei, Gerberei und (1885) 825 Einw.

Umpfenbach, Karl, Nationalökonom, geb. 5. Juli 1832zu Gießen als Sohn des Professors der Mathematik, Hermann U.,studierte in Gießen, habilitierte sich daselbst 1856 alsPrivatdo^ent und wurde 1864 ordentlicher Professor in Würzburgund 1873 in Königsberg. Er schrieb: "Lehrbuch derFinanzwissenschaft" (Erlang. 1859-60, 2 Bde.; 2. Aufl., Stuttg.1887); "Die Volkswirtschaftslehre" (Würzb. 1867); "Des VolkesErbe" (Berl. 1874, Besprechung der sozialen Frage); "Das Kapital inseiner Kulturbedeutung" (Würzb. 1879); "Die Altersversorgungund der Staatssozialismus" (Stuttg. 1883).

Umpqua, Fluß im nordamerikan. Staat Oregon,entspringt am Westabhang des Kaskadengebirges, durchfließtein fruchtbares Thal und ergießt sich nach 300 km langem Laufin 43° 42' nördl. Br. in den Stillen Ozean.

Umriß (franz. Contour, ital. Contorno), diebloß in den äußersten Grenzlinien angedeuteteGestalt einer Figur, daher die erste Anlage einer nachher weiterauszuführenden Zeichnung.

Umsatz, der An- und Verkauf von Waren, auch dieGesamtheit dieser Waren.

Umschalter, Vorrichtung zur Herstellung, Unterbrechungoder Abzweigung einer elektrischen Leitung, findet mehrfach in derElektrotechnik, namentlich auch bei der elektrischen Beleuchtung,Verwendung, um jede Lampe oder Lampengruppe unabhängig von denübrigen anzuzünden oder auszulöschen. Beiautomatischen Umschaltern wird durch die Wirkung vonElektromagneten, resp. durch Einschaltung künstlicherWiderstände der Zweck erreicht.

Umschattige, s. v. w. Periscii, s. Amphiscii.

Umschlag, s. Bähung.

Umschlag (Umschlagsrecht, Umladungsrecht), ehemals dasRecht einzelner Ortschaften (Umschlagsplätze), die zu Wasseroder auch zu Land angekommenen Waren nur durch eigne Fuhrleute oderSchiffer weiter zu spedieren (vgl. Stapelgerechtigkeit). Dieheutigen Umschlagsplätze sind nicht Plätze, welcheVorrechte genießen, sondern an denselben findet ein U. stattinfolge der zwischen Eisenbahn- und Schiffahrtsverkehreingetretenen Tarifkombinationen.

Umfchreibebanken, s. v. w. Girobanken.

Umschrieben (zirku*mskript), deutlich begrenzt, imGegensatz zu verschwommen (z.B. von Geschwüren).

Umstadt, s. Großumstadt.

Umstandswort, s. Adverbium.

Umsteuerung, s. Steuerung.

Umtrieb (Umtriebszeit), in der Forstwirtschaft derZeitraum des mit einmaliger Abnutzung des Holzvorrats verbundenenHiebsumlaufs in einem derselben Bewirtschaftungsartüberwiesenen Wald. Bei regelmäßigem Alters- undBestockungszustand ist die Umtriebszeit gleich demHaubarkeitsalter, d.h. dem Abtriebsalter eines hiebreifen Bestandesoder gleich dem Zeitraum von der Bestandsbegründung bis zumBestandsabtrieb. Wichtigste Umtriebsarten: 1) Technischer U., d.h.derjenige Umtrieb, welcher Holz in einer für den technischenGebrauch am meisten geeigneten Beschaffenheit liefert. 2) U. desgrößten Massenertrags, derjenige U., welcher diegrößte Menge an Holz liefert. Für denselben ist derzuletzt noch eingetretene Jahreszuwachs gleich demdurchschnittlichen, d.h. gleich der Holzmenge des Bestandes,dividiert durch dessen Alter. 3) U. des größtenWaldreinertrags, derjenige U., bei welchem für dieFlächeneinheit der durchschnittlich jährlicheÜberschuß der Einnahmen über die Ausgaben fürKulturen und Verwaltungen am größten ist. Bei Bestimmungdesselben wird keine Rücksicht auf die Zeitunterschiede inBezug der Einnahmen und in der Verausgabung

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Una corda - Uneheliche Kinder.

der Kosten genommen. Ein späterer Eingang wird u dergleichen Höhe verrechnet wie ein solcher, welcher frühererfolgt, es werden also keine Zinsen unter die Kosten derWirtschaft gestellt. 4) Der finanzielle U., derjenige, fürwelchen die diskontierte Summe der in Aussicht stehendenReinerträge oder der Walderwartungswert, bez. derBodenerwartungswert am größten ist. Bei demselben istein Bestand dann finanziell abtriebsreif, wenn der in dernächsten Zeit zu erwartende, im Sinken begriffene Wertzuwachsgerade noch ausreicht, um die in dieser Zeit erwachsenden Kostenmit Einschluß aller Kapitalzinsen zu decken. Könnte z.B. ein 1oojähriger Bestand zu 4ooo Mk. verwertet werden, undist das Bodenkapital zu 200 Mk. oder, bei einem Zinssatz von 3Proz., die Bodenrente zu 6 Mk. zu veranschlagen, somüßte der Bestand, wenn er noch weiter stehen bleibensoll, im nächsten Jahr einen Zuwachs haben, welcher dielausenden Kosten, die Bodenrente mit 6 Mk. und die Zinsen desBestandkapitals mit 120 Mk. deckt. Die Bestimmung des Unitriebs istdeswegen schwer, weil das zu erziehende Holz erst in spätererZeit nutzbar wird, also immer mit Bedürfnissen und Preisen derZukunft gerechnet werden muß. Im großen und ganzen wirdder U. sich in den Grenzen halten müssen, innerhalb derenfür die Dauer eine wirklich marktfähige Ware geliefertwerden kann. Vgl. Waldwertberechnung.

Una corda (ital.), f. Corda.

Uualaschka, s. Aleuten.

Unam sanctam (lat.), Anfangsworte der von PapstBonifacius VIII. (s. d.) im November 1302 erlassenen Bulle, inwelcher er dem päpstlichen Stuhl die unumschränkteWeltherrschaft zusprach. Vgl. Berchtold, Die Bulle U. S.(Münch. 1887).

Uuanïm (lat.), einmütig, einstimmig;Unanimitat, Einstimmigkeit.

Unau, s. Faultier.

Unbefahren Volk, s. Befahren Volk.

Unbefleckte Empfängnis, s. Marienfeste.

Unbekannte Größen, in der Algebra Bezeichnungder Größen, welche aus den bekannten durchAuflösung der aus der Aufgabe sich ergebenden Gleichungen zuberechnen sind. S. Gleichung.

Unbestimmte Zahl (abstrakte Zahl), der abstrakte Begriffeiner bestimmten Vielheit, ohne Rücksicht auf dieBeschaffenheit der einzelnen diese Vielheit konstituierendenEinheiten, z. B. 6, im Gegensatz zur benannten oder konkreten Zahl,welche das Vielfache einer bestimmten Einheit ist, z. B. 6 m.

Unbestrichener Raum, s. Bestreichen.

Unbewaffnet (unbewehrt), in der Heraldik ein Wappentierohne seine natürlichen Waffen, z. B. ein Adler ohne Krallen,ein Löwe ohne Klauen, ein Eber ohne Hauer etc.

Unbewegliche Sachen, s. Sachen.

Unbotmäßigkeit, s. Widersetzlichkeit.

Uncaria Schreb. (Gambirstrauch), Gattung aus der Familieder Rubiaceen, kletternde Sträucher mit kurzgestieltenBlättern, meist einzeln achselständigen, gestielten,lockern, kugeligen Blütenständen, deren Stiel beiverkümmerten Blüten bisweilen in eine Ranke umgewandeltist, mittelgroßen, gelblichen, rötlichen oderweißlichen Blüten und großen, verlängertenKapseln. Etwa 30 Arten, meist im tropischen Asien und auf denMalaiischen Inseln. U. Gamir Roxb. ist ein Strauch mit 9 cm langen,ovallanzettförmigen, kurz zugespitzten, kahlen Blättern,kurzgestielten Blütenköpfen und rosenroten Blüten.Die ältern Blütenstiele sind in hakenförmigeStacheln umgewandelt, mittels welcher der Strauch hoch klettert. Erfindet sich in Hinterindien und auf der indischen Inselwelt,besonders auf Sumatra, und wird namentlich auf Bintang kultiviert,wo man aus den Blättern und jüngern Trieben dasGambirkatechu bereitet. Die Sträucher werden in Plantagengezogen und vom 3.-15. Jahr ausgenutzt, indem man die jungenbeblätterten Zweige zwei bis viermal im Jahr schneidet, mitWasser auskocht und die Flüssigkeit eindampft. Auch U. acidaRoxb., mit etwas größern, eiförmigen, längerzugespitzten Blättern und weißen Blüten, inHinterindien und auf den Malaiischen Inseln, liefert Katechu.

Uncia (lat.), der 12. Teil des As (s. d.);Apothekergewicht und Maß für Flüssigkeiten, s.Unze.

Uncialbuchstaben, meist nur zu Inschriften verwendeteCharaktere, ihrer Größe wegen so genannt vomlateinischen uncia (Zoll); doch finden sie sich auch inlateinischen Manuskripten vom 3.-10. Jahrh., wo sie indes gegenEnde dieses Zeitraums schon in die kleinern Semi-Uncialen oderLitterae minutae übergehen, die sich von den eigentlichen U.(litterae majusculae) auch dadurch unterscheiden, daß sienicht vereinzelt stehen, sondern sich aneinander anschließen.In der Buchdruckerkunst nennt man U. große Anfangsbuchstabenohne Verzierung.

Uncle Sam (engl.), scherzhafte Bezeichnung derNordamerikaner, entstanden aus dem offiziellen U. S. Am.,Abkürzung für United States of America.

Undation(lat.), Wellenschlag, wellenförmigerHerzschlag.

Undezime (lat.), Intervall von elf Stufen, die Quarte derOktave des Grundtons (z. B. c-f).

Undinen (Undenen, v. lat. unda, Welle), im System derParacelsisten weibliche Elementargeister des Wassers, die sich mitVorliebe unter den Menschen einen Gatten suchen, weil sie mit aussolcher Ehe gebornen Kindern zugleich eine Seele erhalten sollen.Die Undinensagen sind vielfach dichterisch behandelt worden, z. B.im alten Roman von der Melusine (s. d.) vom Ritter Staufenberg (neugedichtet von Fouque), und haben in neuerer Zeit auch den Stoff zumehreren Opern geliefert. Vgl. Nixen.

Undfee (Und ofero), See im russ. Gouvernement Olonez,Kreis Pudosh, 83 qkm (1 1/2 QM.) groß, verliert in manchenJahren sein Wasser durch unterirdische Abflüsse fastgänzlich.

Und sie bewegt sich doch, s. Eppur si muove.

Undulation (lat.), s. v. w. Wellenbewegung (s. d.);Undulationstheorie, s. Licht.

Uudurchdringlichkeit, diejenige Eigenschaft allerphysischen Körper, vermöge welcher sie einen Raum soerfüllen, daß in demselben zu gleicher Zeit kein andrersein kann.

Undurchsichtigkeit, s. Durchsichtigkeit.

Uneheliche Kinder (natürliche Kinder, Spurii),diejenigen Kinder, die in einem Geschlechtsverhältnis, welchesdie Weihe der Ehe nicht empfangen hat, erzeugt sind. Sie habenjuristisch keinen Vater und keine väterlichen Aszendenten,teilen Rang, Stand und Gerichtsstand der Mutter und führenderen Namen. Die neuere Gesetzgebung hat ihnen vielfach das Rechtbeigelegt, von dem natürlichen Vater den unentbehrlichenUnterhalt zu fordern; das französische Recht schneidet ihnendies mit dem Satz ab: "Toute recherche de paternité estinterdite" (s. Schwängerungsklage). Das deutsche Rechtbetrachtete die unehelichen Kinder als mit einer sogen. levis notaemacula behaftet, d. h. sie unterlagen der "Anrüchigkeit" (s.d.), infolge deren sie für unfähig gehalten

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Unehrliche Gewerbe - Unfallversicherung.

wurden zum Eintritt in Zünfte, zur Ordination und zumLehnserwerb. Doch konnte dieser Makel durch wirkliche und durch diejetzt unpraktische unvollkommene Legitimation (legitimatio adhonores) gehoben werden (s. Legitimation). Vgl. Bender, Dasuneheliche Kind und seine Eltern in rechtlicher Beziehung (Kassel1887).

Unehrliche Gewerbe, s. v. w. anrüchige Gewerbe (s.Anrüchigkeit). Vgl. Beneke, Von unehrlichen Leuten (2. Aufl.,Berl. 1888).

Unendlich, Prädikat eines Dinges, das entweder inAnsehung seiner Ausdehnung (räumlich oder extensiv), oder inAnsehung seiner Dauer (zeitlich oder protensiv), oder in Ansehungseiner Wirksamkeit (dynamisch oder intensiv) keiner Begrenzungunterworfen ist. Man unterscheidet unendlich groß (^) undunendlich klein: einer Größe kommt die erstere Benennungzu, wenn sie größer ist als jede angebbareGröße, wie z. B. die Summe der unendlichen Reihe1+1+1+... = ^; dagegen die zweite, wenn sie der Null näherkommt als jede angebbare Größe, d. h. wenn sie in Nullübergeht. Die Rechnung mit solchen Größen istGegenstand der Differential- und Integralrechnung (s. d.).

Uufähigkeitsprotest, s. Wechsel.

Uufallversicheruug, die Versicherung gegen die Folgenpersönlicher Unfälle, sowohl körperlicherVerletzungen als auch des Todes. Diese Art der Versicherung hateine hohe Bedeutung für den Arbeiterstand gewonnen. Wie dieBesonderheiten des Arbeiterlebens überhaupt zu verschiedenenAbweichungen von den allgemeinen Grundsätzen des privatenVersicherungswesens zwingen (Zulässigkeit, Notwendigkeit desZwanges, Schwierigkeit allgemeiner Durchführung schon wegender Zahlungsunfähigkeit bei Erwerbslosigkeit; Beiziehung vonArbeitgebern und zwar zum Teil schon aus dem Grund, weil der Lohnfür die Prämienzahlung nicht vollständig zureicht;besondere Vorzüge der genossenschaftlichen, aufGegenseitigkeit beruhenden Kassen etc.), so sind solcheAbweichungen insbesondere auch bei der U. geboten. Ursache vonkörperlichen Verletzungen und Tötungen, welchewährend der Arbeit und in Verbindung mit derselben eintraten,kann sein eine menschliche Verschuldung (eigne Schuld, SchuldDritter, insbesondere des Arbeitgebers, eines Beamten oderMitarbeiters), oft aber auch liegt eine solche Verschuldung nichtvor, oder sie ist wenigstens nicht nachweisbar (Naturgefahren,"Zufall", "höhere Gewalt"). Nach römischem Recht und demgemeinen Rechte der meisten Kulturländer erwächst beiUnfällen ein Anspruch auf Entschädigung nurgegenüber demjenigen, welcher den Schaden verschuldet hat. Sohaftet der Arbeitgeber nur für eigne Schuld und fürdiejenige seiner Leute, deren er sich bei dem Betrieb bedient, nurinsofern, als ihm eine Verschuldung bei Wahl oder Beibehaltungderselben zur Last fällt. Hierbei ist der Begriff derVerschuldung ganz bedingter Natur, insbesondere abhängig unteranderm auch vom Stande der Technik, vom üblichen,Herkömmlichen etc. Dem Verletzten liegt die Beweislast ob. Beiden meisten Unfällen wird er nichts erhalten und selbst dannleer ausgehen, wenn die Verschuldung eines Haftpflichtigen zwarnachgewiesen werden kann, letzterer aber nicht zahlungsfähigist.

Strenger als in den gedachten Ländern wird die Haftpflichtin Frankreich aufgefaßt. Hier wurde die römischrechtliche Verschuldung in der Auswahl und Überwachung derLeute schon im 18. Jahrh. dahin gedeutet, eine solche Verschuldungsei immer von vornherein zu vermuten. Denn es sei Pflicht desHerrn, sich überhaupt nur guter Arbeiter zu bedienen. Diesefür den Beschädigten günstigere Rechtsauffassungfand in erweitertem Umfang in der preußischenEisenbahngesetzgebung von 1838 Eingang. Eine weitere Besserung inder Lage vieler Arbeiter in Deutschland wurde durch dasHaftpflichtgesetz von 1871 bewirkt, welches die Zahl der Fällevermehrte, in denen dem Arbeiter ein Ersatz zugestanden wird. BeiEisenbahnen haftet nach diesem Gesetz der Betriebsunternehmer, wenner nicht beweist, daß der Unfall durch höhere Gewaltoder durch eignes Verschulden des Verletzten hervorgerufen wurde.Da ein derartiger Nachweis meist gar nicht oder nur schwer zuerbringen ist, so trugen die Eisenbahnen die Schäden selbst,oder sie bildeten unter sich einen Unfallversicherung verband mitVersicherung auf Gegenseitigkeit. Weniger günstig wurde dieLage der Geschädigten bei Bergwerken, Steinbrüchen,Gräbereien und Fabriken. Hier wurde die Haftpflicht nur in derArt erweitert, daß der Unternehmer nicht allein füreigne Schuld einstehen muß, sondern auch für diejenigeseiner Bevollmächtigen oder Vertreter, wie überhaupt derPersonen, welche er für Leitung und Beaufsichtigung desBetriebs oder der Arbeiter angenommen hat. Für alleübrigen Arbeiter kamen die Bestimmungen des gemeinen Rechts inAnwendung. Das genannte Haftpflichtgesetz gab den Anstoß zurErrichtung von Unfallversicherungsanstalten, welche sichausschließlich mit der U. als Kollektivversicherungbefaßten oder dieselbe neben andern Versicherungszweigenbetrieben, nachdem freilich schon vorher die Einzelversicherung(insbesondere in der Form der Reiseunfallversicherung) alsErgänzung der Lebensversicherung für Fällevorübergehender Erwerbsstörung und der Invaliditätvielfach vorgekommen war. In Deutschland und der Schweiz gab esbald zwölf solcher Anstalten, darunter sechsAktiengesellschaften und sechs Gegenseitigkeitsanstalten. Vonerstern befassen sich mit der U. vorzüglich die MagdeburgerAllgemeine Versicherungsgesellschaft, die KölnischeUnfallversicherungsgesellschaft und die Rhenania zu Köln, danndie Magdeburger Lebensversicherungsgesellschaft, die Schlesische zuBreslau und die Viktoria zu Berlin. AnGegenseitigkeitsgesellschaften bestehen nur noch der AllgemeineDeutsche Versicherungsverein zu Stuttgart und der Prometheus zuBerlin. Österreich hat eine Erste AllgemeineUnfallversicherungsaktiengesellschaft zu Wien, die Schweiz zweiGesellschaften zu Zürich und Winterthur, welche neben derBaseler Lebensversicherungsgesellschaft und der BrüsselerRoyale Belge ihre Wirksamkeit auch auf Deutschland erstrecken. DieU. war zum Teil eine Haftpflichtversicherung, indem sie nur solcheSchäden berücksichtigte, für welche Unternehmer aufGrund des Haftpflichtgesetzes ihren Arbeitern gegenüberhaftbar waren, meist aber wurde im Interesse der Vereinfachung undder Meidung von Prozessen die Ausdehnung auch auf die nichthaftpflichtigen Unfälle vorgezogen. Da kein Zwang zurVersicherung bestand und die U. eine ungleichmäßige war,so wurde das Haftpflichtgesetz, welches überdies nur füreinen beschränkten Kreis von Arbeitern galt, bald alsungenügend empfunden (vgl. hierüber Haftpflicht, S.1004). Infolge hiervon wurde die U. der Arbeiter durchReichsgesetze einer öffentlichrechtlichen Regelung unterzogen,nachdem die Reichsregierung vorher, um brauchbare statistischeUnterlagen zuschaffen, in den vier Monaten August bis November 1881aus 93,554 gewerblichen Betrieben mit 1,615,253 63

Meyers Konv. Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd.

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Unfallversicherung (deutsche Reichsgesetze von 1884 bis1887).

männlichen und 342,295 weiblichen Arbeitern statistischeErhebungen veranstaltet und damit den Grund zu einer umfangreichen,in Zukunft weiter auszubauenden Unfallstatistik gelegt hatte.Zunächst erschien das (industrielle) Unfallversicherungsgesetzvom 6. Juli 1884. Dasselbe erstreckt den Versicherungszwang aufArbeiter und Betriebsbeamte und zwar auf letztere, sofern ihrJahresarbeitsverdienst an Lohn oder Gehalt 2000 Mk. nichtübersteigt, in Bergwerken, Salinen, Aufbereitungsanstalten,Steinbrüchen, Gräbereien (Gruben), auf Werften undBauhöfen, in Fabriken und Hüttenwerken, ferner inUnternehmungen, deren Gegenstand die Ausführung von Maurer,Zimmer, Dachdecker, Steinhauer und Brunnenarbeiten ist, imSchornsteinfegergewerbe sowie in allen sonstigen Unternehmungen, inwelchen Dampfkessel oder durch elementare Kraft beweglicheTriebwerke zur Verwendung kommen. Durch Gesetz vom 25. Mai 1885wurde die gesetzliche U. aus die großen Transportbetriebe desBinnenlandes sowie die Betriebe des Heers und der Marine, derSpeicherei, Kellerei etc., durch Gesetz vom 15. März 1886 aufBeamte und Personen des Soldatenstandes ausgedehnt. Das Gesetz vom5. Mai 1886 regelte hierauf U. und Krankenversicherung für diein land - und forstwirtschaftlichen Betrieben beschäftigtenPersonen, das Gesetz vom 11. Juli 1887 die U. der bei Bautenbeschäftigten Personen und endlich das Gesetz vom 13. Juli d.J. diejenige der Seeleute und andrer bei der Seeschiffahrtbeteiligter Personen.

Nach dem Gesetz von 1884 kann durch statutarische Bestimmung dieVersicherungspflicht auch auf Betriebsbeamte mit höhermJahresarbeitsverdienst ausgedehnt werden, dann kann durch Statutbestimmt werden, daß und unter welchen BedingungenUnternehmer der versicherungspflichtigen Betriebe berechtigt sind,sich selbst oder andre nicht versicherungspflichtige Personen gegendie Folgen von Unfällen zu versichern (fakultativeVersicherung). Das Gesetz sieht von der Frage der Verschuldungzunächst ab. Es schließt einen Anspruch des Verletztennur dann aus, wenn derselbe den Betriebsunfall vorsätzlichherbeigeführt hat. Die Versicherung ist genossenschaftlichorganisiert und zwar derart, daß Unternehmer, welche einemoder mehreren verwandten Berufen angehören, mit derräumlichen Ausdehnung über das ganze Reich oder auch nurüber Teile desselben Berufsgenossenschaften bilden, welcheinnerhalb des gesetzlichen Rahmens ihre Angelegenheiten durch einzu errichtendes Genossenschaftsstatut regeln und dieselben durchGeneralversammlung und selbstgewählten Vorstand verwalten.Damit die Verwaltung nicht zu schwerfällig werde, könnendie Genossenschaften, welche sich über größereBezirke ausdehnen, durch Statut die Einteilung in Sektionen sowiedie Einsetzung von Vertrauensmännern als örtlicheGenossenschaftsorgane vorschreiben, welche vorgekommeneUnfälle untersuchen, insbesondere auch bei Aufstellung vonVorschriften zur Verhütung von Unfällen thätig seinsollen. Die Gesamtzahl aller versicherten Personen bezifferte sich1886 auf 3,725,313; es gab:

Berufsgenossenschaften Reichs- und Staatsbetriebe

Zahl der Betriebe 269174 -

Zahl der versicherten Personen:

a) Unternehmer 2686 -

b) Durchschnittlich beschäftigte

Betriebsbeamte u. Arbeiter 3467619 251878

c) Sonstige 3180 -

Im J. 1887 zählte man 62 Berufsgenossenschaften und 366Sektionen mit 319,453 Betrieben und 3,861,560 versichertenPersonen; dazu kamen 47 Reichs- und Staatsbetriebe mit 259,977Personen. An Entschädigungen wurden 1887 bezahlt von denBerufsgenossenschaften: 5,373,496 Mk., von den Kassen der Reichsund Staatsbetriebe: 559,434 Mk. Nach der Zahl der versichertenPersonen waren die größten Genossenschaften mit mehr als100,000 Personen die Zur Wahrung ihrer Interessen haben dieGenossenschaften einen Verband gebildet, welcher 1887 den erstenGenossenschaftstag in Frankfurt a. M. abhielt.

Zahl der

Betriebe versichert. Pers.

Knappschafts-Berufsgenossenschaft 1658 343707

Ziegelei-Berufsgenossenschaft 10135 174995

Zucker-Berufsgenossenschaft 455 127200

Sächsische Baugewerks-Berufsgenossensch. 7272 116987

" Textil-Berufsgenossenschaft 2721 116007

Norddeutsche Textil-Berufsgenossenschaft 2096 104942

Unter 14,000 Personen hatten die

Sächsische Holz- Berufsgenossenschaft 103l 13943

Bayrische Holzindustrie-Berufsgenossensch. 1855 13420

Westdeutsche Binnenschiffahrt-B. 2839 11935

Berufsgenossenschaft der

Schornsteinfegermeister des Deutschen Reichs 3044 5452

Die Genossenschaften stehen unter staatlicher Aufsicht,und zwar wurde ein eignes Reichsversicherungsamt in Berlinerrichtet, welches aus dreiständigen, vom Kaiser ernanntenBeamten, vier Mitgliedern des Bundesrats und je zwei Vertretern derUnternehmer und der versicherten Arbeiter zusammengesetzt ist.Für Berufsgenossenschaften, deren Gebiet nicht über dieGrenze des Landes sich erstreckt, können besondereLandesversicherungsämter errichtet werden. Von dieser Befugnishaben Sachsen und Bayern, neuerdings auch Baden, Württembergund Mecklenburg Gebrauch gemacht.

Der gesetzliche Zwang kehrt sich nur gegen die Arbeitgeber,welche die Kosten der Versicherung zu tragen haben, und in derenHänden auch die Verwaltung liegt. Die Genossenschaften erhebenalljährlich postnumerando die nach Maßgabe derArbeiterzahl, der Lohnhöhe und der Gefahrenklasse bemessenenBeiträge auf dem Weg des Umlageverfahrens. Die Post besorgtdie nötigen Zahlungen verlagsweise ohne Anrechnung von Kosten.Außer dieser Beihilfe leistet das Reich eine solche nochinsofern, als leistungsunfähige Berufsgenossenschaften vomBundesrat aufgelöst werden können und ihreRechtsansprüche und Verpflichtungen auf das Reichübergehen, bez. auf die Bundesstaaten, welche ein eignesLandesversicherungsamt errichtet haben. Die versicherten Arbeiterhaben nur Rechte auf Entschädigung im Fall eintretenderVerunglückung. Solche Entschädigungen gewährt aberdie Kasse der Berufsgenossenschaft erst nach Verlauf von 13 Wochen(Karenzzeit). In dieser Zeit haben die Krankenkassen einzutretenmit der Maßgabe, daß das Krankengeld von der 5. Wocheab auf Kosten des Unternehmers um 1/3 erhöht wird. DieLeistungen der Genossenschaftskasse bestehen in Gewährungeiner Rente im Betrag von 3 des letzten Jahresverdienstes, welchebei nur teilweise verminderter Erwerbsfähigkeit entsprechenderniedrigt wird. Im Fall der Tötung ist Ersatz derBeerdigungskosten, dann eine Rente an die Witwe im Betrag von 20Proz. des Jahresverdienstes, an unerwachsene Kinder (imHöchstbetrag von 60 Proz. an Witwen und Waisen zusammen), bez.auch an Aszendenten, deren einziger Ernährer derVerunglückte war, zu gewähren. Der zu leistendeSchadenersatz wird von den

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Unfehlbarkeit - Ung.

Organen der Berufsgenossenschaft auf Grund vorausgegangenerpolizeilicher Untersuchung des Unfalls festgestellt, gegen dieseFeststellung kann Berufung an ein Schiedsgericht, zu gleichenTeilen aus Mitgliedern der Genossenschaft und Vertretern derversicherten Arbeiter unter Vorsitz eines öffentlichen Beamtenbestehend, in schwereren Fällen noch Rekurs an dasReichsversicherungsamt ergriffen werden. 1886 wurden an VerletzteEntschädigungen gewährt:

bei Berufsgenossenschaften bei Staatsbetrieben

Erwachsene männlich 9104 814

" weiblich 332 3

Jugendliche unter 16 Jahren

" männlich 224 -

weiblich 43 -

Zusammen 9723 817

Das Haftpflichtgesetz ist zwar für die nachMaßgabe des Unfallversicherungsgesetzes versichertenPersonen außer Kraft gesetzt, doch bleibt es für alleübrigen Personen bestehen, dann für Betriebsbeamte mitmehr als20o0Mk. Gehalt. Demgemäß hat denn auch diePrivatversicherung ihre Bedeutung nicht ganz eingebüßt.Die U. für Arbeiter der Land- und Forst wirtschaft weicht vonderjenigen für industrielle Arbeiter mehrfach ab. DurchLandesgesetzgebung kann die Versicherungspflicht auch aufUnternehmer erstreckt werden. Die als Entschädigung zugewährende Rente wird nicht nach dem letzten Jahresverdienstdes Verletzten, sondern nach dem durchschnittlichen Verdienst landu. forstwirtschaftlicher Arbeiter am Orte der Beschäftigungbemessen. Die Rente kann, wenn der Lohn herkömmlich ganz oderzum Teil in Naturalien entrichtet wurde, ebenfalls in dieser Formgewährt werden. In den ersten 13 Wochen nach Eintritt einesUnfalls hat die Gemeinde, sofern eine Krankenversicherung nichtvorliegt, für die Kosten des Heilverfahrens aufzukommen. DieVersicherung erfolgt durch Berufsgenossenschaften, welche fürörtliche Bezirke zu bilden sind. - Außer in Deutschlandbesteht noch eine besondere Unfallgesetzgebung in England (Gesetzvom 7. Sept. 1880), in der Schweiz (Gesetz vom 25. Juni 1881,abgeändert durch Gesetz vom 26. April 1887) und inÖsterreich (Gesetz vom 28. Dez. 1887). Nach demösterreichischen Gesetz sind die versicherungspflichtigenBetriebe nur annähernd die gleichen wie nach dem deutschenGesetz von 1884; im wesentlichen erstreckt es sich auf denindustriellen Gewerbebetrieb. Die Versicherungsbeiträge werdennach einem von der Versicherungsanstalt aufzustellenden, staatlichzu genehmigenden Tarif bemessen. 10 Proz. derselben fallen demVersicherten, 90 Proz. dem Unternehmer des versicherungspflichtigenBetriebs zur Last. Mit Rücksicht auf die Beitragsleistung derArbeiter wurde die Karenzzeit auf nur vier Wochen festgesetzt. DieVersicherung erfolgt durch territoriale, auf Gegenseitigkeitberuhende Anstalten (Territorialsystem), neben welchen beiErfüllung bestimmter Bedingungen als gleichberechtigt auchPrivatanstalten und Berufsgenossenschaften zugelassen sind. Auf dieVerwaltung übt der Staat einen weiter gehenden Einflußaus als in Deutschland.

Vgl. Mucke, Die tödlichen Verunglückungen imKönigreich Preußen (Berl. 1880); Woedtke, Kommentar zumUnfallversicherungsgesetz (3. Aufl., das. 1888); Derselbe, Die U.der in land und forstwirtschaftlichen Betrieben beschäftigtenPersonen (2. Aufl., das. 1888); Just, Desgleichen (das. 1888);Nienhold, Die U. (Leipz. 1886); Döhl, Die U. (das. 1886);Hahn, Haftpflicht und U. (das. 1882); Schloßmacher, Dieöffentlichrechtliche U. im Zusammenhang mit der Sozialreform(Mind. 1886); Ertl, Das österreichischeUnfallversicherungsgesetz (Leipz. 1887); Becker, Anleitung zurBestimmung der Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit nachVerletzungen (Berl. 1887); Stupp, Handbuch zur U. (Sammlung derVerordnungen, Entscheidungen etc., 3. Jahrg., Münch. 1888);Schmitz, Sammlung der Bescheide, Beschlüsse undRekursentscheidungen des Reichsversicherungsamtes (Berl. 1888);Lutscher, Die Unfall-Statistik der Berufsgenossenschaften und ihrEinfluß auf die Beiträge der Mitglieder (Düffeld.1889); Platz, Die Unfallverhütungsvorschriften (Berl. 1889).Zeitschrift: "Die Arbeiterversorgung" (hrsg. von Schmitz, das.,seit 1884), in welcher auch die Entscheidungen derLandesversicherungsämter veröffentlicht werden.

Unfehlbarkeit, s. Infallibilität.

Unform, Pflanzen, s. Amorpha.

Unfruchtbarkeit (Sterilität), die beim Weibvorkommende Unfähigkeit, Kinder zu gebären. Die Ursachensind entweder in mangelhafter Bildung der Eier infolge fehlerhafterAnlage, hohen Alters oder Erkrankung der Eierstöcke zu suchen,oder in krankhafter Beschaffenheit der Eileiter, oder vor allem inchronisch entzündlichen Veränderungen, Verlagerung oderKnickungen der Gebärmutter (s. Zeugungsvermögen). Dieerste Gruppe von Fällen ist unheilbar, was besonders vongerichtlichmedizinischer Bedeutung ist, die zweite Gruppe ist daswesentliche Feld der Thätigkeit für die Frauenärzteund bietet namentlich bei chirurgischer Behandlung oftglänzende Erfolge. Vgl. Beigel, Pathologische Anatomie derweiblichen U. (Braunschw. 1878); May rhofer, Sterilität etc.(Stuttg. 187882); Duncan, Sterilität bei Frauen (deutsch vonHahn, Berl. 1884); P. Müller, Die U. der Ehe (Stuttg. 1885);Kisch, Die Sterilität des Weibes (Wien 1886).

Unfug, Störung der öffentlichen Ordnung;ungebührliche Belästigung des Publiku*ms. Das deutscheStrafgesetzbuch (§ 360, Ziff. 11) bedroht groben U. mitGeldstrafe bis zu 150 Mk. oder mit Haft bis zu sechs Wochen. DiePraxis der Gerichte faßt den Begriff dieser Übertretungsehr weit und beschränkt ihn keineswegs nur auf eigentlicheRuhestörungen. Beschimpfender U., an Zeichen deröffentlichen Autorität, in Kirchen oder andern zureligiösen Versammlungen bestimmten Orten oder an Gräbernverübt, ist mit besondern Strafen bedroht. Vgl. DeutschesStrafgesetzbuch, 103a, 135, 166, 168.

Unfundiert, Gegensatz zu fundiert (s. Fundieren).Unfundierte Schuld, s. v. w. schwebende Schuld, s. Staatsschulden,S. 203.

Uug (Ungh), ungar. Komitat am rechten Theißufer,zwischen Galizien und den Komitaten Zemplin, Szabolcs und Bereg,umfaßt 3053 qkm (55,4 QM.), ist im N. und O. gebirgig(Vihorlatgebirge und Ostbieskiden) und teilweise (ein Drittel)wildreiches Waldland, im S. dagegen eben und zum Teil auch sumpfig.U., das von der Latorcza, der Laborcza, dem in letzteremündenden Fluß U. und vielen Nebenflüssen desselbenbewässert wird, ist nur im S. und zum Teil auch in denThälern fruchtbar (Roggen, Hafer, Hanf und auch Wein) und hat(1881) 126,707 meist ruthenische, ungarische und slowak. Einwohner(griechischer, unierter und kath. Konfession). Sitz des Komitatsist die Stadt Ungvár (ehemals Festung), Station derUngarischen Nordostbahn (Nyiregyhaza Ungvár), am FlußU., Sitz desunkacser griechisch-uniert-ruthenischen Bischofs- undDomkapitels, mit prächtiger Hauptkirche, Nonnen-

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Ungamabai - Ungarische Litteratur.

kloster, (1881) 11,373 Einw., Seminar, Lehrerpräparandie,kath. Obergymnasium, Bibliothek, Waiseninstitut, Bezirksgericht,Oberforstamt, Mineralquelle und Porzellanerdegruben.

Ungamabai (Formosabai), weite, offene Bucht an derKüste Ostafrikas, am Nordende des Sansibar zugehörigenKüstenstrichs, im N. von Witu begrenzt, in der Tiefe derselbenmündet der Tanafluß. Die U. bietet selbst fürgrößere Seeschiffe bis nahe am Land guten Ankergrund undist ein Stationspunkt der britischen gegen den Sklavenhandel inOstafrika kreuzenden Fahrzeuge; 1867 wurden die an ihr liegendenOrtschaften von den Galla zerstört.

Uugarisch-Alteuburg (Magyar-Óvar), Markt im ungar.Komitat Wieselburg, an der Leitha und der Kleinen Donau, Sitz desKomitats und Hauptort einer Domäne des Erzherzogs Albrecht,hat 2 Klöster, (1881) 3427 Einw. (meist Deutsche), einelandwirtschaftliche Akademie, Musterlandwirtschaft, Bierbrauerei,Dampfmühle und Bezirksgericht.

Uugarisch-Brod, Stadt in Mähren, an der EisenbahnBrünn-Vlarapaß, Sitz einer Bezirkshauptmannschaft undeines Bezirksgerichts, an der Ölsawa, mit Mauern und Grabenumgeben, hat einen Dominikanerkonvent, ein fürstlichKaunitzsches Schloß, eine Zuckerfabrik und (1880) 4435 Einw.(646 Juden).

Ungarische Litteratur. Die Litteratur der Ungarn ist eineverhältnismäßig sehr junge. Ihreununterbrochene Existenz und Entwickelung erstreckt sich kaumüber einen Zeitraum von 110 Jahren; sie datiert eigentlicherst vom Jahr 1772, und ihre Geschichte bis zu diesem Jahrläßt sich in wenige Bemerkungen zusammenfassen. Als dieMagyaren um 894 aus der südrussischen Ebene in Ungarneinbrachen, waren sie ein barbarisches Nomadenvolk ohne jeglicheLitteratur, mit Ausnahme jener Lieder und Heldensagen, deren auchder wildeste Stamm nicht völlig entbehrt. Allein auch als siein Ungarn seßhaft geworden waren, sich zum Christentumbekehrt und aus Deutschland, Byzanz und Italien eine ziemlichansehnliche Kultur erhalten hatten, regte sich in ihnen noch wenigschöpferische litterarische Neigung. Alles, was von demmagyarischen Schrifttum bis zum 16. Jahrh., also binnen siebenJahrhunderten des europäischen Daseins der Magyaren, auf unsgekommen ist, beschränkt sich auf eine "Grabrede" ("Halottibeszed", das älteste Sprachdenkmal der Magyaren, aus dem Endedes l2. oder dem Anfang des 13. Jahrh.), auf ein Marienlied, aufein Gebet aus dem 13. Jahrh., ein "Leben der heil. Margarete"(Tochter des Arpadenkönigs Bela IV.), eine verifizierteBiographie der heil. Katharina von Alexandria (mutmaßlicheine Übersetzung) und einige fragmentarischeBibelübersetzungen und Schriften theologischen Inhalts. Ausdem Ende des 14. oder dem Anfang des l5. Jahrh. stammt dasälteste historische Lied über die "Geschichte derEroberung Pannoniens durch die Magyaren". Einen blühendenAufschwung nahm die magyarische Litteratur während derReformationszeit. Im 16. Jahrh. treten uns auch zum erstenmal zweietwas deutlicher individualisierte Poetenphysiognomien entgegen:die des Sebastian Tinody (Geburtsjahr unsicher, starb um 1559),eines fahrenden Sängers, dessen Lieder Reimchroniken derKämpfe Ungarns gegen die Türken bilden, und des BaronsValent in Balassa (1551-94), der über den Verfall Ungarnsklagte, und dessen Gedichte, namentlich die jüngst entdecktenlyrischen "Blumengedichte, Feuer und Leidenschaft, Reichtum anPhantasie und Gewandtheit der Sprache bekunden. In demselbenJahrhundert gelangte die romantische Dichtung, die im Westenbereits ausgelebt hatte und gerade durch die unsterbliche Satiredes Cervantes für ewige Zeiten eingesargt worden war, nachUngarn, das so spät eine ganze Reihe von Romanen und Gedichtenentstehen sah, in welchen die alten Ritter und Abenteuergeschichtendes frühen Mittelalters zu einem wunderlich anachronistischenverspäteten Dasein wiedererwachten. Diese Litteratur, teilsNachahmung, teils Übersetzung ohne jeden Wert, ohne jedeOriginalität und ohne das geringste nationaleEigengepräge, war quantitativ nicht unansehnlich ("Geschichteder Gismunda", von Georg Enyedi; "König Voltér undGriseldis" von Peter Iftvánfi; "König Argirus und dieFeenjungfrau" von Albert Gergei; "Schöne Geschichte von derFreundschaft zweier edler Jünglinge", von Kaspar Veres; "Dieschöne Magellone" und "Fortunatus", beide von Heltai [?] undzahlreiche andre), und ihre einzelnen Werke erhielten sich zum Teilbis in die Gegenwart als Volksbücher, die in schlechten,billigen Drucken auf allen Jahrmärkten feilgeboten werden.Bemerkenswert ist endlich die Originaldichtung des Peter Iloswayüber den halbhistorischen magyarischen Riesen und Volkhelden"Niklas Toldi" (1574) und die "Geschichte von Szilagyi und Hajmasi"(1571), der ebenfalls ein historisches Faktum zu Grunde liegt. Das17. Jahrh. produzierte den ersten namhaften Kunstdichter Ungarns,den Grafen Nikolaus Zrinyi (161664), den Enkel desheldenmütigen Verteidigers von Szigetva, dessen Hauptwerk, einEpos in 15 Gesängen, "Obsidio Szigetiana" betitelt, dieVerherrlichung der Waffenthat seines Ahns zum Gegenstand hat. DasGedicht, das sich bemüht, Tassos "Befreites Jerusalem"nachzuahmen, zeigt trotz seiner rohen, keiner Nüancierungfähigen Sprache dennoch an vielen Stellen Kraft und Schwung.Zeitgenossen Zrinyis waren Baron Ladislaus Liszti (geboren um 1630,Todesjahr unbekannt), der ein Epos: "Cladis Mohachina", und StephanGyöngyösi (1620-1700), der das Gedicht "Die Venus vonMurany" schrieb, beides Werke, welche (wie das ihnen zum Musterdienende Heldengedicht Zrinyis) Episoden aus der ungarischenGeschichte jener Zeit in oft banaler undhandwerksmäßiger Weise behandeln. Neben diesenDichtungen brachte das 17. Jahrh. zahlreiche theologischeStreitschriften hervor, unter welchen die Werke desGegenreformators Pazmany (s. d.) die weitaus bedeutendsten sind. Sogelangen wir ins 18.Jahrh. Damals war es um das Geistesleben desmagyarischen Stammes traurig bestellt; die Türkenherrschaft,erst 1699 endgültig beseitigt, hatte das Land als Einödeund in tiefster Barbarei zurückgelassen. Die wenigen Schulen,die diesen Namen verdienten, waren ausschließlich in denHänden der Geistlichkeit. Die Sprache der Verwaltung, derRechtspflege, des Unterrichts war die lateinische, dieUmgangssprache der höhern und mittlern Klassen die deutscheoder französische. Das magyarische Idiom besaß wedereine wissenschaftliche noch eine schöngeistige Litteratur;dennoch gab es auch in dieser Zeit einige nennenswerte Dichter undSchriftsteller in ungarischer Sprache. So den namhaften LyrikerFranz Faludi (1704-79), den Kirchenliederdichter Paul v. Raday(1677-1733), den Sänger weltlicher Lieder Baron LadislausAmade (1703-64) u. a. Auch blühte in dieser Zeit dasmagyarische Schuldrama. Allerdings übten diese litterarischenErzeugnisse nur geringen Einfluß auf die breitern Schichtender Gesellschaft. Da erfolgte von andrer Seite ein kräftigerReformversuch. Die Kaiserin Maria Theresia gründete (1760) dieungarische adlige Leibgarde, be-

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Ungarische Litteratur (Belletristik).

gabte junge Magyaren kamen als Gardisten nach Wien und mit einerhöhern Kultur in Berührung, sie lernten die Bildung unddie Literaturen des Westens kennen und empfanden erst angesichtsdieser glänzenden Beispiele die tiefe geistige Erniedrigung,in die ihr Volksstamm gesunken war. Sie schämten sich ihrerBarbarei und beschlossen, die Regeneratoren ihres Volkes zu werden.Die Gardisten thaten sich zusammen und schufen in klarer,bestimmter Absicht eine magyarische Schriftsprache und einemagyarische Nationallitteratur. Allerdings gab es unter diesenGardisten keine wahren poetischen Talente; sie schrieben nicht, umeinem dichterischen, sondern um einem patriotischpolitischen Drangzu genügen, und sie beschränkten sich der Mehrzahl nachdarauf, die berühmtern Werke alter und neuerer fremderSchriftsteller in magyarischer Sprache mehr oder minderglücklich nachzuahmen. Die nennenswertesten unter diesenverdienstvollen Gardisten, welche die Gründer der modernenmagyarischen Litteratur wurden, sind Georg Bessenyei (1752-1811),Abraham Barcsay (1742-1806), Alexander Baróczy (1737-1809)u. a. Früh teilten sich die Gardisten und ihreGesinnungsgenossen außer der Garde in drei Schulen. Diefranzösische (Bessenyei, Barcsay, Anyos, Graf Joseph Teleki,Jos. Péczeli, Baróczy) ahmte Voltaire, Racine,Wieland etc. nach; die klassische (David Baróti Szabo,Nikolaus Révai, Joseph Rajnis, Ben. Virág) hielt sichan das Muster der Alten, und nur die volkstümliche (A.Dugonics, A. Paloci Horváth, Graf I. Gvadányi) machteden schüchternen Versuch, national und selbständig zusein. Den ersten Bahnbrechern folgte eine Schriftstellergeneration,deren Hervorbringungen bereits wesentlich höher stehen. JosephKármán (1771-98) schrieb seinen sentimentalen Roman"Fannys Hinterlassenschaft", der Aufsehen erregte; Michael Csokonai(1773-1805) dichtete das komische Epos "Dorothea", die Satire"Froschmäusekrieg", einige Lustspiele, die Anlauf zurSelbständigkeit nahmen, besonders aber lyrische Verse, welcheim Munde des Volkes noch heute leben; endlich trat AlexanderKisfaludy (1772-1844) auf, dessen Sammlung lyrischer Gedichte :"Himfys Liebe", für Ungarn epochemachend wurde, insofern hierzum erstenmal die pedantische konventionelle Schulpoesie verlassenund neben vielem Schwulst und Unnatürlichkeit manchmal dochder Ton wahren Gefühls angeschlagen wird. Von großemEinfluß auf die weitere Entwickelung der ungarischenLitteratur war Franz Kazinczy (1759-1831) und sein Kreis. Kazinczy,wenig bedeutend als Poet, that sich als Reformator der noch wenigausgebildeten magyarischen Sprache hervor. Die gleiche Richtung(Entwickelung, Veredelung und Bereicherung des magyarischen Idioms)befolgten der Ödendichter Daniel Berzsenyi (1776-1836), derLyriker M. Vitkovics (1778-1829), der Dramenübersetzer G.Döbrentei (1786-1851), der Dramendichter Karl Kisfaludy(1788-1830), der eigentliche Begründer des magyarischenKunstdramas, und der Ependichter Andreas Horváth(1778-1839). Was diese Schriftstellergruppe (den sogen.Kazinczyschen Kreis) sowie deren Zeitgenossen Kölcsey, Andr.Fáy, Joseph Katona u.a. charakterisiert, das ist der nahezuausschließlich patriotische Inhalt ihrer Werke; der einzigeStoff, den sie in allen Dichtungsarten behandeln, ist ihrVaterland, dessen glorreiche Vergangenheit, dessen betrübendeGegenwart und herrliche Zukunft. Noch heute hat sich diemagyarische Litteratur von diesem durch die politischenVerhältnisse der Zeit erklärten und gerechtfertigtenengen Stoffkreis nicht gänzlich loszuringen vermocht, und nochimmer selten sind bis zu diesem Tag die magyarischen Werkegeblieben, die sich von beschränktem Nationalismus zu freierallgemeiner Menschlichkeit emporheben.

Im 19. Jahrh. nimmt die u. L. einen kräftigen Aufschwung.Zu den bedeutendsten Leistungen derselben gehört dieTragödie "Bánk Bán" von Joseph Katona(1792-180), welche bis heute noch als das hervorragendstedramatische Kunstwerk der Magyaren gilt. Großen Ruhm erwarbsich ferner Michael Vörösmarty (1800-1855), den mancheden größten Dichter Ungarns nennen, mit dem Epos"Zaláns Flucht" (1824), während von seinen zahlreichenDramen, poetischen Erzählungen und lyrischen Gedichten nur dieletztern höhern Wert besitzen. Im allgemeinen istVörösmarty mehr Rhetor als Dichter, seine Stärke istdie Deklamation. Gregor Czuczor, Joseph Bajza, Johann Garay, Alex.Vachott (1818-61) sind andere Epiker und Lyriker dieser Periode,deren bedeutendster Dichter indes Alexander Petöfi ist(1823-l849). Petöfi, dessen poetische Erzählung "HeldJános", eine vortreffliche volkstümlich humoristischeDichtung, dessen Roman "Der Strick des Henkers" und dessen Drama"Tiger und Hyäne" wertlose, unreife Produkte sind, erhebt sichals Lyriker weit über seine Vorgänger und ist der erste,dessen Gedichte wahr, natürlich, einfach und menschlich sind.Er ist neben Joseph Katona die erste Erscheinung in dermagyarischen Litteratur, die mit dem Maßstab derWeltlitteraturen gemessen werden kann, und die neben dengroßen Namen der letztern einen Platz beanspruchen darf. Nochbedeutender als Petöfi ist Johann Arany (1817-82), derbedeutendste ungarische Balladen und Ependichter diesesJahrhunderts. Vortreffliche Balladen dichteten auch P. Gyulai,Joseph Kiß (geb. 1843) und Ludwig Tolnai (geb. 1837). AlsLyriker verdienen Michael Tompa, Franz Csaszar, Paul Jambor(Pseudonym Hiador), Kol. Lisznyay (1823-63), Johann Vajda (geb.1827), Joseph Levay (geb. 1825), Karl Szasz, Emil Abrányi(geb. 1851), Alex. Endrödy (geb. 1850) hervorgehoben zuwerden; als Dramatiker sind Szigligeti, Czakó, Obernyik,Ludwig Dobsa (geb. 1824), Karl Hugo (Hugo Bernstein, 1817-77), Kol.Tóth, Aloys Degre (geb. 1820), Joseph Szigeti (geb. 1822),Eduard Tóth, Gregor Csiky), Eugen Rákosi (geb. 1842),L. v. Dóczy, Ludwig Bartók (geb. 1851) zuerwähnen. Auf dem Gebiet des Romans thaten sich hervor:Freiherr Nik. Jósika (17941865), der "ungarische WalterScott" genannt, dessen Romane auch in Deutschland viel gelesenwurden, ferner Ludwig Kuthy (1813-64; "Die Geheimnisse desVaterlands"), Baron Joseph Eötvös (1813-71; "DerKartäuser", unter dem Einfluß der Chateaubriandschenchristlich-romantischen Sentimentalität geschrieben;"Dorfgeschichten", realistisch und voll Humor; "Der Dorfnotar" und"Ungarn im Jahr 1514", satte, fleißige Gemäldeungarischen Lebens zu bestimmten Perioden), Baron SiegmundKemény (1816-75), Moritz Jókai (geb. 1825), PaulGyulai (geb. 1826), Zoltan Beöthy (geb. 1848). Die letztenzwei Jahrzehnte haben außer einigen bedeutenden Werken JohannAranys, einigen Dramen, die einen gewissen Tageserfolg errangen,und einigen Romanen Jokais nur weniges hervorgebracht, wasbesonderer Erwähnung verdiente und hoffen könnte,außerhalb Ungarns zu interessieren. Hierher gehört vorallem das philosophische Drama "Die Tragodie des Menschen" vonEmerich v. Madách (1823-1864), eine Dichtung, reich anerhabenen Gedanken und

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Ungarische Litteratur (wissenschaftliche).

poetischen Schönheiten. Ein hervorragendes Talent derGegenwart ist Koloman Mikszáth (geb. 1849), dessennordungarische Dorfgeschichten auch außerhalb Ungarnsgroßen Beifall gefunden haben. Die lebendeSchriftstellergeneration widmet sich fast ausschließlich derJournalistik, und die Folge davon ist tiefer Verfall auf allenGebieten der schönwissenschaftlichen Litteratur. Diese hatbisher nicht gehalten, was sie in den 40er Jahren diesesJahrhunderts zu versprechen schien; den Namen Eötvös,Petösi, Arany, Jokai haben sich keine neuern von nurannähernd gleichem Klang angefügt.

Die wissenschaftliche Litteratur Ungarns war bis ins18.Jahrh.fast ausschließlich lateinisch, ja noch in derersten Halste unsers Jahrhunderts bedienten sich die Gelehrten inder Litteratur wie in der Schule mit Vorliebe der Sprache Roms. Dieersten magyarischen Geschichtswerke sind die chronikartigenAufzeichnungen aus dem 16. Jahrh. von Anton Verancsics, Franz Zay,Valentin hom*onnai, Franz Wathai und die Chroniken von StephanSzekely und Kaspar Heltai. Im 17. Jahrh. schrieb EmmerichTököly Memoiren über mehrere seiner Feldzüge;Fürst Johann Kemeny und Niklas Bethlen verfaßtenAutobiographien; zahlreiche andre politische Persönlichkeitenvon bedeutenderer Stellung zeichneten die Ereignisse auf, derenZeugen sie waren; die Chronik von Gregor Petheö, spätervon Nachfolgern fortgesetzt, blieb lange das einzige geschichtlicheHandbuch des ungarischen Publiku*ms. Im 18. Jahrh. ragen hervor:"Historie Siebenbürgens" von Mich. Cserey und "MetamorphoseSiebenbürgens", ein sittengeschichtliches Werk von Peter Apor;"Briefe aus der Türkei" von Cl. Zagoni-Mikes, SekretärFranz Rakoczys II.; ferner Esaias Budais "Geschichte von Ungarn"(erschienen 1805); Franz Budais "Bürgerliches Lexikon", dieBiographien ausgezeichneter Ungarn enthaltend. Unter demEinfluß der Göttinger historischen Schule, dann derArbeiten der ungarischen Historiker Georg Pray und Steph. Katonasowie der Arbeiten von Gebhardi, Feßler und Engel erwachte imersten Viertel des 19. Jahrh. in der Geschichtschreibung ein neuerGeist. Man begann mit großem Fleiß Daten zu sammeln,Kritik und Quellenstudium wurden leitende Grundsätze. GeorgFeher, Nikolaus v. Jankovics, Baron Aloys Mednyanszky, JohannCzech, Benedikt Virag, Stephan Horvath wirkten als Forscher odereröffneten durch ihre Schriften neue Gesichtskreise.Später thaten sich hervor: Paul Jaszay, Graf Joseph Teleki(Geschichte der Hunyadys), Ladislaus v.Szalay und Michael Horvathmit bedeutenden Werken über die ganze Geschichte Ungarns undSpezialwerken über einzelne Partien und Persönlichkeiten;Arnold Ipolyi (früher Stummer), Anton Csengery, Karl Szabo,Alexander Szilagyi, Franz Salamon (Geschichte Ungarns zur Zeit derTürkenherrschaft u. a.), Koloman Thaly (Geschichte F. Rakoczysund seiner Zeit), Wilhelm Fraknoi (früher Frankl; BiographiePeter Pazmanys, Geschichte der ungarischen Landtage u. a.), JuliusPauler, Wolfgang Deak, Max Falk (Biographien Szechenyis undLadislaus Szalays) u. a. Einen bedeutenden Aufschwung hat dieungarische Einzel-Geschichtsforschung seit 1867 genommen,insbesondere durch die Wirksamkeit der Ungarischen HistorischenGesellschaft, deren Organ: "Századok" ("Jahrhunderte") eineFundgrube zahlreicher Spezialarbeiten und Daten ist. DieLiteraturgeschichte ist hauptsächlich durch Franz Toldy(früher Schedel) und Zoltán Beöthy, dieÄsthetik durch A. Greguß, P. Gyulai, Z. Beöthy,Eugen Péterffy, Friedr. Riedl u. a. vertreten. Der Beginnder rechts-, der staatswissenschaftlichen und politischenLitteratur fällt gleichfalls ins 16.Jahrh. Das TripartitumVerböczys erschien, von B. Veres ins Ungarischeübersetzt, zuerst 1565. Aus dem 17. Jahrh. sind zuverzeichnen: P. Kitonich ("Leitfaden der Prozeßordnung"),Paul Medgyesi (Werke über Kirchenverwaltung), I.Fésüs ("Spiegel der Könige"), M. Teleki("Fürstenseele"); im 18. Jahrh. erregten Sam. Balia und GeorgAranka in Siebenbürgen mit ihren staatsrechtlichen VersuchenAufsehen; Elias Georch war der erste, der sämtliche ungarischeGesetze in ungarischer Sprache bearbeitete. Im 19. Jahrh. gaben dieReformbewegung und die staatsrechtlichen Bestrebungen, die erst zurGesetzgebung von 1848, dann zum Ausgleich von 1867 führten,der rechts- und staatswissenschaftlichen Litteratur bedeutendeImpulse. Zu nennen sind: Alexander Kövy, Paul Szlemenics,Ignaz Frank, Johann Fogarassy, Theodor Pauler, Ignaz Udvardy,Stephan Szokolay, Franz Deak, Aurel und Emil Dessewffy, JosephEötvös u. a. Deak, die Brüder Dessewffy undEötvös sind zugleich Größen auf dem Felde derpolitischen Litteratur, deren epochemachender Schöpfer StephanSzechenyi ("Kredit", "Licht", "Stadium", "Ein Volk des Ostens" u.a.) war. In dessen Fußstapfen trat Nikolaus Wesselenyi. DerSchöpfer der ungarischen politischen Journalistik ist Ludw.Kossuth. Auf diesem Feld sind zu nennen: Graf Aurel Dessewffy,Siegmund Kemeny, Anton Csengery, Joseph Eötvös, JohannTörök. Als politische Redner ersten Ranges glänzen:Stephan Szechenyi, Kossuth, Wesselenyi, Kölcsey, Franz Deak,Joseph Lonovics, Aurel Dessewffy, Barth. Szemere, Gabriel Kazinczy,Eötvös, Koloman Ghyczy, Paul Somssich, Balthasar Horvath,Desidor Szilagyi, Graf Albert Apponyi u. a. Der erste, der einephilosophische Doktrin in ungarischer Sprache bearbeitete, warJohann Apáczai Cseri("Ungarische Logik", 1659). Vom Ende des18. Jahrh. an ist eine große Zahl ungarischer Lehrbücherüber Philosophie und Geschichte der Philosophie zuverzeichnen, die jedoch meist Kompilationen deutscher undfranzösischer Werke sind. Die Naturwissenschaft gelangte inUngarn erst in neuester Zeit, unterstützt durch die Mittel,welche die Regierung unmittelbar und mittelbar diesem Zweig derWissenschaft zuwendet, zu bedeutenderer Pflege. Die geologischeLandesanstalt, das meteorologische, das chemische, dasphysiologische und hygieinische Landesinstitut, die neuechirurgische Klinik (sämtlich in Budapest), dieNaturwissenschaftliche und die Geologische Gesellschaft sind ebensoviele Stätten wissenschaftlicher Thätigkeit. DieHervorragendsten, von denen zahlreiche Arbeiten vorliegen, sind:Joseph Szabo, Joseph Krenner, Max v. Hantken (Geologie); A. Jedlik,Roland Eötvös, Koloman Szily (Physik); Karl Than(Chemie); Petzval, Veß, Hunyady (Mathematik); Konkoly(Astronomie); Abt Krueß, Guido Schenzl (Meteorologie);Lenhossek (Anatomie); Jendrassik (Physiologie); Semmelweis(Geburtshilfe); Balafsa und Joseph Kovacs (Chirurgie) u. a. DieNaturwissenschaftliche Gesellschaft gibt eine reichhaltigeZeitschrift und die bedeutendsten naturwissenschaftlichen Werke dereuropäischen Litteratur in Übersetzungen heraus. Eingleicher Aufschwung ist auf dem Felde der Nationalökonomie (I.Kautz, M. Lonyay, A. György u. a.), der Statistik (A. Konek,Keleti, I. Körösi, Johann Hunfalvy), der Geographie undReiselitteratur (Johann und Paul Hunfalvy, Ladislaus Magyar, Joh.Xantus u. a.), der Altertums-

LÄNDER DER

UNGARISCHEN KRONE,

(UNGÄRN-SlEBENBÜRGEN U. KROATIEN-SLOWENIEN)

GALIZIEN UND BUKOWINA.

Maßstab1:3,300,000.

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Ungarisches Erzgebirge - Ungarn.

kunde (E. Henßlmann, A. Ipolyi, F. Romer, EugenNyáry, Franz Pulszky u. a.) zu verzeichnen. Überhaupthat die geistige Arbeit Ungarns seit den letzten zehn Jahren sichvielfach der wissenschaftlichen Thätigkeit zugewendet, wennauch die ungarischen Männer der exakten Wissenschaften sichbisher hauptsächlich auf Übersetzung oder Bearbeitungausländischer Werke verlegten und mit Ausnahme der um dieErforschung ihres Landes sehr verdienten Geologen undArchäologen noch keine selbständigen Entdeckungenaufzuweisen haben, welche ihnen einen Platz in der Geschichte desFortschritts der Wissenschaft sichern würden. Vgl. Toldy,Geschichte der ungarischen Dichtung (deutsch, Pest 1863); Dux, AusUngarn (Leipz. 1880); Schwicker, Geschichte der ungarischenLitteratur (das. 1889); Beöthy, Handbuch der ungarischenLiteraturgeschichte (in ungar. Sprache, 4. Aufl., Budap. 1884);"Ungarische Revue" (seit 1881 hrsg. von Hunfalvy und Heinrich,Budapest).

Ungarisches Erzgebirge, s. Karpathen, S. 557.

Ungarische Sprache. Die Sprache der Magyaren gehört zuder finnisch-ugrischen Abteilung der großenuralaltaischen Sprachenfamilie (s. d.). Die Verwandtschaftderselben mit dem Ostjakischen und Wogulischen am Uralgebirge sowieauch mit der zweitbedeutendsten Sprache dieser ganzen Gruppe, demFinnischen, ist so unverkennbar, daß sie schon vor demAufblühen der modernen Sprachwissenschaft in frühernJahrhunderten von einzelnen Gelehrten bemerkt wurde;wissenschaftlich nachgewiesen ward aber dieser Zusammenhang und dieentferntere Verwandtschaft des Ungarischen oder Magyarischen mitdem Türkischen und den übrigen Gruppen des uralaltaischenSprachstammes erst in den letzten Dezennien. Die wichtigstenEigentümlichkeiten, die das Ungarische mit den uralaltaischenund speziell mit den finnisch-ugrischen Sprachen teilt, sind dieVokalharmonie (s. d.) und das Prinzip der Agglutination. DieAgglutination, d. h. die lose Anfügung einer beliebiggroßen Menge von Beugungssilben an den Wortstamm, derunverändert an der Spitze des Wortes stehen bleibt, bewirkt,daß die magyarische Sprache wie das Finnische, Türkischeetc. einen ungeheuern Reichtum an grammatischen Formen besitzt.Weit geringer ist dagegen ihr Wortreichtum, teils deshalb, weilneben ihr noch zu viele andre Sprachen im Land sich geltend machen,teils und vorzüglich, weil sie viele Jahrhunderte hindurch ausden Geschäftsverhandlungen der Behörden, aus Kirche undSchule durch das Lateinische, aus der gebildeten Konversation durchdas Französische und Deutsche verdrängt war. Erst seitdem Tod Josephs II. nahm sie einen höhern Aufschwung, auch istsie seit Wiederherstellung der selbständigen ungarischenRegierung (1867) mit der Terminologie für sämtlicheZweige des modernen Kulturlebens ausgestattet. Die Schrift ist dielateinische. Lange Vokale werden durch Accente (á, éetc.) bezeichnet. Für die konsonantischen Laute reichen dieBuchstaben des lateinischen Alphabets nicht aus, weshalb man zuZusammensetzungen seine Zuflucht genommen hat. q, w und x hat manüberhaupt nicht mit verwendet und auch c und y nur inZusammensetzungen mit andern zur Bezeichnung der Laute, fürwelche dem lateinischen Alphabet eigne Buchstaben fehlen; dochvertritt y in ältern Familiennamen häufig die Stelle desi. Im ganzen hat die Sprache 24 konsonantische Laute, welche infolgender Weise bezeichnet werden: b, cs, cz, d, f, g, gy, h. j, k,l, ly, m, n, ny, p, r, s (spr. sch), sz (spr. ss), t. ty, v, z(spr. s), zs (weiches sch, wie franz. j). In den Lauten gy, ny, ly,ty ist das y keineswegs mit i identisch, sondern wird als ein mitdem vorhergehenden Konsonanten innig verschmolzenes j gehört;gy ist ungefähr wie dj zu sprechen. Im Anfang einer Silbeverträgt die u. S. in der Regel nie mehr als einenKonsonanten; in Wörtern mit zwei Anfangskonsonanten, die sieaus fremden Sprachen aufgenommen hat, hilft sie sich daher durchVorsetzung oder Einschiebung eines Vokals, z. B. astal (slaw.stol), der Tisch, kiraly (slaw. kral), der König. Dieälteste ungarische Grammatik ist die von Joannes SilvesterPannonius (Sarvár-Ujszigeth 1539). Neuere Werke für denersten Unterricht sind die (deutsch verfaßten) Grammatikenvon Mailath (2. Aufl., Pest 1832), Kis (Wien 1834), Töpler (7.Aufl., Budap. 1882), M. Ballagi (magyarisierte Namensform) oderBloch (8. Aufl., das. 1871), Franz Ney (24. Aufl., das. 1888); einewissenschaftliche Grammatik, obgleich im einzelnen bereitsveraltet, ist diejenige von M. Riedl (Wien 1858).Wörterbücher lieferten Richter (Wien 1836, 2 Bde.),Fogarassy (Pest 1836, 2 Bde.), I. T. Schuster (Wien 1838), Ballagi(5. Aufl., das. 1882; Supplement zum deutsch ungar. Teil 1874). Denganzen ungarischen Wortschatz streng wissenschaftlich darzustellen,ist das unablässige Bestreben der Ungarischen GelehrtenGesellschaft, deren großes ungarisches Wörterbuch, vonG. Czuczor und I. Fogarassy redigiert (186274, 6 Bde.), nunvollendet vorliegt. Außerdem ist die Ausarbeitung einessprachgeschichtlichen Wörterbuchs unter Aufsicht derlinguistischen Kommission der Akademie im Gang. DieHauptstützen der sprachvergleichenden Durchforschung desMagyarischen sind Paul Hunfalvy (s. d.) und Joseph Budenz (s. d.)mit ihren zahlreichen durch die ungarische Akademieveröffentlichten Studien über die mit dem Magyarischenverwandten Sprachen.

Ungarisch-Hradisch, s. Hradisch.

Ungarisch-Ostra, s. Ostra.

Ungarn (ungar. Magyarország, türk.Magyaristan, slawon.V engria, lat. Hungaria, franz. Hongrie, engl.Hungary), Königreich, die östliche Hälfte derösterreichisch ungarischen Monarchie, erstreckt sich von44°9'-49°33' nördl. Br. und von 14°24'-26°36',östl. L. v. Gr., besteht aus dem eigentlichen U., demehemaligen Siebenbürgen, Fiume samt Gebiet, Kroatien,Slawonien und der frühern Militärgrenze und grenzt im N.an Mähren, Österreichisch-Schlesien und Galizien, im O.an die Bukowina und Rumänien, im S. an letzteres, Serbien,Bosnien und Dalmatien und im W. an Istrien, Krain, Kärnten,Steiermark, Niederösterreich und Mähren. Vgl. beifolgendeKarte "Länder der ungarischen Krone".

Physische Beschaffenheit.

Die Gebirge gehören den Karpathen und den Alpen an,zwischen denen die Donau mit den von ihr durchschnittenen weitenEbenen die natürliche Grenze bildet. Die Karpathen (s. d.),das Hauptgebirge des Landes, beginnen an der Donau neben derMarchmündung und umgeben das Land von NW. nach SO. in einemmächtigen Halbbogen, dessen Wölbung gegen NO. fällt;die Ausläufer der Norischen und Karnischen Alpen hingegenschließen das an dem rechten Donauufer gelegene westlicheBerg und Hügelland ein und treffen mit ihren Vorbergen an derDonau bei Hainburg (Leithagebirge) und Gran (Vértesgebirge)mit den Karpathen zusammen. Am südöstlichen Ende, beiOrsova, wird die Donau abermals von den Ausläufern dersiebenbürgischen Karpathen und des Balkangebirges eingeengt(die berühmte Klissura mit dem Eisernen Thor). Die weiteTief-

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Ungarn (Bodenbeschreibung, Bewässerung, Klima, Areal).

ebene des Landes wird durch die Alpenausläufer in zweiHälften geteilt, deren kleinere sich gegen W., diegrößere gegen O. erstreckt. Die kleine oderoberungarische Tiefebene (Preßburger Becken), zu beidenSeiten der Donau zwischen Preßburg und Komorn, etwa 12,000qkm (220 QM.) groß, breitet sich in Eiform aus, liegt 130 mü. M., ist meist von Bergen umschlossen und sehr fruchtbar,besonders der nördliche Teil und die Donauinsel Schutt (s.d.). Im N. und S. breiten sich auf bald flachem, baldhügeligem Boden die gesegnetsten Gefilde aus mit Ackern,Gärten, Wald, Obsthainen und Weinpflanzungen und dringenzungenförmig an den Flußthälern in dieVorkarpathen, Voralpen und den Bakonyer Wald ein. Die östlichegroße oder niederungarische Tiefebene (Alföld oderPester Becken) wird im N. und O. von den Karpathen, im W. von denVoralpen, im S. von den alpinen Vorhöhen und dem Balkanumsäumt, erstreckt sich an der Donau von Budapest und an derTheiß von Szatmar bis zum Strompaß von Orsova undnimmt, einununterbrochenes Flachland bildend, im ganzen 96,910 qkm(1760 QM.) ein. Ausgedehnte Sumpfstrecken, Torf und Moorgründean der Donau und Theiß, unabsehbare Sandflächen, hierund da mit niedrigen Flugsandhügeln, wasser-, baum- undschattenlose Heideflächen, unterbrochen von Grasangern undfruchtbarem Ackerboden, weit auseinander liegende Meierhöfeauf den Pußten (s. d.), wenige, aber weitläufige undvolkreiche Ortschaften bilden den Charakter der eigentlichenHeidelandschaft. Der nördliche Landstrich wischen Donau undTheiß führt den Namen Kecskemeter Heide; südlichdavon, in der sogen. Bacska, liegt das 169 m hohe Plateau vonTelecska und südöstlich an der Theißmündungdas Titler Plateau; ferner im NO. unterhalb des Theißbogensder Nyir und südlich hiervon die Debrecziner Heide oderHortobagyer Pußta. Über 600 Flüsse und Bächedurchkreuzen U. nach allen Richtungen und gehören mit Ausnahmevon Poprad und Dunajec, welche der Weichsel zufließen,sämtlich zum Gebiet der Donau, die bei Theben das Landbetritt, sich bei Waitzen südwärts bis zur slawonischenGrenze wendet und das ungarische Gebiet bei Orsovaverläßt. Sie nimmt rechts die Leitha, Raab, denSárviz, die Drau mit der Mur und die Save, links die March,Waag, Neutra, Gran, Eipel, die mächtige Theiß, die Temesund die Aluta auf. In die Theiß münden rechts derBodrog, Sajó mit dem Hernád und die Zagyva, links dieSzamos, die dreifache Körös und die Maros. AlleFlüsse, insbesondere aber die Theiß mit ihrenNebenflüssen, verursachen durch Überschwemmungen fastjährlich bedeutenden Schaden; um diesen zu verhindern und zurErleichterung der Schiffahrt wurden seit 1771, besonders aber seit1845, umfassende Regulierungen vorgenommen und zahlreicheKanäle erbaut, unter denen der Franzenskanal (zwischen derDonau und Theiß), der Begakanal (zwischen der Bega undTheiß), der Sarviz- oder Palatinkanal (zwischenStuhlweißenburg und Szegszard), der Albrechtskanal zurEntsumpfung des Bodens im Baranyaer Komitat, der Kapos oderZichykanal im Tolnaer Komitat und der Siokanal (zwischen Plattenseeund Donau) die bedeutendsten sind. In den Karpathen finden sichviele kleine Seen (Meeraugen), darunter in der Hohen Tatra allein58 meist sehr romantisch 1260-1990 m ü. M. gelegene Seen.Größere Seen in der Ebene sind der Plattensee, dergrößte Südeuropas, und der Neusiedler See. Von denzahlreichen Morästen und Sümpfen sind zu nennen: der mitdem Neusiedler See in Verbindung stehende Hanság, derEcseder Sumpf bei Szatmár, der Sárrét amBerettyó, der Alibunarer, Hoßzuréter Sumpf etc.Die Sümpfe an der Theiß und Donau sind durchAbzugskanäle meist trocken gelegt worden. Überhaupt istsowohl von seiten der Regierung als der einzelnen sehr vieles zurTrockenlegung oder doch Einschränkung der Sümpfegeschehen. Für die Theißregulierung allein, um welchesich Graf Szechenyi große Verdienste erworben hat, wurdenseit 1845 mehr als 26 Mill. Guld. verwendet. Das Ackerland dergroßen ungarischen Tiefebene besteht zumeist aus schwarzemThonboden mit mehr oder weniger Humus und ist in manchen Gegendenauch ohne Dünger ebenso fruchtbar wie die zwischen hohenBergen liegenden lieblichen Thäler (z. B. dasäußerst romantische Waagthal). Dagegen gibt es aber auchgroße unfruchtbare Sandflächen; in der westlichen Ebeneerstrecken sie sich nur von Raab und Komorn bis zum Komitat Zala;in der östlichen Ebene jedoch bilden sie, von Waitzenausgehend, zwischen der Donau und Theiß bis nahe an denFranzenskanal ein wahres Sandmeer.

[Klima.] Schon die geographische Lage Ungarns, noch mehr aberdie Gestalt seiner Oberfläche machen es zu einem klimatischmilden Land. Mit Ausnahme des nach N. geöffneten PopraderThals ist es vor rauhen Nordwinden durch hohe Gebirgegeschützt; im S. aber öffnet es sich den warmenSüdwinden, deren oft heftigen Andrang die zahlreichenGewässer mäßigen. Am Fuß der hohen Karpathenund des Königsbergs (in Gömör), in der Ärva,Liptau und Zips reift selbst die Pflaume kaum, und oft bedecktschon im September Schnee den noch stehenden Hafer, während 60km südlicher der edelste Wein gedeiht. Mitten im ehemaligenPannonien, das einem fortlaufenden Obst- und Weingarten gleicht,reift in der rauhen Bakony auch die Traube nicht. In Syrmienblüht oft schon im Februar der Haselstrauch, im Aprilüberall das Obst, Anfang Mai Roggen und Gerste, in den erstenJunitagen der Weinstock, und frisches Grün schmückt achtMonate lang die Wälder, während weiter nach S. zu wiederdie rauhe Karpathengegend auftritt. Charakteristisch ist der starkeTemperaturwechsel, namentlich der Unterschied zwischen Tages undNachtwärme, so im Alföld, wo die Temperatur im Sommer desMorgens nur 45° C. beträgt und mittags auf mehr als30° steigt; noch größer aber ist der Unterschied dervon den Sonnenstrahlen erzeugten Bodenwärme; daher treten dortauch häufig Wechselfieber und andre Krankheiten auf. Imallgemeinen ist aber das Klima in U. gesund. Die mittlereJahrestemperatur bewegt sich zwischen +5,9° und +14° C. undbeträgt in Schemnitz 6°, Preßburg 9,6°, Budapest11°, Klausenburg 9,12°, Semlin 11,6°, Fiume 14,1°.Eine gewöhnliche Erscheinung ist im Alföld die FataMorgana, hier Delibab ("Mittagszauber") genannt.

Areal und Bevölkerung.

Das Areal von U. samt Nebenländern beträgt 322,940 qkm(5865 QM.), wovon auf das eigentlich U. samt Siebenbürgen280,387 qkm (5092 QM.), auf Fiume samt Gebiet 20 qkm (0,36 QM.) undauf Kroatien und Slawonien 42,533 qkm (772 QM.) entfallen. Daseigentliche U. wurde früher in administrativer Beziehung invier Kreise eingeteilt und zwar in den Kreis a) diesseit und b)jenseit der Donau, c) diesseit und d) jenseit der Theiß. Seitder 1876 erfolgten Einverleibung Siebenbürgens und derRegelung der Munizipalgebiete jedoch teilt man U. in nachstehendesieben Gebiete ein:

1001

Ungarn (Komitate, Bevölkerung).

A. Ungarn mit Siebenbürgen.

Gebiet und Komitat Areal QKil. Einwohner 1881

I. Am linken Donauufer

Árva 2077 81643

Bars 2673 142691

Gran 1123 72166

Hont 2650 116080

Liptau 2258 74758

Neograd 4355 191678

Neutra 5726 370099

Preßburg 4311 314173

Sohl 2730 102500

Trentschin 4620 244919

Turócz 1150 45933

Zusammen: 33674 1756640

II. Am rechten Donauufer:

Baranya 5133 293414

Eisenburg 5035 360590

Komorn 2944 151699

Ödenburg 3307 245787

Raab 1381 109493

Somogy 6531 307448

Tolna 3643 234643

Veszprim 4166 208487

Weißenburg 4156 209440

Wieselburg 1944 81370

Zala 5122 359984

Zusammen: 43363 2562355

III. Zwischen der Donau und Theiß

Bács-Bodrog 11079 638063

Csongrád 4314 228413

Heves 3802 208420

Jazygien etc. 5374 278443

Pest-Pilis etc. 12605 988532

Zusammen: 37173 2341871

IV. Am rechten Theißufer:

Abauj-Torna 3331 180344

Bereg 3724 153377

Borsod 3527 195980

Gömör und Kis-Hont 4275 169064

Sáros 3822 168013

Ung 3053 126707

Zentplin 6208 275175

Zips 3605 172881

Zusammen: 31546 1441541

V. Am linken Theißufer:

Békés 3558 229757

Bihar 10919 446777

Hajdu 3353 173329

Marmaros 0355 227436

Szabolcs 14917 214008

Szatmár 6491 29309

Szilágy 3671 171079

Ugocsa 1191 65377

Zusammen: 44456 1820855

VI. Längs der Flüsse Maros und Theiß

Arad 6443 303964

Csanád 1618 109011

Krassó-Szörény 9751 381304

Temes 7136 396045

Torontál 9495 530988

Zusammen: 34444 1721312

VII. Siebenbürgen:

Bistritz-Naszód 4014 95017

Csik 4493 110940

Fogaras 1875 84571

Großkokelb. 3116 132454

Háromszék 3556 125277

Hermannstadt 3314 141627

Hunyad 6932 248464

Klausenburg 5149 196307

Kleinkokelb. 1646 92214

Kronstadt 1797 83929

Maros-Torda 4324 158999

Szolnok-Doboka 5150 193677

Torda-Aranyos 3370 137031

Udvarhely 3418 105520

Unterweißenb. 3577 178021

Zusammen: 55731 2084048

Ungarn: 280387 13728622

B. Fiume samt Gebiet

C. Kroatien und Slawonien (mit ehem. Militärgrenze).

Komitate:

Lyka-Krbava 6211 174239

Modrus-Fiume 4879 203173

Agram 7211 419879

Warasdin 2521 229063

Belovar-Kreutz 5048 219529

Pozega 4942 166512

Virovititz 4851 183226

Syrmien 6870 296878

Zusammen: 42533 1892499

Länder der ungar. Krone: 322940 15642102

In Bezug auf die Bevölkerung nimmt U. unter deneuropäischen Staaten die achte Stelle ein. Nach der letztenVolkszählung (1880/81) betrug die Zivilbevölkerung15,642,102 Seelen (gegen 15,417,324 Seelen im J. 1870). Die Zahlder aktiven Soldaten und Honveds (Landwehr) belief sich auf 97,157Mann, daher ergibt sich eine Gesamtbevölkerung von 15,739,259Seelen. Von 1870 bis 1881 hat dieselbe nur um 1,44 Proz. zugenommenund zwar zumeist nur im W. und in der Mitte des Landes. Bei denfrühern Erhebungen zählte man: 1850: 13,1, 1857: 13,7,1869: 15,4 Mill. Einw. Ursachen dieser geringen Zunahme warenanfangs die Nachwehen der Freiheitskriege und wiederholteCholeraepidemien, zuletzt jedoch Seuchen, Mißwachs,Auswanderung und enorme Sterblichkeit der Kinder (bis zu 55 Proz.).Die Dichtigkeit der Bevölkerung ist eine mittlere, denn esentfallen auf 1 qkm durchschnittlich 48 Einw. Am dichtestenbevölkert sind die fruchtbaren und minder gebirgigenLandstriche im W. und NW., am gleichmäßigsten das Inneredes Landes, am dünnsten der Nordosten, Osten undSüdosten. Von der Zivilbevölkerung entfallen auf diebeiden Geschlechter:

Männer Frauen

in Ungarn (samt Siebenbürgen) 6749646 6978976

- Fiume samt Gebiet 9598 11383

- Kroatien-Slawonien 589615 604800

- der ehemaligen Militärgrenze 354051 344033

Zusammen: 7702910 7939192

In U., wo auf je 1000 Einw. 10 Ehen, 45 Geburten und 37Sterbefälle entfallen, gibt es 163 Städte, 1872Märkte, 15,394 Dörfer und 4152 Pußten, wovon auf U.allein (mit Siebenbürgen) 143 Städte, 1822 Märkte,10,873 Dörfer und 3917 Pußten entfallen. Dievolkreichsten Städte (mit über 20,000 Einw.) sind:Budapest, Szegedin, Maria-Theresiopel, Debreczin,Hódmezö-Vásárhely, Preßburg,Kecskemét, Arad, Temesvár, Großwardein, Mako,Klausenburg, Kronstadt, Szentes, Fünfkirchen, Agram, Kaschau,Stuhlweißenburg, Czegléd, Zombor, Miskolcz,Nyiregyháza, Kiskun-Félegyháza, Ödenburg,Nagy-Körös, Werschetz, Jászberény, Neusatz,Mezötur, Zenta, Raab und Fiume. Die schönsten Dörfersind jene der Deutschen, der Ungarn und Slowaken; am schlechtestenwohnt der Rumäne und Ruthene.

Rationalität. Religionsverhältnisse. Unter denverschiedenen Nationalitäten nehmen die Ungarn (Magyaren, s.d.) als die herrschende Nation die erste Stelle ein. DasÜbergewicht verdanken sie nicht nur ihrer größernAnzahl (45 Proz.: 6,445,487 Einw.), sondern auch dem Umstand,daß sie die Mitte und zwar den fruchtbarsten Teil des Landesin ungeteilter Masse bewohnen. Der magyarische Volksstamm wohntdicht zwischen der Donau und Theiß im Alföld (70,9 Proz.der dortigen Bevölkerung), am rechten Donauufer und in denübrigen ebenen Landstrichen im eigentlichen U.; in densiebenbürgischen Komitaten dagegen bewohnen die Magyaren (dortSzekler genannt) die höchst gelegenen Teile in denöstlichen Komitaten. Am schwächsten sind sie am linkenDonauufer (25,7 Proz.), im Theiß-Maroswinkel (15,6 Proz.) undin Kroatien-Slawonien (3,9 Proz.) vertreten. Von den übrigenNationalitäten sind die Slawen am zahlreichsten. Von denSerbokroaten (2,352,339 Einw.) wohnen die Serben zur Hälfte imSO. von U., zur Hälfte in Kroatien-Slawonien und derehemaligen Militärgrenze, die Kroaten aber meist in Kroatien;die Slowaken (1,864,529 Einw.) bilden eine kompakteBevölkerung im N. und NW., mit einzelnen Ausläufern bistief nach dem Süden (Békés und Csanád);in den östlichen Karpathen von Marmaros bis nach Sárosund bis in die Zips haben sich die Ruthenen (356,062 Einw.)niedergelassen. Die Rumänen (2,405,085 Einw.), gleichfalls einkompakter Volksstamm, bewohnen den Osten, Nordosten undSiebenbürgen. Die Deutschen (1,953,911 Einw.) sind fastüber das ganze Land zerstreut und meist in den westlichenKomitaten unterhalb der Donau (Wieselburg, Ödenburg,Eisenburg), in den südlichen Landstrichen (Tolna, Baranya,Bács-Bodrog, Torontál, Temes) sowie im südlichenSiebenbürgen (Hermannstadt, Groß-Kokelburg, Kronstadt)und in den Komitaten Zips und Bistritz-Naszód ansässig.In den Komitaten Wieselburg, Ödenburg, Eisen-

1002

Ungarn (Nationalcharakter, Religionsverhältnisse, geistigeKultur).

burg, zum Teil auch in Preßburg, haben sie sich schon seitKarl d. Gr. angesiedelt; in die übrigen Landstriche sinddeutsche Kolonisten teils in ganzen Stämmen, zuerst unterGeisa II., aus Köln und Flandern nach der Zips und in dieBergstädte (s. Gründner, Krikerhäuer), teils inkleinern Scharen aus Schwaben und Franken etc. (meist im 17. und18. Jahrh.) eingewandert. Der Rest der Bevölkerung Ungarns(264,639 Einw.) sind Albanesen, Armenier, Bulgaren, Griechen,Italiener und Makedowalachen oder Zinzaren, welche im SO. und im S.wohnen; die Armenier und Griechen leben meist inHandelsstädten. Die Zigeuner (75,911, Magyaren undRumänen) sind im Land zerstreut und halten sich meist in derNähe kleinerer Orte, am zahlreichsten im GömörerKomitat und in Siebenbürgen, auf. Unter den mannigfaltigenNationaltrachten ist die ungarische die schönste. Sie bestehtaus eng anliegenden Beinkleidern, verschnürtem Wams oderAttila (Rock), einer Pelzmütze oder einem Kalpak. Überder Schulter hängt ein Pelz oder Dolmán. AlsFußbekleidung dienen hohe, oft mit Schnüren verzierteStiefel (Zischmen) oder kurze Schnürstiefel (Topanken). Derslawische Bauer trägt gewöhnlich ein weißes Kamisolvon grobem Tuch, blautuchene Beinkleider und große, hoheStiefel, im Sommer ein kurzes, mit einem Gürtel befestigtesHemd, ein leinenes Unterbeinkleid (Gatye) und einen großenHut. Die Alltagstracht des ungarischen Landmanns ist hier und davon jener des Slawen nicht wesentlich verschieden. AlsFußbekleidung trägt der Slawe Bundschuhe (krpec), derGebirgsbewohner hohe Filzstiefel. Bei kaltem Wetter wirft derslawische Bauer ein mantelartiges Kleid aus grobem weißenTuch (szurowicza) um, während der Ungar sich in eingrobtuchenes braunes Oberkleid (guba) oder in einen Schafpelz(ungar. ködmön, slaw. kozuch) hüllt.Hauptstücke der Kleidung sind noch die Pelzmütze und eingroßer, weiter, mit Ziegenfellen ausgeschlagener Schafpelz(juhászbunda). Das weibliche Geschlecht kleidet sich fastallgemein in Rock und Jacke von blauem oder grünem Halbtuch,die ungarischen Mädchen tragen überdies blaue, bis unterdie Kniee reichende, reich mit Schnüren besetzte Pelze. Einebeliebte Speise des Karpathenbauers ist Hirsebrei (kasa), derUngarn Gulyás (mit Zwiebeln und Paprika gewürztes, nachHirtenweise gekochtes Fleisch). Der Ungar ist meistmittelgroß, muskulös, ebenmäßig gebaut, hateine scharf geschnittene Gesichtsbildung, ein dunkles, feurigesAuge und schwarzes Haar. Die Frauen entwickeln sich frühzeitigund haben regelmäßige Züge. Der Ungar istgutmütig und sehr gastfreundlich, besitzt ein feuriges, leichterregbares Temperament, viel rednerische Begabung und großeVaterlandsliebe, ist als Soldat äußerst tapfer und dientam liebsten zu Pferd (als Husar). Fröhlichkeit und Liebefür Musik und Tanz sind das Erbteil fast aller ungarischenVölkerschaften. Sehr schön und ungemein charakteristischsind die ungarischen Nationaltänze (Csárdás) undVolksweisen, erstere bald sehr ernst, bald ungemein heiter undlebhaft (Lassu und Friss), letztere meist düster undschwermütig. Eigentümlich sind die Nationalgesängeder Slowaken und Serben. Die Magyaren beschäftigen sich meistmit Ackerbau, Viehzucht und Fischfang oder sind selbständigeHandwerker. Die Slowaken treiben Ackerbau oder leben alsnomadisierende Hirten, Arbeiter in den Berg- und Hüttenwerken,Flößer, Fuhrleute, Hausierer oder Drahtbinder. Alssogen. Rastelbinder durchziehen sie ganz Europa, ja selbst Amerika.Die Ruthenen liegen dem Viehhandel ob, sind Fuhrleute oder handelnmit Eisenwaren. Die Slawonier und Kroaten treiben Ackerbau undHandel, die Deutschen Gewerbe, Handel, Landwirtschaft, Bergbau etc.Die Armenier sind meist Kaufleute, Pachter und Viehhändler;die Griechen und Juden beschäftigen sich fastausschließlich mit Handel; die Zigeuner sind Musikanten undSchmiede. Der Religion nach sind in U. die Römisch-Katholikenüberwiegend (7,849,692) und haben am rechten Donauufer sowieim NW. die absolute Majorität; die Kroaten sind fastausschließlich römisch-katholisch. Griechisch-katholischsind Ruthenen und Rumänen (1,497,268), griechisch-orientalischdie Serben und ein Teil der Rumänen (2,434,890). Derevangelischen Kirche Augsburgischer Konfession gehören meistSlowaken und Deutsche im N. und W. an (1,122,849) sowie diesiebenbürgischen Sachsen; die Evangelischen HelvetischerKonfession (2,031,803) haben ihren Hauptsitz in vorzugsweiseungarischen Gebieten; die Unitarier (55,792) leben fast nur inSiebenbürgen. Die Juden endlich (638,314) sind mit Ausnahmedes Südwestens und Südostens überall verbreitet undbewohnen am dichtesten die an Galizien grenzendennordöstlichen Komitate sowie die Handelsplätze. Bis 1848waren sie aus den Berg- und einigen königlichenFreistädten ausgeschlossen, genießen aber seit 1868volle Gleichberechtigung.

Bildung und Unterricht.

Die geistige Kultur des Landes ist in erfreulichem Fortschrittbegriffen, und die Volksbildung der Deutschen und Ungarn stehtjener in Österreich nicht nach. In U. (samt Siebenbürgen)ohne Kroatien-Slawonien gab es im J. 1887 unter 13,749,603 Einw.2,377,558 schulpflichtige Kinder (17,29 Proz.), von diesenbesuchten thatsächlich 1,929,377 die Schule (gegen 1,152,115im J. 1869). Die Anzahl der Volksschulen betrug 16,538 (gegen13,798 im J. 1869), jene der Lehrer 24,148 (gegen 17,792 im J.1869). Letztere werden in 71 Lehrer- undLehrerinnen-Präparandien (1869 bestanden nur 46)herangebildet, an denen 683 Professoren thätig sind (1869 nur271). Die Kinderbewahranstalten, deren man 532 (gegen 215 im J.1876) zählte, besuchten 49,051 Kinder (1876 nur 18,624). Vonden bestehenden 179 Mittelschulen sind 151 Gymnasien (darunter 89Obergymnasien) mit 2356 Professoren und 35,803 Schülern und 28Realschulen (darunter 21 Oberrealschulen) mit 557 Professoren und6816 Schülern. Theologische Lehranstalten gibt es 53,Rechtsakademien 11. U. besitzt gegenwärtig 2Universitäten und zwar in Budapest mit 173 Professoren und3679 Hörern und in Klausenburg mit 65 Professoren und 535Hörern (eine dritte Universität soll demnächsterrichtet werden). Außerdem hat auch Kroatien-Slawonien eineUniversität in Agram. In Budapest befindet sich auch daskönigliche Josephs-Polytechnikum, mit 47 Professoren undüber 600 Hörern sowie ein Rabbinerseminar. BesondereBildungsanstalten sind: das Ludoviceum (militärischeHochschule für Honvédoffiziere), die Landestheater- undMusikakademie, die Meisterschulen für Malerei und Bildhauerei,die Landes-Musterzeichenschule samt dem Zeichenlehrerseminar, dieKunstgewerbeschule und die Handelsakademie in Budapest; ferner dieBerg- und Forstakademie in Schemnitz, die nautische Akademie inFiume, die landwirtschaftliche Akademie in Ungarisch- Altenburg, 6Hebammenschulen sowie mehrere Handels-, landwirtschaftliche,Ackerbau-, Weinbau-, Berg-, Kunstschnitzerei- undHausindustrieschulen in verschiedenen Orten. An philanthropischenAnstal-

Ungarn (Ackerbau und Viehzucht).

1003

ten bestehen 3 Taubstummenanstalten, eine Blindenanstalt, eineIdiotenanstalt, 67 Waisen- und Rettungshäuser etc. Unter denwissenschaftlichen und Kunstinstituten sind zu erwähnen: die1830 errichtete ungarische Akademie der Wissenschaften, dieKisfaludy-, die Petösi-, die Geographische, die Geologischeund die Historische Gesellschaft, jene der Naturforscher undÄrzte, das geologische und das meteorologische Institut, dasköniglich ungarische statistische Landesbüreau und dasBudapester statistische Büreau, das Nationalmuseum mit seinenSammlungen und Galerien, das Landesgewerbemuseum, das Handelsmuseum(im Industriepalast), das Landesarchiv, dieLandesgemäldegalerie, die historische Porträtgalerie, derLandesrat für bildende Kunst, das Künstlerhaus und dieLandeskommission zur Erhaltung der Baudenkmäler (sämtlichin Budapest); ferner das Bruckenthal-Museum in Hermannstadt, dasstädtische Museum in Preßburg, das südungarischeMuseum in Temesvar, das kroatisch-slawonische Nationalmuseum inAgram, die Museen in Deva, Klausenburg, Maros Vasarhely etc. undzahlreiche wissenschaftliche Vereine, Sammlungen, Bibliotheken undArchive in fast allen, selbst in kleinern Städten. Unter denTheatern steht obenan das ungarische Nationaltheater und diekönigliche Oper in Budapest; ferner bestehen daselbst nochvier ungarische Theater (Volks-, Festungs- und zwei Sommertheater)und ein deutsches Theater und außerdem viele ständigeTheater in den größern Provinzstädten Arad,Hermannstadt, Kaschau, Klausenburg, Ödenburg, Preßburg,Raab, Stuhlweißenburg, Szegedin, Temesvar etc. (InHermannstadt, Ödenburg, Preßburg und Temesvar wird auchdeutsch gespielt.) In U. erscheinen 760 periodische, darunter 94politische, Zeitschriften (525 ungarische, 133 deutsche, 34kroatische, 11 slawische, 11 serbische, 15 rumänischeetc.).

Land- und Forstwirtschaft.

U., dessen agrarische Verhältnisse durch verschiedeneGrundentlastungsgesetze in den Jahren 1847/48, 1853, 1868, 1871 und1873 geregelt wurden, ist vorzugsweise ein Agrikulturstaat. DerGrund ist zumeist entweder Eigentum von Großgrundbesitzernoder aber kleiner bäuerlicher Besitz. In U. undSiebenbürgen ist das Pachtsystem oder die Verwaltung durchÖkonomiebeamte sehr entwickelt, in den Nebenländern fastganz fremd. In neuerer Zeit haben sowohl Staat als auchHerrschaften vielfach das englische "Farmersystem" eingeführt.Auf großen Gütern wird die Landwirtschaft rationellbetrieben, weniger von den Bauern, bei welchen insbesondere die"Dreifelderwirtschaft" gebräuchlich ist. Seit Aufhebung desUnterthanenverbandes wird der Mangel an ländlichen Arbeiternstets fühlbarer, und dies fördert auf großenGütern die Anwendung von Maschinen. Zur Hebung derLandwirtschaft hat der Landes-Agrikulturverein, von den Komitats-und vielen sonstigen landwirtschaftlichen Vereinenunterstützt, Bedeutendes beigetragen. Für einzelne Zweigesind auch Wanderlehrer bestellt. Die produktive Bodenflächedes ganzen Landes beträgt 53,3 Mill. Katastraljoch(früher nur 47,1) oder 30,7 Mill. Hektar (95,1 Proz.); hiervonentfallen auf Ackerland 22,4, auf Weinland 0,7, auf Gärten0,7, auf Wiesen 6,0, auf Weide 7,5, auf Röhricht 0,1 und aufWaldland 15,8 Mill. Katastraljoch. Unproduktiv sind 3,1 Mill.Katastraljoch. U., wo seit 1877 der bestehende, vielfachmangelhafte provisorische Kataster reguliert wurde, ist ein soreiches Getreideland, daß es nicht nur sein eignesBedürfnis an Cerealien vollkommen deckt, sondern auch demAusland bedeutende Quantitäten ablassen kann. Man baut Weizen,Roggen, Gerste, Hafer, Mais, Hirse, Heidekorn, ferner Kartoffeln,Spargel, Kohl, Rüben, Runkelrüben zur Zuckerfabrikation,Mohn, Wasser- und Zuckermelonen, Kürbisse, Gurken.Hülsenfrüchte aller Art. Obstkultur wird in vielenGegenden fleißig betrieben; das Ödenburger Obst bildetgedörrt undeingemacht einen bedeutenden Handelsartikel. Im W.gibt es ganze Kastanien-, im S., wo auch Feigen und Mandeln gezogenwerden, Pflaumenwälder. Besonders zahlreich sindWalnußbäume. Hinsichtlich des Weinbaues, eines derwichtigsten Produktionszweige Ungarns, nimmt es nach Frankreich dieerste Stelle in Europa ein (s. Ungarweine). Der Ertrag beläuftsich auf ca. 9, in guten Jahren auf 16 Mill. hl. Die Pflege desMaulbeerbaums zur Seidenzucht, für welche in Szegszard einkönigliches Seidenbauinspektorat besteht (in Pancsova undNeusatzstaatliche Seiden- und Lehrspinnereien), wird besonders inÖdenburg, Eisenburg, Tolna, Bacs-Bodrog und in derfrühern Militärgrenze betrieben. Von Manufaktur- undHandelspflanzen baut man Hanf, besonders in Bacs-Bodrog, Flachs, ammeisten in der Zips und in Saros, Safflor, Waid, Wau, Krapp undandre Farbepflanzen, etwas Safran, von Ölgewächsenaußer Lein besonders Raps und Rübsen; ferner Hopfen,einige Gewürzpflanzen, wie Kümmel, Fenchel, Senf, Anis,roten türkischen Pfeffer (Paprika) und Süßholz. Derungarische Tabak ist der Menge und Güte nach einHaupterzeugnis, dessen jährlicher Ertrag 1/2 - 2/3 Mill. metr.Ztr. beträgt. Die berühmtesten Tabaksorten liefern dieOrte: Vitnyed (Komitat Ödenburg), Veg (Komorn), Verpelet undDebrö (Heves), Glogovacz (Arad), Pereszleny (Hont), Nagysalu(Eisenburg), Csetnek (Gömör), Szendrö (Borsod) etc.In den ausgedehnten Waldungen gewinnt man großeQuantitäten Eicheln zur Schweinemast, Galläpfel,Knoppern, Rinden, Harze, Kohlen, Pottasche etc. In den ebenenholzarmen Gegenden brennt man Schilf, Rohr, Stroh und getrocknetenKuhmist. Die große Ausdehnung der Wiesen und Weiden,besonders im N., machen U. für die Viehzucht be-sondersgeeignet. In letzter Zeit hat sich die seit Jahrhundertenhervorragende Pferdezucht bedeutend gehoben, wozu dieberühmten Staatsgestüte zu Mezöhegyes (im Csanader),Kisber und Babolna (Komorner Komitat) und Fogaras (inSiebenbürgen) mit 2800 arabischen und englischen Pferden, 4Hengstedepots und 858 Beschälstationen mit 3968 Pferden imGesamtwert von 16,8 Mill. Gulden, über 100 großePrivatgestüte sowie die Wettrennen in Budapest,Preßburg, Ödenburg, Kaschau, Arad, Debreczin undKlausenburg mit Staatspreisen und Staatsprämien fürPferdezüchter nicht wenig beitragen. Die meiste Pferdezuchtfindet man im Landstrich von Bekes über Csanad und Torontalbis an die südliche Grenze, im Komitat Bacs-Bodrog, inSyrmien, im ehemaligen Haidukendistrikt und in Siebenbürgen.Die Gesamtzahl der Pferde betrug 1881: 1,8 Mill. (darunter 96,600Hengste). Das ungarische Hornvieh (weißhaarig, mit langen,gekrümmten Hörnern) ist in Bezug auf Arbeitskraft,Schnelligkeit, Mastfähigkeit, Fleischreichtum vorzüglich;dagegen ist die Ergiebigkeit und Güte der Milch geringer. Amstärksten ist die Rindviehzucht in den Komitaten am rechtenDonauufer und in den nördlichen wiesenreichen Komitaten;dagegen sind die früher so reichen Landstriche zwischen Donauund Theiß jetzt vieharm. In den Thälern und aufGebirgsabhängen findet sich das kleinhörnige undkurzfüßige Rind, im Komitat So-

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Ungarn (Forstwesen, Bergbau, Industrie).

mogy und in Siebenbürgen auch der Büffel. 1881 betrugder Hornviehbestand 4,6 Mill. Stück (darunter 39,000 Stiereund 93,000 Büffel). U. gehört zu den an Schafen reichstenLändern Europas; es wird nicht nur das grobwollige Zigaiaschafim Tiefland und das krauswollige im Gebirge gezüchtet, sondernseit mehr als 100 Jahren auch die edle Schafzucht betrieben (1881:9,2 Mill. Schafe, darunter 6 Mill. veredelte). Der jährlicheExport an Wolle beträgt über 1¼ Mill. metr. Ztr.Die Schweinezucht ist ausgedehnter als irgendwo in Mitteleuropa, ambedeutendsten in der ehemaligen kroatischen Militärgrenze, inden Komitaten Csanád, Zala, Somogy, Tolna, Baranya,Békés, Bihar, in Siebenbürgen und in einigenkroatisch-slawonischen Komitaten (Schweine 4½ Mill.Stück, jährliche Ausfuhr fast 700,000 Stück). DieGeflügelzucht (Hühner, Gänse, Enten,Truthühner) ist sehr verbreitet; an Federn werden gegen 15,000metr. Ztr. nach Deutschland, Holland und in die Schweizausgeführt. Groß ist der Reichtum an Fischen, besondersin der Theiß, Donau und den Seen. Man fängtvorzüglich Karpfen, Barben, Hausen, Störe, Lachsforellen,den Fogas etc. U. hat noch die reichsten Jagdreviere. Auf denFelsen der Tátra hausen selbst Gemsen, in den Wäldernder Marmaros Bären, und Wölfe werden in Menge erlegt. DieWaldungen sind reich an Rotwild, das auch gehegt wird. Ebenso gibtes schöne Fasanerien. Unzählbare Scharen von Vögeln,namentlich Sumpf- und Wasservögel, bevölkern diesumpfigen Schilfwälder längs der Donauufer. Trappenfinden sich in Menge in den Ebenen, Adler in den Felsgebirgen. InBezug auf Holzreichtum nimmt U. die vierte Stelle in Europa ein.Die Waldbestände (im N. meist Fichten und Tannen, im O.daneben auch viel Buchen, im Tiefland nur Akazien, Pappeln,Götterbäume und wenig Eichen, im S. vorzugsweise Eichenund Buchen) sind meist ärarische oder Eigentum derHerrschaften und Städte. Die Staatswälder werden inneuster Zeit sorgfältig kultiviert, im kleinern Waldbesitzdagegen wird viel Raubwirtschaft getrieben. Um die Hebung desForstwesens, zu dessen Regelung ein neues Forstgesetz erlassenwurde, hat sich der Ungarische Landesforstverein verdient gemacht.Die Ausbildung der Forstleute erfolgt an der Schemnitzer Montan-und Forstakademie.

Bergbau und Industrie.

Hinsichtlich seiner mineralischen Schätze gehört U. zuden reichsten Ländern Europas: es besitzt unerschöpflicheSalz-, Eisen- und Kohlenlager und ungemein reiche Kupfer-, Silber-,Gold- und andre Erzgänge. In Bezug auf edle Metalle nimmt esnach Rußland die nächste Stelle ein. Hauptsitz derGoldproduktion ist Siebenbürgen, dessen Bergwerke(Abrudbánya, Böröspatak, Almás,Offenbánya etc.) schon den Römern bekannt waren. Imeigentlichen U. sind reiche Gold- und Silberbergwerke in Kremnitz,Schemnitz, Nagy- und Felsöbánya etc.; außerdemwird in den Flüssen Aranyos, Maros, Szamos etc. Fluß-und Waschgold, Silber in großer Menge zu Schmöllnitz undOravicza gewonnen. Die reichsten und ältesten Kupferbergwerke,deren Ertrag sich jedoch mindert, sind in Margitfalva,Szepes-Igló, Schmöllnitz, Libethen, Nagybányaetc. in der Zips. Reiche Eisenerze finden sich in den KomitatenZips, Gömör und Abauj-Torna. Das meiste Blei wird imSchemnitzer Bergdistrikt, viel Nickel und Kobalt in Dobschau undLibethen, Antimon und Quecksilber bei Rosenau, Magurka undSchmöllnitz gewonnen. Von Edelsteinen verdient eine besondereErwähnung der Edelopal, dessen einzige Heimat U.(Staats-Opalgruben zu Vörösvágás imSároser und Nagy-Mihály im Zempliner Komitat) ist.Der größte dort gefundene Opal (im kaiserlichenNaturalienkabinett zu Wien) wird auf 2 Mill. Gulden geschätzt.Außerdem findet man Chalcedone, Granate, Hyacinthe,Amethyste, Karneole, Achate, Bergkristalle (Marmaroser Diamanten),Turmalin, Quarze und Quarzsand, Flußspat, Hornstein,Töpferthon und treffliche Porzellanerde an vielen Orten,Dachschiefer im Borsoder Komitat und in Marienthal beiPreßburg. Die besten Mühlsteine liefert Geletnek imBarser Komitat. Marmor wird in den Komitaten Zips, Komorn, Baranya,Veszprim, Abauj-Torna, Liptau etc. gebrochen. Außerdemgewinnt man Granit, Gneis, Porphyr, Basalt, Sand- und Kalkstein,Kreide, Gips, Talk, Serpentin, Asbest und Walkererde. Braunkohlenfinden sich in zahlreichen und mächtigen Lagernhauptsächlich im Brennberg bei Ödenburg; Steinkohlen beiFünfkirchen, in Anina-Steierdorf, Szekul und in Reschitza imKrasso-Szörényer Komitat, im Schylthal, inSiebenbürgen etc. Die ergiebigsten Salzbergwerke sind zuSzlatina, Rónaszek und Sugatag in der Marmaros sowie zuDeésakna, Torda, Parajd, Maros-Ujvar und Vizakna inSiebenbürgen. In Sóvár wird nur Sudsalz erzeugt.Die Salzproduktion, die in U. als Staatsmonopol betrieben wird,belief sich 1887 auf 1,598,983 metr. Ztr. Salpeter und Pottaschefinden sich an vielen Orten im natürlichen Zustand, am meistenzwischen der Theiß und dem Berettyó. Alaunsteinerzeugt man bei Nuczaly im Bereger Komitat. Torf wird inSumpfgegenden, besonders im Hanság, aber auch in der Zipsgestochen. Bergöl gibt es in der Marmaros, im Komitat Bihar,in Siebenbürgen, Kroatien etc., jedoch nur in geringer Menge.Bernstein findet sich auf der Magura in der Zips. Die Produktionder Bergwerke und Hütten in den Ländern der ungarischenKrone betrug 1887:

Menge Wert

Gold . . . 1862 kg 2597377 Guld.

Silber . . 17665 - 1588184 "

Kupfer . . 5394 metr. Ztr. 184370 "

Blei . . . 17792 " " 220384 "

Roheisen . 1927532 " " 6563599 "

Steinkohle . 7864081 " " 3788041 "

Braunkohle . 17234396 " " 4998150 "

dazu Antimon, Nickel und Kobalt, Bleiglätte ingeringern Mengen. Der Gesamtwert der Montanprodukte Ungarnsrepräsentierte 1887 einen Wert von 21 Mill. Guld., jener derSalzproduktion von 14 Mill. Guld. Mineralquellen zählt man inU. über 900, darunter berühmte Thermen undMineralwässer; hervorzuheben sind außer den unter"Karpathen" (S. 558) bereits angeführten Kurorten noch dieSchwefelquellen in Hárkány (Komitat Baranya),Tapolcza (Zala), Töplitz (Kroatien), Warasdin, die Thermen inKrapina (Kroatien) und die Jodquellen in Lippik (Slawonien). DieIndustrie Ungarns deckt bei allem Überfluß an Rohstoffennoch nicht den inländischen Bedarf, weil dieGewerbthätigkeit sich früher meist auf diegewöhnlichen Lebensbedürfnisse beschränkte und dasFabrikwesen sich erst seit kurzem eines Aufschwungs erfreut. InMetallen arbeiten zahlreiche Eisen- und Stahlhämmer,Eisengießereien (Budapest, Krompach, Rhonitz,Salgó-Tarján, Munkács, Anina-Steierdorf,Resitza und Dernö), Blech- und Drahtwerke, Armaturfabrikenetc.; den besten Stahl liefert Diós-Györ (BorsoderKomitat). Auch an Kupferschmieden, Gold- und Silberarbeitern istkein Mangel. Die Maschinenfabrikation ist besonders in Budapestent-

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Ungarn (Handel und Verkehr).

wickelt, wo es zahlreiche große Etablissem*nts gibt. Vonbeträchtlicher Ausdehnung ist die Töpferei; man fertigtschönes Fayencegeschirr; Schemnitz, Kremnitz, Debreczinliefern irdene Pfeifenköpfe; große Porzellan- undMajolikafabriken bestehen in Budapest, Fünfkirchen, Herend.Etwa 70 Glashütten (meist in Oberungarn) erzeugen geringereund feinere Glaswaren. Die chemische Industrie liefert vorzugsweiseSalpeter, Alaun, künstliche Farben, Soda, Pottasche,Stearinkerzen (Budapest und Hermannstadt), Glycerin, Seife,Zündwaren, Stärke, Leim, Tinte, Siegellack, Parfüme,Lacke, Teerprodukte, Schwefelsäure. Von besonderer Wichtigkeitsind die großen Petroleumraffinerien in Fiume,Siebenbürgen und Südungarn (Oravicza, Orsova). DerWaldreichtum des Landes hat überall eine lebhafteHolzindustrie hervorgerufen. Bauhölzer werdenfabrikmäßig, Hausgeräte von der sehr ausgebreitetenHausindustrie geliefert, welche auch Korbflechterei und in neuesterZeit auch Schnitzerei betreibt. Besonders entwickelt ist dieWagenfabrikation, ebenso auch Tischlerei, Stroh- und Rohrflechtereiund der Schiffbau. Unter den Handwerkern zeichnen sich dieZischmen- (Stiefel aus Korduan) und Schnürmacher,Kürschner, Riemer und Gerber aus. Spinnerei und Weberei sindim N. Hauptgegenstand der Hausindustrie; grobes Wolltuch erzeugenunzählige Tuchmacher, feinere Tuche einige größereFabriken; Erzeugnisse der Textilindustrie sind ferner: grobeDecken, Teppiche, Halinatücher für sogen. Halinas(Bauernmäntel) etc. Bedeutend ist die Lederfabrikation. Papierliefern über 70 Mühlen und einige große Fabriken(die größte in Fiume). Von größter Bedeutungist die Mühlenindustrie, deren Mittelpunkt Budapest ist. Imganzen Land gibt es über 25,000 Mühlen, darunter 500Dampf- und Kunstmühlen. Die Rübenzuckerfabrikation hatabgenommen, gegenwärtig bestehen in U. bloß 14 Fabriken(1871: 26), neue sind jedoch im Entstehen. Nagy-Surány undDiószeg (bei Neutra) verarbeiten jährlich 308,000, bez.454,000 metr. Ztr. Rüben. Von Wichtigkeit sind zahlreichegroße Spiritusfabriken (94), Branntweinbrennereien (95,366)mit einer jährlichen Gesamtproduktion (1887) von 90 Mill.Hektolitergraden, Rosoglio- und Likörfabriken und dieBierbrauereien (110) mit einer jährlichen Produktion von631,098 hl Bier, die größten in Steinbruch bei Budapest.Die Tabaksfabrikation ist Staatsmonopol.

Handel und Verkehr.

Der Handel, sowohl im Innern als nach außen, ist sehrlebhaft. Letzterer erfolgt von Fiume (s. d.) aus und denübrigen kroatisch-ungarischen Häfen an dem AdriatischenMeer, ferner auf der Donau und mittels der Eisenbahnen.Hauptgegenstände der Ausfuhr sind landwirtschaftlicheProdukte, Hilfsstoffe und Halbfabrikate, namentlich: Getreide,Mehl, Schweine, Schafwolle, Bau- und Werkholz, Wein, Weintrauben,Obst, Spirituosen, Kleidungsstücke, Putz- und Modewaren,Leder-, Eisen- und Zeugwaren, Möbel, Hausgeräte etc., undbei der Einfuhr: Industrieartikel, Kleider, Putz- und Seidenwaren,Kurz- und Schmuckwaren, Eisen- und andre Fabrikate, Leder undLederwaren, Kolonialartikel, Tabaksfabrikate etc. Dievolkswirtschaftlichen Interessen Ungarns weichen mehrfach von denender cisleithanischen Länder ab. U. ist als Agrikulturstaatnaturgemäß für den Freihandel gestimmt;Österreich dagegen möchte seine bedeutende Industriedurch Zölle schützen. Hohe Schutzzölle hättenfür U. nur dann einen Zweck, wenn es ein eignes Zollgebietbilden und dadurch seine eigne Industrie schützen könnte.Die Handelspolitik Österreich-Ungarns verteuert fürletzteres jene Fabrikate, die es importiert, und beschränktden Export seiner Rohprodukte. Deshalb sucht U. sich auch involkswirtschaftlicher Beziehung, in Bezug auf den Handel, Verkehrund Kredit von Österreich zu emanzipieren und hat insbesonderedie Entwickelung der eignen Industriezweige in letzter Zeit durchErrichtung neuer Unterrichtsanstalten, Museen, Gewerbeschulen undLehrwerkstätten sowie durch Gewährung vonSteuerfreiheiten und sonstigen staatlichen Begünstigungen zufördern getrachtet. Die ersten Handelsplätze sind:Budapest, Arad, Debreczin, Kaschau, Raab, Temesvar, Klausenburg,Kronstadt, Hermannstadt, Sissek, Essek etc. Bei dem Mangel guterLandstraßen in Mittelungarn haben die Eisenbahnen undFlüsse eine erhöhte Bedeutung; die Donau wird ganz, Drau,Save, Temes, Theiß werden teilweiset mit Dampfschiffenbefahren. Seit 1867 wurde der Eisenbahnbau sehr eifrig fortgesetzt,und jetzt sind Bahnen nach allen Richtungen hin im Betrieb, wovoninfolge der bereits durchgeführten Verstaatlichung, mitAusnahme der Österreichisch-Ungarischen Staatsbahn, derSüdbahn u. der Kaschau-Oderberger Bahnlinien sowie außereinigen kleinern Lokal- und Vizinalbahnen, mehr als die Hälfte(1888: 5184km) Staatseigentum ist. Die Hauptlinien sind: dieungarischen Staatsbahnen (von Budapest nach Bruck, Ruttka, Kaschau,Predeal, Arad-Tövis, Semlin-Belgrad, Fünfkirchen, sowiedie Linien Stuhlweißenburg-Graz, die Alföld-Fiumaner undzahlreiche andre Nebenlinien), die Kaschau-Oderberger Bahn, dieÖsterreichisch-Ungarische Staatsbahn (Wien-Budapest-Orsova,Temesvar-Bazias, Preßburg-Sillein, Trentschin-Vlarapaßetc.), die Südbahn (Wiener-Neustadt-Kanizsa-Barcs,Budapest-Pragerhof, Komorn -Stuhlweißenburg,Steinbrück-Agram-Sissek etc.), die Arad-CsanáderBahnen, die Arad-Temesvárer Bahn, die Nordostbahn(Szerencs-Marmaros-Sziget, Debreczin- Királyháza,Nyiregyháza-Ungvár, Sátoralja-Ujhely-Kaschauetc.), die Raab-Ödenburg-Ebenfurter Bahn und verschiedeneVizinal- und Lokalbahnen im ganzen Land. An der Spitze desgegenwärtig vereinigten Post- und Telegraphendienstes stehen 9Post- und Telegraphendirektionen, denen 3998 Postämter(darunter 241 ärarische) mit 21,910 Beamten und 1509Telegraphenstationen (680 Staats- und 829 Bahnstationen)unterstehen. Mit der Briefpost wurden 1886: 97 Mill. Briefe, 50,5Mill. Zeitungen und 41 Mill. sonstige Sendungen, mit der Fahrpost9,7 Mill. Pakete befördert. Der Postanweisungsverkehr betrug237 Mill. Gulden. Den seit 1886 eingeführtenPostsparkassendienst besorgen 2990 Postämter (jährlicheEinlage 3 Mill. Guld.). Die Länge der Telegraphenlinienbeträgt 19,000 km (1867: 6,7), auf denen jährlich 6 Mill.Telegramme befördert werden (1867: 0,6). Außer derHauptanstalt der Österreichisch- Ungarischen Bank in Budapestbestehen in U. noch 19 Filialen und 62 Nebenstellen, Geldinstitutein allen Städten und bedeutenden Orten, zusammen 127 Bank- undKreditinstitute, 397 Sparkassen und 454 Genossenschaften(Volksbanken, Vorschußvereine etc.). Gewerbe- u.Handelskammern in 12 größern Städten; Münzen,Maße und Gewichte sind die nämlichen wie inÖsterreich; seit 1876 sind die Metermaße und -Gewichteeingeführt.

Staatsverfassung und -Verwaltung.

Nach seinem frühern Umfang bestand U. aus den S. 1000bereits erwähnten vier Kreisen und den NebenländernKroatien und Slawonien. 1849 wurden beide letztere nebst demkroatischen Litorale und Fiume

1006

Ungarn (Staatsverfassung und Verwaltung, Rechtspflege,Finanzen).

sowie die Murinsel als eignes Kronland abgelöst, ferner dieKomitate Bács-Bodrog, Torontál, Temes undKrasó als Woiwodschaft Serbien und Temeser Banatausgeschieden und die 1835 zu U. geschlagenen Komitate Kraszna,Mittel-Szolnok und Zarand, der Distrikt Kövar und die StadtZilah wieder mit Siebenbürgen vereinigt. Seit 1867 istindessen U. nicht nur in seinem frühern Umfangwiederhergestellt, sondern demselben auch Siebenbürgen und dieSerbisch-Banater Militärgrenze einverleibt. Kroatien-Slawonienbehielt für die innere Verwaltung feine Autonomie mit eignerGesetzgebung und Landesregierung, an deren Spitze der Ban steht; inBezug auf Finanzen, Handel, Verkehr und Militärangelegenheitenaber wurde es mit U. unter Wiederherstellung der frühernadministrativen Einteilung vereinigt. 1876 erhielten die Gemeindenin U. eine neue Organisation, und auch die administrativeEinteilung wurde abgeändert; namentlich wurdeSiebenbürgen (s. d.) in 15 neugebildete Komitate eingeteiltund das Gebiet mehrerer ungarischer Komitate geregelt. In U.bestehen seitdem die S. 1001 angeführten 63 Komitate. Inkirchlicher Beziehung zerfällt U. in vierrömisch-katholische Erzbistümer. Dem Erzbischof von Gran(Fürst-Primas von U.) sind die BistümerStuhlweißenburg, Fünfkirchen, Veszprim, Steinamanger,Raab, Neutra, Neusohl und Waitzen, die Erzabtei Martinsberg sowiedie griechischkatholischen Bistümer Munkacs und Eperies, demErzbischof zu Erlau die Bistümer Rosenan, Ztps, Kaschau undSzatmar, dem in Kalocs a die Bistümer Großwardein,Csanad und Siebenbürgen, dem von A gram die BistümerBosnien-Syrmien und Zengg-Modrus sowie das griechischkatholischeBistum Kreutz untergeordnet. Die katholische Kirche desgriechischen Ritus hat ein Erzbistum zu Karlsburg mit dem Sitz inBlasendorf; diesem unterstehen die Bistümer Großwardein,Lugos und Szamos-Ujvar. Überdies erteilt der König von U.noch 34 Bischofstitel, mit welchen Sitz und Stimme im Öberhausverbunden sind. In U. gibt es 8600 geistliche Personen und 283Klöster der römisch-katholischen Kirche sowie über2600 geistliche Personen und Klöster dergriechisch-katholischen Kirche. Die griechisch-orientalische Kircheserbischer Nationalität hat ein Erzbistum in Karlowitz, mitBistümern in Ofen, Neusatz, Temesvár, Werschetz,Pakratz und Karlstadt, die griechisch-orientalische Kircherumänischer Nationalität hingegen ein Erzbistum inHermannstadt mit Bistümern in Arad und Karansebes. Zu beidenErzbistümern gehören 3600 geistliche Personen. Dieevangelische Kirche Helvetischer Konfession zählt vierSuperintendenzen in U. und einein Siebenbürgen; dieevangelische Kirche Augsburgischer Konfession ebenfalls vier in U.und eine in Siebenbürgen. Die Unitarier haben einen Bischof inSiebenbürgen.

U. bildet feit 1867 mit Österreich dieösterreichischungarische Monarchie, welche aus zweiunabhängigen und gleichberechtigten Staaten besteht. Jeder derbeiden Staaten besitzt seine besondere Verfassung, Legislative undVerwaltung. Beide sind jedoch nicht bloß durch die Person desMonarchen verkünden, sondern haben auch gemeinsameAngelegenheiten. Solche sind: die auswärtigen Angelegenheitenmit Einschluß der diplomatischen und kommerziellen Vertretungim Ausland; das Kriegswesen und die Kriegsmarine, jedoch mitAusschluß der Rekrutenbewilligung sowie der Dislozierung undVerpflegung der Armee; das Finanzwesen rücksichtlich dergemeinsamen Auslagen; schließlich die Gesetzgebung überZollwesen und indirekte Steuern sowie die Feststellung desMünzwesens und des Geldfußes. Die gesetzgebende Gewalthinsichtlich der gemeinsamen Angelegenheiten wird von zwei, vomösterreichischen Reichsrat und ungarischen Reichstag auf einJahr gewählten Delegationen ausgeübt, die aus je 60Mitgliedern bestehen (40 Abgeordneten und 20 Oberhausmitglieder).Der ungarische Reichstag besteht aus der Magnatentafel (Oberhaus)und aus dem Abgeordnetenhaus. Mitglieder des Oberhauses sind: diein U. begüterten großjährigen Erzherzöge, dieErzbischöfe, Bischöfe und einige Äbte undPröpste, die Reichswürdenträger und Kronhüter,die Öbergespäne, der Gouverneur von Fiume und dieungarischen Fürsten, Grafen und Barone, endlich zweikroatisch-slawonische Landtagsdeputierte und 50 vom König aufLebenszeit ernannte Mitglieder. Das Abgeordnetenhaus zählt 458Abgeordnete, wovon einer auf Fiume und 40 auf Kroatien-Slawonienentfallen. Die Munizipien (Komitate und königlicheFreistädte) sind in Wahlkreise eingeteilt, deren jeder einenAbgeordneten auf fünf Jahre wählt. Das aktive Wahlrechtbeginnt mit dem 20., das passive mit dem 24. Lebensjahr. DerReichstag wird in Budapest abgehalten. Der Präsident undVizepräsident der Magnatentafel werden vom König ernannt,den Präsidenten und die beiden Vizepräsidenten desAbgeordnetenhauses dagegen wählt dieses selbst auf diefünfjährige Dauer einer Legislatur. Die Abgeordnetenbekommen Diäten und Quartiergeld, die Mitglieder derMagnatentafel erhalten keine Diäten. Für KroatienSlawonien (s. d., S. 240) besteht ein besonderer Landtag. DieKomitate und größern königlichen Freistädtebilden sogen. Munizipien, an deren Spitze vom König ernannteQbergespäne sowie von den Munizipalausschüssengewählte Vizegespäne in den Komitaten undBürgermeisterin den Städten stehen. Vertreter derMunizipien sind die Munizipalausschüsse, welch e zurHälfte aus den Höchstbesteuerten (Viritisten), zurHälfte aus gewählten Mitgliedern bestehen; sie übendas Selbstverwaltungsrecht aus und wählen ihreAdministrativbeamten. Seit 1876 besteht in jedem Munizipium zurLeitung und Überwachung der ganzen Verwaltung einVerwaltungsausschuß aus 20 teils ernannten, teilsgewählten Mitgliedern. Die übrigen Städte undGemeinden (Städte mit geregeltem Magistrat, GroßundKleingemeinden) stehen unter der Aufsicht der Komitate. JedesKomitat ist in mehrere Stuhlrichteramtsbezirke geteilt. DieRegierung des Landes besteht aus zehn Ministern:Ministerpräsident, Minister des Innern, Finanzminister,Justizminister, Ackerbauminister, Handelsminister,Honvédminister, Minister für Kultus und Unterricht,für Kroatien und Slawonien und Minister bei Sr. Majestätdem König.

Die Rechtspflege ist seit 1867 von den Munizipien und derAdministration getrennt, und in den letzten Jahrzehnten sind vieleneue Gesetze geschaffen (Wechsel-, Handels- und Strafrecht, Zivil-und Strafprozeß, Konkurs-, Notariats- u. Advokatenordnungetc.). In U. mit Siebenbürgen und Fiume bestehen 380 Bezirks(Einzel-) Gerichte und 65 königliche Gerichtshöfe alsGerichte erster Instanz. In zweiter Instanz fungieren dieköniglichen Tafeln in Budapest und Maros-Vasarhely; obersteBehörde ist die königliche Kurie (oberster Kassations-und Gerichtshof) in Budapest. Die Finanzen sind seit 1868 in dasStadium fast völliger Selbständigkeit getreten. Zu dengemeinsamen Ausgaben trägt U. 30, seit Einverleibung

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Ungarn (Wappen etc.; Geschichte bis 1061).

(Provinzialisierung) der Militärgrenze 32, Österreichaber 70 (68) Proz. bei. Zur Verzinsung und Amortisation derösterreichischen Staatsschuld zahlt U. jährlich eineSumme von 30,312,000 Gulden. Trotz der steten Eröffnung neuerEinnahmequellen ist es nicht gelungen, das Defizit zu beseitigen.Einen Überblick über die Finanzen Ungarns gewährtfolgende Zusammenstellung (in Millionen Gulden):

Jahr Einnahmen Ausgaben Überschuß +

Defizit -

1869 233,7 184,1 +49,6

1874 203,0 247,3 -44,3

1879 222,2 256,4 -34,2

1884 311,9 329,0 -17,1

1885 326,0 337,9 -11,9

1886 329,6 343,6 -14,0

1887 328,2 350,2 -22,0

1888 332,6 345,0 -12,4

1889 350,7 356,8 - 6,1

Im J. 1889 entfallen von den Einnahmen auf:

Mill. Guld.

direkte Steuern 99,40

Indirekte 39,68

Zölle 0,48

Stempel u. Gebühren 27,64

Tabaksmonopol 46,25

Lotto 2,51

Salzmonopol 15,91

Staatsgüter 2,46

Staatswälder 6,54

Montan u. Münzwesen 15,28

Post und Telegraphen 2,35

Ungar. Staatsbahnen 39,90

Von den Ausgaben dagegen auf:

Mill. Guld.

den königl. Hofstaat 4,65

Reichstagsauslagen 1,25

gemeinsame Auslagen 23,02

Staatsschuldenquote 132,77

Grundentlastung 19,40

Auslagen der Gefälle 56,70

Post und Telegraphen. 9,23

Unterrichtswesen 6,70

Justiz 12,09

Honveds (Landwehr) 9,81

In U. bestehen 14 Finanz-, 3 Berg- und 6Staatsgüterdirektionen, ferner eine Lottodirektion. DieStaatsschuld beläuft sich (1889) auf 1130, dasStaatsvermögen auf 1273 Mill. Guld. Über das Heerwesenvgl. Österreichisch-Ungarische Monarchie, S. 501 f. - DasWappen Ungarns ist ein mit der (vom Papst Silvester um 1000 demKönig Stephan [s. d. 4)] geschenkten) Stephanskrone bedeckter,der Länge nach geteilter Schild, rechts mit vier roten undvier weißen Streifen, links im roten Feld mit silbernemPatriarchenkreuz, das aus einer auf dreifachem grünenHügel ruhenden Krone hervorgeht (s. Tafel"Österreichisch-Ungarische Länderwappen"). DieNationalfarben sind Grün, Weiß, Rot (s. Tafel "FlaggenI"). Der einzige ungarische Orden ist der Stephansorden (s. d.1).

[Litteratur.] Vgl. außer den ältern Werken vonChaplovics (Pest 1829) und Fenyes (s. d.): Palugyai,Geschichtliche, geographische und statistische Beschreibungen vonU. (ungar., das. 1855, 4 Bde.); I. Hunfalvy, PhysikalischeGeographie des ungarischen Reichs (ungar., das. 186365, 3 Bde.);"U. und Siebenbürgen in malerischen Originalansichten"(Stahlstiche von Rohbock, Text von Hunfalvy, Darmst. 1864, 3 Bde.);Keleti, Unser Land und sein Volk (ungar., Pest 1871); Grassauer,Landeskunde von Öfterreich-U. (Wien 1875); Schwicker, DasKönigreich U. (das. 1886); Kronprinz Rudolf,Österreich-U. in Wort und Bild (das. 1887 ff.); für dieethnographischen Verhältnisse: Czoernig, Ethnographie (das.1855, 3 Bde.); P. Hunfalvy, Ethnographie Ungarns (deutsch vonSchwicker, Budapest 1876); die betreffenden Teile des Sammelwerks"Die Völker Österreich-Ungarns" (Teschen 1881-86) undzwar Bd. 3 (Die Deutschen in U. und Siebenbürgen, vonSchwicker), Bd. 5 (Magyaren, von Hunfalvy), Bd. 6 (Rumänen,von Slavici), Bd. 10 (Slowenen, von Suman; Kroaten, von Stare), Bd.11 (Serben, von Stefanovics), Bd. 12 (Zigeuner, von Schwicker);Vambéry, Der Ursprung der Magyaren (Leipz. 1882);Löher, Die Magyaren und andre Ungarn (das. 1874); fernerUlbrich, Staatsrecht der österreichisch-ungarischen Monarchie(Freiburg 1884); Schwicker, Statistik von U. (Stuttg. 1876), unddie Veröffentlichungen des königlichen ungarischenStatistischen Büreaus; Ditz, Die ungarische Landwirtschaft(Leipz. 1867); Bedö, Wirtschaftliche Beschreibung derungarischen Staatsforsten (Pest 1878); Gutmann, UngarischesMontanhandbuch (Wien 1881); M. Wirth, U. und seineBodenschätze (Frankf. a. M. 1884); über Kurorte undHeilquellen die Werke von Wachtel (Ödenb. 1859) und Chyzer(Stuttg. 1887); Heksch, Führer durch U. und seineNebenländer (Wien 1882). Karten: Spezialkarte desKönigreichs U. (1:144,000 in 140 Blättern, seit 1869);Steinhauser, Orts- und Straßenkarte des Königreichs U.(l:1,296,000, 1882). Vgl. auch die bei Österreich, S. 498angegebenen allgemeinen Werke und Karten.

Gechichte.

U., das in der Römerzeit die Provinz Pannonien und einenTeil von Dacien bildete, war seit dem Verfall des römischenReichs das Ziel von Einfällen und dauernden Niederlassungenzahlreicher Völker (Germanen, Hunnen, Slawen, Avaren u. a.),von denen noch beträchtliche Trümmer vorhanden waren, alsum 890 die Magyar en (bei den Slawen Ugri, Ungri, bei den DeutschenUngarn benannt), aus ihren bisherigen Wohnsitzen zwischen Donau undDon von den Petschenegen verdrängt, in U. einfielen und esunter ihrem Herzog Almus und dessen Sohn Arpad 890-898 eroberten.Die Anfänge christlicher Kultur wurden von dem rohen Volkzerstört, das sein Nomadenleben auch in U. fortsetzte und nachVernichtung des großmährischen Reichs und nachZurückdrängung der bayrischen Herrschaft bis an die Ennsmit seinen schnellen Reiterscharen auf weiten Raubzügen dieNachbarlande, namentlich Italien und Deutschland, verwüstete.Erst ihre beiden Niederlagen durch die Deutschen bei Riade (933)und bei Augsburg (955) bändigten ihre zügelloseKriegslust und zwangen sie, hinter den Grenzen der ihnenentrissenen Ostmark sich zu einem seßhaften Leben zubequemen. Arpads Urenkel Geisa (972-997) und dessen Sohn Stephander Heilige (997 bis 1038) rotteten das Heidentum mit Feuer undSchwert aus und organisierten die christliche Kirche; Stephan nahmden Königstitel an, ließ sich mit der vom Papstgeschenkten Krone krönen (1001) und gab dem Reich eineVerfassung, durch welche die Krone im Geschlecht Arpads fürerblich erklärt und mit der höchsten richterlichen undvollziehenden Gewalt ausgerüstet, ferner Prälaten,Magnaten (hoher Adel) und niederer Adel als die privilegiertenStände anerkannt, aus den beiden ersten der Reichssenatgebildet und das Land in 72 Komitate (Gespanschaften) geteiltwurde. Unter Stephans Neffen, dem Sohn seiner Schwester Maria unddes venezianischen Dogen Otto Orseolo, König Peter, bewirkteder nationale Haß gegen die Fremdherrschaft des Italienersund gegen das Christentum eine Reaktion des rohen Heidentums; Peterwurde 1041 und nachdem er von Kaiser Heinrich III., der den anseiner Stelle gewählten heidnischen König Aba 1044besiegte, wieder zurückgeführt und 1045 inStuhlweißenburg mit U. belehnt worden war, 1046 von neuemvertrieben. Ihm folgte der Arpade Andreas, der das halb vertilgteChristentum aufrichtete und die deutsche Lehnshoheit wiederabschüttelte, aber 1061 von seinem Bruder Bela gestürztwurde, welcher die aufrührerischen Großenunterdrückte und das Christentum mit blu-

1008

Ungarn (Geschichte 1063-1527)

tiger Strenge befestigte. Nach seinem Tod (1063) erhielt mitdeutscher Hilfe Andreas' Sohn Salomo die Krone, wurde aber 1074 vonBelas Sohn Geisa vertrieben. Derselbe ließ sich 1075krönen, starb jedoch schon 1077 und hatte seinen BruderWladislaw zum Nachfolger, welcher 1088 Nordkroatien unter warf. Ihmfolgte fein Neffe Koloman (1095-1114), welcher 1102-12 Dalmatieneroberte, mit dem Papst 1106 ein Konkordat abschloß undtreffliche Gesetze über das Grundeigentum, die Finanzen unddas Gerichtswesen erließ. Die Regierungen Stephans II.(1114-31),Belas II., des Blinden (1131-41),und Geisas (1141-61)waren durch äußere Kriege und innere Unruhen bewegt.Nach des letztern Tod folgten durch die Einmischung desgriechischen Kaisers Manuel in die stets streitigeThronfolgeordnung längere Wirren, während deren nebenGeisas ältestem Sohn, Stephan III. (1161-73), noch zweiKönige existierten, bis endlich Geisas zweiter Sohn, Bela II:(1173 bis 1196), den Thron bestieg, der dem griechischenKaiserreich den Lehnseid leisten mußte; derselbe unterwarfKroatien und Dalmatien wieder und eroberte Bulgarien und Galizien,das fortan der Zankapfel zwischen U., Polen und Rußlandblieb. Sein Nachfolger war sein Sohn Emmerich (1196 - 1204), danndessen unmündiger Sohn Wladislaw (1204l205), der aber vonBelas III. jüngerm Bruder, Andreas II. (1205-35),verdrängt wurde. Unter diesem, der 1217 einen erfolglosenKreuzzug unternahm, erzwangen sich der Reichsadel 1222 in derGoldenen Bulle und 1231 auch der Klerus ausgedehnte Rechte undFreiheiten. Unter Bela IV. (1235-70) wurde U. 1241 von den Mongolenfurchtbar verwüstet und entvölkert. Daher wurdenzahlreiche deutsche und italienische Ansiedler in das Land gezogenund der Bürgerstand durch Vermehrung der Freistädtegehoben. 1244 wurde Bosnien der ungarischen Herrschaft gesichert,und nach andern Seiten hin wurden die Grenzen Ungarns erwettert.Nach Stephans V. (1270-72) frühem Tod folgte seinunmündiger Sohn, Wladislaw IV., der Kumane, nach dessenErmordung (1290) Andreas' II. Enkel Andreas III. auf den Thronerhoben wurde. Mit ihm erlosch 14. Jan. 1301 der Mannsstamm derArpaden.

Zwar begünstigte ein Teil der ungarischen Stände denSohn von Andreas' Tochter, Wenzel III. von Böhmen, der alsWladislaw V. gekrönt wurde, aber die unhaltbare Krone demHerzog Otto von Bayern überließ. Die Mehrheit wurde aberschließlich für den vom Papst und vom deutschenKönig begünstigten Karl Robert von Neapel aus dem HausAnjou, der mütterlicherseits mit den Arpaden verwandt war,gewonnen, welcher, wiederholt von seinen Anhängern ausgerufenund gekrönt, 1308 allgemeine Anerkennung fand. Karl I. Robert(1308-42) führte die abendländischen höfischenSitten, Pflege der Wissenschaften, geregeltes Gerichtsverfahren u.dgl., aber auch Luxus und Prachtliebe beim Adel ein; auch eroberteer 1314 das venezianische Dalmatien. Nach ihm bestieg seinältester Sohn, Ludwig I., der Große (1342-82), denThron, der vorübergehend auch über Neapel herrschte und1370 zum König von Polen gewählt wurde. Derselbebehauptete und erweiterte in glücklichen Kriegen dieäußere Macht des Reichs, vollendete die Bekehrung derKumann zum Christentum, regelte das Erbrecht der adligenGüter, gab den Städten eigne Gerichtsbarkeit undHandelsfreiheit und gründete 1367 eine Universität inFünfkirchen sowie zahlreiche Schulen. Er hatte zu seinerNachfolgerin in U. seine Tochter Maria ernannt, welche sich mit demLuxemburger Siegmund vermählte. Die Großen riefen jedochihren Vetter, Karl den Kleinen von Neapel, als König aus. Erstnach dessen Ermordung (1386) erlangte Siegmund mehr und mehrAnerkennung und behauptete sich auch nach Marias Tod (1392). Als eraber auf dem Kreuzzug gegen die Türken 1396 bei Nikopolisbesiegt wurde, empörten sich die Großen gegen ihn undnahmen ihn 1401 sogar in Ofen gefangen. Da sie sich jedochüber die Wahl eines andern Königs nicht verständigenkonnten, ward Siegmund 1404 allgemein als König wiederanerkannt, gab dem Land zur Verteidigung gegen die Türken einebessere Heeresorganisation und berief 1405 einen Nationalkonvent,zu dem er zum erstenmal Abgeordnete der Städte heranzog, diesich mit dem niedern Adel zur Ständetafel (neben derMagnatentafel der Prälaten und des hohen. Adels)vereinigten;er erwarb Kroatien und Dalmatien wieder und brachte auch Bosnienunter ungarische Oberhoheit. Siegmund, seit 1410 auch Kaiser, starb1437 ohne männliche Erben und hinterließ seine Reiche U.und Böhmen seinem Schwiegersohn Albrecht von Österreich(als deutscher König Albrecht II.), der aber schon 1439 starb.Die ungarischen Stände erkannten nun nicht dessen nachgebornenSohn Wladislaw Posthumus als König an, sondern beriefen wegender wachsenden Türkengefahr den polnischen KönigWladislaw III. (V.) auf den Thron, der aber schon 10. Nov. 1444 inder großen Schlacht bei Warna gegen die Türken Sieg undLeben verlor. Nun wurde Wladislaw (VI.) Posthumus zum Königerklärt und der Nationalheld Johann Hunyades, welcher dieTürken glänzend besiegt hatte, 1446 zum GubernatorHungariae oder Reichsverweser ernannt, der zwar 17.-20 Okt. 1448gegen die Türken die Schlacht auf dem Amselfeld verlor, aber14. Juli 1456 an der Spitze eines Kreuzheers bei Belgradglänzend siegte. Nach Wladislaws Tod (November 1457)wählte der Reichstag zu Pest 1458 Hunyades' Sohn MatthiasCorvinus zum König; nur ein kleiner Teil der Großenstellte den Kaiser Friedrich III. als Gegenkönig auf. Matthiasbeförderte im Innern Bildung und Wohlstand und focht nicht nurglücklich gegen die Türken, sondern auch gegen denKönig Georg Podiebrad, an dessen Stelle er sich 1469 inOlmütz zum König von Böhmen krönen ließ,und entriß Friedrich IIL sein Erbland Niederösterreich.Er starb 6. April 1490 in Wien, worauf der Reichstag die KroneWladislaw V.(VI:) von Böhmen, aus dem Haus der Jagellonen,übertrug, welcher mit Kaiser Maximilian I. 1415 eineDoppelheirat seiner Kinder Ludwig und Anna mit dessen Enkeln Mariaund Ferdinand sowie eine Erbverbrüderung abschloß. Aufseinen Befehl ward 1512 das erste umfassende Gesetzbuch Ungarns,das Tripartitum, zusammengestellt, das, 1517 von Verböczyvollendet, bis auf die neueste Zeit als Corpus juris hungaricum inGeltung war. Ein Bauernaufstand (der "Kuruzzenkrieg") wurde 1514von Johann Zapolya unterdrückt. Wladislaws Sohn Ludwig II.(1516-1526) fiel 29. Aug. 1526 in der unglücklichen Schlachtbei Mohacs gegen Sultan Suleiman H., welcher darauf ganz U. mitseinen Heerscharen überschwemmte.

Ungarn unter den Habsburgern.

Da Ludwig II. keine Nachkommen hinterließ, entstand einverderblicher Zwist über die Thronfolge. Auf Grund der mit demHaus Habsburg geschlossenen Erbverbrüderung wählte derReichstag zu Preßburg 16. Dez. 1526 den Erzherzog Ferdinandvon Österreich zum König; Ferdinand wurde, nachdem er1527 die Verfassung beschworen, zu Stuhlweißenburg

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Ungarn (Geschichte 1527-1848).

gekrönt. Ein Teil der Großen rief aber Johann Zapolyazum König aus, welcher sich den Türken in die Arme warf.Im Vertrag von Großwardein (25. Febr. 1538) ward U. sogeteilt, daß Zapolya Siebenbürgen und U. jenseit derTheiß, Ferdinand den Nordwesten erhielt, während dermittlere größte Teil des Landes nebst Ofen, wo einPascha residierte, im Besitz der Türken verblieb; ja, dieseversuchten, von Zapolya und seinem Sohn und Nachfolgerunterstützt, immer wieder, ganz U. sich zu unterwerfen; dazukamen unter Ferdinands Nachfolgern Marimilian II. (1564-76), RudolfII. (1576-1608), Matthias (1608-19), Ferdinand II. (1619-37) undFerdinand III. (1637-57) religiöse Streitigkeiten, indem dieseit 1561 eingewanderten Jesuiten die trotz aller Bedrückungenzahlreichen Protestanten auszurotten suchten und sie dadurch zuAufständen reizten. 1604 erhoben sich die Protestanten unterStephan Bocskay und erzwangen 1606 einen Frieden, in dem dieReligionsfreiheit in beschränktem Maß gewährleistetund Bocskay als Fürst von Siebenbürgen anerkannt wurde.Siebenbürgen behauptete seine Unabhängigst auch unterBethlen Gabor und den Raköczys und blieb neben der Furcht vorden Türken eine Stütze der Protestanten. Leopold L(1657-1705) erließ, sowie er einen Vorteil über dieTürken errungen hatte, sofort die strengsten Maßregelngegen die Ketzer in U. Dies veranlaßte 1665 eine großeMagnatenverschwörung gegen die habsburgische Herrschaft, dieerst 1671 grausam unterdrückt wurde. Ein neuer AufstandEmmerich Tökölys wurde von einem Einfall der Türkenunter Kara Mustafa unterstützt, der 1683 bis vor Wien vordrangund es belagerte. Seine Niederlage (12. Sept.) entschied dasSchicksal Ungarns: die kaiserlichen Heere drangen siegreich in U.ein, erstürmten 1686 Ofen und machten nach 145jährigerDauer der Türkenherrschaft daselbst ein Ende. Durch dasBlutgericht von Eperies (1687), durch welches Leopold die Siegeseiner Feldherren schändete, wurden Hunderte vomprotestantischen Adel dem Henker überliefert und dessenWiderstandskraft gebrochen. Hierauf erlangte der Kaiser fürsein Haus auf dem Preßburger Reichstag 1687 die Erblichkeitder ungarischen Krone und beseitigte aus der Goldenen Bulle dieKlausel wegen des Widerstandsrechts, bestätigte aber imübrigen die alte ungarische Verfassung. Im Frieden vonKarlowitz (1699) gaben die Türken ganz U. mit Ausnahme desBanats sowie Siebenbürgen heraus, und nachdem ein neuerKuruzzenaufstand unter Franz Rakocz von Joseph I. (1605-11) durchden Szatmarer Frieden beendigt worden, erlangte Karl VI. (1711-40)infolge der Siege des Prinzen Eugen im Passarowitzer Frieden 1718auch das Banat sowie die Kleine Walachei und einen Teil Serbiensmit Belgrad. Letztere Lande gingen allerdings nach einem neuenunbesonnen unternommenen und ungeschickt geführtenTürkenkrieg (1737-39) wieder verloren, und die Grenzen Ungarnswurden so festgestellt, wie sie noch heute sind.

Nach Karls Tod bestieg 20. Okt. 1740 kraft der vom ungarischenReichstag anerkannten Pragmatischen Sanktion von 1723 seine TochterMaria Theresia (1740-80) den Thron. In dem Kampf um ihr Erbeerhoben sich die Ungarn begeistert für ihren "König"Maria Theresia und verhalfen ihr zum Sieg. Die Kaiserin widmetedaher U. ihre besondere Fürsorge, beschützte dieProtestanten, regelte 1765 die Unterthanenverhältnisse durchdas Urbarium u. dgl. Joseph II. (1780-90) hob die Leibeigenschaftauf, erließ ein Toleranzedikt, zog die Klöster ein,beseitigte die Vorrechte des Adels, beschränkte denZunftzwang, vernichtete die Komitatseinteilung, führte dasDeutsche als Geschäftssprache ein etc. und erbitterte durchrücksichtslose Verletzung der nationalen und Standesvorurteilealle Stände so sehr, daß er, um einem allgemeinenAufstand vorzubeugen, 28. Jan. 190 mit Ausnahme der beiden erstenReformen alle Maßregeln zurücknehmen mußte. Auchder neue Türkenkrieg, den er 1788 im Bund mit Rußlandunternahm, war erfolglos und verschaffte U. im Frieden von Sistowa(4. Aug. 1791) nur den Besitz von Alt-Orsova. Josephs NachfolgerLeopold II. (1790-92) berief sofort zur Versöhnung derGemüter einen Reichstag (den ersten seit 25 Jahren) nach Ofen.Franz I. (1792-1835) lenkte dagegen wieder ganz in dieabsolutistischen Bahnen ein und berief Reichstage nur, um sich Geldund Mannschaften für die fortwährenden Kriege gegenFrankreich, welche U. zwar nur vorübergehend berührten,ihm aber große Opfer auflegten, bewilligen zu lassen. Nachwiederhergestelltem Frieden wurde lange kein Reichstag berufen und1820 eigenmächtig eine neue Rekrutierung angeordnet und dieSteuern auf mehr als das Doppelte erhöht. Erst 1825 tratwieder ein Reichstag zusammen, weil die Ausführung jenerMaßregeln auf Widerstand stieß. Der Reichstagbewilligte sofort das geforderte Truppenkontingent und dieErhöhung der Steuern, verlangte aber, daß der Königsich verpflichte, ohne Mitwirkung des Reichstags keine Steuern zuerheben und denselben alle drei Jahre einzuberufen. Die Oppositiondes Reichstags, geführt von Männern wie Szechenyi,erstrebte neben einer modernen, wirklich konstitutionellenVerfassung auch nationale Ziele, namentlich offizielle Anerkennungder magyarischen Sprache. Zu diesem Zweck ward 1825 eine ungarischeAkademie errichtet und das Magyarische von den höhernStänden als Umgangssprache gewählt. Die Regierungbetrachtete diese Bestrebungen als unschädlich und ließdie Zulassung des Magyarischen als Geschäftssprache zu,widersetzte sich aber entschieden der Forderung liberaler Reformenund beantwortete die liberalen Regungen in der Litteratur undPresse mit Einsperrung der Unruhstifter; sie stützte sichhierbei auf eine ziemlich starke konservative Partei unter GrafAurel Dessewffy, welche für ihre Standesvorrechte undInteressen eintrat. Aus dem Gegensatz dieser konservativen zu derliberalkonservativen Partei unter Szechenyi und der eigentlichenOppositionspartei unter Ludwig Batthyányi und Kossuthentwickelte sich, namentlich seit der Thronbesteigung Ferdinands I.(1835-48), ein lebhafter Parteikampf auf den Reichstagen, durchwelchen das Volk politisch aufgeklärt und geschult und dervaterländische Sinn bedeutend gehoben wurde. Die Liberalenerrangen Sieg auf Sieg: 1840 den Erlaß einer Amnestie, 1843die Zulassung Nichtadliger zu den bisher dem Adel vorbehaltenenÄmtern. Den Reichstag von I847 eröffnete KönigFerdinand 12. Nov. mit einer Rede in magyarischer Sprache.

Die ungarische Insurrektion und ihre Folgen.

Als die Februarrevolution von 1848 der liberalen Bewegung inganz Europa einen mächtigen Anstoß gab, trat dieOpposition offen mit dem Endziel ihrer Wünsche, einer neuenfreisinnigen Konstitution und einem selbständigen ungarischenMinisterium, hervor. Diese Forderungen wurden auf Antrag Kossuths16. März in einer Adresse an den Kaiser ausgesprochen und nachÜberreichung derselben sofort bewilligt. Der Palatin ErzherzogStephan ward zum Stellvertreter des Kaisers für U.,Batthyányi zum

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd

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Ungarn (Geschichte 1848-1849).

Ministerpräsidenten ernannt. Die Roboten wurdenabgeschafft, der Zehnte durch Verzicht des Klerus beseitigt,gleiche Besteuerung, die Bildung einer Nationalgarde,Preßfreiheit und Schwurgerichte, endlich Umgestaltung desReichstags zu einer wirklichen Volksvertretung beschlossen. DerKaiser genehmigte alle diese Beschlüsse, als er den Reichstag11. April schloß, und das Ministerium, welches seinen Sitznach Pest verlegte, begann sofort die Ausführung derselbensowie eine straffere Einigung aller Länder der Stephanskrone.Die Unduldsamkeit der herrschsüchtigen Magyaren rief aberbeiden nichtmagyarischen Völkern Widerstand hervor. Namentlichdie Kroaten sagten sich völlig von U. los und wähltenJellachich zum Banus. Der neugewählte ungarische Reichstag,welcher 5. Juli 1848 in Pest durch den Palatin eröffnet wurde,bewilligte dem Ministerium sofort 200,000 Mann Landwehr und 42Mill. Gulden zur Unterdrückung der slawischenLostrennungsgelüste. Aber der Hof, ermutigt durch die Siege inItalien, verweigerte die Genehmigung dieser Beschlüsse; 14.Aug. wurde dem Erzherzog Stephan die Vollmacht der Stellvertretungentzogen, und als der Reichstag auf Kossuths Antrag eine Deputationvon l20 Mitgliedern nach Wien schickte, welche energischesEinschreiten gegen den kroatischen Ausstand, Verlegung desHoflagers nach Pest und Rücksendung aller ungarischenRegimenter in die Heimat verlangte, wurden diese Forderungen 9.Sept. abgelehnt und der bisher verleugnete Jellachich in seineEhren und Würden wieder eingesetzt. Der geheimen Zustimmungdes Wiener Hofs sicher, rückte Jellachich 11. Sept. mit demkroatischen Heer über die ungarische Grenze, indem er in einerProklamation die Errichtung eines österreichischenGesamtstaats als sein Ziel verkündete. Die PesterNationalversammlung ernannte den Erzherzog Stephan zumOberbefehlshaber der ungarischen Armee und übertrug, alsdieser 25. Sept. auf Verlangen des Hofs sein Amt niederlegte, dieLeitung der Verteidigung einem Ausschuß unter KossuthsVorsitz. Der vom Kaiser zum Oberkommandanten von U. ernannte GrafLamberg wurde von der Nationalversammlung nicht anerkannt und 28.Sept. vom Pöbel auf der Brücke zwischen Ofen und Pestermordet. Damit war der offene Krieg erklärt; 29. Sept. kam esbei Velencze zum ersten Treffen zwischen Kroaten und Ungarn.Während die Ungarn sich mit der revolutionären Oppositionim Wiener Reichsrat in Verbindung setzten, hob ein kaiserlichesManifest vom 3. Okt. die ungarische Nationalersammlung und ihreBeschlüsse auf und ernannte Jellachich zum Alter ego desKaisers in U. Der Wiener Oktoberaufstand (s. ÖsterreichischUngarische Monarchie, Geschichte, S. 518) verzögerte diekriegerischen Maßregeln gegen U.; aber da die Ungarn Wien zuspät und bloß mit 18,000 Mann zu Hilfe kamen, welche 30.Okt. bei Schwechat zum Rückzug gezwungen wurden, fiel dieHauptstadt 3l. Okt. in die Gewalt Windischgrätz, welcher derungarischen Armee eine 14tägige Frist zur Niederlegung derWaffen stellte und nach deren erfolglosem Ablauf Mitte Dezember dieKriegsoperationen gegen U. begann; um dieselbe Zeitverschärfte der ungarische Reichstag den Konflikt, indem er15. Dez. 1848 die Abdankung Kaiser Ferdinands fürungültig erklärte und gegen die Thronbesteigung FranzJosephs Protest erhob. Windischgrätz rückte 18. Dez. inPreßburg ein; Jellachich drang nach einem Gefecht mitGörgei bis Wieselburg vor und schlug Perczel 29. Dez. beiMór; nur in Siebenbürgen kämpfte der Pole Bem mitGlück und behauptete das untere Theißgebiet. DieHauptstadt Ofen Pest wurde 5. Jan. 1849 von den Ungarngeräumt, und der Reichstag und derLandesverteidigungsausschuß schlugen ihren Sitz in Debreczinauf. Nur die Unfähigkeit Windischgrätz', der in dem ihmunerwarteten und unverständlichen Rückzug der Ungarneinen tief angelegten Plan argwöhnte und daher Bedenken trug,kühn vorzudringen, gab den Ungarn Zeit, ihre Streitkräftezu vermehren und zu sammeln. Görgei, der sich in die Karpathenzurückgezogen hatte, nötigte den aus Galizien bis Kaschauvorgedrungenen General Schlik zum Rückzug und stellte dieVerbindung der ungarischen Armeen untereinander und mit derRegierung in Debreczin her. Den Oberbefehl über die gesamteungarische Armee erhielt der Pole Dembinski, der aber im Kriegsratmit einer starken Opposition unter Görgei zu kämpfenhatte. Dembinski verlor 27. Febr. die Schlacht von Kapolna gegenWindischgrätz, dem es gelang, sich mit Schlik zu vereinigen,und mußte sich hinter die Theiß zurückziehen.Wiederum erlaubte Windischgrätz' Unthätigkeit derungarischen Regierung, ihre Rüstungen zu vollenden undinsgesamt 112 Infanteriebataillone und 6 Husarenregimenter neuaufzustellen. Mit dem reorganisierten und verstärkten Heererrang der neue Oberbefehlshaber Görgei eine Reihe vonglänzenden und erfolgreichen Siegen bei Gödöllo (6.April), Waitzen (9. April), Nagy-Sarlo (19. April) und Mocsa (27.April) über Windischgrätz und nach dessen Abberufungüber Welden. Die Österreicher räumten 24. April Pestund zogen sich in Unordnung auf Preßburg zurück. Auchaus Siebenbürgen und demBanat wurden die österreichischenTruppen durch Bem und Perczel vertrieben.

Durch diese Siege verleitet, beschloß der Reichstag inDebreczin 14. April auf Kossuths Antrag die Absetzung derhabsburg-lothringischen Dynastie und die völligeSelbständigkeit des alle Nebenländer umfassendenungarischen Staats. Dieser Beschluß, welcher nebst derErnennung Kossuths zum Gubernator (Kormanyzo) 15. April in einembesondern Manifest der Nation verkündet wurde, entzog denUngarn den sichern Rechtsboden und störte die bisherigeEinmütigkeit der Nation; Görgei mißbiligte ihnentschieden und hielt sich auch in der Kriegführung streng andie Verteidigung der ungarischen Verfassung und Gesetze,unterließ es daher auch, mit seinem siegreichen Heer nachMähren und Österreich vorzudringen und sich mit dendortigen unzufriedenen Elementen zu vereinigen. Er unternahmvielmehr die Belagerung Ofens, das 21. Mai erstürmt wurde,worauf Regierung und Reichstag nach Pest zurückkehrten, dessenBesitz für den eigentlichen Gang des Kriegs nutzlos war. Dieösterreichische Regierung hatte aber jetzt einen berechtigtenGrund, die Ungarn für Revolutionäre zu erklären unddie Hilfe Rußlands für die Sache der Legitimitätanzurufen. Der Zar Nikolaus leistete dieselbe bereitwilligst, undsofort rückten russische Truppen in Siebenbürgen ein; dieHauptarmee unter Paskewitsch, 100,000 Mann stark, überschrittvon Galizien aus die Karpathen. Auch Öfterreichverstärkte seine Streitkräfte und stellte an deren Spitzeden General Haynau, einen rücksichtslos harten, aberenergischen Mann. Die ganze gegen U. verfügbare reguläreStreitmacht belief sich auf 275,000 Mann mit 600 Geschützen,welchen die Ungarn nur 135,000 Mann entgegenstellen konnten.Während Bem in Siebenbürgen der Übermacht erlag,Jellachich 7. Juni Perczel besiegte und Peterwardeineinschloß, Haynau 28. Juni Raab erstürmte, bliebGör-

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Ungarn (Geschichte 1849-1865).

gei hartnäckig bei Komorn stehen, lieferte daselbst noch 2.Juli eine unentschiedene Schlacht und verließ es erst 12.Juli, nachdem 9. Juli die Regierung zum zweitenmal Pest hatteverlassen müssen und nach Szegedin geflohen war. Am 14. Julizogen die Österreicher wieder in Pest ein. Die Siege Vettersüber Jellachich bei Hegyes (14. Juli) und Görgeisüber die Russen bei Waitzen (17. Juli) konnten gegen dieÜbermacht nichts mehr nützen. Haynau rückte gegenSzegedin vor, welches die Ungarn aufgeben mußten, und schlugDembinski 5. Aug. bei Szöreg, Bem 9. Aug. bei Temesvar.Kossuth legte darauf 11. Aug. in Arad die Leitung der Regierungnieder und übertrug Görgei, der inzwischen mit seinerArmee, das linke Theißufer abwärts marschierend, in Aradangelangt war, die Diktatur. An der Möglichkeit fernernWiderstandes verzweifelnd, faßte der neue Diktator,übrigens mit Vorwissen und Zustimmung der Regierung, denBeschluß, sich nicht den verhaßten Österreichern,sondern den Russen zu ergeben, und streckte 13. Aug. mit 22,000Mann bei Vilagos vor General Rüdiger bedingungslos die Waffen.Ihm folgten 16. Aug. Oberst Kazinczy mit 10,000 Mann, 17. Aug.Damjanich in Arad u. a.; nur Komorn wurde von Klapkahartnäckig verteidigt, bis es 2. Okt. eine ehrenvolleKapitulation erlangte. "U. liegt zu den Füßen Ew.Majestät!" schrieb Paskewitsch an den Zaren.

Daß die Ungarn die Unterwerfung unter den hochmütigenZaren der direkten Verständigung mit der österreichischenRegierung, welcher sie übrigens von Rußland auf Gnadeoder Ungnade überliefert wurden, vorzogen, war für dieÖsterreicher beleidigend und reizte ihren Zorn aufsäußerste. Von den gefangenen Häuptern derInsurrektion (mehreren, wie Kofsuth u.a., war die Flucht nach derTürkei geglückt) wurde nur Görgei auf russischeIntervention verschont; 13 Generale und Obersten wurden auf HaynausBefehl 6. Okt. in Arad teils erschossen, teils gehenkt, LudwigBatthyanyi und andre vornehme politische Führer in Pest zumTode durch den Strang verurteilt. Den Hinrichtungen folgtenzahllose Verurteilungen zu mehrjähriger Kerkerhaft. Erst imJuli wurde Haynau, der das Standrecht mit blutiger Strengehandhabte, abberufen. Nachdem der Kaiser im Herbst 1851 denErzherzog Albrecht zum Gouverneur von U. ernannt und 1852 selbstdas Land besucht hatte, wurde den kriegsgerichtlichen Prozessen einEnde gemacht und eine teilweise Amnestie erlassen. Die ungarischeVerfassung wurde für verwirkt erklärt und U. zu einembloßen Kronland des neuen österreichischen Gesamtstaatsumgewandelt, die Nebenländer Siebenbürgen, Kroatien undSlawonien und das Temeser Banat von der ungarischen Krone getrenntund zu selbständigen Kronländern erhoben. Über U.ergoß sich ein Strom meist slawischer Beamten, welche dasLand in den zentralisierten Staat einfügen und die Reaktiongegen die liberalen Neuerungen durchführen sollten. 1853wurden österreichische Justiz und Verwaltung boktroyiert.Für die Regelung des Verhältnisses zwischen denGrundbesitzern und den frühern Grundholden, des sogen.Urbarialverbandes, wurden zweckmäßige Einrichtungengetroffen; für die materielle Entwickelung des Landes zeigtesich die Regierung bemüht; auch wurden nach einem längernBesuch des Kaisers 1857 die konfiszierten Güter derkriegsrechtlich Verurteilten zurückgegeben und die ungarischeSprache in Schule und Gericht zugelassen. Die Nation, durch diefehlgeschlagene Insurrektion niedergedruckt und erschöpft,setzte der Regierung ihren oft erprobten passiven Widerstandentgegen und beharrte auf dem Verlangen nach Wiederherstellung derVerfassung. Selbst fegensreiche kaiserliche Verordnungen, wie dasProtestantenpatent vom 1. Sept. 1859, welches für dieevangelische Kirche in U. eine auf dem Gemeindeprinzip beruhendevortreffliche Verfassung einführte, wurden von den Ungarn alsverfassungswidrig zurückgewiesen.

Wiederherstellung des ungarischen Staats.

Die Notlage der Monarchie nach dem italienischen Krieg von 1859zwang die Regierung zur Nachgiebigkeit: nachdem Erzherzog Albrechtdurch den Ungarn Benedek ersetzt worden, wurde durch dasOktoberdiplom vom 20. Okt. 1866 die alte Verfassung Ungarns vor1848 im wesentlichen wiederhergestellt und der Landtag zur Beratungeines neuen Wahlgesetzes berufen, welches eine Vertretung allerStände ermöglichen sollte. Die ungarische Hofkanzlei, dieKomitatsverwaltung, die ungarische Justiz mit der Curia regia unddem Judex cnriae in Pest, das Amt eines Tavernicus, die ungarischeSprache als Amtssprache wurden wiederhergestellt. Die fremdenBeamten mußten das Feld räumen, die deutschen Gesetzewurden für aufgehoben erklärt. Alle dieseZugeständnisse wurden von den Ungarn aber nur alsAbschlagszahlung angenommen, als Preis der Versöhnung dievöllige Wiederherstellung des alten Rechtszustandes mitEinschluß der Gesetze von 1848 und eine Amnestie gefordert.Im Februar 1861 berief die Regierung gleichzeitig mit derVerkündigung einer neuen Verfassung für den Gesamtstaatden Landtag nach dem Wahlgesetz von 1848 ein; derselbe wurde 6.April eröffnet. Das Unterhaus, in welchem der Schwerpunkt derVerhandlungen lag, spaltete sich in zwei Parteien, dieAdreßpartei unter Deák, welche den Standpunkt derNation der Februarverfassung gegenüber in einer Adresse an denMonarchen darlegen und damit den Weg der Verhandlungen betretenwollte, und die Beschlußpartei unter Koloman Tisza, welchedie Rechtsgültigkeit der 48er Gesetze durch einfachenBeschluß erklären wollte. Nach langen Debatten siegte 5.Juni die Adreßpartei mit 155 gegen 152 Stimmen, aber ihreAdresse, welche Personalunion mit Österreich verlangte, wurde8. Juli vom Kaiser mit der Forderung einer vorherigen Revision der48er Gesetze beantwortet. Als der Landtag darauf in einer zweitenAdresse die Pragmatische Sanktion und die Gesetze von 1848 als dieallein annehmbare Grundlage bezeichnete, die Krönung FranzJosephs von der Wiedervereinigung der Nebenländer mit U.abhängig machte, die Beschickung des Wiener Reichsratsablehnte und gegen jeden Beschluß desselben protestierte,brach die Wiener Regierung alle weitern Verhandlungen ab;"Österreich kann warten", erklärte Schmerling in derHoffnung, daß U. sich schließlich der Februarverfassungfügen werde. Bis dahin wurde, nachdem der Landtag 21. Aug.1861 aufgelöst worden, wieder absolutistisch regiert;gleichzeitig suchte man die öffentliche Meinung durch eineAmnestie der politischen Sträflinge und Flüchtlinge sowiedurch eine Spende von 20 Mill. zur Linderung einer entsetzlichenHungersnot (1863) zu gewinnen. Aber schon 1865 wurde in Wien dasRegierungssystem wieder geändert: von dem liberalenZentralismus Schmerlings ging man zum altkonservativenFöderalismus Belcredis über. Nach einem neuen Besuch desKaisers in Pest wurden die Führer der altkonservativen Parteiin U., Graf Mailath und Baron Sennyey, an die Spitze derungarischen Regierung gestellt und 14. Dez. 1865 der Landtag vonneuem

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Ungarn (Geschichte 1865-1878).

eröffnet. Die Thronrede versprach die Wiederherstellung derIntegrität der ungarischen Krone, erkannte dieRechtskontinuität und die formelle Gültigkeit der Gesetzevon 1848 an, forderte aber deren Revision vor der Einführung.Die Verhandlungen hierüber und über die Feststellung dergemeinsamen Angelegenheiten der Gesamtmonarchie waren noch nichtzum Abschluß gediehen, als wegen des Kriegs mit Preußender Landtag 26. Juni 1866 geschlossen wurde. In dem Streite, dernach dem Frieden von Prag in Österreich über dieNeugestaltung des Reichs ausbrach (s.Österreichisch-Ungarische Monarchie, S. 522), nahmen dieUngarn unter Führung Deáks von Anfang an eine klare,bestimmte Stellung ein und errangen dadurch einen glänzendenSieg. Um einer Auflösung der Monarchie in fünfKönigreiche und der Herrschaft der Slawen vorzubeugen,entschied sich der leitende Minister v. Beust mit Zustimmung derDeutschliberalen für den Dualismus, für die Teilung desReichs in eine westliche Hälfte, wo die Deutschen, und eineöstliche Hälfte, wo die Magyaren das Übergewichthaben sollten. Beust verständigte sich in persönlichenVerhandlungen mit den Führern der Deákpartei überdie Bedingungen des Ausgleichs zwischen Österreich und U. DemReichstag, wie der Landtag nun wieder hieß, ward 18. Febr.1867 die Wiederherstellung der Verfassung von 1848, für welchenur wenige Modifikationen ausbedungen wurden, sowie die Einsetzungeines besondern verantwortlichen Ministeriums unter dem Vorsitz vonJulius Andrássy angezeigt. Siebenbürgen und das Banatwurden sofort mit U. wieder verschmolzen, mit Kroatien ward einAusgleich vorbehalten, der am 20. Sept. 1868 zu stande kam. U. wardals selbständiger Staat anerkannt, der mit Österreichdurch gewisse gemeinsame Angelegenheiten verbunden war undzunächst auf zehn Jahre ein Zoll- und Handelsbündnis mitihm schloß. Von den anerkannten Staatsschulden und von dengemeinsamen Ausgaben für das Auswärtige, Heer und Marineübernahm U. bloß 30 Proz., stand aber in denDelegationen der österreichischen Reichshälfteebenbürtig zur Seite. Mit allem Pomp frühererJahrhunderte erfolgte 8. Juni 1867 in Budapest die feierlicheKrönung des Königs, und damit war die Versöhnung derMagyaren mit der Dynastie besiegelt. Die heimgekehrtenFlüchtlinge schlossen sich ehrlich der neuen Ordnung der Dingean, das Volk bethätigte bei jeder Gelegenheit seineLoyalität, und der Reichstag, in welchem diegemäßigte Deákpartei zunächst noch dieentschiedene Mehrheit hatte, nahm 1868 bereitwilligst dasWehrgesetz in der Fassung der Regierung an; nicht nur das stehendeHeer, sondern auch die Landwehr wurde unter den Befehl desReichskriegsministeriums gestellt, die letztere jedoch alsHonvédarmee unter dem Kommando des Erzherzogs Josephbesonders organisiert. Das Bewußtsein des durch Ausdauer undKlugheit errungenen Siegs trieb die Magyaren an, den freiheitlichenAusbau des Nationalstaats möglichst rasch zu vollenden. Diepolitische Gleichstellung der Juden, die fakultative Zivilehe, einVolksschulgesetz u. a. wurden beschlossen. DasNationalitätengesetz vom 29. Nov. 1868 bestimmte, daßalle Bewohner Ungarns die einheitliche und unteilbare ungarischeNation bilden, die ungarische Sprache Staatssprache sein sollte.Das Übergewicht der Magyaren bei den Wahlen wurde durchVerteilung der Wahlbezirke und des Stimmrechts aufrecht erhalten.Vor allem wollte man die materielle Entwickelung des Landes durchEisenbahnen fördern, und durch Anleihen für den Bau vonStaatseisenbahnen und durch Zinsgarantien fürPrivateisenbahnen belastete das Ministerium Lónyay, welchesNovember 1871 an Stelle des Andrássyschen getreten war, denStaatshaushalt so sehr, daß, als noch schlechte Ernten,Überschwemmungen u. dgl. hinzukamen, bald ein bedenklichesDefizit in den Einnahmen (1874: 31 Mill.) eintrat und man schon1873 zu neuen Steuern schreiten mußte; der geträumteungeheure Aufschwung des Landes erwies sich als eine Illusion. Auchdie Ministerien der Deákpartei, welche nach LónyaysRücktritt (November 1872) die Regierung übernahmen,Szlávy und Bittó, vermochten selbst durch Anleihender Finanznot nicht abzuhelfen, und dies bewirkte dieAuflösung der Deákpartei, an deren Stelle jetzt alsherrschende Partei im Reichstag die aus einem Teil derDeákpartei und dem gemäßigten Teil der bisherigenRadikalen gebildete liberale Partei trat. Das Haupt der neuenPartei war Koloman Tisza, welcher im Februar 1875 zunächstunter Wenckheim als Minister des Innern, seit 16. Okt. aber alsMinisterpräsident die Seele der Regierung wurde. Das Defizitwurde zunächst vom Finanzminister Szell durch eine Reform derSteuererhebung bedeutend gemindert; dann erlangte Tisza bei denVerhandlungen mit Österreich über die Erneuerung desHandelsvertrags und des finanziellen Ausgleichs für U. einegünstigere finanzielle Stellung durch Erhöhung derZölle und Anteil an der Nationalbank. Schwierig schien sichdie Lage Ungarns zu gestalten beim Ausbruch der orientalischenKrisis 1875. Die Magyaren waren der slawischen Bewegung, welchesich im Aufstand der Herzegowina, in der bulgarischen Empörungund im serbisch-türkischen Krieg kundgab, durchaus abgeneigtund gaben ihre Sympathien für die Türken beiverschiedenen Gelegenheiten geräuschvoll zu erkennen. DasEinschreiten Rußlands auf der Balkanhalbinsel, seineglänzenden Erfolge im Winter 1877/78 und die Neutralitätder Reichsregierung diesen Ereignissen gegenüber erweckten inU. die größten Besorgnisse. In dieser Zeit bewiesenTisza und die von ihm geleitete Mehrheit des Reichstags einewirklich staatsmännische Klugheit. Sie bereiteten derauswärtigen Politik des Reichs keine Schwierigkeiten, ja alsdie Okkupation Bosniens und der Herzegowina 1878 großeVerluste und Kosten verursachte und die Entrüstung überdie unpopuläre Unternehmung in U. aufs höchste stieg,gelang es Tisza, den Sturm zu beschwichtigen und sich und dieliberale Partei in der Herrschaft zu behaupten. In den Delegationenkonnte die Reichsregierung auf die Unterstützung der Ungarnund damit auf die Annahme ihrer Anträge auch gegen diedeutschliberale Partei in Osterreich rechnen: die Kosten derOkkupation und die Organisation der neuen Provinzen wurden vonihnen bewilligt, das Wehrgesetz auf neue zehn Jahre genehmigt.Dafür thaten der Hof und die Reichsregierung alles, um Tiszaund die liberale Partei zu unterstützen. Die nicht seltenenBeispiele von Bestechlichkeit von Beamten und Mitgliedern derherrschenden Partei und von Beteiligung derselben anGeldgeschäften, die zu Skandalen und Duellen führten,schadeten der ungarischen Regierung nicht ernstlich. In derrücksichtslosen Magyarisierung Ungarns, in derUnterdrückung der Deutschen, namentlich der SiebenbürgerSachsen, wurde dem Ministerium von Wien aus völlig freie Handgelassen, während gleichzeitig in Österreich diedeutschliberale

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Ungarweine - Ungehorsam.

Verfassungspartei wegen ihrer kurzsichtigen Opposition gegen dieauswärtige Politik der Krone ihre maßgebende Stelleeinbüßte. Indem Tisza entschieden dafür eintrat,daß der Staat vor allem ungarisch sein, gleichzeitig aber inder Gesamtmonarchie seine Interessen nachdrücklich zur Geltungbringen müsse, gelang es ihm immer wieder, die Opposition imParlament zu besiegen und bei den Wahlen die Mehrheit zu behalten.In der That war das Programm der äußersten Linken,Losreißung von Österreich, unausführbar und, wennes ausgeführt worden wäre, von den schädlichstenFolgen für U. Die Finanzverhältnisse nahmen immer nochdie besondere Aufmerksamkeit in Anspruch, da das Desizit aus demStaatshaushalt nicht zu beseitigen war. Es wurden daherfrühere Anleihen zu einem geringern Zinsfuß konvertiertund neue Steuern eingeführt, andre erhöht. DieMagyarisierung der Schulen wurde 1883 durch ein Gesetz überdie Mittelschulen, welches die Kenntnis des Magyarischen füralle Prüfungen vorschrieb, fortgesetzt. Die Ablehnung einesGesetzes über die Eheschließung zwischen Christen undJuden durch das Oberhaus (1884) brachte die lange beabsichtigteReform desselben in Gang. Dieselbe wurde 1886 zum Gesetz erhoben,beseitigte die alte Magnatentafel, die nahezu 900 zu zwei Drittelngänzlich verarmte Mitglieder zählte, und bestimmte,daß fortan außer 50 von der bisherigen Tafel zuwählenden Magnaten, 30 von der Regierung zu ernennendenMitgliedern, den katholischen Prälaten und denprotestantischen Kirchenhäuptern das Magnatenhaus ausdenjenigen Magnaten bestehen solle, welche 3000 Gulden Grundsteuerzahlten. Die Opposition versuchte vergeblich, Tisza zustürzen; selbst ein Anfang 1889 mit Volksaufläufenverbundener heftiger Ansturm gegen das neue Wehrgesetz, welches diePflichten der Einjährig-Freiwilligen verschärfte und dieKenntnis der deutschen Sprache von allen Reserve undLandwehroffizieren verlangte, vermochte die Stellung des gewandtenMannes nicht zu erschüttern.

[Litteratur.] Schwandtner, Scriptores rerum hungaricarum (Wien1746-48, 3 Bde.); Endlicher, Rerum hungar. monumenta Arpadiana (St.Gallen 1849); Katona, Historia critica regum Hungariae (Pest1779-97, 42 Bde.); Pray, Annales regum Hungariae (Wien 176470, 5Bde.); Engel, Geschichte des ungarischen Reichs und seinerNebenländer (Halle 17971804, 4 Bde.); Derselbe, Geschichte desKönigreichs U. (Wien 181415, 5 Bde.); Feßler, Geschichteder Ungarn und ihrer Landsassen (neue Bearbeitung von Klein, Leipz.1867 bis 1883, 5 Bde.); Mailáth, Geschichte der Magyaren (2.Aufl., Regensb. 1852-53, 5 Bde.); Szalay, Geschichte Ungarns(deutsch von Wögerer, Pest 1870 bis 1875, 3 Bde.);Horváth, Geschichte Ungarns (deutsch, das. 1863, 2 Bde.),und desselben größeres Werk in ungarischer Sprache (3.Aufl., das. 1873, 8 Bde.); Krajner, Die ursprünglicheStaatsverfassung Ungarns (Wien 1872); Büdinger, Ein Buchungarischer Geschichte, 10581100 (Leipz. 1866); Marczali, UngarnsGeschichtsquellen im Zeitalter der Arpaden (Berl. 1882); Salamon,U. im Zeitalter der Türkenherrschaft (deutsch, Leipz. 1887);Horvath, Fünfundzwanzig Jahre aus der Geschichte Ungarns,182348 (deutsch, das. 1867, 2 Bde.); Szemere, Hungary from 1848 to1860 (Lond. 1860); Vargyas, Geschichte des ungarischenFreiheitskampfes (Preßb. 1869); Springer, GeschichteÖsterreichs seit dem Wiener Frieden 1809, Bd. 1 u. 2 (Leipz.1863-65); Rogge, Österreich von Vuagos bis zur Gegenwart (das.1872-73, 3 Bde.); Ujfalvy, La Hongrie, son histoire, sa langue, salitterature (Par. 1872); Léger, La Hongrie politique etreligieuse (Brüssel 1860); Derselbe, La Hongrie et les Slaves(das. 1860); Sayous, His toiregenerale des Hongrois (Par. 1876, 2Bde.); "Ungarische Reichstagsakten"; "Historisches Archiv",herausgegeben von der Ungarischen Historischen Gesellschaft.

Uugarweine, die in Ungarn und seinen ehemaligenNebenländern erzeugten Weine, zeigen eineaußerordentliche Mannigfaltigkeit, aber sämtlich einensüdlichen Charakter. Der edelste Ungarwein, welcher eine ganzexzeptionelle Stellung einnimmt, ist der Tokayer (s. Tokay); ihm amnächsten steht der Menes-Magyarat aus dem Arader Komitat,weiße und rote starke Ausbruch- und Tafelweine, dann derRuster aus dem Ödenburger Komitat, weiße, starke,süße, aromatische Ausbruch- und Tafelweine, von denendie Ausbrüche besonders im Ausland, vor allem in England,beliebt sind. Alle diese Hauptgewächse stufen sich nach Lage,Mostung und Kellerbehandlung von den edelsten Dessertweinen bis zugewöhnlichen Tischweinen ab. Ausgezeichnete rote Tafelweinekommen von Erlau, Vifonta, Szegszard, Villany, dem BaranyaerKomitat, Ofen und Umgebung, Vajujhely, Krassoer Komitat. DieSzegszarder Weine, etwas schwer und öfters erdig, zeichnensich besonders durch ihre reiche Farbe aus und werden vielfachexportiert, um auf Medoc verarbeitet zu werden. Die bestenPlätze für weiße Weine sind: Magyarat, Somlo, dasVeszprimer Komitat, Badacson, die Plattenseegegend, Naszmely,Ermellak, PestSteinbruch, Szerednye, die Komitate Neograd, Hont,Preßburg, Weißenburg, Somogy und Eisenburg. Die bestenSomlauer Weine, entsprechend behandelt, stehen dem besten Sauternenicht nach. Als ungarische Rheinweine kommen verschiedene ausRiesling und Traminer gewonnene Weine in den Handel. Die Weine desBanats und der Woiwodina sind im Durchschnitt den kleinenUngarweinen gleich und überschreiten nur in seltenen Ausnahmendie dritte Rangklasse. Man bereitet in ganz Ungarn und seinenNebenländern auch "gekochte Weine aus eingedampftem Most,welche unter den Namen "Wermut" und "Senf" in den Handel kommen.Derartige Senfweine liefert besonders Werschetz. Schaumwein wird inPreßburg und Pest in großem Maßstabdargestellt.

Ungedeckte Noten, die Banknoten, für welche nichtBarvorräte zur Einlösung vorhanden sind (s. Banken, S.325).

Ungehorsam (Kontumaz), in der Rechtssprache dasNichtbefolgen einer richterlichen Auflage, sei es einer Ladung odereiner richterlichen Anweisung zur Vornahme oder Unterlassung einerHandlung. Die Folgen, welche der U. im Strafprozeß nach sichzieht, sind von denjenigen verschieden, welchen der Ungehorsame(Kontumax) im bürgerlichen Rechtsstreit ausgesetzt ist. Dennder moderne Strafprozeß wird von dem Grundsatz derMündlichkeit des Verfahrens beherrscht, und diesem entsprichtdie Regel, daß die Anwesenheit des Angeklagten in derHauptverhandlung notwendig ist. Nur ausnahmsweise kann bei U. desAngeklagten in dessen Abwesenheit verhandelt und entschiedenwerden. Die deutsche Strafprozeßordnung unterscheidet dabeizwischen dem abwesenden und dem ausgebliebenen (flüchtigen)Angeklagten. Als abwesend gilt der Angeklagte, wenn sein Aufenthaltunbekannt ist, oder wenn er sich im Ausland aufhält und seineGestellung vor das zuständige Ge-

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Ungelt - Unger.

richt nicht ausführbar oder nicht angemessen erscheint.Gegen den abwesenden Angeklagten ist eine Haupt-Verhandlung nurdann statthaft, wenn die strafbare Handlung mit Geldstrafe oderEinziehung bedroht ist, oder wenn es sich um eine Person handelt,die sich der Wehrpflicht entzogen hat. In solchen Fällen isteine öffentliche Ladung notwendig. Gegen den abwesendenAngeklagten kann eine Beschlagnahme einzelnerVermögensstücke oder des ganzen Vermögensverfügt werden. Gegen einen ohne Entschuldigung ausgebliebenenAngeklagten wird ein Vorführungs- oder ein Haftbefehlerlassen. In seiner Abwesenheit darf nur dann verhandelt werden,wenn seine That mit Haft, Geldstrafe oder Einziehung bedroht ist,oder wenn sich der Angeklagte nach seiner Vernehmung aus derHauptverhandlung entfernte, endlich auch in leichtern Fällen,wenn das Gericht ihn wegen allzu großer Entfernung seinesAufenthaltsorts vom Erscheinen entbunden hat. Im bürgerlichenRechtsstreit besteht dagegen das System, daß von einerPartei, welche innerhalb der dazu gesetzten Frist oder in dem dazubestimmten Termin eine Rechtshandlung nicht vornimmt, angenommenwird, sie verzichte auf ebendiese Rechtshandlung. Bei dengesetzlich bestimmten Notfristen, z. B. bei der Frist zur Einlegungder Berufung, tritt der Verlust des Rechtsmittels mit dem Ablaufder Frist von selbst ein. Außerdem ist ein besonderesUngehorsams- (Kontumazial-, Versäumnis-) Verfahren und einausdrücklicher Antrag (Ungehorsamsbeschuldigung, Accusatiocontumaciae) des Gegners erforderlich, um ein Versäumnisurteil(Verurteilung in contumaciam) gegen den Ungehorsamenherbeizuführen (s. Versäumnis). U. gegenüber einemrechtskräftigen Urteil hat die Einleitung derZwangsvollstreckung (s. d.) zur Folge. Vgl. DeutscheStrafprozeßordnung, § 318 ff., 470 ff., 229 ff.;Zivilprozeßordnung, § 209 ff., 295 ff.

Ungelt (später Umgelt), auch Unrecht, einefrühere Bezeichnung für Aufwandsteuern (insbesondereSteuer vom Kleinverkehr als Vorläufer der späternAccise), bedeutet nach Lang ("Teutsche Steuerverfassung", 1795)eine außerordentliche Abgabe; von Hüllmann wird dieserAusdruck auf die Unzufriedenheit der Steuerpflichtigenzurückgeführt.

Unger, 1)Johann Georg, Formschneider, geb. 1715 zu Goosbei Pirna, erlernte in letzterer Stadt die Buchdruckerkunst undtrieb zugleich als Autodidakt die Holzschneidekunst. Seit 1740 inBerlin, befaßte er sich von 1757 an ausschließlich mitdem Formschnitt. Unter seinen Arbeiten ist eine Folge von fünfLandschaften hervorzuheben. U. erfand auch eine Druckpresse sowieeine Rammmaschine. Er starb 1788.

2) Johann Friedrich, Buchdrucker, Form und Stempelschneider,Sohn des vorigen, geb. 1750 zu Berlin, trat in die Fußstapfenseines Vaters und bildete sich zu einem der ausgezeichnetstenMänner seines Faches. Die von ihm erfundene Frakturschrift(Ungersche Schrift) hatte Ähnlichkeit mit der SchwabacherSchrift, war aber geschmackvoller. U. wurde 1800 Professor derHolzschneidekunst an der Berliner. Akademie und wirkte in dieserStellung für die künstlerische Wiederbelebung derselben.Er starb 1804.

3) Franz, Botaniker und Paläontolog, geb. 30. Nov. 1800 aufdem Gut Amthof bei Leutschach in Steiermark, studierte zu Graz,Wien und Prag zuerst die Rechte, dann Medizin, praktizierte seit1827 als Arzt in Stockerau bei Wien, seit 1830 alsLandesgerichtsarzt zu Kitzbühel in Tirol, ward 1836 Professorder Botanik an der Universität Graz, 1850 Professor derPflanzenphysiologie in Wien, bereiste 1852 Nordeuropa, späterden Orient und lebte seit 1866 im Ruhestand auf seinem Landgut beiGraz, wo er 13. Febr. 1870 starb. Er erwarb sich zuerst wesentlicheVerdienste um die Paläontologie, wandte sich aber spätermehr der Physiologie und Phytotomie zu und förderte namentlichdie Lehre von den Zellen und dem Protoplasma. Er schrieb:"Über den Einfluß des Bodens auf die Verteilung derGewächse" (Wien 1836); "Über den Bau und das Wachstum desDikotyledonenstamms" (Petersb. 1840); "Über Kristallbildungenin den Pflanzenzellen" (das. 1840); "Grundzüge der Anatomieund Physiologie der Pflanzen"(das. 1846); "Anatomie und Physiologieder Pflanzen" (Wien 1855); "Grundlinien der Anatomie undPhysiologie der Pflanzen" (das. 1866); "Synopsis plan tarumfossilium" (Leipz. 1845); "Chloris protogaea, Beiträge zurFlora der Vorwelt" (das. 1841-1847); "Genera et species plantarumfossilium (Wien 1850); "Iconographia plantarum fossilium" (das.I852); "Sylloge plantarum fossilium" (das. 1860); "Die Urwelt inihren verschiedenen Bildungsperioden" (das. 1851, 3. Aufl. 1864);"Versuch einer Geschichte der Pflanzenwelt (das. 1852); "Geologieder europäischen Waldbäume" (Graz 1870). Außerdemveröffentlichte er: "Wissenschaftliche Ergebnisse einer Reisein Griechenland und den Ionischen Inseln" (Wien 1862); "Die InselCypern" (mit Kotschy, das. 1865); "Botanische Briefe" (das. 1852);"Botanische Streifzüge auf dem Gebiet der Kulturgeschichte"(das. 1857-67, 7 Tle.). Vgl. Reyer, Leben und Wirken desNaturhistorikers Franz U. (Graz 1871); Leitgeb, Franz U.,Gedächtnisrede (das. 1870).

4)Friedrich-Wilhelm, Jurist und Kunsthistoriker, geb. 8. April1810 zu Hannover, studierte in Göttingen die Rechte, trat dannbei dem Amt Hannover in den praktischen Justizdienst und ward 1838als Amtsassessor nach Göttingen versetzt, worauf er sich 1840als Privatdozent in der juristischen Fakultät habilitierte.Seine Anstellung als Sekretär der Universitätsbibliothek(1845) war die Veranlassung, daß er seine Lehrthätigkeitaufgeben mußte. Erst 1858 begann er wi der Vorlesungen undzwar über Kunstgeschichte in der philosophischenFakultät, was 1862 seine Ernennung zum außerordentlichenProfessor und Direktor der akademischen Gemäldesammlung zurFolge hatte. Er starb 22. Dez. 1876 in Göttingen. Alsjuristischer Schriftsteller hat er auf dem Gebiet der deutschenRechtsgeschichte Hervorragendes geleistet. Sein bedeutendstes Werkist die "Geschichte der deutschen Landstände" (Hannov. 1844, 2Tle.). Außerdem sind zu nennen: "Die altdeutscheGerichtsverfassung" (Götting. 1842); "Des Richtes Stig" (das.1847); "Römisches und nationales Recht" (das. 1848). Vonseinen kunstgeschichtlichen Schriften sind hervorzuheben: "DiePerspektive" (Götting. 1856); "Die bildende Kunst" (das.1858); "Übersicht der Bildhauerund Malerschulen seitKonstantin d. Gr." (das. 1860); "Die Bauten Konstantins d. Gr. amHeiligen Grab zu Jerusalem" (das. 1863); "Correggio in seinenBeziehungen zum Humanismus" (Leipz. 1863).

5) Joseph, hervorragender österreich. Jurist undStaatsmann, geb. 2. Juli 1828 zu Wien, studierte daselbst undhabilitierte sich 1852 als Privatdozent, ging 1853 alsaußerordentlicher Professor des Zivilrechts nach Prag, von woer 1857 wieder nach Wien berufen ward. LebenslänglichesMitglied des Herrenhauses, gehörte er vom November 1871 bisFebruar 1879 zum Kabinett Adolf Auersperg als Minister ohnePortefeuille, in welcher Eigenschaft er durch sein ausgezeichnetesRednertalent die Regierung so geschickt

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Ungerade Zahl - Unguentum

vertrat, daß er sich den Namen des "Sprechministers"erwarb. Im Januar 1881 wurde er zum Präsidenten desReichsgerichts ernannt. Seinen juristischen Ruf begründete erdurch das "System des österreichischen allgemeinenPrivatrechts" (Bd. 1 u. 2,Leipz. 1856-59, 4. Aufl. 1876; Bd. 6,1864, 3. Aufl. 1879), ein Werk, welches zu den bedeutendstenErscheinungen der juristischen Litteratur zählt und in derEntwickelung der österreichischen Jurisprudenz Epoche gemachthat. Außerdem nennen wir von ihm: "Die Ehe in ihrerwelthistorischen Entwickelung" (Wien 1850); "Über diewissenschaftliche Behandlung des österreichischen gemeinenPrivatrechts" (das. 1853); "Entwurf eines bürgerlichenGesetzbuchs für das Königreich Sachsen" (das. 1853); "Dierechtliche Natur der Inhaberpapiere" (Leipz. 1857); "DieVerlassenschaftsabhandlung in Österreich" (Wien 1862); "ZurReform der Wiener Universität" (das. 1869); "Die Verträgezu gunsten Dritter" (Jena 1869). Mit seinem Ministerkollegen Glaserbegründete er die "Sammlung von zivilrechtlichenEntscheidungen des k. k. obersten Gerichtshofs" (Wien 1859 ff., 2.Aufl. 1873 ff.).

6) William, Kupferstecher, Sohn von U. 4), geb. 11. Sept. 1837zu Hannover, bildete sich seit 1854 auf der Akademie zuDüsseldorf unter Keller, arbeitete seit 1857 bei Thäterzu München, kehrte 1860 nach Düsseldorf zurück undging 1865 nach Leipzig, sodann nach Weimar. Auf Anregung desVerlegers der "Zeitschrift für bildende Kunst" begann er 1866,Gemälde alter, besonders niederländischer, Meister imMuseum zu Braunschweig zu radieren, denen 1869 eine zweite Reihevon Blättern nach Gemälden der Kasseler Galerie folgte.Durch diese Vorarbeiten eignete er sich eine so großeGewandtheit in der Handhabung der Radiernadel an, daß er dieKunst der Radierung in Deutschland neu belebte und zahlreicheNachfolger und Schüler fand. Den Winter von 1871 bis 1872brachte er in Holland zu, wo die Blätter zur "FransHals-Galerie" (mit Text von Vosmaer) entstanden. Von da abentfaltete er eine sehr umfangreiche Thätigkeit, welche sichauch auf Nachbildungen von Gemälden moderner Künstlererstreckte. Sein Hauptwerk ist die "Galerie des Wiener Belvedere"(mit Text von K. v. Lützow). Von einzelnen Blättern istbesonders die Radierung nach dem Ildefonsoaltar von Rubens (imAuftrag der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst inWien) hervorzuheben. Seine künstlerische Eigenartbefähigte ihn vorzugsweise zur Wiedergabe der Gemälde derNiederländer (Rubens, van Dyck, Fr. Hals, Rembrandt), derVenezianer (Tizian, Veronese) und der Spanier (Murillo, Velazquez)der Blütezeit, deren koloristische Wirkungen er mit feinemVerständnis nachzubilden vermag. Er lebt als Professor inWien.

Ungerade Zahl, eine solche, welche durch 2 nicht teilbarist, z. B. 1, 3, 5 etc.

Ungericht (altd.), s. v. w. Missethat oderVerbrechen.

Ungern-Sternberg, Alexander, Freiherr von,Romanschriftsteller, geb. 22. April 1806 auf dem väterlichenGut Noistfer bei Reval, sollte sich dem Studium der Rechte widmen,folgte aber seiner Neigung zur Poesie und lebte seit 1830 inDeutschland, wo er sich nach wechselndem Aufenthalt späterbleibend in Dresden niederließ. Er starb 24. Aug. 1868 zuDannenwalde in Mecklenburg Strelitz. U. hat in einer langen Reihevon Romanen und Novellen, immer aber mit hervorstechenderFrivolität, die verschiedenartigsten Stoffe behandelt. DieRokokozeit ist die eigentliche Domäne seines Talents. Derromanhafte Inhalt dieser Novellen (z. B. "St. Sylvan", Frankf.1839; "Die gelbe Gräfin", Berl. 180) ist dürftig, diekünstlerische Komposition schwach, die. Charakteristik oftoberflächlich; aber der kulturhistorische Hintergrund ist treuund sicher gezeichnet so namentlich in "Berühmte deutscheFrauen des 18. Jahrhunderts" (das. 1848). Zu dem Besten, was U.schrieb, gehören die Erzählungen: "Galathee (Stuttg.1836) und "Psyche" (Frankf. 1838, 2 Bde.) Als der sozialeTendenzroman Mode wurde, trat er mit "Diane" (Berl. 1842, 3 Bde.)und "Paul" (Hannover 1845, 3 Bde.) hervor, ohne es freilich zurrechten ethischen und psychologischen Tiefe zu bringen. LetzteresWerk hatte zugleich die Absicht, für eine Reorganisation desAdels Propaganda zu machen, und diese Tendenz bewirkte 1848 desVerfassers Anstellung als Mitarbeiter am Feuilleton der"Kreuzzeitung". Da aber seine "Neupreußischen Zeitbilder"(Brem. 1848-49, 2 Bde.) wenig Beifall fanden, ließ er diePolitik fallen und suchte durch die Erfindung von Pikantem auffrivolem Gebiet zu gefallen, so namentlich in den "BraunenMärchen" (das. 1850, 4. Aufl. 1875) und in den "Rittern vonMarienburg" (Leipz. 1853, 3 Bde.). Die "Erinnerungsblätter"(Leipz. 185560, 6 Bde.) erzählen des VerfassersLebensgeschichte. Viel Fesselndes enthält die "DresdenerGalerie" (Leipz. 185758, 2 Bde.), eine Reihe von Kunstnovellen undbiographischen Skizzen. Die historischen Romane: " Dorothea vonKurland " (Leipz. 1859, 3 Bde.), " Elisabeth Charlotte" (das. 1861,3 Bde.), "Peter Paul Rubens" (das. 1862) u. a. verfielen schonvöllig dem Ton der Leihbibliothek. Kleinere Erzählungenerschienen gesammelt als "Novellen" (Stuttg. 18323, 5 Bde.),"Erzählungen und Novellen" (Dess. 1844, 4 Bde.) und "KleineRomane und Erzählungen" (Jena 1862, 3 Bde.).

Unger-Sabatier (spr. -ssabatjeh, in Italien Unghergenannt), Karoline, Opernsängerin, geb. 1800 zu Wien, wurdevon Ronconi in Mailand ausgebildet und debütierte 1819 in Wienals Cherubin in Mozarts "Figaro". Dort engagierte sie derUnternehmer Barbaja für Italien, wo sie in allen großenStädten weniger durch die Kunst als durch die dramatischeKraft ihres Gesanges Begeisterung erregte. Im Dezember 1833 errangsie auch am italienischen Theater in Paris einen glänzendenErfolg. 1840 verließ sie die Bühne, nachdem sie sich mitSabatier verheiratet hatte, und zog sich auf eine Villa bei Florenzzurück, wo sie 23. März 1877 starb.

Unglückshafte, s. Termiten.

Unglückstage, s. Tagewählerei.

Ungnad, Hans, Freiherr zu Sonegg, Förderer derReformation unter der südslawischen BevölkerungÖsterreichs. Geb. 1493 als Sohn eines KaiserlichenKammermeisters, nahm er ruhmvollen Anteil an den Feldzügengegen die Türken, wandte sich in spätern Lebensjahren derSache der Reformation zu, ging 1554 nach Wittenberg, legte 1557seine Stelle als Statthalter von Steiermark nieder, weil denEvangelischen freie Religionsübung verweigert ward, und gingzu Herzog Ulrich von Württemberg, der ihm ein früheresStift zu Urach als Wohnsitz überwies. Dort bewirkte er dieBerufung des um die reformatorische Bewegung in Krain verdientenTruder nach Württemberg. Beide Männer errichteten jetzteine Druckerei, durch welche lange Zeit die südlichenLänder Österreichs mit reformatorischen Schriftenversehen wurden, bis der Kaiser sie im DreißigjährigenKrieg aufhob und der Propaganda in Rom schenkte. U. starb 27. Dez.1564 zu Wietritz in Böhmen.

Unguéntum (lat.), Salbe (s. d.).

1016

Ungulata - Union.

Ungulata, Huftiere.

Ungvar, Stadt, s. Ung.

Uniamiembe, Landschaft im S. von Uniamvesi inÄquatorialafrika, unter 5° südl. Br. Hauptort undMissionsstation ist Tabora (Kase), Knotenpunkt derKarawanenstraßen zum Tanganjika und zum Ukerewe, mitgroßen Warenlagern der arabischen Händler.

Uniamvesi ("Mondland"), große Landschaft inÄquatorialafrika, südlich vom Ukerewe, östlich vomTanganjika, vom 4.° südl. Br. durchzogen, nach Speke nichtviel kleiner als England, liegt zum großen Teil auf dem1000-1200 m hohen Tafelland, welches die Wasserscheide zwischenUkerewe, Tanganjika und Lufidschi bildet. Nach N. dacht es sich zumUkerewe ab, dessen Südrand noch in seine Grenzen fällt;hier umschließt es die ungemein fruchtbaren Landschaften vonUsabi und Uhindi. Dieser nördliche Teil wird von den BewohnernUsukuma (Mitternachtsland) nannt, im Gegensatz zu demsüdlichen Utakama (Mittagsland). Das Land ist im allgemeineneins der fruchtbarsten und bevölkertsten im äquatorialenOsten. Zugleich ist es durch die Kreuzung der nach dem Tanganjikaund dem Ukerewe führenden und bei der Missionsstation Taborasich spaltenden Karawanenwege das belebteste und wichtigsteHandelsland im Innern Ostafrikas. Das Land stand früher untereinem Herrscher, ist aber im Lauf seiner neuesten Geschichte ineine Anzahl von Kleinstaaten zerfallen. Die Bewohner, dieWaniamwesi, sind dunkler von Farbe als ihre Nachbarn, schlagen dieuntern Schneidezähne aus und splittern eine dreieckigeLücke zwischen die zwei innern Schneidezähne der obernReihe, tragen schwere Kupferringe um die Arme, rauchen und trinkenstark, bauen aber ihr Land gut an, weben auf eignenWebstühlen, schmelzen Eisen und sind als Händler oderTräger überall zwischen Sansibar und Udschidschianzutreffen. Seitdem sich Araber zahlreich unter ihnenniedergelassen haben, sind sie verarmt, einzelne haben sich aber,wie jene, eifrig dem Sklaven und Elfenbeinhandel gewidmet und esteilweise zu großem Wohlstand gebracht. S. Karte bei Artikel"Congo".

Ünîe (im Altertum Önoe), Stadt imtürk. Wilajet Trapezunt in Kleinasien, am Schwarzen Meer,beliebter Aufenthalt reicher Mohammedaner, hat einen Hafen,Baumwollweberei, Schiffbau, Handel mit Holz, Korn, Flachs etc. und6000 Einw. (Mohammedaner und Griechen). Die Umgegend ist reich anEisen.

Unieren (lat.), vereinigen; uniert, vereinigt, besondersvon früher getrennten Religionsgenossenschaften (s.Union).

Unierte Griechen, diejenigen griech. Christen, welchesich mit Beibehaltung ihrer alten Kirchenverfassung, ihrer Sprachebeim Gottesdienst, ihrer Fasten und des Abendmahls unter beiderleiGestalt, aber mit Annahme der Lehre, daß der Heilige Geistauch vom Sohn ausgehe, der Lehren vom Fegfeuer und vom Primat desPapstes mit der römischen Kirche wieder vereinigt haben. Imganzen gibt es ihrer jetzt gegen 5 Mill., welche vorzüglich inItalien, Polen, Siebenbürgen, Ungarn, Kroatien, Dalmatien undin der Türkei leben. S. Union.

Unifizieren (lat.), in eine Einheit, Gesamtheitverschmelzen, z. B. Staatsschulden, Anleihen.

Unifórm (lat.), die "gleichförmige"Bekleidung der Militärpersonen sowie gewisser Klassen vonZivilbeamten. Die Einführung derselben fällt in das 17.Jahrh. und kann als gleichzeitig mit der Errichtung der stehendenHeere angenommen werden. Farbe, Schnitt und Stoff der U.unterscheiden hauptsächlich die Soldaten verschiedenerLänder und verschiedener Waffengattungen; die daranbefindlichen Abzeichen dagegen dienen zur Unterscheidung dereinzelnen Truppenkörper sowie der verschiedenen Grade.

Uniformitätsakte, s. Presbyterianer.

Unigenitus Dei fllius (lat.), Anfangsworte der vom PapstClemens XI. im September I713 erlassenen Bulle, worin 101Sätze aus Quesnels "Réflexions morales" verdammt wurden(s. Jansen). Vgl. Schill, Die Konstitution U. (Freiburg 1876).

Unikum (lat.), das Einzige in seiner Art, nur einmalVorhandene, besonders von Münzen, alten Kunstwerken,Holzschnitten etc. gebraucht.

Unimak, s. Aleuten.

Unio, Flußmuschel.

Uniõn (lat.), Vereinigung, Verbindung, namentlichder Bund mehrerer Staaten. Geschichtlich merkwürdig sindnamentlich die Kalmarische U. vom. 20. Juli 1397 (s. Kalmar), dieUtrechter U. vom 23. Jan. 1579 (s. Niederlande, Geschichte, S. 149)und die U. protestantischer Fürsten und Städte von 1608zum Schutz ihrer gemeinsamen Religionsinteressen (s.Dreißigjähriger Krieg, S. 132). In Deutschland versuchteferner Preußen 1850 eine U. der Klein und Mittelstaaten unterpreußischer Führung, zu welchem Zweck das ErfurterUnionsparlament berufen ward (s. Preußen, S. 374). Imstaatsrechtlichen Sinn versteht man unter U. die Verbindung zweierStaaten, welche unter einem und dem selben Souverän stehen (s.Staat, S. 196).

Auf kirchlichem Gebiet bezeichnet U. die Vereinigungverschiedener Religions- oder Konfessionsparteien zu Einer Gemeindeoder Kirche. Der Trieb nach Beseitigung der kirchlichen Spaltungenzieht sich (unter stetiger Berufung auf Joh. 10, 16; 17, 21-23;Eph. 4, 3-6) durch die ganze Geschichte der Kirche hindurch.Während aber die katholische Kirche bei ihren Attributen derEinheit, Allgemeinheit und Untrüglichkeit eine U. nur durchdas Aufgehen aller andern Kirchenparteien in ihrer Gemeinschafterstreben kann, erlaubt die evangelische Kirche bei ihrerprinzipiell freiern Stellung zum Dogma, zu der kirchlichenVerfassung und zu den gottesdienstlichen Einrichtungen eineVereinigung zweier oder mehrerer Kirchenparteien innerhalb einesgewissen gemeinsamen Rahmens von Glaubensanschauungen undKultuseinrichtungen unter einheitlichem Kirchenregiment. Dieältesten Unionsversuche bezweckten Vereinigung der griechisch-und römisch-katholischen Kirchen und sind meist von dengriechischen Kaisern aus politischen Rücksichten ausgegangen.Schon die Verhandlungen auf der Synode zu Lyon 1274 führtendazu, daß die Griechen den Primat des römischen Bischofsanerkannten; die Kirchenversammlung von Konstantinopel 1285 nahmaber alle Konzessionen wieder zurück. DenselbenMißerfolg erntete seit 1439 das Florentiner Konzil (s. d.),so daß die Zahl der "unierten Griechen" (s. d.) eine sehrgeringe blieb. Dagegen gelang die U. Der Katholiken mit denMaroniten(s.d.) und einem Teil der armenischen Kirche (s. d.).Neuerdings haben die sogen. Altkatholiken (s. d.) wieder denGedanken einer U. der christlichen Kirchen, zunächst derbeiden großen katholischen, ins Auge gefaßt, undetliche Gelehrte vereinigten sich im August 1875 zu Bonn überdas Dogma vom Ausgang des Heiligen Geistes. - Noch entschiedenerscheiterten die Unionsversuche mit den Protestanten zunächstauf allen Reichstagen im Reformationszeitalter, dann beiverschiedenen Religionsgesprächen (s. d.) zwischen denKatholiken und Evangelischen. Ebenso erfolglos blieben auch dieUnionsvorschläge von Staphylus, Wicel

1017

Union (kirchliche) - Union (Stadt).

und Cassander unter Kaiser Ferdinand I., wiewohl auchprotestantische Gelehrte, wie Hugo Grotius (s.d.) und GeorgCalixtus (s. d.), den Gedanken aufnahmen. Was 1660 derKurfürst von Mainz, Johann Philipp von Schönborn,mehreren evangelischen Fürsten als Unionsgrundlage anbot, liefaus Akkommodation an die katholischen Unterscheidungslehren hinaus.Ernstlicher waren die Vorschläge des von den Höfenbegünstigten Rojas de Spinola (s. d.) gemeint, welchemlutherischerseits Molanus (s. d.) und Leibniz (s. d.)entgegenkamen. Diese verhandelten mit Bossuet (s. d.), welcher abergleichfalls nur auf Nachgiebigkeit der Protestanten rechnete. DasThorner Blutbad, die Bedrängung der Protestanten in Frankreichund in der Pfalz, welche Friedrich Wilhelm I. von Preußen undandre evangelische Reichsstände zu Repressalienveranlaßten, und die Salzburger Protestantenverfolgungzerstörten vollends jede Hoffnung auf das Gelingenkünftiger Versuche. - Im Jahrhundert der Reformationversuchten Wittenberger und Tübinger Theologen vergeblich eineU. mit der griechischkatholischen Kirche; nicht minder erfolgloswaren im folgenden Jahrhundert die Bemühungen des PatriarchenCyrillus Lukaris (s. d.) um eine U. mit der reformiertenKirche.

Aussichten auf Erfolg hatten von Anfang an nur die Versucheeiner U. zwischen Lutheranern und Reformierten, da diese zwarüber nicht wenige dogmatische Punkte, namentlich über denSinn der Einsetzungsworte des Abendmahls und über dieGnadenwahl, voneinander abwichen, dafür aber durch dieGemeinsamkeit des über allen Dogmatismus hinausgreifendenprotestantischen Prinzips verbunden waren. Schon 1529 veranstalteteder Landgraf Philipp der Großmütige von Hessen dasReligionsgespräch zu Marburg (s. Luther). Aber die von Zwinglidargereichte Bruderhand stieß Luther von sich, und alsnachher Melanchthon und seine Schüler an der Vereinigungfortarbeiteten, unterlagen sie dem Vorwurf des Kryptocalvinismus(s. d.). Nur vorübergehend hielt der 1570 geschlossene Vertragvon Sendomir vor (s. Dissidenten). Das zwischen sächsischen,hessischen und brandenburgischen Theologen 1631zuLeipzig gehalteneReligionsgespräch sowie auch das zu Kassel 1661, welches derLandgraf Wilhelm V. zwischen den reformierten Theologen derUniversität Marburg und den lutherischen zu Rinteln angeordnethatte, bewiesen zwar die Möglichkeit einer Ausgleichung, undhervorragende Theologen, wie lutherischerseits Calixtus undreformierterseits Duräus, setzten die ganze Arbeit ihresLebens für eine solche ein. Aber der dogmatische Zelotismuszerstörte beständig die gemachten Ansätze. AusGründen der Politik sahen sich die reformierten, aberüber ein lutherisches Volk herrschenden Hohenzollern auf denGedanken der U. der beiden evangelischen Konfessionen hingewiesen.Friedrich I. von Preußen veranstaltete 1703 eine Unterredunglutherischer und reformierter Theologen in Berlin (Collegiumcaritativum), allein die Errichtung einiger Unionskirchen und derWaisenhäuser zu Berlin und Königsberg, in welchen sowohlein lutherischer als auch ein reformierter Geistlicher unterrichtenund das Abendmahl zugleich austeilen mußten, hatteebensowenig den Fortgang der Vereinigung zur Folge als der zurEinführung der englischen Liturgie 1706 promulgierte Entwurf.Als später König Friedrich Wilhelm I. sich bemühte,durch das Corpus Evangelicorum 1719 eine U. zu stande zu bringen,fanden die von den Tübinger Theologen Klemm und Pfaffproponierten 15 Unionsartikel so wenig Beifall, daß dieKonsistorien zu Dresden und Gotha bei dem Reichstag zu Regensburgnachdrücklich dagegen protestierten. Zwar wurde hierauf vonFriedrich Wilhelm I. die U. wenigstens in seinem Reich realisiert,indem er selbst der calvinistischen Prädestinationslehreentsagte, dagegen die Annahme des reformierten Kultus forderte;aber schon Friedrich IL gab 1740 seinem Lande die alte Freiheit mitdem alten Kultus wieder zurück. Das Reformationsjubiläumvon 1817 gab der U. einen neuen Anlaß. In Preußen, woKonsistorien und Universitäten schon seit Jahren beidenKonfessionen gemein waren, konnte die kirchenregimentliche U. ohneSchwierigkeiten vollzogen werden. Der König erließ 27.Sept. 1817 eine die Übereinstimmung der Lutheraner undReformierten im wesentlichen der Lehre voraus setzende Ausforderungan die Geistlichkeit, die U. zu fördern. Dieselbe wurdenunmehr auch 30. und 3l. Okt. zu Berlin und Potsdam durchgemeinschaftliche Abendmahlsfeier vollzogen. Ferner wurde die U. zustande gebracht 1817 in Nassau, 1818 in Rheinbayern, 1819 inAnhalt-Bernburg, 1821 in Waldeck-Pyrmont und Baden, 1822 in Rhein-und Oberhessen, 1823 auch in Darmstadt, 1824 in Hildburghausen,1825 in Lichtenberg, 1827 in Anhalt-Dessau. Eine mächtigeReaktion erhob sich dagegen besonders in Preußen, alsFriedrich Wilhelm III. 1822 eine neue Kirchenagende (s.Agendenstreit) den Widerstrebenden aufdringen wollte. Es entstandunter der Führung des Professors Scheibel (s. d.) zu Breslaueine Partei, welche den Kampf gegen den Rationalismus in derLandeskirche einem Kampf gegen U. und Agende steigerte und dieAnnahme beider als Verrat betrachtete (s. Lutherische Kirche).Friedrich Wilhelm IV. gestattete nicht bloß diesenAltlutheranern, selbständige Gemeinden zu bilden, sondernmachte auch den lutherischen Sonderbestrebungen innerhalb derLandeskirche die weitgehendsten Zugeständnisse. EinErlaß von 1852 stellte die Zusammensetzung desOberkirchenrats zu Berlin aus lutherischen, reformierten undunierten Mitgliedern fest sowie den Modus der Entscheidung durchSeparation der Mitglieder (itio in partes) bei rein konfessionellenFragen. Gleichwohl lehnte ein Erlaß von 1853ausdrücklich jede Absicht einer Störung der U. ab undordnete zugleich an, daß der altlutherische Ritus beimAbendmahl nur auf gemeinschaftlichen Antrag des Geistlichen und derGemeinde gestattet sein sollte; 1857 ward derselbe noch von derGenehmigung der Konsistorien abhängig gemacht. Eine 1856 aufBefehl des Königs zusammen tretende, aus 40Vertrauensmännern bestehende Konferenz sprach sich gegen einebekenntnislose U. aus. Der Name der U. selbst aber ward durch einenköniglichen Erlaß vom 3. Nov. 1867 für die altenProvinzen Preußens festgehalten. Vgl. Hering, Geschichte derkirchlichen Unionsversuche (Leipz. 1836-1838, 2 Bde.); Nitzsch,Urkundenbuch der evangelischen U. (Bonn 1853); Julius Müller,Die evangelische U. (Halle 1854); Schenkel, Der Unionsberuf desevangelischen Protestantismus (Heidelb. 1855); Wangemann, SiebenBücher preußischer Kirchengeschichte (Berl.1859-60, 3Bde.); Nagel, Die Kämpfe der evangelisch - lutherischen Kirchein Preußen seit Einführung der U. (Stuttg. 1869);Brandes, Ge schichte der evangelischen U. in Preußen (Gotha1872 bis 1873, 2 Bde.); Finscher, U. und Konfession (Kassel 1873, 2Bde.); Mücke, Preußens landeskirchlicheUnionsentwickelung (Brandenb. 1879).

Union (San Carlos de la U.), Hafenstadt desmittelamerikan. Staats Salvador, an der Fonseca-

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Union der Zweiundzwanziger - Universalwissenschaft.

bai und am Fuß des Vulkans von Conchaqua, in bewaldeterGegend, mit vorzüglichem Hafen, lebhaftem Handel und (1878)2112 Einw.

Union der Zweinndzwanziger, s. Deutsche Union.

Unioninseln (Tokelau), eine nördlich von denSamoainseln, zu beiden Seiten des 10. Breitengrades liegende Gruppevon vier Inseln: Oatafu, Nukunono, Fakaafo und Olosenga, zusammen14 qkm (0,25 QM.) mit 514 Einw. Wegen ihrer Guanolager sind sie vonden Nordamerikanern besetzt.

Unionisten, die Anhänger der 1817 zu standegebrachten Union (s. d., S. 1017) zwischen Lutheranern undReformierten; die, welche eine allgemeine Vereinigung allerchristlichen Religionsparteien zu Einer Kirche erstreben; indem1862 entbrannten nordamerikanischen Bürgerkrieg dieAnhänger der Union, im Gegensatz zu denKonföderierten.

Union Jack (spr. júhnien dschäck), inNordamerika vulgäre Bezeichnung der "kleinen" Unionsflagge(Union tlag); s. die Textbeilage zur Tafel "Flaggen I".

Union Line (spr. júhnien lein), engl.Postdampferlinie nach Afrika; s. Dampfschiffahrt, S. 49I.

Unio prolium (lat.), Einkindschaft (s. d.).

Unisono(ital.), das Zusammenklingen zweier Töne vongleicher Tonhöhe oder das Verhältnis der reinen Prime(Intervall), wenn es von zwei verschiedenen Stimmen ausgeführtwird; all' u., im Einklang.

Unitarier (lat.), neuere Bezeichnung für diejenigenprotestantischen Richtungen, welche die Trinität (s. d.)verwerfen. Solche gibt es seit dem 16. Jahrhundert in Ungarn undPolen (s. Socinianer). Insonderheit aber heißen so die 1774von Lindsay in London, Christin in Montrose und später vonPriestley in Birmingham gestifteten Gemeinden. Aber dieser auch alsChemiker berühmte Theolog konnte 1789 kaum sein Leben vor derVolkswut retten, siedelte 1791 nach Amerika über, wo er 1804starb, aber in Channing (s. d.) und Th. Parker (s. d.) bedeutendeNachfolger fand. In England wurde erst 18l 3 das Gesetz aufgehoben,welches den Unitarismus mit dem Tod bedrohte; seitdem breitete sichdieser als eine das Christentum überhaupt mehr ethisch alsdogmatisch fassende Richtung auch in Großbritannien aus, woihr teils Theisten, wie Francis Newman, teils aber auchAnhänger von Strauß und Spencer huldigen (Verehrung desUniversums, Kosmismus, Evolutionstheorie etc.). In Nordamerikaheißen U. besonders die übrigens streng theistischenAnhänger der antitrinitarischen Lehre, die sich 1815 aus denKongregationalisten und Puritanern herausbildeten und im Besitz derKirche und Universität zu Cambridge in Massachusetts blieben.In diesem Staat sind sie heute noch am verbreiterten. In Bostonerscheint die Zeitschrift "Unitarian Review" und ein Jahrbuch derunitarischen Gemeinden. Vgl. Bonet-Maury, Des origines duchristianisme unitaire chez les Anglais (Par. 1881).

Unität (lat.), die Einzigheit, das nur einmaligeVorhandensein einer Sache, z. B. Gott; das Nicht geteiltsein, dieEinheit; Brüderunität, s. v. w. Brü dergemeinde (s.d.).

United States (engl., spr. juneited stehts;abgekürzt: U. S.), die Vereinigten Staaten (vonNordamerika).

Univers, l' (spr. lüniwähr), ultramontanePariser Zeitung, 1833 von den Abbés Migne und Gerbertbegründet, 1860-67 unterdrückt, hat seit dem Tod LouisVeuillots (s. d.), der das Blatt seit 1843 leitete, seinenfrühern Einfluß fast gänzlich verloren.

Universal (universell, lat.), das Ganze betreffend,allumfassend, allgemein (daher Universalerbe, Universalgeschichte,Universallexikon, Universalmonarchie etc.); Universale,landesherrliches Manifest.

Universalalphabet, s. Weltsprache und Pasigraphie.

Universal-efenfivpstaster, s. Bleipflaster.

Univerfalelixir, s. Lebenselixir.

Universalen (Universalisten, lat.), Sekte in Nordamerika,besonders in New York, welche die Ewigkeit der Höllenstrafenleugnet, eine natürliche Religion bekennt, die Befolgung derSitten und Staatsgesetze als höchste Pflicht aufstellt unddaher durch Unsittlichkeit gebrandmarkte Mitgliederausschließt. Sie zählt gegen 900 Gemeinden.

Universalerbe (Heres ex asse), derjenige Erbe, welcher indie vermögensrechtliche Persönlichkeit des Erblassersganz oder zu einem Quoteteil eintritt. Den Gegensatz zurUniversalerbfolge bildet der erbrechtliche Übergang einzelnerVermögensstücke (f. Erbfolge). Im gewöhnlichen Lebenversteht man unter einem Universalerben den alleinigen undausschließlichen Erben einer Person.

Universalfideikommiß (lat.,Universal-Erbschaftsvermächtnis), Vermächtnis, dessenGegenstand eine ganze Erbschaft oder doch ein Quoteteil derselbenist. Der Vermächtnisnehmer heißt in diesem FallUniversalfideikommissar (s. Fideikommiß).

Universalgelenk, s. Kuppelungen.

Universalia (lat.), in der Sprache der Scholastik dieGattungsbegriffe, welche entweder nach Art der Platonischen Ideenals vor den Dingen seiend (U. ante res), oder nach Art derAristotelischen Entelechien als den Dingen innewohnend (U. inrebus), oder nach Art der von der Sprache ausgehenden Benennungenals nach den Dingen kommend (U. post res) aufgefaßt wurden,woraus der Streit der sogen. Realisten und Nominalisten(Konzeptualisten) entsprang. Vgl. Scholastiker undNominalismus.

Universalinstrument (astronomisches), s. Altazimut.Universalismus (lat.), das Streben oder die Kraft, alles zuumfassen; in der Dogmatik Gegensatz zum Partikularismus (s.d.).

Universalkontrollapparat, s. Lärmapparate.

Universalmonarchie, ein monarchisches (von einemEinzelherrscher regiertes) Staatswesen, welches die ganzezivilisierte Welt unter seinem Oberhaupt vereinigen sollte, wiedies unter den römischen Kaisern der Fall war. Seit Karl d.Gr. tritt der Gedanke der U. auch bei den Germanen hervor, indemder Kaiser als Herr der gesamten Christenheit gedacht wurde. KarlV. nahm zuletzt zur Begründung einer U. einen nichtunerheblichen Anlauf.

Universalsprache, s. Pasilalie u. Weltsprache.

Universalsuccession, s. Rechtsnachfolge und Erbrecht.

Universaltischler, Holzbearbeitungsmaschine, an welchersich mehrere Werkzeuge (Bandsäge, Hobelmaschine, Bohrmaschineetc.) mit mechanischem Antrieb befinden.

Universalwissenschaft (Scientia generalis s. universalis)nannte Leibniz seinen auf die Kombinations- und Variationsrechnunggegründeten wissenschaftlichen Kalkül, mit dessen Hilfees nach Art der "Lullischen Kunst" (s. Lullus 2) möglich seinsollte, aus gewissen Stammbegriffen alle denkbaren Begriffe und dementsprechend aus deren Laut- und Schriftzeichen eineUniversalsprache (Pasilalie) und Universalschrift (Pasigraphie) zukonstruieren. Vgl. Exner, über Leibnizens U. (Prag 1843).

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Universalzeit - Universitäten.

Universalzeit (Weltzeit), Gegensatz zur lokalen Zeit oderOrtszeit, eine für die ganze Erde gemeinsame Zeitbestimmung.Nachdem die im Oktober 1883 in Rom abgehaltene siebenteGeneralversammlung der Internationalen GeodätischenAssociation die Zweckmäßigkeit einer U. für gewissewissenschaftliche Bedürfnisse und für den internen Dienstder obern Verwaltungen der Verkehrsmittel, wie Eisenbahnen,Dampferlinien, Telegraphen und Posten, anerkannt und alsAnfangsmoment des Welttags den Mittag von Greenwich in Vorschlaggebracht hatte, trat im Oktober 1884 in Washington eine Konferenzvon diplomatischen Vertretern und Gelehrten aus 25 verschiedenenStaaten zusammen, um über die Fragen des ersten Meridians undder Weltzeit zu beschließen. Als erster Meridian(Nullmeridian) wurde der von Greenwich festgesetzt; der Welttagsoll der mittlere Sonnentag sein, sein Anfang soll aber nicht, derastronomischen Rechnung entsprechend, auf den Mittag des Meridiansvon Greenwich fallen, sondern, dem Gebrauch des bürgerlichenLebens entsprechend, auf die Mitternacht. Derselbe soll in 24gleiche Stunden zerfallen, die von 0 bis 24 zu zählen sind.Diese Universalzeit ist nicht für das bürgerliche Lebenbestimmt, für welche vielmehr die Ortszeit im Gebrauch bleibt.Vgl. Zeitdifferenz.

Universitas personarum (lat.), eine juristischePersönlichkeit, welche an eine Mehrheit physischer Individuengeknüpft ist; s. Juristische Person.

Universitäten (lat., "Gesamtheiten", d. h.wissenschaftliche Hochschulen), diejenigen öffentlichenAnstalten, auf denen die Wissenschaften vollständig und insystematischer Ordnung gelehrt, auch die höchstenwissenschaftlichen (akademischen) Würden (Grade) erteiltwerden. Der lateinische Name Universitas bezeichneteursprünglich nur die mit gewissen Rechten ausgestatteteKörperschaft der Lehrer und Schüler (u. magistrorum etscholarium); erst allmählich wurden auch die Lehranstalten alssolche (sonst: studium, studium generale) U. genannt undnachträglich dieser Name auf den die Gesamtheit derWissenschaften umfassenden Lehrplan der Hochschulen gedeutet.

Die abendländischen U. sind Erzeugnisse des späternMittelalters, doch haben ältere Vorbilder auf ihre Entstehungmehr oder weniger eingewirkt. Als solche sind zunächst diegroßen Lehranstalten des spätern Altertums zu nennen:das von Ptolemäos Philadelphos um 280 v. Chr. gegründeteMuseion zu Alexandria, die Philosophenschule zu Athen, anstaltlichverfaßt namentlich durch Kaiser Hadrian und Herodes Attikus(130 n. Chr.), und die nach diesen Mustern gebildeten Athenäenzu Rom (135), Lugdunum (Lyon), Nemausus (Nimes), Konstantinopel(424). Ferner kommen in Betracht die arabischen Medressen (s. d.),unter denen im frühern Mittelalter die zu Cordova, Toledo,Syrakus, Bagdad, Damaskus hohen Ruf genossen. Unmittelbarerschlossen die ersten U. sich an die alten Kloster- und Domschulenan, unter denen schon seit dem 8. und 9. Jahrh. einzelne, wie z. B.Tours, St. Gallen, Fulda, Lüttich, Paris, als scholae publicaevon auswärts zahlreiche Schüler an sich gezogen hatten.Demgemäß erscheinen die U. bis ins 15. Jahrh.ausschließlich als kirchliche Anstalten, die sich an einDomkapitel, Kollegiatstift u. dgl. anzuschließen und aufAusstattung mit kirchlichen Pfründen zu stützen pflegen.Die ersten U., welche nach heutigem Sprachgebrauch jedoch nureinzelne Fakultäten waren, finden wir im 11. Jahrh. inItalien; es waren die Rechtsschulen zu Ravenna, Bologna (Bononia)und Padua und die medizinische Schule zu Salerno. Festerekorporative Verfassung als Hochschule, obwohl immer noch klerikalerArt, errang zuerst die Universität zu Paris, die seit dem 12.Jahrh. die Führung auf dem Gebiet der Theologie undPhilosophie übernahm und als die eigentliche Heimat derScholastik bezeichnet werden muß. Die Universität zuParis wurde Ausgangspunkt und Muster für fast alleabendländischen U., besonders die englischen, unter denenOxford durch eine Auswanderung aus Paris unter der KöniginBlanka von Kastilien (1226-36) mindestens erst zu höhererBedeutung gelangte, und die deutschen. Eine mit besondernstaatlichen und kirchlichen Privilegien ausgestatteteKörperschaft bildeten freilich schon früher die Juristenin Bologna. Als die Bedeutung derartiger gelehrterKörperschaften für das geistige Leben der Völkerwuchs, nahmen die Päpste die Schutzherrschaft über dieneuen Anstalten in Anspruch und dehnten den besondernGerichtsstand, welchen die Kirche für ihre Angehörigenbesaß, auch auf die weltlichen Universitätsgenossen aus.- Die innere Organisation der U. war auf die Verschiedenheit derNationalitäten gegründet, wobei sich die kleinern an eineder größern anschlossen. So entstand in Paris dieEinteilung in vier Nationen: Gallikaner (zu denen sich auchItaliener, Spanier, Griechen und Morgenländer hielten),Picarden, Normannen und Engländer (welche auch die Deutschenund übrigen Nordländer zu sich zählten). DieseEinteilung wird jedoch erst 1249 erwähnt. Zu den Nationengehörten sowohl Schüler als Lehrer. Jede hatte ihrebesondern Statuten, besondere Beamten und einen Vorsteher(Prokurator). Die Prokuratoren wählten den Rektor derUniversität. Papst Honorius verordnete 1219, daß nurdiejenigen Gelehrten zu Lehrern wählbar wären, welche vomBischof oder vom Scholastikus des zuständigen Stifts dieLizenz dazu erhalten hätten. Allmählich entstanden jedochzunftartige Verbände unter den Lehrern (magistri, Meistern)der Theologie, der Jurisprudenz und der Medizin, die alsgeschlossene Kollegien zuerst 1231 von Gregor IX. in Parisanerkannt und ordines oder facultates, Fakultäten, genanntwurden. Gegen die Einteilung in Fakultäten tratallmählich die ältere in Nationen zurück. Etwasspäter nahm auch das Kollegium der Artisten, d. h. der Lehrerder sieben "freien Künste", die Verfassung einer viertenFakultät an. Die Aufgabe dieser Fakultät, der jetzigenphilosophischen, bestund jedoch bis tief in die neuere Zeit hineinnur in der Vorbildung für das Studium in einer der höhernFachwissenschaften. Ihre Lehrer waren nicht selten Scholaren ineiner der obern Fakultäten. - Vorrecht der Fakultätenward bald die Verleihung akademischer Grade. In Paris waren dreiHauptgrade, die der Bakkalarien (Bakkalaureen), Lizentiaten undMagister (Meister). Die Bakkalarien wurden von den einzelnenMagistern ernannt; der Grad eines Lizentiaten wurde nach einerPrüfung durch die Fakultätsmeister von seiten der Kanzleroder Bischöfe erteilt, die aber zuletzt bloß ihreBestätigung gaben. Nur die Magister hatten dasuneingeschränkte Recht, als Lehrer ihrer Fakultätaufzutreten. Sie hießen auch oft Doktoren. In Deutschlandernannten (promovierten, kreierten) die drei alten oder obernFakultäten Doktoren, die der freien Künste Magister. DiePromotionen fanden meistens unter festlichem Gepränge statt;als Zeichen der Würde wurde dem Promotus der Doktorhutüberreicht. - Ein drittes für die mittelalterlicheVerfassung der U. wichtiges Institut waren die Kolle-

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Universitäten (geschichtliche Entwickelung).

gien oder Kollegiaturen, ursprünglich kirchliche Anstalten,in welchen Studierende freien Unterhalt, Lehre und Beaufsichtigungfanden. Eins der ersten Universitätskollegien war dieberühmte Pariser Sorbonne (s. d.), gegründet um 1250 vonRobert de Sorbon, Kaplan Ludwigs IX. Den öffentlichenKollegien traten, wo sie dem Bedürfnis nicht genügten,auch private Unternehmen ähnlicher Art zur Seite, die aufBeiträge der Insassen begründet und von einzelnenUniversitätslehrern geleitet waren. Solche Bursen (bursae,davon Burschen) waren vorzugsweise in Deutschland verbreitet. DasKollegienwesen entwickelte sich am reichsten in Frankreich undEngland, wo auch der Unterricht zumeist in die Kollegien sichzurückzog. Gegenwärtig bezeichnet man an deutschen U. dieVorlesungen der Lehrer als Kollegien, ohne dabei an diegeschichtliche Herkunft dieser Bezeichnung zu denken. - Neben demfestern Kern jener Bursen und Kollegien bevölkerten die U. desMittelalters die sogen. fahrenden Schüler, eine buntgemischte, wandernde Gesellschaft, in welcher die verschiedenstenAlters- und Bildungsstufen zusammentrafen (s. Vaganten). In ihremSchoß bildeten sich zuerst in rohen Umrissen die Anfängeder studentischen Sitten heraus, die sich teilweise bis heuteerhalten haben; so die Gewalt der ältern Studenten(Bacchanten) über die jüngern (Schützen,Füchse).

Nach Deutschland übertrug das Universitätswesen KarlIV. durch die Gründung der Universität Prag 1348 (vierNationen: Böhmen, Polen, Bayern, Sachsen). Bis zum Anfang derReformation folgten mit päpstlicher und kaiserlicherGenehmigung: Wien (1365), Heidelberg (1386), Köln (1388),Erfurt (1392), Leipzig (1409), Rostock (1419, 1432), Löwen(1426), Greifswald (1456), Freiburg i. Br. (1456), Basel (1456),Ingolstadt (1472), Trier (1473), Mainz (1476), Tübingen(1477), Wittenberg (1502) und Frankfurt a. O. (1506). Diekräftigere Entwickelung des Landesfürstentums im 15.Jahrh. und die humanistische Bewegung halfen die Bande lockern,durch welche die Hochschulen an die kirchlichen Autoritätengeknüpft waren. Das Reformationsjahrhundert brachte eine Reiheneuer U., welche bestimmungsgemäß evangelischen(lutherischen oder calvinischen) Charakter hatten, so: Marburg(1527), Königsberg (1544), Jena (1558), Helmstädt (1575),Gießen (1607), Rinteln (1619), Straßburg (1621). Eineeigentümliche Mittelform zwischen U. und sogen. lateinischenSchulen (Gymnasien) bildeten in jener Zeit die akademischenGymnasien oder gymnasia illustria, die von Freien Städten(Straßburg 1537, Hamburg 1610, Altdorf-Nürnberg 1578)und kleinern Landesfürsten (Herborn 1584 etc.) begründetwurden, um dem Auswandern der Landeskinder vorzubeugen. Mehreredieser akademischen Gymnasien, wie Straßburg (1621), Altdorf(1623), Herborn (1654), entwickelten sich später zu wirklichenHochschulen. Während im protestantischen Norden die U. imallmählichen Übergang Staatsanstalten mit einer gewissenkorporativen Selbständigkeit wurden, blieben die neuenjesuitischen U., wie Würzburg (1582), Graz (1586), Salzburg(1623), Bamberg (1648), Innsbruck (1672), Breslau (1702), nachderen Muster auch mehrere der schon bestehenden katholischen U.umgestaltet wurden, dem ältern Typus im wesentlichen treu. -Auf den protestantischen U. beginnt in dieser Periode dieeigentliche Geschichte des deutschen Burschentums. ThätigeTeilnahme der Studierenden an der Verwaltung der U. fand nicht mehrstatt; die Wahl junger studierender Fürsten zu Rektoren warbloße Form, da die wirklichen Geschäfte von Prorektoren,die aus der Zahl der Professoren erwählt waren, geführtwurden. Statt dessen bildete die Studentenschaft für sich eineArt von Verfassung heraus, die ihre Grundzüge teils aus demmittelalterlichen Herkommen, teils aus den öffentlichenZuständen der Zeit entnahm. Das Landsknechtwesen, diefortwährenden Feldzüge, namentlich derDreißigjährige Krieg, nährten auf den Hochschuleneinen Geist der Ungebundenheit, welcher das in seinen letztenAusläufern noch an die Gegenwart heranreichende Unwesen desPennalismus (s. d.) erzeugte. Auch kam damals an den deutschen U.das Duell auf, indem die Studierenden sich mehr und mehr alsgeschlossener Stand fühlten, in dem der Begriff derStandesehre Geltung gewann. Auf manchen U. gab es daneben nochNationalkollegia als eine von den akademischen Behördenangeordnete oder geduldete Einteilung der Studentenschaft. Zum Teilin Verbindung hiermit, zum Teil aber auch selbständigentwickelten sich nun die Landsmannschaften, welche zu Ende des 17.und das ganze 18. Jahrh. hindurch das studentische Leben derdeutschen U. beherrschten. Als förmliche Verbindungen mitbesondern Statuten, Vorstehern (Senioren) und Kassen erlangten siebald das Übergewicht über die keiner Verbindungangehörigen Studierenden (Finken, Kamele, Wilde, Obskurantenetc.), maßten sich die öffentliche Vertretung derStudierenden und damit zugleich eine gewisse Gerichtsbarkeitüber dieselben an. Über die Ehrensachen wie über diestudentischen Gelage etc. wurden feste Regeln aufgestellt, welcheman unter dem Namen Komment zusammenfaßte. Der Druck, den dieLandsmannschaften auf die Nichtverbindungsstudenten ausübten,war oft sehr hart. Viele der Wilden schlossen sich den Verbindungenals sogen. Renoncen (Konkneipanten) an, welche sich bloßunter den Schutz der Verbindung stellten, eine Abgabe zahlten undden Komment anerkannten. Die höchste Instanz für jedeUniversität bildete der Seniorenkonvent, der namentlich denVerruf gegen Philister, d. h. Bürger, oder auch gegenStudenten auszusprechen und das öffentliche Auftreten derStudentenschaft zu ordnen hatte. - Ebenso fällt in diese Zeit(von 1500 bis 1650) die Entwickelung des akademischenLehrkörpers zu der im wesentlichen noch heute geltendenVerfassung. Danach bilden die ordentlichen Professoren (professorespublici ordinarii) als vollberechtigte Mitglieder der vierFakultäten den akademischen (großen) Senat. Aus ihrerMitte wählen im jährlichen Wechsel die ordentlichenProfessoren der einzelnen Fakultäten (ordines) die vier Dekaneund sämtliche ordentliche Professoren den Rector magnificus,der an einigen U. auch Prorektor heißt, indem der Landesherroder ein andrer Fürst als Rector magnificentissimus gilt.Außerhalb des Senats stehen die außerordentlichenProfessoren (professores publici extraordinarii), welche meistkleinere Gehalte vom Staat beziehen, und die Privatdozenten(privatim docentes), welche nur die Erlaubnis (veniam docendi),nicht aber die amtliche Pflicht, zu lehren, haben. Der Senat, demder Staat einen ständigen juristischen Beamten alsUniversitätsrichter (Universitätsrat) oder Syndikusbeigibt, ist Verwaltungs- und Disziplinarbehörde derUniversität und übt seine Rechte, abgesehen von denPlenarsitzungen, entweder durch den Rektor und die Dekane oder auchdurch einzelne Ausschüsse aus. Der Rektor und die Dekanebilden, meist mit einigen gewählten Beisitzern, den engernoder kleinern Senat.

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Universitäten (die deutschen U. seit dem 17.Jahrhundert).

Ehedem hatten die U. auch durchweg eignen Gerichtsstand; diedarauf begründeten besondern Universitätsgerichte sindvöllig erst durch die neue Gerichtsverfassung von 1879 imGebiet des Deutschen Reichs verschwunden. - Von der allgemeinenErschlaffung des geistigen Lebens, welche in Deutschland nach demfrischen Aufschwung des Humanismus und der Reformation eintrat,namentlich aber durch die Leiden des DreißigjährigenKriegs befördert wurde, blieben auch die U. nicht verschont.Sie machte sich in ihnen durch die Herrschaft einer geistlosenPedanterie und starren Gelehrsamkeit neben großer Roheit derLebensformen und leidenschaftlicher Rechthaberei namentlich in dentheologischen Fakultäten geltend (rabies theologorum,Melanchthon). Unter den Männern, die gegen Ende des 17. Jahrh.diesen Übelstand zu bekämpfen suchten, sind namentlichErhard Weigel in Jena, G. W. Leibniz und vor allen andern Chr.Thomasius (s. d.) hervorzuheben. Durch Thomasius ward Halle (1694)gleich von der Gründung an die Heimat der akademischenNeuerer, wo, wenigstens im Gegensatz gegen die starre Orthodoxieund Gelehrsamkeit der ältern U., die Pietisten dertheologischen Fakultät mit ihm zusammentrafen. Hier wurden vonThomasius zuerst Vorlesungen in deutscher Sprache gehalten, aucherschien unter seiner Leitung in Halle die erste kritischeakademische Zeitschrift. Unter den ältern U. hatte sichHelmstädt am freiesten von den Gebrechen der Zeit erhalten,dem aber im folgenden Jahrhundert in der UniversitätGöttingen (1734 gegründet, 1737 eingeweiht) einesiegreiche Nebenbuhlerin erwuchs. Göttingen schwang sich durchreiche Ausstattung und verständige, zeitgemäßeEinrichtung bald zur ersten Stelle unter den deutschen U. auf; hierwurde zuerst eine Akademie (Societät) der Wissenschaften, wiesie nach Leibniz Angaben bereits in Berlin (1700) gegründetworden, mit der Universität verbunden (1752 durch denverdienten Stifter der Universität Göttingen, GerlachAdolf v. Münchhausen, und Albrecht v. Haller). Diesem Zeitraumverdanken ferner noch Herborn (1654), Duisburg (1655), Kiel (1665)und Erlangen (1743) ihre Gründung.

Unter den Studenten entstanden im Lauf des vorigen Jahrhundertsneben den Landsmannschaften andere Verbindungen, sogen. Orden,welche sich im philanthropischen Geschmack der Zeit auf dieFreundschaft gründeten und die Beglückung der Menschheitals ihr Ziel aufstellten. Da sie von den Freimaurern und anderndamals emporblühenden geheimen Gesellschaftten allerleiheimliche Symbolik entlehnten und im Geist Rousseaus für dieFreiheit schwärmten, erschienen sie bald der Staatsgewaltgefährlich. Besonders ist hier der 1746 in Jenabegründete Moselbund zu nennen, der sich 1771 mit derLandsmannschaft der Oberrheiner zum Amicistenorden verschmolz. Diestrengen Verbote, die zumal infolge des Rechtsgutachtens von 1793,das der Reichstag zu Regensburg erließ, die Orden trafen,bewirkten deren allmähliche Vereinigung mit denLandsmannschaften, bei denen nach und nach der landsmannschaftlicheCharakter hinter dem einer auf Freundschaft und Gemeinsamkeit derGrundsätze begründeten Gesellschaft zurücktrat.

Die Stürme der Napoleonischen Kriege und die Zeit derWiedergeburt brachten mannigfache Veränderungen im Bestand derdeutschen U. Die Universität zu Ingolstadt siedelte 1802 nachLandshut über, um 1826 nach München verlegt und mit derdort seit 1759 bestehenden Akademie der Wissenschaften vereinigt zuwerden; die U. zu Mainz (1798), Bonn (Köln, verlegt 1777,aufgehoben 1801), Duisburg (1802), Bamberg (1804), Rinteln undHelmstädt (1809), Salzburg (1810), Erfurt (1816), Herborn(1817) gingen ein; Altdorf ward mit Erlangen (1807), Frankfurt a.O. mit Breslau (1809), Wittenberg mit Halle (1815) vereinigt.Dagegen traten neu die bedeutenden U. zu Berlin (1810) und Bonn(1818) ins Leben. - Das Menschenalter von 1815 bis 1848 warfür die deutschen U. kein günstiges, indem sie bald nachder Befreiung des Vaterlandes, für welche Lehrer undSchüler namentlich der preußischen U. die hingebendsteBegeisterung gezeigt hatten, bei den Regierungen in den Geruch desLiberalismus kamen und unter diesem Mißtrauen sehr zu leidenhatten. Den Anstoß dazu gaben die von F. L. Jahn angeregteGründung der deutschen Burschenschaft (s. d.) 12. Juni 1815und besonders die bekannte Wartburgfeier der Burschenschaft 18.Okt. 1817 sowie die der letztern zur Last gelegte ErmordungKotzebues durch Sand, auf welche die unter Metternichs Leitungstehenden deutschen Regierungen durch die KarlsbaderBeschlüsse über die in Ansehung der U. zu ergreifendenMaßregeln (26. Sept. 1819) antworteten. Zwar löste sichdie deutsche Burschenschaft 26. Nov. 1819 förmlich auf; siebestand aber im stillen fort und trat in verschiedenen Gestalten(z. B. als Allgemeinheit in Erlangen etc.) immer wieder hervor, bissie sich 1830 in die beiden Richtungen der harmlosern,idealistischen Arminen und der revolutionär-patriotischenGermanen spaltete. Dem entsprechend, blieb auch das Mißtrauender Regierungen gegen den Stand der Universitätslehrer eindauerndes, und gerade solche Männer, deren Namen eng undehrenvoll mit der Geschichte der Befreiung des Vaterlandesverknüpft waren, wie namentlich E. M. Arndt in Bonn, hattenkränkende Zurücksetzung und Verfolgung aller Art zuerleiden. Jede Universität wurde von einem besondernRegierungsbevollmächtigten in politischer Hinsichtüberwacht. Wenn das unruhige Jahr 1830 vorübergehend dieFesseln lockerte, so hatten die Ausschreitungen, mit denen derverhaltene Groll sich Luft machte (Göttinger Revolution undStuttgarter Burschentag 1831, Hambacher Fest 1832, FrankfurterAttentat 1833), nur um so strengere Beschlüsse gegen die U.beim Bundestag (5. Juli 1832) und auf den Ministerkonferenzen inWien 1833 bis 1834 zur Folge. Großes Aufsehen erregte 1837die Entlassung und Vertreibung von sieben der bedeutendstenProfessoren der stets für konservativ und aristokratischangesehenen Universität Göttingen (s.d.). Unter derUngunst der Zeit zerfiel nach und nach die Burschenschaft ineinzelne Verbindungen, welche sich der ursprünglichen Gestaltderselben mehr oder weniger annäherten. Unter diesen traten inden 40er Jahren vorzüglich die sogen.Progreßverbindungen hervor, welche Modernisierung derakademischen Einrichtungen und Sitten, Abschaffung oder dochBeschränkung der Zweikämpfe, der akademischenGerichtsbarkeit etc. erstrebten. Als besondere Abart entstandenauch in jener Zeit eigne "christliche" Burschenschaften, wie derWingolf in Erlangen (1836) und Halle (1844). Den Progressistenstanden am schroffsten gegenüber die aus den Landsmannschaftendurch genauere Ausbildung des Komments, festernZusammenschluß nach innen und aristokratischeAbschließung nach außen sich entwickelnden Corps,welche durch ihren Seniorenkonvent ("S. C.") an der einzelnenUniversität, durch Kartellverhältnisse und späterdurch den im Bad Kösen und auf der Rudelsburg tagendenSeniorenkongreß in ganz

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Universitäten (die deutschen U. in der Gegenwart).

Deutschland zu einer in ihrem Kreis einflußreichen Einheitsich herausbildeten.

Das Jahr 1848 weckte auch auf den U. das Verlangen nach einerzeitgemäßen Reform zu neuem Leben, und sowohl von seitender Lehrenden als der Lernenden wurden Schritte gethan, ihnenGeltung zu verschaffen. Zunächst erging von Jena aus dieEinladung zu einem Universitätskongreß, welcher in Jenavom 21.-24. Sept. 1848 unter dem Vorsitz des damaligen Kanzlers v.Wächter abgehalten wurde, u. an welchem sich, mit Ausnahme vonBerlin, Königsberg und den österreichischen Hochschulenaußer Wien, Abgeordnete sämtlicher deutscher U.beteiligten. Die Hauptgegenstände der Beratung waren die Lehr-und Lernfreiheit, das Prüfungswesen und die Verfassung der U.Eine Reihe weiterer Punkte wurde einer Kommission zur Beratungüberwiesen, welche diese auch in Heidelberg unter dem VorsitzVangerows zu Ostern vornahm, aber die ganze Angelegenheit auf einennach Heidelberg zu berufenden Kongreß der U. verschob, dernicht zu stande kam. Noch unerheblicher waren die Resultate einer12. und 13. Juni 1848 auf der Wartburg tagendenStudentenversammlung. Preußen berief eine Konferenz vonAbgeordneten der Lehrer seiner U. zur Beratung über die vorhergeforderten schriftlichen Gutachten der letztern hinsichtlich derkünftigen Verfassung und Verwaltung der U., welche 27. Sept.1849 in Berlin abgehalten ward. In Österreich traten durcheine Reihe von Verordnungen, zunächst vom 1. Okt. 1850,durchgreifende Veränderungen in der Organisation der U. Wien,Prag, Lemberg, Krakau, Olmütz, Graz und Innsbruck ein, durchwelche diese den übrigen deutschen U. näher gebrachtwurden. Im ganzen haben die deutschen U. durch allen Wechsel derZeiten sich unversehrt erhalten und im wiedererstandenen DeutschenReich seit 1870 einen neuen, kräftigen Aufschwung genommen. -Unter dem Eindruck des Kriegsjahrs 1870/71 erwachte in den letztenJahren eine neue Reformbewegung unter der studierenden Jugend,welche durch Gründung freier studentischer Vereinigungen aufden meisten deutschen U. zum Ausdruck gelangte. Es ist jedochdiesen Vereinen, unter denen die sogen. Vereine Deutscher Studentenseit 1880 in den Vordergrund traten, nicht gelungen, demstudentischen Leben auf den deutschen U. eine wesentlichveränderte Gestalt zu geben. In der überreichenEntwickelung des Vereinswesens (Turn-, Gesangvereine,wissenschaftliche, landsmannschaftliche Vereine etc.) liegt sogardie vermehrte Gefahr der Zerstreuung und Vielgeschäftigkeit.Aber im ganzen ist doch anzuerkennen, daß der frische Hauch,der die deutsche Geschichte seit 1866 und 1870 durchweht, auch inden Kreisen der studierenden Jugend seine belebende Kraft geltendmacht und dem Studentenleben einen reichern idealen, namentlichpatriotischen, Gehalt gegeben hat. - Mit begeisterter Teilnahmeward überall in Deutschland die glänzendeWiederherstellung der deutschen Universität zu Straßburg(1. Mai 1872 eröffnet) begrüßt.

In Bezug auf die Verfassung der U. kann man gegenwärtig dieGruppierung und Abgrenzung der Fakultäten als offene Fragebezeichnen. Die philosophische Fakultät ist an denschweizerischen U. und in Würzburg in zwei für dieBeratung getrennte Abteilungen, in Dorpat, Tübingen undStraßburg dagegen in zwei Fakultäten, die philosophische(philosophisch - historische) und die naturwissenschaftliche(mathematisch - naturwissenschaftliche), zerlegt. In Tübingenist überdies die Gruppe der Staatswissenschaften(Nationalökonomie, Statistik, Finanzwissenschaft etc.) zueiner besondern Fakultät erhoben, so daß dort (bei zweinach dem Bekenntnis getrennten theologischen) im ganzen siebenFakultäten bestehen. In München ist die philosophischeFakultät nicht geteilt, aber aus ihr und aus der juristischeneine neue staatswirtschaftliche Fakultät ausgeschieden. InÖsterreich, teilweise in der Schweiz, in Würzburg undneuerdings in Straßburg ist wenigstens diestaatswissenschaftliche Gruppe aus der philosophischen in diejuristische Fakultät verlegt und diese dadurch zu einerrechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät erweitert. - Dieeinzige akademische Würde, die gegenwärtig, abgesehen vonder des Lizentiaten in der Theologie, an deutschen U. nochverliehen wird, ist das Doktorat (s. Doktor, S. 30). -

Die Zahl der Lehrstühle an den deutschen U. undinsbesondere an den philosophischen Fakultäten hat sichinfolge der stets wachsenden Ausbreitung und der im gleichenMaß zunehmenden Teilung der Wissenschaften in den letztenJahrzehnten außerordentlich vermehrt. Eine in unsermJahrhundert mit Vorliebe gepflegte Gestalt desUniversitätsstudiums sind die sogen. akademischen Seminare, d.h. Gesellschaften, in welchen die Studierenden unter Leitung ihrerLehrer praktische Übungen anstellen. Es gibt gegenwärtig:homiletische, liturgische, philologische, pädagogische,archäologische, historische, statistische Seminare etc. Dementsprechend sind die Laboratorien, Observatorien, Kliniken etc.für die naturwissenschaftlichen und medizinischen Fächerzu einer großen Mannigfaltigkeit und sich noch immersteigernden Vollkommenheit entwickelt. - Sehr ausgedehnt haben sichbei dem Mangel fester Vorschriften in den letzten Menschenalterndie Ferien an den U., im Frühjahr oft bis zu 1 1/2-2, imNachsommer bis zu 3 Monaten. Die Sommersemester schrumpfeninfolgedessen bisweilen sehr zusammen. Auf Abhilfe wenigstens gegenweitere Willkür ist oft gesonnen, aber etwas allgemeinDurchführbares noch nicht gefunden worden.

Die erhebliche Erweiterung der deutschen U. im letztenMenschenalter zeigt folgende Tabelle:[s. Bildansicht]

1853 1888

Lehrer Hörer Lehrer Hörer

Universitäten. ; Ordentl. Professoren ; Lehrerüberhaupt ; immatrikuliert ; überhaupt

Berlin 52 160 1491 2166 78 300 4767 6244

Bonn 47 84 862 896 62 134 1313 1343

Breslau 39 78 806 837 61 128 1343 1374

Göttingen 46 95 669 669 67 116 1016 1033

Greifswald 25 50 204 208 43 76 1066 1087

Halle 35 64 616 661 52 110 1489 1532

Kiel 17 37 132 132 43 83 560 579

Königsberg 30 54 347 347 45 89 844 862

Marburg 29 55 227 247 47 79 928 965

Münster 10 17 328 328 22 35 457 463

Preußen 330 694 5682 6491 520 1150 13777 15482

München 50 90 1893 1893 72 163 3809 3833

Erlangen 26 42 431 431 37 53 926 926

Würzburg 30 41 705 705 39 75 1547 1580

Leipzig 44 105 794 794 66 174 3208 3273

Tübingen 37 73 743 743 52 83 1449 1470

Freiburg 26 34 327 356 39 84 1125 1161

Heidelberg 34 80 719 752 41 101 984 1127

Gießen 31 56 402 402 35 55 546 565

Rostock 21 31 108 108 29 41 347 347

Jena 24 60 420 432 39 88 634 663

Straßburg - - - - 63 110 828 862

Deutschland 653 1306 12224 13107 1032 2177 29180 31289

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Universitäten (außerdeutsche).

Von den preußischen U. folge hier noch die Verteilung derStudierenden auf die einzelnen Fakultäten. Sie betrug nachProzenten etwa:

Fakultäten 1853 1867 1878 1888

Evangelische Theologie 16 18 8 20,5

Katholische Theologie 11 9 3 4,5

Rechtswissenschaft 33 17,5 29 17

Medizin 18 22 16 25,5

Philosophische Fakultät 22 33,5 44 32,5

Die Gesamtzahl der deutschen Studierenden in den vierFakultäten, wenn man die naturwissenschaftlich-mathematischenund historisch-philosophischen Fakultäten zusammennimmt,belief sich auf:

Winter 1887/88 Sommer 1888 Winter 1888/89

Theologen 5815 6024 5824

Juristen 6166 6472 6577

Mediziner 8269 8750 8668

Philosophen 8221 7944 7860

Diese Zahlen beweisen, daß in Deutschland ein recht hoherProzentsatz der Bevölkerung gelehrten Studien nachgeht. Folgedavon ist die augenblickliche Überfüllung der meistenBerufsfächer, für welche die U. vorbilden (Rechtsstudium,Arzneikunde, höheres Schulfach).

Die Universitäten des Auslandes.

Verwandtschaftlich und im geistigen Austausch zunächststehen den deutschen U. die deutsch-österreichischen, die derdeutschen Schweiz, der drei nordischen Königreiche, dielivländische zu Dorpat, die finnische zu Helsingfors und dieniederländischen. Österreich (Cisleithanien) zähltean 8 U. im Winter 1888/89:

Universitäten Ordentl. Professoren Lehrer überhauptHörer

Wien (mit der evang.-theol. Fakultät und der Hochschulefür Bodenkultur) 94 234 5218

Prag, deutsche Universität 56 100 1470

Prag, tschechische Universität (ohne theolog.Fakultät) 49 91 2361

Graz 48 107 1296

Krakau 45 90 1206

Lemberg (ohne mediz. Fak.) 30 64 1129

Innsbruck 45 80 862

Czernowitz 28 40 259

Zusammen: 395 806 13801

Von den 13801 Studierenden kommen auf die theologischeFakultät: 1363, die rechts- und staatswissenschaftliche: 5125,die ärztliche: 5666, die philosophische: 1647. Ungarnunterhält die U. Budapest (1885: 3375 Studierende) undKlausenburg (534), wozu noch die kroatische Universität Agram(gegen 500 Hörer) kommt. Die U. und Akademien der Schweizwiesen im Sommer 1888 folgenden Bestand auf:

Universitäten Ordentl. Professoren Lehrer Hörer

Basel (1460) 36 82 407

Bern (1834) 44 90 528

Genf 45 85 537

Lausanne 23 45 250

Neuenburg 25 42 86

Zürich (1838) 37 102 579

Zusammen: 210 446 2387

Unter den russischen U. gehören in diese Gruppe dielivländische, bisher noch ihrem Grundcharakter nach deutschezu Dorpat (1632 von Gustav Adolf begründet, 1802 von AlexanderI. erneuert; 1884: 1522 Hörer) und die finnländische zuHelsingfors (1640 zu °Abo von der Königin Christinebegründet, 1826 nach Helsingfors verlegt; 1886: 700Studenten); sodann die skandinavischen: in Schweden Upsala (1476;1885: 1821 Hörer) und Lund (1666; 1885: 1350 Studenten) ; inNorwegen Christiania (1811; 1885: 2400 Hörer); inDänemark Kopenhagen (1475; um 1300 Hörer); ferner dieholländischen: Leiden (1575), Groningen (1614), Utrecht(1636), neben denen bis 1816 noch Franeker (1585) und Harderwijk(1600) bestanden, und die städtische Universität zuAmsterdam (1875). Wesentlich abweichend haben sich die beidenhochkirchlichen U. in England, Oxford und Cambridge, entwickelt, andenen das Kollegienwesen, auf alte Stiftungen von großartigemReichtum begründet, noch immer vorwaltet. Durch dieseStiftungen werden sie immer eng mit der bischöflichenLandeskirche verbunden bleiben, wenn auch seit 1871 dienichtgeistlichen Stellen unabhängig vom anglikanischenBekenntnis besetzt werden sollen. Die 1845 gegründeteUniversität zu Durham ist von nur geringem Umfang. Die 1836öffentlich anerkannte London University ist eigentlich einePrüfungsbehörde, nach dem Muster derneufranzösischen U. eingerichtet, mit der späterColleges, so das liberale University College, das kirchliche King'sCollege, inner- und außerhalb Londons verbunden worden sind.Näher den deutschen U. stehen die schottischen zu St. Andrews(1412), Glasgow (1454), Aberdeen (1506) und Edinburg (1582),während in Irland die Universität zu Dublin mit TrinityCollege (1591) den ältern englischen U., Queen's University(1849) mit verschiedenen auswärtigen Colleges der LondonUniversity entspricht und die römisch-katholischeUniversität (1874) den belgischen und französischenMustern, von denen noch zu reden sein wird, nachgeahmt ist. InBelgien sind neben den Staatsuniversitäten zu Gent undLüttich zwei sogen. freie U. zu Brüssel (1834, liberal)und zu Löwen (1835, klerikal; ältere Universität:1426-1793) von Privatvereinen gegründet worden. Ähnlichsteht gegenwärtig die Sache in Frankreich. Dort hat dieRevolution mit den 23 alten, mehr oder weniger kirchlichen U.völlig aufgeräumt und Napoleon I. an ihre Stelle ein vonParis aus über alle Departements sich erstreckendes Netz vonUnterrichtsbehörden und -Anstalten gesetzt, dessen MittelpunktUniversität genannt wird, während das ganze Land in eineAnzahl von Bezirken (jetzt 16) geteilt ward, in denen je eineAkademie, d. h. ebenfalls eine Aufsichts- undPrüfungsbehörde, mit den ordentlichenVerwaltungsbehörden zusammen das Unterrichtswesen leitet.Daneben blieben nur einzelne Fakultäten und Kollegien(Sorbonne, Collège de France, Collège de Louis leSaint etc.) bestehen. Nach langen Kämpfen hatte die klerikalePartei endlich 1875 durchgesetzt, daß unter gewissen sehrallgemein gehaltenen Bedingungen Körperschaften, Vereine etc.freie U. gründen dürften, deren Prüfungen denen derStaatsbehörden gleich gelten, und dann sofort von diesemRechte durch Gründung von sechs katholischen U. (Paris, Lille,Angers, Lyon, Poitiers, Toulouse) Gebrauch gemacht. DieEntwickelung dieser Anstalten ist seitdem rüstigvorgeschritten, und namentlich sind neben der Universität zuParis auch die zu Lille und Angers bereits völlig organisiert,obwohl das Recht der Prüfung diesen Anstalten inzwischenwieder entzogen ist, so daß deren Studenten diewissenschaftlichen Grade erst vor staatlichen Behördenerwerben müssen. Dieser Vorgang hat auf dem Gebiet desstaatlichen höhern

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Universum - Unkräuter.

Unterrichts in Frankreich regen Wetteifer geweckt. Doch bestehenrechtlich noch immer nur 58 vereinzelte Fakultäten neben einergrößern Zahl von fachlichen Hochschulen. Der Lehrstandan den Staatsfakultäten zählte 1882 gegen 1200, dieHörerschaft etwa 16,000 Köpfe. In Italien, wo neben 17staatlichen U. 4 freie U. und mehrere einzelne Fakultäten,Akademien verschiedener Art bestehen, hatte 1875 derdeutschfreundliche Herbartianer R. Bonghi als Unterrichtsministerneue Anordnungen erlassen und durch dieselben die italienischen U.,welche halb Lehrkörper, halb Unterrichts- undPrüfungsbehörden nach französischer Weise gewordenwaren, den deutschen wesentlich angenähert. Sein NachfolgerCoppino hat dieselben 1876 in wichtigen Punkten verändert undnamentlich die Staatsprüfungen den Fakultätenzurückgegeben. Spanien hat 10 U., von denen manche schon imMittelalter hohen Ruf genossen, wie Valencia (1209), Salamanca(1250), Alcalá de Henares (1499). Gegenwärtig behauptetnur die Universität Madrid (1836 von Alcalá hierherverlegt; 5000 Studenten) einen höhern Rang. Portugal hat seineUniversität zu Coimbra (1290 in Lissabon gegründet, 1307verlegt). Im slawischen Osten Europas hatte Polen schon seit 1400seine Universität in Krakau, wozu 1578 Wilna trat; sonst abersind erst in unserm Jahrhundert von Österreich (Lemberg,Agram, Czernowitz 1875) und Rußland dort eigentliche U.(Moskau, Wilna 1803; Kasan, Charkow 1804; Warschau 1816; Petersburg1819; Kiew 1834; Odessa 1865; Tiflis, Tobolsk) gegründetworden. Auch Rumänien (Bukarest und Jassy), Serbien (Belgrad),Griechenland (Athen und Korfu) besitzen heute ihre U.Außerhalb Europas finden sich die U. am zahlreichsten inAmerika, wo im Süden die spanisch-portugiesische Form aus demZeitalter der Jesuiten herrscht und im Norden bei großerMannigfaltigkeit die englische Anlage vorwaltet. Berühmt sindunter den ältern, noch unter den Engländernbegründeten U. des Unionsgebiets Harvard University zuCambridge in Massachusetts (1638) und Yale College zu Newhaven inConnecticut (1701). In Asien haben die vier britischen U.Ostindiens hohe Bedeutung für die Zivilisation dieses weitenGebiets und für die vergleichende Sprachforschung. In Japanstrebt die Regierung eifrig, das europäischeUniversitätswesen einzubürgern, wobei als Muster dieUniversität zu Tokio dient, die vorwiegend miteuropäischen Lehrern besetzt wird.

Vgl. Meiners, Geschichte der Entstehung und Entwickelung derhohen Schulen unsers Erdteils (Götting. 1802-1805, 4 Bde.);Tholuck, Das akademische Leben des 17. Jahrhunderts (Halle1853-1854, 2 Tle.); Raumer, Geschichte der Pädagogik, Bd. 4(5. Aufl., Gütersl. 1878); Zarncke, Die deutschen U. imMittelalter (Leipz. 1857); Dolch, Geschichte des deutschenStudententums (das. 1858); Keil, Geschichte des jenaischenStudentenlebens (das. 1858); Muther, Aus dem Universitäts- undGelehrtenleben im Zeitalter der Reformation (Erlang. 1866); Sybel,Die deutschen U. (2. Aufl., Bonn 1874); J. B. Meyer, DeutscheUniversitätsentwickelung (Berl. 1875); "Sociétéde l'enseignement supérieur, Études de 1878" (Par.1879); Paulsen, Gründung der deutschen U. im Mittelalter("Sybels Historische Zeitschrift" 1881); Derselbe, Geschichte desgelehrten Unterrichts (Leipz. 1885); Denisle, Die U. desMittelalters (Berl. 1886, Bd. 1); Kaufmann, Geschichte derdeutschen U. (Stuttg. 1888, Bd. 1); "Deutsches akademischesJahrbuch" (Leipz. 1875 u. 1878, mit Angabe der Speziallitteratur).Fortlaufende Statistik der U. Deutschlands, Österreichs, derSchweiz etc. gibt Aschersons "Deutscher Universitätskalender"(Berl., seit 1873).

Universum (lat.), das Ganze, der Inbegriff aller Dinge;s. v. w. Welt.

Unke, s. Frösche, S. 752, und Nattern.

Unkel, Flecken im preuß. Regierungsbezirk Koblenz,Kreis Neuwied, am Rhein und an der Linie FriedrichWilhelmshütte-Niederlahnstein, hat eine gotische kath. Kirche,ein Bergrevier, Basaltbrüche, Zementwarenfabrikation, Weinbauund (1885) 687 Einwohner.

Unken, Dorf und Luftkurort im österreich. HerzogtumSalzburg, Bezirkshauptmannschaft Zell am See, an der Saalach, 552 mü. M., nahe der bayrischen Grenze (Reichenhall), mit (1880)229 (als Gemeinde 1046) Einw. Vgl. Strauß, Der Alpenkurort U.(Salzb. 1879).

Unkräuter, Pflanzen, welche entgegen dem Kulturzweckzwischen angebauten Pflanzen erscheinen, im allgemeinen nur alsschädlich in Betracht kommen, zum Teil aber nutzbar sind (alsGrünfutter etc.), ja sogar für sich angebaut werden, wiedenn auch manche Kulturpflanzen, wenn sie am unrichtigen Orterscheinen, zu den Unkräutern gezählt werden müssen.Die U. sind schädlich, insofern sie den angebautenGewächsen Raum fortnehmen, denn zu eng gestellte Pflanzenbeeinträchtigen sich gegenseitig in der Entwickelung, und oftzeigen U. stärkeres Entwicklungsvermögen als dieKulturpflanzen, zwischen denen sie wachsen. Enthält 1 kgRotkleesamen nur 10,000 Körner Wegerich (Plantago media) oder6000 Körner Disteln, so nimmt das Unkraut nahezu dieHälfte des Areals für sich in Anspruch. MancheSchlingpflanzen (Convolvulus arvensis und sepium, Polygonumconvolvulus und dumetorum, Lathyrus tuberosus und Vicia-Arten)verflechten sich mit Halmfrüchten zu einer unentwirrbarenMasse, ziehen sie nieder und bringen sie zur Lagerung. Die U.beeinträchtigen die Kulturpflanzen, indem sie Luft- undLichtzutritt verringern und dem Boden erhebliche Mengen von Kali,Stickstoff und Phosphorsäure entziehen. Manche U. sindParasiten und zwar Wurzelparasiten (Orobanche, Lathraea, Monotropa,Thesium, Melampyrum, Euphrasia, Alectorolophus, Odontites) oder aufoberirdischen Organen (Cuscuta, Viscum), andre sind schädlich,indem sie parasitische Pilze übertragen. So lebt dasÄcidium des Fleckenrostes auf Berberitze, das des Kronenrostesauf Faulbaum und Kreuzdorn, das des Streifenrostes aufRanunculus-Arten, Urtica dioica auf verschiedenen Borragineen, auchüberwintert die Uredoform des Kronenrostes auf Holcus lanatus.Auch die Brandpilze werden durch U. verbreitet (Convolvulusarvensis, Rumex acetosella, Phleum pratense), und derMutterkornpilz entwickelt sich vielleicht auf allen Gräsern.Viele U. sind Giftpflanzen, welche, dem Grünfutter beigemengt,oft sehr schädlich werden, oder deren Samen in dasGetreidemehl übergehen. Hauptsächlich kommen hierinBetracht: Bromus secalinus, Lolium temulentum, Colchicum autumnale,Polygonum hydropiper und minus, viele Solaneen, Gratiolaofficinalis, Alectorolophus hirsutus, Cicuta virosa, AethusaCynapium, Conium maculatum, mehrere Ranunkulaceen, Papaver Argemoneund dubium, Agrostemma Githago, die Euphorbiaceen etc. Manche U.sind insofern nützlich, als sie ohne großeAnsprüche an den Boden diesen bedecken und vor zu schnellemAustrocknen schützen.

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Unktion - Unruhstadt.

Das massenhafte Auftreten der U. erklärt sich aus derenormen Samenproduktion vieler Arten. Eine einzige Pflanze vonSenecio vernalis besaß 273 Blütenköpfchen, jedesmit 145, zusammen 39,585, Früchten, ein Exemplar von Erigeroncanadense mit 2263 Köpfchen lieferte 110,000 Samen, und wennes sich hier um sehr kräftige Pflanzen handelte, so werdendoch auch von andrer Seite angegeben: für Agrostemma Githago2590, Papaver-Rhoeas 50,000, Sinapis arvensis 4000, Sonchusarvensis 19,000 Samen. Von diesen Samen geht wohl der bei weitemgrößte Teil zu Grunde, immerhin erhalten sich sehr vieleund erwarten im Boden die günstige Gelegenheit zurEntwickelung. Aus einer Bodenprobe vom Rand eines Teiches, die kaumeine gewöhnliche Kaffeetasse füllte, erzielte Darwin 537Keimlinge, und Putensen ermittelte auf einem Acker pro Q-Meter auf37,5 cm Tiefe 42,556 Unkrautsamen. Zur Bekämpfung der U.genügen bei ein und zweijährigen Pflanzen (etwa 80 Proz.)Jäten, Abweiden, Untergraben, Unterpflügen vor derSamenreife; von perennierenden Unkräutern müssen dieWurzelstöcke nach tiefem Pflügen ausgeeggt werden. Beimanchen Unkräutern wird aber auf diese Weise nichts zuerreichen sein, und dann sind durch Drainieren, Mergeln etc. diephysikalischen und chemischen Eigenschaften des Bodens so zuändern, daß die U. weniger gut oder gar nicht mehrgedeihen. Auch durch die Art der Kultur lassen sich manche U.beseitigen. Schlingpflanzen und andre im Getreide wachsende U.verschwinden, wenn einige Jahre hindurch vorwiegendHackfrüchte gebaut werden. Equisetum arvense verträgtnicht eine geschlossene Grasnarbe. Von größter Bedeutungist die Reinheit des Saatguts, und in der That ist seit allgemeinerAnwendung der Getreidereinigungsmaschinen das Unkraut auf dem Ackerbedeutend zurückgedrängt worden. Diese Reinigungmuß möglichst weit getrieben werden, denn 1 Proz.Verunreinigung bedeutet bei Lein 1950, bei Rotklee 5500, beifranzösischem Raigras 8000 Körner fremder Samen in 1 kg.Überall, wo die Unkrautsamen erreichbar sind, sollte ihreKeimfähigkeit durch geeignete Behandlung zerstört werden,denn wo dies nicht geschieht, gelangen sehr viele keimfähigeSamen durch den Mist zurück auf den Acker. Dabei ist diegroße Widerstandskraft mancher Unkrautsamen zuberücksichtigen, von denen einige die Temperatur des sicherhitzenden Düngers und wochenlanges Liegen in Jaucheertragen. Bei der großen Verbreitungsfähigkeit vielerUnkrautsamen durch Federkronen etc. ist der Einzelne im Kampf gegendie U. oft machtlos, nur gemeinsames Vorgehen kann Erfolgeerzielen, und daher haben sich in Bayern, Württemberg undBaden obligatorische Flurgenossenschaften gebildet, welche im Junidie Grundstücke auf das Vorhandensein von Unkraut besichtigenund für Ausrottung desselben Sorge tragen. In ähnlicherWeise sind mehrfach Polizeiverordnungen erschienen, umübermäßige Verbreitung von Chrysanthemum segetum,Senecio vernalis und Galinsoga parviflora zu verhindern. Vgl.Ratzeburg, Die Standortsgewächse und U. Deutschlands und derSchweiz (Berl. 1859); Nobbe, Handbuch der Samenkunde (das. 1876);Thaer, Die landwirtschaftlichen U.(das. 1881); Danger, U. undpflanzliche Schmarotzer (Hannov. 1887).

Unktion (lat.), Salbung (s.d.).

Unmittelbar, s. Immediat.

Unmündige (Impuberes), s. Alter, S. 419.

Unna, Fluß in Bosnien, entspringt nordwestlich vonGlamotsch, fließt erst nordwestlich, dann von Bihatsch annordöstlich, bildet im untern Lauf die Grenze gegenÖsterreichisch-Kroatien, nimmt bei Nowi die Sanna auf undfällt bei Jasenovatz rechts in die Save; die U. ist 260 kmlang und nur für kleine Fahrzeuge schiffbar.

Unna, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Arnsberg,Kreis Hamm, am Fuß der Haar, Knotenpunkt der LinienSchwelm-Soest, U.-Hamm und Welver-Dortmund der PreußischenStaatsbahn, 96 m ü. M., hat eine evangelische und eine kath.Kirche, ein Amtsgericht, Eisengießerei undMaschinenfabrikation, eine chemische Fabrik, Bierbrauerei,Ziegelbrennerei und (1885) 8904 meist evang. Einwohner. Dabei dieSaline Königsborn (s. d.). U. gehörte zunächst zuKurköln, dann zur Grafschaft Mark; es war Mitglied derHansa.

Unorganisch, s. v. w. anorganisch (s. d.)

Uno tenore (lat.), in einem fort; s. Tenor.

Unpaarzeher (Perissodactyla), Säugetiere, derenFüße nur mit der dritten Zehe den Boden berühren;s. Huftiere.

Unruh, Hans Viktor von, namhafter Techniker undPolitiker, geb. 28. März 1806 zu Tilsit, bezog die Bauakademiein Berlin, wurde 1828 Straßenbauinspektor in Breslau, 1839Regierungs- und Baurat in Gumbinnen, 1843 nach Potsdam versetzt und1844 beurlaubt, um die Leitung des Baues der Eisenbahn von Potsdamnach Magdeburg zu übernehmen; von 1846 bis 1851 baute er danndie Magdeburg-Wittenberger Bahn. Später baute er dieGasanstalt in Magdeburg, gründete die DeutscheKontinentalgasgesellschaft zu Dessau und stand 1857-74 an derSpitze der Fabrik für Eisenbahnbedarf in Berlin. Infolgeseiner Schrift "Skizzen aus Preußens neuerer Geschichte"(1848) für Magdeburg in die preußischeNationalversammlung gewählt, schloß er sich erst demlinken, dann dem rechten Zentrum an. Kurz vor der Auflösungder Versammlung im November ward er zum Präsidentengewählt, 1849 wurde er Mitglied der Zweiten Kammer, zog sichaber 1850 vom politischen Leben zurück. Seine 1851 erschieneneBroschüre "Erfahrungen aus den letzten drei Jahren enthielteine scharfe Kritik des konstitutionellen Systems. BeiBegründung des Nationalvereins 1859 ward er in dessenAusschuß und 1863 von Magdeburg in das Abgeordnetenhausgewählt, welchem er als eins der hervorragendsten Mitgliederder Fortschrittspartei, dann der nationalliberalen Parteiangehörte, und dessen Vizepräsident er 1863-67 war. ImFebruar 1867 vom Wahlbezirk Magdeburg in den Reichstaggewählt, zählte er hier zu den Führern dernationalliberalen Fraktion; doch legte er 1879 auch seinReichstagsmandat nieder und starb 4. Febr. 1886 in Dessau. Noch istsein "Volkswirtschaftlicher Katechismus" (Berl. 1876) zuerwähnen. Unruhe, s. Uhr, S. 974.

Unruhe, Pflanze, s. Eryngium und Lycopodium.

Unruhe-Bomst, Hans Wilhelm Stanislaus, Freiherr von,Politiker, geb. 26. Aug. 1825 zu Berlin, studierte daselbst, inHeidelberg und Halle die Rechte, trat 1851 in denStaatsverwaltungsdienst und wurde 1853 Landrat des Kreises Bomst;er ist Besitzer der Herrschaft Bomst und des RittergutLangheinersdorf sowie Landtagsmarschall u. Schloßhauptmannvon Posen; 185558 und 186667 Mitglied des Abgeordnetenhauses, warder 1867 in den Reichstag gewählt, in dem er sich derfreikonservativen Partei anschloß, und 1887 zweiterVizepräsident desselben.

Uuruhstadt (poln. Kargowo, fälschlich Karge), Stadtim preuß. Regierungsbezirk Posen, Kreis

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd.

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Unrund - Unsichere Dienstpflichtige.

Bomst, unweit der Faulen Obra, hat eine evang. Kirche, eineSynagoge, ein Amtsgericht, viele Windmühlen, Weinbau,Schweinehandel u. (1885) 1604 Ew. Unrund, im MaschinenbauBezeichnung für verschiedene Körper, welche von derkreisrunden Form abweichen, z. B. unrunde Räder, Scheibenetc.

Unschattige (Ascii), s. Amphiscii.

Unschlitt, s. v. w. Talg.

Unschuldig Angeklagte und unschuldig Verurteilte für dieNachteile zu entschädigen, welche ihnen durch dieUntersuchungshaft oder durch die Vollstreckung eines irrigenRichterspruchs erwachsen sind, wird als eine Forderung derausgleichenden Gerechtigkeit nach der jetzt herrschenden Ansichtbezeichnet. Doch ist die gesetzgeberische Formulierung diesesEntschädigung Anspruchs sehr schwierig. In Frankreich wurdedie Frage schon im vorigen Jahrhundert vielfach erörtert, undin Preußen bestimmte schon 1776 eine KabinettsorderFriedrichs d. Gr., daß der nachgewiesenen Unschuld daserlittene Ungemach vergütet werden solle. Im englischenParlament trat Bentham für die Entschädigung unschuldigVerurteilter ein, und die Erörterungen der italienischenJurisprudenz über diese Entschädigungsfrage führtenzur Aufnahme diesbezüglicher Bestimmungen in dasStrafgesetzbuch von Toscana und in die Strafgesetzgebung desKönigreichs beider Sizilien. In 18 Schweizer Kantonen istunschuldig Verurteilten eine Entschädigung für dieerlittene Haft gesetzlich zugebilligt. Auch die früherewürttembergische Strafprozeßordnung anerkannte denEntschädigungsanspruch unschuldig verurteilter Personen. InDeutschland wurde die Sache neuerdings zunächst mitAnknüpfung an die Untersuchung hast wieder aufgenommen. DerKriminalist Heinze trat in einer Abhandlung über dieUntersuchung haft (1865) für eine Entschädigungunschuldig Verfolgter bezüglich des durch dieUntersuchungshaft erlittenen Nachteils ein, und der deutscheJuristentag nahm 1876 einen Antrag von Jaques und Stenglein dahingehend an: "Im Fall der Freisprechung oder der Zurückziehungder Anklage ist für die erlittene Untersuchungshaft eineangemessene Entschädigung zu leisten; es sei denn, daßder Angeklagte durch sein Verschulden während des Verfahrensdie Untersuchungshast oder die Verlängerung derselbenverursacht hat". In Ergänzung dieses Beschlusses wurde anseinem weitern Juristentag (1882) beschlossen, daß auchfür die Strafverbüßung Genugthuung und Ersatz derdurch dieselbe entstandenen vermögensrechtlichen Nachteile vomStaat verlangt werden könne, wenn infolge einer Wiederaufnahmedes Verfahrens (s. d.) auf Freisprechung oder auf eine geringereals die verbüßte Strafe erkannt worden sei. InÖsterreich ergriff 1882 der Abgeordnete Roser die Initiativezum Zweck einer gesetzgeberischen Lösung der Frage, und imdeutschen Reichstag brachten in demselben Jahr diefortschrittlichen Abgeordneten Phillips und Lenzmann einenGesetzentwurf ein, über welchen v. Schwarze 25. April 1883namens der eingesetzten Kommission ausführlichen Berichterstattete. Man entschied sich damals in der Kommission füreine Entschädigung sowohl für unschuldigverbüßte Strafhaft als für unschuldig erlitteneUntersuchungshaft. Später wurde die Sache wiederholtaufgenommen und im Plenum des Reichstags, aber auch kommissarischberaten. Ein Antrag "Munkel", welcher 7. März 1888 vomReichstag angenommen wurde, bezieht sich nur auf denVermögensschaden, welchen unschuldig Verurteilte durch dieStrafvollstreckung erlitten haben, wofern sie nachmals imWiederaufnahmeverfahren freigesprochen wurden. Hat der Angeklagteseine Verurteilung durch Vorsatz oder grobes Verschuldenherbeigeführt, so ist nach dem Munkelschen Antrag ein Anspruchauf Entschädigung ausgeschlossen. Gegen eineEntschädigung wegen unschuldigerweise verbüßterUntersuchungshast wird namentlich geltend gemacht, daß essich bei der Verhängung derselben um ein allgemeinesstaatliches Interesse handle, welchem sich der Einzelne unterordnenmüsse; daß der Richter, welcher von der ihm zustehendenBefugnis, die Untersuchungshaft zu verhängen,rechtmäßigen Gebrauch mache, niemand verletze; daßdie Energie der strafrechtlichen Verfolgung durch die Aussicht,vielleicht für die Nachteile der Untersuchungshaft einstehenzu müssen, beeinträchtigt werde; daß man durchbetrügerische Manipulationen sich durch die Untersuchungshaftund durch die Entschädigung für diese Vorteileverschaffen könne; daß auch der Schuldige für dieerlittene Untersuchungshaft entschädigt werden müsse,wenn seine Freisprechung wegen mangelnden Beweises erfolgt. Auf derandern Seite macht man geltend, daß die erlitteneUntersuchungshaft bei der Verurteilung angerechnet werden darf, unddaß daher folgeweise bei der Freisprechung auch eineEntschädigung am Platz sei. Man weist ferner auf dieZwangsenteignung hin, die ebenfalls im allgemeinen Interesse, abergegen volle Entschädigung erfolge. Endlich wird diemenschliche Unvollkommenheit und die damit zusammenhängendeMöglichkeit, daß Untersuchungshaftunbegründeterweise verhängt werde, zur Begründungdes Entschädigungsanspruchs wegen unschuldig erlittenerUntersuchungshaft mit angeführt.

Die deutschen Regierungen haben sich bisher nach beidenRichtungen hin ablehnend verhalten, auch gegenüber demEntschädigungsanspruch wegen unschuldig erlittener Strafhaft,und. zwar namentlich aus dem Grund, weil auch dienachträgliche Freisprechung im Wiederaufnahmeverfahren keineGarantie dafür biete, daß man es mit einem wirklichUnschuldigen zu thun habe, da dieselbe häufig nur aus demGrund erfolge, weil das ursprünglich vorhanden geweseneBeweismaterial infolge der natürlichen Wirkung des Zeitablaufsan Kraft verloren habe. Der Bundesrat hat daher bis jetzt seineZustimmung zu dem vom Reichstag wiederholt beschlossenenEntschädigungsgesetz nicht erteilt, dagegen 17. März 1887das Vertrauen ausgesprochen, daß in den Bundesstaatenüberall in ausreichender Weise für die Beschaffung derGeldmittel Sorge getragen werde, welche erforderlich, um den beider Handhabung der Strafrechtspflege nachweisbar unschuldigVerurteilten eine billige Entschädigung zu gewähren.Dieser Anregung ist auch von mehreren deutschen Staaten bei derEtatsaufstellung entsprochen worden. Vgl. Jacobi,Wahrheitsermittelung im Strafverfahren und Entschädigungunschuldig Verfolgter (Berl. 1883); Kronecker, DieEntschädigung unschuldig Verhafteter (das. 1883); v. Schwarze,Die Entschädigung für unschuldig erlittene Untersuchungund Strafhast (Leipz. 1883).

Unschuldigen Kindlein, Tag der (Festum innocentium), derkirchliche Festtag zur Erinnerung an den bethlehemitischenKindermord durch Herodes, 28. Dez.

Unsichere Dienstpflichtige (unsichere Kantonisten), jungeLeute, welche sich der Gestellung entziehen, ohne sich derFahnenflucht schuldig zu machen; verlieren das Losungsrecht undkönnen außerterminlich eingestellt werden, wobei ihreDienstzeit vom nächsten Einstellungstermin an rechnet.

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Unsre liebe Frau - Unterbrechung des Verfahrens.

Unsre liebe Frau (franz. Notre Dame), f. v. w. Maria, dieMutter Jesu.

Unst (spr. onst), die nördlichste der Shetlandinseln(s. d.), mit meteorologischer Station und (1881) 2173Einwohnern.

Unsterblichkeit (U. der Seele), die Fortdauer derPersönlichkeit nach dem Tode des Leibes, auf der Stufe derNaturreligion fast überall in Gestalt des Geister undGespensterglaubens, in den Religionen des Altertums entweder in derForm der Seelenwanderung (Indien), oder in derjenigen einesSchattenlebens im Hades (Griechen) oder im Scheol (Hebräer) u.dgl. auftretend, dagegen im spätern Judentum, im Christentumund Islam fast unablösbar verbunden mit der Vorstellung derAuferstehung (s. d.). In schulmäßiger Form wurde derBegriff der U. zuerst entwickelt und begründet von Platon,Cicero und andern Philosophen des Altertums. Im Anschluß anihre Methode hat die spätere Metaphysik die U. aufverschiedene Art zu beweisen gesucht. Der ontologische(metaphysische) Beweis leitet sie ab von dem Begriff derImmaterialität, Einfachheit und Unteilbarkeit der Seele, derteleologische dagegen aus der Bestimmung des Menschen, sich von denäußerlichen, räumlich zeitlichen Bedingungen seinesGeisteslebens immer unabhängiger zu machen und sämtlicheAnlagen zur Entwickelung zu bringen, eine Aufgabe, zu derenLösung die Verhältnisse dieser Erde unzulänglichbefunden werden. Der theologische Beweis stützt sich auf dieWeisheit, Gerechtigkeit und Güte Gottes, die es mit sichbringen, daß den Absichten, mit welchen er persönlicheGeschöpfe ins Dasein gerufen, auch ihre Realisierungverbürgt sein müsse, was auf dieser Erde keineswegs derFall. Der moralische Beweis kommt auf das in diesem Leben niemalsbefriedigte, aber mit unverjährbaren Rechten ausgestatteteBedürfnis nach einer Ausgleichung von innerm Wert undäußerm Befinden zurück. Der analogische Beweis istaus den Erscheinungen der irdischen Natur entnommen, indem sichhier aus dem Tod immer wieder neues Leben entwickele. Der kosmischeBeweis nimmt seine Gründe aus dem Vorhandensein unendlichvieler Welten, welche miteinander in Verbindung stehen und zahlloseÜbungsplätze für die fortgehende Entwickelung derWeltwesen darbieten. Der historische Beweis rekurriert auf dieAllgemeinheit des Glaubens an U., sucht zugleich nach Thatsachender Erfahrung für die Gewißheit der U. (AuferstehungChristi) und beruft sich zumeist auf die Aussprüche derOffenbarung. Zuletzt gehen alle diese Beweise auf das echtmenschliche Bewußtsein zurück, als sittlichePersönlichkeit der materiellen Natur überlegen zusein, ineiner Welt der Freiheit höhern Gesetzen des Daseins zu folgenals die materielle Natur. Der diesen Anspruch als eineTäuschung der Eigenliebe bekämpfende Materialismus istdaher in alter und neuer Zeit der erfolgreichste Gegner auchjeglichen Glaubens an U. gewesen. Aber auch vom idealistischenStandpunkt aus ist derselbe bekämpft worden. Als einLieblingskind der Aufklärungszeit und des Rationalismus fander besonders innerhalb der Schule Hegels Beanstandung, indem diepantheistische Richtung derselben die Fortdauer des Individuumsaufheben zu müssen und nur für eine Rückkehr desindividuellen Geistes in das Allgemeine Platz zu haben schien.Ausdrücklich wurde diese Meinung ausgesprochen von Richter("Lehre von den letzten Dingen", Berl. 1833). Dagegen suchteGöschel in den Schriften: "Von den Beweisen für die U.der menschlichen Seele im Lichte der spekulativen Philosophie"(Berl. 1835) und "Die siebenfältige Osterfrage" (das. 1836)die Hegelsche Philosophie gegen diesen Vorwurf zu verteidigen. Einetiefere Begründung fand die Idee der U. bei den Anhängerndes sogen. spekulativen Theismus, insonderheit bei Weiße("Die philosophische Geheimlehre von der U. des Individuums",Dresd. 1834) und I. H. Fichte ("Die Idee der Persönlichkeitund der individuellen Fortdauer", Elberf. 1834; 2. Aufl., Leipz.1855; "Die Seelenfortdauer und die Weltstellung des Menschen", das.1867). Vom naturwissenschaftlichen Standpunkt aus besprach dieSache Fechner in seinem "Büchlein vom Leben nach dem Tod"(Leipz. 1836, 2. Aufl. 1866) und im 3. Teil seines "Zendavesta"(das. 1851). Vgl. ferner Ritter, Unsterblichkeit (2. Aufl., Leipz.1866);Arnold Die U. der Seele, betrachtet nach denvorzüglichsten Ansichten des Altertums (Landsh. 1870);Teichmüller, Über die U. der Seele (Leipz. 1874);Spieß, Entwicklungsgeschichte der Vorstellungen vom Zustandnach dem Tod (Jena 1877); Henne-Am Rhyn, Das Jenseits (Leipz.1880).

Uustrut, Fluß in der preuß. Provinz Sachsen,entspringt auf dem Eichsfeld bei Kefferhausen unweit Dingelstedt,fließt in mehreren Bogen von W. nach O. und mündet nacheinem Laufe von 172 km unterhalb Freiburg in die Saale. Siedurchfließt meist schöne Wiesengründe und hat nursteile und felsige Thalseiten von Klofter-Roßleben bis zurMündung. Von Bretleben ab ist sie auf 72 km durch zwölfSchleusen für kleine Fahrzeuge schiffbar gemacht. IhreNebenflüsse sind rechts: die Gera, Gramme, Lossa, links: dieHelbe, Wipper, Kleine Wipper, Helme.

Unterbilanz, s. Defizit.

Unterbinduug (Ligatur), chirurg. Operation, bei welcherman zu einem bestimmten Heilzweck ein Blutgefäß durchUmschnüren mit einem Faden verschließ Es geschieht, umeine bestehende Blutung zu stillen, einer zu befürchtendenHämorrhagie vorzubeugen, oder um die Blutzirkulation beiBeseitigung von Aneurysmen zu hemmen; auch behufs Herabsetzung derBlutzufuhr bei Geschwülsten, um dadurch ihr Wachstum zu hemmenoder ihre Verkleinerung herbeizuführen, bei der sogen.Elefantiasis und andern Leiden. Auch zu unblutigen Trennungen wirddie U. benutzt, indem man die in der Trennungslinie liegenden Teilefest umschnürt. Bleibt die U. stets gespannt, sodurchschneidet sie das von ihr Umfaßte in einigen Tagen. AlsMaterial zur U. dient Seide oder Catgut, zur Umschnürung vonGeschwulststielen und zur Durchtrennung von Teilen auch Drähteund Gummistränge.

Unterblätter, s. Amphigastrien.

Unterbrechuug des Verfahrens, im Zivilprozeß einerder beiden Fälle des notwendigen Stillstandes eines Prozessesim Gegensatz zu dem durch den Willen der Parteien bewirkten "Ruhen"des Verfahrens und zwar der kraft Gesetzes unmittelbar mit demMoment des bezüglichen Ereignisses eintretende Stillstand imGegensatz zur "Aussetzung" des Verfahrens (s. d.). Die U. tritt eindurch vom Willen der Parteien unabhängige Umstände,nämlich: 1) Tod einer Partei; 2) Eröffnung des Konkursesüber das Vermögen einer Partei, soweit der Prozeßdie Konkursmasse betrifft; 3) Verlust derProzeßfähigkeit einer Partei oder Wegfall desgesetzlichen Vertreters einer nicht prozeßfähigenPartei; 4) Wegfall des Anwalts einer Partei im Anwaltsprozeß;5) Aufhören der Thätigkeit des Gerichts infolge einesKriegs oder eines andern Ereignisses. In den Fällen

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Untercharente - Unterfranken.

1 und 3 tritt eine Unterbrechung nicht ein, wenn eine Vertretungdurch einen Prozeßbevollmächtigten stattfindet. Bei derU. hört der Lauf einer jeden Frist auf; nach Beendigung der U.(durch "Aufnahme" des Verfahrens, s. d.) beginnt die volle Fristvon neuem zu laufen. U. durch Kabinettsjustiz ist unzulässig.Vgl. Deutsche Zivilprozeßordnung, § 217 ff.

Untercharente (Niedercharente), franz. Departement, s.Charente, S. 946.

Unterchlorige Säure HClO entsteht, wenn manChlorwasser mit Quecksilberoxyd schüttelt und dieFlüssigkeit zur Abscheidung des gleichzeitig gebildetenQuecksilberchlorids destilliert. Bei Einwirkung von Chlor aufkalte, verdünnte Kalilauge, Chlorkalium und unterchlorigsauresKali und bei vorsichtiger Destillation einesUnterchlorigsäuresalzes mit verdünnter Salpetersäuredestilliert u. S. Diese ist eine so schwache Säure, daßihre Salze durch Kohlensäure zersetzt werden; leitet man daherChlor in eine Lösung von kohlensaurem Natron, so entsteht keinUnterchlorigsäuresalz, sondern Chlornatrium und freie u. S.Mäßig konzentrierte Lösungen der Säure lassensich destillieren und durch Fraktionierung konzentrieren,während sehr schwache oder sehr starke Säure sich bei derDestillation zersetzt. Konzentrierte u. S. ist orangegelb,verdünnte fast farblos, riecht eigentümlich, schmecktätzend, zersetzt sich sehr leicht in Chlor und Chlorsäureund wirkt doppelt so stark oxydierend und bleichend als das in ihrenthaltene Chlor. Ihre Salze (Hypochlorite) sind im reinen Zustandwenig bekannt und im festen gar nicht; sie sind sehrunbeständig, ihre verdünnten Lösungen geben beimKochen Chlorsäuresalz und Chloride, die konzentriertenChloride und Sauerstoff; sie entwickeln beim Erhitzen mitverschiedenen Metalloxyden, wie Kobaltoxyd oder Kupferoxyd,Sauerstoff; sie bleichen sehr langsam, nach Zusatz einer Säureaber sehr energisch, auch schon bei Einwirkung der Kohlensäureder Luft. Die unterchlorigsauren Alkalien sind in denBleichflüssigkeiten (Eau de Javelle und Eau de Labarraque)enthalten, unterchlorigsaure Magnesia in Ramsays oder Grouvelles,das Zinksalz in Varrentrapps Bleichflüssigkeit. Über dasKalksalz s. Chlorkalk. Berthollet beobachtete 1785, daß Chlorsich mit einem Alkali verbinden kann, ohne seine bleichendenEigenschaften einzubüßen. Er führte dieLösung, welche er durch Einleiten von Chlor in Kalilaugeerhielt (Eau de Javelle), in die Färberei ein, und Balarderkannte 1834 die Zusammensetzung des Präparats.

Unterchlorigsaures Natron, s. Eau de Javelle.

Unterdominante, s. Dominante.

Unterelsaß, Bezirk im deutschen ReichslandElsaß-Lothringen, umfaßt 4778 qkm (86,78 QM.) mit(1885) 6l2,077 Einw. (darunter 211,955 Evangelische, 379,844Katholische und 18,891 Juden) und besteht aus den acht Kreisen:Kreise QKilometer QMeilen Einw. 1885 Einw. auf 1 QKil.

Erstein 498 9,05 61719 124

Hagenau 659 11,97 73316 111

Molsheim 740 13,44 69328 94

Schlettstadt 635 11,53 71378 112

Straßburg (Stadt) 78 1,42 111987 -

Straßburg (Land) 561 10,19 79521 142

Weißenburg 603 10,95 58270 97

Zabern 1004 18,24 86558 86

Unterfahrung, die Anlage eines neuen Fundaments oderneuer Fundamentteile bei einem Gebände mit ungenügenderoder schadhaft gewordener Gründung, größererBelastung des Baugrundes, tieferer Gründung des Nachbarhausesetc.

Unterfranken, ein Regierungsbezirk des KönigreichsBayern, grenzt im NW. an die preußische ProvinzHessen-Nassau, im N. an Sachsen-Weimar, im NO. anSachsen-Meiningen, im O. an Ober- und Mittelfranken, im S. anWürttemberg und Baden, im W. an das GroßherzogtumHessen, besteht aus dem ehemaligen Bistum Würzburg, demkurmainzischen Fürstentum Aschaffenburg, der vormals freienReichsstadt Schweinfurt und aus Teilen des Bistums Fulda, desFürstentums Ansbach, der Grafschaft Schwarzenberg etc. undumfaßt 8401 qkm (152,58 QM.) mit (1885) 619,436 Einw.(darunter 106,302 Evangelische, 484,406 Katholiken und 14,398Juden). Gebirge sind: im N. die Rhön mit dem Kreuzberg, im W.der reichbewaldete Spessart, im O. der Steigerwald und dieHaßberge. Hauptfluß ist der Main, welcher denRegierungsbezirk, zwei große Bogen nach S. abgerechnet, vonO. nach W. in einem meist breiten und fruchtbaren Thal durchzieht.Ihm fließen hier zu die Fränkische Saale und Sinn aufder rechten Seite, während auf der linken Seite nur kleineBäche einmünden. Der Boden ist meist sehr fruchtbar undliefert Holz in großer Menge, treffliche Weine, Getreide,Flachs, Hanf, Obst etc. Von Mineralien werden Alabaster, Gips, Thonund Eisen gewonnen. Unter den Mineralquellen sind besonders die vonKissingen berühmt. Haupterwerbszweige sind: Land- undForstwirtschaft, Wein- und Obstbau, Viehzucht etc., aber auch dieIndustrie ist bedeutend und besteht vorzugsweise inBaumwollspinnerei, Lein-, Baumwoll- und Wollweberei, Fabrikationvon Tapeten, Papier, Holz- und Eisenwaren, Maschinen, Glas,Bierbrauer rei etc. Der Handel ist besonders namhaft in Holz,Landesprodukten und Wein. Als Hauptverkehrslinie durchzieht denRegierungsbezirk die Eisenbahnlinie Bamberg-Aschaffenburg,zahlreiche andre Linien münden von N. und S. her in diese ein.Die Schiffahrt auf dem Main ist in stetem Aufschwung begriffen. Inadministrativer Hinsicht wird U. in vier unmittelbare Städte(Aschaffenburg, Kitzingen, Schweinfurt und Würzburg) und 20Bezirksämter geteil. Hauptstadt ist Würzburg.

Bezirksämter QKilom. QMeilen Einwohner Einw. auf 1 qkm

Alzenau 262 4,76 19286 73

Aschaffenburg (Stadt) 15 0,27 12393 -

Aschaffenburg (Land) 400 7,26 31102 78

Brückenau 329 5,97 13385 41

Ebern 367 6,67 19849 54

Gerolzhofen 478 8,68 32212 67

Hammelburg 351 6,37 20529 59

Haßfurt 427 7,76 27544 64

Karlstadt 485 8,81 29879 62

Kissingen 468 8,50 32940 70

Kitzingen (Stadt) 24 0,44 7177 -

Kitzingen (Land) 347 6,30 31803 53

Königshofen 559 10,15 29831 53

Lohr 726 13,19 33999 47

Marktheidenfeld 492 8,94 30496 62

Mellrichstadt 268 4,87 13815 51

Miltenberg 322 5,85 20783 65

Neustadt a. S. 377 6,85 20810 55

Obernburg 312 5,67 25666 82

Ochsenfurt 373 6,77 26190 70

Schweinfurt (Stadt) 25 0,45 12502 -

Schweinfurt (Land) 496 9,01 32902 66

Würzburg (Stadt) 32 0,58 55010 -

Würzburg (Land) 464 8,43 39366 85

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Unterführung - Unternehmergewinn.

Unterführung, die Anlage einer Straße untereiner andern, welche sich mit ersterer kreuzt; besonders beiEisenbahnen.

Untergang der Gestirne, das infolge der täglichenallgemeinen Himmelsbewegung von Morgen gegen Abend erfolgendeHinabsinken der Gestirne unter den Horizont. Die Stunde desUnterganges eines Gestirns und für einen bestimmtenBeobachtungsort findet man, wenn man den halben Tagbogen, in Zeitausgedrückt, zur Zeit der Kulmination hinzurechnet. Die sogefundene Zeit des wahren Unterganges ist etwas verschieden von derZeit, zu welcher man den Untergang wirklich beobachtet, der Zeitdes scheinbaren Unterganges, weil wir wegen deratmosphärischen Strahlenbrechung ein Gestirn noch sehen, wennes bereits gegen 35 Bogenminuten unter dem Horizont steht. BeiSonne, Mond und Planeten muß man bei Berechnung des Auf undUnterganges noch auf die Bewegung dieser Körper amFixsternhimmel Rücksicht nehmen, bei Sonne und Mond auch nochauf ihren scheinbaren Halbmesser. Wie beim Aufgang, unterschiedendie Alten auch beim Untergang 1) den heliakischen Untergang oderden zum letztenmal nach Sonnenuntergang stattfindenden, 2) denkosmischen Untergang oder den mit Sonnenuntergang gleichzeitigstattfindenden, daher unsichtbaren, und 3) den akronyktischenUntergang oder den bei Sonnenaufgang stattfindenden. Vgl. Aufgangd. G.

Untergärung, s. Bier, S. 916 f.

Uutergrund, f. Boden, S. 106.

Untergrundpflug, s. Pflug, S. 975.

Unterhändler, s. Makler.

Unterhaus, das Haus der Gemeinen (House of Commons) imenglischen Parlament; s. Großbritannien, S. 776 f.

Unterhautzellgewebe, s. Haut, S. 231.

Unterkiefer, s. Kiefer.

Unterkochen, Dorf im württemberg. Jagstkreis,Oberamt Aalen, in einem Thal zwischen Aalbuch und Härdtfeld,am Schwarzen und Weißen Kocher und an der Linie Aalen-Ulm derWürttembergischen Staatsbahn, 450 m ü. M., hat eine kath.Kirche, 5 Papierfabriken, eine Zellstofffabrik, 2 Kettenfabriken,eine Kunstmühle und (1885) 1979 Einw.

Unterkohlrabi, s. Raps.

Unterkühlt, s. Schmelzen, S. 552.

Unterleib, s. Bauch.

Unterleibsbruch, Eingeweidebruch, s. Bruch, S. 484.

Unterleibskrankheiten, im allgemeinen alle Krankheiten,welche die dem Unterleib angehörigen Organe betreffen.Unterleibsentzündung bedeutet im gewöhnlichenSprachgebrauch s. v. w. Bauchfellentzündung (s.d.), dochgebraucht man den Ausdruck auch zuweilen, um eine Affektion derBeckenorgane oder eine Blinddarmentzündung zu bezeichnen. AlsUnterleibstyphus benennt man diejenige Form des Typhus, welchedurch Lokalisation im Dünndarm als sogen. Ileotyphus vor denbeiden andern typhösen Infektionskrankheiten, demexanthematischen und dem Rückfalltyphus, ausgezeichnet ist.Unterleibsschwindsucht soll meistens so viel sagen wieDarmschwindsucht (s. d.), doch wird darunter auch zuweilentuberkulöse Zerstörung der weiblichen Beckenorganeverstanden. Unterleibsbrüche (Hernien) sind Vorfälle vonDarm oder Netzstücken durch abnorm erweiterte normale oderwidernatürlich entstandene Öffnungen des Bauchfells (s.Bruch, S.484 f.). Wegen der U., welche hypochondrischen oderhysterischen Seelenstörungen zu Grunde liegen sollen, vgl. dieArtikel über die betreffenden Krankheiten undDarmentzündung.

Unterleibsskrofeln, chronische Schwellung derMesenterialdrüsen (s. d. und Darmschwindsucht).

Unterleibstyphus, s. Typhus, S. 956.

Unterleuniugen, Dorf im württemberg. Donaukreis,Oberamt Kirchheim u. T., an der Lauter, hat eine evang. Kirche,Baumwollspinnerei, Holzdreherei, mechanische Werkstätten,Metalldrückerei, eine Ölmühle, Wein und Kirschenbau,eine Schwefelquelle und (1885) 672 Einw.

Unterloire (Niederloire), franz. Departement, s. Loire,S. 878.

Untermalung, die erste Vorbereitung zur Anfertigung einesGemäldes, welche von besonderer Wichtigkeit ist, weil sie dieGrundlage für Zeichnung, Modellierung und Beleuchtung liefert.Der Hauptgrundsatz für die U. ist, daß sie in allenTeilen heller gehalten werden muß als das auszuführendeGemälde oder doch so, daß der späternÜbermalung freie Hand gelassen wird. Während die U. inder neuern Malerei von den persönlichen Erfahrungen dereinzelnen Maler abhängt und im wesentlichen Sache desExperiments ist, gab es in frühern Zeiten bestimmte Rezeptefür einzelne Schulen. So untermalten die altdeutschen undniederländischen Meister gewöhnlich hellbraun, dieVenezianer grau, die Bologneser und Römer braun und dieMailänder, besonders Leonardo da Vinci, fast schwarz. Die U.richtet sich im allgemeinen nach der Weise der Ausführung, d.h. sie ist sorgsam oder flüchtig, je nachdem der Maler seinBild mehr oder weniger ausführen will.

Untermaßfeld, Dorf im Herzogtum Sachsen-Meiningen,Kreis Meiningen, an der Werra und der Linie Eisenach Lichtenfelsder Werra Eisenbahn, hat eine evang. Kirche, ein altes Schloßmit Strafanstalt und (1885) 1058 Einw.

Untermast, s. Brechen.

Untermhaus, Dorf bei Gera (s. d.).

Uutermiete, s. Aftermiete.

Uuteruährer, Anton, s. Antonianer.

Unternehmergewinn ist der Überschuß, welchender Unternehmer (s. Unternehmung) über sämtliche Kapitalund Arbeitsaufwendungen mit Einschluß der in Anrechnung zubringenden Verzinsung erzielt. Wären Befähigung und Triebzu allen möglichen Unternehmungen bei allen Menschen gleichgroß, wären bei vollständig freier Konkurrenz alleKapitalien vollkommen frei und leicht übertragbar,könnten Umfang und Zahl der Unternehmungen beliebig ausgedehntund eingeschränkt werden, so würde es einen U. nichtgeben und, unter der Voraussetzung, daß Kapitalisten denLohnarbeitern gegenüberstehen, den erstern das Kapital einengleichen Gewinn (im weitern Sinn) oder Zinssatz abwerfen. Nuntreffen aber jene Annahmen in Wirklichkeit nicht zu. Zunächstsind die Unternehmungen nicht beliebig ausdehnungsfähig, dieKapitalien nicht gleich beweglich und übertragbar und vonverschiedener Qualität. Infolgedessen werden bei Änderungder Konjunkturen, Steigen oder Sinken der Preise und Kosten auchohne Zuthun des Unternehmers im einen Fall Verluste unvermeidlichsein, im andern Überschüsse erzielt werden. Zu dengenannten Ursachen von Gewinn und Einbuße kommen nun noch dieWirkungen der Eigenschaften und Fähigkeiten der verschiedenenUnternehmer sowie Gunst und Ungunst ihrer individuellen Stellung.Werden an den ganzen Stand der Unternehmer höhereAnforderungen gestellt, so wird dies im allgemeinen zur Folgehaben, daß dem Unternehmer eine höhere Vergeltungfür seine Thätigkeit zufließt als dem Lohnarbeiter(durchschnittlicher "Gewerbsverdienst").

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Unternehmung - Unteroffizierschulen.

Durch besondere Tüchtigkeit kann der einzelne seineEinnahmen unter Umständen weit über diesen Satz hinausvermehren. Weiter können dieselben gesteigert werden durch dieGunst äußerer Verhältnisse, möge dieselbe aufformeller rechtlicher Ausschließung (Monopol, Patent) beruhenoder dem freien Verkehr entwachsen (großer Besitz, Ansehenbei dem Publikum, Gewohnheiten des letztern, günstigeGestaltung der Marktverhältnisse, Möglichkeit, leichtKenntnis von bessern Betriebsweisen zu erlangen, etc.).

Die Wirksamkeit des Unternehmers wird oft über-, sehrhäufig aber auch unterschätzt. Zu hoch wird dieselbe vondenjenigen beurteilt, welche von der Ansicht ausgehen, der U. seilediglich eine Folge vorzüglicher Thätigkeit, nicht auchvon günstigen äußern Verhältnissen, und diedaher mit Vorliebe von einem Unternehmerlohn sprechen. Viel zugering wird die Unternehmerthätigkeit von denjenigen geachtet,welche jeden Gewinn als mühelosen Raub an der Arbeit ansehenund glauben, es könne die Thätigkeit desselbständigen Unternehmers durch diejenige eines besoldetenBeamten ersetzt werden. Jedenfalls ist die Aussicht, durchtüchtige, den Anforderungen der Gesellschaft entsprechendeUnternehmungen einen mehr oder minder großen Gewinn zuerzielen, ein durch andere Mittel nicht zu ersetzender Reiz zubesserer, billigerer Versorgung der Gesamtheit und zuwirtschaftlichem Fortschritt. Das Streben nachÜberschüssen treibt zu Ersparungen, zur Einführungbesserer Produktionsmethoden, Verwendung wirksamerer Kapitalien undvorteilhafterer Verwertung der erzeugten Produkte dadurch,daß jeweilig den relativ dringendern Bedürfnissenentgegengekommen wird. Natürlich sind hierbei Ausbeutung derUnklugheit, des Ungeschicks und der Schwachheit wie Gewinne. welchenicht gerade der bessern Thätigkeit zu verdanken sind, nichtausgeschlossen. Doch lassen sich die Anteile, welche der Gunst derKonjunkturen, und solche, welche der Thatkraft und tüchtigenLeitung zu verdanken sind, nicht oder nur innerhalb bescheidenerGrenzen voneinander trennen, wenn die segensreiche Wirksamkeit derUnternehmertätigkeit nicht untergraben oder Ungerechtigkeitenvermieden werden sollen. Mißstände, wie sie bei freierKonkurrenz und bei von der Volksmeinung als illegitim betrachtetemErwerb eintreten können, lassen sich teils beseitigen, teilsmindern durch Arbeiterschutz, gut organisiertes Kassen- undVersicherungswesen, Konzessionierung, Patent, Musterschutz, durchÜberweisung wirtschaftlicher Gebiete, auf welchen dieSpekulation leicht schädlich wirkt oder nur durchtatsächliche Monopole großer Kapitalien Gewinne zuerzielen sind, an Staat und Kommunalverbände u. dgl. Vgl.außer den Lehrbüchern der Nationalökonomie:Mangoldt, Der U. (Freiburg 1855); Böhmert, DieGewinnbeteiligung (Leipz. 1.877); Pierstorff, Die Lehre vom U.(Berl. 1875); Groß, Die Lehre vom U. (Leipz. 1884).

Unternehmung ist im weitern Sinn jede mit einem gewissenRisiko verbundene Handlung. In der Nationalökonomiebezeichnet man als U. spekulative Verkehrsgeschäfte, daraufberechnet, ihrem selbständigen Inhaber durch Herstellung vonProdukten und Leistungen und Verkauf derselben an Dritte einenGewinn abzuwerfen. Als charakteristische Merkmale der Begriffe U.und Unternehmer gelten, daß letzterer allein die Unsicherheitdes Erfolgs trägt, nach freier Wahl Art, Umfang und Gang derU. bestimmt, und daß seine Thätigkeit nicht durch einenbesoldeten Dritten als Stellvertreter versehen werden kann. eteiner U. können Arbeiter, Kapitalist und Unternehmer in einerPerson vereinigt sein (viele Kleingewerbe und reineGenossenschaften ohne Leihkapital und Lohnarbeiter), oder sie sindvoneinander getrennt sowohl bei Einzel- (Meister mit Gesellen,Fabrikant) als auch bei Kollektivbetrieb. Mischungen zwischendiesen beiden Formen sind die industrielle Partnerschaft und dieGenossenschaft, welche sich auch fremder Arbeiter und Kapitalienbedient. Jede der verschiedenen Unternehmungsformen hat ihrebesondern Eigentümlichkeiten hinsichtlich der Gründung,der Sicherung fremder Interessenten, der Leichtigkeit undBeweglichkeit des Betriebs, der Fähigkeit weiterer Ausdehnungetc. Je nach der Art der gewerblichen Thätigkeit, derwirtschaftlichen Entwickelung, den Anforderungen, welche an denBetrieb und seine Leistungen gestellt werden, ist bald die eine,bald die andre mehr am Platz. Bei der Einzelunternehmung trägtder Unternehmer das Risiko ausschließlich und ungeteilt undmuß darum auch volle Freiheit der Disposition haben. Weilsein Interesse eng mit der U. verwachsen ist, wird er der letzternje nach Bedarf Erübrigungen aus dem Haushalt zuführen,eine gewisse Garantie für Sorgfalt des Betriebs bieten etc.Dagegen ist die Einzelkraft vielen Unternehmungen nicht gewachsen.Vorzüglich ist die Einzelunternehmung am Platz, wo freieVerfügung, Anschmiegung an die jeweilig veränderlichenVerhältnisse notwendig und insbesondere hohe Ansprüche andie persönliche Arbeitsfähigkeit gestellt werden. DurchKollektivunternehmungen werden Kapital und Arbeitskräftefür einen Zweck vereinigt, und zwar gestattet die GesetzgebungVerbindungen von verschiedener Innigkeit, Haftpflicht undBeteiligung von Mitgliedern an Gewinn und Leitung desGeschäfts. Zu erwähnen sind: die offene, die stilleGesellschaft, die Kommanditgesellschaft, Kommanditgesellschaft aufAktien, Aktiengesellschaft und die verschiedenen Genossenschaften(s. d.). Auch Staat und Kommunalverbände können hierhergerechnet werden.

Unteroffiziere, militärische Befehlshaber vomFeldwebel abwärts, welche aus den Reihen der Soldatenhervorgehen. In Deutschland unterscheidet man die U. mit Portepee:Oberfeuerwerker, Feldwebel, Wachtmeister, Vizefeldwebel,Vizewachtmeister, Wallmeister, Zeugfeldwebel, Depotvizefeldwebel,Roßärzte, Unterroßärzte, Fähnriche, inder Marine die Stabswachtmeister und Feldwebel; U. ohne Portepee:Feuerwerker, Sergeanten, Oberlazarettgehilfen, U. Oberjäger,Lazarettgehilfen; in der Marine die Maat (s. d.). Im innern Diensteder Truppe sind sie di. nächsten Aufseher der Soldaten undversehen wirtschaftliche Dienste, wie der Kammerunteroffizier dieAufsicht über die Bekleidungsgegenstände, derSchießunteroffizier die über Waffen und Munition, derFurier die über die Wohnungen, Möbel und Wäsche iden Kasernenstuben führt. Im äußern (taktischenDienst sind sie Führer der kleinsten Unterabteilungen, inwelche die Truppe zerlegt werden kann.

Unteroffizierschulen haben den Zweck, junge Leute zuUnteroffizieren der Infanterie des steh enden Heers heranzubilden.Die Anmeldung geschieht persönlich bei demLandwehrbezirkskommando der Heimat, wozu Taufschein,Führungsattest der Ortsbehörde und Einwilligungsscheindes Vaters mitzubringen sind. Der sich Meldende muß zwischen17 und 20 Jahre alt, 1,57 m groß und frei vonkörperlichen Gebrechen sein, sich gut geführt haben,lesen, schreiben und die vier Species rechnen können. Esbestehen gegenwärtig U. zu Potsdam, Jülich, Biebrich,Weißenfels, Marienwerder (Preußen), Ettlingen (Baden),Marienberg mit Unter-

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Unterpacht - Unterschrift.

offiziervorschule (Sachsen), Neubreisach (Elsaß). InBayern vertreten die Unteroffizieraspirantenschulen bei den Truppendie Stelle der U. Nach dreijähriger Dienstzeit in den U.werden die Zöglinge, die vorzüglichsten alsUnteroffiziere, die andern als Gefreite oder Gemeine, in die Armeeentlassen und müssen hier für jedes Jahr auf derUnteroffizierschule zwei Jahre dienen. Die Zöglinge der U.sind Soldaten. Die 1. Okt. 1877 zu Weilburg errichtete Anstalt isteine Unteroffiziervorschule, welche ihre Zöglinge (die nichtSoldaten sind) nach zweijährigem Kursus an eineUnteroffizierschule überweist. Die Aufzunehmenden dürfennicht unter 15 und nicht über 16 Jahre alt sein.

Unterpacht, s. Afterpacht.

Unterricht, im allgemeinsten Sinn der Inbegriff derThätigkeiten, welche auf Aneignung von Kenntnissen undFertigkeiten abzielen, in welchem Sinn der Begriff U. auch denSelbstunterricht, d. h. diejenige Geistesbildung umfaßt,welche ohne unmittelbare Mitwirkung eines andern (durch Lesen etc.)sich vollzieht; im gewöhnlichen Sinn die Thätigkeit desLehrers, welche die Entwickelung der geistigen Anlagen oderKräfte des Schülers und dessen planmäßigeAnleitung zu Kenntnissen und Fertigkeiten bezweckt. Manunterscheidet zwischen formellem und materiellem U., wovon dererstere vorzüglich die Entwickelung, Übung undVervollkommnung der geistigen Anlagen, der letztere mehr dieAneignung bestimmter Kenntnisse und Fertigkeiten zum Zweck hat;ferner zwischen idealem und realem, wovon jener auf Herausbildungvon Ideen oder auf Vernunftbildung im engern und höhern Sinn,dieser aber auf Bildung für die praktischen Zwecke des Lebenssich richtet. Der Inbegriff der theoretischen Regeln undGrundsätze für den U. ist die Unterrichtslehre oderDidaktik (s.d.). Das ganze öffentliche Unterrichtswesen, auchSchulwesen, von dem sich der Privatunterricht abscheidet, bildet immodernen Staat ein besonderes Verwaltungsdepartement, mit einemMinisterium des öffentlichen Unterrichts an der Spitze und mitProvinzialschulkollegien, Schulinspektionen etc. alsMittelbehörden. Vielfach ist jedoch, namentlich inDeutschland, der geschichtlichen Entwickelung gemäß dasSchulwesen mit dem Kirchenwesen, soweit dieses der Staatshoheitunterliegt, unter einem Ministerium (Kultusministerium)zusammengefaßt. Vgl. Schulwesen.

Unterrichtsbriefe, s. Sprachunterricht, S. 185.

Untersalpetersäure, s. Stickstoffperoxyd.

Untersberg, Gebirgsstock der Salzburger Alpen,südwestlich von Salzburg, mit drei Gipfeln: Geiereck (1801m),Salzburger Hohethron (1851 m), Berchtesgadner Hohethron (1975 m),und zahlreichen Klüften und Höhlen, worunter eineprächtige Marmorgrotte und die 1845 entdeckteKolowratshöhle mit grotesken Eisformationen. Der Berg istdurch das 1883 erbaute, bewirtschaftete Untersberghaus leichterzugänglich gemacht worden; er liefert vorzüglichenMarnior, der hier auch geschliffen wird. Er ist nach der Sage SitzKarls d. Gr. (s. Kaisersagen).

Unterscheidungszoll, s. Zuschlagszölle.

Unterschiebung, s. Kindesunterschiebung.

Unterschlächtig nennt man Wasserräder, beidenen das Wasser aus einem Gerinne in die zuunterst stehendenSchaufeln einfließt (s. Wasserrad); dann auch Feuerungenfür Siedepfannen, bei denen die Flamme unterhalb desPfannenbodens hinzieht.

Unterschlagen, s. Segel.

Unterschlagung (Unterschleif, Interversio), diewissentliche rechtswidrige Zueignung einer fremden, beweglichenSache, welche sich im Besitz oder im Gewahrsam des Thätersbefindet. Der Thatbestand der U. fällt insofern mit dem desDiebstahls zusammen, als hier wie dort eine Sache den Gegenstanddes Verbrechens bildet, welche eine bewegliche und eine fremde, d.h. einem andern gehörige, ist. Ebenso ist der subjektiveThatbestand bei beiden Verbrechen derselbe, indem für beideVorsätzlichkeit der Handlung, ferner das Bewußtsein,daß die Sache eine fremde, und endlich die Absicht, sich dieSache zuzueignen, erforderlich sind. Verschieden sind die beidenDelikte aber insofern, als es sich bei dem Diebstahl um dieWegnahme einer Sache aus dem Gewahrsam eines andern, bei der U.dagegen um die Zueignung einer solchen Sache handelt, welche sichbereits im Gewahrsam des Thäters befindet. So fällt z. B.der sogen. Funddiebstahl, d. h. die widerrechtliche Zueignung einergefundenen Sache, nicht unter den Begriff des Diebstahls, sondernunter den der U., weshalb auch dafür die Bezeichnung"Fundunterschlagung" richtiger wäre. Als schwerer Fall der U.erscheint es nach dem deutschen Strafgesetzbuch, wenn demThäter die unterschlagene Sache anvertraut war (sogen.Veruntreuung). Das Reichsstrafgesetzbuch läßt hierGefängnisstrafe bis zu fünf Jahren eintreten,während es die einfache U. nur mit Gefängnis bis zu dreiJahren bedroht. Beim Vorhandensein mildernder Umstände kannauf Geldstrafe bis zu 900 Mk. erkannt werden. Wie beim Diebstahl,wird auch beider U. der Versuch bestraft. Ebenso haben beideVerbrechen es miteinander gemein, daß die That nur auf Antragdes Verletzten strafrechtlich verfolgt wird, wenn der Betrag desVerbrechensgegenstandes nur ein geringer ist und der Verletzte mitdem Thäter in Familiengenossenschaft oder häuslicherGemeinschaft lebte. Diebstahl und U., welche von Verwandtenaufsteigender Linie gegen Verwandte absteigender Linie oder voneinem Ehegatten gegen den andern begangen worden, bleiben straflos.Wird eine U. von einem Beamten an Geldern oder andern Sachenverübt, welche er in amtlicher Eigenschaft empfangen oder imGewahrsam hat, so wird die That als besonderes Amtsverbrechen (s.d.) bestraft. Das österreichische Strafgesetzbuch (§ 181ff., 461 ff.) kennt als selbständiges Delikt nur dierechtswidrige Zueignung anvertrauten Gutes (Veruntreuung). Vgl.Deutsches Reichsstrafgesetzbuch, § 246 ff., 350 f.; v.Stemann, Das Vergehen der U. und der Untreue (Kiel 1870).

Unterschnitten heißt ein horizontales Bauglied,dessen untere Seite ausgehöhlt ist.

Unterschrift, der unter eine Urkunde (s. d.) gesetzteName des Ausstellers derselben. Bei Personen, welche nichtschreiben können, vertritt ein Handzeichen, gewöhnlichdrei Kreuze, die Stelle der U. (s. Analphabeten).Wechselerklärungen, welche mittels Handzeichens vollzogensind, haben nur dann Wechselkraft, wenn das Handzeichen gerichtlichoder notariell beglaubigt ist. Der Name, unter welchem ein Kaufmannseine U. abgibt, heißt Firma (s. d.); daher "Firma" oder "U.geben" s. v. w. Prokura (s. d.) erteilen. Nach der deutschenZivilprozeßordnung (§ 381) begründet eine von demAussteller unterschriebene oder mittels gerichtlich oder notariellbeglaubigten Handzeichens unterzeichnete Urkunde vollen Beweisdafür, daß die in derselben enthaltenen Erklärungenvon dem Aussteller abgegeben sind. Was das Beweisverfahrenanbetrifft, so ist nach der Zivilprozeßordnung (§ 404f.) bei unterschriebenen Privaturkunden die Erklärung desBeweisgegners auf die Echtheit der U. zu richten. Ist die U.anerkannt, oder

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Unterschweflige Säure - Unterseeische Fahrzeuge.

ist das ihre Stelle vertretende Handzeichen gerichtlich odernotariell beglaubigt, so hat die über der U. oder demHandzeichen stehende Schrift die Vermutung der Echtheit fürsich. Soll also trotz der echten U. die Unechtheit oder eineVeränderung der Urkunde behauptet werden, so muß derBeweisgegner, welcher diese Behauptung aufstellt, den Beweisderselben übernehmen und erbringen, wenn anders die Urkundeihre Beweiskraft verlieren soll.

Unterschweflige Säure (hydroschweflige Säure)H2SO2 entsteht, wenn man Eisen oder Zink in einem verschlossenenGefäß in wässeriger schwefliger Säurelöst. Der dabei frei werdende Wasserstoff reduziert imEntstehungsmoment die schweflige Säure. Die tiefgelbeLösung wirkt sehr kräftig reduzierend und fällt ausSilber- und Quecksilbersalzen die Metalle. Das Natronsalz entsteht,wenn man eine konzentrierte Lösung von saurem schwefligsauremNatron in einer verschlossenen Flasche mit Zink versetzt und gutabkühlt; es kristallisiert in Nadeln, absorbiert begierigSauerstoff, wirkt reduzierend, wie die Säure, und dient daherin der Färberei und Zeugdruckerei zur Reduktion des Indigos.Bis zur Entdeckung dieser Säure durch Schützenbergernannte man u. S. (dithionige Säure, Thioschwefelsäure)eine Säure H2S2O3, welche im freien Zustand nicht bekannt ist,aber eine Reihe beständiger Salze (Thiosulfate, Hyposulfite)bildet, deren Lösung auf Zusatz von Säuren Schwefelabscheidet und dann schweflige Säure enthält. Diese Salzeentstehen auf verschiedene Weise. So bildet sichunterschwefligsaures Natron, wenn man schweflige Säure in eineLösung von Schwefelnatrium leitet oder schwefligsaures Natronmit Schwefel kocht; die meisten Thiosulfate kristallisieren gut,enthalten Kristallwasser und werden gewöhnlich erst bei derZersetzungstemperatur wasserfrei. Sie bilden auch gern Doppelsalze,und daher lösen sich die unlöslichen Thiosulfate in einerLösung des Natriumsalzes, welches auch Chlor-, Brom-,Jodsilber, Jodblei, schwefelsaures Blei und Gips löst. Mangewinnt das unterschwefligsaure Natron (Natriumthiosulfat) Na2S2O3in der oben angegebenen Weise, häufiger ausSodarückständen, indem man dieselben an der Luft sichoxydieren läßt, auslaugt und die Lösung, welcheneben unterschwefligsaurem Kalk viel Schwefelcalcium enthält,in einem Koksturm einem erwärmten Luftstrom entgegenlaufenläßt, um das Schwefelcalcium zu unterschwefligsauremKalk zu oxydieren. Diese Oxydation kann auch durch Einblasen vonLuft oder schwefliger Säure erreicht werden. Man konzentriertdann die Lösung durch Verdampfen und versetzt sie mitschwefelsaurem Natron, wodurch schwefelsaurer Kalk gefälltwird, während unterschwefligsaures Natron in Lösungbleibt, welches durch Kristallisation gewonnen und durchUmkristallisieren gereinigt wird. Es bildet große, farblose,luftbeständige Kristalle mit 5 Molekülen Kristallwasservom spez. Gew. 1,73, schmeckt kühlend, bitter schweflig,löst sich leicht in Wasser, nicht in Alkohol, verwittert bei33°, schmilzt bei 45-50°, wird bei 215° wasserfrei undzersetzt sich bei 220°. Die Lösung ist wenigbeständig und zersetzt sich namentlich beim Kochen. Manbenutzt das Salz als Antichlor in der Papierfabrikation undZeugbleicherei, zum Bleichen von Wolle, Stroh, Elfenbein, Knochen,Haar etc. (da es beim Versetzen der Lösung mit Salzsäurereichlich schweflige Säure entwickelt), als bequemes Mittelzur Darstellung von schwefliger Säure im allgemeinen, alsBeize in der Zeugdruckerei, als gärungswidriges Mittel in derZuckerfabrikation, zum Fixieren der Photographien, zur Darstellungvon Zinnober, Antimonzinnober und verschiedenen kunstlichenFarbstoffen, zur Bereitung von Indigküpen, zum Extrahieren vonSilbererzen, zur Bereitung von Vergoldungs- undVersilberungsflüssigkeiten etc. Es wurde 1799 von Chaussierzuerst dargestellt und von Vauquelin genauer untersucht.Unterschwefligsaures Bleioxyd PbS2O3 wird aus der Lösung einesBleisalzes durch unterschwefligsaures Natron gefällt, istfarblos, wenig löslich, zersetzt sich in höhererTemperatur bei Abschluß der Luft in Schwefelblei undschweflige Säure, verglimmt an der Luft und dient zumVulkanisieren von Kautschuk und Guttapercha. UnterschwefligsauresGoldoxydnatron wird erhalten, indem man Goldchloridlösung mitKalkmilch digeriert und den ausgewaschenen Niederschlag inunterschwefligsaurem Natron löst. Es wird unter dem Namen Seld'or in der Photographie benutzt. Unterschwefligsaurer Kalk CaS2O3entsteht in großer Menge bei der Verwertung derSodarückstände, wird aber meist auf unterschwefligsauresNatron verarbeitet. Es bildet farblose, beständige Kristalle,löst sich leicht in Wasser, nicht in Alkohol und wird wie dasNatronsalz benutzt.

Untersee, s. Bodensee.

Unterseeische Fahrzeuge (Taucherschiffe), Fahrzeuge,welche sich in vertikaler und in horizontaler Richtung unter Wasserbewegen lassen und ihrer Besatzung das Atmen in dem von jederKommunikation mit der Atmosphäre abgeschnittenen Raumgestatten. Als das zur Zeit vollkommenste unterseeische Eahrzeuggilt das nach seinem Erfinder benannte, in England erbaute und vonder türkischen Regierung käuflich erworbeneNordenfeltboot, welches als Torpedoboot eingerichtet und auchüber Wasser als solches verwendbar ist. Das Boot enthältüber 150cbm Luft und ermöglicht dadurch 6-7 Personenwährend 5-6 Stunden den Aufenthalt unter Wasser. Nach dieserZeit muß das Boot an die Oberfläche des Wassers kommen,um durch Öffnen seiner wasserdichten Luken frische Luft zuschöpfen. Das Senken und Heben des Fahrzeugs geschieht,nachdem durch gleichzeitiges Einlassen oder Auspumpen von Wasseraus besondern Abteilungen desselben sein Gewicht entsprechendvergrößert, resp. vermindert worden, durch Rotationzweier Schraubenpropeller, welche an den Enden des Boots mitvertikal stehenden Achsen und von innen bewegbar angebracht sind.Eine gleimäßige Rotation dieser Propeller in der einenoder andern Richtung bewirkt ein gleichmäßiges Senken,resp. Heben des Boots, während eine schnellere Rotation deseinen von beiden eine schnellere vertikale Bewegung desbetreffenden Endes des Boots zur folge hat. Hierdurch hat man es inder Gewalt, den Kiel des Boots stets, besonders auch dann inhorizontaler Lage zu erhalten, wenn es seine unterseeische Fahrt inhorizontaler Ebene beginnen soll. Zur Ausführung einerExpedition unter Wasser ist zunächst erforderlich, denDampfdruck im Kessel auf sein Maximum zu steigern. Dadurch wirdeine Aufspeicherung von Wärme im Kesselwasser bedingt, welcheausreicht, der Hauptmaschine während 5-6 Stunden den zurErzielung einer Geschwindigkeit von 6-7 Knoten erforderlichen Dampfzu liefern. Alsdann werden die Kesselfeuerungen ausgelöscht,der Schornstein abgenommen, die Luken wasserdicht geschlossen, eingewisses Quantum Wasser in die dazu bestimmten Räumeeingelassen und die beiden oben erwähnten Schrauben an denEnden des Schiffs, auf Senken wirkend, in Rotation gesetzt, bis dasSchiff sich in der gewünschten

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Unterstaatssekretär - Unterstützungswohnsitz.

Tiefe befindet, und nun die Hauptmaschine auf Vorwärtsgangangelassen. Soll das Boot wieder an die Oberfläche kommen, sogenügt es, nach Arretierung der Hauptmaschine jene beidenSchrauben auf Heben in Gang zu setzen, während gleichzeitigdas vorher eingelassene Wasser wieder ausgepumpt wird, welcheOperationen übrigens sämtlich durch kleine Dampfmaschinenbewirkt werden, die ihren Dampf ebenfalls dem Hauptkesselentnehmen, und unter denen sich auch eine solche für denBetrieb der elektrischen Beleuchtung befindet. Zur Kontrolle derBewegung sind zwei Ruder vorhanden, von denen das eine mitvertikalem Ruderblatt wie ein gewöhnliches Schiffsruder wirktund Abweichungen nach rechts und links reguliert, während dasandre mit horizontalem Ruderblatt die Bewegung in horizontaler Bahnsicherstellt. Der Führer des unterseeischen Fahrzeugs befindetsich auf erhöhtem Stand mit dem Kopf in einer am höchstenPunkte des Boots aus diesem hervorragenden, wasserdichtaufgesetzten Glasglocke, so da ihm, solange die Bewegung noch dichtunter der Oberfläche oder mit jener Glocke noch überWasser vor sich geht, eine gewisse Orientierung gestattet ist. Imübrigen ist derselbe bezüglich der einzuschlagendenRichtung nur auf seinen Kompaß angewiesen. Er handhabt dasvertikale und horizontale Ruder und gegebenen Falls dieAbzugsvorrichtung zum Lancieren des Torpedos. Je tiefer einunterseeisches Fahrzeug unter Wasser gelassen werden soll, um sosicherer muß dasselbe gegen die Möglichkeitgeschützt sein, durch den Wasserdruck zusammengepreßt zuwerden. Um dies zu erreichen, werden die Nordenfeltboote aus Stahlmit besonders soliden innern Verbandteilen aus demselben Materialerbaut. Das bereits 1850 von Bauer erbaute und im Kieler Hafenprobierte Boot verdankte seinen Mißerfolg vorzugsweise demUmstand, daß es, dem Wasserdruck nachgebend, seitlicheingedrückt wurde und nicht mehr vermochte, an dieOberfläche zu kommen, während die drei Insassen mit derdurch die Einsteigeluke entweichenden Luft wieder ans Tageslichtgelangten. In neuester Zeit hat man in Frankreich den naheliegendenGe danken zur Ausführung gebracht, die Elektrizität alsBetriebskraft für unterseeische Fahrzeuge zu benutzen. Die mitdem Fahrzeug Gymnote erzielten Resultate sollen sehr günstigegewesen sein, so daß es in Frankreich als Konkurrenztyp gegendie Nordenfeltboote angesehen wird.

Unterstaatssekretär, s. Staatssekretär.

Unterstützuugswohnsitz, derjenige Gemeindeverband,welcher im einzelnen Fall zur öffentlichen Unterstützungeiner hilfsbedürftigen Person verpflichtet ist; auch das Rechteiner solchen Person, von einem Gemeindeverband (Armenverband)Unterstützung verlangen zu können. Im Gegensatz zu dem inDeutschland früher herrschenden Heimatssystem, wonach einUnterstützungsanspruch mit der Gemeindeangehörigkeit (s.Heimat) verknüpft war, brachte die preußischeGesetzgebung diesen Anspruch mit der thatsächlichenWohnsitznahme in Verbindung und schuf so einen mit dem Heimatsrechtoder der Gemeindeangehörigkeit nicht zusammenfallenden U.Während ferner das Heimatssystem zu einer Beschränkungder Aufnahme Neuanziehender führte, nahm Preußen dasSystem der Freizügigkeit (s. d.) an, welch letzteres dann indie Verfassung und Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes und sodanndes Deutschen Reichs übergegangen ist. Auch das Recht desUnterstützungswohnsitzes wurde durch Gesetz vom 6. Juni 1870für den Norddeutschen Bund eingeführt Dies Gesetz istdann auf Baden, Südhessen und Württemberg, aber nicht aufBayern und Elsaß Lothringen ausgedehnt worden. Nach demGesetz vom 6. Juni 187o wird die öffentlicheUnterstützung durch die Ortsarmenverbände und dieLandarmenverbände gewährt, und zwar können dieOrtsarmenverbände aus einer oder mehreren Gemeinden oderGutsbezirken zusammengesetzt sein, während dieLandarmenverbände entweder mit dem Staatsgebiet desbetreffenden Bundesstaats (Kleinstaats), welcher die Funktionen desLandarmenverbandes selbst übernimmt, zusammenfallen, oderbesonders konstituiert und dann in der Regel aus mehrerenOrtsarmenverbänden zusammengesetzt sind. In Preußenbildet der Provinzialverband in der Regel auch denLandarmenverband. Die innere Organisation der Orts undLandarmenverbände, die Art und das Maß der im Fall derHilfsbedürftigkeit zu gewährenden öffentlichenUnterstützung und die Beschaffung der erforderlichen Mittelwerden durch die Landesgesetzgebung geregelt, welche auchdarüber Bestimmungen zu treffen hat, in welchen Fällenund in welcher Weise den Ortsarmenverbänden von denLandarmenverbänden oder von andern Stellen eine Beihilfe zugewähren ist, sowie darüber, ob und inwiefern sich dieLandarmen verbände der Ortsarmenverbände als ihrer Organebehufs der öffentlichen UnterstützungHilfsbedürftiger bedienen dürfen. DieAusführungsgesetze der Einzelstaaten sind vielfach dempreußischen Ausführunggesetz vom 8. März 1871nachgebildet (vgl. sächsische Gesetze vom 6. Juni 1871 und 15.Juni 1876, württembergisches Gesetz vom 17. April 1873,badisches vom 14. März 1872, hessisches vom 14. Juli1871etc.). Was die Unterstützung selbst anbelangt, so wird nachdem preußischen Aussührungsgesetz demHilfsbedürftigen Obdach, der unentbehrliche Lebensunterhalt,die erforderliche Pflege in Krankheitsfällen und im Fall desAblebens ein angemessenes Begräbnis gewährt. DasUnterstützungswohnsitzgesetz unterscheidet ferner 1) zwischender sich vorläufig und momentan nötig machenden und 2)zwischen der dauernden und endgültigen Unterstützung. Zuersterer ist derjenige Ortsverband verpflichtet, in dessen Bezirksich der hilfsbedürftige Deutsche bei dem Eintritt derHilfsbedürftigkeit befindet, vorbehaltlich des Anspruchs aufErstattung der Kosten und der Übernahme desHilfsbedürftigen gegen den hierzu verpflichteten Armenverband.Hierzu ist, wenn der Hilfsbedürftige einen U. hat, derOrtsarmenverband dieses Unterstützungswohnsitzes,außerdem aber, wenn kein U. begründet ist, derjenigeLandarmenverband verpflichtet, in dessen Bezirk sich jener beiEintritt der Hilfsbedürftigkeit befand, oder, falls er inhilfsbedürftigem Zustand aus einer Straf-, Kranken-, Bewahr-oder Heilanstalt entlassen wurde, derjenige Landarmenverband, auswelchem seine Einlieferung in die Anstalt erfolgte. Der U. wirdbegründet 1) durch Aufenthalt, 2) durch Verehelichung, 3)durch Abstammung. Durch Aufenthalt erwirbt derjenige, welcherinnerhalb eines Ortsarmenverbandes nach zurückgelegtem 24.Lebensjahr zwei Jahre lang ununterbrochen seinen gewöhnlichenAufenthalt gehabt hat, in demselben den U. Ferner teilt die Ehefrauvom Zeitpunkt der Eheschließung ab den U. des Mannes; endlichteilen die ehelichen Kinder den U. des Vaters, uneheliche den ihrerMutter. Verloren wird der U. durch den Erwerb eines anderweitenUnterstützungswohnsitzes und durch zweijährigeununterbrochene Abwesenheit nach zurückgelegtem 24.Lebensjahr. Wer sich seitdem in den letzten Jahren an keinem Ortzwei Jahre

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Untersuchungshaft - Unterthan.

lang ununterbrochen aufgehalten hat, fällt im Fall derUnterstützungsbedürftigkeit als landarm demLandarmenverband seines Aufenthaltsorts zur Last. Diezweijährige Erwerbs und Verlustfrist führt freilich nichtselten Ortsarmenverbände dazu, durch "Abschiebung" vonHilfsbedürftigen vor Ablauf der zwei Jahre den Erwerb desUnterstützungswohnsitzes zu verhüten. DerHilfsbedürftige, welcher innerhalb eines Ortsarmenverbandesden U. hat, wird als ortsarm bezeichnet. Entstehen über dieVerpflichtung zur Unterstützung hilfsbedürftiger Personenzwischen verschiedenen Ärmenverbänden Streitigkeiten, sokommt es, was das Verfahren anbetrifft, darauf an, ob diestreitenden Teile einem und demselben Bundesstaat oderverschiedenen Staaten angehören. Im erstern Fall sind dieLandesgesetze des betreffenden Staats maßgebend, währendfür Differenzen zwischen den Armenverbänden verschiedenerStaaten in dem Gesetz vom 6. Juni 1870 besondere Vorschriftengegeben sind. Auch in diesem Fall wird nämlich zunächstvon den nach Maßgabe der Landesgesetzgebung kompetentenBehörden, in Preußen von den Verwaltungsgerichten, inandern Staaten von den hierzu besonders eingesetzten Deputationenoder von den sonst zuständigen Verwaltungsbehörden,verhandelt und entschieden. Diese Behörden könnenUntersuchungen an Ort und Stelle veranlassen, Zeugen undSachverständige laden und eidlich vernehmen und überhauptden angetretenen Beweis in vollem Umfang erheben. Gegen die durchschriftlichen, mit Gründen zu versehenden Beschluß zugebende Entscheidung findet Berufung an das Bundesamt für dasHeimatswesen statt. Letzteres ist eine ständige und kollegialeBehörde mit dem Sitz in Berlin, bestehend aus einemVorsitzenden und mindestens vier Mitgliedern, welche auf Vorschlagdes Bundesrats vom Kaiser auf Lebenszeit ernannt werden. Zu derBeschlußfassung sind mindestens drei Mitglieder zuzuziehen.Die Berufung ist binnen einer Präklusivfrist von 14 Tagen, vonder Behändigung der angefochtenen Entscheidung an gerechnet,bei derjenigen Behörde, gegen deren Entscheidung sie gerichtetist, schriftlich anzumelden. Der Gegenpartei steht das Recht zueiner binnen vier Wochen nach der Behändigung einzureichendenschriftlichen Gegenausführung zu. Die Entscheidung desBundesamtes erfolgt gebührenfrei in öffentlicher Sitzungnach erfolgter Ladung und Anhörung der Parteien; gegen dieEntscheidung ist ein weiteres Rechtsmittel nicht zulässig. DasBundesamt ist aber von verschiedenen Staaten und namentlich vonPreußen auch für die im eignen Gebiet vorkommendenStreitsachen als letzte Instanz anerkannt. In Bayern gilt noch daspartikulare Heimatsrecht (s. Heimat, S. 302). InSüddeutschland ist vielfach der Wunsch nach Rückkehr zudem frühern Heimatssystem laut geworden. Vgl. Eger, DasReichsgesetz über den U. vom 6. Juni 1870 (2. Aufl., Bresl.1884); Arnold, Die Freizügigkeit und der U. (Berl. 1872);Rocholl, System des deutschen Armenpflegerechts (das. 1873);Wohlers, Das Reichsgesetz über den U. (4. Aufl., das. 1887).Die Entscheidungen des Bundesamtes für das Heimatswesen werdengesammelt und herausgegeben von Wohlers (Berl. 1873 ff.).

Untersuchuugshaft (Untersuchungsarrest), Verhaftung deseiner verbrecherischen That Verdächtigen, um die Erreichungder Zwecke der strafrechtlichen Untersuchung zu sichern. ImGegensatz zur Strafhaft ist der Zweck der U. ein vorbereitender,die Vollstreckung des künftigen Strafurteils sichernder. DieU. ist ein Eingriff in die persönliche Freiheit lediglich ausZweckmäßigkeitsgründen. Die moderneStrafprozeßgesetzgebung ist daher darauf bedacht, dieVoraussetzungen der U. genau festzusetzen, um einwillkürliches Verhängen der U. möglichst zuvermeiden (s. Haft). Jedenfalls müssen gegen denAngeschuldigten dringende Verdachtsgründe vorliegen. Die U.darf nicht den Charakter einer Strafe haben. Deshalb ist dieBehandlung des Untersuchungsgefangenen von derjenigen desStrafgefangenen wesentlich verschieden. Nach der deutschenStrafprozeßordnung (§ 116) muß der in U.Genommene, soweit möglich, einzeln und namentlich nicht mitStrafgefangenen zusammen verwahr werden. Mit Zustimmung desVerhafteten kann jedoch von dieser Vorschrift abgesehen werden.Demselben sollen ferner nur solche Beschränkungen auferlegtwerden, welche zur Sicherung des Zweckes der Hast oder zurAufrechthaltung der Ordnung im Gefängnis notwendig sind.Bequemlichkeiten und Beschäftigungen, die dem Stand und denVermögensverhältnissen des Verhafteten entsprechen, darfsich derselbe auf seine Kosten verschaffen, soweit sie mit demZweck der Haft vereinbar sind und weder die Ordnung imGefängnis stören noch die Sicherheit gefährden.Fesseln dürfen dem Verhafteten im Gefängnis nur dannangelegt werden, wenn es wegen besonderer Gefährlichkeitseiner Person, namentlich zur Sicherung andrer, erforderlicherscheint, oder wenn er einen Selbstentleibungs- oderEntweichungsversuch gemacht oder vorbereitet hat. Bei derHauptverhandlung soll er ungefesselt sein. Gleichwohl erleidet dernachmals verurteilte Angeschuldigte durch die vorgängige U.tatsächlich ein Mehr an Strafe, und ebendeshalb entspricht esder Billigkeit, die erlittene U. auf die erkannte Strafe inAnrechnung zu bringen. Das deutsche Strafgesetzbuch (§ 60)bestimmt, daß eine erlittene U. bei Fällung des Urteilsauf die erkannte Strafe ganz oder teilweise angerechnet werdenkann. Sie muß nach der deutschen Strafprozeßordnung(§ 482) auf die zu vollstreckende Freiheitsstrafe insoweitangerechnet werden, als sie für den verurteiltenAngeschuldigten noch fortbestand, nachdem er auf die Einlegungeines Rechtsmittels verzichtet oder das eingelegte Rechtsmittelzurückgenommen hat, oder seitdem die Einlegungsfristabgelaufen ist, ohne daß er eine Erklärung abgegeben.Nach der österreichischen Strafprozeßordnung (§400) ist die U. anzurechnen, welche der zu einer FreiheitsstrafeVerurteilte seit der Verkündigung des Urteils erster Instanzerlitten hat, insofern der Antritt der Strafe durch von dem Willendes Verurteilten unabhängige Umstände verzögertwurde. Außerdem findet die Einrechnung auch dann statt, wennein zugunsten des Verurteilten ergriffenes Rechtsmittel auch nureinen teilweisen Erfolg hatte. Für den durch eine U.betroffenen, nachträglich aberfreigesprochen enAngeschuldigten wird neuerdings vielfach die Gewährung einerEntschädigung als ein Gebot der Billigkeit bezeichnet(s.Unschuldig Angeklagte und unschuldig Verurteilte). Vgl. DeutscheStrafprozeßordnung, § 112 ff.; Österreichische,§ 184 ff.

Untersuchungsprozeß, s. v. w. Strafprozeß;auch s. v. w. Inquisitionsprozeß (s. Strafprozeß).

Uutersuchungsrecht, s. Durchsuchungsrecht.

Untersuchungsrichter, s. Richter.

Untersuchungsverfahren (Inquisitionsverfahren), s.Anklageprozeß.

Unterthan (Subditus), jeder, welcher einer Staatsgewaltunterworfen ist. Die Unterthanenschaft ist entweder ein bleibendespersönliches Rechtsver-

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Unterthaneneid - Unterwalden.

hältnis, gegründet auf die Staatsangehörigkeitdes Unterthanen (subditus personalis), oder ein nurvorübergehendes Verhältnis, indem auch Fremde alsUnterthanen (subditi temporarii) behandelt werden, solange sie imStaat weilen, diejenigen ausgenommen, welchen nachvölkerrechtlichem Gebrauch die Exterritorialität zukommt,z. B. Gesandte. Gründet sich die Unterthanenschaft lediglichauf den Besitz unbeweglicher Güter, so heißen dieUnterthanen Landsassen (subditi reales, Forensen), wenn sienämlich Grundstücke im Land besitzen, aber im Auslandwohnen. Letztere sind in dem Land, worin ihre Grundstückeliegen, nur den Gesetzen unterworfen, welche die Grundstückebetreffen oder ausdrücklich auf die Forensen mit ausgedehntsind. Im engern und eigentlichen Sinn versteht man aber unterUnterthanen im Gegensatz zu den Fremden nur die Angehörigendes Staats, welche als Inländer (Staatsangehörige,Volksgenossen, Regierte) zu der Staatsgewalt in dem dauerndenVerhältnis persönlicher Unterordnung stehen. DieUnterthanenschaft in diesem Sinn ist gleichbedeutend mitHeimatsrecht oder Staatsangehörigkeit (s. d.). Die politischvollberechtigten Unterthanen werden Staatsbürger (s. d.)genannt.

Unterthaneneid, s. Huldigung.

Untertibet, früherer Name von Ladak (s. d.).

Untertöne, in der Musik diejenige Reihe vonTönen, welche sich im umgekehrten Verhältnis derObertonreihe nach der Tiefe erstreckt und ebenso für dieErklärung der Konsonanz des Mollakkords herangezogen werdenmuß, wie die Obertonreihe für die des Durakkords.

Unterwalden, einer der drei Urkantone der Schweiz, grenztim N. an Schwyz und Luzern (durch den Vierwaldstätter Seedavon getrennt), im W. an Luzern, im S. an Bern, im O. an Uri undumfaßt 765 qkm (13,9 QM.). Der Kanton wird durch den Kernwaldin zwei seit dem 12. Jahrh. getrennte Staatswesen (Halbkantone)geschieden: Nidwalden (290 qkm mit 12,520 Einw.) und Obwalden (475qkm mit 15,030 Einw.), von denen ersteres den untern Teil desEngelberger Thals und das Seegestade umfaßt, während dashöher gelegene Obwalden wesentlich durch das Thal der SarnerAa und das obere Engelberger Thal gebildet wird. Die dieThäler einrahmenden Gebirge lassen sich teils als Flügelder Berner Alpen (Titlis 3239 m, Uri-Rotstock 2932 m etc.)betrachten, welche nach dem See hin voralpinen Charakter annehmenund mit dem Buochser Horn (1809 m) und Stanser Horn (1900 m)abschließen, teils als ein wesentlicher Teil der LuzernerAlpen, welche in den voralpinen Massen des Brienzer Rothorns (2351m) und Pilatus (2133 m) ihre Häupter haben. In der fahrbarenPaßlücke des Brünig (1004 m) nähern sich diebeiden Systeme, während aus dem Engelberg nur ungebahnteBergpfade führen: die Surenen (2305 m) nach Uri und das Joch(2208 m) nach dem Haslethal. Das Klima ist am Seegestade mild, imHochgebirge rauh. Der Kanton zählt (1888) 27,550 Einw. DieNidwaldner sind ein "rüstiger, intelligenter Volksschlag",dessen Verhältnisse in einfachen, altertümlichen Formensich fortbewegen, gutmütig und abgeschlossen, gleich denObwaldnern, welch letztere übrigens an intellektuellerBefähigung zurückzustehen scheinen. Die Bevölkerungist fast ganz katholisch und gehört zur Diözese Chur. Esgibt noch sechs Klöster, unter denen das BenediktinerstiftEngelberg (s. d.) das angesehenste ist. U. ist ein Hirtenland. DieRinder (17,853 Stück) gehören größtenteils zurSchwyzer Rasse und sind meist Kühe; Butter und Käse sindAusfuhrprodukte. Stark ist auch der Bestand an Ziegen (8308Stück), geringer der an Schweinen und Schafen. Die Matten undGärten Unterwaldens sind mit zahllosen Obstbäumenbesetzt; Obst, Obstwein und Branntwein bilden Ausfuhrartikel, soauch die Nüsse. An den Waldungen (191 qkm) besäßeU. eine unversiegliche Quelle des Wohlstandes, wenn dieHolzproduktion durch eine bessere Bewirtschaftung gesteigertwürde. Das Melchthal und Alpnach haben schönen Marmor.Schwendi-Kaltbad hat eine geschätzte Eisenquelle von 4,7°C. Die Seidenspinnerei und Kämmlerei von Buochs ist eineFiliale der Gersauer Industrie; in Hergiswyl arbeitet eineGlashütte, im Rotzloch eine Papierfabrik. Für den Transitist U. nicht günstig gelegen, sein Markt ist Luzern; esberührt bloß die große Verkehrsstraße,welche der See als Zugang des St. Gotthard bildet. Hingegen liegtes im Bereich des allsommerlichen Touristenzugs. Am See liegen dieDampferstationen Beckenried, Stansstad und Alpnach; belebte Kurortesind: Engelberg, Schöneck, Bürgistock, Melchseealp etc.,und von Alpnach führt durch das Sarner Thal hinauf undüber den Brünig eine der belebtesten Touristenrouten, derseit 1888 die Brünigbahn dient. Im Juni 1889 wurde diePilatusbahn eröffnet. In den beiden Hauptorten, Stans undSarnen, bestehen gymnasiale Anstalten, auch im Stift Engelberg. DieStiftsbibliothek zählt 20,000 Bände, fast die Hälftealler in öffentlichen Bibliotheken befindlichen Bücher.Die beiden Staatswesen sind rein demokratischer Einrichtung. Diejetzt gültige Verfassung Obwaldens wurde vom Volk 27. Okt.1867 angenommen. Die Landsgemeinde hat die gesetzgebende Gewalt;ihr müssen auch alle Staatsanleihen, die Landsteuer sowie alle10,000 Frank übersteigenden Ausgaben zur Entscheidungvorgelegt werden, und jedem einzelnen Bürger ist dieGesetzesinitiative eingeräumt. Die Landsgemeinde wähltauch die oberste Exekutivbehörde, den Regierungsrat, der aussieben Mitgliedern besteht, und das Obergericht von neunMitgliedern, beide auf je vier Jahre. Der Präsident desRegierungsrats führt den Titel Landammann. Daneben besteht,gleichsam als legislatorisches Organ des Volkes, ein Kantonsrat,der in den Gemeinden gewählt wird. Eine Bezirkseinteilungbesteht nicht; die Zahl der Gemeinden beträgt sieben: Hauptortist Sarnen. Eine ähnliche Verfassung, vom 2. April 1877, hatNidwalden, nur daß der Landrat, entsprechend dem ObwaldnerKantonsrat, auf sechs Jahre gewählt wird und Regierungsrat undObergericht je aus elf Mitgliedern bestehen und auf je drei Jahregewählt werden. Die Zahl der Gemeinden beträgt elf;Hauptort ist Stans. Für den 1. Mai 1888 berechnet sich derVermögensbestand Obwaldens auf 496,961 Frank Aktiva, 99,150Frank Passiva, also netto 397,811 Fr. Die Rechnung für dasBetriebsjahr 1887/88 ergab 151,663 Fr. Einnahmen, 143,683 Fr.Ausgaben, demnach einen Überschuß der erstern von nahezu8000 Fr. In Nidwalden zeigt die Rechnung für 1887: anEinnahmen 177,944 Fr., an Ausgaben 161,660, also einen Saldo von16,284 Fr., auf Ende 1887 ein reines Vermögen von 124,934 Fr.Geschichte. Über U. (intra montem), welcher Name übrigenserst um 1300 auftaucht, herrschten die Habsburger teils als Grafendes Aar- und Zürichgaus, teils als Kastvögte mehrererKlöster, die daselbst Grundbesitz hatten. Im 13. Jahrh.bildeten das Thal Sarnen "ob dem Kernwald" und das Thal Stans "niddem Kernwald" zwei gesonderte Gemeinwesen.

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Unterweißenburg - Unze.

Nachdem sich beide schon 1245 vorübergehend mit Schwyz zueiner Erhebung gegen die Habsburger verbunden hatten, schlossen sie1291 mit Uri und Schwyz das ewige Bündnis der dreiWaldstätte und vereinigten sich zugleich untereinander zu demGemeinwesen U., welches 1309 mit Schwyz u. Uri von Heinrich VIII.reichsfrei erklärt wurde. Zur Zeit der Schlacht von Morgartenhatten sich die Unterwaldner gegen die über den Brünigeingedrungenen Österreicher zu verteidigen. Um 1350 trenntensich Nid- und Obwalden wieder; doch fanden noch spät im 15.Jahrh. gemeinsame Landsgemeinden beider Länder statt, und inder Eidgenossenschaft zählten sie nur als Ein Bundesglied.Daneben bildete das Thal Engelberg unter der Herrschaft desdortigen Klosters einbesonderes Gebiet, welches seit 1465 im Schirmvon Luzern, Schwyz und U. stand und erst 1815 mit Obwaldenvereinigt wurde. Zur Zeit der Reformation gehörte U. zu denfünf ihr entschieden feindlichen Orten. Der helvetischenVerfassung von 1798 fügte sich Obwalden ohne Kampf, Nidwaldenaber erst, nachdem infolge des verzweifeltsten Widerstandes dasLand von den Franzosen in eine Wüste verwandelt worden war(7.-9. Sept. 1798). Im J. 1802 stellte U. im Aufstand gegen diehelvetische Regierung seine Landsgemeinden wieder her, welche durchdie Mediationsakte 1803 garantiert wurden. Beide Landesteile nahmenteil am Sarner Bund (1832) sowie am Sonderbund 1846 undkapitulierten 25. Nov. 1847. Nachdem sie sich 1850 zum erstenmalVerfassungen gegeben, unterwarf Obwalden die seinige 2. Okt. 1867einer Revision, ohne jedoch ihren Grundlagen nahezutreten, welchemBeispiel Nidwalden 2. April 1877 folgte. 1875 hat Obwalden inanerkennenswerter Weise sein Schulwesen verbessert, dagegen imApril 1880 die Wiedereinführung der Todesstrafe beschlossen.Vgl. Businger, Die Geschichten des Volkes von U. (Luzern 182728, 2Bde.); Derselbe, Der Kanton U. (St. Gallen 1836); Gut, DerÜberfall von Nidwalden im J. 1798 (Stans 1862); Christ, Ob demKernwald (Basel 1869).

Uuterweißenburg (ungar. Alsó-Fehér),ungar. Komitat in Siebenbürgen, wird von den Komitaten Hunyad,Torda-Aranyos, Groß und Kleinkokelburg und Hermannstadtumschlossen, hat 3576,50 qkm (64,9 QM.), ist im W. gebirgig undwird von der Maros und dem Kokel (Küküllö)bewässert. Es hat (1881) 178,021 Einw. (meist Rumänen,die der griechisch-orientalischen und griechisch-katholischenKirche angehören). Es ist sehr waldreich und fruchtbar undliefert Weizen, Korn, Mais, sehr gutes Obst, Kartoffeln etc. Imsüdlichen Teil bei Nagy-Enyed, in der sogen.Siebenbürgischen Hegyalja, gedeiht vorzüglicher Wein(Ezelnaer und Csomborder Riesling). Die Viehzucht ist bedeutend. ImS. finden sich viele mineralische Schätze, insbesondere diereichsten siebenbürgischen Goldgruben. Bergbau ist daher dieHaupterwerbsquelle der Einwohner. Sitz des Komitats, das von derUngarischen Staatsbahn durchschnitten wird, ist Nagy-Enyed.

Unterwelt, nach dem Glauben der Alten der Aufenthaltsortder Gestorbenen, insbesondere der Ort der Strafe fürdieselben. Schon nach der indischen Mythe ist die Tiefe derFinsternis der Strafort für die gefallenen Geister. Bei denÄgyptern wird die U. zum Toten oder Schattenreich, in welchemOsiris und Isis, später Serapis herrschen und Gericht halten.Die Juden nannten die U. Scheol (s. d.). Die Griechen sollen nachDiodor von Sizilien die Begriffe von Hades, Elysion und Tartarosvon den Ägyptern entlehnt haben. Unter Tartaros oder Orkusverstanden sie ursprünglich die U., d. h. den dunkeln Raum,welchen man sich unter der Erdscheibe dachte. Bald ist ihnen derTartaros, auf dem die Erde ruht, ein Sohn des Chaos, d. h. derunendlichen Leere überhaupt, bald als Kerker der Titanen undder Verdammten der tiefste Teil der U., aber noch nichtTotenreich.

Ebenso wird das Reich des Hades (eigentlich Aïdes,"Unsichtbaren, Unterirdischen") später zum Aufenthaltsort derVerstorbenen, nur daß der Aufenthalt der Seligen nach andernVorstellungen auch an das Ende der Welt, auf die Inseln derSeligen, wie bei Hesiod, oder auf eine elysische Flur, wie beiHomer, verlegt wird. Nach noch späterer Vorstellung befandsich das Totenreich in der Mitte der Erde; es war rings vom Styxumflossen und der Eingang zu demselben nur möglich durch denschlammigen Kokytos; Charon fuhr die von Hermes geleiteten Totenhinüber. Am jenseitigen Ufer lag in einer Höhle derschreckliche Kerberos. Dann kam man auf einen geräumigenPlatz, wo Minos als Richter saß und entschied, welchen Wegdie Seele wandeln solle. Der Weg teilte sich nun zum Elysion,welches zur rechten Seite des Einganges lag, und zum Tartaros zurLinken, als Ort der Strafe für die Verdammten.

Uuterwiesenthal, Stadt, s. Oberwiesenthal.

Untiefe, eine seichte Stelle im Meer oderBinnengewässer, an welcher Sandbänke oder Felsriffe derWasseroberfläche so nahe kommen, daß die Schiffahrtgefährdet wird; poetisch auch eine ungemessene, ungeheureTiefe.

Untreue, im allgemeinen s. v. v. Treubruch,Unredlichkeit; im strafrechtlichen Sinn die absichtliche Verletzungeiner Rechtsverbindlichkeit, welche sich zugleich als Verletzungbesondern Vertrauens darstellt. In diesem Sinn straft das deutscheReichsstrafgesetzbuch (§ 266) die von Bevollmächtigten,Vormündern, obrigkeitlich oder letztwillig bestelltenVerwaltern fremden Vermögens, Feldmessern, Maklern,Güterbestätigern und andern im Dienste desöffentlichen Vertrauens stehenden Personen verübte U. mitGefängnis bis zu fünf Jahren und nach Befinden mitVerlust der bürgerlichen Ehrenrechte. Daneben kann, wenn dieU. begangen wurde, um sich oder einem an dern einenVermögensvorteil zu verschaffen, auch noch auf Geldstrafe biszu 3000 Mk. erkannt werden. Die von einem öffentlichen Beamtenverschuldete U. wird als Amtsverbrechen (s.d.) bestraft. Vgl. v.Stemann, Das Vergehen der Unterschlagung u. der U.(Kiel 1870).

Unvermögen (Impotenz), s. Zeugungsvermögen.

Unverritzt, ein Gebirge oder eine Lagerstätte(unverritztes Feld), die durch Bergbau noch nicht angegriffenist.

Unvordenkliche Verjährung, s. Verjährung.

Unyoro, Landschaft im äquatorialen Ostafrika,westlich und nördlich von Uganda, dem es tributpflichtig ist,reicht an das linke Ufer des Nils und an das rechte des MwutanNzige, etwa 82,590 qkm (1500 QM.) groß. Im S. ist das Landhügelig, im N. gegen den Nil zu durchaus eben, von ungeheuernSchilfflüssen durchschnitten und mit lichtem Wald bedeckt. DerAnbau ist minder sorgfältig, die Verwaltung, Ordnung, Anlageder Wege minder geregelt als in Uganda. Die Bewohner, die Wanyoro,gehen, wie die Waganda, ganz bekleidet, treiben Ackerbau und haltenZebus, Ziegen, Hühner, sind dabei aber kriegerisch.

Unze, s. v. w. Jaguar, s. Pantherkatzen.

Unze (lat. uncia), ursprünglich der 12. Teil desrömischen As (s. d.), in vielen Ländern sowohl eineGewichts- als eine Münz-, zum Teil auch eine Maß-

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Unzelmann - Unzuchtsverbrechen.

einheit von sehr verschiedenem Wert. Als Gewicht war die U. inDeutschland = 2 Lot oder 1/16 Pfd. (1/8 köln. Mark), inItalien (oncia) der 12. Teil eines Pfundes; in England hat dasHandespfund 16 Ounces, das Troypfund (für edle Metalle etc.)aber 12 schwerere Ounces. Als Apothekergewicht ist die U.überall der 12. Teil des Medizinalpfundes und wird durch dasZeichen ^|Pfund| bezeichnet. Als Münze diente die U. entwederbloß als Rechnungsmünze, oder kam auch wirklichgeprägt vor, so die Goldunze (oncetta) in Sizilien, die Onzade oro in Spanien, Mexiko und den südamerikanischen Staaten,wo sie 16 bisherige spanische Piaster im Wert von 65-66 Mk. galt.Als Längenmaß war die U. in Italien s. v. w. 1 Zoll.

Unzelmann, 1) namhafte Schauspielerfamilie. Karl WilhelmFerdinand, geb. 1. Juli 1753 zu Braunschweig, wirkte anverschiedenen Theatern Deutschlands als ausgezeichneter Komiker,seit 1788 in Berlin, wo er von 1814 bis 1823 Regisseur des Schauund Lustspiels war, dann pensioniert 21. April 1832 starb. Seinebesten Rollen waren: der Wachtmeister in "Minna von Barnhelm",Vansen im "Egmont", der Bürgermeister in den "DeutschenKleinstädtern", Martin in "Fanchon". Seine Gemahlin war dienachmalige berühmte Bethmann (s. d. 2). Sein Sohn KarlWolfgang, geb. 6. Dez. 1786 zu Mainz, wurde von Goethe derBühne zugeführt, die er 1802 in Weimar zuerst betrat, undübertraf bald seinen Vater an Gewandtheit und Vielseitigkeit.Er wirkte mit größter Auszeichnung in der Posse wie imLustspiel und war seiner Zeit der beste Bonvivant der deutschenBühne. 1821 verließ U. Weimar und nahm in Dresden, 1823in Wien, 1824 in Berlin, dann in rascher Folge bei verschiedenenandern Bühnen Engagement. Seine ungeregelte Lebensweiseführte ihn endlich zum Selbstmord. Er ertränkte sich 21.März 1843 im Tiergarten bei Berlin. Bertha, Nichte desvorigen, geb. 19. Dez. 1822 zu Berlin, betrat 1842 als Luise("Kabale und Liebe") die Bühne in Stettin, war von 1842 bis1843 beim Königsstädter Theater in Berlin, dann inNeustrelitz, Bremen und Leipzig angestellt und folgte 1847 einemRuf an das Hoftheater nach Berlin, wo sie sich mit demHeldenspieler Joseph Wagner aus Wien verheiratete. Beide wurden1850 beim Burgtheater in Wien lebenslänglich angestellt. Siestarb daselbst 7. März 1858, nachdem sie, von unheilvollerKrankheit befallen, schon seit 1854 der Bühne fern gewesenwar. Von hoher Bildung, war sie ausgezeichnet in der Auffassung undDarstellung weicher, gefühlvoller Charaktere u. gehörtezu den berühmtesten Darstellerinnen des Gretchen.

2) Friedrich Ludwig, Holzschneider, Bruder von Karl Wolfgang U.,geb. 1797 zu Berlin, machte seine Studien an der Akademie undbildete sich unter der Leitung von Gubitz aus. Sein Bestreben, dieHolzschneidekunst aus dem Verfall zu neuer Blüte zu erheben,fand Unterstützung durch A. Menzel, mit welchem U. um 1835 inVerbindung trat. Unter Menzels Einfluß bildete er denFaksimileschnitt aus und gelangte darin zu einer vollkommenenMeisterschaft. Nach Menzel schnitt er unter anderm den Tod desFranz von Sickingen, das Blatt zum Jubiläum der Erfindung derBuchdruckerkunst (Gutenberg und Schöffer), einen Teil derIllustrationen zur Geschichte Friedrichs d. Gr. von Kugler und zurPrachtausgabe der Werke Friedrichs d. Gr. (neue Ausg., Berl. 1886)und das Porträt Shakespeares, sein Hauptwerk (1851). Er wurde1843 Mitglied der Berliner Kunstakademie und 1845 Professor derHolzschneidekunst an derselben. Er starb auf einer Reise 29. Aug.1854 in Wien.

Unzertrennliche, s. Papageien, S. 669.

Unzuchtsverbrechen (SittlichkeitsverbrechenUnzuchtsdelikte, Fleischesverbrechen, Delicta carnis), strafbareHandlungen, welche in einer gesetzwidrigen Befriedigung desGeschlechtstriebs bestehen. Das ältere Recht betrachtete denaußerehelichen Geschlechtsverkehr überhaupt alsstrafbar, wenigstens insofern er mit einer sonst ehrbarenFrauensperson gepflogen wurde, daher denn auch die freiwillig,außereheliche Schwächung (stuprum voluntarium) nach demrömischen Recht nicht nur an der Geschwächten, sondernauch an dem Stuprator gestraft und im Mittelalter, nachdem dieGeistlichkeit dies Delikt vor ihr Forum gezogen hatte, an dergefallenen Frauensperson durch die Strafe der öffentlichenKirchenbuße geahndet wurde. Das moderne Strafrecht erachtetden außerehelichen Geschlechtsverkehr an und für sichnicht mehr als strafbar. Das deutsche Reichsstrafgesetzbuchinsbesondere bestraft Weibspersonen, die gewerbsmäßigUnzucht treiben, nur dann mit Strafe (Haft bis zu sechs Wochen),wenn sie unter polizeiliche Aufsicht gestellt sind und den indieser Hinsicht zur Sicherung der Gesundheit, der öffentlichenOrdnung und des öffentlichen Anstandes erlassenenpolizeilichen Vorschriften zuwiderhandeln, oder wenn siegewerbsmäßige Unzucht treiben, ohne einer solchenAufsicht unterstellt zu sein. Dagegen werden im deutschenStrafgesetzbuch folgende unsittliche Handlungen als U. behandeltund bestraft: Blutschande, d. h. der Beischlaf zwischen Verwandtenauf- und absteigender Linie, zwischen Geschwistern und zwischenVerschwägerten auf- und absteigender Linie (s. Inzest);Notzucht (stuprum violetum), d. h. die Nötigung einerFrauensperson zur Duldung des außerehelichen Beischlafs durchGewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr fürLeib oder Leben (das frühere Erfordernis eines Strafantragsbei diesem Verbrechen ist durch die Novelle zum Strafgesetzbuch vom26. Febr. 1876 beseitigt); Schändung (stuprum non voluntariumnec violentum), d. h. der außereheliche Beischlaf mit einergeisteskranken oder einer in willen- oder bewußtlosem Zustandbefindlichen Frauensperson, wobei es als Notzucht bestraft wird,wenn der Thäter die Frauensperson absichtlich in diesenZustand versetzt hat. Ferner gehören hierher; unzüchtigeHandlungen, welche Vormünder mit ihren Pflegebefohlenen,Eltern mit ihren Kindern, Geistliche, Lehrer und Erzieher mit ihrenminderjährigen Schülern oder Zöglingen, Beamte mitPersonen, gegen die sie eine Untersuchung zu führen haben,oder welche ihrer Obhut anvertraut sind, Beamte, Ärzte undandre Medizinalpersonen, welche in Gefängnissen oder inöffentlichen, zur Pflege von Kranken, Armen oder andernHilflosen bestimmten Anstalten beschäftigt oder angestelltsind, mit den hier aufgenommenen Personen vornehmen;unzüchtige Handlungen, welche mit Gewalt an einerFrauensperson vorgenommen werden, oder zu deren Duldung dieselbedurch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oderLeben genötigt wird; endlich unzüchtige Handlungen mitPersonen unter 14 Jahren. In allen diesen Fällen tritt diestrafrechtliche Verfolgung von Amts wegen ein. Dagegen wird dieVerleitung einer Frauensperson zur Gestattung des Beischlafs durchVorspiegelung einer Trauung oder durch Erregung oder Benutzungeines andern Irrtums, in welchem sie den Beischlaf für einenehelichen hielt, nur auf Antrag bestraft. Außerdemgehören zu den U. des Reichsstrafgesetzbuchs: diewidernatürliche Unzucht, welche entweder zwischen Personenmännlichen Geschlechts (Pä-

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Unzurechnungsfähigkeit - Ur.

derastie), oder von Menschen mit Tieren (Sodomie) begangen wird;die Mädchenschändung, d. h. die Verführung einesunbescholtenen Mädchens, welches das 16. Lebensjahr noch nichtvollendet hat, zum Beischlaf (Antragsdelikt); die Verletzung derSchamhaftigkeit durch unzüchtige Handlungen, durch welche einöffentliches Ärgernis gegeben wird, oder durchunzüchtige Schriften, Abbildungen oder Darstellungen, welcheverkauft, verteilt oder sonst verbreitet oder an Orten, welche demPublikum zugänglich sind, ausgestellt oder angeschlagenwerden. Auch die Kuppelei (s. d.) wird von dem deutschenStrafgesetzbuch unter den U. mit aufgeführt, ebenso dieDoppelehe oder Bigamie (s. d.) und der Ehebruch (s. d.). Vgl.Deutsches Strafgesetzbuch, § 171-184, 361, Nr. 6;Österreichisches, 125 ff., 500 ff.

Uuzurechnungsfähigkeit, s. Zurechnung.

Upanischad ("Vortrag"), s. Weda.

Upas, s. Pfeilgift.

Upasstrauch, s. Strychnos.

Upernavik, nördlichster Ort im dän.Grönland, unter 72°48' nördl. Br., mit 761 Einw. imBezirk.

Upholland (spr. öp-), alte Stadt, 5 km westlich vonWigan, in Lancashire (England), mit Kornmühlen,Steinbrüchen, Kohlengruben und (1881) 4435 Einw.

Upiugtouia, Burenrepublik unter deutschem Schutz inSüdwestafrika, begrenzt im W. vom 16.° östl. L. v.Gr., im S. vom 20.° südl. Br., Nord und Ostgrenze sindunbestimmt. Es ist ein an starken perennierenden Quellen reichesLand, das sich zu Ackerbau und Viehzucht eignet, vonnomadisierenden Bergdamara und Buschmännern bewohnt, dereneinzige Beschäftigung im Honigsuchen und Wurzelgraben undDiebstählen an den Herden der Buren besteht. Die 15 Familienstarken Buren wanderten infolge von Differenzen mit derportugiesischen Regierung aus Mossamedes Anfang 1884 aus u.erwarben vom Häuptling des Oddongastammes, Kambondo, einLandstück südlich der Etosapfanne, nur reservierteKambondo die Bergwerksrechte. Die jetzt einzige Niederlassung derBuren heißt Grootfontein.

Upland, Landschaft im mittlern Schweden, im O. von derOstsee, im S. vom Mälar begrenzt, ist im Innern fruchtbar undreich an Getreide und Wald, auch an Eisen, während dieKüstenstriche die felsige Schärennatur mit zahlreichenvorgelagerten Inseln und Schären darbieten. In administrativerHinsicht ist U. unter die Läns Stockholm, Upsala undWestmanland verteilt.

Upolu, die zweitgrößte, aber bei weitem diewichtigste der Samoainseln (s. d.), durch eine schmaleMeeresstraße von dem westlich gelegenen Savaii, durch einebreitere von dem östlichern Tutuila getrennt, 881 qkm (16 QM.)groß mit 19,000 Einw., worunter 2500 Fremde (300Europäer und Amerikaner, der Rest als Arbeitereingeführte Melanesien und Polynesier). Dieaußerordentlich schöne Insel wird von einervulkanischen, 900 m kaum übersteigenden Bergkette mit vielenerloschenen Kratern durchzogen, welche nach S. steiler, nach N.sanfter abfällt, die Bewässerung ist reichlich, der Bodensehr fruchtbar, indes mit Lavablöcken übersäet,welche die Anwendung des Pflugs oft unmöglich machen.Korallenriffe besäumen an mehreren Stellen die Küste,welche einige gute Häfen aufweist. Der besuchteste ist der vonApia an der Nordküste. Die östlich davon gelegene Bai vonSaluafata mit einem Ankerplatz für kleinere Schiffe, zu demein breiter Kanal durch das Küstenriff führt, wurde 1879an Deutschland als Kohlenstation abgetreten. Die an derSüdküste gelegene flache Bucht von Falealili ist vongeringer Bedeutung, dagegen liegt Apia gerade gegenüber diegute Bai von Safata. Von der Oberfläche gehören derDeutschen Handels- und Plantagengesellschaft der Südsee 28,800Hektar, den Amerikanern 3600, den Engländern 3200 Hektar.Unter Kultur haben die Deutschen 3200, die Engländer 200Hektar, die Amerikaner gar nichts. Der volkreichste Ort der Inselist Falealili an der Südküste, der wichtigste aber Apia(s. d.) an der Nordküste, wo ein deutsches, ein englisches undein amerikanisches Konsulat sich befinden und die europäischenGeschäftshäuser ihren Sitz haben. Hierher kommen dieReichspostdampfer des Nord deutschen Lloyd, auch eine englischeDampferlinie geht von Sydney nach Apia. S. Karte "Samoainseln".

Upsala, schwed. Län, am Bosnischen Meerbusen, vonden Läns Gefleborg, Stockholm und Westmanland begrenzt,umfaßt den westlichen Teil von Upland (s. d.) mit einem Arealvon 531.3,8 qkm (96,5 QM.) und ist im Innern eine weite undfruchtbare Ebene, während die Uferlandschaften die felsigeSchärennatur der schwedischen Küste haben. AnFlüssen sind außer dem Dalelf, welcher an dernördlichen Grenze des Läns den großenElfkarlebyfall bildet, nur kleinere vorhanden. Die Bevölkerungzählte 1888: 120,084 Seelen. Haupterwerbszweige sind:Ackerbau, Viehzucht und Waldwirtschaft. Vom Areal entfallen 27,5Proz. auf Ackerland und Gärten, 10,4 Proz. auf Wiesen, 55,3Proz. auf Wald. 1884 zählte man 20,325 Pferde, 87,182Stück Rindvieh, 32,209 Schafe und 12,021 Schweine. Auch derBergbau (besonders auf Eisen) und der Hüttenbetrieb sindansehnlich. - Die gleichnamige Hauptstadt, in einer fruchtbarenEbene an der Fyriså, die in den Mälarsee mündet,Knotenpunkt der Eisenbahnen Stockholm-Sala, U.-Gefle und U.-Lenna,hat ein Schloß und 2 Kirchen (darunter die 1289-1435 erbauteDomkirche mit den Grabmälern mehrerer Könige, Linnesu.a., die größte und schönste Kirche Schwedens,leider aber nach dem Brand 1702 nur unvollkommen hergestellt), eine1477 gestiftete Universität mit der größtenBibliothek Schwedens (über 250,000 Bände und 7000Manuskripte) und andern wissenschaftlichen Sammlungen, botanischemGarten (berühmt durch Linne), Sternwarte etc. (1886 mit 1877Studierenden); zwischen dem Dom und dem neuenUniversitätsgebäude befindet sich ein schöner Park,Odinslund. Die Einwohnerzahl. beträgt (1888) 21,249. DieIndustrie ist nicht unbedeutend; außer einigen chemischenFabriken gibt es mehrere Mühlen, Brauereien, Ziegeleien etc.U. ist Sitz eines Erzbischofs, eines Konsistoriums und desLandeshauptmanns. Die ziemlich einförmige Umgegend, Fyrisvallgenannt, ist der klassische Boden der ältesten GeschichteSchwedens. Hier verlor 983 Styrbjörn der Starke Schlacht undLeben; hier liegt 4km entfernt an der Bahn U.-Gefle das alte(Gamla) U., jetzt ein Bauerndorf, in dessen Nähe die dreigroßen Königshügel und viele kleinereGrabhügel sich befinden; 7. km von U. entfernt die Morawiese(s. d.). Das Gut Hammarby der ehemalige Wohnsitz Linnés.

Upstallsboom, s. Aurich.

Upupa, Wiedehopf; Upupidae (Hopfe), Familie aus derOrdnung der Klettervögel (s. d.).

Ur..., Vorsilbe zur Bezeichnung der Beziehung auf denersten Anfang von etwas, z. B. Urahn, Ursprung, Urkunde etc.(altdeutsch s. v. w. hervor, aus).

Ur, s. v. w. Auerochs.

Ur, eine der ältesten Städte Chaldäas,südlich vom untern Euphrat, Orchoe (jetzt Warka)gegenüber, bekannt als Wohnort von Abraham und Sara, ehesie

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Uraba - Ural.

nach Haran und Kanaan zogen. Hier gefundene Inschriften zeigendie ältesten hieroglyphenartigen Formen der Keilschrift.

Urabá (Golf von U., früher auch Darien delNorte genannt, im Gegensatz zum Golfo del Darien del Sur, demjetzigen Golf San Miguel), ein Meerbusen des Karibischen Meers, ander Nordküste von

Kolumbien, dringt 60 km weit ins Land ein, ist 52 km breit undvon flachen Ufern begrenzt. In ihn mündet in 15 Armen der RioAtrato (s. d.), dessen fortschreitende Deltabildung den hinternTeil des Golfs vom Meer abzuschneiden droht. Entdeckt wurde derGolf von U. 1502 von Rodrigo Bastidas.

Urach, Oberamtsstadt und Luftkurort im württemberg.Schwarzwaldkreis, am Einfluß der Elsach in die Erms und ander Ermsthalbahn, 466 m ü. M., hat eine schöneevangelische (1479-99) und eine kath. Kirche, ein Schloß,eine Lateinschule, ein niederes evangelisch-theologisches Seminar,ein Amtsgericht, ein Forstamt, Flachs- und Baumwollspinnerei,Baumwollweberei, Gerberei, Holzdreherei, Wagenfabrikation, einemechanische Werkstätte und (1885) 3962 Einw. In der Näheein Wasserfall im Brühl, die Ruinen der Feste Hohenurach undder königliche Fohlenhof Güterstein. - U. war einst Sitzeines Grafengeschlechts, als dessen Begründer Egino I. imAnfang des 12. Jahrh. erscheint. Egino IV. erwarb 1218 bei demAussterben der Zähringer Freiburg i. Br. und viele Besitzungenim Schwarzwald. Einer seiner Enkel, Konrad, erhielt im 13. Jahrh.Freiburg; ein andrer, Heinrich, Graf von Fürstenberg, derStammvater der gleichnamigen Fürsten, verkaufte 1265 die BurgU. und den größten Teil der Besitzungen an den GrafenUlrich von Württemberg. Von U. führte eine Linie desHauses Württemberg, die 1441 gestiftet wurde, aber mit demSohn des Stifters, Eberhard V. (I.), mit dem Bart, 1495 wiederausstarb, den Namen Württemberg-U. Jetzt führt den Titeleines Herzogs von U. der Graf Wilhelm von Württemberg (geb. 3.März 1864) aus einer katholischen Seitenlinie desKönigshauses. Vgl. "Führer durch das Uracher Gebiet"(Urach 1876).

Urachus (Harnstrang),beim Embryo derSäugetiere derin der Bauchhöhle verbleibende Abschnitt des

Stiels der Allantois (s. d.), aus dessen hinterm Teilspäter die Harnblase hervorgeht, während der vordere zumsog. mittlern Aufhängeband der Harnblase wird.

Uraeginthus, s. Astrilds.

Ural (Jaik), Grenzfluß zwischen Europa und Asien,entspringt unter 54° 30' nordl. Br. und nimmt in seinem von N.nach S. gerichteten Lauf zwischen den beiden östlichen Kettendes Uralgebirges von O. her die unbedeutenden NebenflüsseGambei, Sarum-Saklü, Swunduk, von W. her den Ak-Dschar,Kutebai, Allas-Nessai und Kutan-Taß auf. Am südlichenEnde der Hauptmasse des Uralgebirges sich nach W. wendend,empfängt er in seiner Kniebeugung den Orr, weiterhin den Ilekund die Utwa von S. her und auf europäischem Boden von N. herdie Sakmara. In seinem untern, wieder von N. nach S. gerichtetenLauf hat er keinen bedeutendern Zufluß. Er mündet, einsumpfiges Delta bildend, in mehreren Armen in das Kaspische Meerund hat im ganzen eine Länge von etwa 1500 km. SeinStromgebiet wird auf 249,500 qkm (4531 QM.) berechnet. An derMündung liegt neben unermeßlichen Schilfwaldungen dieStadt Gurjew (s. d.). In der Steppe auf dem rechten Ufer des Uralsbis an das Kaspische Meer wohnen die Uralischen Kosaken, derenGebiet gegenwärtig unter der Oberverwaltung des Landes derKirgiskosaken steht und unter dem Namen Uralsk eins der fünfGebiete jenes bis zum Irtisch und zum Aralsee reichenden Landesist; das linke Ufer bewohnen die Kirgisen. Nach Dämpfung desPugatschewschen Aufstandes, der auch am Jaik wild tobte, befahlKatharina II., um die beim Namen Jaik auftauchenden Erinnerungen zubannen, den Fluß künftig "U." zu nennen.

Ural (die Montes Riphaei der Alten), das längsteMeridiangebirge der Alten Welt, dessen südlichster niedrigerAusläufer, der Mugodschar, zwischen der Salzsteppe an der Embaund der Kirgisensteppe, fast bis zum Aralsee (48° nördl.Br.) reicht, während der nördlichste jenseit derWaigatschstraße über die Waigatschinsel durch NowajaSemlja fortsetzt und unter 76 1/2° nördl. Br. endet (s.Karte "Rußland"). So sind die beiden Endpunkte um mehr als 28Breitengrade, also um 3168 km, voneinander entfernt. Die Breite desGebirges beträgt meist nicht über 75 km undübersteigt kaum 190 (so im äußersten Süden);auch seine Kammhöhe beträgt kaum 600 m und erreicht nurim SW. und N. 1.200 m, eine Höhe, die nur einzelne Gipfelüberragen. Vorzüglich in der Mitte schwillt es soallmählich an, daß man auf der großen Straßevon Perm nach Jekaterinenburg kaum den Übergang über einGebirge merkt, das Europa und Asien scheidet. Währendnördlich von Jekaterinenburg die höchsten Punkte derOstseite angehören, liegen sie südlich imäußersten Westen. Der östliche Abfall des Gebirgesist etwas schroffer als der westliche, welcher sichterrassenförmig gegen die Kama und Wolga abstuft. Man kann denU. in den arktischen der nördlichen Inseln, dennördlichen samojedischen oder wogulischen, den mittlern oderwerchoturischen und den südlichen oder baschkirischen U.einteilen. Im arktischen U. erheben sich auf Nowaja Semlja einzelneGipfel (mit Gletschern) über 1200 m. Der nördliche U.,welcher vom Karischen Meer bis zum 61.° nördl. Br. oderbis zu den Quellen der Petschora reicht, ist wald- und erzlosesGebirge. Vom Karischen Golf südlich bis zum 63.° reichtder sogen. wogulische U., ein Gebirge mit schroffen, felsenreichenHöhenzügen und trümmerbedeckten Gipfeln, von denender Paijar 1413 m, südlicher der Koibp 1041 m, Pure-Mongit1100 m, Galsory 990 m, Ischerim 983 m hoch sind, aber ohne dieGletscher des arktischen; drei Pässe über ihnermöglichen den Verkehr zwischen Archangel und Sibirien.Dagegen zeigt der sogen. samojedische U. (Pae-Choiberge), dernord-westlich zur Waigatschstraße zieht, gerundete Formen,mit Moos- und Flechtenbedeckung seiner Höhen, von denen diebedeutendsten Idshed-Karlem (1390 m, Choste-Nier (1510 m) undTöll-Pos (1687 m) sind. Nordöstlich zweigen sich vomnördlichen U. die zur Obmündung verlaufenden niedrigernBerge von Obdorsk ab. Die höchsten Gipfel dieses kahlen undunwirtlichen Gebirges tragen ewigen Schnee. An der Petschoraquellezweigt sich vom U. unter dem Namen Timangebirge ein niedrigerHöhenzug ab, welcher bis Kanin-Nos zieht. Der mittlere oderwerchoturische U., der sich von 61°nördl. Br. bis an dieQuellen der Ufa (55°) fortsetzt, bildet ein breiteswaldigsumpfiges Tafelland von mäßiger Erhebung (imMittel 650 m), das von einzelnen Felsbergen überragt wird, undist der einförmigste Teil des Gebirges; nur im NO. zeigt sicheine alpinere Natur. Hier erheben sich als die höchstenGipfel: der Kontschakow-Kamen (1462 m), Suchegorski-Kamen (1195 m),Pawdinski-Kamen (938 m), Katschkanar (887 m) und Deneschkin-Kamen(1532 m). Über den mittlern U

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Ural (Gebirge).

führen die leichtesten Übergänge, derenniedrigstem (380 m) die oben erwähnte sibirische Straßeund neuerdings die Eisenbahn von Perm nach Jekaterinenburg folgt.Südlich von der Ufaquelle folgt der dreigeteilte südlicheU., im O. mit dem niedrigen, aus Granit und Gneis zusammengesetztenIlmengebirge bei Mijask, in der Mitte mit dem Uraltau im engernSinn (auch Urengai genannt), der mit der Irendikkette im S. endet,in seinen höchsten Höhen (Jurma, Taganai, Urenga) 1200 mwenig überschreitet und nur im Iremel 1536 m Höheerreicht. Der U. gibt zahlreichen Flüssen ihren Ursprung; dazufinden sich an der Ost- und Westseite zahlreiche kleine undgrößere Landseen, am dichtesten am Ilmengebirge und zurSeite des mittlern Urals. Dort, wo mittlerer und südlicher U.zusammenstoßen, drängen sich vor allem die Quellenzahlreicher Flüsse zusammen, die dem Tobol, Ural und der Kamazuströmen. Nur im äußersten Süden versiegen imSommer die Bäche und kleinen Flüsse meist ganz.

Der U. besteht seiner geognostischen Zusammensetzung nach auseiner Achse kristallinischer Schiefergesteine, aus Gneis,Glimmerschiefer, im mittlern Teil vornehmlich aus Chlorit- undTalkschiefern, auch kristallinischen Kalken, im N. mit Kalk undKalkschiefer. Zu ihnen gesellen sich an den Seiten silurisches unddevonisches Übergangsgebirge, am westlichen FußKohlenkalkstein, auf beiden Seiten Kohlengebirge. Um die ganzeSüdwestseite schlingt sich die permische Formation mit ihremRotliegenden, mit Süßwasserkalk, mächtigem Gips,Kupfersandstein und echtem Zechstein. Dem Jura gehört nur dernördliche Fuß an. Von massigen Gesteinen treten aufGranit, Syenit, Diorit, Serpentin, Augit-, zum Teil Uralitporphyreund Mandelsteine, die bis Nowaja Semlja reichen. JüngereEruptivgesteine fehlen gänzlich. Wohl kommen Erze aufGängen vor, so die Golderze von Beresow, ebendaBleiglanzgänge mit dem Rotbleierz; wichtiger sind aber diesekundären Lagerstätten im Übergangsgebirge, imKupfersandstein und besonders im Schuttland. Dem silurischenGebirge gehören die reichen Magneteisensteinberge an, ebensodie wichtigen Kupferlagerstätten. So liegen bei Nishne-Tagilskdie Kupfergruben, welche die mächtigen Malachitstöckeliefern, ebenso der mächtige Magneteisensteinberg WisokayaGora; andre sind der Blagodat bei Kuschwinsk und der Katschkanor,westlich von Werchoturie. Aus der Zerstörunggoldführender Quarzgänge, insbesondere im Talkschiefer,und von platinführenden Serpentinen stammen die gold- undplatinführenden Seifengebirge, aus denen diese Metalleausgewaschen werden. Das Gold ist stets von Magnet-, das Platin vonChromeisenstein aus dem zerstörten Muttergestein begleitet.Die Fläche, auf welcher Goldseifen vorkommen, berechnet manauf 40,500 qkm (735 QM.). Während die goldreichen Seifenwerkeauf der asiatischen Seite liegen, finden sich die Platinseifen mehrauf der europäischen. 1884 wurden auf einer Fläche von4591 qkm mit 42,690 Arbeitern aus goldhaltigem Sand 7960 kg Rohgoldund im Laboratorium zu Jekaterinenburg 7093 kg Gold, 900 kg Platinaund 560 kg Silber gewonnen; außerdem wurden 1167 kg Quarzgoldund in zwölf Bergwerken 1339 kg Platina ausgegraben. AnKupfer, welches vorzugsweise gediegen, als Rotkupfererz undMalachit (z.B. bei Nishne-Tagilsk), und in kalkigen Kiesen (beiBogoslowsk) etc. vorkommt, liefert der U. in acht Bergwerken mit5309 Arbeitern 3600 Ton. Silber und Blei sind von geringererWichtigkeit, von um so größerer die Eisenerze,vorzüglich der bis in den südlichen U. verbreiteteMagneteisenstein. Von dem Gesamtertrag aller Eisenhütten inganz Rußland kommen auf das Gouvernement Perm allein 8/13 undauf die Demidowschen und Jakowlewschen Hütten 1/4. 1884 wurdenin 59 Hüttenwerken 343,000 T. Roheisen, und in 7Bessemerwerken 31,000 T. Stahl produziert; in der Eisenindustriewaren 133,493 Arbeiter thätig. Der größte Teil desEisens kommt auf der Messe zu Nishnij Nowgorod in den Handel. AnManganerzen wurden 14,463 Doppelzentner gewonnen. Seit einigenIahren wird am Westabhang auch Bergbau auf Steinkohlen betrieben(ca. 21,000 T.). Außerdem liefert der U. mannigfacheschöne Gesteine und interessante Mineralien, welche zum Teilauch am U. für architektonische Zwecke und als Schmucksteinegeschliffen werden, z. B. Porphyr, Jaspis, Kieselmangan, Achat,Bergkristall, Malachit u. a. Vor allem reich ist das kleineIlmengebirge bei Mijask an Mineralien (Eläolith,Amazonenstein, großblätteriger sibirischer Glimmer,Pyrochlor, Äschynit, Titanit, Zirkon, prachtvolle Topase,Korund u. a.), ferner die Gegend von Slatoust im südlichen unddie von Mursinsk im mittlern U. (mit mächtigen Topas-, Beryll-und Rauchtopaskristallen). In den Seifen von Bissersk hat man vorJahrzehnten auch kleine Diamanten gefunden.

Während im arktischen U. die Kälte, imäußersten Süden die Trockenheit den Baumwuchsverhindern und im nördlichen U. nur in den Thälern diesibirische Lärche vorkommt, sind doch zwei Drittel des Uralsmit dichtem Urwald, wo die Hüttenwerke ihn nicht aufgezehrthaben, bedeckt. Im N. unterbricht nur die Birke den Ernst dervorherrschenden Nadelwälder, während im südlichenU., dem lieblichsten Teil des Gebirges, alle Berghöhen mitgemischtem Laubwald (Kiefern, Linden, Birken, auch Eichen) bedecktsind. Hier weidet der Baschkire seine Herden in den wasserreichenThalgründen, während im höchsten Norden der Samojedemit seinen Renntierherden umherzieht. Der Wald ist reich anjagdbaren Tieren, darunter auch Pelztieren (Eichhörnchen,Füchse, Wölfe), an Wald- und Schneehühnern,Schnepfen und Wachteln, aber auch an Bären, die den vielenBeeren (Himbeeren, Vaccinien) nachgehen. Pflanzen- und Tierweltschließen sich, den tiefen Süden ausgenommen, zu beidenSeiten des Gebirges ganz an die europäischen an. In der Mitteund im SO. liegen zahlreiche wohlhabende Städte mitvorherrschend russischer Bevölkerung, die sich hier in derNähe der aufblühenden zahlreichen Berg- undHüttenwerke (Sawody) angesiedelt hat. Jekaterinenburg immittlern, Mijask und Slatoust, das uralische Birmingham, imsüdlichen U. sind die Mittelpunkte großartigerThätigkeit. Die erste Eisenbahn über den U. ist 3.März 1878 von Perm nach Iekaterinenburg eröffnet worden.Vgl. Hofmann und Helmersen, Geognostische Untersuchung desSüduralgebirges (Berl. 1831); Humboldt, Fragments degéologie et de climatologie asiatique (deutsch, das. 1832);Rose, Mineralogisch-geognostische Reise nach dem U. (das. 1837-42,2 Bde.); Murchison, Geology of Russia in Europe and the U.mountains (Lond. 1846; deutsch von Leonhard, Stuttg. 1847-48);Schrenk, Orographisch-geognostische Übersicht des Uralgebirgesim hohen Norden (Dorp. 1849); Kowalki u. E. Hofmann, Dernördliche U. (Petersb. 1853, 2 Bde.); Ludwig, Überblickder geologischen Beobachtungen im U. (Leipz. 1862); Derselbe,Geognostische Studien (Darmst. 1862); Hochstetter, über den U.(Berl. 1873); Hiekisch, Das System des Urals (Dorp. 1882).

1041

Uralaltaische Sprachen - Uralit.

Uralaltaische Sprachen, weitverzweigte Sprachenfamilie,die auch als turanische oder finnisch-tatarische oder skythischeoder altaische bezeichnet wird und sich von Ungarn und Finnland bisNordostasien erstreckt. Sie wird gewöhnlich in fünfHauptgruppen zerlegt:

1) Die finnisch-ugrische Gruppe, in Rußland und Ungarn,umfaßt das Finnische oder Suomi, das in Finnland von etwa 2Mill. Menschen gesprochen wird, die altertümlichste Sprachedieser Gruppe, nebst dem Esthnischen in Esthland, dem im Aussterbenbegriffenen Livischen in Livland und einigen minder wichtigenDialekten; das Lappische, in Lappland; dann östlich undsüdöstlich von den vorigen die immer mehr verschwindendenNationalsprachen verschiedener kleinerer Stämme, derTscheremissen zwischen Kasan und Nishnij Nowgorod, der Mordwinen ander mittlern Wolga, bis zum südlichen Ural hin, derSyrjänen, Wotjaken und Permier, nordöstlich von denvorigen, endlich die Sprachen der Ostjaken und Wogulen, am Obüber weite, aber sehr dünn bevölkerte Strecken sichausdehnend, nahe verwandt mit der wichtigsten Sprache dieserGruppe, dem Magyarischen der Ungarn. Das Magyarische, durch eineverhältnismäßig alte und bedeutende Litteraturausgezeichnet, umfaßt ein größeres Gebiet im W.von Ungarn, von Preßburg an, wo das deutsche Sprachgebietbeginnt, und ein kleineres, von dem vorigen getrenntes im SO., woes ringsum von Rumänen umgeben ist.

2) Die samojedische Gruppe, nördlich von der vorigen, amEismeer hin weit nach Sibirien hinein reichend, zerfällt invier Dialekte, die aber zusammen nur von ungefähr 20,000Individuen gesprochen werden.

3) Die türkisch-tatarische Gruppe, die verbreitetste vonallen, reicht von der europäischen Türkei mit geringenUnterbrechungen bis zur Lena und begreift folgende Sprachen insich: Jakutisch, die Sprache der Jakuten, an der Lena imnordöstlichen Sibirien, welche ringsum von Tungusen (s. unten)umgeben sind; Kirgisisch, in dem an China angrenzenden Teil vonTurkistan; Uigurisch, mit einem besondern, aus den syrischenBuchstaben zurechtgemachten Alphabet, nebst Turkmenisch,Tschagataisch und Uzbekisch, im übrigen Turkistan;Kumükisch, im nordöstlichen Kaukasus, und Nogaisch,nördlich vom Schwarzen Meer und in der Krim; Osmanli oderTürkisch, die wichtigste Sprache dieser Gruppe, inKonstantinopel, Philippopel und einigen andern Enklaven in dereuropäischen Türkei sowie im Innern von Kleinasienherrschend; verwandt damit ist das isolierte Tschuwaschisch, dasvon dem Tscheremissischen und Mordwinischen umschlossen wird.

4) Die mongolische Gruppe zerfällt in das eigentlicheMongolisch im nördlichen China, das Burätische amBaikalsee und das Kalmückische westlich davon, mitAusläufern, die bis nach Südrußland reichen.

5) Die tungusische Gruppe, in Nordostasien, reicht vom Jenisseibis an das Ochotskische Meer, im NO. bis an das Eismeer, im S. bisweit nach China hinein. Die wichtigste der dazu gehörigenSprachen ist das Mandschu, in der chinesischen Mandschurei, miteiner mehrere Jahrhunderte alten Litteratur und einem besondernAlphabet. Von einigen wird auch die Sprache der ältestenGattung der Keilschrift, das Akkadische oder Sumerische, zu demuralaltaischen Sprachstamm gezählt; doch ist dieVerwandtschaft, wenn sie besteht, jedenfalls nur eine sehrentfernte. Ebenso zweifelhaft ist die von Ewald, Schott, Hofmann u.a. angenommene Verwandtschaft des Japanischen mit denuralaltaischen Sprachen. Auch die fünf oben genannten Gruppenstehen keineswegs in nahen Beziehungen zu einander und haben keineoder wenige Wörter und Wurzeln, vielmehr nur den grammatischenBau miteinander gemein. Sie gehören nämlich alle dersogen. agglutinierenden Stufe des Sprachbaues (s.Sprachwissenschaft, S. 181) an, und zwar ist die Art derAgglutination bei ihnen eine ganz besondere, indem sie Wurzel undFlexionsendungen dadurch in eine feste Wechselbeziehung zu einandersetzen, daß in den Endungen immer dieselbe Art von Vokalenerscheinen muß wie in der Wurzel. So heißt imTürkischen "von unsern Vätern" babalarumdan; aber derentsprechende Kasus von dedeh, "Großvater", lautetdede-lerinden, weil auf die "leichten" Vokale e der Wurzel auch inder Endung nur leichte Vokale folgen dürfen. Insämtlichen uralaltaischen Sprachen sind so die Vokale inleichte und schwere eingeteilt; doch gibt es daneben in vielenSprachen auch neutrale Vokale. Andre allen fünf Gruppengemeinsame Eigentümlichkeiten sind: dieAufeinanderhäufung einer fast unbegrenzten Anzahl von Endungenan die Wurzel, welche stets unverändert bleibt, dieAnhängung des besitzanzeigenden Fürwortes an dasHauptwort und die Scheidung der Konjugation in eine bestimmte undunbestimmte. Die Sprachen jeder Gruppe sind meistens unter sichsehr nahe verwandt; namentlich ist es wichtig, zu bemerken,daß z. B. das Türkische sich vom Nogaischen inSüdrußland nicht stärker unterscheidet als dasHochdeutsche vom Niederdeutschen und selbst von dem weit entferntenund isolierten Jakutischen an der Lena nicht mehr absteht als dasDeutsche vom Skandinavischen. Stärker gehen die Sprachen derfinnisch-ugrischen Gruppe auseinander und lassen sich insofern etwaden einzelnen Sprachenfamilien des indogermanischen Sprachstammesvergleichen. Über ihre Gruppierung gehen die Ansichtenauseinander; die obige Aufzählung gründet sich auf dieneuesten Untersuchungen von Budenz (s. d.), der siebenUnterabteilungen der finnisch-ugrischen Gruppe annimmt,während andre sie in vier Hauptzweige einteilen, denfinnischen, permischen, ugrischen und wolga-bulgarischen Zweig. Dieerste vollständige Nachweisung des Zusammenhanges deruralaltaischen Sprachen, welche eine der wichtigsten Entdeckungender modernen Sprachwissenschaft ist, findet sich in den zahlreichengrammatischen Arbeiten des finnischen Sprachforschers Castren (s.d.). Vgl. auch Böhtlingk, Über die Sprache der Jakuten(Petersburg 1851); Boller, Die finnischen Sprachen (Berichte derWiener Akademie 1853 -57); Ahlquist, Forschungen auf dem Gebiet deruralaltaischen Sprachen (Petersb. 1861); Vambéry,Tschagataische Sprachstudien (Leipz. 1867); Schott, AltaischeStudien (Berl. 1860-72, 5 Hefte); Weske, Untersuchungen zurvergleichenden Grammatik des finnischen Sprachstammes (Leipz.1873); Budenz, Über ugrische Sprachvergleichung (Verhandlungender Innsbrucker Philologenversammlung 1874); Derselbe, Überdie Verzweigung der ugrischen Sprachen (in den "Beiträgen zurKunde der indogermanischen Sprachen", 4. Bd., Götting.1878);Donner, Vergleichendes Wörterbuch der finnisch-ugrischenSprachen (Helsingfors 1874-76, 2 Tle.); Prinz L. Bonaparte,Remarques sur la classification des langues ouraliques (in der"Revue de Philologie", Par. 1876); Winkler, UralaltaischeVölker und Sprachen (Berl. 1884); Derselbe, Das Uralaltaischeund seine Gruppen (das. 1885).

Uralit, s. Hornblende.

Meyers Konv.- Lexikon, 4. Aufl , XV. Bd. 66

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Verzeichnis der Illustrationen im XV. Band.

Seite

Sonne, Tafel 28

Spanien und Portugal, Karte 63

Spektralanalyse, Tafel 117

Sperlingsvögel, Tafel I u. II 126

Spinnmaschinen, Tafel 148

Spinnentiere, Tafel 153

Spinnfaserpflanzen, Tafel 155

Spiritusfabrikation, Tafel 163

Sprachenkarte, mit Textblatt 181

Steiermark, Karte 256

Steinkohlenformation, Tafel I u. II 272

Steinkohlenformation, Tafel III: Profil des ZwickauerKohlenfeldes 272

Steinzeit, Kultur der, Tafel 280

Stenographie, Schrifttafel 290

Sternwarte, Tafel, mit Textblatt 306

Stettin, Stadtplan 307

Stockholm, Stadtplan, mit Karte der Umgebung 339

Straßburg, Stadtplan 371

Straußvögel, Tafel 383

Stubenvögel, ausländische, Tafel 401

Stuttgart, Stadtplan 408

Takelung, Tafel 495

Tanne, Tafel 510

Tauben, Tafel 536

Telegraph, Tafel I u. II 564

Terrakotten, antike, Tafel 598

Tertiärformation, Doppeltafel 601

Theaterbau, Tafel, mit illustriertem Textblatt 624

Thonwarenfabrikation, Tafel 663

Thüringer Wald, geologische Karte 683

Tintenschnecken, Tafel 716

Tirol, Karte 721

Tongting, Karte 751

Torfgewinnung, Tafel 760

Torpedos, Tafel 764

Triasformation, Doppeltafel 827

Türkisches Reich, Übersichtskarte 917

Türkisches Reich, Karte der Balkanhalbinsel 917

Türkisches Reich, Geschichtskarte 925

Uhren, elektrische, Tafel 976

Ungarn: Länder der ungarischen Krone, Karte 999

Abbildungen im Text.

Seite

Soest, Stadtwappen 2

Solferino, Kärtchen zur Schlacht bei 10

Sondershausen, Stadtwappen 26

Sonnenfinsternis, 4 Figuren 32

Sonnenmikroskop 35

Sonnenscheibe, geflügelte (ägyptisches Qrnament)35

Sonnenuhr 36

Spandau, Stadtwappen 62

Spandrille 62

Spechter (Trinkglas) 112

Speier, Stadtwappen 115

Spektralanalyse, Fig. 1-6 118-119

Spektrometer 121

Sperrgetriebe, Fig. 1 u. 128

Spezia, Situationskärtchen 129

Spezifisches Gewicht (Apparate), Fig. 1-5 130-132

Spezifische Wärme: Kalorimeter, Fig. 1-3 132-133

Sphinx (im Berliner Museum) 135

Spiegel, antike, Fig. 1-4 136-137

Spiegelung, Fig. 1-9 139-141

Spinnen (Werkzeuge), 6 Figuren 147-149

Spinnerin, griechische (Vasenbild) 152

Spinnentiere (Pentastomum taenioides und denticulatum), 2Figuren 154

Spiralpumpe 159

Spiritus: Apparate, Fig. 1-4 164-167

Spitzzahnornament 172

Sponton (Waffe) 175

Sprache: Mundstellung bei Vokalen, Fig. 1-3 177

Spremberg, Stadtwappen 186

Sprengen: Zündelektrisiermaschine, Fig. 1 u. 2 187

Sprengwerk (Bauwesen), Fig. 1-6 189

Stab (Baukunst) 207

Stade, Stadtwappen 210

Standfähigkeit 225

Stargard i. P., Stadtwappen 234

Stärke: Formen von Stärkemehlkörnern, Fig. 1 u. 2236

Staubgefäße der Pflanzen, Fig. 1-8 246-247

Stechheber 252

Steinbrechmaschine 263

Steinverband (Bauwesen), Fig. 1-10 279

Stele (Grabstein) 283

Stelzenschuhe, 2 Figuren 284

Stendal, Stadtwappen 286

Stengel verschiedener Pflanzen etc., Fig 1-6 287-288

Stereometer 298

Stereoskop, Fig. 1 u. 2 299

Stettin, Stadtwappen 307

Stickmaschine, Fig. 1-3 317-318

Stockholm, Stadtwappen 339

Stolp, Stadtwappen 347

Stopfbüchse 349

Storchschnabel (Zeicheninstrument) 351

Strahlapparate, Fig. 1-5 366-367

Stralsund, Stadtwappen 368

Straßburg, Stadtwappen 372

Straßeneisenbahnen: Schienen, Fig. 1 u. 2 376

Streitäxte, Fig. 1 u. 2 385

Streithammer, Luzerner 386

Streitwagen, griechischer 386

Strickmaschine: Nadelbewegung, Fig. 1-6

Stromwender von Pohl u. Rühmkorff, Fig. 1 u. 2 393

Stuttgart, Stadtwappen 408

Stuttgart, Karte der Umgebung von 409

Südliches Kreuz (Sternbild) 422

Sydney, Situationskärtchen 454

Tahiti und Eimeo, Spezialkarte 493

Taktierbewegungen, 7 Figuren 497

Tangentenbussole 508

Tantalos (Vasenbild in München) 513

Telegraph: Stromleitungen, Fig. 1 u. 2 567

Tellereisen (Fangeisen), Fig. 1-3 577

Tempel, 6 Grundrisse 581

Tertiärformation: Nummulitenkalk 602

Testudo (Schilddach, Relief in Rom) 609

Theater, Grundriß eines griechischen 623

Thermoelektrizität: Elemente, Fig. 1-4 643

Thermometer, Fig. 1-8 644-646

Thonwaren: Töpferscheibe 663

Thorn, Stadtwappen 669

Thoth (ägyptischer Gott) 672

Thron (Zeus auf dem Thronos, Münze) 676

Thürklopfer 684

Thyrsos (Stab) 686

Tiara (Papstkrone) 687

Tiefenmessung: Bathometer, Fig. 1-3 695-696

Tilsit, Stadtwappen 711

Toga (Nationalkleid der Römer) 738

Tokio, Situationskärtchen 740

Torf, Fig. 1 u. 2 760 u.762

Torgau, Stadtwappen 763

Toulon, Situationskärtchen 781

Tourniquet (chirurgisches Instrument) 785

Tracheen der Eintagsfliege und der Wasserjungfer (Agrion), Fig.1 u. 2 789

Träger (Bauwesen), Fig. 1-15 792

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Korrespondenzblatt zum fünfzehnten Band.

Trapez und Trapezoid 802

Trapezkapitäl 802

Treppe: Grundrisse, Fig. 1-8 820

Triangulation, Fig. l-6 824-827

Triasformation: Krinoidenkalk 828

Trier, Stadtwappen 837

Triest, Stadtwappen 839

Triest, Kärtchen der Umgebung von 839

Triforium (Baukunst) 842

Triglyph (Baukunst) 842

Trigonometrie, Fig. 1-3 842-843

Triklinium 843

Trinkhörner, griechische, Fig. 1 u. 2 848

Triquetrum (parallaktisches Lineal) 852

Triremen, Fig. 1 u. 2 852

Trisetum pratense (kleiner Wiesenhafer) 852

Triton (Statuen in Rom und Neapel), Fig. 1 u. 2 853

Troja, Kärtchen der Ebene von T. 859

Troja, Plan von Schliemanns Ausgrabungen 859

Trokar (chirurgisches Instrument), 5 Figuren 861

Trompe (Baukunst) 863

Trophäe (Tropäon, Münze) 865

Troppau, Stadtwappen 866

Tuba, antike (Kriegstrompete) 894

Tübingen, Stadtwappen 895

Tudorblatt (Baukunst) 898

Tum (ägyptischer Gott) 901

Tummler (Trinkgefäß) 901

Tunis, Kärtchen der Umgebung von 904

Tunnel, 3 Pläne (Unterwassertunnels) 907

Turbane, 3 Figuren 909

Turin, Stadtwappen 912

Tuttlingen, Stadtwappen 950

Tyche von Antiochia (Statue im Vatikan) 953

Tympanon (Pauke) 954

Typhon-Seth (ägyptische Mythologie) 955

Überschnittene Bauglieder 965

Uhr, Fig. 1-3 974

Ulm, Stadtwappen 983

Umbelliseren 988

Korrespondenzblatt zum fünfzehnten Band.

Ausgegeben am 24. Oktober 1889.

H. Hengsten in Wien. Sie finden die vermißte Biographieim Supplementband des Konversations-Lexikons, der auch dasRegister enthalten und die wichtigsten Artikel des Hauptwerks biszur Gegenwart fortführen wird.

H. Hoffmann in W. Die Frage, ob der inländischeBesitzer ausländischer Staatspapiere sich der Kouponsteuer desfremden Staats zu unterwerfen habe, wird von mehrerenNationalökonomen, so von A. Wagner, Roscher, Vocke u. a.,bejaht. Die genannten Schriftsteller begründen ihre Ansichtdamit, daß der Inländer, welcher sein Vermögen inrussischen, englischen oder italienischen Staatspapierenfruchtbringend anlegt, auch seinerseits zur Befriedigung derBedürfnisse des Staats, dessen Existenz und Einrichtung erseinen Zinsertrag verdankt, beitragen müsse. Auch dieHandelswelt rechnete bisher mit der Kouponsteuer als einemgegebenen Faktor. Der Bankier, welchem Koupons ausländischerPapiere an Zahlungs Statt gegeben oder verkauft werden, ziehtseinen Kunden die betreffende Steuer ab, da ihm selbst wiederum beider Einlösungsstelle diese Summe gekürzt wird.

Gleichwohl hat das deutsche Reichsgericht neuerdings imentgegengesetzten Sinn erkannt. Nach der Ansicht unsers oberstenGerichtshofs ist der inländische Besitzer einesausländischen Staatspapiers nicht verpflichtet, die von demauswärtigen Staat auferlegte Kouponsteuer zu tragen, es seidenn, daß dieselbe gleichzeitig mit der Emission verfügtwurde. In dem letztern Fall hat nämlich der Gläubiger

durch den Kauf des Papiers in den Zinsabzug gewilligt. Er hat indem Kaufvertrag die Kouponsteuer (als eine Vertragsbedingung)genehmigt. Anders dagegen liege die Sache, wenn der auswärtigeStaat erst geraume Zeit nach erfolgter Emission die Kouponsteueranordne. Hier könne er die Besitzer seiner Papiere in fremdenStaaten nicht zwingen, die Kouponsteuer nachträglichanzuerkennen. Eine dahin gehende Verordnung habe allerdingsfür die eignen Unterthanen, nicht aber für Ausläuderbindende Kraft. Hielte man an der bisherigen Auffassung derNationalökonomen und der Handelswelt fest, so müßteman dem ausländischen

Schuldner ein Recht zugestehen, das dem Inländerzugehörige Eigentum einzuziehen. Dies wäre aber um sobedenklicher, als in geldarmen Ländern die Anleihen gerade aufdas Kapital des Auslandes gerichtet sind.

A. Z. in B. Mambour (richtiger Mambours) ist der Titeldes Stadtvogts oder Schutzherrn, den sich die Stadt Lüttichzum Schutz ihrer Freiheiten gegen den Bischof zuerst 1465 aus denbenachbarten weltlichen Fürsten wählte.

J. Moser in Mannheim. Der Orden pour le mérite istso, wie er auf unsrer Tafel abgebildet wurde, durchaus richtig.Das Bildnis Friedrichs II. in der Mitte ist eine ganzaußerordentliche Verleihung, und soweit unsre Erkundigungenreichen, kam eine solche Ausschmückung nur dreimal vor: KaiserWilhelm I. (das Exemplar Friedrich Wilhelms III.), KronprinzFriedrich Wilhelm, später Kaiser Friedrich III., und GrafMoltke. Jedenfalls ist diese Verleihung höchst selten undgehört nicht zur Regel, und nur letztere war für unsreTafel maßgebend.

S. M. in München. Der Name Georg Dannenberg als Inhaberdes durch zahlreiche Romane bekannten Pseudonyms "Golo Raimund"war nicht der richtige Name des Verfassers, sondern eine Erfindungdes Verlegers Karl Rümpler in Hannover, der auf diese Weisedie Aufmerksamkeit des Publiku*ms von der wirklichen Verfasserinablenkte. Als solche hat sich die vor einiger Zeit verstorbene FrauBertha Frederich, geborne Heyn, in Hannover, Witwe des ehemaligenhannöverschen Hofmalers Dr. med. Frederich, herausgestellt.Einen kurzen Artikel über Golo Raimund wird der schonerwähnte Register- und Supplementband bringen.

K. M. in Mannheim, und viele andre. Auf eine Anfrage, obdie Besitzer des Eisernen Kreuzes als "Inhaber" oder als "Ritter"zu bezeichnen seien, hat die Generalordenskommission erwidert,daß bezüglich der Frage, inwieweit den Besitzern desEisernen Kreuzes das Prädikat "Ritter" gebührt, eineAllerhöchste Entscheidung nicht ergangen ist. Es stehehiernach in dem Belieben der beteiligten Personen, sich "Ritter"oder "Inhaber" dieser Auszeichnung zu nennen.

1044

Korrespondenzblatt zum fünfzehnten Band.

L.R. in Prag. Allerdings wird das Wort "Investition" auch imSinn von "Kapitalanlage" gebraucht. Vielleicht dient es Ihnen, wennwir eine Definition anführen, die in der "Zeitschrift fürEisenbahnen und Dampfschiffahrt der Österreichisch-UngarischenMonarchie", 1. Jahrg., 47. Heft, enthalten und vermutlich aufProfessor Dr. L. v. Stein zurückzuführen ist. "IhremBegriff nach ist eine Investition nicht eine Kapitalanlage imallgemeinen, sondern die Vermehrung der produktiven Kraft irgendeines Unternehmens durch eine neue, dem alten Kapitalhinzugefügte und mit ihm zur geschäftlichen Einheiterwachsende neue Kapitalanlage."

v. W. in Berlin. Die Stadt Rom hat erst seit kurzem(1888) die Wölfin mit den beiden Säuglingen aus ihremWappen entfernt, statt dessen den Wappenschild bekrönt und denStern Italiens links neben die Inschrift S. P. Q. R. gesetzt, wiees unsre Abbildung auch bereits darstellt.

Otto Born, Neumühle-Düben. Das Sultanat Obbioder Obbia an der ostafrikanischen Küste liegt im Somallandnördlich von der Mündung des Flusses Dschuba (Juba) oderWebi. Nach den italienischen Berichten hat der Landesherr dieSchutzherrschaft Italiens nachgesucht, und dieselbe ist ihm dennauch nach Prüfung der Verhältnisse zugestanden, dieThatsache aber in Gemäßheit der Berliner Kolonialakteden Vertragsmächten mitgeteilt worden. Die Küste wurdebekanntlich schon früher von der Deutschen OstafrikanischenGesellschaft beansprucht, doch hat das Deutsche Reich den Schutzüber dieselbe nicht übernommen. Die Italienerbeabsichtigen in Obbi eine Kohlenstation anzulegen und von hierHandelsverbindungen mit dem Innern anzuknüpfen. EineSpezialkarte von "Sansibar und dem benachbarten Teil vonDeutsch-Ostafrika" finden Sie im 14. Band.

S. K. in Gotha. Neuere, bei Gelegenheit des hundertstenGeburtstags angestellte Untersuchungen haben ergeben, daßAugust Neander nicht am 16., sondern am 17. Jan. 1789 geborenist.

Julius Koch in Breslau; E. Waldeyer in P. Der KardinalCharles Martial Allemand Lavigerie wurde 31. Okt. 1825 als Sohneines Zolleinnehmers zu Bayonne geboren, wurde im SeminarSt.-Sulpice in Paris zum Geistlichen gebildet und bekleidetespäter die Lehrkanzel für Kirchengeschichte an derSorbonne. Infolge der Blutthaten in Syrien (1860) ward Lavigeriemit einer Mission in dieses Land betraut und dadurch allgemeinbekannt, namentlich kam er in nahe Verbindungen mit demfranzösischen Kaiserhof. Dann ging Lavigerie nach Rom, wo ihnPapst Pius IX. zum Hausprälaten ernannte, 1863 wurde er aufden Bischofsstuhl von Nancy erhoben und 1867 auf den VorschlagNapoleons III. zum Erzbischof von Algier ernannt. Hier war erunermüdlich thätig, er gründete neue Kirchen,Waisenhäuser für verlassene arabische Kinder undentwickelte einen außerordentlichen propagandistischenMissionseifer, so daß er sehr bald in Konflikt mit demdamaligen Militärgouverneur von Algerien, Mac Mahon, geriet.Doch wuchs sein Einfluß derart, daß Lavigerie vom Papstzum Primas des afrikanischen Erdteils ernannt wurde und in derFolge die Würden eines apostolischen Delegaten für denSudân, die Sahara und Äquatorialafrika bekleidete. Aufdem römischen Konzil (1869) war Lavigerie einer der eifrigstenAnhänger des Unfehlbarkeitsdogmas, ohne jedoch eine besondereRolle zu spielen. LeoXIII. ernannte ihn zum Kardinal und erhob ihnauf den wiederhergestellten erzbischöflichen Stuhl vonKarthago, doch behielt Lavigerie seine frühere Residenz Algierbei. Seine Versuche, in die französische Nationalversammlunggewählt zu werden, schlugen zweimal (1870 und 1871) fehl.Lavigerie arbeitete seitdem unablässig an seinem großenreligiös-humanitären Werk, der Abschaffung der Sklavereiin Afrika in Verbindung mit der katholischen Mission. Mit seinenPredigten und Vorträgen in der St.-Sulpicekirche zu Paris, inSt.-Gudule zu Brüssel und in London hatte er beispiellosenErfolg; auch Italien, wo er in Rom, Neapel, Mailand Vorträgehielt, sucht er für sein Werk zu gewinnen. Schriftstellerischbethätigte sich der Kardinal durch Herausgabe vonLehrbüchern; auch seine akadem. Vorträge über die"Irrlehren des Jansenismus" erschienen im Druck (1858).

Karl Buchwald in Wien. Ihre Militärangelegenheiten hierim Korrespondenzblatt zu besprechen, müssen wir ausRücksicht für unsre übrigen Leser ablehnen. WendenSie sich an eine deutsche Behörde.

v. W. in Königsberg. Sie finden "Hydrokarbongas" unterdem Stichwort Wassergas.

v. M. in R. Ruy Blas, der Held des Schauspiels von VictorHugo, ist lediglich eine Erfindung des Dichters, der sich selbstdarüber in dem Vorwort ausgesprochen hat. Die Königin istzwar dem Namen, aber nicht dem Wesen nach historisch. Die Sachefinden Sie besprochen bei Morel-Fatio, "Études surl'Espagne", 5. Serie (Par. 1888), und in einem kürzlicherschienenen Aufsatz von K. Heigel: "Maria Anna von Neuburg,Königin von Spanien" (im 7. Hefte der Zeitschrift "Vom Felszum Meer" 1888/89).

Karl Zehnder in M. Die Schachspieler zweiten und drittenRanges, über welche von verschiedenen Zeitschriften teilsaus Pietät, teils aus besonderer Gunst biographische Notizengebracht werden, und die sich auf Hunderte belaufen, können imKonversations-Lexikon nicht berücksichtigt werden. EinenArtikel über die "Problemkunst" finden Sie im Register- undSupplementband, der sich unmittelbar an das Hauptwerkanschließen und neben dem "Register" der nicht alsselbständige Artikel vorkommenden Schlagworte auch dienotwendig gewordenen Nachträge und Ergänzungen bringenwird.

H. G. in Charkow. Die Stadt Magdeburg, d.h. der alte Kernderselben, hat jetzt nur noch eine katholische Kirche; eine zweitebefindet sich in Sudenburg, eine dritte in Neustadt. DieLiebfrauenkirche steht jetzt als Kirche unbenutzt.

Krauß in Budapest. König Alfons XII. von Spanienist erst nach dem Druck des Artikels gestorben, weshalb seinTodestag nicht erwähnt sein kann. Übrigens ist letztereram Schluß des 7. Bandes, der doch wohl längst in IhremBesitz ist, im "Nekrolog" verzeichnet.

Abonnent. Sie müssen unter Skrofeln suchen!

Dr. Rose in M. Das sogen. Baptisterium zu Winland, einsder im Art. "Baukunst" (S. 496) erwähnten Rundgebäude inGrönland, soll nach Palfreys "History of New England" eine vondem Gouverneur Arnold um 1670 erbaute Windmühle sein. Vgl.Gust. Storm in den "Jahrbüchern der königlichenGesellschaft für nordische Altertumskunde in Kopenhagen" 1887,S. 296.

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Name: Tish Haag

Birthday: 1999-11-18

Address: 30256 Tara Expressway, Kutchburgh, VT 92892-0078

Phone: +4215847628708

Job: Internal Consulting Engineer

Hobby: Roller skating, Roller skating, Kayaking, Flying, Graffiti, Ghost hunting, scrapbook

Introduction: My name is Tish Haag, I am a excited, delightful, curious, beautiful, agreeable, enchanting, fancy person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.